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LEO GIROUX
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Scan by : der_leser K : tigger November 2003 : V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
LEO GIROUX
ERSCHIENEN BEI HESTIA
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ursula Hering Titel der Originalausgabe THE RISHI
Wir danken für die Erlaubnis, folgendes Material abzudrucken: Ein Auszug aus »The Yellow Scarf« von Lieutenant-General Sir Francis Tuker. Veröffentlicht von J. M. Dent & Sons Ltd., London. © 1961 by Cynthia H. Tuker. Ein Auszug aus »The Shorter Oxford English Dictionary«, dritte Auflage (überarbeitet mit Nachtrag, korrigierte Neuauflage 1959,1962). Veröffentlicht von Oxford University Press, Oxford, England. Ein Auszug aus dem Lied »Celluloid Heroes« von Raymond Douglas Davies. Reproduziert mit freundlicher Genehmigung von Davray Music Limited. Copyright © 1972 by Davray Music Limited.
Printed in Austria © 1985 by Leo Giroux, Jr. © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Hestia Verlag GmbH, Bayreuth ISBN 3-7770-0396-4 Einbandgestaltung: Atelier Schütz, München Einbandfoto: © David Kopiin Satz: Fotosatz Knub, Lintach Druck und Bindung: C. Ueberreuter, Korneuburg
Meiner Frau Laura gewidmet, die in ihrer gescheiten Großzügigkeit nie von mir verlangt hat, daß ich mich als Installateur, Teppichleger, Elektriker, Dachdecker, Automechaniker, Anstreicher oder als irgendein anderer Heimwerker betätige, sondern nur als Schriftsteller. Amen.
DANK
möchte ich folgenden Personen aussprechen: Robert F. Briney, der in ›The Rohmer Review‹ einige hervorragende Informationen über das Thug-Unwesen veröffentlichte, Bob Sampson, Chuck Patton, Jan Koltun und Al Bradford für ihre hilfreichen Anregungen, Norman Russel, Mitarbeiter am ›Museum of Comparative Zoology‹ der Harvard-Universität, Philip Vitty, Chef des Nachrichtendienstes beim Polizeipräsidium in Boston, Joy D. Shields, staatl. geprüfte Krankenschwester, Master of Science, spezialisiert auf psychiatrische Krankenpflege, und ganz besonders Eugen S. Dinan jr. für die stundenlangen Telefongespräche, die mir geistigen Auftrieb gaben.
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VORWORT Die ersten Berichte über den indischen Geheimbund der Thugs datieren aus dem Jahre des Heils 1290. Schätzungsweise zwölf Millionen Menschen fielen der tödlichen Seidenschlinge zum Opfer, welche die Thugs auswarfen. Der Kult wurde um 1830/40 entdeckt und bald darauf von Sir William Henry (»Thuggee«) Sleeman, einem Offizier der bengalischen Armee, unter Anwendung britischen Rechts zerschlagen. Die meisten Informationen über diesen Kult bekam Sleeman von den vielen gefangengenommenen Thugs. Unter ihnen war der berühmteste und gefürchtete Feringheea, der von den Brahmanen abstammte und den Titel »Der Prinz der Thugs« trug. Nachdem er begnadigt worden war, half er Sleeman, das Netz des Thug-Geheimbundes, das sich über ganz Indien ausgebreitet hatte, zu zerreißen. Thugs vergossen niemals Blut. Sie benutzten ausschließlich die aus einem Seidenschal geknüpfte Schlinge. Ein Thug tötete aus zweierlei Gründen: zum einen, um dem Vernichtungswillen der Göttin Kali zu genügen, und zum anderen, um rauben zu können. Die Spitzhacke, die sie benutzten, um ihren Opfern das Grab zu schaufeln, galt ihnen als heilig. Thugs bekleideten oft hohe Ämter in der indischen Gesellschaft, setzten aber ihre kultischen Handlungen geheim fort. Thugbanden bestanden aus zehn bis hundert Männern. Sie wurden oft nach der Region, in der sie zu Hause waren, benannt: Agureer-Thugs (aus Agra), Arcoteer-Thugs (aus Arcot), und so fort. Manche Thugs benutzten allerlei Verkleidungen. So gaben die Chingureer-Thugs vor, Ochsentreiber zu sein. Es gab sogar Flußthugs, die nur in Booten strangulierten und die
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Flüsse als Begräbnisstätte nutzten. Seltsamerweise waren Hindu- und Moslem-Thugs in ihrem grauenhaften Dienst für die Göttin Kali friedlich vereint. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die Moslems es vorzogen, sie ›Fatima‹, die geheiligte Tochter des Propheten Mohammed, zu nennen. Manchmal wurde Kali auch »Devi«, »Bhowani« oder »Kunkali« genannt. Das richtete sich nach der Vorliebe und den indischen Bezirken, in denen die Thugs ihr Unwesen trieben. Dieser Roman spielt in der Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ungefähr zu der Zeit der politischen Verwirrungen, als die spätere Premierministerin Indira Ghandi viele indische Intellektuelle gefangennehmen ließ. Ich wählte diesen Zeitraum, um die Freidenkereinstellung, dem Naturell Rama Shastri entsprechend, zu begründen. Die Titel der einzelnen Romanteile sind Elemente aus einem Sanskrit-Theaterstück. Im Anhang befindet sich ein Glossar.
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Generalmajor Sleeman: Haben Sie Angst vor den Geistern der von Ihnen Ermordeten? Nasir: Niemals, sie können uns nichts anhaben. Generalmajor Sleeman: Und wieso können sie Ihnen nichts anhaben? Nasir: Sind nicht die Menschen, die wir getötet haben, auf Befehl der Göttin Kali getötet worden?
Auszug aus dem Protokoll des Jahres 1835 des Generalmajors Sir William Henry »Thuggee« Sleeman, Mitglied der bengalischen Armee und des indischen politischen Geheimdienstes.
Thug* 1810 (Hindi: Thag, Marathi: Thag, Thak = Betrüger, Schwindler). Mitglied des Bundes professioneller Mörder und Räuber in Indien, welche ihre Opfer erdrosselten. Thugismus* 1837 (Hindi: Thagi von ›Thug‹ hergeleitet). Die von den Thugs praktizierte Methode des Mordens und Raubens. Auszug aus dem ›Shorter Oxford English Dictionary‹ * wird ›u‹ ausgesprochen.
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ERSTER TEIL
Vija Der Keim
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1 Indien 1975 – Auf der Straße nach Lucknow Das Dorf glänzte im Schein der untergehenden Sonne. Das Rufen junger Mädchen, die den Dung einer Rinderherde sammelten, zerschnitt die Stille. Irgendwo, in einer der vielen schmutzigen Hütten, wimmerte ein Kind. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Hinter seinem Ochsenkarren kauernd, flüsterte Chundra Bala in Ramasi, der Sprache der Thugs, mit seinem Sohn Dhan. Dabei wandte er den Blick nicht von dem in der Mitte des Dorfes postierten Heiligen. Die aschenverkrustete Gestalt des großen Sadhu stand wie ein geschnitzter Gegenstand da und schimmerte in der Abenddämmerung. Den ganzen Tag hatte er unter der erbarmungslosen Sonne gestanden, und Fliegenschwärme hatten sich auf seinem asketischen Profil und seinen geschlossenen Augenlidern niedergelassen. Chundra Bala erschauerte. Heilige gab es in jeder Anzahl überall, doch dieser Sadhu war irgendwie anders. Das fühlte er. Hätte nicht erst vor kurzem Chundras Weib, die unter vielen auserwählt war, von dem Nahen des Herrn geträumt, würde er diesen Mann wohl übersehen haben. Doch solche Träume wurden von der Göttin gesandt, sie logen nie. »Wovor fürchtest du dich, Vater?« fragte der sechzehnjährige Sohn. Chundra verschluckte sich fast, weil er den Zorn unterdrükken mußte, den Dhans Respektlosigkeit in ihm hervorrief. Er blickte zum Lagerfeuer zurück, um das sich die Männer 11
drängten, um seine Befehle zu erwarten. Der Rauch der Dungfladen, die als Feuerung dienten, biß ihm in die Augen. »Halt den Mund«, sagte er warnend, »wenn ich dich nicht strafen soll.« Dhan wich vor dem, der unter den Würgern den ersten Rang einnahm, zurück. Jadu, der Totengräber, und sein Zwillingsbruder Bidhan, einer jener Handlanger, welche die Arme der Opfer festhalten mußten, damit sie sich nicht wehren konnten, traten hinzu. »Ist dies die Nacht?« fragten sie, und ihre Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. »So? Und wie steht es mit unserer Disziplin?« tadelte sie der Anführer. »Ja, dies ist die Nacht. Die Göttin Kali hat uns für diese Nacht sieben wandermüde Reisende dort hinten am Dorfrand zugesagt. Sieben Tote, sieben Gräber, doch wenn ihr deswegen solchen Lärm macht, werden es statt dessen zwanzig Gräber sein, für zwanzig Männer, die sich als Ochsentreiber verkleidet haben und die die Polizei nur allzu gerne zur Strecke bringen würde.« Dhan beobachtete, wie die Zwillinge sich verlegen zurückzogen. Er wußte, daß sein Vater besorgt war, denn die Polizei suchte nach ihnen. Nachdem erst vor kurzem einige Jumaldeheer-Thugs aus Hyderabad verhaftet worden waren, war man sich in ganz Indien über den wieder aufkommenden Thugismus im klaren. Nun, wenigstens hatte seine Bande ihre Opfer bisher immer so begraben, wie es sich gehörte. Man mußte sich nur einmal vorstellen, daß er, Dhan, die Raubzüge in Barna, Unnao und hier auf der Lucknowstraße ausgekundschaftet hatte! Er hatte die Reisegruppe entdeckt, über die die Würger jetzt ihre tödlichen Schlingen auswerfen konnten. Und all dies, um in Chundras Fußstapfen zu treten, um wie
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er ein Thug-Guru zu werden. Gelobt sei Devi, daß er einen solchen Vater hatte! Doch dann verdunkelte der Gedanke an seine Mutter Dhans Träumerei, war sie doch genauso seltsam und unergründlich wie der alte Sadhu dort. Es wurde behauptet, daß Gauri Bala sich seit der Geburt ihres ersten Sohnes Bhima verändert habe. Die Tortur dieser Geburt hatte sie dazu getrieben, sich der Göttin zu weihen, und nach all dem, was danach geschehen war, hatte Kali dem zugestimmt. Gauri, das sagte ein jeder, hatte Gaben, ungewöhnliche Fähigkeiten. Sie hatte die Gabe der Weissagung und die Macht des bösen Blicks. Zusätzlich besaß sie eine andere Kraft, über die sich Dhan im unklaren war, die ihn jedoch in respektvoller Distanz hielt. Zuerst war der Dorfälteste sehr vorsichtig gewesen, als Chundra mit ihm zu sprechen begonnen hatte. Denn war es nicht so, daß die Thugs oft verkleidet durch die Straßen wanderten? »Erzähle mir von dir«, hatte der Mann gedrängt. »Meine Treiber und ich brauchen für eine Nacht Ruhe, bevor wir Lucknow erreichen«, log Chundra. Der Dorfälteste vermied es, direkte Fragen zu stellen: »So seid ihr wohl von Uttar Pradesh?« »Ja, aus Purwa und aus dem Staate Orissa davor, da, bei Cuttack. Die sieben Reisenden da hinten hast du gewiß nicht so ausgefragt wie mich?« »O doch, das habe ich. Es sind Doktoren, Anthropologen von der Universität in Lucknow. Mein Neffe hat ihre Antworten alle überprüft, denn er hat auf der gleichen Universität Wirtschaftswissenschaften studiert.« Sein Ton wurde plötzlich zynisch: »Und seitdem lungert er den ganzen Tag hier im Dorf
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herum, ohne Arbeit und zu gebildet, um gewöhnliche Arbeit zu verrichten.« »Die sieben Reisenden sind Doktoren, sagst du? Auch der, der in seiner Kapuzenkutte so sonderbar aussieht?« »Nein, er ist ein Pilger, vermutlich ein Meßgehilfe.« Chundra wies zu dem Heiligen auf dem Platz. »Das scheint ein Lehrer zu sein, dem alle möglichen Jünger nachfolgen. Kam er auch mit ihnen?« »Er kam vor zwei Wochen alleine irgendwo aus dem Norden und ist dageblieben. Wirklich, er ist ein sehr heiliger Mann, da bin ich mir sicher. Vielleicht erwartet er von einem Gott ein Zeichen, bevor er von hier weiterzieht. Wer kennt sich mit diesen Sadhus schon aus? Sie sehen und hören das, was uns verborgen bleibt. Nun denn, du kannst mit deinen Leuten und deinen Ochsen in unserem Dorf übernachten. Du scheinst ein einfacher Mann zu sein wie wir alle hier.« Auf diese Weise hatte Chundra Bala das Vertrauen des Mannes gewonnen und alles über die sieben Männer erfahren, die dort am Dorfrand zelteten. Dann plante er mit seinen Leuten, daß sie am besten angriffen, indem sie das Dorf umgingen. Chundras abergläubische Natur verlangte, zu dem alten Sadhu möglichst Distanz zu halten. Um die Dorfbewohner in die Irre zu führen und zu verhindern, daß sie ihnen nachschauten, stopften sie ihre Wolldecken aus und ließen einen Thug als Viehwächter am Feuer zurück. Die übrigen verschwanden nach und nach im Dunkel der Nacht, Chundra zwischen den Reisfeldern folgend. Vierzig Minuten später erkundeten sie das Lager der sieben Männer. Kein Mondlicht schien, das sie hätte verraten können. Zwei aus der Reisegruppe waren noch wach. Sie saßen sich am Feuer gegenüber. Der eine schien der älteste der Anthropologen zu sein, ein
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riesiger Mann mit wallendem Bart. Er sah wie ein riesiger Sikh aus. Der Mann, der ihm gegenübersaß und der Chundra und seiner Bande den Rücken zukehrte, meditierte in Lotosstellung. Daß er nur ein Pilger und kein Guru war, den zu töten Unglück bedeutet hätte, minderte Chundras Nervosität so gut wie gar nicht. Ein Mann, der selbst bei Tageshitze seine Kapuze trug, war zumindest sehr seltsam. Dennoch gab der Thug-Anführer das Zeichen. Begeistert zog der junge Dhan hinter der Bande her und stellte fest, daß der Vorgang wie gewöhnlich ablief. Ein Würger und zwei Handlanger wurden jedem Opfer zugewiesen. Die Morde würden in Etappen stattfinden, weil nicht genügend Thugs zugegen waren, um ihre Arbeit auf einmal erledigen zu können. Den Totengräbern wurde erlaubt, vorübergehend als Handlanger zu arbeiten. Der Knabe wünschte, daß er, der einzige Kundschafter, auch mit einbezogen würde, doch er hatte nur aufzupassen, weiter nichts. Trotzdem war es ein Ereignis, zu den schnell dahinhuschenden Schatten zu gehören, die so gewandt und geschwind den anderen den Tod brachten. Sie näherten sich denen, die am weitesten vom Feuer weg saßen. Die Nacht war warm. Die Schläfer hatten sich über den ganzen Platz verstreut zur Ruhe gelegt. Dhans Puls schlug schneller, als sich der Moment näherte. Er fuhr zusammen, als das erste Opfer laut zu schnarchen begann. Vor ihm ließen sich die Gestalten zu Boden. Sanft hielt der eine der Handlanger den Kopf des Mannes hoch, während der andere ihm den Mund zuhielt. Das Schnarchen brach ab, und Dhan sah, wie das Opfer die Augen weit aufriß. Der Würger zog die Schlinge vollends zu, und der be-
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wegungslose Kopf sank zu Boden. Dann sah Dhan, wie ein weiterer Schläfer erledigt wurde. Die Schnelligkeit, mit der die Mörder zu Werke gingen, übertraf an Raserei noch Dhans eigenen Eifer. Schon waren fünf der Männer ausgelöscht. Dank sei Devi. Sie hielt heute nacht zu ihnen. Die letzten waren die beiden vor dem Feuer. Die Thugs schlichen weiter. Unverzüglich wurde der älteste der Anthropologen ergriffen. Doch er benutzte seine gewaltige Körperkraft und seine breiten Schultern, um die Angreifer abzuschütteln. Er puffte, schlug und stieß mit den Füßen um sich. Dabei schrie er zu seinen Begleitern hinüber: »Räuber! Räuber!« Dhan, voller Angst, dieses Geschrei würde das Dorf wecken, stürzte sich ins Kampfgetümmel. Inzwischen hatte Chundra sich dem Pilger zugewandt. Genau in dem Augenblick, in dem der Anthropologe von den anderen angegriffen wurde, wagte er sich vor. Schon schlang sich der Seidenschal um den Hals des Pilgers, der keinen Widerstand leistete. Die Schlinge zog sich fester zu. Dann erstarrte Chundra Balas Blick. Jemand hatte seinen Arm ergriffen. Er fühlte, wie sich Finger in seinen Kittel gruben und ein gebieterischer Druck auf seinen Handgelenken ihn davon abhielt, den Seidenschal ganz zuzuziehen. Ein fester, kräftiger Körper preßte sich mit aller Gewalt gegen seinen Rücken, so daß er die Schlinge nicht mehr weiter zuziehen konnte. Zugleich drang ein schwerer, sich aus Moschus und verbranntem Fleisch zusammensetzender Geruch zu ihm. Von weitem hörte er ein Klirren, das Geräusch von Fußspangen. »Reiß ihn weg!« sagte er zu Bidhan, einem seiner Handlanger. »Wen soll ich wegreißen, Meister?« fragte Bidhan. »Nimm ihn weg von mir!« Die beiden Handlanger fragten
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nun wie aus einem Mund: »Wen, Meister?« »Ihr Dummköpfe, seht ihr ihn denn nicht? Er hält doch meine Handgelenke fest. Irre ich mich denn? Ist da keiner, der mich festhält?« »Da ist niemand«, entgegnete Bidhan nach einer Weile. Dabei schlang er seinen eigenen Arm um Chundras Körper und ergriff seine Handgelenke. Mit einem wütenden Knurren spannte der Würger seine Muskeln an und stemmte sich gegen das Unsichtbare, das ihn festhielt. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Wie durch einen Schleier sah er, daß der Kampf mit dem Anthropologen beendet war. Doch jemand wimmerte und bat die Göttin um Vergebung. Narren, die Dorfbewohner werden es hören … Chundra machte einen letzten Versuch, um den Pilger zu erwürgen, doch die Kraft, die ihn festhielt, verstärkte sich, und der Druck wurde unerträglich. Das Grauen kroch Chundra den Rücken hinauf, als sich ein Befehl in sein Gehirn hämmerte: »Tu’s nicht!« Ohne zu zögern ließ er von seinem Opfer ab und fegte die Handlanger zur Seite. Im gleichen Augenblick kam ein Thug ans Feuer gestürzt und jammerte: »Ich habe Blut vergossen! Möge Devi mir vergeben. Doch aus lauter Angst, daß der Große weiter um Hilfe schreien würde, habe ich von einem der Leichname das Messer genommen und es ihm ins Herz gestoßen.« »Und nun wirst du mit deinem Gejammer das ganze Dorf wecken«, schalt Chundra. »Es ist schlimm, Blut zu vergießen, aber noch schlimmer ist es, unsere Gegenwart preiszugeben.« Der Thug warf sich zu Boden, schluchzte und schlug sich gegen die Brust. Chundra beachtete ihn nicht. Obwohl ihn die unbekannte Kraft nicht länger festhielt, fühlte er immer noch die langen, geschmeidigen Finger, deren Nägel sich in seine Handgelenke gruben. Er rieb sich seine Gelenke, starrte auf
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den Pilger und fragte sich, warum gerade dieser verschont geblieben war. »Wer bist du«, fragte er voller Ehrfurcht, »daß selbst Devi dich bewahrt?« »Meister«, drängte Bidhan, ihn unterbrechend, »laß uns fliehen. Wir sind verflucht, seit einer von uns Blut vergossen hat. Und dein Sohn Dhan – der Große hat ihn getötet.« »Er spricht die Wahrheit«, sagte ein anderer, »er hat den Kopf des Jungen gegen einen Baum geschmettert.« »Laß mich wissen, wer du bist«, beharrte Chundra, sich dem Pilger zuwendend und taub gegenüber dem, was die beiden Männer ihm sagten. Er zog die Kapuze des Pilgers zurück. »Dein Sohn Dhan, Meister! Er ist tot«, wiederholte Bidhan. »Ja, tot«, betonte der andere. Chundra jedoch hörte auf eine andere Stimme, sich erinnernd, sie heute nacht in dieser Lichtung bereits gehört zu haben; ihm sagend, daß ein Gebieter kommen würde, ein Thug, der sie alle führen würde, alle. Gauris Prophezeiung, die sie seinerzeit im Dunkeln gemurmelt hatte, als sie alleine im eigenen Haus gewesen waren … Lange starrte er in die Augen des Pilgers, während seine Männer ihn bedrängten, mit ihnen zu fliehen. Erst als der Blick des Pilgers zu einem Punkt hinter ihm wies, erhob sich der Würger und wandte sich um. Dort stand, als wäre er ein Teil des Rauches, der alte Sadhu. Wie eine rotgoldene Peitsche züngelte der Feuerschein nach seinen geschlossenen Augen. Da erhob sich der Pilger und näherte sich dem Heiligen. Der Sadhu ging fort, und der Pilger folgte ihm. Während er zusah, brach in Chundras Bewußtsein das Verständnis auf. »Kehrt nach Hause zurück«, befahl der Thug seinem Stellvertreter, »ich stoße später zu euch.« »Aber dein Sohn Dhan, Meister. Er ist tot.«
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Chundras Blick richtete sich auf den schmalen leblosen Körper in Bidhans Armen. »Aber Dhan war doch vor jeder Gefahr sicher. Er war doch nur Kundschafter.« Ein gurgelnder Laut drang aus Chundras Kehle. »Warum sollte er also tot sein?« fragte er schließlich und starrte seine Leute an, als bäte er sie um Rat. Aber sie schwiegen. Und dann schweifte sein Blick, ganz gegen seinen Willen, wieder in die Dunkelheit, wo die beiden Männer gen Norden zogen. »Du wirst nun sein Vater sein«, sagte er mit brechender Stimme zu seinem Stellvertreter. »Handle so, als müßtest du auf einen Sohn achtgeben.« Chundra holte tief Luft. In seinen Augen spiegelte sich die Glut des Feuers. Dann verließ er sie.
2 Boston 1975 – Beacon Hill Santha Wrench öffnete die Fensterflügel und blickte auf die Lime Street hinaus. Die Morgenluft war noch feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Die Stuckfassade des Stadthauses auf der gegenüberliegenden Seite der engen Straße war vor Nässe ganz dunkel. Die schmiedeeisernen Schnörkel des Gartentors glitzerten im Licht einer der in Beacon Hill ständig brennenden Gaslaternen. Santha zitterte in der beißenden Kälte. Sie zog ihren Morgenrock fester um sich und schloß das Fenster. Sie setzte sich an den Küchentisch und schlürfte den Rest ihres Jasmintees. Die Spannung von Villa-Lobos Bachianas Brasileiras kam ihr wieder in den Sinn, wurde jedoch allmählich und beharrlich durch George Buchans Gesicht überlagert, das 19
die Reihe der düsteren Erinnerungen verdrängte, die sie seit dem Erwachen begleitet hatten. Santha trug Teetasse und Untertasse zur Spüle hinüber, ging ins Wohnzimmer und sah sich voller Unbehagen in ihrer Wohnung um. Aufgeschlagene Bücher lagen verstreut herum, auf dem Lampentisch, auf dem Kaminsims und auf einem Bücherstapel neben ihrem Lesesessel. In dem Raum war seit einer Woche kein Staub mehr gewischt worden, und von der Stereokonsole baumelte ein Büstenhalter. Sie hatte ihn am Abend zuvor, vor Überanstrengung, total erschöpft, einfach dorthin geworfen. Seit Monaten machte Santha als Herausgeberin des indischen Peabody-Museumskatalogs für indische Artefakte Überstunden. Während der besonders anstrengenden Zeit hatte sie sich keine Ruhepause gegönnt, aber in einer solchen Schlamperei zu leben hieß, die Dinge zu übertreiben. Santha beschloß, das Haus so bald wie möglich zu putzen. Dann stellte sie fest, wie spät es war, und eilte hinüber ins Bad, um zu duschen. Als sie in den Flur hinaustrat, fiel ihr Blick auf einen Wandbehang, auf dem eine junge Inderin, die ihr Haar im Mondlicht flocht, abgebildet war. Augenscheinlich erwartete das Mädchen den jungen Prinzen, der sie, hinter einem Busch verborgen, beobachtete. Das Mädchen unter dem Teakbaum lächelte versonnen vor sich hin. Santha hatte diesen Wandbehang vor Jahren auf einer Reise mit ihren Eltern in Madras erworben. Obwohl er keinen künstlerischen Wert besaß, behielt sie ihn aus reiner Sentimentalität. Als ganz junges Mädchen hatte sie sich oftmals mit der Schönen auf dem Wandbehang identifiziert. Im Augenblick schien dieses Lächeln jedoch von einem dunklen Schatten weggewischt zu sein, der den Mund vollkommen verbarg. Santha blieb stehen und blickte noch einmal dorthin. Das Lächeln war wieder da, und das ominöse Dunkel
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war verschwunden. Santha schüttelte ungläubig den Kopf und ging in den Korridor. Später, beim Ankleiden, überlegte Santha, daß dies nicht das erstemal war, daß sie Schatten auf den Dingen um sich herum sah. Im Spätsommer hatte es angefangen. Als sie an einem hellen, sonnigen Tag durch die Lime Street ging, waren ihr die Häuserfronten und der Gehsteig auf einmal vorgekommen, als lägen sie in tiefem, fast fließendem Schatten. Santha wollte sofort weglaufen, aber der Boden verschob sich plötzlich wie bei einem kleinen Erdbeben, und dann wurde alles wieder wie vorher. Einige Tage später hatte die Fassade des PeabodyMuseums auf sie gewirkt, als ob sie mit Sirup benäßt wäre, aber auch dieser Eindruck verflüchtigte sich sofort wieder. Der dritte Vorfall war der schlimmste von allen gewesen: Als Santha den großen Museumssafe betrat, in welchem die Artefakte aufbewahrt wurden, hatte sie das Gefühl gehabt, daß der Schatten, der sie verschlang, etwas lebendig Gegenwärtiges war. Das angsterzeugende Dunkel hatte sie laut aufschreien lassen, und erst dann verschwand es. Als die anderen Angestellten besorgt herbeigelaufen kamen, hatte Santha gelogen und behauptet, sie habe eine Maus gesehen. Und nun mußte sie feststellen, daß der Schatten sich auch hier, in ihrer Wohnung, aufhielt. Während Santha die Strumpfhose anzog, fragte sie sich, was wohl Dr. George Buchan, ihr Psychiater, von diesen Halluzinationen halten würde. Vermutlich würde er annehmen, daß sie erst seit dem Tod ihrer kürzlich verstorbenen Mutter Kamala aufgetreten waren. Für George war es nur logisch, so zu denken. Eigentlich sah sie es auch so. Das Lampenlicht fiel auf die Handdrucke an der Wand, die sich von der Decke bis zur Fußleiste erstreckten. Santha fühlte einen plötzlich tiefen Schmerz. Seinerzeit hatte sie aus purer
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Spielerei mit Handfarben dieses breite Druckmuster an die Wand gezaubert. Aber Kamala hatte die Fröhlichkeit, mit der dies geschah, nicht gelten lassen, weil nämlich die indischen Dorffrauen in ihren Häusern das gleiche mit Kuhmist tun. Doch Santha hatte vehement darauf bestanden, daß sie in ihrer Wohnung tun dürfe, was ihr Spaß machte. Diese FaksimileDungdrucke waren nun zu einer schmerzlichen Erinnerung geworden und keinesfalls mehr heiter. Santhas Blick wanderte von ihrer strahlend sonnengelben, aus Delhi importierten Steppdecke zu dem Stoffstapel auf einer Kommode in der Zimmerecke. Während sie zu ihrem Toilettentisch ging, berührte sie flüchtig die zinnoberrote Creme, die man für die Tikkamarkierung braucht, um den Punkt auf die Stirn, wie Inderinnen ihn tragen, zu machen. Sie selbst gestattete sich nie, sie zu diesem Zweck zu benutzen. Dann kramte sie zwei Teakholzschmuckkästchen heraus und entnahm ihnen ein purpurrotes Steinamulett aus Ganesha, den Elefantengott. Die alte Sehnsucht, nach Indien zurückzukehren, einen Sari zu tragen, Hindi zu sprechen und wie eine Inderin zu fühlen, kam wieder auf. Santhas Hand, die schlaff vom Toilettentisch herabhing, fand ihren Weg auf die andere Seite der Tischplatte, wo sich alle modernen Toilettenartikel befanden, die man in jedem amerikanischen Warenhaus bekommt. Und mitten dazwischen war ein gerahmtes Bild von John Lennon und Yoko Ono. »Widersprüchliche Santha Wrench«, dachte sie bitterlich. Sie fand ihre Armbanduhr in dem Durcheinander und beeilte sich, mit dem Anziehen fertig zu werden. Ihr VW-Käfer war noch in der Reparaturwerkstatt, sie mußte die U-Bahn nach Cambridge nehmen. Sie eilte zum Flurwandschrank hinüber, um ihren Wintermantel herauszunehmen. Doch die Dunkelheit im Flur verschwand plötzlich. Sie blinzelte in das plötzlich hellaufblitzende Licht.
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Dort waren Männer, die lautlos lachten und auf sie zu warten schienen. Santha Wrench wunderte sich, daß sie keine Angst verspürte. Schließlich befand sie sich an einem fremden Ort. Die fremden Männer saßen auf einem Erdhügel. Aber noch befremdlicher war diese Ruhe, diese große und absolute Stille. Dies war eine trockene Landschaft im Dekhan. In der Bibliothek ihres Großvaters in Delhi hatte es ein Buch mit Goldschnitt gegeben, in dem sich eine Serie von Fotografien der indischen Halbinsel befand. Und genau diese Gegend, karges Buschland unter flimmernder Hitze, war auf einem dieser Fotos zu sehen, dieselben Bäume, wie lange Hälse mit wuscheligen Köpfen darauf – ja, es war der gleiche öde und dämmerige Fleck mit einer undeutlichen Felsenkulisse. Aber warum hier? Warum und wie und wann war sie hier angekommen? Das Gestein wirkte urzeitlich, verwittert und niederdrückend. Der Wind fegte über das weite Land, und die Bäume überbogen sich beinahe. Santha blinzelte, schüttelte den Kopf, versuchte, diese Szene irgendwie zu entwirren und sie in diesem ausdörrenden Wind zu zersplittern. Der rotglühende Himmel schien näher zu kommen, so, als wolle er über ihr abstürzen und mit der sturmbewegten Ebene kollidieren. Von nirgendwoher kam ein Laut. Kein Geräusch von der Stelle, wo die Männer saßen, kein Windesrauschen, kein Rascheln in den Bäumen. Dann wurde sie von Ahnungen ergriffen und verstand: Für die Männer war sie unsichtbar. Und sie, ja die ganze Landschaft, warteten. Da gab es etwas, was sie zu sehen hatte, worüber sie etwas erfahren sollte. Während sie sich jetzt den Männern näherte, fühlte sich Santha von einer geräuschlosen Kraft vorwärtsgestoßen, wie von einem Windstoß, der sie von hinten trieb. Ihr Haar fächerte
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sich wie das Gefieder eines schwarzen Vogels. Sie durchkreuzte die Einöde und gelangte schließlich an den Wall aufgeschütteter Erde. Sie sah sich zweiundzwanzig Männern gegenüber, die auf dem kaum sichtbaren Erdhügel hockten. Sie sprachen miteinander, lachten und aßen von den Vorräten, die sie aus Beuteln und Fischkörben zogen; kräftige, nußbraune Männer, die nur einen Lendenschurz und verschlissene gelbe Turbane trugen. An dem einen Ende des Hügels war, separat und aus irgendeinem unbekannten Grunde bedeutsam, eine Spitzhacke zu sehen. Sie war senkrecht in die lockere Erde gestoßen. Sie beobachtete, wie die Männer ihre Mahlzeit beendeten. Der Wind strich von den fernen Hängen herab, fegte über das Flachland und blies den Männern ins Gesicht. Ihre Augen waren unruhige schwarze Flecken in der Dämmerung. Santha umkreiste den langgestreckten Erdhügel. Die Männer und das, was sie hier taten, waren geheimnisvoll, doch sie, Santha, wußte, daß sie ihr Wissen mit ihnen teilte. Immer stärker wurde der Wind. Erdstücke wurden hochgewirbelt. Die Männer richteten nun ihre Aufmerksamkeit auf einen hochgewachsenen, hageren Redner. Seine tiefliegenden Augen glühten böse über hervorstehenden Backenknochen, ein Gesicht, so ferngerückt wie die fernen Berggipfel. Das sich ausbreitende Abendrot verfärbte seine Wangen, während er sprach. Seine Hände waren voller Muttermale, und knochige, gebieterische Finger spielten mit der Seide seines Turbans. Anders als die anderen trug er ihn nicht auf dem Kopf, sondern hielt ihn, die Seide in sich selbst verschlungen, vor sich ausgebreitet, an einem Ende geknotet und wie zu einer Schlinge gedreht, über einen imaginären Gegenstand. Der Mann unterrichtete, und die Gestalten waren still. Der Wind bauschte die Seide, bis sie zu flattern begann. Fast glaubte Santha, das schnelle und gewaltsame Zerren des Win-
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des an dem Gewebe zu hören. Wie gebannt starrten die Männer und Santha in den Wind. Der Wind wurde immer stärker und zerrte plötzlich an den Turbanen der anderen Männer. Diese lösten sich auf, wehten wie Fahnen und breite Bänder in den Windsog hinein. Sie wirkten wie Luftschlangen bei einem Fest. Der sich verdichtende, wirbelnde Staub wurde zu Nebel, der die Männer wie sich bewegende Gestalten erscheinen ließ. Nur der Teil des Erdhügels, in dem die Spitzhacke verankert war, zeichnete sich klar ab. Risse, eine Reihe von Zickzacklinien, rissen den Schmutz in ihre Öffnungen. Die ganze Erdoberfläche brach plötzlich wie eine bröckelige Muschel auf, die heiße ockerfarbene Erde heraufwirbelte und in die Vorratskörbe spülte. Die Seite des Hügels, an der sie stand, brach in Stücke und schloß sich dem Zickzackmuster an, welches den Hügel entlang verlief. Selbst in dem trüben Licht, das jetzt herrschte, konnte sie in das aufbrechende Erdreich sehen. Santha sah Haare. Santha sah Körper. Santha sah Hände, Beine. Und Santha sah Gesichter, mehr und mehr Gesichter. Da wußte Santha, was die Spitzhacke bedeutete. Dieser Hügel war ein Grab, ein langgestrecktes Massengrab für Dutzende von Leichen, die dort Seite an Seite lagen, in die Gewänder, die sie zu Lebzeiten trugen, gekleidet und nach einem bestimmten Ordnungsprinzip plaziert waren. Aber die Augen der Toten waren offen. Das Entsetzen über das Unerwartete, was ihnen zugestoßen war, lag darin – ein untrügliches Zeichen eines plötzlichen Endes. Voller Abscheu wich sie zurück. Aber das änderte sich plötzlich. Ein Teil ihrer selbst beobachtete schockiert, daß sie voller Interesse das zerstörte Grab und seinen Inhalt betrachtete. Es war, als beobachtete sie einen fremden Menschen. Sie hörte sich erleichtert aufseufzen, beugte sich tiefer über die Leichen
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hinunter und atmete erregt. Santha, die Santha, die ihr bekannt war, fühlte nun, wie sie zerbrach. Ihr Verstand schrie angesichts ihres leichenschänderischen Dämons auf, der ekstatisch den Tod einsog. Die Scherbe, die sie selbst war, wurde in einen Wall nächtlicher Dunkelheit hineingewirbelt. Santha Wrench hielt sich am Griff der Wohnungstür fest, um nicht umzufallen. In tiefen Atemzügen rang sie nach Luft. Schließlich zitterten ihre Beine nicht mehr, und die Schwäche wich. Dann suchte Santha den Weg ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. Ihre Blicke durchforschten den Raum, erwartend, daß die wilde Landschaft des Dekhan jeden Augenblick wiederkehrte. Die Villa-Lobos-Musik holte sie in die Gegenwart zurück, und ihr wurde klar, daß nur ein paar Minuten vergangen sein konnten. Es schien alles nur einen halben Atemzug lang gedauert zu haben. In dem ausgedörrten Landstrich von Dekhan, einer Gegend, die sie während ihres früheren Aufenthaltes in Indien nie kennengelernt hatte. Warum gerade Dekhan? Warum so eine kahle, fremde und unruhige Gegend? Ihr Verstand klärte sich und versuchte, das Geschehene zu deuten. Ihre Finger ergriffen und bauschten die afghanische Diwandecke, während sie gegen die sie durchlaufenden Vibrationen ankämpfte. Sie atmete tief durch, atmete dagegen an und fühlte sich schließlich befreit und wiederhergestellt. Es war keine Halluzination gewesen, sagte sich Santha. Es war ein reales Geschehen, so, als hätte sie sich in einer Filmszene bewegt. Für kurze Zeit war sie wieder in Indien gewesen. Es handelte sich um ein Verlassen des eigenen Körpers. Santha hatte mehr als einmal davon gehört, daß Yogis und Gurus in der Lage waren, ihren Körper zu verlassen. Sie hatte
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solchen Berichten niemals wirklich geglaubt. Es gab so viele phantastische Geschichten über außerkörperliche Erfahrungen, die man sich in Indien erzählte. Sie spürte, daß irgend etwas in ihr wünschte, so schnell wie möglich wieder normal zu werden. Sie wurde ruhig, fast heiter. Santha erhob sich abrupt und ging wieder zum Wandschrank hinüber, nahm ihren Mantel und einen weißen Schal heraus, kämmte sich ihr Haar, zog den Mantel über, schlang den Schal um den Hals und stellte die Stereoanlage ab. Sie bewegte sich automatisch, völlig auf das konzentriert, was sie tat. An der Tür zögerte sie einen Augenblick, aber die seltsame Ruhe trieb sie an, und sie verließ die Wohnung. Während sie die Charles Street entlangging, gewann Santha mit jedem Schritt ihre Sicherheit zurück. Der frische, kühle Tag belebte sie, eine kleine Brise zerrte an ihrem Haar, und sie wünschte, daß sie den Kapuzenmantel angezogen hätte. An der Ecke der Pickney Street blieb Santha stehen und blickte zu einem Gebäude hinunter, das gegenüber dem Storrow Drive lag. Es war das Haus auf der linken Straßenseite. Dort, in der Wohnung ihrer Eltern, saß ihr Vater Stephen Wrench, allein und deprimiert in seinem Schlafzimmer. Das tat er nun schon seit Kamalas Tod im Juli. Am U-Bahnhof Charles Street schaffte sie es, die Überführung in dem brausenden Wind, der vom Charles River herüberblies, zu überqueren und in die U-Bahn-Station hinabzusteigen. Im halbleeren Abteil betrachtete Santha ihr Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe und dachte, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen mit George freute. Aber ich werde ihm von diesem Ereignis nicht berichten, entschied sie. George würde das alles niemals als eine Realität anerkennen. Nie. Einen kurzen Augenblick lang überlegte sie,
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ob dieser Entschluß wirklich ihr eigener war. Doch der Gedanke verflüchtigte sich. Statt dessen stand ihr wieder Georges Bild vor Augen. Sie waren sich vor sieben Monaten begegnet. Damals lebte Kamala noch, und alles war anders. Kamala war mit ihr ins Isabella-Stewart-Gardner-Museum gegangen, wo an jenem klaren Sonntagnachmittag ein Konzert stattgefunden hatte. Es war Frühling gewesen, und die Luft duftete nach Flieder. Das Konzert bestand aus Streichquartetten von Mozart, Almeyda und Debussy. George Buchan saß links zwei Sitze weiter von ihr. Mehrere Male während des Konzerts hatte sie bemerkt, daß er sich vorbeugte, um an den Dazwischensitzenden vorbeisehen und sie betrachten zu können. Nachdem das Konzert zu Ende war, war er zu ihnen getreten und hatte gesagt: »In vierzehn Tagen wird es hier eine Folge von Beethovenquartetten geben.« Er stand elegant in einem anthrazitgrauen Dreiteiler vor ihr, überragte sie um Haupteslänge, und hatte gemeint: »Nun?« »Was heißt ›nun‹?« hatte sie kühl gefragt. »Nun – mein Name ist George Buchan.« Er hatte gelächelt und sie damit gewonnen. Sie hatte zurückgelächelt und erwidert: »Santha Wrench.« Seitdem hatten sie sich immerzu gesehen. Zum Mittagessen, zum Dinner, zu Konzerten, im Kino, im Theater, bei Sportveranstaltungen (Santha entdeckte bei dieser Gelegenheit das Baseballspiel), bei Spaziergängen an der Esplanade, wo sie den Bootsmannschaften von Harvard beim Training zusahen, und beim Segeln auf dem Charles River. Alles war sehr fröhlich und ganz unproblematisch gewesen, denn er wohnte nur ein paar Straßen weiter am Otis Place. Der Zug fuhr in Harvard ein. Der Bahnhof war überfüllt, die meisten Fahrgäste waren Studenten. Santha schob sich durch die Menge und sah lauter unbekannte Gesichter. Schließlich
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nahm sie eine Frau im Sari wahr, die von zwei Männern begleitet wurde. Sie plauderten unbefangen in Marathi, der Sprache des Staates Maharashtra. Die Männer trugen umgehängte Kameras. Santha mußte an die vielen wunderschönen Saris denken, die sie seinerzeit in Indien getragen hatte. Damals in Amerika hatte Kamala darauf bestanden, daß Santha sich so amerikanisch wie möglich kleidete. Schließlich sei Santha eine amerikanische Staatsbürgerin, betonte Kamala. Santha sollte das Gefühl haben, daß sie dazugehörte. »Ich hatte niemals ein anderes Gefühl«, wandte Santha ein, »aber was hat denn Kleidung damit zu tun?« Aber dann hatte sie gehorcht. Sie hatte Kamalas Wunsch nachgegeben, um festzustellen, daß mitten in Boston und Cambridge viele Amerikaner so gekleidet waren, als ob sie aus einem anderen Land kämen. Santha sah das als eine Kostümierung an. Und während sie die Hindufrau um ihren Sari beneidete, dachte Santha, wie herrlich oberflächlich Kostümierungen waren. Aus der U-Bahn-Station aufgetaucht, eilte Santha sogleich zu Grendels Kneipe. Heute morgen hatte George in der Stillman-Klinik beim Harvard Holyoke-Center einen Patienten besuchen müssen, doch damit würde er mittlerweile wohl fertig sein und an einem Tisch auf der angeschlossenen Veranda auf sie warten. Kaum durch die Eingangstür gekommen, eilte Santha in den Damenwaschraum, betrachtete sich im Spiegel, nahm einen Kamm und kämmte ihr schulterlanges Haar, das schwarz und lebendig wie etwas Eigenständiges wirkte, zerzaust und gebauscht, als befände sie sich noch immer im Dekhanmonsun. Eigensinnig widerstand es dem Kamm. Santha hielt inne, stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, um ihr Spiegelbild aus noch größerer Nähe zu betrachten. George sollte die Spuren der Strapazen nicht bemerken, die das Massaker bei ihr hinterlassen hatte. Die Toten in dem Mas-
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sengrab waren ermordet worden, sagte ihr der Instinkt. Dennoch war es erstaunlich, wie sie damit zurechtkam und daß ihr Bewußtsein so leicht damit fertig wurde. Vielleicht lag es an ihren Augen … Santha betrachtete sie genauer. Sie waren groß, feucht, zwei dunkelbraune Achate, dahintreibend in einem weißen See. Plötzlich mußte sich Santha am Waschbeckenrand festhalten. Sie erholte sich, sobald sie ihr vertrautes Gesicht wiedererkannte, ein schmales Antlitz mit hohen Backenknochen, darunter eine leichte Höhlung wie ein hingehauchter, dunkler Fleck. Der feingeschwungene Mund mit den vollen Lippen erinnerte an eine Elfenbeinminiatur. Die leicht gebogene Nase mit den feinen, bebenden Nasenflügeln, die Haut fast dravidisch* dunkel; ein zartes, durchaus schmales Gesicht, mit der ihre körperliche Fülle nicht ganz übereinstimmte. Santha betupfte gerade ihre Augen mit einem angefeuchteten Taschentuch, als es an der Tür klopfte. »Andere möchten auch noch hinein!« rief eine weibliche Stimme. Santha holte tief Luft und trat mit einem »Oh, verzeihen Sie bitte!« aus der Tür. Als sie auf der Restaurantterrasse an Georges Tisch trat, las er gerade in einer Ausgabe des »American Artist«. Ölmalerei war sein Hobby. Das hatte Santha tief beeindruckt, weil es ihrer Vorstellung von einem Psychiater widersprach. Santha beugte sich nieder, küßte ihn auf die Wange, streichelte zart über seinen Bart, setzte sich, sah auf sein Fruchtsaftgetränk und sagte: »Hm, sieht gut aus. Ich glaube, ich nehme auch eines.« Ihre Stimme klang ruhig und natürlich, und sie dachte, unglaublich, daß da etwas ist, was mich so ruhig hält. Etwas, was mich so haben will. * Draviden = Angehörige einer großen indischen Sprachfamilie (Anm. d. Übers.)
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»Hungrig?« fragte er. »Nicht besonders.« Er brummte: »Na schön, aber ich bin’s. Was nimmst du?« »Ich glaube, einen Salat.« Eine Kellnerin kam an ihren Tisch, und sie bestellten. »Sieht ganz so aus, als bekämen wir wieder einen regnerischen Tag!« sagte George und schaute aus dem Verandafenster. »Wir können ja immer noch ins Kino gehen, wenn es zu trübe wird.« George rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Ich dachte, wir sollten was Produktiveres tun. Zum Beispiel deinen Vater aus dem Haus holen, damit er mal an die frische Luft kommt. Vielleicht zu einer Autofahrt mitnehmen.« »Er unterliegt nicht deiner Verantwortung, George.« »Santha, der Mann hat sich zu lange von allem isoliert, wenn das so weitergeht …« »Ich weiß, daß er Depressionen hat. Aber er wird sich bald wieder da rausreißen. Er ist kein gewöhnlicher Mann, George. Er hat ein abenteuerliches Leben geführt, hat oft viele Tote gesehen. Und jetzt gehört er zum FBI. Er hat für Interpol gearbeitet, war Verbindungsoffizier im Zweiten Weltkrieg. Er mußte schon durch viel Schlimmeres hindurch.« »Wirklich, Santha? Der Tod einer Gattin ist für den Hinterbliebenen ein einziges Trauma. Oft folgen Depressionen, Schuldgefühle und –« »Schuldgefühle? Warum sollte Daddy wegen Mutters Tod Schuldgefühle haben? Er liebte sie vollkommen.« Das Essen kam, und sie schwiegen. Als die Kellnerin ging, fuhr George fort: »Siehst du das denn nicht, Santha? Dein Vater war für deine Mutter alles, was ein Mann für seine Frau nur sein kann. Vielleicht fühlt er sich schuldig, daß er ihren Tod nicht verhindern konnte, daß er etwas unterlassen hat, was sie
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vielleicht hätte retten können. Es ist oft unlogisch, aber nicht ungewöhnlich.« »Er wird sich wieder erholen. Ich weiß, daß er es wird. Wir brauchen ihn nicht in ein Krankenhaus einliefern.« »Du bist verärgert.« »Ja, ich werde gereizt, wenn du von Dad in einer Art sprichst, als wäre er geistig nicht ganz normal. Gib ihm Zeit, George, um sich wieder zu fangen, bitte!« Einen Augenblick später sagte sie sanft: »Das ist nur, weil du ihn vor Mutters Tod gar nicht so richtig kennengelernt hast. Er war immer so gesammelt, so gepflegt, so selbstsicher und so verdammt jähzornig. So wunderbar jähzornig …« »Trotzdem finde ich, daß wir ihn besuchen sollten.« Santha nickte: »Es tut mir leid, George. Ich wollte nicht unfair sein. Du bist der Psychiater, der Arzt. Wenn irgend jemand herausbekommen kann, was Daddy fehlt, dann bist du es.« Das ist ja das Problem, dachte sie, wie würde er das, was mir heute morgen passiert ist, analysieren? So etwas wie Panik überkam sie. Sie ließ die Gabel auf den Teller sinken. Du mußt nicht immer alles George erzählen, warnte sie etwas in ihr. Merkwürdige Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Daraus würde er schließen, daß du wahnsinnig bist, und wird dich verlassen. Santha preßte die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. Sie hörte, wie George ihren Namen rief, und starrte ihn an. »Was ist los?« fragte er. »Ich habe Kopfschmerzen.« Sie griff in ihre Tasche und nahm ein Schächtelchen mit Schmerztabletten heraus. »Seit heute habe ich meine Periode.« Etwas später fuhren sie über die Larz-Anderson-Brücke in Boston, dann die Storrow Drive entlang nach Beacon Hill.
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Obwohl die Sonne nicht schien, war die Esplanade voll von Müßiggängern, Joggern und Hundebesitzern, die ihre Tiere ausführten. Als sie am Hatch Shell vorbeifuhren, stiegen Santha die Tränen in die Augen, weil sie daran denken mußte, wie oft Kamala und sie dort Freiluftkonzerten beigewohnt hatten. George Buchan parkte seinen Audi am Otis Place in der Nähe seiner Wohnung, und sie gingen die Brimmer Street zum Pickney hinauf. Sie betraten das massive alte Appartementgebäude. Santha war im Begriff, die Haustür aufzuschließen, als sie sich daran erinnerte, daß sie nach der Post sehen wollte. Sie zog ein paar Werbeprospekte und einen Brief aus dem Briefkasten. »Oh!« rief sie aus. »Ein Brief von Onkel Ram. Er war Daddys bester Freund und ein sehr bekannter Mann der Geheimpolizei in Indien.« Sie gingen an dem alten Aufzug vorbei und die zwei Stockwerke zu Fuß hinauf. »Daddy«, rief sie, während sie die Wohnungstür öffnete, »ich bin’s, Santha.« Sie schaute in die dunkle Diele. »Verdammt, es brennt nirgendwo Licht.« Sie drückte auf den Lichtschalter und ging den Flur entlang zum Wohnzimmer. Sie knipste die Lampe neben der Couch an. Dort saß ein übergewichtiger, grauhaariger Mann und blickte ins Leere. »Daddy, da ist ein Brief von Onkel Ram«, rief Santha mit erhobener Stimme und setzte sich neben ihren Vater. »Er kommt aus Hyderabad, Daddy, schau mal. Ich mache ihn auf und lese ihn dir vor. Ist es nicht schön, daß wir wieder etwas von Onkel Ram hören?« Santha zögerte und betrachtete Stephen Wrenchs regungsloses Gesicht. Wenn er bloß zwinkern würde, dachte sie, nur ein ganz klein wenig. Sie seufzte und begann schließlich zu lesen, indem sie
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den Teil aussparte, in dem Rama Stephen sein Mitleid wegen Kamalas Tod aussprach. »Hör zu, Daddy«, drängte sie. ›»Ich befürchte, Stephen, alter Freund, daß ich Indien bald verlassen muß. Indira Gandhi spürt keine allzugroße Liebe für mich. Neulich bin ich überallhin verfolgt worden. Mir ist ein Hindu zugeteilt worden, angeblich, um den ganzen Papierkram für mich zu erledigen, doch dieser blöde Kerl ist ein Regierungsspitzel. Natürlich bin ich ausgesprochen gegen Indiras gegenwärtige schlechte Angewohnheit, jeden, der einen Intelligenzquotienten über 125 hat, einzusperren. Ich habe den Eindruck, als ob sie Freidenker fürchtet. Seit kurzem bin ich nicht nur um meine eigene Freiheit, sondern auch um meine Sicherheit besorgt. Wenn ich wirklich fliehen muß, kann ich mir keinen besseren Platz denken als den, wo Du mit Santha bist, alter Freund. Könntest Du bei der amerikanischen Regierung das Entsprechende veranlassen? Erinnere sie daran, wie ich Euch während des Krieges geheimdienstlich geholfen habe, und auch an die Affäre in Kalkutta 1962, als Euer CIA von meinen Informationen Gebrauch machen konnte. Sie müßten eigentlich dankbar sein.‹« »Hast du gehört, Daddy? Er möchte hierherkommen zu uns. Und er möchte, daß du ihm hilfst. Daddy! Hast du gehört?« Leise kam’s: »Ich höre, Santha.« »O ja, Daddy, du hast gehört, nun hör noch das andere!« »›Stephen, das Dumme daran ist, daß es, wenn ich fliehen muß, gerade jetzt verdammt unpassend ist. Ich bin hinter einer Sache her, die – ich bin da ganz sicher, alter Kamerad – die Abenteuerlust in Dir wecken würde. Paß auf! Hier bei uns gibt es eine Renaissance des Thugismus, und das seit länger als hundert Jahren. Er scheint sich überall auszubreiten. Durch mein Agentennetz konnte ich von jeder erdenklichen Thug-Bande Einzelheiten erfahren. Stell Dir das vor, Steve – Thugismus! Den wir längst für ausgestorben hiel-
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ten. Etwas aus dem alten Indien, dem Indien von Sleeman. Die erste Bande habe ich vor drei Wochen festgenommen.‹« Santha hörte zu lesen auf. George, erstaunt über ihr Schweigen, blickte sie an. Schließlich sagte Stephen Wrench: »Lies weiter, Santha.« Und wieder: »Santha?« »Ja, Daddy«, es war fast ein Flüstern, »› … vor drei Wochen in Hyderabad …«‹ »Lauter bitte, Santha.« »Ja, Daddy. › … Hyderabad haben sie mich mit einer gewaltigen Verfolgungsjagd beauftragt, die von der Gangesmündung bis zum Dekhan reicht. Da geht einiges vor sich. Es scheint ganz so, als wären dort etwa zwanzig Reisende umgebracht worden, aber als sie in dieser gottverdammten Landschaft ihre Opfer begruben, blieben einige der Toten nicht im Verborgenen.‹« Wieder hielt Santha inne und blickte auf. »Weiter. – Bitte, lies weiter«, drängte Wrench seine Tochter. »›Die Gräber …‹« Wieder hielt sie inne. »Fehlt dir etwas?« erkundigte sich ihr Vater. Ohne eine Antwort zu geben, las sie den Brief bis zu Ende vor: »›Die Gräber waren nicht tief genug, und der Wind hat sie aufgedeckt. Dieses Massengrab gab uns den richtigen Hinweis. Du erinnerst Dich bestimmt an die Gewohnheit der Thugs, ihre Opfer zu begraben. Ich kann jetzt nicht weiterschreiben. Ich muß gehen und den Anführer der Jumaldeher Thugs verhören, denn diese Gruppe hat es getan. Ich erwarte Deine Antwort, was meine eventuelle Evakuierung anbelangt. Santha, könnte ich mir vorstellen, ist ein bildhübsches Mädchen geworden. Wie immer in Gedanken bei Dir, Rama Shastri‹.«
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George Buchan konnte die eingetretene Stille nicht mehr ertragen und fragte: »Was ist Thugismus?« Wrench blickte auf. Er verhielt sich so, als ob er erst jetzt Georges Gegenwart im Raum bemerkt hätte. »Thugismus«, wiederholte der große, alte Mann, halb zu sich selbst. Dann erhob er die Stimme: »Thugismus ist ein Geheimbund in Indien, eine religiöse Sekte. Die Zugehörigkeit vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Ihr Ziel ist es, durch Würgemorde den Blutdurst der Göttin Kali zu stillen. Die Würger sind oftmals gleichzeitig Räuber; sie werden auch die Täuscher genannt, denn du kannst mit ihnen Tür an Tür wohnen und entdeckst es nie.« George wurde ganz aufgeregt. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Stephen Wrench mehrere, zusammenhängende Sätze gesprochen und nicht, wie gewöhnlich, einsilbige Antworten oder, noch schlimmer, gar keine Antwort gegeben. Seit Kamalas Tod war das nicht mehr vorgekommen. Er blickte zu Santha hinüber, die mit gesenktem Kopf auf den Brief starrte. Was hatte sie bloß? Wrench murmelte: »Ram, guter alter Ram«, entschuldigte sich und ging ins Schlafzimmer hinüber. Die Tür ließ er angelehnt, und George hörte plötzlich eine Stimme dröhnen: »Verbinden Sie mich bitte mit Mr. Horace Birch in Washington, D.C.« »Santha«, sagte George und ging quer durch den Raum auf sie zu, »das hat deinen Vater aufgeweckt. Hör doch mal!« Santha nickte nur. Sie las den Brief nochmals, als ob sie seinen Inhalt noch nicht kenne, den Absatz über die Leichen, die man in Dekhan gefunden hatte. Sie las ihn wieder und wieder.
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3 Rajasthan bei Jaipur Krishna Rasul. Rama Shastri versuchte, sich auf den Ermittlungsbericht Krishna Rasuls zu konzentrieren. Das ferne Dröhnen eines Flugzeugs am klaren, wolkenlosen Himmel war mittlerweile zu einem lauten Brummen geworden. Gelegentlich hustete der Motor, schwieg für einen Moment, um dann das Gedröhn wieder fortzusetzen. Wenn der Krach bloß aufhören würde, dachte er. Von mir aus könnte das Ding aus der schimmernden Helligkeit wie ein moderner Metall-Ikarus, der der Sonne zu nahe gekommen ist, herunterfallen. Ja, Krishna Rasul, gekommen, um zu ermitteln, gekommen, um sich einzumischen, um bei dieser neuen Sache mitzumischen. Dieses neue unglaubliche Ereignis machte all die Treulosigkeit und den überall zu findenden Verrat erträglich. Shastri setzte sich bequemer in seinem Bambusstuhl hin, stützte seine Ellbogen auf den kleinen Tisch, der vor ihm stand, und versuchte abermals, sich zu konzentrieren. Thugismus? Was ist Thugismus? las er. Und dann weiter … Ermittler: Sie haben doch gewiß schon von dem Thugismus gehört. Ganz Indien weiß, was Thugismus ist. Ajit Majumdar: Sir, Sie versuchen, mir Gedanken nahezubringen, die ich niemals zuvor hatte. Ich bin ein einfacher Bewässerungsfarmer und weiß nichts von dem, was Sie Thugismus nennen. Ermittler: Hat Ihnen denn Ihr Vater nie davon erzählt? In Indien weiß man über Thugismus ebenso Bescheid wie über 37
Vishnu oder den Ganges. Ajit Majumdar: Ich habe nie etwas über den Thugismus gehört. Weder mein Vater noch mein Großvater haben mir je davon erzählt. Auch nicht meine vielen Onkel oder Brüder und ebensowenig meine Mutter oder meine Schwestern. »Wir haben Besuch«, sagte in diesem Augenblick Shastris Assistent mit betrübter Stimme. Er stand auf den Verandastufen. »Ich wette, sie haben wieder Rasul geschickt.« »Niemand anderes, Gopal.« »Und welches Programm kommt diesmal dran?« »Jede Art von Fortschritt, den wir gemacht haben, zu sabotieren. Darauf können Sie sich verlassen.« »Alles ist anders geworden, Rama. Früher, selbst in den Tagen der Kolonialherrschaft, hatten wir mit so etwas nichts zu tun.« Shastri seufzte und schob die Papiere zur Seite. Mittlerweile konnte er die Farben des Flugzeugs erkennen, den roten Rumpf und ein gelbes Blinken. Rasul war immer darauf bedacht, daß sein Flugzeug frisch gestrichen war. Die psychologische Strategie, die darin lag, war offensichtlich. Selbst aus der Entfernung sollte zu erkennen sein: Hier kommt Indiras Anhänger, kommt, um bei allem, was Shastri tut, zu stören. Rache ist süß. Es wäre besser gewesen, wenn er die Herrschaft dieser Frau nie in Frage gestellt hätte. Vielleicht. »Schicken Sie mir Das«, befahl er, »aber schnell!« Als Das erschien, war die Maschine bereits auf dem Behelfsflugplatz gelandet. »Was haben Sie herausbekommen?« fragte Shastri den im Schatten stehenden staubbedeckten Mann. Das, der beste Polizeispitzel Indiens, kam an alles heran. Zu schade, daß er sich nicht auch in Indiras Regierungsclique einschleichen konnte. Doch Rasul kannte Das. Früher einmal hatte Rasul mit Shastri zusammengearbeitet. Er war ihm als Polizeibeamter noch ge-
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genwärtig. »Endlich trauen Sie mir. Immerhin bin ich schon drei Wochen im Gefängnisblock«, frohlockte Das. »Sie glauben mir, daß ich ein Mooltaneer-Thug bin, der irgendwie von seiner Bande versprengt und verhaftet wurde. Der eine, Ajit Majumdar, ist zwar immer noch mißtrauisch, aber ich sehe zu, daß ich mich von ihm fernhalte.« »Ich werde dafür sorgen, daß er in Isolationshaft kommt. Auf diese Art kann er Ihnen bei Ihrer Arbeit nicht in die Quere geraten. Tatsächlich, da Rasul gerade eingetroffen ist«, Shastri wies zum Flugzeug hinüber, »wird er zweifellos darauf bestehen, daß er Majumdar verhört. Er ist ja immer der Auffassung, alles viel besser zu machen als wir. Das gewährleistet uns auch Ajits Abwesenheit für ein paar Stunden, falls meine Anordnung, ihn zu isolieren, abgelehnt wird. Das, ich muß bis heute abend so viele Informationen wie möglich haben.« »Sie sprechen zwar mit mir, aber nur wenig. Sie nehmen sicher an, daß ich mehr weiß, als ich mir anmerken lasse, davon bin ich überzeugt. Sie zögern eben noch. Früher haben ThugBanden sich oftmals gegenseitig getäuscht und betrogen. Was Sie verlangen, ist ungeheuer schwierig.« »Das, dies ist möglicherweise meine letzte Chance.« Shastri sprach hastig. Die beiden Gestalten, die aus dem Flugzeug gestiegen waren, gingen jetzt zur Polizeistation hinüber. »Eines wissen wir sicher: Sämtliche Thug-Gruppen in Indien sind zur gleichen Zeit wieder aufgetaucht. Die Agureer-Thugs, die Arcoteer-Thugs, die hindustanischen Thugs, die Chingureer, die Mooltaneer, die Jumaldeher-Thugs. Das muß einen Grund haben, muß ein Zeichen sein, ein Omen. Vielleicht behauptet jemand, er habe eine Vision gehabt. Wahrscheinlich ist, daß ein neuer Führer mit einem neuen Plan, wie Kali am besten zu dienen sei, auftauchte. Er muß sehr einflußreich sein, um all diese Banden, die sich früher oft gegenseitig bekriegten, zu vereini-
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gen. Wir müssen herausfinden, wer es ist und was er vorhat.« »Sie verlangen viel, Ram. Wir haben noch keinen Beweis, daß –« »Ich muß es verlangen. Seit 1830 hat Indien keinen so ausgeprägten Thugismus mehr gekannt. Gehen Sie zu dem Haufen zurück und kommen Sie heute abend mit einschlägigen Informationen wieder. Heute abend noch, Das. Sie sind mein bester Agent.« Shastri betrat den Bungalow, entschlossen, sich nicht auf der Veranda aufzuhalten und Rasul offiziell begrüßen zu müssen. Nein, Rasul sollte gefälligst zu ihm kommen. Noch war Shastri der Chef der indischen Geheimpolizei, und solange er diese Position innehatte, war es Rasul, der ihn aufsuchen mußte. Er schritt durch die weiten, kühlen Räume und suchte Ileana Heng. Diese Amtsräume, das angrenzende Gefängnis, die übrigen Gebäude, welche die Polizeibeamten und ihre Familien beherbergten, waren früher unter britischer Herrschaft Militärquartiere gewesen. Der behelfsmäßige Flugplatz hatte als Paradeplatz gedient. Indem er an vergangene Zeiten dachte, versuchte sich Shastri ehrlich darüber klarzuwerden, ob er jene Zeit der heutigen vorzöge. Er hatte immer Indiens Unabhängigkeit gewünscht. Aber nein. Er wünschte jene Zeiten nicht zurück. Wirklich nicht. Auch nicht in Anbetracht der enormen Effizienz, welche die Briten zeitweilig an den Tag gelegt hatten; auch nicht angesichts der Tatsache, daß die Tendenz in Indien dahinging, Problemlösungen nicht praktisch, sondern fernab der Realität zu suchen, wenn zum Beispiel der Leiter eines Gesundheitszentrums geneigt war, eine Choleraepidemie als Gottes Willen hinzunehmen, statt etwas Konkretes gegen die Verseuchung der Brunnen zu tun. Das war mit der Grund, warum Shastri seit langem schon zum Agnostiker geworden war. Doch die jetzige Regierung fuhr genauso wie alle Regierungen zuvor fort, dem
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Rest der Welt zu versichern, daß Indiens prachtvolles Programm besser als je zuvor funktioniere und das Kastensystem nun bald nicht mehr existieren würde, daß Hunger, Überbevölkerung, Analphabetentum und alle Gesundheitsprobleme gelöst würden. Shastri akzeptierte derartige Propaganda, verstand sogar, warum sie sein mußte. Was er jedoch an Indira Gandhis Führungsstil nie akzeptiert hatte, war die konstante Unterdrükkung und Ausschaltung eines jeden, der zu zweifeln wagte. Infolgedessen wurde er seit kurzem ständig beobachtet. Er fand Ileana im Westflügel. Sie spielte Fan-Tan mit einem gutaussehenden, jungen Beamten. An ihrem Lächeln und den Rupien an ihrem Ellbogen erkannte er, daß sie gewonnen hatte. Vielleicht sogar durch Falschspielen, wie gewöhnlich. Als Shastri eintrat, hielt Ileana inne und steckte sich eine Zigarette in eine lange Zigarettenspitze. Ihr Gesichtsausdruck erhellte sich. Sie wandte sich in ihrem Stuhl um. Der Schlitz ihres engen gelben Kleides mit der grünen Borte ließ ihre Oberschenkel sehen. Sie trug ein ähnliches Kleid wie damals, als er sie aus einer Opiumhöhle bei Lashio geholt hatte, erinnerte sich Shastri. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Zeit genug für Liebe. Auch für sie genügend Zeit, um von der Opiumpfeife loszukommen, was ihr aber nicht gelang. Stephen Wrench hatte ihn gewarnt. Er hatte damals Beziehungen zu Interpol, und sie waren zusammen nach Burma gegangen. Beide waren der Spur eines Drogenhandels gefolgt, die weit nördlich nach Indien, bis nach Uttar führte. Jahrhunderte schien es zurückzuliegen. Und eines Tages wird sie mich auch betrügen, dachte Shastri. Es gab da bereits kleine Anzeichen. Der junge Beamtenspitzel fühlte sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Die verstohlenen Blicke, die sie dem Jungen zuwarf, bewiesen Shastri, daß sie seine Gefühle mittlerweile erwiderte. Shastri unterdrückte die Wut, die in ihm aufstieg. Nie hatte er den Altersunterschied von zweiundzwanzig Jahren
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zwischen sich und ihr deutlicher empfunden als jetzt. »Krishna Rasul ist angekommen«, sagte er. »Die Schlange nähert sich dem kleinen Mungo«, sagte sie mit der orientalischen Blumigkeit, die sie liebte. Zum tausendsten Male wünschte er, daß er sie nie Lesen gelehrt hätte, besonders seitdem sie dieser britische Tourist bei Sax Rohmer vorgestellt hatte. »Sagen Sie den Frauen, daß sie eine Mahlzeit zubereiten sollen. Ich nehme an, daß Sie zum Essen hierbleiben, Sinjar.« Der junge Mann sprang auf. Er fürchtete den großen Rama Shastri. Shastri ließ das kalt. So viele hatten auch den großen Mahatma Gandhi gefürchtet und hatten ihn dennoch umgebracht. »Rasul will die Gefangenen verhören, nehme ich an. Halten Sie Ihren Stenoblock bereit.« Sinjar entschuldigte sich und ging. »Es tut mir leid, daß ich euer Spiel unterbrechen muß, meine Liebe.« Shastri fuhr durch die Fan-Tan-Karten. »Um wieviel hast du ihn denn übers Ohr gehauen?« »Ich habe sogar einigemal verloren. Ach, kleiner Mungo, du siehst so abgespannt aus. Laß dich umarmen. Vielleicht kann deine Ileana deinen Geist mit schöneren Gedanken füllen …« Sie küßte ihn. »Mit Lust und Körperfreuden, die dich wiederherstellen werden, sobald es Abend wird.« »Körperfreuden, die dich wiederherstellen werden … Du erstaunst mich immer wieder.« Er umfaßte mit beiden Händen ihre Brüste, beugte sich herab und küßte sie. Es war ein langer Kuß. Aber er half nicht. Alles hat eben einmal ein Ende, dachte er. Behutsam schob er sie zur Seite, als ein Diener den Raum betrat und meldete, daß Krishna Rasul draußen wartete. Während er in die vorderen Räume des Bungalows zurückging, versuchte Shastri seine Gedanken zu sammeln, doch hatte
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ihn eine Traurigkeit befallen, die Oberhand gewann. Er würde sie vermissen, mußte er sich eingestehen. Daß er Indien vermissen würde, hatte er immer schon gewußt, doch Indien war kein Balsam, kein Trost, wenn man alt wurde. Ja, er würde altern, wenn er Indien ohne sie verließ. Ileana hatte ihn jung gehalten. Als er Krishna Rasul entgegenging, bemerkte er, daß der großgewachsene Mann erschrak. »Es macht mich betroffen, daß Rama Shastri, den alle Übeltäter fürchten, ein Mann von so zartem Körperbau ist.« »Falls Sie geistige Größe an der körperlichen Statur messen, Rasul, müßten Sie eine hohe Meinung von sich selbst haben.« Als Politiker war Rasul geschickt genug, um nur wortlos zu lächeln, ein Lächeln, das nichts Gutes verhieß. »Nun erzählen Sie mir mal, Rama Shastri, was mit dem Thugismus los ist.« Die beiden traten auf die Veranda hinaus, wo es um diese Zeit am kühlsten war. Shastri berichtete ihm alles, die Entdeckung von neunzehn Leichen in Dekhan, die hastig in einer Reihe verscharrt worden waren, so übereilt, daß der Wind die flachen Gräber wieder aufgedeckt hatte und der Verwesungsgestank sich in der heißen Sonne des Dekhan meilenweit verbreitete. Shastri verweilte bei dieser Schilderung ausgiebig, weil er merkte, daß Rasul unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Dann erzählte er von der Verfolgung und der Gefangennahme in Hyderabad. Er berichtete von den Methoden, die er angewandt hatte, um den Männern auf die Spur zu kommen, davon, wie andere Thug-Banden überwältigt worden waren, und über seine Theorien. Kurz und gut, er sprach von allem außer von Das. Was Das, wie Shastri hoffte, noch entdecken würde, war für ihn allein bestimmt. Rasul streckte sich und warf seine weiße Tunika zurück, so
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daß seine breite Brust noch breiter erschien. Dann faltete er die Hände über dem Bauch zusammen und sagte: »Ich habe, sofort nachdem ich Ihren Bericht bekam, mit ihr darüber gesprochen.« Aus irgendeinem Grunde sprach Rasul von Indira Gandhi nur mit Personalpronomen, als sei das weibliche Geschlecht durch ihr Amt gleichsam geheiligt worden. »Oh.« »Sie und die übrigen …« Shastri machte sich bezüglich der »übrigen« insgeheim einen Vermerk. Sie wurden von Rasul auch nie mit Namen erwähnt, dafür wurde dieses Wort mit einer gewissen Ehrfurcht ausgesprochen. Er bleibt eben der Bauer, dachte Shastri, der Sohn eines Zuckerrohrpflanzers hat es nie im Leben so gut gehabt wie jetzt. So viel Ehrerbietung ihr und den »übrigen« gegenüber, den neuen Göttern. »… haben einen Plan.« »Ah, einen Plan.« »Einen Plan.« Rasul wartete. Dann wurde er ungeduldig. »Sie fragen ja nicht mal, was das für ein Plan ist.« »Na gut, was ist es denn für einer?« »Sie haben wenig Respekt, Shastri. Bringen Sie der Opposition vielleicht mehr Achtung entgegen?« »Sie sind sehr direkt, Rasul.« »Also, wie ist es?« »Einer ihrer Gegner, habe ich gehört, ist ein alter Mann, der täglich seinen eigenen Urin trinkt. Nein, ich bin auch da wenig respektvoll.« »Also, nun hören Sie mal gut zu, es ist ein guter Plan.« »Ein guter Plan.« »Müssen Sie mich denn immer wiederholen? Es ist ein guter Plan. Und ich will jetzt von ihm sprechen.« »Tun Sie das.«
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»Die Regierung will den Thugs zusichern, daß sie, wenn sie aufgeben, mit keiner Anklage rechnen müssen.« Shastri schwieg. »Haben Sie dazu nichts zu sagen?« »Thugs, Rasul, sind für ihre Geheimniskrämerei bekannt. Niemand kann verborgener bleiben als ein Thug in Indien. Manchmal wissen die eigenen Familienmitglieder nicht, daß sie zu der Sekte gehören. Es würde mich sehr überraschen, Rasul, wenn sie ihre jahrhundertealte Tradition nur deshalb aufgeben würden, weil die Regierung sie darum bittet.« Der großgewachsene Mann blickte vor sich hin. Nach einer Weile hob er die Hände und schlug sie auf die Knie. »Na schön. Das wäre dann erledigt. Kann ich nun mit dem Anführer der Jumaldeher-Thugs sprechen, den Sie festgesetzt haben?« »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie ihn verhören wollen. Der Assistent, der mir seit kurzem zugeordnet wurde, ist schon bereit, ein Protokoll aufzunehmen.« »Gut, gut. Dann wollen wir gleich anfangen. Vor Einbruch der Dunkelheit muß ich wieder weg. Diesmal ohne Dinner.« Shastri war erleichtert. Dinner war etwas sehr Wichtiges, was er zeremoniell in Abendkleidung mit Ileana zu genießen pflegte, eine Gewohnheit, die er von den Briten übernommen hatte. Rasul würde sie nur seine offene Mißbilligung über ihre Anwesenheit spüren lassen und auch über die der Diener und Ileanas wegen ihrer Beziehung zu Shastri. Rasul war ein Verfechter strenger Moral – und die der Diener – nun ja, sie waren alle Harijans, Unberührbare. Shastri pflegte nur solche einzustellen. Ajit Majumdar wurde bereits, abseits des übrigen Gefängnistraktes, in einem Raum festgehalten, der früher als britischer Offiziersclub gedient hatte. Als Shastri, Rasul und Sinjar den Stacheldraht passierten, blieb Rasul plötzlich stehen und starrte
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auf die Thug-Gruppen im Gefängnishof. Hundertneununddreißig waren verhaftet worden. Jede der Banden hielt sich von den übrigen fern. Die meisten standen nur herum. Einige saßen im Staub. Alle schwiegen, mit Ausnahme einiger Arcoteer, die um Geld zu spielen schienen. Sie trugen karierte Hosen und knappe Jäckchen im Stil der Sepoyer (indische Soldaten in britischen Diensten. Anm. d. Übers.). Hin und wieder schaute einer der Thugs den drei Männern mit unverhülltem Haß nach. Shastri bemerkte Rasuls Schaudern und lächelte vor sich hin. »Mörderisches Otterngezücht!« rief der großgewachsene Mann. »Nur nach Ihrem Gefühl«, sagte Shastri. Er hielt Ausschau nach Das. Schließlich sah er ihn in der südwestlichen Ecke des Gefängnishofes außerhalb von Rasuls Blickfeld hocken. Das kaute Betelnüsse. »Nein, ihrem Gefühl nach sind sie das nicht«, fuhr Shastri fort, während sie sich Majumdars Gefängnis näherten, und fügte ein englisches Sprichwort hinzu: »Das Böse ist immer nur im Auge des Betrachters.« »Was meinten Sie, Shastri? Mein Englisch ist nicht so gut wie das Ihrige.« »Ich habe damit gesagt, daß sie von ihrem Standpunkt aus das Richtige tun und wir die Bösewichte sind, die Kalis Willen durchkreuzen.« »Sie haben uns angeschaut, als wünschten sie uns zu ihren Opfern. Haben Sie das gesehen?« »Ja, weil sie Fanatiker sind. Und Sie glauben immer noch, daß die Regierung irgendeinen Einfluß ausüben kann?« Rasul grunzte nur. Sie passierten zwei Schilderhäuser und betraten den Isolationstrakt. Ein kleiner Vorbau führte in einen großen Raum. Die Bar, die einst britischen Offizieren gedient hatte, war immer noch im Boden verankert. Sie erstreckte sich
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über die ganze Breite der gegenüberliegenden Wand. Von einer indischen Flagge in der einen Ecke und von ein paar Stühlen abgesehen, war der Raum leer. An den drei anderen Wänden gab es lange, schmale Fenster ohne Gardinen. Sonnenlicht fiel durch die Scheiben und erfüllte den Raum mit dunstiger Helligkeit. Der Gefangene hockte in der Mitte auf dem Boden. Eine Wache saß auf einem Stuhl und ließ ihn nicht aus den Augen. »Dies ist Ajit Majumdar«, sagte Shastri. Rasul zuckte nervös mit den Augenlidern. Doch diesmal nicht wegen des Sonnenlichtes. Majumdars verwittertes Gesicht war zu einer verächtlichen Grimasse verzogen, die das Selbstvertrauen des ermittelnden Beamten zerschmettern mußte. »Also wollen wir anfangen?« fragte Rasul, nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte. »Ich bin Krishna Rasul. Haben Sie von mir gehört?« »Nein«, log der Befragte, »aber schließlich gibt es so viel, wovon ich nichts weiß.« Rasul nahm den Aktenordner von Sinjar in Empfang, blätterte im Ermittlungsbericht herum und meinte: »Nun, ich sehe, daß Sie nicht kooperativ sind. Wissen Sie, was das heißt? Das bedeutet Gefängnis oder Todesstrafe. Ja, die Todesstrafe. Das wird Ihnen blühen, wenn Sie nicht bereit sind, auszusagen.« »Die Todesstrafe? Nur, weil ich nichts von dem weiß, was Sie Thugismus nennen? Muß ich denn über alles Bescheid wissen, um leben zu dürfen?« Das sagte er mit geheuchelter Unruhe. Rasul schob seinen Stuhl zurück. Es gab einen kreischenden Laut auf dem Fußboden. Sinjar fuhr erschrocken zusammen. Rasul brüllte: »Sie sind ein Thug, ein Mörder, ein Räuber, ein Lügner, ein Betrüger. Das verstehen Sie doch, oder nicht?« »Die anderen Bezeichnungen – ja. Aber den Namen Thug nicht. Ich weiß nicht, was Thug heißt, und ich habe es nie ge-
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wußt.« Rasul seufzte. Dann erhob er sich und begann auf und ab zu gehen. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Shastri, »ich habe noch etwas zu tun.« Rasul nickte, ohne aufzublicken. Sinjar starrte unentwegt, den Bleistift gezückt, wartend auf Rasul. Shastri ging. Als er an dem Fenster vorbeikam, sah er, daß sich Rasul niederbeugte und etwas in das Ohr des alten Mannes flüsterte. Shastri wandte sich ab und ging die Verandastufen hinunter. Im Gefängnishof konnte er sehen, daß sich Das nun mitten unter den Spielern aufhielt. Die Sonne glitzerte auf dem Stacheldraht. Die Hitze war unerträglich. Shastri machte, daß er so schnell wie möglich in den willkommenen Schatten seiner Veranda kam. Rama Shastri rauchte eine der acht Sher-Bidi-Zigaretten, die er sich pro Tag gestattete. Etwa zweihundert Meter östlich der Veranda streckte sich Rasuls Pilot unter einer einzelnen Palme aus. Damit hatte der Mann einen Überblick über das gesamte Gelände. Shastris Assistent Gopal erschien und fragte: »Spielt Rasul immer noch den Polizisten?« »Ja. Er möchte uns zeigen, wie man richtig verhört. Dieser Ajit Majumdar ist kein gewöhnlicher Gefangener. ›Wissen Sie, wer ich bin?‹ fragte Rasul. ›Nein‹, erwiderte Majumdar mit aller Gerissenheit.« Gopal kicherte. »Es war eine wunderbare Respektlosigkeit«, fuhr Shastri fort. »Genau wie Ihre, Rama. Und Rasul wird das nicht vergessen. Glauben Sie, er wird Sie verhaften?« »Er allein? Nie. Erst einmal wird er wieder zurückfliegen. Er
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wird ihnen erzählen, daß ich nicht daran glaube, daß ihre Ideen funktionieren werden. Vielleicht hat er das nächstemal noch jemanden anderen dabei, der mich verhaften wird, denn alleine wird er es nicht tun. Dessen bin ich mir sicher.« »Werden Sie es zulassen?« »Ich habe nicht die Absicht, Gefängniserfahrungen zu machen, Gopal.« »Na ja, wenn es dazu kommt, werden Ihre anderen Freunde und ich Ihnen zur Flucht verhelfen.« Shastri wollte gerade antworten, als er sah, wie der Pilot sich erhob und zum Flugplatz hinüberging. Rasul und Sinjar waren aus dem Isolationstrakt getreten. Ihre Profile waren einander zugewandt. Sie standen da und unterhielten sich. Dann trennten sie sich. Der Pilot blieb stehen und wartete, bis Rasul ihn erreicht hatte. Beide steuerten auf die Maschine zu. Als Sinjar den Bungalow erreichte, sagte er nichts. Er ging mit gesenktem Kopf an Gopal und Shastri vorbei und ins Innere des Hauses hinein, wobei er den Stenoblock fest umklammert hielt. »Glauben Sie, daß er Rasuls Mann ist?« fragte Gopal. »Einer unter vielen hier, und sie sind nur, so fürchte ich, zahlenmäßig überlegen.« »Ach was, das sind doch bloß Kinder, die irgendeiner dahergelaufenen Autorität gehorchen. Sie brauchen nichts zu fürchten, Rama. Schließlich sind auch erwachsene Männer hier, die wissen, wer Sie sind und das nicht vergessen haben.« Das war genau das, was Shastri nicht wollte. Er war entschlossen, keinen seiner treuen Kameraden unter seiner Existenz leiden zu lassen. Das Geräusch des aufheulenden Flugzeugmotors lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Flugplatz. Sie sahen, wie die Maschine abhob und über die sonnenbeschienene Landschaft flog. Das Flugzeug zog eine Schleife, steuerte auf den Bungalow zu, und
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Shastri spürte, wie Rasul durch ein Fernglas zu ihm hinunterschaute. Dann zog der Pilot die Maschine wieder hoch, bis nur noch ihr Dröhnen aus der blendenden Helligkeit zu hören war. Shastri lehnte sich bequem und zufrieden in seinen Sessel zurück. Jetzt war seine Welt wieder in Ordnung, wenigstens für eine kleine Weile. Shastri hörte Schreibmaschinengeklapper durch die Wand. Sinjar, der pflichtbewußte Mitarbeiter, übertrug das Stenogramm des Verhörs vom Block in die Schreibmaschine. Es würde immerhin amüsant sein, zu lesen, was vorgefallen war, nachdem Shastri den Raum verlassen hatte. »Aber zuerst Dinner und Das«, sagte er zu sich selbst und betrat den Bungalow, um sich umzuziehen. Shastri warf sich in einen weißen Tropenanzug und band eine schwarzweiße Krawatte, die er von einem Studenten in Bombay erworben hatte, um. Ileana hatte ein jadegrünes Abendkleid gewählt. Sie trug ein silbernes Halsband mit dazu passenden Ohrringen, deren kleinen Steine, wenn sie ihren schlanken Hals drehte, funkelten. Sie sieht heute abend chinesischer aus als je zuvor, dachte Shastri, dabei ist sie Eurasierin. Ileanas Vater, den sie nie kennengelernt hatte, war ein rumänischer Juwelenhändler gewesen. Er verbrachte eine Nacht mit ihrer Mutter, einer halb chinesischen, halb burmesischen Hosteß, in. einem Ranguner Kellerlokal. Dann kehrte er zum Balkan zurück. Ileana hatte von ihm beides geerbt: die Vorliebe für Kinkerlitzchen und das Gespür für Dramatik. Und das wurde an diesem Abend sichtbar, als sie mit ihrer Zigarettenspitze herumspielte. Sie war bemüht, die weltmännische Dame zu spielen, indem sie über das letzte Buch, das sie gelesen hatte, plauderte. »Madame Bovary«, sagte sie. »Wirklich, ich verstehe nicht, Rama, warum das Buch damals ein solches Aufsehen erregt
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hat.« »Natürlich«, entgegnete er. »Was meinst du damit?« »Ich glaube, mein Liebes, daß du niemals moralische Betrachtungen dieser Art angestellt hast.« »Werden wir jemals dahin fahren? Ich meine nach Frankreich?« »Möglich.« Shastri blickte zu Sinjar hinüber. Behalt das in Erinnerung, mein Bübchen, dachte Shastri, dann kannst du Rasul erzählen, daß ich plane, dorthin zu fliehen. Nein. Niemals nach Frankreich. Stephen Wrench ist nicht in Frankreich. Shastri bemerkte, während er ein Steak zerschnitt, daß Sinjar gequält zusammenzuckte. Der Knabe würde verflucht sein, wenn er Rinder tötete. Deswegen lag auf seinem Teller auch kein Beefsteak. Die Blüte von Indiens gebildeter Jugend – immer noch im Bann des gefürchteten Fluchs. Selbst der HarijanKoch hatte diesen Aberglauben überwunden. Es war Shastri einfach zuwider. Seine urbane Natur lehnte desgleichen ab. Die Regierung, die gegen sogenannte »Unberührbare« voreingenommen war, und ein junger Beamter, der Kühe für heilig hielt. Doch Indien beharrte darauf, daß es aufwärtsging … Jeder, der hier fortschrittlich ist, scheint sicherheitshalber noch mit einem Fuß in der Vergangenheit zu stehen, überlegte Shastri. Für den Fall, daß die neuen Wege doch fehlschlagen und die Götter deswegen zürnen. Die Götter Indiens werden niemals sterben, sie werden nicht die Einsicht haben, es endlich zu tun. Ein stupider Götterhaufen, nutzlos und altersschwach, und noch immer weigerten sie sich, zu sterben. Und nun dieser Thugismus. Morden wegen des Mythos und einer blutdürstigen Göttin. Das mußte man sich mal vorstellen! Als ein Diener erschien, um ihm mitzuteilen, daß ihn jemand zu sprechen wünsche, fuhr er aus seinen Betrachtungen hoch. Es würde Das sein. Verflixt, er hatte seinen Tee noch nicht
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getrunken. Shastri erhob sich. Das, der als eine seltsame und in Lumpen gekleidete Gestalt erschienen war, hatte es sich in einem Polstersessel in der Bibliothek bequem gemacht. Shastri bot ihm eine Sher Bidi an. »Und?« fragte er. »Das hat es wie gewöhnlich mal wieder geschafft«, brüstete sich der andere. »Sie hatten recht. Es erhebt sich eine neue Stimme.« »Wer?« »Aha. Keiner weiß Genaues.« »Keiner weiß es?« »Er wird erwartet. Er soll erscheinen.« »Na gut, fangen Sie mal mit dem Anfang an, damit ich’s auch richtig verstehe.« »Ich habe mit den Arcoteern gespielt und ihr Vertrauen gewonnen.« »Ich sah Sie.« »Dabei habe ich in meiner Unerschrockenheit das Risiko gewagt. Ich entschied mich, Ihre Erwägungen zu testen, und sagte: ›Was ist mit dem Auserwählten, von dem man sich erzählt? Wird er uns hier verrotten und sterben lassen? Oder wird er die verbliebenen Thugs um sich scharen und uns alle miteinander befreien?‹ Woraufhin ein Arcoteer erwiderte: ›Wir wissen auch nicht mehr als du, außer, daß er bald kommen wird.‹ Woraufhin ich einhakte und sagte: ›Ist er dir ebenso geweissagt worden wie meinen Mooltaneer Brüdern?‹ Nun, was ich gesagt hätte, wenn sie mich gefragt hätten, weiß ich nicht. Sie sagten: ›Es ist uns durch einen Traum enthüllt worden. Soviel wir gehört haben, ist es jedem der Anführer von den Agureern, von den Chingureern und allen anderen gesagt worden.‹ Und sehen Sie, Rama, das macht mich so wütend. Der Anführer jeder Bande soll den gleichen Traum von der schwarzen Kali gehabt haben, in welchem ihnen offenbart
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wurde, daß sie sich wieder gemeinsam erheben und nicht, wie in früheren Zeiten, gegeneinander kämpfen sollen. Es wurde ihnen gesagt, daß ein Auserwählter kommen würde, um ihnen den neuen Weg zu weisen. Sie müssen zugeben, Rama, daß es doch wohl recht merkwürdig ist, daß alle den gleichen Traum gehabt haben sollen.« »Wer weiß, was davon stimmt, Das. Vielleicht hat einer von ihnen einen solchen Traum gehabt und die anderen davon überzeugt, daß sie das gleiche geträumt hätten. So eine Art Massenhypnose.« »Das ist für mich schwer zu akzeptieren, Rama.« »Warum?« »Bei so vielen Banden, so vielen Anführern?« Shastri seufzte. »Nun, erzähle weiter. Was war noch?« »Es geht ein Gerücht um, daß der Auserwählte sich irgendwo im Norden aufhält, daß er in der Nähe von Lucknow von einer Thug-Bande entdeckt wurde, daß ein uralter Sadhu ihn begleitet und daß sie weiter nach Norden gezogen sind.« »Und was liegt dort?« »Das wissen nur der Sadhu und der Auserwählte, Rama. Manche sagen, sie seien nach Gomukh in den Norden gezogen, dort, wo der Himalaja beginnt, wo der Baghirathi Gangsa entspringt. Dort, wo sich der Gangotri-Gletscher befindet.« »Aber das ist dreitausend Meter hoch oder noch höher.« »Das ist wohl wahr, aber dort hausen große Gurus, habe ich mir sagen lassen, die in Eiswasser baden und alles wissen, große Sadhus, die in Höhlen leben und mitten auf den Gletschern meditieren. Auch die Seher, die niemals sterben, sollen sich dort aufhalten.« Wieder seufzte Shastri. »Und Sie konnten nicht herausbekommen, warum dieser Auserwählte ausgerechnet dorthin gewandert ist?« »Keiner weiß es.«
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»Was sollen wir dann tun? Angeblich hatte jeder Anführer einer Thug-Bande den gleichen Traum, in welchem die Göttin Kali ihm sagte, daß ein neuer Herr, ein Auserwählter, ein Abgesandter, man kann es nennen, wie man mag, mit einer neuen Botschaft kommen wird, daß die Banden sich wieder aufmachen sollen, um die Botschaft des Abgesandten zu vernehmen, daß er zusammen mit einem alten Sadhu in der Nähe von Lucknow von einer Thug-Bande entdeckt worden ist. Was für eine Thug-Gruppe, übrigens?« »Das weiß leider niemand.« »Und niemand weiß, wo der Erwählte und der alte Asket hingegangen sind, möglicherweise auf irgendeinen Himalajagipfel. Und ebensowenig weiß man, warum sie dahin gegangen sind. Ich glaube, die Arcoteer haben Sie belogen. Darin sind sie Meister. Das wissen Sie ja wohl auch.« »Derjenige, der mir das erzählt hat, erschien glaubwürdig«, sagte Das zögernd. »Das, ich will nicht hart sein, aber das Ganze scheint mir doch ein bißchen zu –« Außerhalb des Bibliothekfensters war plötzlich Kampfgetümmel zu hören und dann gellende Schmerzensschreie. Shastri eilte zu den Sonnenblenden hinüber und zog sie hoch. Unterhalb der Fensterbank standen Gopal und Sinjar. Gopal hielt den Arm des jungen Mannes hinter dessen Rücken verschränkt. »Schon gut«, sagte Shastri. »Was ist los?« »Er hat hier unter dem Fenster gestanden und jedes Wort belauscht, Rama.« »Wirklich?« Und zu Das gewandt: »Wir werden das später besprechen. Gehen Sie ins Gefängnis zurück und sehen Sie zu, was Sie sonst noch herausbekommen können. Vielleicht werden weitere Nachforschungen unterschiedliche Informationen ergeben.« »Ich bezweifle das.«
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»Seien Sie nicht so widerspenstig, Das. Sie müssen zugeben, daß dies eine unglaubliche Geschichte ist. Versuchen Sie’s weiter.« Der Spitzel ging. Sinjars Gesicht war schmerzverzerrt. Gopal hielt ihn immer noch im Polizeigriff. Shastri legte die Hände auf die Schreibtischkante und lächelte. »Kommen Sie, Sinjar, nun erzählen Sie schon, was los war. Es ist nicht nötig, daß Sie weiter Schmerzen ertragen.« Der junge Beamte schwieg. Gopal zog seinen Arm höher, und der Beamte schrie auf. »Lassen Sie ihn los«, befahl Shastri. »Aber warum, Rama?« »Weil ich kein Interesse an Quälereien habe«, sagte Shastri. Seine dunklen Augen studierten Sinjar eingehend: »Vor vielen Jahren, mein Junge«, sagte er schließlich, »bevor Sie geboren wurden, wurde ich mitten im burmesischen Dschungel von Japanern festgenommen. Ich arbeitete damals mit dem amerikanischen OSS zusammen. Geheimdienst, verstehen Sie. Auch andere wurden gefangen, und nachtsüber, wenn ich in meiner Hütte lag, hörte ich ihre Schreie. In meiner Vorstellung sah ich – und das ist immer schlimmer als das, was man wirklich zu sehen bekommt –, wie sie gefoltert wurden. Sie sind nicht in einer so mißlichen Lage, Sinjar, aber ich warne Sie. Ich wünsche, daß Sie antworten!« Er schwieg und zündete sich eine weitere Sher Bidi an, feststellend, daß er bereits seine erlaubte Menge überschritten hatte. Verdammte Einschränkung. »Rasul hat Sie dazu veranlaßt, war es nicht so?« Sinjar rieb seinen Arm. »Kann ich mich setzen?« keuchte er. »Setzen Sie sich.« Sinjar ließ sich in einen Bambussessel sinken und sah Shastri
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an, während er seinen Arm weiter rieb. »Was Rasul betrifft –« »Ja, Rasul.« »Da irren Sie sich. Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht und blieb im Vorbeigehen eine Sekunde unter dem Fenster stehen.« »Gelogen«, unterbrach ihn Gopal. »Er stand eine ganze Weile da, Rama. Ich sah ihn, und Ileana hat ihn vor mir gesehen.« »Ileana?« wiederholte Shastri überrascht. »Als er vom Dinner aufstand, wurde sie mißtrauisch und folgte ihm. Als sie dann merkte, was er tat, schickte sie nach mir. Die Frau ist immer noch auf Ihrer Seite, Rama.« Shastri hielt die Luft an. »Was sagen Sie dazu, Sinjar?« »Gelogen.« »Gelogen?« Sinjar nickte. »Sie wollen damit sagen, daß Gopal und Ileana Lügner sind?« »Entschuldigen Sie. Ich bin zu nervös. Ich meinte, daß sie sich irren.« »Ich verstehe. Also Sie wollen nichts Derartiges zugeben?« Sinjars »Nein« klang trotzig. Aha, dachte Shastri. Er weiß, daß ich ihn nicht foltern lassen würde. Dieser Narr hält mich für einen Weichling. »Dann, Sinjar«, sagte Shastri sanft und etwas traurig, »muß ich Sie anderen Händen überantworten. Bringen Sie ihn in den Gefängnishof.« Der junge Mann sprang auf: »In den Gefängnishof?« »Natürlich. Zu den Gefangenen. Wohin denn sonst?« »Aber sie … sind Thugs.« »Ja, das sind sie. Haben Sie gedacht, ich würde Sie sonstwohin bringen lassen? In eine nette, behagliche kleine Zelle, wo Sie darauf warten können, daß Rasul zurückkommt und Sie
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befreit und mich dafür bestraft? Nein, auf Sie wartet der Gefangenentrakt.« »Aber die werden doch wissen, daß ich nicht zu ihnen gehöre. Das wäre doch Mord. Sie werden doch nicht zulassen, daß sie mich umbringen.« »Mord ist eine Sache, Folter eine andere, Sinjar. Mord hängt ganz von der Methode ab und kann schnell und gnädig sein. Ich glaube, ich kann mit dem Wissen, daß ein gnädiger Mord stattgefunden hat, ruhig schlafen. Nehmen Sie ihn mit, Gopal. Ich habe heute meinen Tee noch nicht gehabt.« »Sie sagen es. Sie sagen es wirklich!« Gopal preßte Sinjar seinen Revolver ins Kreuz: »Kommen Sie mit!« »Nein, bitte! Ich will alles sagen, alles.« »Alles?« »Ja.« »Mit jeder Einzelheit?« »Mit jeder.« Shastri hob den Blick zur Decke. »Also gut. Versuchen Sie es, und wenn es wahr ist, werde ich meine Absicht ändern. Aber beeilen Sie sich! Ich habe meinen Abendtee noch nicht gehabt.« Drei gerahmte Fotografien standen auf dem Teakholzschränkchen neben seiner Revolverschatulle. Shastri schob das Teetablett zur Seite, verließ seinen Schreibtisch, ging quer durch die Bibliothek zu den Fotos hinüber und stellte behutsam ein Bild in die Mitte. Lange betrachtete er die junge, hübsche Hindufrau, die ihn darauf anlächelte. Das Lächeln breitete sich von dem schmalen Mund mit den kleinen, ebenmäßigen Zähnen bis zu den großen, dicht bewimperten Augen aus. Der
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Widerschein dieses Lächelns lag in den dunklen Pupillen, ein entzücktes, tiefinnerliches Strahlen – ein Lächeln, das auch in diesem Moment, wo immer sie auch sein mochte, für ihn erstrahlte. In dem Erinnerungswinkel seines Herzens, wo die Toten weiterlebten, in diesem ganz besonderen Erinnerungsfleckchen, glühte heute abend, da war er sich sicher, dieses schelmische Mädchenlächeln, das ihn stets betroffen gemacht hatte. Kamala. Shastri hatte Kamala einst geliebt. Er hatte sie mehr begehrt als jede andere Frau, die ihm in seinem Leben begegnet war. Vielleicht war sein Gefühl gerade in diesem Augenblick am stärksten, vielleicht – er war sich nicht ganz sicher – hatte er all die Jahre nie aufgehört, sie zu lieben. Lange hatte er um der Freundschaft willen gewünscht, daß es nicht so sei, hatte seine wahren Gefühle unterdrückt. Shastri wünschte, daß er an eine Metamorphose glauben könne, wünschte, daß sich jeder Zentimeter jugendlicher Leidenschaft und Schmerzes in platonische Zuneigung gewandelt hätte und daß er akzeptierte, daß sie Stephen Wrenchs Frau war. Schnell wandte er sich den beiden anderen Bildern zu. »Steve, Santha«, sagte er, als ob er sie dadurch herbeizitieren könne. Kamala, ja, sie war immer bei ihm und lächelte ihm zu. Shastri stellte das Foto zurück. Es war ein törichtes Spiel, aber irgendwie hatte es die unglaubliche Einsamkeit der vergangenen vierzehn Monate erträglich gemacht. Shastri sah seine Zeit in Indien als beendet an. Er befand sich in einem Niemandsland, das nicht mehr Indien war. Shastri blickte auf die Uhr und machte sich auf den Weg in sein Schlafzimmer. »Mungo«, sagte Ileana aus der Dunkelheit, »ich liege hier schon so lange allein.« »Ich danke dir«, sagte er, während er sich auszog. »Danke,
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daß du Sinjars Treiben Gopal gemeldet hast.« »Aber das ist doch selbstverständlich, Mungo. Dieser dumme Junge. Dachte wohl, er könne das ungestraft tun? Enfant bête.« Ileana richtete sich auf, und das Mondlicht, das durch das weiße Moskitonetz schien, fiel auf ihre geschwungenen Schultern und die kleinen festen Brüste. »Ja, wirklich ein dummer Junge«, bestätigte Shastri und berichtete, während er sich neben ihr niederließ, was geschehen war. »Dann war es bestimmt Rasul, der das veranlaßt hat. Sinjar war sein Spitzel. Die wollen dich bei irgend etwas erwischen.« »Ja, bei etwas, weswegen sie mich anklagen können. Zum Beispiel, Informationen zurückzuhalten.« »Tust du das denn, Mungo?« »Natürlich. Das tue ich immer. Hast du das noch nicht gemerkt?« »Sie wollen dich verhaften und ins Gefängnis werfen.« Er suchte ihren Blick. Doch das Mondlicht verhinderte das, es ließ ihre Augen leuchten und fast undurchsichtig wirken. »Und Rasul hat Sinjar gesagt, daß beim nächsten Mal …« »Genau. Daß sie mich beim nächsten Mal verhaften können.« Ileanas kleiner Mund verzog sich: »Das können sie doch nicht mit dir machen, Mungo!« fauchte sie empört. »O doch, das können sie. Es sei denn, ich fliehe rechtzeitig.« »Wohin? Nach Paris, Mungo?« Shastri schwieg. »Nach Amerika, nicht wahr? Dorthin, wo dieser schreckliche Freund von dir lebt, der mich nicht ausstehen kann. Ich gehe nicht nach Amerika!« Er hatte gewußt, daß sie so reagieren würde. Das Hinterzimmer des Kellerlokals in Lashio kam ihm in den Sinn und
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Steves Stimme, whiskyschwer und warnend: »Um Himmels willen, Ram, laß sie hier. Wenn du sie mitnimmst, wirst du auch ihre gottverdammte Opiumpfeife mitnehmen müssen.« Aber Shastri war nicht seiner Meinung, sondern völlig von dem Augenblick gefesselt, der sich ihm bot. Ileana, jung, weit weg von dem Trubel rings um sie her, lag da, kaum atmend, in diesem gottverdammt schmutzigen Raum auf einer Bambusmatte, einen Fetzen Sackleinwand zur Hälfte über ihren nackten Körper gelegt, eine schlafende Vision in Morpheus Armen. Der Rauch spielte um ihre Brüste wie durchsichtiger Seidenflor um eine Louvre-Göttin. Sie, Shastri und Steve waren dorthin gefahren, um einen Mann zu finden, einen schrecklichen, steckbrieflich gesuchten Kerl. Aber dieser Anblick machte alles anders. Shastri zog Ileana an und nahm sie mit sich – trotz Stephens Protest. Das hatte Ileana seinem Freund nie verziehen. Ihr ständig wacher Opportunismus empfand ihn als eine Bedrohung. Mit Kamala war es noch schlimmer. Einerlei, wie freundlich ihr Kamala auch entgegenkam, Ileana spürte, daß dies die andere Frau war, spürte es so vollständig und so richtig, daß Shastri die Fotos aus dem Schlafzimmer entfernen mußte. Einmal hatten sie sich wegen einer Kleinigkeit gestritten. Rasend vor Wut ergriff seine Geliebte Kamalas Bild, spie darauf, während sie wild dabei schrie, daß Shastri wohl meine, sie sei Abschaum. Nun, sie hatte es ihm gezeigt. Vielleicht konnte sie mit dieser absoluten Dame nicht konkurrieren, mit dieser Apotheose einer tugendhaften Frau, die nicht mehr von der Liebe zu einem Mann wußte als eine Tempelstatue. Doch sie war seine Ileana Heng, und Shastri gehörte ihr. Das war das einzige Mal gewesen, daß Shastri sie geschlagen hatte. Nun, nachdem Kamala tot war, richtete sich ihre Wut auf Steve. Nein, sie würde nicht mit ihm nach Amerika gehen. »Ich denke nicht daran«, schmollte Ileana, schlang die Arme
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um ihn und zog ihn zu sich herunter, bis er unter ihr lag. Ihre Finger schlossen sich um seine Hoden, umfaßten seinen Penis und massierten ihn. Er beobachtete den schwarzen Wasserfall ihres Haares, der auf und nieder wogte, während sie seinen Penis mit den Lippen umschloß. Er lauschte dem saugenden Geräusch, ihrem Ringen nach Luft, während er größer und größer wurde. Er fühlte, wie seine Einsamkeit schwand, wie sich feuchtes, forderndes Leben aus einem Kokon befreite. Shastris Hände fühlten sich an, als stünden sie in Flammen, als er nun seinerseits nach ihr griff. Ileana lachte, verstand und spreizte sich über ihn und führte, nachdem er bereit war, seinen Penis in sich ein. Dabei redete sie unaufhörlich, preßte sich nach vorne und nach hinten: »Mungo, du bist zu groß, um das mit dir machen zu lassen, zu groß und jetzt so groß in mir. O Mungo, was würde ich denn tun ohne solch einen großen … oh, so groß … groß in mir, Mungo … IN MIR … halt mich … halt … HALT, HALT MUNGO … und ich will … dich … schützen … oh … oh … OH MIT … MIT … dir so groß in mir kann ich alle … ALLE … ja, noch mehr, MUNGO … MEHR …!« Weiter und weiter, während ihre Worte unverständlich wurden, der schwarze Vorhang ihrer Haare wogte, ihr Atem schwerer wurde, sie sich bäumte, sie schließlich zum Ende kam, das Zucken ihrer Schenkel verebbte und sie in die Stille der Nacht stürzte. Später träumte Shastri, daß sie noch auf ihm läge. Beide waren sie in die Gerüche von Lashio eingehüllt. Sie kniete über ihm, ihre Brüste und Arme waren schweißnaß, während sie sich leidenschaftlich auf seinen Penis stürzte. Doch so schön sie auch in ihrer Leidenschaft war, der üble Geruch blieb, und er verstand nicht, warum. Die Liebesszene im Lashio-Bordell ging weiter. Die Bambuswände waren fleckig, schimmelig und feucht von dem ver-
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rottenden Dschungel dahinter. Auf Shastri wirkten sie wie Fleisch, das von Liebesschweiß naß war, und nicht wie ein Dschungel. Er konnte es nicht fassen, daß er wieder in Lashio war. Da war doch eine Kürbisflasche gewesen, erinnerte er sich. Dort, in der Ecke neben der Matte, ein mißgebildeter Kürbis, verformte Natur. Shastri blickte hinüber. Der Kürbis war fort. Dann, während er an sich herunterblickte, seinen Penis im dichten Schamhaar vergraben sah, war er erleichtert, daß alles noch schön war. Nur der Geruch und der Traum, daß er in Lashio sei, störten ihn. Ileana bückte sich tiefer. Ihr Atem streifte seine Wange. Die schwarzen Strähnen ihres Haares erstickten ihn beinahe. Er versuchte, den Kopf zur Seite zu wenden. Wieder und wieder. Immer wieder fiel ihr Haar über seine Augen, seine Nase, seinen Mund. Kein duftendes, nein, stinkendes Haar. Der Gestank von Verwesung, von ungewaschenen Körpern, von irgend etwas. Shastri rang nach Luft, vergrub seine Nägel in ihren Nakken, zerrte an den Strähnen, um sie zu zwingen, sich zurückzulehnen. Weg, er wollte weit weg, fort von diesem Geruch. Schließlich wurde ihm klar, daß er träumte. Auf englisch schrie er: »Verflucht!« und erwachte. Schweißgebadet blieb er eine Weile liegen. Das immer noch helle Mondlicht reflektierte von den Wänden wie von brennendem Metall. Irgendwie schien die Atmosphäre spannungsgeladen. Shastri richtete sich auf und tastete mit der Hand neben sich und wußte schon, bevor er das Laken berührte, daß Ileana fort war. Er erhob sich aus dem Bett, ging durch den Raum und auf Zehenspitzen in den Korridor hinaus. An dessen Ende sah er die verschlossene Tür der kleinen Schlafkammer, ihren Zufluchtsort. »Verflucht!« wiederholte er und ging weiter. Er folgte der Rauchwolke bis hin zur Tür.
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Langsam, zögernd betrat er den kleinen Raum. Lampenschein fiel auf den Tisch und auf den Diwan dahinter, blieb glitzernd auf einem Minibrenner haften, in dem man Kokain zum Glühen bringt, fiel über Ileanas lose gebundenen Kimono, über die Wimpern ihrer geschlossenen Augen und auf die langstielige Opiumpfeife in ihrer Hand. Shastri trat näher. Vorsichtig löste er die verkrampften Finger und entnahm ihnen die Pfeife. Zitternd stand er da und blickte in ihr unbewegtes, schlafendes Gesicht. Gopals Worte gingen ihm durch den Sinn, aber diesmal klangen sie wie Hohn: »Die Frau ist immer noch auf Ihrer Seite«, hatte Gopal gesagt.
4 Gangotri-Gletscher/Uttar Pradesh/Hardwar »Chundra!« Er hörte, daß Gauri ihn rief. Zuerst war ihre Stimme wie ein Echo, das aus einer tiefen Schlucht in ihm selbst widerhallte. Aber nun, als er durch die enge Spalte der eisblauen Flanke des Gangotri-Gletschers spähte, hörte er den Widerhall seines Namens dicht vor seinem Gesicht, und das erschien ihm phantastisch. Im Nordosten, noch viel, viel höher, befand sich das so berühmte »Kuhmaul«, wo, wie eine große feuchte Zunge, der heilige Ganges entsprang, herniederkam und sich durch ganz Indien ergoß. Seit vielen Tagen und Nächten hatte er Gauris Rufe während des Wachens und Schlafens gehört. Irgend etwas stimmte nicht, irgend etwas war falsch. Er richtete sich auf und zitterte in der kalten Morgenluft des Himalaja. Der Sonnenaufgang 63
schien wie ein rautenförmiges Funkeln, das die endlose Weiße hinter dem Spalt blau erstrahlen ließ, und nahm ihn in seiner glitzernden Pracht für einen Augenblick gefangen. Das Echo hörte genauso abrupt auf, wie es angefangen hatte. Nun waren wieder das Tröpfeln des Gletscherwassers und das gelegentliche Krachen des Eises zu hören. Geräusche auf dem Dach der Welt. Der alte Sadhu, genauso dünn angezogen wie in dem heißen Dorf bei Lucknow, trat aus dem Schatten der Höhle und ging zu dem Spalt. Seine Silhouette hob sich von dem bläulichen Glühen ab, und Chundra dachte, daß es wie ein Heiligenschein um ihn ist. Was konnte schon Schlimmes passieren, wenn ein heiliger Mann bei ihnen war? Chundra hatte ihn niemals essen oder schlafen und noch nie ausruhen gesehen. Es war klar: Er besaß übernatürliche Kräfte. Er ertrug die Mühsal dieser Reise mit der Leichtigkeit eines Schneetigers, niemals verharrend, niemals auf dem falschen Pfad, ohne Bedürfnisse, gleichmäßig dahinschreitend, kletternd, furchtlos, nie von dieser ungeheuren Kraft im Stich gelassen! Auch hatte der Sadhu während der ganzen Reise nicht einmal seine Augen geöffnet. Wieder zitterte Chundra und zog sich die Wolldecke enger um die Schultern. Er hörte, wie sich der Pilger bewegte. Selbst er, der neue Herr, der Auserwählte, zitterte. Chundra hatte gesehen, wie er unter dem eisigen Wind zusammengezuckt war, und ihn den Berg entlangstolpern sehen. Ja, der Pilger war der Herr, der Erwählte, das war wohl wahr, aber schließlich auch nur ein Mensch. Nun war auch der Pilger erwacht, setzte sich auf und verzehrte seine dürftige Frühstücksration. Chundra, der noch nichts gegessen hatte, setzte sich zu ihm. Die Mahlzeit verlief schweigsam. Nachdem sie gegessen hatten, krochen die beiden Männer durch den Spalt in die blaue Dämmerung hinaus. Dort
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stand in der gleichen Haltung, in der Chundra ihn zuerst gesehen hatte, der Sadhu auf der eisigen Fläche. Andere Sadhus waren zugegen, die meisten in der Lotusstellung und in ihre Meditation versunken. Diejenigen, die in den Höhlen oberhalb des Gangotri-Wasserfalls hausten, wirkten wie dunkle Flecken auf den hohen, schneebedeckten Hängen. Unten, in westlicher Richtung, am Fuße des Gletschers, waren einige, die fast nackt ihre Waschungen vornahmen. Gab es irgendwo auf der Welt einen Ort, an dem Gott so gegenwärtig war, dachte Chundra. Hier war Gott ein eisiges Blau, ein funkelndes Juwelenblau, eine Sonne aus Kristall. Hier, so wurde gesagt, hatte Gott den Sehern einst jener Zeit die heiligen Schriftstücke gegeben. Der Sadhu führte, kletterte ihnen voran. Sie wandten sich von dem weißen Baldachin ab und gingen auf einen grauen Schieferabhang und Felsblockgletscher zu, der sich jäh nach unten neigte. Der Aufprall der Steine hatte dunkle Löcher gerissen. Die aufkommende Morgendämmerung zeigte eine ferne Schlucht, die von Purpurrot in blasses Grün überwechselte und die Baumgürtel reflektierte. Sie gingen immer weiter. Chundra atmete schwer. Die Pilger, die diese Mühsal mit ihm teilten, zogen zwischen ihm und dem heiligen Mann dahin und stöhnten zum Himmel. Im Laufe der verstreichenden Stunden hatte sich das kristalline Licht der Sonne verbreitet und den Blick auf die Wolkenwirbel freigegeben, die um den Shiv Ling-Gipfel stoben und den Gangotri umflogen. Unheimliche Kräfte waren auf dem Dach der Welt am Werke. Uralte Geister der großen Vergangenheit waren überall zugegen. Über ihren Köpfen kreisten Lämmergeier wie Wächter aus grauer Vorzeit über verbotenem Bezirk. Chundras Kopf schmerzte. Würde dieser unermüdliche Sadhu denn niemals stehenbleiben? Er und die Pilger taumelten nur noch und rangen nach jedem dritten oder vierten Schritt
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nach Luft. Er sah die Abdrücke einer großen Katze und erkannte daran, daß sie bereits höher waren, als Menschen gewöhnlich gehen wollten. Als er zurückblickte, wirkten die Tempel, Weihestätten und Pilgerscharen auf der Straße zum Gangotri wie ein Traumbild. Und dann starrte Chundra verzweifelt auf einen Steilhang vor ihnen. Dort hinaufzuklettern würde ihm nicht möglich sein, und er war sich ziemlich sicher, daß der Pilger, der nun auf die Knie gefallen war, es ebensowenig konnte. Der Steilhang reichte weit in den feuchten Nebel hinein. Er war schneebedeckt. Was konnte dort anderes sein als der Leopard, dessen Fährte sie zuvor gesehen hatten? Der Sadhu wandte sich nach links. Ein Felsenriff, kaum groß genug, um einen ausgewachsenen Mann aufzunehmen, umkreiste die Grundfläche. Sie betraten es. Chundra war nicht in der Lage, abzuschätzen, wie lange es dauerte. Er war zu sehr damit beschäftigt, Halt zu suchen, um an etwas anderes denken zu können. Immer wieder verschwanden der Sadhu und der Pilger hinter einer Kurve und ließen ihn in dieser unendlichen Weite allein, dem heulenden Wind, der an ihm zerrte, preisgegeben. Gewiß würde er abstürzen. Gewiß hatte die Göttin ihren Sinn geändert, aus einer Laune heraus würde sie ihn beiseite stoßen wie so viele andere auch. Chundra ergab sich in sein Schicksal. Doch er schaffte es. Der Felsvorsprung wurde breiter, und der Steilhang ließ eine Menge Vertiefungen und Mulden erkennen. Es war die dritte Mulde, die ihnen bestimmt war, eine riesige, schattige, dreieckige Vertiefung, über die ein schriller Ton – das Pfeifen des Windes – hinwegstrich. Chundra erblickte einen bärtigen Geier, welcher auf der Spitze eines Felsvorsprungs hockte. Er schauderte und fragte sich, warum dieser Geier dort lauerte, warum er unverwandt zu ihm hinüberblickte. Chundra warf einen Stein in seine Richtung. Es gab ein kurzes, grauweißes Durcheinander, als der
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Vogel sich bewegte, sein Gefieder ordnete und dort blieb, wo er war. Die anderen waren bereits verschwunden. Chundra wich vor dem Geier zurück, wandte sich und beeilte sich, in die Mulde zu kommen. Wie ein hartnäckiger, langgezogener Ton folgte ihm das schrille Heulen des Windes, als tropfe es von den Steinen und bliebe auf seiner Spur. Nervös rieb er seine tränenden Augen. Die Dunkelheit nahm zu. Chundra stolperte und wäre fast den Hang hinuntergefallen. Doch irgendwie fand er Halt und setzte seine Suche fort. Wo waren die anderen? Wohin, im Namen Mutter Kalis, waren sie gegangen? Ein Umriß erhob sich plötzlich vor ihm. Die Felswand dahinter schien schwach erleuchtet zu sein. Eine Hütte, es war eine Hütte. Chundra betrat den offenen Eingang. Die Wände bestanden bis zu einer gewissen Höhe aus Holz und dann aus behauenem Stein. Ein Tonkrug und ebensolche Becher standen auf dem Boden neben einer Matte aus geflochtenem Schilf. Chundra ging auf die andere Seite hinüber und fand einen engen Gang, eine Spalte, die tief in den Berg hineinführte. Er schob seinen Körper hindurch und sah, daß es noch dunkler wurde. Gespannt lauschte er auf die Schritte der anderen, hörte jedoch nichts. Vorsichtig und langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und entdeckte dabei zu seiner Überraschung, daß der Boden eben und weich war. Chundra streckte die Arme seitlich aus, um festzustellen, wie breit dieser Gang war. Er registrierte, daß er breiter war als seine seitwärts ausgestreckten Arme. Er ging zur Seite, erst nach links, dann nach rechts und erkannte, daß mindestens zwei Männer nebeneinander in diesem Gang Platz hatten. Chundra ging weiter und spürte, daß es wärmer geworden war. Der Boden konnte sich unerwartet senken. Mit der linken
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Hand strich er an der Felswand entlang, so daß er sich etwas in dieser absoluten Finsternis orientieren konnte. Während er vorsichtig weitertappte, fühlte Chundra, daß er an eine Schranke stieß. Er streckte die Arme aus. Seine Hände fuhren bis zu den Handgelenken durch etwas Dünnes. Dennoch war nichts da, kein Gewebe, kein Schleier, kein Vorhang, obwohl es sich so anfühlte. Er hielt den Atem an und zwängte auch seinen übrigen Körper hindurch. Einen Augenblick lang schlug die Schranke gegen sein Gesicht und seine Nasenflügel. Dann hatte er sie hinter sich gelassen, und seine Ohren dröhnten. Schwindel überkam ihn, war aber bald darauf nicht mehr zu spüren. Chundra Bala bedeckte seine Augen, um sich gegen die blendende Helligkeit, in die er unversehens eingetaucht war, zu schützen. Er befand sich an einem Ort, der von leuchtenden und intensiven Farben erfüllt war, ständig wechselnden starken Farben, ein Ort, an dem die Stille dröhnte. Er konnte diese tiefe, geradezu körperlich spürbare Stille kaum ertragen. Fast wagte er nicht, aufzublicken. Allmählich gewöhnte er sich an die so veränderte Umgebung. Kleine Farbteilchen schwirrten in allen Richtungen umher. Etwa dreißig Meter vor sich erkannte er den Pilger und Sadhu. Er wollte frohen Sinnes auf sie zugehen. Er fühlte sich in einen anderen Chundra Bala verwandelt, er war so jung wie Dhan. Vielleicht hatte sich der tote Knabe mit seiner Seele vereinigt. Es gab keine Wände, oder, falls sie existierten, so waren sie in dem ständigen Fluß der Farben verborgen. Sie waren schwankend wie Girlanden, erst ganz nah, dann plötzlich weit zurückweichend, dann wieder ganz nah. Alles formte sich neu und anders, löste sich auf und formte sich wieder. Konkave und konvexe Ströme von Rosa, Blau, Gold, Aquamarin, Scharlachrot, Lila und Safrangelb wurden zu Wänden, die sich aufrichteten und plötzlich wieder in sich zusammensanken, dahinfegten,
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sich miteinander zu einer Fläche fließender, wellenförmiger Farben vermischten, wie verschüttet und zufällig miteinander vermengt. Manchmal wurde ein Stück Aquamarin oder Scharlachrot dichter und ergoß sich wie ein Blutrinnsal über die darunterliegenden Wellen von Blau, Gelb und Perlweiß und fiel in Streifen in sich zusammen wie die kleine Welle von Gold, die plötzlich in Schulterhöhe barst und aus ihrem Inneren kleine, goldene Punkte schleuderte. Doch die Pracht dauerte nicht lange. Ein dunkles Tuch schien sich plötzlich niederzusenken. Chundra sah auf einmal nur noch Schatten, der sich wie graue Schmiere, die sich in die Wände preßte und sich überallhin ausbreitete, wirkte, eine graue Schranke, die immer dunkler wurde. Der Sadhu bewegte sich. Sein Kopf schien frei zu schweben, weil sein Körper in der Dunkelheit verborgen blieb. Der Schatten verdrängte die Farben bis an den äußersten Rand. Und jetzt erkannte Chundra das, was der Heilige sah. Vor ihnen saßen vier heilige Seher, Rishis, in Lotushaltung aneinandergelehnt und sich im Kreise drehend. Der Schatten konnte ihnen nichts anhaben. Ihre alten Gesichter waren zerfurcht. Von ihren Häuptern hingen weiße Strähnen, die auf ihre nackten Schultern fielen. Ihre Bärte waren altersgrau und reichten fast bis zu ihren Lendentüchern. Jeder hätte ein Zwilling des anderen sein können. Rücken an Rücken bewegten sie sich unentwegt im Kreise und sangen einstimmig dazu: »Wir sind die Rishis, die erleuchtet wurden, wir empfingen von Brahma den Ton der zeitlosen Unendlichkeit, wir hörten ihn direkt, und wir erinnern uns seiner Atma devanam bhuvanasya garbho.« Und wie im Chor wiederholten die Sprecher des zeitlosen Windes diese Worte und, wie zuvor, verstand Chundra folgende Worte: »Geist aller Götter, Saat aller Welten.« Es durchfuhr ihn wie ein Schlag und ließ ihn bis auf die Haut erschauern.
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Die Melodie hob und senkte sich. Die Worte, wie Ebbe und Flut, kamen und gingen. »Hört die Propheten des Anfangs und des Endes. Hier, als außer den Bergen der Welt noch nichts war, wurde uns – jedem von uns – das Heilige Wort verkündet«, fuhren die Vier zu singen fort. »Wisset, daß eine Silbe des Wortes Gottes dem Brausen der Schöpfung gleichkommt. Kein Mensch hört dieses Dröhnen der ganzen Schöpfung auf einmal. Niemand könnte seine Mächtigkeit und sein gewaltiges Beben ertragen. Nur Brahma hört das Ungeheure, den Ton der schrecklichen Stille. O Brahma TAT TVAM ASI. TAT TVAM ASI. Du bist es.« Und als sie den Gesang beendeten, löste sich die Schattenschranke auf, wurde dünner, wandelte sich von bedrohlichem Dunkel in durchscheinendes Grau, wie eine Wolke, die mit ihrer plötzlichen Gegenwart den strahlenden Morgen verdüstert. Diesmal wurden auch die Rishis für einen kurzen Augenblick von der Dunkelheit verschluckt. Dann gab es eine Eruption in ihrer Mitte, und jede der vier Gestalten wurde warm und durchscheinend, wie von einem unbekannten Feuer geschmolzen. Keine grauen Schatten mehr, keine uralten Rishis. Statt dessen sahen sie junge und kühne Geschöpfe mit leuchtenden Augen, deren Haare immer noch in langen Strähnen herunterfielen, aber nun schwarz und geschmeidig waren. Sie waren bartlos und hatten kräftige, durchdringende Stimmen. »Wir sind die Herrscher des Seins und Nichtseins, des Atmens und des Nichtatmens und von Licht und Dunkelheit. Die Sonne schenkt uns den Schatten, die Nacht schenkt uns das Licht des Mondes. Alles wartet auf den Ausgleich. Alles wartet auf Gott. Alles wartet auf das Böse«, riefen sie aus. Chundras Blick wandte sich zu dem Pilger hinüber, der nun näher trat. Die Rishis fuhren fort, sich im Kreise zu drehen, immer noch wie Zwillinge wirkend. Doch nun hielt jeder von
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ihnen etwas in der linken Hand. »Unser ist der Strom der Geschichte, die mächtige Illusion, die wie der heilige Ganges dahinfließt, die im Lichte webt und sich in der Nacht auflöst, die mit Sinn überfließt und ohne Bedeutung zurückweicht.« Einer warf das, was er in der Hand hielt, dem Pilger vor die Füße. »Hier ist die Schriftrolle der Großen Wahrheit, die Schriftrolle der Erhabenheit. Lies, und wir werden es in unseren Herzen bewahren …« Als der Pilger die Rolle aufhob, entfuhr Chundras trockener Kehle ein Stöhnen. Der Pilger entrollte das Pergament und las laut daraus vor. Seltsamerweise waren die Worte für Chundra unverständlich, obwohl die Stimme des Pilgers laut genug war. Die vier Rishis wirbelten immer schneller im Kreise herum und wurden in der Kreisbewegung immer undeutlicher, bis die Rolle der Großen Wahrheit zu Ende gelesen war. »Hier«, rief der zweite, während er seine Rolle hinüberwarf, »lies die Worte von den Ereignissen, die das Schicksal bestimmt hat. Lies sie uns vor, damit wir sie in unseren Herzen bewahren können.« Und wieder waren die Worte des Pilgers für Chundra unverständlich, doch nun wußte er, daß sie nicht für ihn bestimmt waren. Sein Blick suchte den alten Sadhu, doch dieser war verschwunden. Wieder wurde alles undeutlich, wieder waren rötliche Flammen da, deren Anblick den Augen weh tat, ein wirbelnder Kreis wie ein Sonnenfeuerrad in der Dämmerung. Das Zinnoberrot, Lavendel, Rosa, Aquamarin und Gold, alle Farben des Spektrums waren verdüstert. Die Wellenbewegungen hatten sich verlangsamt, standen still und hatten sich in die Wände einer ausgedehnten Höhle eingefügt. Als er sich wieder den Sehern zuwandte, sah Chundra zum
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erstenmal, daß sie schwebten. Es war kein Podest mehr erkennbar. »Hier«, rief der dritte mit lauter Stimme, »lies die Schrift der Erwählten. Lies von dem Erbe, das über uns gekommen ist, von den Söhnen der Götter, die in Menschengestalt auf Erden erscheinen, die den Takt des Ausgleichs angeben, der auf Erden herrscht, um das Wohl und Wehe der Menschen im Gleichgewicht zu halten. Lies, damit wir es in unseren Herzen bewahren. Denn wir sind Herrscher und wiedergeborene Seher: Herrscher der Gegenwart und dessen, was noch kommen wird.« Eine weitere Rolle wurde dem auserwählten Pilger überreicht. Chundras Herz schwoll vor Stolz, war er doch außer dem Erwählten der einzige Zeuge von dem, was hier geschah. Der alte Sadhu schien in den Himmel verschwunden zu sein. Alles war möglich. Und dann war da der vierte Seher, dessen Augen wie Feuer leuchteten, als er leidenschaftlich zu sprechen begann. Sein mächtiger Arm hob sich, und die Schriftrolle flog durch die Luft. Diesmal fing sie der Pilger, der jetzt ganz nahe herangekommen war, auf. »Hier«, kam schließlich der letzte Befehl, »die Schriftrolle der Macht. Rufe deine Mutter herbei. Lies, damit wir es für immer im zeitlosen Herzen der Ewigkeit bewahren können, damit es für immer auf Brahmans Stirn geschrieben steht.« Dies war, wie Chundra glaubte, die wichtigste Schrift; denn er war davon überzeugt, daß sie von Kali handelte. Sie war länger als die anderen. Als sie zu Ende gelesen war, wurde der gelblichrote Kreis weiß. Chundra hörte sich schreien. Entsetzen erschütterte sein Bewußtsein und breitete sich bis in sein Innerstes aus. Die weiße Mitte des Kreises schien zu explodieren. Der Erdboden bebte. Er wankte, kaum fähig, sich aufrecht zu halten. Die Luft zerriß die Atmosphäre des Übersinnlichen. Ein
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zischender Laut, der sich wie entweichendes Gas anhörte, erschütterte ihn. Ein unsichtbarer Flammensog zerrte an ihm und ließ ihn rückwärts taumeln. Er trat auf etwas, das wie zartes Gewebe nachgab. Dennoch stand er noch auf seinen Füßen. Ich bin wie ein Toter, dachte er. Sein Körper war eiskalt. Er konnte nicht einmal zittern. Seine Haut, seine Nerven und seine Glieder waren empfindungslos. Furcht, Freude, Ehrfurcht, alle Gefühle waren weg, vielleicht, weil das Herz eines Menschen nicht ertragen konnte, was er nun sah. Chundra starrte wie gebannt. Dies war eine andere, in der trüben Dämmerung geheimnisvoll wirkende Höhle. Stalaktiten und Stalagmiten ragten und hingen hier in allerlei bizarren Formen wie die überdimensionalen Gebilde eines Alptraums. Chundra zögerte noch. Ungesunde Feuchtigkeit tropfte aus zahllosen Löchern in der Decke. Sie wirkten wie die ausgebrannten Augenhöhlen eines Riesen. Er wagte nicht, lange hinaufzublicken, weil es ihn schwindlig machte. Gewiß würde es ihn aufsaugen, und er würde in die endlose Weite hinter dieser dünnen, sich verströmenden Feuchtigkeit ins Ungewisse gerissen. Auf einem Hügel, der mit bläulichen Algen bedeckt war, hockte ein Wesen. Chundra nahm zumindest an, daß es Algen waren, so wie er auch annahm, daß dies ein Lebewesen war, etwas, was sowohl eine Amphibie, ein Fisch, ein Dämon oder auch ein menschliches Wesen sein konnte. Ständig wich es ihm aus dem Blickfeld, wurde undeutlich, formte sich wieder in etwas völlig anderes, so als würde es gerade erst geboren. Geräusche drangen von irgendwoher: Kichern, Glucksen, Flüstern, Seufzen, Stöhnen, vielleicht auch Zornesausbrüche, die möglicherweise gegen ihn, den Eindringling, gerichtet waren. Er bewegte sich jetzt mit seltsam schweren und langsamen
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Schritten voran. Er ging an einem Rad vorbei, das so hoch wie ein dreistöckiges Haus war. Chundra berührte es, um sich von seiner Beschaffenheit zu überzeugen. Der poröse, weiche und gummiartige Rand war stabil genug. Der Druck seiner Finger hinterließ Dellen. Dann merkte er entsetzt, daß er menschliches Fleisch berührt hatte. Menschliches Fleisch. Chundra schauderte, aber es war eher eine Art Erleichterung, ein Entkrampfen, und das Entsetzen schwand. Was er jetzt erblickte, war plötzlich wieder erträglich, und so näherte er sich dem Unbekannten noch ein wenig mehr, versuchte, den Durchmesser des Rades abzuschätzen und vermutete, daß es fast zwei Meter waren. Obwohl er kaum hinter Speichen und Nabe sehen konnte, errechnete er eine Tiefe von etwa acht Metern. Sein Fingereindruck verschwand schnell wieder. Die Poren dehnten sich und zogen sich wieder zusammen. Vertiefungen wurden auf einer Oberfläche, die von Weiß bis zu glänzendem Schwarz reichte, erkennbar. Das menschliche Fleisch aller Rassen, nahm er an. Diese Hautschattierungen von Gelb, Rot, Braun und schließlich Stellen aus tiefem Ebenholzschwarz bewiesen es. Während er sich das alles näher betrachtete, entdeckte er hie und da Tätowierungen im Fleisch. Er hatte sie vorher nicht erkannt, aber sie waren ein Teil von allem. Dies war ein Ort ständig neuen Wachstums. Chundra beugte sich vor und blinzelte in Hie milchige Dämmerung, durch immer neue Tätowierungen beeindruckt. Sie erzählten, an eine religiöse Zeremonie erinnernd, eine Geschichte. Die eingeritzten Figuren waren alle rot, und während es um ihn herum etwas heller wurde, sah er, daß ihre Umrisse blutig und so roh wie beim ersten Einstich der Tätowierungsnadel waren. Die zentrale Figur, dachte Chundra, stellt eine ganz gewöhnliche Bajadere dar, eine Tempeltänzerin in der Haltung des Bharata Natyam. Chundra bemerkte die bedeu-
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tungsvollen Bewegungen, die Mudras und die vorgeschriebenen Hand- und Fingerhaltungen. Die Bajadere wechselte zu einer neuen Tanzstellung über, veränderte ihre Armhaltung, und mit einem Mal wurde die hübsche, lächelnde Frau durch eine andere ersetzt. Chundra hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum sich diese Gestalten bewegten. Die Frau hatte ihre Schönheit nun verloren. Das Blut gerann und wurde klebrig schwarz. Eine Hexe starrte ihn mit Giftzähnen und heraushängender Zunge an. Zwei weitere Arme waren zu erkennen. Sie hielten ein Schwert und eine Würgeschlinge. Beide Arme bewegten sich zu einer geräuschlosen Musik, die an Chundras Nerven zerrte. Die Geräusche sollten nur empfunden, nicht aber gehört werden, sie waren der Ultraton schrecklichen Schweigens. Chundra Bala erkannte seine Göttin und wagte kaum, sie anzublicken. Außer dem Schmuck, den sie trug, eine Girlande von Schädeln und einem Gürtel abgeschnittener Hände, war sie nackt. Sie tanzte den Rand des Rades herab … tanzte finsteren Blickes, drehte und wand sich. Die zweite Gestalt, der Dämon Raktavija, behielt die rote Farbe. Der Thug kannte die berühmte Sage und beobachtete nun, wie sie sich vor ihm abspielte. Jedesmal, wenn Kali ihn mit ihrem Schwert traf, erschuf sich Raktavija aus den herniederfallenden Blutstropfen neu. Die zahllosen Dämonen ließen Chundra schwindeln. Einen Augenblick lang schien das Rad ganz zu verschwinden, und er sah unendlich viele, fürchterliche Raktavijas. Dann war der Rand des Rades wieder zu erkennen, und die tanzende und sich bäumende Göttin hielt den Dämon in die Höhe und trank sein Blut, bevor es niedertropfen und den Dämon wieder auferstehen lassen konnte. Und dadurch, so stand es geschrieben, war Kali zu dem unersättlichen Blutdurst gekommen. So also war es, und Chundra wandte den Kopf von
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dem nun gedunsenen, schrecklichen Geschöpf, das ein schauriges Triumphgeheul erschallen ließ. Sein Körper war erstarrt, seine Nerven bis aufs äußerste, wie eine überlastete, elektrische Leitung angespannt. Steif ging er hinter das Rad, um sich zu verbergen, lehnte sich gegen seine Speichen und versuchte, sich an etwas festzuhalten, das wie Seetang aussah. Doch seine feuchtkalten Hände ließen die Stränge, die er ergriffen hatte, sofort wieder fallen, als er merkte, daß es menschliche Haare waren. Frauenhaare, lange, in menschliches Fleisch eingewachsene Strähnen. Da und dort, wo sich die Haare teilten, blickten Gesichter hindurch, liebliche Gesichter, voller Verzweiflung und Augen, die mit unendlicher Traurigkeit angefüllt waren. Chundra erreichte die Radnabe und wich sich windenden Armen aus, die sich um die Speichen legten und nach ihm griffen. Dort, im Zentrum des Rades, heftete sich sein Blick auf lauter weibliche Scheiden, die in einem bebenden, ekstatischen Muster miteinander verbunden waren. Eine mächtige, geschlechtliche Anziehungskraft zerrte an ihm und weckte seine Begierde. Seine Schamhaare hoben sich wie ein Beet dunkler Anemonen. Ihn erfaßte ein tiefes Begehren, so stark, daß es ihn zu zerstören schien, obwohl ihm eine neue Kraft gebot, sich loszureißen. Als Chundra wieder auf festem Boden stand, glitt er aus und fiel auf den Rücken. Er rutschte auf einer Schräge abwärts, die in eine Felsenkammer führte. Dort erhob er sich auf die Knie und sah sich längsseitig angeordneten Profilen gegenüber, die aus dem Felsen herausragten. Er blinzelte, bis er erkannte, daß es sich dabei um menschliche Schädel handelte. Seine Knie gaben einen Augenblick nach, doch er zwang sich, nicht den Halt zu verlieren. Dann ging er zu den Knochenpfeilern, die einen Eingang säumten, hinüber. Verstört fuhr er sich mit der Hand über den eigenen Kopf,
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der sich anfühlte, als sei er elektrisch geladen. Doch war er jetzt ganz ohne Furcht. Wie wunderbar, daß er fähig war, sich in dieser Welt des Todes frei zu bewegen. Doch war noch eine nicht überwundene Verzweiflung in ihm, die wie ein unsichtbares Übel wirkte. Er ging weiter, nun gegen jeden Alpdruck gefeit. Noch mehr Schwärze. Dann ein schwaches Leuchten überall, eine Ahnung von Licht. Sein Fuß stieß wiederholt gegen etwas Weiches, Breiiges. Chundra bückte sich und zerrte an dem sich windenden Etwas, bis es nur wenige Zentimeter von seiner Nase entfernt war. Es war eine abgetrennte Hand. Zwei, nein, viele abgetrennte Hände, die Finger in hoffnungsloser Selbstaufgabe gespreizt. Maden glitzerten und fielen von den Handflächen. Ein Schein, weißer als Fleisch, weißer als Knochen, zeichnete die bebenden Umrisse nach. Chundra überquerte die große Fläche der Höhle, stieß die Hände zur Seite und redete sich ein, daß dies alles so etwas wie kosmische Verweigerung war, nichts weswegen man sich Gedanken machen müsse, wirklich nichts von Bedeutung. Wichtig war vielmehr, der Windung dieser Felsenkammer zu folgen, in den hintersten Winkel zu gelangen und den schimmernden Bogen zu erreichen, dessen Widerschein an den Wänden zuckte und tanzte. Dort, das wußte er, mußte die endliche, wirkliche Wahrheit sein, die er suchte. Keine Zeit, stehenzubleiben, zu zögern oder gar zu zittern. Keine Zeit. Keine Zeit, weder da noch dort. Ja, dies war zeitlos. Chundra schritt weiter in die Dunkelheit hinein, blieb stehen und starrte auf ein Podium, das von einer hauchdünnen, schwach durchsichtigen Membran bedeckt war, sich hob und senkte und wie etwas Lebendiges pulsierte. Chundra dachte an eine kranke Placenta. In plötzlicher großer Erregung kniete er am Fuße des Podiums nieder. Durch die durchscheinende Hülle waren zwei Konturen zu
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erkennen. Er sah die Kutte des Erwählten, der sich an eine gigantische Gestalt auf einem steinernen Thron klammerte. Zwei linke Arme hielten ihn eng umschlungen. Eine rechte Hand streichelte seinen Kopf. Die andere Hand preßte sein Gesicht gegen die deutlich erkennbaren Umrisse einer nackten Brust. Der Erwählte sog an den harten, tellergroßen Brustwarzen. Kunkali! Kunkali! Chundra schrie diesen Namen in seiner Seele. Ihr Gesicht war hinter dem schwarzgrünen Netzwerk verborgen. Nur zwei irisierende Punkte leuchteten über ihren Schultern auf. Der Befehl kam von diesen Punkten und krallte sich in Chundras Eingeweide: »Chundra, beschütze meinen Sohn!« Dann brach er ohnmächtig zusammen.
5 Am Rande der Dekhan-Hochebene Es war phänomenal, daß die alte Zugmaschine es geschafft hatte, zwei geschlossene Anhänger die vierzehn Meilen zu diesem Dorf zu ziehen. Rama Shastri stand zwischen schwitzenden Menschen, die sich aneinanderpreßten. Zwanzig Polizisten, den Führer ausgeschlossen, befanden sich in dem ersten Wagen, weitere achtundzwanzig in dem zweiten. Er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, als der Anhänger gegen die Kupplung stieß. Eine wirklich kleine Gruppe gegen siebenhundertachtzig Thugs, dachte er, trotz der zwei Dutzend UZIs und elf AK-47, die seine Leute bei sich trugen. 78
Er hatte das Angebot der Regierung abgelehnt, seine Männer mit den Super M-16-Waffen auszustatten, die auf irgendeine Weise vor Jahren von Kambodscha und Vietnam nach Indien geraten waren. Sie waren, wie russische oder israelische Waffen, einfach zu unzuverlässig. Die 9-mm-Waffen und die AKs waren Shastris ganzer Stolz. Aber würden sie genügen? Sie würden es, falls die Thugs ihren traditionellen Gepflogenheiten treu blieben. Die Sage erzählte, daß die Thugs vor langer Zeit, als sie Zeugen waren, wie Kali eines ihrer Opfer verschlang, so erschrocken gewesen waren, daß sie von da an niemals mehr Blut vergossen hätten, um sie nicht in Versuchung zu führen. So konnte davon ausgegangen werden, daß sie weder Messer noch Feuerwaffen bei sich trugen. Doch welche andere Garantie hatte er als das Wissen, daß diese Ritualmörder zumindest in der Vergangenheit an ihren Glauben gebunden waren? Nur noch die Behauptung des Mannes, der sie dorthin führte. Die Morgendämmerung verdrängte die Schatten der Nacht. Ein Stückchen Helligkeit fiel auf den Hinterkopf des Mannes, der vor ihm stand. Shastri blickte darauf und wünschte, er könne durch diesen Schädel hindurch bis hin zu dem Gehirn des Mannes dringen und zu seinen vielen – viel zu vielen – Geheimnissen. Führte sie dieser Mensch in eine Falle? Warteten diese Hunderte von Würgern geduldig mit wurfbereiten Schlingen in dem dunklen Felsentempel zwischen den Klippen oberhalb des Dorfes? Wieder ruckte der Anhänger, und Shastri wäre fast gefallen. Es wäre nicht so gut, wenn er zu den Füßen seiner Männer auf dem Hintern landen würde. Es genügte schon, daß der Intrigant der Regierung, Krishna Rasul, ihn für den nächsten Monat nach Kalkutta beordert hatte. Warum Kalkutta? Warum nicht Delhi? Warum diese heiße, menschenüberfüllte Pestbeule von
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Stadt? Hielt Rasul ein schwarzes Loch für ihn bereit, wie der bösartige Siraj-ud Daula der alten Zeiten, um ihn für immer darin verschwinden zu lassen? Nein, Rasul besaß nicht so viel Begeisterung, um so bösartig zu sein. Er war nur ein weiterer mieser, kleiner Bürokrat, der jemand anderen an Shastris Stelle sehen wollte. Aber nun war es einmal so, und wenn Kalkutta der Ort war, wo es geschehen sollte, mußten Shastris Leute auf jeden Fall wissen, daß er dem aufrecht und ohne zu wanken entgegensah. Das wacklige Gefährt arbeitete sich eine leichte Anhöhe hinauf. So altersschwach es war, es genügte seinem Zweck. Gab es ein harmloseres Vehikel, um im Dorf anzuhalten? Falls die Thugs es beobachteten, konnten sie annehmen, daß es sich um ein x-beliebiges Fahrzeug, das Lebensmittel und Bedarfsgüter brachte, handelte, denn hier befand man sich in einem Hungergebiet. Seit Rasuls Besuch im Gefängnisgelände waren zwei Monate vergangen. Während dieser Zeit hatte Shastri nichts mehr über den neuen Anführer der Thugs in Erfahrung bringen können. Doch eines Abends war ein Mann von der Gesundheitsbehörde in Varanasi belauscht worden, als er damit prahlte, ein Thug zu sein. Man fand Opiumtabletten bei ihm und stellte fest, daß er von zuviel Reiswein berauscht war. Shastris Agenten hatten ihn aufgegriffen und dem Polizeipräsidium übergeben. Dieser Mann, der Chundra Bala hieß, war eindrucksvoll. Sein unerschütterliches, autoritäres Auftreten ließ erkennen, daß er und nicht sie Herr der Lage war. Er trug eine weiße Tunika, hatte sein glattes Haar tadellos frisiert und trug ein schmales Oberlippenbärtchen. Shastri sah, daß seine Fingernägel manikürt waren. Beim Verhör entschuldigte sich Bala für sein ungehöriges Betragen. Er könne nicht begründen, warum er behauptet habe,
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daß er ein Thug sei, höchstens damit, daß er das Trinken eben nicht vertrug. Selbst Reisbier sei für seine gewöhnlich stets nüchterne Verfassung zuviel. Und würde man jetzt, bitte, so freundlich sein, ihn zu entlassen? Denn er erwarte den ausländischen Gesundheitsbeauftragten der Vereinten Nationen, der ihn aufsuchen würde, und er habe diesem Deutschen schließlich versprochen, ihn zu einer Tigerjagd mitzunehmen, was im übrigen auch die Erklärung für die Opiumtabletten sei, die man bei ihm gefunden hätte. Sie waren dazu gedacht, im Trinkwasserloch des Tigers aufgelöst zu werden. Shastri hatte entgegnet, daß er die abscheuliche Gepflogenheit kenne, aus den armen Tigern Süchtige zu machen, und gefragt, wieso Gesundheitsbeauftragte in diese Art ökologischer Sabotage verwickelt seien? Chundra Bala hatte nur die Achseln gezuckt. So wären nun einmal die Tatsachen, schien das zu besagen, mochte Shastri das nun glauben oder nicht. Shastri hatte dies seinerseits mit einem Achselzucken beantwortet und angeordnet, daß man Bala in seine Zelle zurückbrächte. Später hatte er Gopal seinen Verdacht mitgeteilt. »Eigentlich ist es ungewöhnlich«, hatte Shastri an jenem strahlenden Morgen zu seinem Assistenten gesagt, »daß ein Mann mit seinem Selbstbewußtsein sich auf diese Weise bloßstellt. Er wollte verhaftet werden. Man muß ihn besonders aufmerksam beobachten. Ich bin davon überzeugt, daß er seine Freiheit geopfert hat, um Majumdar und den anderen gefangenen Anführern eine Botschaft zu überbringen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten und dann zu sehen, was Das für uns in Erfahrung bringen kann.« Es war nur eine Frage von Stunden. Bald, nachdem Bala in Haft genommen worden war, suchte er die Nähe des grimmigen Majumdar. Das hielt Distanz, lehnte sich gegen den Zaun und beobachtete sie, während er so tat, als ob er sich ganz dar-
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auf konzentriere, harte, grüne Betelblätter mit Zitronenpaste und Nüssen zu füllen. Die beiden Gefangenen hockten eine Weile zusammen, und plötzlich fing Majumdar an, wütend zu schreien. Andere Thugs versammelten sich um sie, und kurz darauf war ein Aufruhr entstanden, so daß sich die Wachen gezwungen sahen, das Tor zum Gefangenenhof zu öffnen und sich, das Gewehr im Anschlag, dort zu postieren. »Haut ab!« hörte Das Majumdar schreien, woraufhin sich die Menge zerstreute. Majumdar stand da und starrte Chundra Bala mit einem wutsprühenden Blick an, der eine einzige Drohung war. Dann wandte er sich ab. Später, als Das einen seiner Spielgefährten von den Arcoteern aufsuchte, erkundigte er sich: »Was hat denn der Neue dem Jumaldeher-Anführer gesagt, weswegen dieser so wütend wurde?« »Na ja, Ajit Majumdar hat uns gesagt, daß Bala und die übrigen uns betrogen haben. Wir werden nicht gerettet, sondern geopfert und wegen unserer heiligen Arbeiten vielleicht sogar von der Regierung hingerichtet. Aber das bliebe ohne Konsequenzen, sagt der edle Majumdar. Es gibt Schlimmeres. Majumdar will darüber nicht sprechen, aber er sagt offen, daß ganz Indien betrogen worden ist. Ganz Indien! Und daß dieser Bala einer von denen ist, die dahinterstehen.« Der Arcoteer zog Das näher zu sich heran. »Paß auf! Keiner hegt Zweifel an den Worten des großen Majumdar. Er ist entschlossen, daß Bala heute nacht noch Kalis Umarmung erfahren soll.« Er machte die Bewegung des Erwürgens. Als Das zu seinem Standort in der Nähe des Tores zurückkam, gab er das Notsignal. Er warf ein gefülltes Betelblatt durch den Stacheldraht, so daß es draußen im Sand lag. Eine halbe Stunde später wurden zehn Gefangene, scheinbar willkürlich, ausgewählt und zum Verhör abgeführt. Das war unter
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ihnen. Als Shastri von Majumdars Vorhaben erfuhr, ließ er sogleich Chundra Bala holen. Das meinte: »Ich glaube, Rama, daß meine Arbeit hier getan ist. Sobald Bala aus dem Gefängnishof herausgeholt wird, weiß Majumdar, daß einer von den zehn Männern, die hier zum Verhör bestellt wurden, ein Spion ist. Ausgestattet mit der Schlauheit eines Teufels, wird es nicht lange dauern, mich als denjenigen herauszufinden, darauf gehe ich jede Wette ein.« Shastri gab ihm recht. So durfte Das anwesend sein, als man Bala hereinbrachte. Shastri betrachtete den Mann eingehend und bot ihm dann eine Sher Bidi an. Bala lehnte höflich ab. Daraufhin teilte ihm Shastri alles mit, was Das berichtet hatte. »Nun, und was halten Sie davon?« fragte Shastri, darüber verblüfft, daß Bala nicht einmal blaß wurde. Verdammt noch mal, Balas Arroganz und Haltung irritierten ihn. »Was ich dazu meine? Dieser Majumdar ist wahnsinnig, wenn er sagt, daß er mich umbringen will.« »Sie sollten es besser wissen. Sie haben mit ihm gesprochen.« »Habe ich?« »Das hier hat Sie gesehen. Sie sind, unmittelbar nachdem Sie den Gefängnishof betreten haben, zu Majumdar gegangen. Kommen Sie, lassen Sie uns dieses Spielchen beenden. Ich will Ihr Leben retten, wenn ich kann.« Das fügte hinzu: »Sie werden es nicht einmal mit Ihrem Tod genug sein lassen, Bala. Sie werden dafür sorgen, daß Ihre ganze Familie anschließend zu leiden hat. Ihre Frau, Ihre Kinder, selbst Ihre Mutter, wenn sie noch lebt. Warum arbeiten Sie nicht mit uns, und wir garantieren Ihnen als Gegenleistung Schutz für Sie und Ihre Familie.« Bala seufzte: »Majumdar hat einen Fluch über mein ganzes
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Geschlecht ausgestoßen«, gab er mit einiger Verzagtheit zu. »Natürlich«, hakte Das ein. »Sie brachten ihm enttäuschende Neuigkeiten, die ganz Indien betrafen.« Das erstes Mal geriet Bala aus der Fassung: »Ganz Indien? Hat Majumdar das jedem erzählt? Was hat der Lügner noch von sich gegeben?« »Warum macht Sie das so betroffen?« drängte Shastri. »Was ist geschehen, daß Majumdar von einem Betrug an ganz Indien spricht?« Der Mann hob den Blick zum Deckenventilator hinauf. Die Schatten des Rotors zitterten über seine verkrampften Gesichtszüge. Die schmale, scharfgeschnittene Nase schnüffelte, als sei Gestank im Raum. »Ajit Majumdar ist auf meine Macht und auf meine Position eifersüchtig«, erwiderte er ungerührt und kühl wie zuvor. »Ich habe ihm gesagt, daß er und alle anderen im Gefängnishof entbehrlich wären, nur ich nicht.« »Nur Sie nicht. Dann sind Sie also ein Thug.« Eine kleine Pause. Ein Nicken. »Na endlich«, flüsterte Das. »Es ist die Drohung bezüglich meiner Familie, die mich so handeln läßt«, fuhr Bala fort, »anderweitig würde ich bereitwillig sterben. Majumdar wird einen Weg finden, meine nächsten Angehörigen zu vernichten. Er hat draußen viele Anhänger. Außerdem lügt er und zieht den anderen gegenüber meinen Namen in den Schmutz. Mir wurde aufgetragen, ihm auszurichten, daß er und die anderen nicht gerettet werden können, daß dies unmöglich ist.« Bala enthüllte dann, daß er von dem neuen Herrscher gesandt worden sei, dessen Namen er nicht einmal wisse. Fest stehe nur, daß er der Auserwählte sei. Shastri stieß sofort nach: »Wird er denn, dieser Führer, die-
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ser Auserwählte, dieser Guru, Ihre Familie schützen? Wird er daran denken, daß Chundra Bala, sein vertrauter Diener, durch Ajit Majumdar bedroht wird? Und wird er Ihren Hals vor der tödlichen Schlinge bewahren? Wird er das für Sie tun?« Eine lange, lange Pause. Eine überzeugende Pause, die bewies, daß in diesem Mann ein innerer Kampf stattfand. Doch war es wirklich so? Shastri, der Bala nicht aus den Augen ließ, war nicht vollends davon überzeugt. »In zwei Tagen beim Morgengrauen, wenn die Sonne aufgeht und die Klippen bescheint, wo sich die Höhlentempel von Sati befinden, wird sich der Auserwählte mit den übrigen Anführern treffen. Auch die Handlanger und die Totengräber werden anwesend sein. In der Morgendämmerung, wie ich schon sagte …« Wieder gab es einen Ruck, als die Zugmaschine über eine Anhöhe fuhr und dann herunterrollte. Acht Minuten, schätzte Shastri, waren es noch, bevor sie am Zielort eintrafen. Der Auspuffgestank drang durch die Ritzen. Shastri sprach mit Gopal, der anordnete, daß die hintere Wagentür teilweise geöffnet wurde. Der Windzug, der eindrang, vertrieb die Auspuffgase. Einige der Männer hatten sich ihre Schals vor das Gesicht gehalten. Shastri blickte mit aufmerksamen Augen über die Landschaft, über die ausgedehnten Anordnungen grauen Sandsteins und schwarzen Basalts im Osten. Die Sonne war aufgegangen. In südöstlicher Richtung lagen die Höhlentempel, irgendwo am Rande des Dekhans, ganz in der Nähe der Westküste … Die Kupplung kreischte, als sie wieder auf ebener Strecke fuhren. Die Schlaglöcher und kleinen Buckel, die es hier reichlich gab, sorgten dafür, daß die Männer durcheinandergerüttelt wurden. Schließlich geriet die Zugmaschine wieder ins Gleichgewicht und unter die Kontrolle des Fahrers. Shastri bezweifelte, daß sie im Dorf eintreffen würden, ohne
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die Bevölkerung zu wecken, dennoch ließ er nicht anhalten. Wenn sie dann anhielten, würden nur er, Das und Bala hinausspringen, um möglichen Beobachtern den Eindruck von drei übernächtigten Reisenden zu vermitteln. Die anderen sollten eine halbe Stunde später folgen. Es war nicht der beste Plan, wenn man in Betracht zog, daß die Thugs Wachen aufgestellt haben würden. Wirklich nicht, aber daran war nun leider nichts zu ändern. Innerhalb so kurzer Zeit gab es eben keine andere Möglichkeit. Gopal selbst hatte die sechsundvierzig Männer sehr sorgfältig ausgewählt. Nun konnte man nur hoffen, daß sie treu sein würden und nicht etwa auf Seiten Rasuls und der Regierung standen. Shastri wollte nicht, daß ihm jemand dazwischenkam. Dies war ganz allein seine Angelegenheit. Als sie endlich ankamen, dauerte Shastri das Kreischen der Bremsen viel zu lange. Dann sprang er hinaus, mitten in die Auspuffgase hinein, und betrachtete das kleine Dorf, das sich im Halbrund unter den Klippen duckte. Zu seiner Erleichterung gab es keinen Menschenauflauf vor dem Behelfsdepot. Shastri schüttelte den Staub aus seinen Kleidern, verließ den Bereich des röhrenden und spuckenden Auspuffs, dessen Gase um seine Beine wirbelten, und ging hinter den verwahrlosten Schuppen. Dort lehnte er sich an die Bretterwand und zündete sich eine Sher Bidi an. Der Schuppen schirmte die Sicht gegen die Klippen ab. Bala stellte sich abgewandten Blickes neben ihn, und dann kam Das. Shastri wagte einen verstohlenen Blick zu den noch im Schatten der Morgendämmerung liegenden, zerklüfteten Felsen hinauf. »Wie viele Wachtposten, glauben Sie, sind da oben?« fragte er Bala. »Nicht mehr als zwei. Von den Felsen können sie meilenweit in den Umkreis sehen. Da brauchen sie bloß zwei.« »Und Sie behaupten, daß Sie genügend Befehlsgewalt ha-
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ben, um sie zum Verlassen ihrer Posten zu bewegen?« drang Shastri in ihn. »Nehmen Sie einen so hohen Rang ein?« »Das tue ich«, erwiderte Bala einfach, »ich habe diese Position.« »Warum findet diese Versammlung in der Morgendämmerung statt«, erkundigte sich Das, »warum nicht bei Einbruch der Dunkelheit?« »Weil es einfacher ist, während der Dunkelheit in eine Falle zu geraten.« »Es wird nicht einfach sein, Rama.« »Sie sagen, daß es nur drei Tempelausgänge gibt?« Der Thug nickte. »Dann könnte es einfacher sein, als wir glauben, Das. Die Eingänge zu den Tempeln sind schmal. Selbst wenn sie in Mengen herausdrängen, werden sie, mit unseren wartenden Leuten hier draußen, in der Falle sein. Es werden nicht viele entkommen. Und wenn es einigen trotzdem gelingen sollte, ist es nicht so wichtig. Wenn wir die meisten von ihnen festnehmen können, bedeutet das, daß wir ihr Anliegen tödlich getroffen und ihm jeden äußeren Halt entzogen haben, besonders wenn wir den Auserwählten erwischen.« »Ah«, seufzte Das, »den Kobrakönig.« »Also gehen wir«, kommandierte Shastri in dem Bemühen, die Zweifel von Das abzuwehren. In dem Augenblick, in dem sie aus dem Schatten des Depots heraustraten, wußte er jedoch, daß sie beobachtet wurden. Sein bewährter Instinkt sagte ihm das. Chundra Bala führte sie einen Pfad entlang, der unmittelbar die Klippen hinanstieg, das Dorf jedoch im spitzen Winkel umging. Sie kamen an einer Umzäunung vorbei, in der eine Familienkuh weidete und zwei Ziegen lärmten. Im Morgendunst erkannte man daherschlurfende Gestalten, die Vieh hinausführten oder kleine Wassergefäße aus dem Hause trugen,
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um sich zu waschen, nachdem sie sich erleichtert hatten. Sie näherten sich jetzt den Sandsteinfelsen, mußten jedoch eine Weile warten, weil ein Mann und eine Frau auf einem Ochsenkarren ihren Pfad kreuzten. Der Mann hatte den Kopf abgewandt, aber Shastri blickte in die Augen der Frau, als sie ihm das Gesicht zuwandte. Ihr Nasenring blitzte, und während der Karren vorüberfuhr, ließ ihm der finstere Blick dieser Frau das Blut in den Adern gerinnen. Kurz darauf war der Karren mit quietschenden Rädern vorbei und in die Felder gefahren. Shastri blickte auf die gebeugten Rücken der beiden Menschen. Das fragte: »Stimmt irgend etwas nicht?« »Nein«, log Shastri. Sein Gefühl kämpfte gegen seinen Verstand an. Wer war diese Frau? Warum hatten ihre Augen ihn wie Dolche durchbohrt? Welche Verachtung, welch düsterer Hohn und tiefer Haß hatten in diesem dunklen Blick gelegen. Ohne Rücksicht auf die anderen blieb er eine Weile stehen. »Schnell, Rama, wir haben nicht viel Zeit.« Das stimmte. Bald würde Gopal die übrigen Männer hier heraufführen. Shastri zwang sich zur Eile. Chundra führte sie zu dem breiten Tempelweg, der wirklich so leicht zu begehen war, wie er es versichert hatte. Der Weg wand sich um einen Felsvorsprung und endete am nordöstlichen Eingang in etwa sechzig Meter Höhe. Es war nicht nur die schnellste, sondern auch die beste Route, weil die anderen, schmäleren Pfade durch das Buschwerk an beiden Seiten viel zu sehr eingeengt waren. Die Wachtposten mußten im Tempel sein, wenn Gopal mit den übrigen Männern anrückte. Auf halbem Weg abwärts traten sie in den Schatten der Klippen. Bäume und Büsche warfen weitere Schatten. Während sie durch das wuchernde Grün dahinschritten und an Felsnischen vorbeikamen, begann Shastri, sich ernstlich Sorgen zu machen. Wie leicht war es, von hier oben eine Thug-Schlinge über ihre Köp-
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fe zu werfen und sie zuzuziehen. Wie schnell und wie einfach war es, kein Schrei würde die anderen am Fuße des Felsens erreichen. Sie kamen an die Stelle, wo der staubige Weg in blanken Fels überging, etwa drei Meter breit und, je nach Verlauf des Felsrandes, auch noch breiter wurde. Geröll hemmte da und dort das Weiterwuchern des Unterholzes. Bald stießen sie auf erste Anzeichen eines religiösen Geländes. Mit dem Gesicht nach oben war eine lebensgroße Statue einer Tempeltänzerin in die Felswand gemeißelt. Vielleicht war es Sati selbst, Shastri war sich nicht ganz sicher. Bei näherer Betrachtung erkannte er, daß sie zahlreiche Halsbänder trug, das längste davon war das Zeichen ihres Tänzerinnenberufes. Sie war aus schwarzem Sandstein gehauen. Eine Girlande wand sich um ihre lockenden Hüften und Brüste, die selbst in Sandstein bezaubernd und herausfordernd waren. Ihre Haare waren mit Blumen geschmückt, und zu ihren Füßen lagen weitere Blumen. Shastri hörte den Ruf einer Eule und verspannte sich sofort, denn er erkannte, daß es die Nachahmung eines Menschen war. Chundra Bala wölbte die Hände über dem Mund zu einem Antwortruf. Unmittelbar darauf trat ein alter, doch sauber rasierter Mann, der nur mit einem Lendentuch bekleidet war und eine Schärpe um die Stirn gebunden hatte, hinter einem Felsvorsprung hervor. Er betrachtete Shastri und Das mißtrauisch und fragte in Hindi: »Wer sind diese Leute, Guru?« »Sie sind, wer sie sind«, erwiderte Bala kurz angebunden. »Ruf deinen Bruder herbei. Die Wache ist unnötig. Es besteht keine Notwendigkeit mehr.« Der Mann spie die Betelnuß, die er gekaut hatte, über die Schulter: »Wie kannst du so sicher sein, Guru?« »Weil ich derjenige bin, der mit dem Auserwählten zu unserer Mutter ging. Zum Herzen des Gangotri gingen wir. Du hast
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davon gehört, Mohan. Nun gehorche!« Mohan zuckte die Achseln und entfernte sich. Als er mit einem jungen Mann, der kaum den Kinderschuhen entwachsen war, zurückkam, gingen sie alle zusammen weiter. Sobald sie die Felsbiegung umschritten hatten, sah Shastri, daß sich der Fels, so weit das Auge reichte, in die Ebene bis zum Horizont wie eine Steinkaskade, die beim Hinabstürzen aufgehalten worden war, absenkte. Der Tempeleingang war nur noch einige Meter von ihnen entfernt. Als sie im Tempel waren, bewegten sie sich in einem engen, niedrigen Gang abwärts. Säulen flankierten beide Seiten. Ihre rechteckigen Sockel waren mit verwitterten Fresken bedeckt. Auch die Decke war mit Fresken bemalt, doch im flackernden, unsteten Licht der Fackeln, die an den Wänden in Halterungen steckten, erkannte man nur huschende Farbflecke. Der Boden senkte sich allmählich immer mehr nach unten, und der Gang bog immer weiter nach rechts. Shastri überlegte, daß ihn die Erbauer tief in den Felsen getrieben haben mußten und daß, wenn er sich der Tempelbeschreibung dieser Religion noch recht erinnerte, dieser Gang vermutlich in einen riesigen, zentralen Raum mit mehreren Ausgängen münden würde. Er war um so überzeugter, daß er mit dieser Annahme recht habe, je zugiger es beim Weitergehen wurde. Da war gewiß Platz genug für mehr als siebenhundert Thugs. Er wußte nicht mehr, an wie vielen Säulen sie vorbeigekommen waren. Über den quadratischen Sockeln buchteten Wülste wie Vasen aus, deren obere gerade Kanten mit kleinen Figuren geschmückt waren. Die zwergenhaften Götter und Dämonen standen in einer Haltung da, als müßten sie die Säulen abstützen. Einige waren Miniaturen, die Sonnengottheiten darstellten, andere vollbusige Erdmütter. Es gab sogar einen grimmigen Büffeldämon darunter, dessen Nacken in einem
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Joch steckte. Mittlerweile hörten sie außer dem Echo ihrer eigenen Schritte noch Stimmen, ein Murmeln, das von überall her zu kommen schien. Dann wehten Gerüche zu ihnen herüber, der unangenehme Duft männlicher, nackter Körper, Gewürzdüfte, Weihrauch und der brandige Geruch schwelender Fackeln. Licht flackerte vom Eingang her, und ein verrückt zuckendes Karmesinrot tanzte über die Wände. Die Fackeln, offenbar feucht geworden, hingen schwarz zwischen den Säulen. Auf einmal war der Gang zu Ende. Eine riesige Halle tat sich auf. Shastri hob den Blick, die Höhle war so hoch wie ein Kirchenschiff. Drei Sitzreihen befanden sich mit bröckelnder Balustrade übereinander. Sein Blick schweifte zu den Apsiden und dem für die Reliquien bestimmten Raum bis hin zu den verborgenen Altären hinüber. Er schaute weiter um sich und in die Richtung, aus der die Geräusche und die Gerüche kamen. Das’ Umrisse vor ihm erschreckten ihn. Sie drückten die Sinnlosigkeit aus, die er selbst empfand. Es waren einfach zu viele. Ihr Anblick, ihr Lärm, der Gestank, der von ihnen ausging, alles wirkte lähmend. Das und Shastri erstarrten wie Tempelstatuen. Beide hatten schon riesige Menschenansammlungen gesehen, aber das hier war eine Ansammlung von Todeszüchtern. Doch Generalmajor Sleeman war sehr erfolgreich mit ihnen fertig geworden, sagte er sich. Thugismus war seit über hundert Jahren nur noch eine Erinnerung gewesen. Warum sollte er, Shastri, nicht dasselbe können? Er beobachtete sie. Einige waren gut angezogen. Doch sah er überwiegend geschmeidige, nackte, schweißglänzende Oberkörper zwischen Turban und Lendentuch und hie und da flekkige, weiße Dhotis (indische, speziell drapierte Männerkleidung. Anm. d. Übers.). Eine Gruppe Arcoteer stand etwas abseits. Neue Gerüche kamen auf: Büffelmilch, Asche, Kuhdung,
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die alle zum Einschmieren bestimmter Körperteile gedacht waren. Opiumrauch wurde zu ihnen herübergeweht und überlagerte alle anderen Gerüche. Siebenhundertundachtzig und noch mehr Thugs, alle von ihrer Ergebenheit für Kali, die fest in ihnen verwurzelt war, geprägt. Sie standen und saßen zu Füßen der Säulen, hockten im Staub und im Schatten und warteten. Sie warteten und träumten vor sich hin, ihre geliebten Würgeschlingen befühlend. Shastri wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Chundra Bala ein Kommando brüllte. Wieder schrie Bala, und die Mauer gebeugter Rücken drehte sich um. Die Leute erkannten Bala und gaben den Weg frei. In einer geschlossenen Reihe gingen sie den angriffslustigen Blicken entgegen, zuerst Bala, dann Das und zuletzt Shastri. Die beiden Wachen waren in der Menge untergetaucht. Shastri hörte von überall fragen: »Wer sind diese Fremden?« Erhobenen Hauptes ertrug er die bohrenden Blicke, die ihn musterten. Er spürte, wie sie ihm förmlich durch Kleider und Haut drangen, um seine Person zu ergründen. Sie versuchten festzustellen, ob er einer von ihnen war. Doch Balas Anwesenheit besiegte ihre Neugier, und allmählich ließ die Spannung in der Menge nach. Sie kehrten zu ihren ursprünglichen Beschäftigungen zurück und unterhielten sich leise. Shastri hatte den Blick auf Das’ Schulterblätter geheftet. Das lief so selbstverständlich vor ihm her, als befände er sich unter Brüdern. Schweißnaß von Kopf bis Fuß, zwang sich Shastri weiterzugehen. Sie näherten sich nun einem Kreis von Statuen in der Mitte des Raumes, die verschiedene Tierkreiszeichen darstellten. Die eine war eine Mondgottheit, deren Namen Shastri im Augenblick entfallen war. Es war eine überlebensgroße schwarze Sandsteinfigur in Lotosstellung. Die Gottheit ruhte auf der sorgfältig gemeißelten Nachbildung eines Karrens, der von
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einem gewaltigen Ochsen gezogen wurde. Etwa ein Dutzend Thugs lehnte an dem Sockel. Der Boden zu ihren Füßen war mit gekauter und ausgespiener Betelnuß bedeckt. Im Weitergehen näherten sich die drei einer besser erhaltenen Statue des Sonnengottes Surya mit dem beinlosen Gott der Dämmerung Arun, der gleichfalls auf einem Wagen lag. Der behinderte Arun hielt die Zügel eines siebenköpfigen Pferdes. Bala blieb stehen und zeigte auf den Altar, der nur undeutlich einige Meter weit entfernt im schwachen Licht der Wachskerzen zu erkennen war. Schwere Düfte zogen durch den Raum, so daß Das husten mußte. Shastri betrachtete die massive Steinfigur auf der Empore sehr genau und stellte fest, daß es nicht Sati war. Möglicherweise hatten die Thugs die Tempelgöttin gegen eine andere Göttin, die schwarze Kali, ausgetauscht. Er konnte sich kaum vorstellen, daß sie diese Statue so unverhohlen durch das Dorf am Fuße des Felsens getragen hatten. Es mußte noch einen anderen Eingang zu dieser Höhle geben, vielleicht an der gegenüberliegenden Seite der Felsenklippe, die zur Wüste hingewandt war und wo man nicht so schnell gesehen werden konnte. Diese Figur war größer als alle anderen. Die heraushängende Zunge und die Fangzähne in dem bestialischen Mund waren im flackernden Kerzenlicht zu sehen. Mehr sah man nicht. Shastri versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, doch der Raum oberhalb des Altars lag im Dunkeln. Sein Blick blieb an der Girlande von Schädeln hängen, und an den vier Armen, die die üblichen Waffen der Göttin Kali hielten. Er schauderte. »Was für ein Inder bist du«, wollte Chundra Bala wissen, »daß du die Mutter ablehnst?« »Es gibt viele Mütter in Indien, Bala. Da sind Sati, Shakti, Parvati, Uma. Keine von ihnen fordert diese widerlichen Gebräuche.«
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»Wenn du die Mutter gesehen hättest, wie ich sie gesehen habe, dort, in den Höhlen der Seher, der Rishis …« Der Wortwechsel hatte im Flüsterton begonnen, doch nun, ohne Vorwarnung rollte Bala die Augen nach oben, hob seine Arme und schrie schrill: »Mutter Kali, o große Bhowani!« Er wandte sich von ihnen ab und wirbelte in kreisender Bewegung über den freien Platz vor den Kerzen. Wieder und wieder schrie er Kalis Namen, drehte sich um und um, Schaum vor dem Mund. »Wir sind verraten, Rama«, sagte Das. »Nein, warten Sie. Tun Sie nichts, bevor er uns nicht entlarvt.« Beide Männer wandten sich der Menge zu, angespannt, auf der Hut. Die Thugs hielten immer noch Distanz. Die meisten von ihnen wurden von Balas Worten mitgerissen. Hier und da begegnete Shastri Blicken, die sich auf ihn richteten, dann jedoch wieder zu dem Mann abschweiften, der sich dort wie ein Betrunkener um sich selbst drehte. »Ich habe sie gehört, ich habe die Mutter gesehen«, fuhr Bala fort. »Gelobt sei Kunkali, gelobt sei unsere Mutter.« »Er hat sich in Ekstase versetzt, Rama. Wir sind verloren!« In dem Moment, als Shastri Das gebieten wollte zu schweigen, hielt Chundra Bala plötzlich inne. Dann kam, langsam anschwellend und an Lautstärke zunehmend, aus allen Ecken der Höhle die Antwort wie in Flutwellen: »Kunkali! Kunkali! Gelobt sei Mutter Kunkali.« Chundra Bala streckte die Arme in einer flehenden Geste aus. Shastri, in Erwartung einer dramatischen Reaktion, erstarrte. Die Gegenwart eines Menschen dämpfte zur rechten Zeit, wie auf ein Stichwort, den Lärm der Stimmen, die gerade wieder zum Kunkali-Lobgesang ansetzen wollten. Wie ein nicht beendeter Atemzug, den die Mörderschlinge abgewürgt hatte, genauso abrupt, genauso total, dachte Shastri. Hinter dem Altar führten die Stufen einer Treppe hinab. Aus
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der Dunkelheit trat langsam ein Mann mit schulterlangen grauen Haaren, die genauso verfilzt waren wie sein langer Bart. Es war der Auserwählte! Ein weißer Turban war um seine hohe, schweißglänzende Stirn gewunden, und als er näher trat, erkannte man, daß er über die breiten Schultern einen weißen Dhoti, einen Männerumhang, drapiert hatte. Sein Blick wirkte über den hervorstehenden Backenknochen wie verloren und in die Ferne gerichtet. Diese Backenknochen waren auffällig. Sie standen beiderseits der Adlernase hervor, so daß das Gesicht des Mannes wie gemeißelt und wie ein Bestandteil der Felsenhöhle wirkte. Die Kerzen zu seinen Füßen flackerten wild und schirmten ihn von den Blicken ab. »Er ist bei uns, er ist bei uns!« kreischte Chundra Bala, und seine Worte wurden wiederholt und als Bruchstücke eines Echos von Decken und Wänden zurückgeworfen. Shastris Verstand wurde von den düsteren, undurchdringlichen Kräften, die dem Glauben an die Mutter Indien innewohnten und die er stets verneint hatte, verschlungen. Es war, als ob der realistische, modern denkende Mann seiner Persönlichkeit beraubt worden war. Sie fiel von ihm wie eine leere Hülse ab, und an ihre Stelle trat seine alte Hinduseele, die sich in Verzweiflung wand. Etwas Unsichtbares, aber dennoch sehr Gegenwärtiges hatte seine Absichten und Beweggründe zerrissen. Gopal, der mittlerweile mit seinen Leuten in der Eingangshalle eingetroffen sein mußte, war vergessen, ebenso Das. Nur dieser Thug-Fürst, der zu seinen Meuchelmördern sprach, und das flackernde Licht, das seine Stimme wie visuelle Musik erscheinen ließ, waren zugegen. Ungläubig bewegte sich Shastri langsam vorwärts. Das gutturale Timbre dieser Stimme wirkte selbst im Echo noch mächtig. Die Worte, ein rapides Stakkato in Ramasi, strömten aus dem Munde des Auserwählten. Als er eine Pause machte, brandete der Beifall auf, und dann herrschte wieder
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Stille. Alle Thugs warfen sich demütig zu Boden und huldigten ihm. Shastri verharrte und paßte sich diesen gekrümmten Rükken an. Mit gesenktem Kopf wagte er einen Blick auf die Empore. Der Auserwählte hatte sich nicht gerührt. Über die Köpfe der anderen hinausragend, stand er gelassen dort, schaute und wartete. Schließlich gab er einen Befehl, und mit einer einzigen Bewegung standen die Männer wieder aufrecht. Diesmal übersetzte Chundra Bala. Shastri spürte den Thug hinter sich. »Hört mich, Ihr Kinder Kalis«, begann Bala, als der Erwählte wieder zu sprechen begann. »Ich bin zu euch allen gekommen, von der Mutter herbeigerufen, um ihren Willen zu erfüllen. Sie, die mich als ihr Kind an ihren Brüsten saugen ließ, damit ich die Kraft und den Eifer in mich aufnehme, um ihren erhabenen Zwecken dienen zu können, Sie, die dem Dämon Raktavija wehrte und den letzten Tropfen seines scheußlichen Blutes trank, wodurch Sie um so schwärzer wurde, je mehr Sie sich mit dem Tode, dem Kriege und den Seuchen und deren Bedeutung im ewigen Ausgleich der Schöpfung verband. Weil, was lebt, sterben muß, und wenn das, was stirbt, durch die Hand von euch, meine Kinder, stirbt, dann ist Mutter Kali zufrieden. Dann wird euer Lohn groß sein, weil ihr wirklich getan habt, was Sie uns seit langem gebietet.« Einer schrie auf: »Gnädig ist Kali, gnädig ist Sie zu denen, die Sie erwählt hat.« Als die Gebete verklangen, fuhr der Erwählte fort: »Wie lange ist es her, meine Brüder? Denkt an das, was eure Väter und deren Väter euch weitergegeben haben …« Es war die gestraffte Geschichte des Thugismus. Sie reichte bis zur Herrscherzeit des persischen Königs Xerxes und seiner Reiter, den gefürchteten Sagartii, die die Würgeschlinge geschickt zu gebrauchen wußten, zurück. Er erwähnte, daß die Schriften des großen Zia-ud-Din Barni bereits sieben Jahrhun-
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derte zuvor von den großen Taten der Thugs berichten. Fort und fort in Ramasi, der Sprache der Flußthugs, ging diese Lobrede, die den Thugismus und seine Heiligen pries. Jedoch klang ein ernster Unterton aus den stolzen Worten des Oberen heraus. Die Thugs waren oft gedemütigt worden. Als er diese Ereignisse einzeln aufzählte, ging ein Stöhnen wie ein einziges Wimmern durch die Reihen. Was war mit den tausend Thugs, die man in Delhi überwältigt hatte und deren Hinterteile mit einer glühenden Kupfermünze gebrandmarkt worden waren? Was war mit dem schimpflichen Tag, als Nanha, der Radscha von Jalun, Budhu und seinen Bruder Khumoli, diese beiden wundervollen Heiligen des Thugismus, hinrichten ließ? »Aber hat Kali sie nicht gerächt?« unterbrach einer und schüttelte die Faust in der Luft. »O ja«, bestätigte der Auserwählte, »Nanha, der Radscha, wurde gleich am nächsten Tag für seine üble Tat mit Lepra bestraft.« Von überall her kam ein Seufzer der Erleichterung wie ein einziges, tiefes Aufstöhnen. »Und die letzte Demütigung kam aus der Hand des britischen Gesetzgebers. Dieses Gesetz hat die Kinder Kalis für über ein Jahrhundert verstummen lassen. Die geheiligte Schlinge und die gesegnete Spitzhacke wurden verworfen. Soll das immer so weitergehen?« »Nein!« kam ein einziger Schrei. »Soll der Wille unserer Mutter für immer mißachtet, soll er gar vereitelt werden?« »Nein!« »Was soll denn getan werden?« »Töten.« »Ja, töten.« »Töten, zerstören, o Auserwählter, für Kali!«
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»Für Kali, die Gnädige Mutter.« Und der Auserwählte fügte hinzu: »Gnädig, ja. Ist den Opfern durch dieses Ende nicht das Paradies sicher?« »Gnädige Kali. Gnädige Mutter!« »Großzügige Mutter!« erklang der Lobgesang. Doch der Gedanke an Mord weckte den Polizeibeamten in Shastri. Seine Gedanken rasten zu Gopal und schätzten ab, wo er und seine Leute mittlerweile sein mochten. Zweifellos waren sie bereits in der Nähe der Hauptkammer. Von den Thugs war noch kein Zeichen gekommen, also befanden sie sich außer Gefahr. Nun lag es bei ihm, Shastri, seine Pistole abzufeuern. Doch seine Hand näherte sich nicht der Waffe. Sein Blick hob sich zu der kaum erkennbaren Statue hinter dem Erwählten. Zwei leichtgewölbte und polierte Scheiben spähten wie lebendige Augen auf den Platz vor dem Altar hinunter. Sie schienen bereit, ihn zu durchbohren und niederzustrecken. Er hob seine zur Kralle verkrampfte Hand, die als seine eigene zu erkennen ihm widerstrebte, und versuchte sein Gesicht zu verbergen und zu leugnen, was er sah. Shastri beobachtete, wie die Statue allmählich ihre herunterhängenden Arme hob, und die ebenholzschwarzen Finger hielten zwei Dinge im Griff, die nun im Kerzenlicht klar zu erkennen waren. Die Menge seufzte ehrfurchtsvoll. Sie sahen es auch. In einer Hand hielt sie eine große Spitzhacke, das geheiligte Symbol der Thugs, in der anderen eine Schlaufe, die Würgeschlinge. Die ebenholzschwarzen Arme streckten sich und boten dem Auserwählten beide Gegenstände dar. Er nahm sie in Empfang und hob sie in einer Siegesgeste über den Kopf. Der Lärm, der daraufhin folgte, ließ die Erde um Shastri erbeben. Er entzog sich dem ehrfürchtigen Staunen, das ihn ergriffen hatte, machte sich von dem Bann frei, nun davon überzeugt, daß er, genau wie die anderen auch, von diesem unglaublichen Anführer hypnotisiert worden war. Abwehrend versuchte er,
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sich von der Menge zu entfernen. Doch mußte er sich vergewissern, ob dies alles wirklich geschehen war, und blickte wieder zu der Statue hin. Die Arme waren in ihre ursprüngliche Position zurückgekehrt, doch die Scheiben, die Augen der Statue, glühten nach wie vor, glühten, als ob sie lebendig wären. Das mußte aus der Trickkiste stammen, irgendeine raffinierte Taschenspielerei sein. Hinter dem Erwählten mußte ein anderes menschliches Wesen verborgen sein, eine Frau, denn Shastri hatte weibliche Arme gesehen, die sich seitlich von der Statue ausstreckten. Eine Frau … eine Schauspielerin … die Kali spielte. Ja, das war es: Jemand spielte Kali. Er mußte die Wahrheit enthüllen, mußte den Auserwählten als Scharlatan entlarven, aber wie? Er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Das! Er wandte sich um und sah den Polizeispitzel zu Chundra Balas Füßen zusammenbrechen. Geschwind entfernte der Thug seine Seidenschlinge vom Hals seines Opfers. Schmerz, ein gewaltiger Schmerz, weil er Das im Stich gelassen hatte, ergriff Shastri und ließ ihn alles andere vergessen. Unverzüglich schoß er auf Bala. Ein Arcoteer, bereit, sich selbst zu opfern, sprang schützend vor den Guru. Jetzt starrte er auf den sich ausbreitenden, dunklen Fleck unterhalb der Schärpe seiner Hose hinunter. Noch ein Schuß. In irgendeiner Stirn hinter Bala blieb das Geschoß stecken. Shastri hörte und sah kaum etwas, er registrierte nur verschwommen, daß sich ein Ring von Köpfen und Leibern um ihn bildete. Von irgendwoher erklang Balas Kommando, daß Shastri sterben müsse. Und dann hörte er anhaltende Schreie vom Eingang her. Gopal und seine Männer! Über das Gewoge des Kampfgetümmels hinweg hörte Shastri die Stimme des Erwählten dröhnen. Die undeutlichen Gesichter wandten sich dem Altar zu. Ihr Herr hatte ihnen offen-
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bar einen Befehl gegeben, dem sie nicht sogleich folgen wollten. Schlingen baumelten ungenutzt zwischen gespreizten Fingern. Ein Grollen, das Wut und Unzufriedenheit ausdrückte, war zu hören. Einige fielen auf die Knie und riefen die Gottheit an. Mehrfach wiederholte der Anführer seinen Befehl. Shastri war verwirrt. Er erzählt ihnen wohl, daß sie sich ergeben sollen, dachte er. Das hat zwar keinen Sinn, aber es muß ja wohl so sein. Warum sonst ließen so viele ihre Schlingen fallen, schlugen sich gegen die Brust und wehklagten? Ajit Majumdar hatte warnend vorausgesagt, daß der Augenblick des Verrates kommen werde, sobald sich die Thugs in Indien erheben würden; sobald sie an Macht gewännen, würden sie auch schon verraten werden. Aber warum? Warum? Einen Augenblick lang hatte Shastri gedacht, daß er außer Gefahr wäre. Ein überwältigender Drang, sich umzuwenden und in den Zügen des riesigen Oberpriesters zu forschen, um die Bedeutung dieses seltsamen Befehls erkennen zu können, stieg in Shastri empor, doch er zwang sich, dort zu bleiben, wo er war. Schweißperlen bedeckten seine Stirn, als er zum Altar hinüberblickte. Ein Thug, fast so hoch gewachsen wie der Auserwählte, war plötzlich an Shastris linker Seite. Seine Fingernägel gruben sich oberhalb der Hand, die die Pistole hielt, in seinen Arm und versuchten, die Waffe zu Boden zu werfen. Shastri stieß den Mann mit dem Knie von sich, jedoch mit wenig Erfolg. Er zog den Abzug, und der Thug wich mit einem Schrei zurück. Die Kugel streifte die muskulöse Schulter des Angreifers. Shastri gewann das Gleichgewicht wieder, zielte und schoß noch einmal. Der Thug stand wie gelähmt, das eine Auge weit aufgerissen, als ob er noch sehen könne. Dann taumelte er und fiel. Shastris Pistole war eine automatische Waffe mit einem Fünfzehn-Schuß-Magazin. Er schwenkte sie gegen eine Handvoll sich nähernder Thugs, die Chundra Balas Befehl ausführen
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wollten. Er hielt nach Bala Ausschau, aber er wurde durch die Gruppe von Männern verdeckt. Diese Leute hatten den Befehl erhalten, sich dem Friedensrichter zu ergeben, vorerst jedoch ihre Wut zu befriedigen, indem sie Rama Shastri töteten. Das war es, was Bala jetzt in Hindi erklärte, so daß Shastri es verstehen konnte. Dies hier sei der berühmte Friedensrichter, erklärte ihnen Bala gerade pathetisch, der seine Leute hierhergebracht habe, um Kalis Willen zuwiderzuhandeln. Das Gewehrfeuer von Gopals Leuten kam näher. Es klang lauter. Der Widerstand der Thugs hatte offenbar nachgelassen. Die Stimme des Auserwählten hingegen blieb stumm. Sie gehorchten ihm ohnehin alle widerspruchslos. Es bestand kein Grund, daß er weitere Befehle gab. Shastris Konzentration wurde plötzlich durch einen Gedanken abgelenkt. Deutete das Schweigen des obersten Anführers etwa auf seine Flucht hin? Die kleine Gruppe der Angreifer kam weiter auf ihn zu, die Beine gespreizt, die Schlingen wurfbereit. Shastri wich zurück. Und dann sah er plötzlich Balas Überwurf, als er sein Versteck verließ und rechts, an Shastri vorbei, hinüber zur Empore rannte. Shastri drehte sich, im Begriff ihm zu folgen, schnell herum, sah jedoch im gleichen Augenblick ein, daß es zwecklos war. Bala war hinter dem Ring brennender Kerzen verschwunden. Zu spät erkannte er, daß das Ablenkungsmanöver funktioniert hatte. Die Thugs, fünf an der Zahl, waren über ihm. Einer, ein grauhaariger, älterer Mann, schwang seine Schlinge. Der Schal hob sich, breitete sich wie die Flügel einer gelben Fledermaus aus und senkte sich herunter. Ein Tosen begleitete die lautlose Bewegung, und der Thug, noch in der Schleuderbewegung, zuckte und war tot, ehe der Schal zu Boden gefallen war. Ein weiterer Thug fiel beim zweiten Schuß. Als sich die Menge hinter ihnen teilte, sah Shastri Gopals rauchende Waffe im Kerzenschein blinken. Die anderen drei Würger hielten in-
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ne, als sie die Leichen sahen, und verwandelten ihre Schals wieder in Turbane und Schärpen. Atemlos stolperte Shastri zum Altar des Sonnengottes hinüber. Einer der drei blickte in seine Richtung. Der Anschein eines Lächelns breitete sich auf den Zügen des Mannes aus. Shastri, plötzlich auf der Hut, warf sich nach vorn und hörte die seidene Schlinge über seinen Kopf hinwegrauschen. Er rollte zur Seite, lag auf dem Rücken und sah seinen Angreifer. Es war ein junger Arcoteer, der hinter dem Rad im Schatten des beinlosen Arun kauerte. Gopals Revolver blitzte auf, der Junge fiel und hing über dem Rad. »Den Anführer und Chundra Bala, haltet sie auf!« schrie Shastri, sprang auf die Füße und rannte zum Altar hinüber. Als er zwischen den Kerzen hindurcheilte, hörte er ein tiefes Singen. Mit einem Sprung war er auf der Basaltempore. Seine Finger krallten sich in den Umhang des Erwählten. Fingernägel fuhren Shastri ins Gesicht, und sein Kopf wurde brutal nach hinten gestoßen. Shastri lockerte seinen Griff. Dann versuchte er es wieder. Seine Hand tastete, fuhr an dem Stoff des Umhangs entlang und riß dann etwas aus der Hand des Anführers, was sich wie Pergament anfühlte. Shastri zog. Das Pergament gab nach und zerriß. Shastri taumelte rückwärts, und als er sich erhob, war die Altarstufe leer. Im gleichen Augenblick erreichte ihn Gopal und fand Shastri mit offenem Munde und zitterndem Körper stehend da. Vor ihnen erhob sich in strahlender Pracht die Statue von Sati, nicht die der schwarzen Kali. Shastri warf kaum einen Blick auf den Pergamentrest, als er ihn unter seinen Umhang schob. Dann folgte er Gopal und seinen Leuten in die dunkle Wölbung der hinteren Höhle. Ein Felsspalt tat sich auf. Mit Hilfe einer Taschenlampe entdeckten sie, daß er in einen engen Tunnel führte. Sie schritten zwischen feuchten Felswänden tiefer und tiefer in den Berg hinein, bis
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Shastri sie anhalten ließ. »Hier muß noch ein anderer Weg sein, der zum Ausgang führt. Vermutlich haben wir ihn verpaßt, als wir diesem Gang folgten. Er führt zu weit ab. Lassen Sie ihn von einigen Ihrer Männer bis zu Ende gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß die beiden Flüchtlinge auf einem kürzeren Weg entkommen und mittlerweile schon weit weg sind.« »Wie kannst du so sicher sein, Rama?« »Weil ich erlebt habe, wie gut dieser Auserwählte täuschen kann. Lassen Sie einige Ihrer Männer die Wände des Weges, den wir gerade zurückgelegt haben, abtrommeln, bis sie den geheimen Ausgang finden. Dann können wir wenigstens sicher sein, daß wir alles Notwendige getan haben.« Als sie zum Haupttempel zurückgekehrt waren, sah Shastri Hunderte herumhockender Gefangene. Er fühlte jedoch keine Freude. Er fühlte sich trotz der Tatsache, daß in weniger als eineinhalb Stunden der neue Tag, der dem Thugismus verheißen war, schon wieder geendet hatte, so leer wie irgendeiner der hier wartenden Thugs. Hatte er es wirklich? Der Mann Bala, der Das umgebracht hatte, lief irgendwo frei herum. Bala und der alle anderen überragende Auserwählte. Und mit diesen beiden war auch der Geist des Thugismus noch lebendig. Shastri beugte sich tief über Das’ Leiche und wünschte, daß er Trost im Gebet finden könnte. Die Frau saß direkt neben Bidhan, dem Handlanger, auf dem Karren und beobachtete das Gebüsch am Rande der Klippen. Schließlich bewegte sich das Laubwerk, und zwei Gestalten kamen durch das hohe Gras direkt auf sie zugerannt. Die Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen, überlegte sie. Erst das
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böse Omen des Hasens, der ihnen vor Wochen über den Weg gelaufen war, und dann die Vision, die folgte. Aber der Auserwählte würde schon wissen, wie man mit einer Niederlage umgehen mußte. Vielleicht war Rama Shastri schon vernichtet. Wenn das so war, dann war es in gewisser Weise doch ein Sieg. Als die beiden Männer auf den Karren kletterten, erfuhr Gauri, daß die Niederlage total war. Shastri hatte überlebt. Und was noch schlimmer war, er war im Besitz eines Stückes der vierten Rishi-Schriftrolle. Der Auserwählte hatte Kalis Macht angerufen, als Rama Shastri ihm das Pergament aus der Hand gezogen hatte. Im Augenblick wollte niemand über die Bedeutung sprechen, die das haben konnte. Der Schock war zu groß, um darüber nachzudenken, daß … Gauri Bala brütete über den kleinen Mann, der ihrem Chundra gefolgt war. Shastri hatte sie eher an einen Gelehrten als an einen Polizeibeamten erinnert. In ihren Vorstellungen war er ein Halbgott gewesen, der sich in menschlicher Gestalt auf die Erde begeben hatte, ein Krieger, klein, ja, aber mit einem Bogen bewaffnet, sicher auftretend und bereit, auf Kalis Brust zu zielen. Es waren noch andere bei ihm gewesen, unkenntliche Gestalten, die auf die gleiche Art bewaffnet waren und einen Pfeil auf die Bogensehne legten, alle bereit und entschlossen, die dunkle Mutter zu treffen. Chundra Bala war über sich selbst erzürnt. Er habe versagt, stöhnte er. Seine Aufgabe wäre es gewesen, Rama Shastri zu töten. »Der Mann war verzaubert«, sagte er pathetisch. »Wieder und wieder schickte ich einen Bruder zu ihm, um seine Tage zu beenden. Wie eine Katze wich er seinen Jägern aus und entschlüpfte seinen Widersachern. Welche verfluchte, unbekannte Gottheit schützt ihn, o Herr? Dieser Mann glaubt an nichts. Es
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gibt Gerüchte, daß er gottlos ist, daß er sich zu der westlichen Philosophie bekennt. Er ist nicht einmal ein treuer Sohn Indiens, sondern ein Produkt britischen Lebensstils, erzogen und beeinflußt durch dieses verfluchte Regime. Warum aber sollte er dann verzaubert sein? Warum ist er unser größter Feind, wenn er doch für diese Rolle zu unwürdig ist?« Der Auserwählte erwiderte: »Er glaubt zwar, daß er gewonnen hat. Fürchte dich nicht, treuer Chundra. Wer auch immer seine Existenz schützen mag, ist nicht so stark wie Sie, der wir dienen.« Bidhan trieb die Ochsen an. Der Wagen verließ das Feld und fuhr nun auf einer Straße, die nach Süden führte. Die Dämmerung war einem strahlenden Tag gewichen, der so hell war, daß Gauris Kopf zu schmerzen begann. Obwohl er wie ein Gelehrter aussah, hatte sie deutlich gespürt, daß in Shastris hartem Blick die Kraft eines unbeugsamen Willens lag, eines Willens, der so zerstörerisch sein konnte wie die Sonne mit ihrem gnadenlosen Licht. Gauri bückte sich und hob einen Streifen schwarzen Stoffes auf, der zu ihren Füßen lag. Sie wand ihn sich um den Kopf und bedeckte ihre Augen damit. Der Karren fuhr weiter, holpernd und mit stoßenden Achsen.
6 Cambridge/Beacon Hill, Boston Sie konnte es nicht aus ihrem Geist verbannen. Sosehr sich Santha auch auf ihren Katalog zu konzentrieren versuchte, sie war nicht in der Lage, den Gegenstand in ihrem Safe zu vergessen. Sie versuchte es wieder und wieder, hob eine der Figürchen 105
von ihrem Schreibtisch hoch und prüfte das Bündel Computeraufzeichnungen. Es handelte sich um den nackten Torso eines Mannes aus rotem Sandstein, der bei Harappä im Indus-Tal gefunden wurde. Die realistische Wiedergabe dieser kleinen Statue war erstaunlich, wenn man bedachte, daß sie aus der Zeit um Zweitausend vor Christi stammte. Sie verglich die Figur mit einem der Fotos auf ihrem Schreibtisch und entschied, daß das Bild für den Katalog geeignet sei. Sie drehte es herum und machte mit dem Bleistift einen Vermerk darauf: »Tafel VI c«. Die nächste Figur war eine Tonhenne aus der gleichen Zeit und demselben Gebiet. Am Schwanzansatz hatte sie ein Loch, und man vermutete, daß es sich um ein Kinderspielzeug handelte. Sie stellte sich einen kleinen Jungen vor, der durch die Straßen von Harappä lief und dabei auf seiner hennenförmigen Pfeife blies. Diese Vorstellung war so berückend, daß sie sich in ihren Schreibtischsessel zurücklehnte und sich, während sie das Objekt wiederum mit einem Foto verglich, das sie mit einer weiteren Anmerkung versah, das erstemal an diesem Tag entspannte. Gerade wollte sie nach dem dritten Figürchen greifen, als ihr Blick auf einen schmalen Umschlag fiel. Eigentlich sollte dieser Brief in ihrer Schreibtischschublade liegen und nicht auf der Platte, wo ihn jeder sehen konnte, dachte sie. Dennoch ließ sie ihn da, wo er war. Das dritte Objekt war aus Bronze von Mohenjo-Daro und gehörte zu den Stücken, die ihr am liebsten waren. Es war ein tanzendes Mädchen, deren wunderschön schwingende, nackte Hüften festgehalten waren. Santha hatte mehr als einmal darüber nachgedacht, ob dies der Beginn oder der Abschluß eines Tanzes war, ob sie während des Tanzes ihre Kleider abgeworfen hatte oder ob sie, so nackt wie sie war, gleich den ersten Tanzschritt getan habe. Santha liebte die Vorstellung, daß diese Tänzerin, nur mit ihrem Halsband und den Arm- und Fußrin-
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gen bekleidet, ihren Tanz begonnen hatte ebenso wie das Figürchen. Irgendwie schien ihr die Vorstellung zutreffender zu sein als der Gedanke, daß sie sich erst allmählich entkleidet hätte. Santha dachte an George Buchan. Wie würde er es finden, wenn sie so für ihn tanzte? Sie suchte nach der Beschreibung für die kleine Bronzeplastik. Dabei streifte sie den Brief und zog ihn mit dieser Bewegung zu sich an den Schreibtischrand herüber. Sie fing ihn auf, bevor er zu Boden fallen konnte. Nun hielt sie ihn zwischen den Fingern, die das Papier fast krampfhaft umschlossen. Darüber erschrak sie. Bisher hatten ihre Finger noch stets nach ihrem Willen gehandelt. Santha gab schließlich nach. Genaugenommen war das ein Brief von Onkel Ram an ihren Vater. Sie zog ihn aus dem Umschlag und kämpfte gegen ihr Schuldgefühl an. Dies war ein Brief, den sie ihrem Vater nicht vorlesen mußte. Er hatte sich soweit erholt, daß er wünschen würde, ihn selbst zu lesen. Alles, was sie wußte, war, daß das Briefpaket eine Papprolle enthielt, und daß ihr Vater sie gebeten hatte, ob sie es wohl ermöglichen könne, daß einer der Indologen im Peabody-Museum sie entzifferte. Stephen Wrench hatte erklärt, daß es sich dabei um ein uraltes Dokument handele, hatte den Brief aber noch nicht angerührt, geschweige denn gelesen. So hatte sie ihn einfach unterschlagen. Sie wollte ihn wieder in den Umschlag stecken, sobald sie ihren Vater besuchte. Sie konnte immer noch nicht so recht glauben, daß sie dazu fähig war. Aber sie mußte wissen, was in dem Brief stand. So entfaltete sie ihn und las: »Steve, dies ist für Dich allein bestimmt. Bezeichne es von mir aus als eine typische Polizistenmanier, aber ich möchte nicht, daß hiervon etwas, außer zu den zuständigen Behörden,
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durchsickert. Die Welt ist heutzutage viel zu klein. Und was heute an den Ufern des Brahmaputra geschieht, ist bereits in den Abendnachrichten in New York zu hören. Aber laß mich erklären: Vor genau zweiundzwanzig Tagen unterstanden meine Polizeikräfte noch meinem Kommando. Ich überfiel eine ThugVersammlung in einem Sati-Tempel in der Nähe von WestGhats. Wir nahmen siebenhundert Thugs, aber leider nicht den Anführer und dessen Stellvertreter, Chundra Bala, gefangen. Die beiden entkamen. Und Das, einer meiner besten Leute, wurde ermordet. Du erinnerst Dich gewiß an ihn, Steve. Wir profitierten von seiner Erfahrung als Geheimagent beim Aufspüren des Anatal-Duplex-Falschgeldrings in Cal. Sein Tod ist ein schrecklicher Verlust für mich. Er hat mir in Pondicherry das Leben gerettet, als eine Gruppe aufgebrachter Anhänger mich angriff, weil ich ihren blutrünstigen Guru verhaftet hatte, der seinerzeit die Notwendigkeit des Mordes an den Unberührbaren des Ortes predigte. Es bekümmert mich, daß ich in jenem Tempel meine Schuld nicht begleichen konnte. Ich möchte den ganzen Bericht über den Angriff für die Zeit, bis wir uns in Amerika treffen, aufsparen. Das, was ich Dir mit dieser Post zuschicke, habe ich dem obersten Thug-Führer während eines Handgemenges entrissen. Es ist das Fragment einer Schriftrolle, die ihm angeblich von alten Sehern in einer Höhle im Himalaja überreicht worden ist. Offenbar hat er mit dieser List jede Thug-Bande Indiens in seine Macht bekommen. Sie halten ihn für eine wiedergeborene Gottheit, die nun, im zwanzigsten Jahrhundert, von Kali dazu bestimmt wurde, den Thugismus wieder aufleben zu lassen. Ich habe ihn nur undeutlich im Kerzenlicht gesehen, aber es genügte schon, daß sich mir die Nackenhaare sträubten. Dieses auffallende Gesicht vergißt man nicht. Der Mann ist von riesigen Körpermaßen. Das kann natürlich alles eine Verkleidung gewesen sein. Thea-
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ter war immer schon eine Art Waffe der Thugs. Dabei muß ich bekennen, daß der donnernde Baß dieses Anführers mich noch jetzt bis in den Schlaf verfolgt. Ich sende Dir die Pergamentstücke, alter Freund. Vielleicht kann Santha einen Indologen des Peabody-Museums ausfindig machen, der sie analysiert. Das Ding ist, wie ich glaube, uralt. Sag Santha, daß sie es verstecken soll. Diese Rolle ist das Lebensblut der Thugs, glaube ich. Ich muß noch einmal wiederholen, Steve, daß von jetzt an Santha und jeder andere so wenig wie möglich hierüber erfahren soll. Ich zweifle nicht daran, daß die, die der Gefangennahme entkommen sind, vor nichts zurückschrecken, um das Fragment zurückzubekommen. Ich vertraue Dir und bin überzeugt, daß Du dieses Dokument sicher aufbewahren wirst. Ich habe Dir noch nicht den anderen Grund dafür gesagt, weswegen ich Dir das Pergament schicke. Es besteht eine geringe Möglichkeit, daß ich nicht aus Indien fliehe. Ich bin von der Regierung nach Kalkutta zitiert worden und erwarte dort das Schlimmste. Dennoch habe ich meine eigenen Pläne. Deshalb kannst Du sicher sein, daß ich Dich bald als freier Mann aus Hongkong anrufen werde. In alter Treue, Dein Rama Shastri« Santha schloß die Augen. Wieder Thugismus. Sie hatte bis zu Onkel Rams letztem Brief nie etwas davon gehört. Doch seitdem war sie überzeugt, daß die Männer in ihrer Vision, die sie damals im Dekhan auf dem Hügel sitzen gesehen hatte, Thugs und die Toten in jenem aufgewehten Grab ihre Opfer waren. Warum, fragte sie sich, warum sollte ausgerechnet sie mit der Auferstehung des Thugismus verbunden sein? Santha erstarrte – war da in der dunklen Ecke des Raumes,
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nahe beim Fenster, nicht eine winzige Bewegung gewesen? Ihr Stuhl quietschte, als sie sich hastig erhob und in die Richtung blickte. Sie versuchte, in dem flimmernden Sonnenlicht, das den übrigen Raum erfüllte, etwas zu erkennen, und stellte dann erleichtert fest, daß sich nichts in der Ecke befand. Einen Augenblick lang stand sie nachdenklich da. Vielleicht war ihre Seelenwanderung nach Indien etwas, was sie einer ihr bisher unbekannten Gabe verdankte, um Onkel Ram und ihrem Vater helfen zu können? Santha atmete tief durch, und die Spannung wich. Natürlich, das war der Grund. Was auch immer dahintersteckte, es mußte wohltätigen Charakter haben. Was konnte es sonst sein? Santha Wrench verließ ihren Schreibtisch, ging zur Tür, öffnete sie ein wenig und spähte in den Flur hinaus. Am Ende des langen Korridors, der in die Maya-Ausstellung führte, erkannte sie ihre Vorgesetzte, Dr. Angela Kim, die sich mit einem Mitarbeiter unterhielt. Dr. Kim war eine der besten Asienspezialisten des Museums, Indologin genug, um das Schriftstück prüfen und deuten zu können. Leise zog Santha die Tür hinter sich zu und schloß sie von innen ab, wandte sich dem riesigen, begehbaren Safe zu, blieb kurz stehen und blickte über die Schulter zurück, als erwarte sie, daß jemand die Tür aufbräche und sich erkundigte, was sie da vorhabe. Es war eine alberne Vorstellung. Warum verhielt sie sich wie ein Dieb? Sie wollte doch nur einen ungestörten Blick auf dieses Schriftstück werfen. Sie fühlte sich dazu berechtigt, denn schließlich war sie eine auf indische Artefakte spezialisierte Wissenschaftlerin. War das nicht Grund genug? Santha betrat das stählerne Innere. Auf beiden Seiten des Safes befanden sich gepolsterte Fächer und Schubladen, die mit Museumsstücken angefüllt waren. Santha schob eine Glaswand zurück. Zwischen einer Statuette, einer Shiva-Bronze aus dem elften Jahrhundert und einem kleinen, steinernen Buddha lag
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die Rolle. Santha nahm sie heraus, schloß die Glaswand, wandte sich, um zu gehen, und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie glaubte, hinter der Safetür ein klirrendes Geräusch gehört zu haben, und wartete. Plötzlich war es sehr heiß im Safe. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stellte fest, daß sie schweißnaß war. Sie blickte sich um und fragte sich, ob wohl wieder die Schatten erscheinen und alles verdüstern würden. Aber im Innern des Safes änderte sich nichts. Die Deckenbeleuchtung an den Stahlschienen schmerzte ihre Augen, aber das war alles. Das klirrende Geräusch wiederholte sich nicht. Santha verließ den Safe und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Metalltür, während ihre Augen das Büro durchforschten. Überzeugt davon, daß sie allein war, eilte sie zum Schreibtisch, schob alles, was auf der Platte lag, beiseite und setzte sich hin, um das Pergament aus der Papprolle zu ziehen. Das Schriftstück war in verschiedene Lagen Reispapier gewickelt. Santha rollte es auf und studierte die Schrift. Ein paarmal zog sie die Schreibtischlampe näher heran, um besser lesen zu können. Dabei benutzte sie eine große Lupe, untersuchte die Struktur des Papiers und dann die Schrift darauf. Mit einem kleinen Lineal maß sie das Stück aus. Auf der linken Seite war es etwa zwanzig Zentimeter lang und auf der anderen sieben Zentimeter. Nur zwei Zeilen am Ende des Manuskriptes waren komplett. Das Material ließ sie an die Himalajaregion denken, denn es bestand aus der geglätteten und weichen Innenrinde einer Birke. In Südindien waren die Blätter der Talipotpalme benutzt worden. Das Manuskript war frühbrahmanischer Herkunft, da es von rechts nach links zu lesen war. Die Sprache war vedisches Sanskrit. Als Santha Wrench das Blatt berührte, wurde der Raum ungeheuer weit, wie ein großer, dunkler Platz. In der Ferne hörte sie leises, metallisches Klirren.
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Sofort zog Santha die Hand von der Rolle zurück. Sie wußte nun, was das klirrende Geräusch zu bedeuten hatte, es war das Gegeneinanderstoßen von Arm- und Fußspangen, das den indischen Frauen so vertraut ist. Sie wagte es, die Rolle wieder zu berühren. Diesmal passierte nichts. Santha benutzte die Lupe und begann zu übersetzen. Sie entdeckte komplizierte Formulierungen, die außerhalb ihrer Sprachkenntnisse lagen. Dies war antiquiertes Sanskrit, gut. Vielleicht die Originalsprache der Veden, der frühesten indischen Schriften. Sie arbeitete ohne Unterlaß. Sie übersetzte die Wörter »Mutter« und »Zorn« oder, noch schlimmer, »finsterer Grimm«. Der Nachmittag verrann. An diesem Abend saßen Santha und George Buchan in einem kleinen italienischen Restaurant in der Charles Street. Santha war völlig geistesabwesend, doch als sie merkte, daß George sie ansah, sagte sie: »Verdammt, ich arbeite immer noch an dem Ausstellungskatalog. Ich scheine mich nicht davon frei machen zu können. Es tut mir leid, George.« Er zuckte nachsichtig die Achseln. »Als ich heute nachmittag das Peabody-Museum verließ, habe ich ein Plakat am Anschlagbrett gesehen. Nirmal Kapur gibt diese Woche Freitag auf dem Hill ein Konzert. Willst du hingehen?« »Nirmal Kapur?« »Der indische Rockstar. Aber das trifft nicht ganz auf ihn zu. Seine Musik ist kein richtiger Rock. Ich würde gerne hingehen, George. Hast du nicht auch Lust?« »Warum nicht?« »Gut, dann werde ich am Harvard Square im Kiosk die Karten besorgen. Vielleicht können wir auch Daddy überreden,
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mitzugehen.« »Ich sah ihn heute.« »Wirklich? Ich dachte, du hättest den heutigen Tag mit Zeichnen verbracht.« »Das habe ich auch. Heute morgen bin ich hingegangen, um ihn zu besuchen. Ich blieb zwei Stunden.« »George, das mußt du nicht. Er untersteht nicht deiner Verantwortung.« »Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich nicht so denke. Wir lernen uns auf diese Weise endlich kennen. Er freute sich, mich zu sehen. Außerdem ist er ein ungewöhnlich interessanter Mann. Er war derjenige, der am meisten redete, und das ist bestimmt ein Fortschritt.« »So wie ich Daddy kenne, muß es eine endlose Abhandlung über Indien gewesen sein.« »Ja, er sprach die meiste Zeit über Indien. Ich glaube, er vermißt das Land.« Nach dem Essen gingen sie zum Otis Place. Während des Essens war ihre Unterhaltung fast versiegt, und das Schweigen setzte sich, als sie unter den Gaslaternen dahinschlenderten, fort. Als sie den Innenhof des Otis Place betraten, konnte Santha kaum abwarten, bis sie endlich alleine sein würden. Der kurze Weg an seinem geparkten Wagen vorbei, die paar Stufen zur Eingangstür, die Sekunden, die George brauchte, um den Hausschlüssel hervorzuholen, all dies schien sich unerträglich in die Länge zu ziehen. In der Wohnung knipste George in einer Nische die Lampe an. Sie gingen an der Tür seines Büros vorbei und ins Wohnzimmer. Das war ein großer Raum mit guterhaltenen, alten Möbeln, die seit Generationen in der Familie Buchan weitervererbt wurden. Sie hatten Santha von Anfang an fasziniert, weil sie so viel über Georges Kindheit aussagten. Als er noch
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ein kleiner Junge war, mußte das Wohnzimmer in seinem Elternhaus ganz ähnlich ausgesehen haben. Immer, wenn Santha hier eintrat, hatte sie das Gefühl, daß sie ein wenig von seiner Vergangenheit mit ihm teilte. George stand am Kamin: »Vielleicht sollte ich ein Feuer machen«, sagte er. »Mach das nicht«, sagte Santha, zog ihren Mantel, ihren Schal und ihre Handschuhe aus und legte sie über die Lehne eines Morris-Stuhls. Dann ging sie zu ihm hinüber, knöpfte seinen Mantel auf und zog ihn über seine Schultern herunter. »Feuermachen braucht zu viel Zeit!« Er antwortete ihr mit einem Kuß, nur einem Kuß, der zart ihre Lippen streifte, und dann mit einem langen, durstigen, während ihre Hände sanft seinen Rücken streichelten. Georges Mund wanderte zu ihrem Hals und ihren Ohrläppchen hin. Santha flüsterte leise und zärtlich seinen Namen. Er kehrte zu ihren Lippen zurück, und sie begegnete ihm mit geöffnetem Mund, ganz dem Augenblick hingegeben. Seine Hände umfingen ihre Brüste, erst die eine und dann die andere, lange genug, um ihr Begehren zu wecken. Dann begann er, ohne seine Lippen von den ihren zu lösen, ihre Bluse aufzuknöpfen. Als er sie geöffnet hatte, brauchte er sie nur von ihren Schultern zu nehmen. Seine Fingerspitzen berührten ihre Haut oberhalb des Unterkleides kaum. Sie streichelten behutsam ihren Nacken und drückten das aus, was in seinen Augen lag. Sie umarmten sich, und er beugte sich wieder zu ihrem Mund hinab. Seine Hände öffneten den Reißverschluß ihres Rockes, der über ihre Hüften und ihre Knie auf den Boden glitt. George vergrub das Gesicht in ihrem Unterkleid und zwischen ihren Brüsten. Sein Mund fand ihre Brustspitzen, die sich hart und fest unter der Seide abhoben. Santha streichelte
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ihm liebevoll das Haar. George nahm ihren Kopf in beide Hände und barg ihn an seiner Schulter, während er ihr zart über das Haar streichelte und sagte: »Du bist so schön, Santha, so unglaublich schön.« Santha hielt die Augen geschlossen. Sie fühlte sich, als schwebe sie über dem Fußboden, und als sie die Augen wieder öffnete, fand sie sich in seinen Armen, während er durch den Raum zur Tür ging. Er trug sie hinaus in den Flur und zur Treppe. Sie legte ihre Lippen an seine Brust, schloß die Augen wieder und fühlte sich geborgen. Als sie im Schlafzimmer waren, legte er sie sachte auf das Bett und beugte sich über sie. Santha nestelte an den Knöpfen seines Hemdes, und er half ihr lächelnd beim Lösen seiner übrigen Kleidungsstücke. George war jetzt nackt. Er legte sich auf sie und küßte wieder ihre Brüste. Er hob sie ein wenig an, löste ihren BH und zog das Unterkleid hinunter. Santha sah zu, wie Georges Mund ihre Brustwarzen suchte. Als er sie gefunden hatte, bog sie sich zurück und hob ihm ihre Brust entgegen, bis seine Zähne sie berührten. Der leichte Schmerz machte sie schwindlig, und als er sich der anderen Brust zuwandte, hatten seine Zähne ihren Abdruck hinterlassen. Oh, mein geliebter Kesari, dachte sie, als er sein Gesicht über sie beugte. Er zog ihr Unterkleid weiter herunter, sie küssend ohne Unterlaß. Mein liebster Geliebter, du bist so gut zu mir, und ihre Gedanken formten sich plötzlich zu Lauten: »George, Liebster. Oh, es ist so wundervoll, geliebtes Herz.« Santhas Augen weiteten sich, als er den Kopf zwischen ihren Beinen vergrub. Das Geräusch seiner Zärtlichkeit verstärkte die Lust, die sie empfand. Ihre Finger griffen in sein Haar. Sie hielt ihn zwischen ihren Schenkeln and wünschte, er möge dort für immer bleiben. Santha bewegte ihre Hüften im gleichen Rhythmus, in dem er seinen Kopf bewegte. Das Feuer in ihr
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loderte und hüllte sie vollends ein. George versuchte, in sie einzudringen, und sie schlang die Arme um ihn. Selbst als er nun wirklich in ihr war, schien es noch nicht genug zu sein. Sie wünschte, daß sie sich auflösen könne, so sehr ein Teil von ihm zu werden, daß nichts weiter übrigblieb als die Ekstase ihrer Vereinigung. Das Gefühl, ihn in sich zu haben, jede Bewegung, jeder Stoß waren unmittelbarer Ausdruck ihrer Liebe. Kein Wort konnte es besser ausdrükken. Ihre Körper sprachen und sangen, bis Santha das Gefühl hatte, auseinanderzubrechen und von der Ekstase hinweggetragen wurde. Einen Augenblick später schrie George auf. Sie fühlte seinen heißen Fluß in sich, zog ihn zu sich herunter und preßte seinen Kopf lange an ihre Brust. Dann erhob sich George, streckte sich und blickte zu ihr herunter. Ihr dunkelhäutiger Körper rollte sich zusammen, und sie kuschelte ihren Kopf in die Armbeuge. »Mein schöner Kesari«, sagte sie lächelnd. »Was ist ein Kesari?« fragte George, doch die Frage blieb unbeantwortet. Denn Santha Wrench schoß plötzlich kerzengerade in die Höhe und starrte, aufrecht sitzend, durch den Raum. Scharlachfarbener Hibiskus wetteiferte mit rosa Rosen und weißen Bhantblüten, mit Büscheln weißen, duftenden Jasmins, Ringelblumen und den Blüten des Kadambabaumes, die in gelben Dolden herabhingen. Die Blumen waren frisch, lebendig, bedeckten das weiche Erdreich des Hofes und überwucherten die Mauern und den Hof. Das Haus war kaum mehr als eine vor sich hin modernde Erinnerung. Der Tag ging zu Ende. Die Luft wurde grau, und immer noch erzitterte der Hibiskus wie etwas lebendig Pulsierendes. Es war später Nachmittag, ohne daß sich ein Luftzug regte, einer dieser schwülen indischen Tage, schwer von Blütenduft, der sich mit dem Geruch von Kuhmilch und Schweiß vermischte.
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Ein Fest, dachte sie, ein Fest in einer verlorenen, entlegenen Gegend. Aber was für ein Fest? Und warum war sie dabei? War sie eingeladen? Oder war sie nur zufällig in diesen desolaten Hof mit den ihn umgebenden verfallenen Mauern geraten? Da war auch ein Hain, dessen einzelne Stämme einander zu umschlingen schienen. Sie hielt sich von dieser Baumgruppe entfernt, schritt dahin und tanzte plötzlich, ging ein paar Schritte weiter, tanzte wieder, an dem ehemaligen Hausgarten, an Girlanden, an lebendigen Dingen und an undeutlichen, sich im Schatten befindenden Menschengruppen vorbei. Ständig fielen Hibiskusblüten herab. Fielen sie vom Dach oder vom Himmel? Sie konnte es nicht genau feststellen. Sie betonten die festliche Zeit, und ihr Schwung ließ ihre mit Sandalen bekleideten Füße wieder lostanzen. Nun vier Taktschläge, jetzt sechs, jetzt neun – oder waren es mehr? Sie tanzte den Nautch, einen indischen Tanz, den sie nie zuvor getanzt hatte. Sie tanzte ohne Musik, ohne Fußspangen, tanzte durch die immer größere Fülle der Hibiskusblüten, die sie vermischte und denen sie die scharlachroten Blüten abstreifte, eine sich windende Spur, die wie ein Blutstreifen aussah, hinter sich lassend. Ihr Rhythmus wurde schneller. Sie stampfte und schlug den Takt mit den Füßen. Santha ließ sich völlig los, sie mußte es tun. Sie drehte sich, bewegte sich vor und zurück und wieder vorwärts. Sie fühlte, daß dieses Fest für sie allein war. Der Himmel, die Erde und die ganze Natur feierten mit ihr. Der Anlaß blieb unklar, so rätselhaft wie die herabfallenden Blüten. Sie wirbelte herum, schrie auf … Eine spöttische Herausforderung antwortete ihr. Hoch auf dem Dach sah Santha vier Affen hocken. Drei davon waren heilige Languren, Schlankaffen, die Mangorinde auf die Steine herunterwarfen. Der größte von ihnen, fast ein Meter groß, sträubte seinen weißen Pelz, stieß die schwarze Schnauze vor
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und begann zu kreischen. Er war der Anführer des Quartetts. Die übrigen fingen erst zu lärmen an, nachdem er damit begonnen hatte. Ein kleiner Rhesusaffe, links von den Languren, hüpfte auf und nieder und bewarf sie mit kleinen Steinchen. Der letzte Affe, ein Makake mit Löwenschwanz, schüttelte seinen Kopf, bis sich die Haare seiner weißen Mähne sträubten. Santha begriff, daß sie sie durch ihre Freude aufgeschreckt hatte, hörte zu tanzen auf und eilte schnell durch eine schmale Tür ins Haus hinein. Innen, in einem Raum des Hauptgebäudes, blieb Santha ruhig stehen, während der Protest der Affen abklang. Sonnenstrahlen fielen über die Schwelle und endeten im Dunkel. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die langsam durch die Tür hineinsickernden Hibiskusblüten. Santha trat zur Seite und ließ sich den purpurroten Strom um ihre Füße häufen. Der Hintergrund blieb dunkel. Die Spitzen der Sonnenstrahlen wurden von der Dunkelheit aufgesogen. Sie watete in einer Blumenflut. Noch ein letzter Schritt, und alles war vorbei. Der Zauber war vorüber. Santha mochte nicht mehr tanzen. Der Raum war verlassen, leer, todtraurig. Dieser Ort war die Ruine einer tragischen Vergangenheit. An der gegenüberliegenden Wand bewegte sich etwas. Santha eilte hinüber. Ein blasses Blau in der Wand durchdrang die Dunkelheit. In dem Dunst befand sich eine Gestalt, nein, zwei. Santha stand vor einer ruhenden Frau mit einem Kind im Arm. Die Frau trug einen hellen safranfarbenen Sari. Tiefer Schmerz, wider aller Vernunft, füllte Santhas Herz. Sie hatte das Gesicht der Frau erkannt! Es war ihre Mutter Kamala. Und das kleine Mädchen war niemand anderes als sie selbst. Dann hörte sie das Klingen von Fußreifen und wandte sich schnell wieder dem blauen Nebel zu, weil sie glaubte, daß die Frau aufgewacht war. Eine weitere, in blauen Dunst eingehüllte Gestalt hielt etwas Schweres und Rundes über den Kopf. Der
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runde Gegenstand fiel mit einem Krach zu Boden, und Santha wurde von Staub und winzigen Splittern eingehüllt. Sie erhob sich, bevor der Staub vollends zu Boden gesunken war, näherte sich der Frau und erstarrte, als sie deren geöffnete Augen sah. Die Frau war an der Stirn von dem herniederfallenden Gegenstand getroffen worden. Das liebliche Gesicht war blutverschmiert, und rohes Fleisch und ein Stück freigelegtes Gehirn waren zu sehen. Das Baby lebte noch und schlief. Santha konnte nur entsetzt schauen und wartete auf das nächste Ereignis. Ein Klirren, ein Ruf. Santha gehorchte, schaute zur Wand und zu der zweiten Frau hin, die dort stand. Diese Frau winkte ihr lächelnd zu. Sie trug Hibiskusblüten in ihrem mit Kuhmilch geglätteten Haar. Eine Spur von Purpur glitt herab, berührte ganz kurz ihren Nasenring und sank mit anmutiger Leichtigkeit zu Boden. »Santha?« Sie schloß ihre Augen. »Santha!« Sie wollte nicht zu der Wand hinübergehen. Sie öffnete die Augen und sah, daß sie die Arme ausgestreckt hatte, um die Frau wegzustoßen. »Santha. mein Liebling!« George hatte ihre Handgelenke ergriffen und versuchte verzweifelt, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Santhas Augen waren noch immer auf die Stelle gerichtet, wo die Frau gestanden hatte. Doch jetzt war es eine andere Wand mit einem Kunstdruck, der Eisläufer auf dem Teich des Bostoner Parks darstellte. Santha entzog ihre Arme seinem Griff, taumelte und stieß dabei gegen einen kleinen Klapptisch neben dem Bett. Die abstrakte Plastik aus Steubenkristall, die auf seiner Oberfläche stand, wankte und wäre fast heruntergefallen. Santha lehnte sich weiter zurück und betrachtete Georges Zimmer genau, bis sie davon überzeugt war, sich
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nicht länger in Indien zu befinden. Dann erst wandte sie sich ihm zu. »Was ist passiert?« beharrte George mit ruhiger Stimme. Sie schauderte und kreuzte die Arme über den schweißbedeckten Brüsten. Sie fühlte ihr Herz gegen die Handflächen hämmern. »Santha, du warst in Trance. Du hast irgend etwas auf der anderen Zimmerseite gesehen, etwas, wovor du entsetzt zurückgewichen bist. Was zum Teufel hast du gesehen?« George forschte in ihrem Gesicht, griff wieder nach ihrem Handgelenk und fühlte ihren Puls. Seine andere Hand legte er auf ihre Stirn und ließ sie dort eine Weile ruhen. »George«, sagte sie entschieden, »ich bin völlig in Ordnung. Vermutlich habe ich geträumt.« »Du hast nicht geschlafen, Santha. Wir haben uns unterhalten, als es passierte. Was war es, Liebling?« »Ich weiß nicht … Ich möchte auch nicht weiter darüber reden, Doktor Buchan.« »Du brauchst doch deswegen nicht beschämt zu sein. Du hast in der letzten Zeit viel Streß gehabt.« Santha stemmte sich gegen ihn, bis er sie freiließ. Dann sammelte sie ihre Kleider zusammen. »Laß bitte«, sagte sie, »ich bin nicht deine Patientin. Sei nicht so neugierig.« »Neugierig! Um Himmels willen, Santha! Ich liebe dich! Wir haben uns geliebt, und dann bist du in Trance verfallen, hast auf etwas gezeigt, was nur du gesehen hast, und hast dabei gekeucht. Warum sollte ich da nicht erschrocken sein?« Sie zog sich eilig an. »Ich muß eine Weile allein sein und nachdenken …« »Santha, ist so etwas schon mal vorgekommen? Genierst du dich deswegen? Das mußt du nicht. Unter bestimmten Bedingungen kann jeder Mensch unter Halluzinationen leiden.« »Halluzinationen!« Santha griff nach ihrem Mantel. »Ich
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glaube, ich gehe besser.« George stellte sich ihr in den Weg. »Santha, kannst du nicht einen Moment hierbleiben und mir erklären, was du gesehen hast?« »Ich bin müde. Ich möchte nach Hause. Ich muß … allein sein …« »Es ist mir gar nicht recht, daß du jetzt so gehst.« »Oh, wirklich nicht? Wie willst du mich aufhalten, George? Willst du mich stationär beobachten lassen, wie du es mit Daddy tun wolltest?« »Das ist verdammt unfair.« Santha ergriff seinen Arm: »George, versuche mich zu verstehen.« Ihre Stimme klang erstickt, während sie ihr Gesicht an seiner Brust barg. »Vielleicht ist es mir peinlich … ich muß eine gewisse Zeit für mich und allein sein, George, um nachzudenken. Ich rufe dich nachher an, bevor ich ins Bett gehe, um dir zu sagen, daß ich wieder okay bin. Ich verspreche es dir, Liebster.« Sie hörte, wie er sagte: »Das ist doch gewiß schon mal vorgekommen, nicht wahr? Wann hat es angefangen?« Jetzt ist er wieder in seinem Fahrwasser, dachte Santha. Sie blickte ihn kühl an. Er wird es nie verstehen. Sie mußte jetzt gehen, bevor er weiter in sie drang. Das Vorgefallene, so schrecklich es auch gewesen war, ein Alptraum, gehörte nur ihr allein. Es war ihre eigene Reise in den Fernen Osten. »Ich werde anrufen«, versprach sie, küßte ihn leicht und eilte aus dem Raum.
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7 Alipore bei Kalkutta Krishna Rasul saß unförmig über seinen Teller gebeugt und starrte über den Tisch. »Dann stimmen Sie mir also zu, Rama Shastri, daß die ThugAngelegenheit jetzt beendet ist?« Shastri schwieg eine Weile und zuckte die Achseln. »Also, nun kommen Sie schon, Rama. Was halten Sie davon?« Shastri schnitt ein Stück von seinem Tandoori-Huhn herunter und schaute den Tisch entlang, als ob jemand anderes die Frage gestellt hätte. Sechzehn Männer, alles Regierungsbeamte, saßen auf beiden Seiten der langen Marmortafel. Sie gehörten überwiegend zu Rasuls Stab, die anderen waren Regierungsleute, die Ved Addy kannten. Diese Halle war eine der größten in der Familienvilla der Addys in Alipore südlich von Kalkutta. Im Garten, auf dem üppigen Rasen, waren Statuen und Springbrunnen, die an europäische Großstädte erinnerten, verteilt. Ein geräumiger Innenhof mit Marmorarkaden enthielt weitere Kunstgegenstände. Im Labyrinth der Korridore, Wohnräume und Galerien befanden sich Statuen, Büsten, Ölgemälde und kostbare, mit Schildblumen gefüllte Vasen und ganz wenig indische Kunst. Die Wände waren mit britischen Täfelungen aus dem letzten Jahrhundert verkleidet oder bestanden aus weißem und rotem Marmor, Satinvorhänge waren an den hohen, bodentiefen Fenstern, und Kristallkandelaber hingen in der Deckenmitte jedes größeren Raumes. 122
Der Ballsaal nahm fast die ganze Fläche des Südwestflügels ein. Die riesigen hölzernen Fensterläden waren geschlossen. Die schwarzen Schattenstreifen, die sie warfen, ließen undeutlich die an den Wänden hängenden Ölgemälde, die von einem frühen Turner bis hin zu bengalischen modernen Künstlern und den Abstrakten reichten, erkennen. So sahen die Vermögenswerte von Ved Addy aus, der nur Großgrundbesitzer war und nicht zu den Fürstlichkeiten zählte, die nach wie vor in Kalkutta residierten. »Nun?« erkundigte sich Rasul, »wie denken Sie darüber, Rama Shastri? Glauben Sie nicht, daß der Fall erledigt ist? Nun los. Nun los. Sollen wir uns weiterhin mit unnötigen Detektivspielchen herumschlagen? Ist das als eine weitere Attacke gegen die Regierung aufzufassen?« Shastri blickte auf seine Armbanduhr. Nun, da die mit weißen Tuniken und weißen Turbanen bekleideten Diener an die Wand gelehnt standen, mußte der Einsatz des Bodenreinigers jeden Moment fällig sein. Alle fünf Minuten erfüllte der Mann seine Aufgabe. Es war, als würde er von einer unsichtbaren Macht angetrieben, denn es gab keine Uhr in der Halle, und er trug auch keine Armbanduhr. Und da war es auch schon soweit. Der Bodenputzer bückte sich, ergriff sein Wasserbecken und ein feuchtes Tuch und begann den Boden rings um die Stühle der Anwesenden aufzuwischen. »Sie haben sich den Bedingungen der Regierung gefügt«, beharrte Rasul, »sie haben sich ergeben, diese Thugs, haben bei Kali, ihrer Mutter, geschworen, ihre mörderischen Praktiken seinzulassen. Was wollen Sie mehr? Die Regierung hat gewonnen. Sehen Sie das nicht ein?« »Die Regierung hat nichts getan«, erwiderte Shastri schließlich. »Es war der Herrscher, der ihnen befahl, sich zu ergeben. Ich war in diesem Tempel anwesend. Erinnern Sie sich?« »Sind Sie sicher, daß er den Befehl gegeben hat? Sie sagten
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doch, daß Sie kein Ramasi verstünden.« »Geben Sie es zu, Rasul. In Ihrem Bericht steht, daß die Thug-Gefangenen es so gesagt haben, wie Sie behaupten.« »Und ich wiederhole meine Frage: Was wollen Sie mehr?« Shastri schob seinen Stuhl zurück, um dem Bodenputzer Platz zu machen, der dort, in der Hocke sitzend, zwischen seinen Füßen herumwischte. Er blickte zu Rasul hinüber und bemerkte die offene Wut in seinem Blick und die großen, geballten Fäuste auf der Tischfläche. Aha, dachte Shastri, er ist noch zorniger, noch aggressiver, noch unverhohlener in seiner Wut. Bald ist es soweit. »Also?« »Rasul, ich will diesen Auserwählten und ich will Chundra Bala haben, der meinen Mitarbeiter Das getötet hat. Das habe ich in den vergangenen fünf Tagen doch immer wieder gesagt. Muß ich es denn ständig wiederholen?« »Was können die beiden schon tun? Wohin sollen sie schon gehen, ohne früher oder später doch gefaßt zu werden? Sie tun so, als ob ihnen Flügel wüchsen und sie nach Peru fliegen würden. Wir werden sie schon finden. Der Fall ist abgeschlossen. Die Masse der Leute sitzt hinter Gittern, und das allein ist ausreichend.« »Ausreichend ja. Es reicht für die Presse aus, die nichts mehr zum Berichten haben wird, falls das Ihr Wunsch ist. Dann wird die Regierung weiterhin als progressiv dastehen«, sagte Shastri, »weil sie den alten, schrecklichen Gebräuchen, wie denen des Thugismus, ein Ende gemacht hat.« Ungeachtet Rasuls bohrendem Blick zündete sich Shastri mit ruhiger Hand eine Sher Bidi an. Doch das tiefe Baritonlachen am anderen Ende der Tafel ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Soeben hatte Ved Addy überschwenglich auf eine von Ileanas Bemerkungen reagiert. Mißgeschick, wohin er sah. Er bemerkte Rasuls spöttisch-triumphierendes Lächeln. Dies-
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mal hatte Rasul nichts gegen Ileanas Gegenwart einzuwenden. Shastri hätte sie niemals mit hierher bringen sollen … Sie haßte es, in seinem Amtssitz allein zu sein. Außerdem hatte er das Gefühl, daß dies ihre letzten gemeinsamen Tage waren. Kein Zweifel, die Zeit war reif. Heute, morgen oder in den nächsten Tagen würde man versuchen, ihn zu verhaften. Sie würden leicht eine Beschuldigung finden, gerade jetzt, wo die Thug-Affäre vorbei war und sie ihn hier in West-Bengal hatten. Warum auch nicht? Er wurde nicht länger gebraucht, wurde immer weniger gefürchtet, seit sich seine Macht als leitender Polizeibeamter vermindert hatte. Diejenigen, die sich ihm gegenüber noch loyal verhielten, wie Gopal, konnten wegen ihrer unbedeutenden Positionen innerhalb der Beamtenhierarchie wenig für ihn tun. Und die, deren Rang es erlaubt hätte, ihm Sympathiebeweise zu geben, fürchteten um die eigene Freiheit. Shastri fühlte Ileanas Blick auf sich ruhen und kehrte zu seinem distanzierten Gesichtsausdruck zurück. Sie verstand, das war sicher. Ved Addy würde nicht zu erfahren bekommen, in was für einer Situation er sich befand. Was für Fehler Ileana auch haben mochte, sie hielt so treu zu ihm, wie eine Frau nur zu einem Manne halten kann. Ob sich Ileanas Pläne bereits vor ihrem viertägigen Aufenthalt hier oder erst danach entwickelt hatten, als sie Ved Addy kennenlernte, war unwichtig. Doch eines stand fest, sie hatte ihre Richtung eingeschlagen. Addy und seine Umgebung waren maßgebend und weckten die Opportunistin in ihr. Dennoch waren ihre Motive in erster Linie emotional und nicht gewinnsüchtig. Seit Jahren schon hatte Shastri, was ihm hohes Ansehen bei ihr eingebracht hatte, Ileana eine beachtliche Jahresrente ausgesetzt. Auf Geld war sie deshalb nicht angewiesen. Der springende Punkt war, daß Shastri nun gezwungen war, nach Amerika zu fliehen, statt mit ihr nach Paris zu gehen. Deshalb hatte sie es auf Ved Addy abgesehen.
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Shastri versuchte sich zu erinnern, wie sich diese Verbindung entwickelt hatte. Großgewachsen wie Rasul, war Addy jedoch bedeutend elastischer. Die schwarz gewellten Haare waren von Silberfäden durchzogen. Das markante Gesicht, gut geschnitten, mit buschigen Augenbrauen und hohen Backenknochen, erzwang Aufmerksamkeit. Als Polospieler hatte er über seine Spiele im Royal Calcutta Turf Club bereitwillig Auskunft gegeben, und Ileana hatte ihn weidlich bewundert, wobei sie hinzugefügt hatte, wie wundervoll es sein müsse, ihm dabei zuzusehen. Das hatte den von weitem beobachtenden Shastri um so mehr erstaunt, als sie in der zurückliegenden Zeit niemals mit ihm zu irgendeiner Sportveranstaltung gegangen war, weil es sich, wie sie fand, dabei doch nur um maskuline Angeberei handelte, die die Männlichkeit unter Beweis stellen wollte, was ihr Mungo doch nicht nötig hatte. Hingerissen hatte Ved Addy ihr daraufhin seine Schätze gezeigt, seinen Grundbesitz, sein Haus, seine Kunstsammlungen. Den einzigen Schatz, den er wohlweislich unterschlagen hatte, war seine Frau, die er für die Dauer ihres Besuches in den Frauenflügel verbannt hatte. Er war fünfzehn Jahre jünger als Shastri, genauso erzogen und genauso westlich orientiert. Ved Addy hielt sich für einen kultivierten Mann. Er besaß Dinge, die kaum zu bezahlen waren, zitierte große Autoren auswendig und spielte recht gut Klavier. Doch ihm fehlte die Seele des Philosophen oder des Poeten. Das mochte wohl ein Familienübel sein, denn seit den frühen Tagen britischer Kolonialherrschaft war der Name Addy gleichbedeutend mit entsetzlicher Langeweile. Dennoch hatten Ileana und er reichlich über Bücher, Theater, Musik und Malerei diskutiert, kurz gesagt, über alle Interessen, die Shastri Ileana zugänglich gemacht hatte, und unnötig, es zu sagen, über Paris, wobei Addy ihren diesbezüglichen Enthu-
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siasmus teilte und behauptete, daß er es alle fünf Jahre besuche. Und, da sie jetzt schon einmal davon sprächen, wäre es eigentlich an der Zeit, wieder einmal dorthin zu fahren. »Wäre es an der Zeit«, hatte er ausdrücklich gesagt und dabei sehr überzeugend gewirkt, so, als hätte er dies bereits vorhersehend in Erwägung gezogen und schon Pläne gemacht, und als besäße dieser Besuch die Wichtigkeit jedes anderen Fünfjahresplanes. Düster dachte Shastri darüber nach, wie schnell er doch zu ersetzen war, als sich ein uniformierter Mann mit einem Telegramm in der Hand Rasuls Stuhl näherte. Rasul las und entließ den Mann. »Ich habe hier eine Mitteilung, die Sie interessieren wird«, sagte er zu Shastri. »Die Regierung hält es für erforderlich, die Kontrolle über die Thug-Gefangenen zu übernehmen, die bei Ihnen im Gefängnis sitzen. Man ist der Ansicht, daß es besser ist, wenn Ihre Leute zusätzliche Wachtposten bekommen, da es so viele Gefangene sind. Wir haben bereits Truppen losgeschickt, wissen Sie …« Shastri zwinkerte, als sei ihm etwas ins Auge geflogen. »Das habe ich erwartet«, sagte er ruhig. Überraschung. »Wirklich?« Ein Nicken. »So haben Sie gegen unser Eingreifen nichts einzuwenden?« »Aber nein.« Rasul war enttäuscht. »Warum? Ich verstehe nicht. Ich meine … für gewöhnlich sind Sie doch … Soll das heißen, daß Sie endlich mit unseren politischen Maßnahmen einverstanden sind?« »Nein, Rasul«, versicherte Shastri, »das nicht. Nennen Sie es gesunden Menschenverstand, Rasul. Ich habe nicht die Absicht, mich deswegen mit der Regierung auseinanderzusetzen. Die Gefangenen gehören Ihnen. Meinen Segen haben Sie. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.«
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Der gewöhnliche Schlag auf die mächtigen Oberschenkel: »Ich freue mich, daß Sie das einsehen, Rama. In dem Telegramm steht weiterhin, daß wir uns schon mit ihren Anführern in Verbindung gesetzt haben, die bereit sind, zu kooperieren. Sie werden nicht eher nach Hause zurückkehren, ehe sie nicht geschworen haben, mit ihren Bräuchen aufzuhören. Sagte ich Ihnen nicht schon vor Monaten, daß eine solche Lösung durchaus möglich ist?« »Ja, das taten Sie.« Eine lange Stille folgte. Dann begann Rasul wieder: »Da gibt es noch ein Geheimnis, das gelöst werden muß … In diesem Telegramm steht weiterhin, daß einer der Thugs fehlt. Er scheint entkommen zu sein. Ohne Zweifel hat er eine Ihrer Wachen bestochen, Rama Shastri, und wir sind entschlossen, dem nachzugehen. Der Jumaldeher-Anführer, dieser Ajit Majumdar, wissen Sie, daß er vermißt wird?« »Ja. Er entfloh, kurz nachdem wir mit den Gefangenen zurückgekehrt waren. Wir haben überall vergeblich nach ihm gesucht, Rasul. Ich glaube nicht, daß er viel Unheil anrichten kann. Er steht jetzt alleine da.« »Soweit ich mich erinnern kann, ist er ein sehr gefährlicher Bursche. Es ist doch der gleiche, den ich verhört habe, erinnern Sie sich?« »Ja, ich weiß. Und er ist auch besonders gefährlich, da stimme ich Ihnen zu. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wo er sein könnte und auf welche Weise er entkommen ist.« »Sind Sie da sicher, Rama Shastri?« »Sie wollen damit doch nicht sagen, daß ich ihm zur Flucht verholfen hätte, Rasul?« »Selbstverständlich nicht!« »Wie soll ich es dann wissen? Warum bekümmert Sie gerade der Verlust dieses Thugs? Die meisten haben wir doch hinter Schloß und Riegel gebracht, oder? Nur nicht den Auserwählten
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und Bala. Mir scheint, Rasul, daß sich Ihre Besorgnis auf den Falschen konzentriert. Kümmern Sie sich lieber um diese beiden. Sie sind in ihrer Wirkung tödlicher als eine ganze Armee von Ajit Majumdars. Und trotzdem sind Sie wegen dieser beiden nicht besorgt. Entschuldigen Sie mich, Rasul, ich möchte mich zurückziehen.« Rasul lächelte. »Aber selbstverständlich«, sagte er, »ich habe gar nicht bemerkt, daß Sie unser kleines Bankett so bald ermüden würde.« Shastri hörte kaum hin. Er hatte bereits die Halle durchquert und war zum Ausgang gegangen. Nun schritt er langsam durch das Gelände bis zum rückwärtigen Anbau des Addyhauses. Shastri blieb stehen und wartete, bis ein zahmer Pfau in die Zweige eines nahestehenden Baumes geflogen war, damit seine Schreie nicht die zahlreichen Beobachter alarmieren konnten, die Rasul gewiß überall postiert hatte. Sobald der Pfau sich niedergelassen hatte, wagte sich Shastri voran und klopfte kurz an eine Tür, die tief in eine Mauer eingelassen war. Gopal öffnete. »Heute nacht muß es geschehen«, sagte Shastri, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Er hörte Gopals Antwort nicht, weil er sich zu einer Gestalt umwandte, die auf dem Rande eines Feldbettes saß. Obwohl er als Polizist verkleidet war, erkannte man Ajit Majumdars grimmiges Gesicht mit den blitzenden Augen und den stark hervorstehenden Backenknochen sofort. Wie sie in der Lage gewesen waren, die Leute irrezuführen und ihnen weiszumachen, daß der Thug einer von ihnen war, konnte man nur als ein kleines Wunder bezeichnen, wenn man sein Aussehen betrachtete, dachte Shastri.
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»Er ist ein vorbildlicher Gefangener«, sagte Gopal. »Er läßt sich sogar von mir fesseln, wenn wir schlafen. Er versucht nicht einmal zu entfliehen.« »Natürlich nicht«, entgegnete Shastri, »jetzt ist erst mal seine Neugier geweckt. Ist es nicht so, Majumdar? Neugierde und Rachsucht halten Sie hier fest. Habe ich da recht? Sie wollen wissen, ob ich wirklich meine, was ich sagte, daß ich nämlich den Auserwählten und Chundra Bala wenn nötig bis ans Ende der Welt verfolgen werde. Sie sind hier in Verwirrung zurückgelassen worden und liegen mit sich im Widerstreit, ob Sie sie verraten sollen oder nicht. Darum fordere ich Sie auf: Reden Sie! Warum zögern Sie? Haben Sie die beiden nicht verraten und Hunderte Ihrer Thug-Brüder an die Behörden ausgeliefert?« Da er keine Antwort bekam, zog sich Shastri einen Stuhl heran und begann zu rauchen. Minutenlang saß er da, dachte nach und betrachtete den Thug, ohne etwas zu sagen. Er hatte bemerkt, daß Majumdar ihn ehrfürchtig bewunderte, weil er mit so vielen Gefangenen aus dem Höhlentempel zurückgekehrt war. In Gedanken daran hatte Shastri Gopal befohlen, Majumdar aus dem Gefängnisgelände herauszuschmuggeln und das Gerücht zu verbreiten, daß der Thug-Anführer geflohen sei. Immer wieder hatte Shastri den Thug über die private Unterredung, die er vor Wochen mit Bala geführt hatte, befragt. Shastri war sicher, daß Bala an jenem Tag etwas Wichtiges enthüllt hatte, etwas, was Majumdar in mörderische Wut versetzt haben mußte. Soviel hatte Das jedenfalls feststellen können. Entschlossen, die Arbeit des ermordeten Spitzels nicht umsonst gewesen sein zu lassen, übte Shastri immer weiter und immer stärkeren Druck auf den Gefangenen aus. »Majumdar, Sie sind doch offenbar so klug und wissen über die Angelegenheiten Gottes Bescheid, sagen Sie mir: Warum
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sind der Auserwählte und Bala geflohen? Warum haben sie sich nicht mit den übrigen ergeben? Welche anderen Pläne hatten sie? Haben auch sie sich von den Lehren Kalis losgesagt? Haben auch sie den Eid geleistet, niemals mehr die Würgeschlinge zu benutzen? Antworten Sie mir, Majumdar.« Der Thug knetete seine knorrigen, mit Muttermalen übersäten Hände und schwieg nach wie vor. Shastri blieb nichts anderes übrig, als das Verhör für eine Weile zu unterbrechen. Heute nacht, der Nacht seiner Flucht, in der er Indien und alles andere hinter sich lassen würde, war Shastri voller Zuversicht. Angesichts der letzten sich bietenden Chance, dieses Geheimnis zu enthüllen, war er wie ein Besessener. Der Polizist in ihm schrie nach Wahrheit. Dieser, sein wichtigster Fall war noch nicht abgeschlossen, und er wollte die Tatsachen wissen. »Hören Sie zu, Majumdar«, begann er in mildem Ton. »Ich habe nichts mehr gegen Sie. Sie waren ein treuer Thug, der fest an seinem Glauben festhielt, einem Glauben, das muß ich allerdings gestehen, der mir widerwärtig ist. Doch jetzt sind Sie machtlos, ohne jede Unterstützung, nicht mehr in der Lage, Macht zu gewinnen. Ihre Thug-Brüder haben sich der Regierung ergeben. Sie haben bei Kali, ihrer Mutter, geschworen, den Thugismus für alle Zeiten aufzugeben. Sie werden nicht auf Sie hören, wenn Sie sie auffordern würden, sich abermals zu erheben. Glauben Sie, was ich Ihnen sage, oder befürchten Sie, daß ich lüge?« Die Antwort kam mißmutig: »Ich weiß, daß Sie nicht lügen, Rama Shastri. Sie sind zwar mein Feind, aber Sie lügen nicht.« »Dann lassen Sie mich Ihnen sagen, daß es der letzte Abend ist, den ich hier bei Ihnen sitze. Ich muß fliehen, weil mich die Regierung so sicher verhaften wird, wie sie Diebe und Mörder verhaftet, obwohl ich weder das eine noch das andere bin. Nun, wenn ich fliehe, kann ich Sie freilassen. Sie unterstehen dann nicht mehr meiner Verantwortung. Ich will Sie hier nicht als
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Gefangenen zurücklassen, festgesetzt und mundtot gemacht, ohne daß jemand weiß, wo Sie sich aufhalten, und nur, um mit der Zeit an Hunger oder Durst zu sterben, Sie verstehen? Das wäre zwecklos. Aber ich warne Sie. Ich bin entschlossen, zu erfahren, was Ihnen Bala gesagt hat.« Shastri goß sich ein Glas Wasser ein und befeuchtete seinen trockenen Mund. Dann schluckte er, bis seine Kehle wieder frei war, und fuhr fort: »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, daß Sie das Opfer einer gemeinen List geworden sind?« »Eine List? Aber alle unsere Anführer hatten doch den gleichen Traum, daß ein Herrscher, der von der Göttin auserwählt worden ist, kommen würde.« »Ja, ich kenne die Geschichte. Aber ist jemals bewiesen worden, daß der Mann, von dem Bala behauptet hat, daß er der Auserwählte ist, auch wirklich derjenige war?« Shastri versuchte das Schweigen zu deuten, aber Majumdar blieb still. Er versuchte es wieder: »Würde ein echter Erwählter, ein wirklich Geweihter, etwas vorgeschlagen haben, was ganz Indien so schwer trifft?« Immer noch nichts. »Würde er das getan haben? Was war es, Majumdar? Antworten Sie mir. Sie schützen einen Betrüger, einen falschen Anführer. Sagen Sie es mir, und bewahren Sie sich damit vor einem schlimmen Ende.« Langsam stellte sich Erfolg ein. Majumdar platzte heraus: »Ja, das ist möglich, sehr gut möglich. Chundra Balas Versicherung, die Versicherung eines Mannes, der dem Alter und Rang nach eher unter mir gedient haben müßte, als daß ich ihm gehorche.« »Dann werden Sie es mir also sagen.« Ein Nicken. »Also bitte, tun Sie es, und tun Sie es schnell, wenn wir alle
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noch sicher entkommen wollen.« Wieder ein Nicken. »Ich bitte Sie dringend, Majumdar …« Der Thug ließ seine Blicke unruhig durch den Raum schweifen, wohl in der Hoffnung, daß Kali ihn noch im letzten Moment retten würde. Er schwieg, seufzte und wand sich unter inneren Qualen und gab es schließlich auf: »Bala sagte nur folgendes: daß wir aus dem Gefängnis nicht gerettet werden könnten, er jedoch fortgehen werde. Er hätte einen Plan, um –« »Ja«, unterbrach ihn Shastri, »er ahnte wohl, daß ich einen Spitzel im Gefängnis hatte, und riskierte es, in der Hoffnung, daß ich ihn vor Ihnen retten würde. Aber das ist eine andere Geschichte. Erzählen Sie weiter.« »Wir alle, auch ich, waren seinerzeit beeindruckt und begeistert, daß der Auserwählte zum Dach der Welt gegangen war und dort von den uralten Sehern die Schriftrollen erhielt. Diese Rollen garantierten ungeheure Kräfte, die furchtbaren Gaben der Mutter Kali. Diese Erzählung, die Bala uns auftischte, wie sie, drei Männer, ein alter Sadhu, der Auserwählte und er, Bala, in eine Höhle des Ganga Gangotri gingen und dort die vier Propheten sahen, die sich zu erkennen gaben, und dem Auserwählten, unserem neuen Anführer, die Schriftrollen zuschleuderten …« »Erinnern Sie sich bitte, daß Sie dies von Bala und von niemand sonst hörten.« »Ja, ja. Aber das hat er uns erzählt. Er sprach davon, daß er die Göttin selbst gesehen habe, als sie unseren neuen Herrn säugte. Er sprach von einem Ort, den es sonst nirgendwo gibt, wo Geschöpfe hausten, die bisher kein Mensch je gesehen hat, bis eben zu jenem Zeitpunkt. Er sprach wie ein Mann, der das Ende der Zeiten gesehen hat.« »Denken Sie nach, Majumdar. Es gibt Menschen, die so überzeugend lügen, daß sie aus ihrer verlogenen Phantasie rie-
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sige Geschichten zaubern können. Vielleicht ist Ihnen bisher noch nie ein solcher Mensch begegnet. Vielleicht ist Bala einer von der Sorte. Darum denken Sie noch einmal darüber nach, und versuchen Sie, sich daran zu erinnern, was er Ihnen später sagte und was Sie so wütend machte, daß Sie ihn am liebsten umgebracht hätten. Überlegen Sie genau. Vielleicht entdecken Sie dabei, daß Sie auf einen Superlügner hereingefallen sind.« »Jawohl, wir hatten einen Dorfbewohner, Kashi, der phantastische Geschichten von Vishnu erzählte. Dieser Gott war ihm als junger Mann am Flußufer erschienen und prophezeite ihm unermeßliche Reichtümer. Dann stellte sich heraus, daß der Gott nur Mahadeva, der Asket mit den verfilzten Haaren, gewesen war. Damals war Kashi fünfunddreißig Jahre alt. Heute ist er fast fünfzig und so arm wie eh und je. Aber er schmückt seine Erzählung so schön aus, daß ihm die Dorfbewohner immer wieder gerne zuhören. Als ich das letzte Mal zuhörte, haben liebliche Devas (gute Geister, Anm. d. Übers.) mit ihm das Bett geteilt. Sehen Sie, seine Frau starb und …« Shastri hob die Hand. Er mußte lächeln, weil Majumdar wie irgendein beliebiger, freundlicher Inder, der Anekdoten aus seiner Umgebung zum besten gibt, wirkte, und er mußte sich energisch ins Gedächtnis rufen, daß dieser Mann mit seinen wunderlichen Geschichten ein Mörder war, der ohne Gewissensbisse den gleichen Kashi erwürgt haben würde, wenn er glaubte, daß Kali ihn fordere. »Dann wissen Sie ja, wovon ich spreche«, drängte er. »Ich glaube, daß Bala ein Mann ist, der diese phantasievolle Erfindungsgabe besitzt, allerdings verschlagener ist als Ihr Dorffreund. Wie sollte es sonst sein? Würde denn ein wahrer Auserwählter ganz Indien bedrohen? Und nun berichten Sie von dem, was Sie so wütend machte.« Wut sprühte aus Majumdars Augen: »Balas Frau hat Visionen und Träume«, sagte er, »und dieser Auserwählte, falls er es
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wirklich ist, glaubt ihr aufs Wort. Bala erzählte uns, daß sie zwei Nächte, bevor er im Gefängnis eintraf, geträumt habe, daß Sie uns sehr wohl niederwerfen könnten.« »Ich? Wieso denn das?« »Wieso? Haben Sie es denn nicht getan? Diese Frau hat direkten Kontakt mit der Göttin. Chundra Bala erzählte uns, daß seine Frau schon seit langem Zwiesprache mit der Mutter hält. Und in dem Traum, den sie hatte, lauerte die Möglichkeit, daß Sie Erfolg haben würden. Und wenn dem so wäre, würde der Auserwählte alles in die Wege leiten, um irgendwo andershin zu gehen. Zuerst wollten sie versuchen, Sie zu vernichten. Doch wenn das nicht gelänge, würden sie in ein anderes Land fliehen.« »Wohin? Nach Burma? Thailand? Malaysia oder Indonesien?« Majumdar stand da und zitterte am ganzen Körper, als er herausschrie: »Nein! Das ist es ja gerade, Rama Shastri. Ein Nachbarland hätte Hoffnung bedeutet. Wir hätten uns, auch nachdem Sie Erfolg gehabt haben, doch irgendwann wieder erhoben, die Grenzen ungesehen überschritten und Sie vielleicht eines Tages töten können. Ich hätte es gerne getan. Mit Vergnügen wäre ich in Ihr Haus eingedrungen und hätte die Schlinge um Ihren Hals gezogen. Freudig hätte ich mich selbst geopfert, um das Anliegen der Göttin lebendig zu erhalten … aber dieses Land ist weit weg! Es ist ein Land, in dem keiner an Kali oder an Vishnu glaubt, noch an irgendeinen anderen unserer Götter.« »Was für ein Land? Sagen Sie es, Mann! Hat Bala dieses Land genannt?« »Ja. Bala sagte, Amerika. Selbst jetzt kann ich es kaum glauben, daß er Amerika sagte.« Shastri ging zu einem kleinen Tisch neben der Tür und zog eine Flasche Whisky aus einer Schublade. Er trank in tiefen
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Zügen, bevor er die Flasche wieder absetzte. »Sind Sie sicher? Sagen Sie die Wahrheit?« »Es war, wie ich sagte. Warum wäre ich sonst so wütend geworden? Sie haben jeden anderen Thug-Bruder in Indien betrogen. Was haben wir in Amerika zu suchen?« Er spie aus und wiederholte: »Amerika! Es ist doch sehr seltsam und ganz ungewöhnlich, Rama Shastri, daß ein oberster Thug-Anführer ausgerechnet dieses Land wählt. Ich habe sein Gesicht nie gesehen, aber er kann nicht der Wahre sein, der uns in unseren Träumen prophezeit worden ist. Einer, der von der Göttin wirklich auserkoren ist, würde nie Amerika gewählt haben!« Shastri konnte es gleichfalls kaum glauben. Doch Gauri Balas Traum, die Wichtigkeit, die ihm beigemessen wurde, und Majumdars Enthüllung, daß sie beide, er und der übriggebliebene Anführer, die gleiche Hemisphäre aufsuchen würden, das Land auf der anderen Seite der Erdkugel, die Vereinigten Staaten … Es stank nach irreführenden Ideen und Plänen. Das Vokabular der Angepaßten drängte sich ihm auf, Vorbestimmung, Schicksal, Gottesurteil, all dieser verbale Unfug, der nur Opium für das Volk war. Nein, er lehnte esoterische und religiöse Erklärungen ab. Dies war nichts weiter als schierer Zufall, zugegeben ein verblüffender Zufall, aber weiter nichts. Er traf seine Entscheidung: »Gopal, holen Sie unsere Sachen. Wir gehen jetzt.« Sein Assistent ging und kehrte mit Dhotis und Turbanen zurück, und während sie sich umzogen, flüsterte Gopal, so daß der Thug es nicht hören konnte, Shastri ins Ohr: »Nun haben wir doch eine Fährte, die weiterführt, selbst wenn es drüben ist. Sie sind dazu bestimmt, ihre Wege zu kreuzen, Rama. Das Schicksal ist Ihnen hold.« »Ach, Unsinn«, grollte Shastri. »Vielleicht hat Bala gelogen, was ihr Reiseziel angeht.« »Das glaube ich nicht, alter Freund. Ich glaube, das Glück ist
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Ihnen wohlgesonnen. Gott liebt auch diejenigen, die seine Liebe nicht erwidern, und das, worin sich seine Güte ausdrückt, ist eben Glück. Gleichgültig, ob Krishna, Vishnu oder der Prinz von Sagacity, Ganesha. Ja, ich glaube, das steht bereits in den Sternen, und Sie sind es, dem es bestimmt ist, die Spur des Auserwählten in Amerika zu verfolgen.« »Sie werden alt, Gopal. Ich finde, es ist Zeit, daß Sie in Pension gehen. Vielleicht können Sie im Alter mit gekreuzten Beinen dasitzen und im Panjika, dem indischen astrologischen Kalender, lesen. Als ob es in Indien nicht schon genügend törichte Astrologen gäbe, die ihren astrologischen Almanach wälzen!« Shastri bemerkte sofort den Schmerz im Blick des anderen. »Hier«, sagte er versöhnlich, »trinken Sie aus meiner Flasche. Draußen ist es kalt. Trinken Sie auf mich und meine Reise und darauf, daß Sie der Klügere von uns beiden sind. Trinken Sie darauf, daß Sie recht haben, weil ich in der Tat mit diesem Sohn der Kali wieder aneinandergeraten will. Ich werde das Glück und die Macht der Sterne, von denen Sie sprechen, sehr wohl brauchen.« Shastri wandte sich schnell ab, als er die Tränen in Gopals Augen sah. »Statt dessen«, hörte er Gopal sagen, »trinke ich auf vielleicht Indiens letzte große Männer, denen ich noch begegnen werde.« Sobald sie draußen waren, bewegten sie sich im Schatten der Bäume. Sie kamen auf einen großen, offenen Platz vor einer großen Veranda, durch deren Geländer das Licht aus den Fenstern fiel. Sie beeilten sich, daran vorbeizukommen. Jedesmal, wenn sie wieder von einem Lichtschein getroffen wurden, hielt Shastri den Atem an. Doch sie wurden von den Wachen nicht entdeckt. Als sie sich an der Nordostecke des Geländes in den Schat-
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ten einer riesigen Baumkrone geflüchtet hatten, sah Shastri eine Frau, die aus einem der Fenster schaute. Er fragte sich, ob das wohl Ileana war. Ihr Ziel war ein altes Tor, das früher der Eingang für Lebensmittellieferanten gewesen war und später irgendwann mit Mörtel zugeschmiert wurde. Doch in der vorigen Nacht hatte Gopal den Mörtel zwischen Mauer und Türkante abgekratzt. Hinter der Mauer des Grundstücks, gut im Gebüsch verborgen, stand ein alter Renault R 10, Baujahr 69. Als sie sich dem Tor näherten, hörten sie die Bewegungen der Pfauen über sich. Wieder waren sie einer Entdeckung entgangen. Doch nur ein paar Minuten später griff eine Hand nach Shastris Arm. Gopal zog den Revolver, ließ ihn jedoch sinken, als er Ileana erkannte. Shastri forschte in ihren Augen und wandte dann den Blick schnell in die Schwärze der Nacht. Sie sagte nichts, streichelte nur liebevoll seinen Arm. Er wünschte, daß sie im Haus bei diesem lächerlichen Ved Addy geblieben wäre. Es war unfair und unrecht, solch einem Mann ihre Sympathie so offen gezeigt zu haben und ihm dann ausgerechnet in diesem Moment nachzukommen. Warum war sie nicht schon vorher zu ihm gekommen, wenn sie besorgt war? In dem Wunsch, sie zu verletzen, sagte er kühl: »Ich werde nicht in Paris sein.« Ileana nickte nur. Sie hörte nicht auf, ihn zu streicheln, und er wußte, daß sie sehr traurig war. Gerne hätte er gesagt: Jetzt weißt du wenigstens, was du verloren hast. Aber das tat er dann doch nicht. Er wollte das alles hinter sich lassen, kein Zeichen, nicht einen Schimmer von Zuneigung zu erkennen geben. Dies sollte ihr eine bittere Erinnerung bleiben. Plötzlich klang Addys Stimme durch das Gebüsch: »Ileana!
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Wo sind Sie, Ileana?« »Ich habe nicht …«, begann sie. Shastri hielt ihr den Mund zu, während Gopal den Revolver bereithielt. Da rührte sich Ajit Majumdar. Er ließ sich rückwärts fallen, war im Nu im Baumschatten verschwunden und kroch jetzt auf allen vieren auf die Stimme zu, die nicht aufhörte, Ileanas Namen zu rufen. Jedesmal, wenn der Ruf erklang, durchzuckte es ihn. Die Wachen könnten es hören und herbeigelaufen kommen. Man würde sie alle drei gefangennehmen, er würde wieder in das alte Gefängnis kommen, und das durfte nicht sein. Ajit Majumdar hatte während des Verhörs nachgedacht, hatte alles gegeneinander abgewogen, hatte jedes von Rama Shastris Argumenten genau bedacht. Und die Antwort, die er in all diesen Monaten nicht hatte wahrhaben wollen, war in seinem Bewußtsein wie eine plötzliche Morgendämmerung explodiert. Während er weiterkroch, zog er sich den Turban vom Kopf und wand ihn blitzschnell zu einer Schlinge. Ajit Majumdar dankte Mutter Kali, daß sie Shastri so mit Blindheit geschlagen hatte. Wie wunderbar war doch das Gewebe ihrer Täuschungen, in welchem sich ihre schlimmste Drohung verbarg. Nun mußte der Jäger Shastri Indien verlassen und mit ihm der falsche Geweihte. Nun würde die Regierung – in der Tat eine blinde Regierung – seine Brüder entlassen, weil sie glaubte, die Stunde der Thugs sei vorbei. Nun war es Ajit Majumdar, dem alles überlassen blieb. Jetzt war die Stunde angebrochen, zu der die Mutter alle Prophezeiungen, alle Träume erfüllen und ihnen allen, jeder Bande, beweisen würde, wie falsch ihre Entscheidung gewesen war. Nun würde sie ihn umarmen, den gleichen Majumdar, der ihr immer treu geblieben war, der bittere Prüfungen bestanden und als der Wahre erkannt worden war. Nun war er der Auserwählte. Doch zuerst mußte diese Stimme zum Schweigen gebracht werden. Majumdar kroch unter den Bäumen am Gebüsch ent-
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lang, blickte zu den flatternden, flügelschlagenden Pfauen hinauf, erhob sich, reckte sich am Stamm einer Palme empor und hielt den Schal wurfbereit. Der riesige Mann stand direkt vor ihm. Majumdar wartete, bis Ved Addy seinen Ruf beendet hatte, dann ließ er die Schlinge sausen. »Wo waren Sie denn?« fragte Gopal scharf, als Majumdar kurz darauf wieder zu ihnen trat. »Ich hatte Angst und habe mich versteckt.« »Na schön. Er hat jetzt aufgehört zu rufen. Rama, sollen wir gehen?« »Ich habe ihm nichts gesagt. Ich würde dich niemals hintergehen«, sagte Ileana. Shastri gab es auf und umarmte sie. »Ich weiß es«, erwiderte er. »Ich werde jetzt gehen und ihn von hier wegführen«, sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Shastri sah, wie sie sich umwandte und im Gebüsch verschwand. Sie fanden den Renault und verließen langsam das Gelände, als Shastri plötzlich bemerkte, daß Majumdar sich den Turban um den Kopf wand. Einen kurzen Augenblick lang streifte ihn ein Gedanke, doch die schlechte Straße, auf der sie entlangholperten, forderte seine ganze Konzentration. Er würde erleichtert sein, wenn sie Majumdar an den Außenbezirken von Kalkutta absetzen würden. Es war schlimm genug, ohne Ileana aus Indien fliehen zu müssen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, ob die Hände des Würgers Majumdar für immer ruhen würden.
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8 Beacon Hill, Boston Santha Wrench parkte ihren Volkswagen in der Brimmer Street, nahm ihre Kompaktpuderdose heraus und frischte ihr blasses Gesicht ein wenig auf. Sie wollte gut aussehen. George und Stephen Wrench warteten in der Wohnung in der Pinckney Street auf sie, und Santha war darauf bedacht, jedes Zeichen von Streß zu verbergen. Seit der zweiten Vision in Georges Wohnung hatte es Santha fertiggebracht, seinen Fragen erfolgreich auszuweichen. Manchmal waren ihre Antworten recht aggressiv ausgefallen. Inzwischen hatte sie Angst, daß er sich in absehbarer Zeit von ihr zurückziehen und daß sie ihn vollkommen verlieren würde. Seiner Meinung nach war Santha nach all dem Vorgefallenen psychisch gestört. Er hatte es zwar niemals direkt ausgesprochen, aber wie sollte ein erfahrener Psychiater sonst urteilen? Sie versuchte, sich in seine Lage zu versetzen, und fand es irgendwie verständlich. Doch sie fand es nur begrenzt verständlich. Die Inderin in ihr sah die Realität, sah, was, in anderen Dimensionen gesehen, normal war. Die westliche Psychiatrie schloß die Metaphysik und Mystik aus, es sei denn, man bezog die Theorien von Carl Jung und R. D. Laing ein. Es waren Wissenschaftler, die George Buchan nicht unbedingt vertraut waren. Das hatte er ihr gegenüber einmal geäußert, und damals war es ihr ziemlich einerlei gewesen. Doch jetzt nicht mehr. Santha mußte zugeben, daß ihre Auffassung von Psychiatern ziemlich voreingenommen, daß es einfach ein Abwehrmechanismus und 141
ihre mangelnde Bereitschaft, deren Theorien anzuerkennen, gewesen war. Das war schlicht und einfach auf ihre indische Abstammung zurückzuführen. Ihre Visionen waren nicht psychologisch zu erklären. Trotz Kamalas Auftauchen in dem letzten Trancezustand war Santha davon überzeugt, daß sie mit etwas in Verbindung stand, was man außerhalb klinischer Analysen zu suchen hatte. Sie schloß ihre Puderdose und machte sich bereit, aus dem Wagen zu steigen und in den strömenden Regen hinauszugehen. Während der letzten Stunde hatte der Sturm an Stärke zugenommen, und die Fahrt von Cambridge nach Boston war infolgedessen einigermaßen schwierig gewesen. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sie hatte ihr Büro später als gewöhnlich verlassen, durch den Versuch festgehalten, das Fragment der mysteriösen Schriftrolle zu übersetzen. Es war nicht einfach. Die Sanskritverben der Veden waren äußerst schwierig, ihr Sinngehalt extrem kompliziert. Santha hatte in der Harvards Widener-Bibliothek nach Wörterbüchern dieser Frühsprache gesucht, hatte aber nicht gewagt, mit irgend jemandem darüber zu sprechen, da sie mittlerweile das Gefühl hätte, ein Besitzrecht auf diese Rolle zu haben. Der Hinweis auf die »Grimmige Mutter« hatte Santha folgern lassen, daß hiermit Kali gemeint war, die auch gelegentlich Devi, Bhowani und Durga genannt wurde oder, noch schlimmer, Kunkali, die Menschenfresserin. Alle diese Namen erinnerten sie an die indische Frau in ihrer letzten Vision, die ihre Mutter mit einem schweren Gegenstand verletzt hatte. Dieser Gedanke ließ sie anhalten. Sie wunderte sich, warum sie darüber nicht entsetzt war. Statt dessen fühlte sie sich fast getröstet, daß ihr die geschichtliche Vergangenheit und der Ferne Osten so nahe waren, daß sich Indien ihr seit geraumer Zeit wieder genähert hatte und – ja, selbst Kunkali war ein Teil
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davon, so schrecklich sie auch war. Santha war immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß sie für eine große Aufgabe vorbereitet wurde. Diese psychischen Vorfälle waren vielleicht Teil einer Seelenübung, die von einer unbekannten Macht veranlaßt wurde. Es war mystisch, persönlich und privat. Vorläufig mußte sie auf das Ergebnis warten und nur ihrem Instinkt folgen. Santha verließ den Wagen, öffnete ihren Schirm und machte sich auf den Weg zur Pinckney Street. Ein scheußlicher Abend für ein Konzert, dachte sie. Wenn es nicht um den berühmten Nirmal Kapur ginge, würde sie es vorgezogen haben, heute nicht dorthin zu gehen. Santha bog in die Pinckney Street ein und beeilte sich, in das Eckhaus zu kommen. Sie schloß ihren Schirm und blickte auf die Straße hinaus. Der Wind war den Charles River entlanggekommen und blies jetzt über den Storrow Drive hinweg in die Markisen des Gebäudes. Es knatterte, als fiele Hagel hernieder. Santha hatte sich, nachdem sie ihre Kindheitsjahre in Indien zugebracht hatte, nie an den Winter in New England gewöhnen können. Selbst in der Wärme der Vorhalle zitterte sie vor Kälte. Ein Mann war im Begriff, durch die Eingangstür zu gehen. Santha wandte sich um und rief: »Halten Sie die Türe bitte fest«, rannte die Stufen hinauf und an ihm vorbei in die Vorhalle. Als sie die Stahltür des Aufzugs aufriß, wurde ihr erst klar, daß ihr Vater und George ja gar nicht wissen konnten, daß sie das Haus bereits betreten hatte. Da der Mann ihr die Tür aufgehalten hatte, war sie, ohne klingeln zu müssen, ins Haus gelangt. Der Aufzug hielt im nächsten Stockwerk. Santha machte sich auf den Weg zum Appartement ihres Vaters. Plötzlich blieb sie stehen. George und Daddy wissen nicht, daß ich schon da bin, dachte sie wieder, ich möchte aber wissen, worüber sie sprechen. Das letzte Stück des Korridors legte sie auf Zehen-
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spitzen zurück. Sie hatte den Ersatzwohnungsschlüssel, den sie vor Wochen gebraucht hatte, um nach ihrem Vater zu sehen, noch nicht zurückgegeben. Langsam und vorsichtig drehte sie den Schlüssel im Schloß herum und öffnete leise die Tür. Der Wohnungsflur war nicht beleuchtet. Sie hörte gedämpfte Stimmen. Wieder ging sie auf Zehenspitzen bis hin zur Wohnzimmertür. Und nun hörte sie klar und deutlich: »… nein, da gibt es keine medizinische Vorgeschichte«, sagte Stephen Wrench. »Keine Anfälle als Kind, keine epileptischen Zustände, keine Bewußtseinstrübungen, und Santha ist ganz bestimmt nie von etwas Ähnlichem wie Halluzinationen beeinflußt worden.« George hustete. »Ich begreife, daß es schwierig ist, das zu akzeptieren. Aber sie verhielt sich so, als sähe sie etwas im Zimmer. Sie wurde stocksteif und bewegte sich so, wie ich es Ihnen soeben beschrieben habe.« »Sagen Sie mir, was Sie davon halten, George. Sie sind der Experte. Kann das möglicherweise mit Kamalas Tod zusammenhängen?« »Das ist durchaus möglich, zumal es vor dem Tode Ihrer Frau keine derartigen Zwischenfälle gegeben hat.« »Ach, du lieber Himmel, und meine eigene schlechte Verfassung half ihr auch nicht weiter, nehme ich an. Sie hat versucht, sich zusammenzunehmen, weil es ja einer tun mußte. Sie hatte gar keine Zeit, wirklich zu trauern.« Wrenchs Stimme brach. »Sie glauben doch nicht, daß es irgend etwas Schlimmes ist?« »Die Frage kann ich noch nicht beantworten.« »Natürlich, mit diesen unzulänglichen Angaben. Um Himmels willen, Mann, Sie behandeln Schizophrene, die doch wohl immer Halluzinationen haben, oder? Können Sie nicht sagen, ob es dasselbe ist oder nicht? Könnte es nicht die ganz einfache Reaktion auf den Tod sein? Das wäre eine einleuchtende Erklä-
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rung.« »Ein Trauerzustand oder etwas Ähnliches, in dem eine Person etwas zu sehen glaubt, was in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist, ist durchaus keine einfache Reaktion.« »Aber Santha hat doch nicht zugegeben, daß sie etwas gesehen hat?« »Das brauchte sie gar nicht. Ihre Gesten und ihre Bewegungen sagten genügend darüber aus.« »Ach, du liebe Güte! Und wahrscheinlich hat sie immer abgewehrt, wenn Sie das Thema angeschnitten haben, oder? Na ja, Santha hat ihr persönliches Umfeld immer gegen andere abgeschirmt, George, besonders ihr Innenleben. In Indien ist das Seelenleben eines Menschen etwas Geheiligtes. Santha ist zwar christlich getauft worden, aber ihre Wurzeln sind indisch, daran müssen Sie denken. Das liegt an ihren Genen. Ich glaube, daß Santha das, was Sie Halluzinationen nennen, einfach anders interpretiert.« Eine kleine Pause trat ein: »Können Sie das erläutern?« »Gewiß. In Indien glaubt man an Visionen als an eine Bewußtseinserweiterung. Ich weiß nicht, ob Sie so etwas kennen.« »Doch, das kenne ich. Aber ich glaube nicht, daß das, was Santha zustieß, das gleiche war.« »Sie haben es eine tranceähnlichen Zustand genannt. Ich sah in Benares einen Sadhu, der in eine meditative Trance verfallen war, die drei Tage anhielt. Seine Jünger mußten ihn, so gut es ging, füttern. Ich wette, etwas Ähnliches haben Sie hier noch nie gesehen.« »Ich habe nur darüber gelesen. Genügend, um in der Lage zu sein, zwischen dem, was Sie schildern, und einem katatonischen Zustand zu unterscheiden. Glauben Sie mir, was mit Santha geschah, war anders. Ihr Blick löste sich während der ganzen Zeit nicht von der Wand meines Zimmers. Am Anfang
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schien sie sich wohl zu fühlen, sie machte sogar den Versuch zu tanzen. Später wand sie sich und wich zurück. Sie machte abwehrende Bewegungen mit der Hand, so als versuche sie, jemanden wegzuschieben. Das Ganze dauerte etwa drei Minuten. Und es begann so abrupt …« George schwieg für eine Weile. Santha wurde ungeduldig und wollte sich gerade zurückziehen, als er sagte: »Ihr persönliches Erstarren und ihre ebenso unmittelbare Rückkehr zu einem normalen Verhalten ist einigen Fällen ähnlich, die ich kennengelernt habe. Sollte es Schizophrenie sein, so paßt Santhas Alter nicht zu dem, was die Statistiken sagen. Bei Frauen bricht Schizophrenie besonders häufig zwischen fünfundzwanzig und vierunddreißig Jahren aus. Es wäre voreilig, aus dem, was wir wissen, Schlußfolgerungen zu ziehen. Außerdem hat sie keine anderen Schizophreniesymptome, keinen Wechsel in ihren Affekten, keine Wahnideen, keine Depressionen, und sie vernachlässigt ihr Äußeres nicht. Dies sind die charakteristischen Merkmale beim Spaltungsirreseins. Und ich habe auch nie festgestellt, daß sie Stimmen hört. Was immer es auch ist, es ist verdammt ernst zu nehmen. Ein Trancezustand wie der letzte kann jederzeit und überall eintreten. Nehmen Sie bloß mal an, sie sitzt am Steuer ihres Wagens …« Vorsichtig und geräuschlos schlich Santha den Flur zurück. Sie schloß leise die Tür, hörte wieder das leise Klicken des einschnappenden Sicherheitsschlosses. In ihrem Kopf hämmerte es. George war brutal und kalt, wie konnte er so klinisch über ihren Zustand reden. Sie dachte an die zärtlichen Augenblicke, die sie miteinander verbracht hatten. George war eben ein Arzt der Psychiatrie, erinnerte sie sich, wie sollte er das Vorgefallene sonst deuten? Der Himmelhund könnte mir wenigstens die Chance eines Zweifels geben, dachte sie und wäre am liebsten in die Lime Street zurückgegangen.
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Sie entschied sich jedoch für ihr Erscheinen. Geräuschvoller als sonst steckte sie den Schlüssel ins Schlüsselloch, betrat das Appartement und rief: »Hallo, hier bin ich. Tut mir leid, daß ich so spät dran bin.« Dann eilte sie ins Bad, um Regenmantel und Überschuhe auszuziehen. Ein paar Minuten später stand sie ihnen im Wohnzimmer gegenüber. Stephen Wrench lehnte am Kamin und zündete sich seine Pfeife an. »Es stehen Garnelen im Backofen«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. »Am besten ist, wenn du sie gleich ißt. Wir haben nicht viel Zeit.« Der Duft von Wrenchs Kochkünsten hob ihre Laune. Die Garnelen schmeckten himmlisch. Santha lächelte besonders darüber, daß er sich nebenan laut über die Patrioten New Englands ausließ. Stephen, der internationale Polizeibeamte, war von jeher ein guter Schauspieler gewesen, dachte sie amüsiert. Nun wollen wir mal sehen, wie gut George das kann. Wieder im Wohnzimmer, betrachtete Santha beide genauer. Sie setzte sich hin, stellte den Teller mit Garnelen auf den Tisch, goß sich Tee ein und konzentrierte sich zuerst einmal auf Stephen Wrench. Der unrasierte, blasse Mann, der, in seinen Bademantel gehüllt, in irgendeiner dunklen Ecke herumhockte, war verschwunden. Das allein zählte, Stephen Wrench war wieder gegenwärtig. Dort stand er, in eine Wolke von Pfeifenrauch gehüllt, gepflegt, mit knapper Weste, messerscharfen Bügelfalten und gestärktem, weißem Hemd, eleganter grauer Krawatte zum gutsitzenden schwarzen Anzug. Seine besten Manschettenknöpfe glitzerten, und seine schwarzen Schuhe glänzten. Warum auch nicht? Ganz, als hätte er sich entsprechend der alten Kolonialgepflogenheiten zum Dinner umgezogen, so wie es damals in Indien immer üblich gewesen war. Es war wundervoll gewesen, wenn er in jenen Tagen nach Hause kam. Er war so oft mit Onkel Ram auf geheimnisvollen
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Reisen gewesen. Es war wunderbar, wenn er zurückkam und dann, wie jetzt, vor dem Kamin stand, rauchend und mit seinen Gedanken beschäftigt. Damals war sie klein und er so groß und so beeindruckend gewesen, durch das, was er war und das, was er tat. Es schien, als hätte er Gefahr und Abenteuer, all diese wundervollen Dinge, eingeatmet, um sie, wenn er zurückkam, wieder auszuatmen. So war allein die Luft um ihn herum aufregend. Und immer war er zum Dinner so angezogen wie heute abend. Aufsehenerregender und wirkungsvoller als jeder Maharadscha mit Juwelen, Turban und vergoldetem Elefantensattel, oder wie die geiergesichtigen Afghanen, die durch die Torbögen von Peshawar schlenderten, oder als diese phantastischen, riesigen Sikhs, von denen sie damals glaubte, daß sie indische Märchengeister seien. Aber das Aufregendste war, daß es ihr Daddy war und niemand sonst. »Hast du wieder Überstunden wegen deines Katalogs machen müssen?« fragte er. Santha nickte. »Er ist jetzt aber fast fertig.« Ganz beiläufig wandte sie sich George zu, der zusammenfuhr. Gut, dachte Santha, mein Doktor-Liebster hat gerade seine unbewegliche Miene verloren. »Es wird eine große Ausstellung, vorwiegend mit Artefakten aus der Mohenjo-Daro-Gegend sein. Sie werden hier zum ersten Mal gezeigt. Außerdem war die Autofahrt hierher mühsam. Draußen ist fast Monsunwetter. Daddy.« Santha warf George einen Kuß zu und beobachtete, wie er errötete. Sie streckte ihre Hand aus und drückte die seine: »Alles in Ordnung, Liebling?« »Ja«, erwiderte George. »Mr. Wrench und ich haben uns über indische Musik unterhalten und …« »Fußball!« Sie mußte lachen. George haßte Fußball. »Du, nenn Daddy doch Steve, George. Er hat bestimmt nichts dage-
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gen.« »Das stimmt«, bestätigte Wrench und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sobald du mit dem Essen fertig bist, Santha, müssen wir gehen.« Santha konnte kaum begreifen, daß ihr Vater es eilig hatte, Daddy, der anfangs gegrollt hatte, er hätte sein Leben lang genug Sitarmusik gehört, und der gewöhnlich Rockmusik verabscheute und nur die Achseln zuckte, wenn Santha zu erklären versuchte, daß Nirmals Kompositionen eine Synthese aus verschiedenen Musikepochen seien, einiges östlich, einiges modern, selbst etwas von J. S. Bach könne man da heraushören. »Es ist die ungewöhnlichste Musik, die du je gehört hast«, hatte sie behauptet und das Album Kapur Nights aufgelegt, damit er besser verstünde, was sie meinte. Santha hatte daraufhin vermutet, daß es ihm besser gefiel, als er zugeben wollte, und als er hörte, daß dies ein Wohltätigkeitskonzert für die hungernde Bangladesh-Bevölkerung war, hatte er sich bereit erklärt, mitzugehen. Der alte Schwindler, dachte sie amüsiert. Wrench sollte ruhig bei seiner Meinung, daß er ein unverbesserlicher Konservativer sei, bleiben. Sie war davon überzeugt, daß er sein eigenes Spiel nicht durchschaute. Nun ja, als sie in den sechziger Jahren nach Amerika kamen, hatte ihr Vater die neue liberale Welle zuerst einmal abgelehnt, aber das war nur der schwelende Rest britischer Lebensauffassung über das, was sich gehörte und was sich nicht gehörte. So, wie sie es sah, litt er an der seltsamen Mischung aus altem britischem Ehrenkodex und Yankee-Puritanismus. Dahinter versteckte sich sein Sinn für Liberalität, der immer dann zum Ausbruch kam, wenn es erforderlich wurde. Dann und nur dann machte sich der unvermutete, unentdeckte Liberale in Stephen Wrench bemerkbar, der notfalls alle Schranken zwischen den Menschen niederriß. Deshalb hing er auch so an seinem Freund Rama Shastri,
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deshalb war er auch so auf die Erneuerung dieser Freundschaft versessen. Da Parkplätze so selten wie Perlen in einer verschmutzten Auster waren, entschlossen sie sich, zu Fuß zu der Konzerthalle auf dem Beacon Hill zu gehen. So schritten sie im strömenden Regen dahin, den Wind vom Charles River im Rücken. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, waren sie von Kopf bis Fuß durchnäßt. Aber zu Santhas Freude schien dies ihren Vater nicht zu stören. Er beschwerte sich nicht einmal, sondern marschierte in den Konzertsaal, während er George eingehend erklärte, was eine Saptak in der indischen Musik bedeute. »Ich liebe dich«, sagte George, als Wrench für einen Augenblick verschwand. Das kam so unerwartet, daß Santha nur noch stammelnd erwidern konnte: »Ich dich auch, George!« Er zögerte, und dann fragte er: »Ist alles in Ordnung?« »Bitte, verdirb den Abend nicht!« warnte sie. »Ich mußte fragen, Santha«, sagte er unerschütterlich, »ich mußte.« »Verdirb die Stimmung nicht, Liebster, bitte nicht heute abend!« George nahm ihren Arm, und sie gingen zu ihren Sitzen. Santha konnte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Leute und auf die Bühne richten. Die unverwechselbaren BostonCambridge-Studenten in Jeans und Latzhosen waren zugegen; andere waren im dunklen Anzug da und auch ältere Besucher aus der Generation ihres Vaters, die nicht soviel davon zu verstehen schienen. Es müßte ihm den Konzertbesuch eigentlich erleichtern, dachte sie, daß so viele gesetzte Herrschaften aus den »Wilden Zwanzigern« anwesend waren. Santhas Blick blieb auf einem kleinen Hindu mit Turban haften, der drei Reihen hinter ihr auf der linken Seite saß. Er schaute in ihre Richtung, so daß sie nach einer Weile anneh-
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men mußte, daß sie seine Aufmerksamkeit erregte. Es war zwar nicht ganz genau ersichtlich, aber er hielt den Kopf seitwärts gerichtet, was den Eindruck erweckte, daß er sich mit der Architektur des Raumes beschäftigte. Aber immer wieder huschten die kleinen, kaum sichtbaren Augen in dem affenähnlichen Gesicht zu ihr herüber. Allmählich wurde es ihr unbehaglich, und sie wandte sich ab. Das Licht wurde gedämpfter. Wrench, der George gerade einen Vortrag darüber gehalten hatte, wie stark die Kompositionen von Holst und Roussel von östlicher Musik beeinflußt wären, verfiel in Schweigen. Draußen wurde es vollends dunkel. Santha schaute schnell noch einmal zu dem kleinen Hindu hinüber und dachte, während der Vorhang aufging, was für ein kluges, altes Gesicht er doch trotz seiner Häßlichkeit hatte. Und so ein beeindruckender Turban aus blauem Satin mit eingewebtem Goldrand! Die kleine Bühne wurde durch Strobolight erhellt. Es tat in den Augen weh. Das Schlagzeug dröhnte, das Licht wurde sehr hell, und in der Mitte der Bühne saß mit gekreuzten Beinen ein großer Schwarzer im offenen Hemd und Kordhosen. Mit Fingern und Handflächen trommelte er auf zwei beidseitig vor ihm stehende Tabla-Trommeln. Hinter ihm saß Nirmal mit seiner Sitar und hinter den beiden Spielern noch ein kleines Mädchen, das nicht älter als zehn Jahre war. Sie thronte auf einem Hocker vor einem riesigen Synthesizer. Als das Publikum Nirmal sah, begann es zu klatschen. Nirmal neigte den Kopf mit den glatten schwarzen Haarsträhnen zu seinem Auditorium oder zu einem unbekannten Gott der Musik. Die Sitartöne summten zart, sich wiederholend und alles aufgreifend, was die Trommeln an Rhythmen heraufbeschworen. Ganz allmählich, unerwartet, während das Summen der Sai-
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ten lauter und lauter wurde, wichen die Schlagzeugrhythmen zurück und verlangsamten sich. Mit einem Ruck zog das Kind einen Knopf an der unteren Tastatur des Synthesizers, und ein lautes blaaam, halb Echoruf, halb Kontrabaß, prallte als Dissonanz gegen die Wände des Saales. Wieder und wieder zog das Kind, die Dissonanz verstärkte sich und tat in den Ohren weh, während die Sitar rasend dröhnte. Dann Stille, Flüstern und Dämmerlicht, Nirmal stand da, sein Instrument in den Händen. Das Schlagzeug fuhr fort, das Kind blieb still. Nirmal, schlank, mit weichem, zartem Profil, spielte Rock. Das Strobolight flammte wieder auf. Das Kind zog weitere Knöpfe, drückte auf Pedale. Die hochgezogenen Töne, ein Zwischending zwischen Orgel und Elektronik, füllten die eingetretenen musikalischen Pausen. Das Timing war hervorragend, ihr Spiel ungestüm, und die Zuhörer applaudierten dem Kind begeistert. Eine Stunde und vierzig Minuten lang spielten sie ohne Unterbrechung. Das Motto des Konzerts stand zuoberst auf dem Programm: »Nirmals Erwachen«. Der Widerstreit zwischen Ost und West war aus jedem Ton herauszuhören, an einer Stelle besonders deutlich. Beide, Nirmal und sein schwarzer Begleiter, Billy Dangerfield, standen im Scheinwerferlicht und spielten eine Folge Sitarmusik, die Kapur schon zuvor auf einer Platte verewigt hatte. Es war wie ein Gespräch zwischen den Instrumenten Sitar und Gitarre, das zunehmend heftiger wurde. Es war eine große lautstarke Auseinandersetzung. Nirmal in seinem gestickten, bunten, flatternden Gewand gab das Motiv an. Auf seinem olivfarbenen, schmalen Mädchengesicht lag ein kleines Lächeln. Seine Brust war haarlos und glatt. Er bewegte sich im Takt über die Bühne und schüttelte die schwarzen, glatten Haare in den Nacken. Dangerfield antwortete, indem er das Motiv aufnahm und durch Improvisationen, die die Zuhörer begeisterten, weiterspann. Es war immer noch Rock, den alle
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kannten, und dennoch die sich durchsetzende eigene Stimme eines jeden der Spieler, welche die Akkorde zu frischeren, unerwarteten Höhepunkten brachten. Santha drehte sich zur Seite und beobachtete das Flimmern des Strobolight, das über die Gesichter der beiden Männer zuckte. Das Licht, das über die Profile von George und Stephen tanzte, verwischte die Gesichtszüge etwas und machte sie unklar. Doch sie glaubte, daß Wrench belustigt aussah. Dann erinnerte sie sich des Hindu, drehte sich um und begegnete wieder dem Blick der kleinen Augen. Sie lächelte fröhlich: Genieße es, seltsamer Affenmann, was immer du auch zu ergründen versuchst. Nichts, weder er noch irgend etwas anderes konnten sie aus der Fassung bringen. Sie wagte zu hoffen, daß von irgendwoher der Befehl gekommen war, die Visionen nicht mehr zuzulassen. Sie war frei. Das Ende des Konzerts war gleichzeitig der Gipfelpunkt für das kleine Mädchen. Sie stand, um an die obere Tastatur heranreichen zu können, und spielte Bach. Durch ihre Musik strömte die große musikalische Vergangenheit. Schließlich erstarb die Orgel zu einem Flüstern, und nur noch Nirmals begnadete Finger liebkosten die Saiten der Sitar. Auch diese Töne verklangen, die zwölf Hauptnoten der Saptak wurden leiser und fielen sacht wie Blütenblätter und melodische Perlen an einer Schnur hernieder. Stille. Eine dunkler werdende Bühne, drei geneigte Köpfe. Die Konzerthalle schien infolge des Applauses zu explodieren. Die Zuhörer standen auf, klatschten und klatschten. Nur der Hindu unterließ es. Santha sah, wie er sich den Weg zum Ausgang bahnte. Später, als sie alle in der Vorhalle standen, fühlte sie die neugewonnene Freiheit, die sie durchflutete. Mit gefaltetem Programm wartete sie auf Nirmal Kapur und seine Mitspieler, um ein Autogramm zu erbitten.
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Hinter der Bühne erklärte Nirmal Billy Dangerfield und dem Kind, daß er sich durch eine vorsorglich aufgehaltene Hintertür davonmachen würde. »Nicht schon wieder, Mann!« schrie Billy Dangerfield. »Jetzt willst du schon wieder abhauen. Was ist denn los mit dir, Menschenskind? Immer müssen Esmeralda und ich uns den Leuten stellen. Wenn sie Groupies wären, würde ich es ja noch einsehen. Aber zum Kuckuck, das ist die Öffentlichkeit. Leute, die Brahms von moderner Musik unterscheiden können! Kapierst du das?« »Ja, ich verstehe sehr wohl. Aber Baba ist nun einmal mein Gottesgeschenk. Er hat mich vom Koks und allem anderen weggebracht. Möchtest du, daß es wieder wie früher ist, als ich mit dem Zeug so randvoll war, daß ich nicht mehr Dur von Moll unterscheiden konnte?« Er beugte sich herab, umarmte Esmeralda. »Und ihr macht’s außerdem nichts aus, sich den Leuten zu zeigen, nicht wahr, Herzchen? Überlaß es nur ihr, wie du es ja für gewöhnlich auch tust.« »Ja, das stimmt allerdings. Sie nimmt jedesmal ein Bad in der Menge und genießt die Bewunderung wie warmen Regen.« Billy hob Esmeralda hoch und setzte sie sich auf die Schultern. Sie kraulte seine Haare und küßte ihn auf den Kopf. »Los, eifersüchtiger Kerl. Beweg deinen schwarzen Hintern. Unser Publikum wartet.« Nirmal fand Baba Hanuman, der an der rückwärtigen Treppe auf ihn wartete. Er stand dort und beobachtete eine Ratte zwischen den Mülleimern, die eine Sekunde im Licht der Beleuchtung über dem Torbogen auftauchte. »Baba-Meister«, sagte Nirmal, »was sagt dir dieses Geschöpf?« Der kleine Mann rückte seinen Turban zurecht und meinte: »Nichts weiter, als daß es eine hungrige Ratte ist.« Nirmal lachte. »Hat dir das Konzert gefallen, lieber Baba?«
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»Du hast eine sprühende Seele, mein Sohn. Alle Hoffnung auf deine vielleicht allmählich beginnende Gelassenheit sind gleich beim ersten Akkord deiner Sitar dahin.« Nirmal, mittlerweile die Treppe hinuntergestiegen, steckte seine Hände tief in die Taschen seines Regenmantels: »Ich komponiere doch nur, was ich empfinde. Anders kann ich nicht.« Der alte Mann lachte: »Du bist zu sehr auf der Suche«, sagte er freundlich. »Du kommst zu mir, um den Pfad zu suchen. Meister, weißt du, als junger Mann in Indien habe ich die ganze lange Reihe der Sadhus, denen ich überall begegnet bin, verhöhnt. Doch nun begreife ich die Bedeutung ihres Weges. Lehre mich das, damit auch ich meinen Frieden finde. Und dann, wenn ich das versuche, zögerst du, gehst jeder Veränderung in dieser Richtung aus dem Weg und kämpfst um das Recht, so fühlen zu dürfen, wie du nun einmal fühlst. Diese Gefühle, erklärst du mir, sind der Stoff, aus dem deine Kompositionen entstehen, sind die zwei Seelen in deiner Brust. Und darum frage ich dich: Warum brauchst du überhaupt einen Lehrer? Kann ein Lehrer wie ein Gott eine Flutwelle oder eine Lawine zurückhalten?« Nirmal wünschte insgeheim, daß Baba Hanuman weitergehen möge, doch das tat er nicht. Es hatte zu regnen aufgehört, und das Gäßchen war naßkalt, feucht und schlecht beleuchtet. Nirmal wartete respektvoll ab, bis sich der Swami in Bewegung setzte, dieser Mann, der für ihn gleichzeitig Vater und Mutter und auch Schicksal war. Hanuman hatte ihn vor zwei Jahren aufgelesen und dafür gesorgt, daß er allmählich von den Drogen wegkam. Hanuman hatte ihn in gewisser Weise von einem lebendigen Tod zurückgerissen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tat, ohne ihm, Nirmal, Unbehagen zu bereiten, war für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen. Für Swami Hanuman war der Weg zu Gott weder asketisch noch hart. Er war
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kein Guru, der sein Gesicht mit Asche bedeckte. Der Weg konnte zwar nur über Disziplin erreicht werden, das war wohl wahr, aber nur, wenn es freiwillig ging und insofern jeder Schritt wie etwas ganz Natürliches leichtfiel. Jeder Schritt war eine logische Folge des vorangegangenen. Man wuchs wie ein Baum. Zuerst der Stamm und dann die Äste, aber nur mit der Zeit und mit der Methode, welche die eigene Bereitwilligkeit gebot. »Nun«, meinte der Swami und kräuselte die Nase, als ob ihn der Gestank des Gäßchens beleidigte. Aber in Wahrheit war dies nur, wie Nirmal wußte, eine Geste, etwas, was auch der Affengott getan haben würde, und Hanuman hatte seinen Namen angenommen. »Lerne diese Lektion bitte für dich und für mich: Leben ist nur köstlich, aufregend und der Erinnerung wert, wenn wir entweder mit dem absolut Hellen und dem Leuchten der Dinge, die unseren Geist anregen, konfrontiert werden, oder – und das merke dir bitte vor allem – wenn die Dunkelheit kommt, in allen Ecken brütet und alles ringsum wolkenverhangen ist. Dann erlebt die Welt das Stirnrunzeln des Bösen. Nur so, entweder im Licht oder in der Dunkelheit, in ihrem jeweiligen Extrem, sind wir unser selbst bewußt.« »Heute abend sind Sie aber sehr anspruchsvoll«, meinte Nirmal und bemerkte mit Erleichterung, daß sich Hanuman endlich in Bewegung setzte. In so einem schlecht beleuchteten, schmalen Gäßchen konnte alles mögliche passieren. Er steckte sein Kinn tief in den Mantelkragen. Dies war ohnehin eine recht merkwürdige Gegend, außerdem war es verdammt kalt geworden, und erst vor kurzem hatte er den herabfallenden Regen noch als angenehm empfunden. Nirmal marschierte in schnellem Tempo los, in der Hoffnung, Hanuman würde sich gleichfalls beeilen. Etwas fuhr gegen seinen Rücken, so daß er stehenblieb, um sich dagegen zu stemmen. Heiliger Krishna!
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Das war ja wie ein kleiner Hurrikan! Fast wäre er über einen zerrissenen Karton mit gestapelten Zeitungen gefallen. Es war plötzlich eine andere Art von Kälte, die ihm das Rückgrat hinaufkroch – das Zeitungspapier bewegte sich nämlich nicht, nicht ein Blatt hob sich im Windzug, nicht einmal die Ecke eines Blattes! »Lassen Sie uns schnell zu meinem Wagen laufen, Baba«, sagte er und schaute rückwärts das Gäßchen hinunter. Der Wind nahm zu. Nirmal lief mit einer Art Tanzschritt, rückwärts gegen den Wind gestemmt. Dann bemerkte er, daß der Swami gleichfalls stehengeblieben war und auch über die Schulter zurücksah. »Hast du das hübsche indische Mädchen im Publikum gesehen?« »Ich sehe nie über die Bühnenbeleuchtung hinaus«, entgegnete Nirmal, vor Kälte zitternd und gegen den Wind antanzend. »Dieser Wind ist furchtbar, Baba. Frieren Sie nicht?« »Es war eine Inderin, ich weiß es«, sagte Hanuman überzeugt. »Können wir nicht schneller gehen?« bat sein Schüler und stampfte vor Kälte mit den Füßen. »Dieser Wind geht mir durch und durch, Baba.« »Die Meister des Zen lehren, daß man dem Wind zuhören soll, mein Sohn. Also, was für ein Wind wehte nach Amerika, und was will er uns sagen?« »Bei der Mutter aller Dinge, lassen Sie uns jetzt endlich zum Wagen gehen, Baba!« »Ja … eine Mutter … also gehen wir.« Nirmal nickte erleichtert. Er tat einen Schritt vorwärts, hörte ein Geräusch, wandte sich wieder um. Das Gäßchen war hier noch dunkler. Die Türbeleuchtung über dem Bühnenausgang war von hier aus kaum noch zu erkennen. Regen stürzte aus einer Dachrinne plätschernd auf die Straße und auf die Deckel
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der Mülleimer. Ein Krachen. Einer dieser Deckel war zweifellos von einer Ratte in Bewegung gesetzt worden. Es rasselte und klapperte. Nein! Das war etwas anderes, dachte Nirmal. Das war etwas, was er schon einmal vor Jahren gehört hatte, ein vertrautes Geräusch, wie … Schritte. Nirmal eilte dem Ausgang des Gäßchens zu, als er Hanuman ein langgezogenes »Aaaaah!« ausstoßen hörte. Zuerst dachte Nirmal, daß der Swami krank sei. Doch nun hörte er wieder einen langgezogenen Laut, der wie aus der Tiefe eines Schachts zu kommen schien. Vielleicht war es Nirmal selbst, der schrie? Er wußte es nicht, bemerkte nur, daß seine Lippen zitterten. Als er wieder atmen konnte, fand er sich flach gegen eine Wand gedrückt. Irgendeine Kraft! Eine Macht, eine Explosion oder … was? Und die Leuchtbuchstaben des Gästehauses auf der anderen Straßenseite blinkten rot, ein Neonrechteck, das im Takt zu seinen jagenden Gedanken zuckte. Die Helligkeit tat seinen Augen weh, sie wurde immer greller, wurde zu einer sich ausdehnenden gelben und orangefarbenen Explosion, dann zu einem blendenden Rot, zu einem immer größer werdenden Lichtfleck auf der gegenüberliegenden Hausfassade. Es war eines dieser alten Häuser in dem ärmeren Bezirk von Beacon Hill, die sich eines an das andere drängten. Diese Feuertreppen … trapp, trapp, trapp … FEUER! FEUER! Der Gedanke nahm Gestalt an. Nirmal konnte es nicht glauben. Das Holz war schon im Begriff zu Asche zu werden. Rauch quoll wie etwas verzweifelt Ausgehustetes hervor. »Baba!« schrie Nirmal, »Baba, wo sind Sie?« Dicht an seinem Ohr: »Behalte die Ruhe, mein Sohn! Halt dich an meinem Ärmel fest!« Nirmal tat es und versuchte verzweifelt, etwas in der Dunkelheit außerhalb des Feuerkreises zu erkennen. Sie wurden von Rauch eingehüllt, während sie sich an der Hauswand, gegenüber dem Brande, entlangbeweg-
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ten. War ein Boiler oder ein Ofen in dem alten Haus explodiert? überlegte Nirmal. Was war die Ursache dafür, daß er plötzlich weggeschleudert worden war? Obwohl er versuchte, rationell zu denken, löste die Erinnerung an das, was ihm gefolgt war, Angst in ihm aus. Unvorstellbare Kälte drang ihm bis ins Mark. Nirmal fühlte ein heftiges Zerren und fiel der Länge nach vornüber aus dem Gäßchen auf die Straße heraus. Hanuman hatte ihn nicht losgelassen, zog ihn weiter mit sich fort. Die Flammen leckten und bildeten schwarze und rote Fahnen, die über die Straße wehten. Nirmal, immer noch am Ärmel des Swamis hängend, stolperte über das Pflaster und fand sich plötzlich auf den Fersen hockend im dunklen Rinnstein zwischen parkenden Wagen wieder. Sirenen, gellend und alles andere übertönend, brachen den unheimlichen Zauber. Die Feuerwehrwagen entzogen mit ihren riesigen Schatten die Flammen der Sicht. Nirmal stand noch taumelnd vor der unbekannten Bedrohung da, blickte die Straße hinunter und betete innerlich, daß die Konzertbesucher in Sicherheit waren. Das waren sie, wie er bald feststellte. Er hörte Billy und Esmeralda von weitem seinen Namen rufen. »Baba«, sagte er, nach Atem ringend, »mein Verstand wehrt sich dagegen, aber mein Instinkt sagt mir, daß wir einem Angriff entgangen sind. Was war dort hinten im Gäßchen los?« »Du kannst dir sicher sein, es war etwas Indisches.« Hanumans Stimme klang beruhigend, wie die eines Vaters, der mit seinem Kinde spricht. »Macht das irgend etwas besser, Baba?« rief Nirmal ungeduldig aus. »Nein, mein Sohn. Vielleicht sogar schlechter, aber zumindest ist es vertraut.«
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ZWEITER TEIL
Dima Düsternis und Verhängnis
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9 Pisgah Tract, New Hampshire/Boston Die langgestreckte Limousine fuhr mit herabgesetztem Tempo durch die kühle Nacht New Hampshires. Die alte Sandstraße wurde kaum noch benutzt. Wildes Gestrüpp auf beiden Straßenseiten zwang den Fahrer zur Vorsicht. Sie waren dicht an der Grenze zu der Gegend, die einmal der berühmte Pisgah Tract gewesen und durch den Hurrikan im Jahre 1938 fast völlig verwüstet worden war. Hier gab es noch eine Art Urwald. Duane Longstreet erkannte echte Schierlingstannen und Eichen, die im Lichte der Scheinwerfer wie hochragende Phantome aussahen. Nur einige Meter von ihnen entfernt erweiterte sich die Straße und führte zu einer steilen Anhöhe, wo Toby, der alte Einsiedler, hauste. Duane kannte diese Gegend sehr gut. »Toby war früher Förster«, erklärte er hinter seinem Lenkrad. »Als er pensioniert wurde, ließ er sich hier, am Fuße des Mount Pisgah, nieder. Sie werden sehen, er hat hier ein paar Schweine, ein paar Schafe, hält sich Hühner und eine Ziege.« Den nächsten Satz würgte er fast heraus: »Und sogar zwei Hunde.« »Die Hunde werden ihn warnen«, meinte Chundra Bala. Vom Rücksitz des Wagens her erklang die beruhigende Stimme des Erwählten: »Duane wird als erster aussteigen. Der Mann und die Hunde kennen Duane. Sobald der Mann abgelenkt ist, kann Makunda ihn von hinten erledigen. Bidhan, ich erwarte, daß du kräftig und geschickt genug bist, um die Hunde zu töten. Bei ihnen verwendest du natürlich nicht die Schlinge, 161
sondern das Messer. Das ist schnell und gründlich. Das Blut eines Tieres zu vergießen ist uns nicht verboten.« Duane schluckte. Er war Tierarzt, und der Gedanke an das, was er tun sollte, erregte ihn maßlos. Erst heuchlerisch beruhigen, dann Tiere töten und das Blut in eine indische Wasserkanne rinnen lassen, das alles wurde ihm jetzt erst richtig bewußt. Aber der Erwählte hatte ihm geistige Belohnung versprochen, Befreiung von der schrecklichen Qual in ihm. Ein tiefes Seufzen vom hinteren Sitz unterbrach seine Gedanken. Chundra, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, schaute besorgt über die Schulter. Zwischen den drei Männern auf dem Rücksitz saß eine Frau. Duane stellte fest, daß sich die Straße schon an der nächsten Kurve erweitern würde, und drückte aufs Gaspedal. Das Blut war für sie, deshalb mußte er sich beeilen! Mit einem Satz schoß der Wagen auf die Lichtung hinaus, fegte in eine Mulde, zog mit einem lauten Röhren wieder an und fuhr über die grasbestandene Lichtung hinüber zu der Hütte, wohin das Kieferngehölz von den Bergen herabreichte. Zwei Hunde schossen aus der Dunkelheit. Ihr Knurren war weithin zu hören. Duane hielt vor dem Brunnen in der Nähe der Ställe. Wieder und wieder sprangen die Hunde gegen die Wagenfenster und bellten aus Leibeskräften. In der Hütte ging das Licht an. Eine Tür knallte. »Denke daran, daß du dieser Frau helfen mußt«, sagte der Erwählte. »Du weißt, was sie zu leiden hat, indem sie uns dient. Durch sie konntest du die Mutter sehen. Also mach nichts falsch!« Eine mürrische Stimme rief: »Wer ist denn da?« Im Licht, das über der Tür hing, stand ein älterer bärtiger Mann mit einem Gewehr in der Hand. Duane drehte das Wagenfenster etwas herunter und rief laut
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über die Hunde hinweg: »Ich bin’s, Mr. Toby, Duane Longstreet, der Tierarzt aus Winchester.« »Ach, Sie sind’s, Duane. Ist das Ihr Schlachtschiff? Na, steigen Sie aus, dann reden wir miteinander.« »Die Hunde, Mr. Toby!« »Na klar. Charly, Bruno! Hört auf, ihr Viecher, verflixt noch mal!« Die Hunde, ein Dobermann und ein Collie-Schäferhund, zogen sich in den Schatten zurück. Zur gleichen Zeit hörte Duane die hintere Autotür klicken. Dann stieg er aus. Hinter ihm war, auf den Fersen hockend, Makunda. Duane schloß die Tür und trat vor den Wagen. Hinter dem Lichtkreis der Scheinwerfer schlich Makunda. Das wußte er. »Ich dachte mir, ich komm’ mal vorbei, um einen kleinen Besuch zu machen, Mr. Toby.« Duane streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe Freunde mitgebracht.« Der Alte reagierte mißmutig: »Lieber nicht. Sie wissen doch, daß ich nicht sehr unterhaltsam bin. Das ist nicht mein Fall.« »Ich habe gedacht, daß wir uns über Ihr Leben hier in der Wildnis unterhalten«, fuhr Duane unbeeindruckt fort. Er wünschte, Makunda würde es endlich beenden, verdammt noch mal! »Erinnern Sie sich, wie prächtig wir uns über das Wildvorkommen in dieser Gegend unterhalten haben? Sie hatten einige komische Waschbärgeschichten auf Lager …« Toby lachte: »Ach, diese Viecher –« Doch dann besann er sich. »Tut mir leid, Duane, ich bin heute abend nicht in der Stimmung, Leute zu unterhalten.« Duane sah, wie sich ein Arm aus dem Dunkel nach vorne bog; der Dobermann Bruno sah es auch. Die zweite Wagentür flog auf. Duane fuhr zurück, spürte, wie Bruno zum Sprung ansetzte. Der Arm war jetzt gestreckt, die Schlinge wurfbereit. Duane sah die Augen des Hundes funkeln. Etwas blitzte über dem
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Nacken des Tieres im Licht der Scheinwerfer. Bruno jaulte einmal kurz, von Bidhans Messer getroffen, auf und fiel zu Boden. Nun mußte sich Bidhan mit Charly befassen. Der CollieSchäferhund war bereits am Handgelenk des Mannes. Die freie Hand des riesigen Thugs hielt ein zweites Messer parat. Mit einem Laut, der wie das Knurren des Hundes klang, stieß er zu. Der Hund brach zusammen. Die Klinge steckte ihm bis zum Heft in der Brust. Bidhan sprang zur Seite, stieß seine Hand noch tiefer in den Rachen des Tieres und schlang ihm den anderen Arm um den Hals. Mit gewaltiger Kraft zog er die Halswirbelsäule nach hinten, bis das Genick brach. Duane blickte auf den toten Mann nieder und dann hinüber zu den beiden toten Tieren. Tränen rannen ihm aus den Augen. Er hatte diese beiden Hunde sehr gemocht. »Beeilt euch«, kommandierte der Erwählte. »Bringt die Frau, damit sie sich auffüllen kann.« Duane rannte zum Kofferraum des Wagens, schloß ihn auf und holte seine Ausrüstung heraus: Die Spritzen, die Skalpelle, die Pipetten für das Blut. Mittlerweile rannen ihm unkontrolliert die Tränen über die Wangen. Es war alles die Schuld von Janet Bess Voss. Er hatte sich in sie verliebt, aber sie hatte seinen Heiratsantrag abgelehnt und war mit dem größten Gesellschaftslöwen von Winchester zum Altar gegangen. Janets wegen hatte er seinen Job verloren. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Unter anderem hatte er einer herzkranken Katze eine Überdosis Cardoxin verschrieben. »Bring dein Zeug rüber!« schnauzte eine Stimme. Verblüfft blickte Duane auf. Soeben trug der Erwählte Gauri zur Scheune hinüber. Ihr Gesicht war schneeweiß im Scheinwerferlicht. Ihre Augen waren geschlossen, Mund und Lider bebten … »Beeil dich!« befahl der Erwählte. Gauri Bala mußte, um überleben zu können, von Zeit zu Zeit
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Blut trinken. Sie hatte Kali, auf der Suche nach dem fehlenden Fragment der Schriftrolle der Macht, zu oft als Gefäß zur Verfügung gestanden. Das, was übriggeblieben war, mußte wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden, auch auf die Gefahr hin, daß der Blutdurst der Göttin in Gauri fuhr. Und das war mittlerweile eingetreten. Duane kämpfte seine Tränen nieder. Er durfte nicht vergessen, daß die getöteten Tiere dem Thugismus dienlich waren; er durfte auch nicht vergessen, daß er, nachdem seine Collegefreundin Deborah Klaus ihn bei dem Erwählten eingeführt hatte, Dinge zu sehen bekam, von denen er nie geglaubt hätte, daß sie möglich waren. Ebensowenig durfte er vergessen, daß er bald gerächt sein würde. Der Erwählte hatte ihm versprochen, daß, sobald er mit der Schlinge umgehen könne, Janet Bess Voss und ihr Ehemann seine ersten Opfer sein sollten. Drei Tage später eilte Yogini höchstpersönlich zu ihrem Ankleideraum in das Mai Yogini Yoga-Center am Kenmore Square in Boston. Sie hatte gerade die Einführung ihrer Schüler beendet. Es hatte lange gedauert, länger als gewöhnlich. Ihre »lieben, kleinen Chelas« (Schüler, Anm. d. Übers.) hatten an diesem Abend mehr Fragen gestellt, als sie ursprünglich erwartet hatte, und sie nahm sich vor, daß sie aus diesem Grunde die Einführung beim nächsten Mal verkürzen würde. Sie öffnete die Tür, ging eilig zum Ankleidespiegel hinüber und streifte ihre Armringe ab. Ihr Spiegelbild warf eine in rosa und blaue Seide gekleidete Schönheit zurück. Mai Yogini lächelte sich zu und begann, die Bänder ihres knappen Jäckchens zu lösen. Dann erst richtete sich ihr Blick auf das, was sie hinter ihrem Spiegelbild sah und was sie erschrocken zusammenfahren ließ. Sie wurde zornig, weil der Mann dort, der sie im Spiegel betrachtete, nicht zu rauchen aufhörte. Rauchen war im Center
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nicht gestattet. Ihre Gedanken schweiften ab, verwirrten sich. Direkt neben dem großen Inder mit der Zigarette sah sie einen kleineren Mann mit schmalem Oberlippenbärtchen und schließlich, in einem Ohrensessel, eine Frau. Normalerweise wäre das Eindringen dieser Leute nur ärgerlich gewesen. Daß sich drei ihrer früheren Landsleute hier mit Gewalt Eingang verschafften, hätte die Yogini ertragen können. Aber der Anblick dieser Frau mit dem Ausdruck einer Wahnsinnigen in den Augen machte alles anders. »Sind Sie sich im klaren, wer ich bin?« Die Stimme klang gebieterisch. Mai Yogini nickte. Sie war unfähig zu sprechen. Ihr Atem stockte, und ihr Mund füllte sich mit Speichel, ein abscheuliches Gefühl, sie hätte gerne gehustet und ihn ausgespien, konnte aber nicht. Sie sank, immer noch auf dem Stuhl vor dem Spiegel, in sich zusammen. Ihre Beine fühlten sich wie Stecken und wie die Glieder eines plumpen Kindes an. Sie kreuzte die Arme über der Brust, als wäre sie nackt. Chundra Bala stellte sich vor. Seine Stimme klang rauh, unverhüllte Abneigung lag darin. Er kannte jede Einzelheit aus Mai Yoginis Leben, jedes wohlgehütete Geheimnis, und enthüllte gnadenlos alles. Sie war als Claudine de Brisson Jaiswal in Lahore, Indien, geboren. Ihre Mutter war Französin, ihr indischer Vater ein gutaussehender, leichtsinniger Mann, ein Taugenichts, der seiner Spielschulden wegen Selbstmord beging. Das große Haus in Lahore ging in fremden Besitz über, und Claudines Mutter war bald darauf an gebrochenem Herzen gestorben. Balas Anklage umdröhnte sie wie das wütende Summen gefährlicher Insekten. Aber nichts war so schlimm wie die Gegenwart der Frau. Diese Frau, ihr Blick, ihre Augen, ihre Stimme, es durfte nicht wahr sein. Yogini hatte an solche Din-
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ge nie geglaubt. Claudine de Brisson Jaiswal hatte danach nicht gewußt, wie sie überleben sollte. Sie begann, in Bombay Opium zu verkaufen, und wurde Prostituierte. Schließlich konnte sie mit Hilfe einiger einflußreicher Liebhaber nach Amerika auswandern. Sie erwarb die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dennoch stellte sich mit der Zeit heraus, daß das Leben in Amerika nicht einfach war. Wieder ging Claudine auf den Strich. Aber dann, in einem Augenblick der Verzweiflung und in der Hoffnung, ihr Los zu verbessern, eröffnete sie in Cambridge eine kleine Yogaschule. Yogini wußte nur noch wenig aus dem Unterricht, den sie von dem in ihrem Elternhaus wohnenden Yogi Sri Baghabati in Lahore einmal bekommen hatte. Doch in Amerika war selbst geringes Yogawissen lukrativ. »Sie bekamen bald heraus, wie töricht die Menschen hier sind. Ihre Anhänger hörten Ihnen zu und glaubten Ihnen, nur weil Sie Inderin sind«, fuhr Bala verächtlich fort. »Sie wurden auf eine Weise erfolgreich, die jeden echten Inder ins Herz treffen muß. Sie haben mit Gott und Indiens unvergleichlichem Erbe Hohn und Spott getrieben, haben von falschen Weissagungen profitiert und haben sich wie eine gewöhnliche Dassis (Dirne, Anm. d. Übers.) heimlich mit fremden Männern eingelassen. All dies und mehr haben Sie getan, und jetzt sind wir hier, um Tribut zu fordern. Sie werden uns unterstützen und dienen. Sie werden uns über Ihr Center Schüler für unsere Sache zutreiben. Ihnen wird ein neuer Weg und eine neue Verwirklichung gezeigt. Sie werden selbst die Kunst der Schlinge erlernen, die Kalis Kuß flüstert.« »Aber es ist wider meine Natur, Leben zu vernichten!« Die Frau machte einen Satz vorwärts. Wie eisige Krallen senkten sich ihre Finger in Yoginis Magen und quetschten durch den Stoff des Saris hindurch, quetschten und drückten. Yogini öffnete den Mund, um zu protestieren, doch sie erbrach
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sich. Das Erbrochene rann ihr über Mund und Kinn. Die Frau ließ sie los. In ihren Augen lag der blanke Hohn. Mai Yogini war aufgesprungen, wollte davonrennen, fliehen, schreien. Doch wieder erbrach sie sich. Schließlich lehnte sie sich ächzend gegen den Toilettentisch. Cremetöpfchen, Lidschatten und Parfümfläschchen polterten herunter, als sie an der Tischplatte Halt suchte. Yogini sah sich im Spiegel, den Mund grotesk und häßlich verzogen. Wieder und wieder mußte sie würgen, mit geöffnetem Mund, wie ein Fisch an Land nach Luft ringend, um immer wieder zu erbrechen. Je mehr sich ihr Magen zusammenkrampfte, desto mehr Erbrochenes rann in Kaskaden über das Spiegelglas. Sie versuchte zu sprechen, zu bitten, zu erklären, doch immer wieder kamen die Anfälle. Ihre Eingeweide krümmten sich, und nun war es nicht mehr Unverdautes, was sie erbrach, sondern grünlicher Schleim, der alles bedeckte. Immer wieder schoß es aus ihr hervor. Als es schließlich aufhörte, ließen sie sie halb bewußtlos im Ohrensessel zurück. Die Wände, der Fußboden, ihr teurer Sari, alles war mit ihrem Mageninhalt bedeckt. Mai Yogini war sicher, daß sie jetzt völlig leer war, wie von innen ausgeschrubbt. Die drei verließen sie ohne ein Wort, doch Mai Yogini wußte, daß sie, wenn sie dies überlebte, auch wiederkämen. Sie war auf immer verloren. Sie war wie eine winzige Puppe in Kalis Hand. Die gigantischen Finger der Göttin konnten sie streicheln oder, je nach Laune, zerquetschen. Am gleichen Abend stand der Erwählte auf dem Balkon seines Ashrams. Die regulären Mitglieder der Thug-Gemeinde unterrichteten die amerikanischen Neulinge, jene freiwillig Eingetretenen, deren Leben bisher eine einzige Leere gewesen war, die desillusionierten Versager der Gesellschaft, die eine
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rasende Wut, eine Spur von Irresein und die bittere Erkenntnis in sich fühlten, daß sie in jeder Weise zu kurz gekommene Menschen waren, Verlierer! Das waren genau die Richtigen. Sobald sie erst einmal mit Gauris Hilfe die Mutter gesehen hatten, war der Pakt besiegelt. Die Macht, mit der sie vertraut wurden und sich verbanden, war dunkel. Es war eine Macht der Zerstörung und des Chaos. Aber wenn dies auch Finsternis war, so war sie doch der Leere, die sie bisher nur kannten, vorzuziehen. Makunda lag mit dem Gesicht zu Boden, während Ayub, der Moslem-Thug, die Schlinge um seinen Hals legte. Bidhan hielt Makundas Arme, sein Bruder Jadu die Beine fest. Sie demonstrierten damit die optimale Situation, in der jemand stranguliert werden konnte: Wenn das Opfer schlafend auf dem Boden lag. In gebrochenem Englisch erklärte Ayub, daß, so günstig es auch wäre, drei Thugs für ein Opfer leider nicht immer möglich wären. Die im Kreis sitzenden Schüler hörten aufmerksam zu. Der Erwählte wandte sich ab. Ihm folgte Yoni-Elvira Moniz, eine große, schlanke Frau mit Haaren schwarz wie Rabenschwingen, die ihr den Rücken hinabfielen. Sie war in einen weißen Sari gekleidet. Yoni-Elvira Moniz war schnell zur Anführerin der Thug-Frauengruppe Kali Akali aufgestiegen. Die beiden verließen den Balkon und gingen durch die Flure des Ashrams bis hin zu einer offenen Tür. In dem Zimmer saß Gauri Bala auf einem Kissen. Neben ihr standen zwei angezündete Wachskerzen und eine flache Kohlenpfanne, auf der Sandelholz verglühte. Augenblicklich gab Gauri ihr geheimes Wissen an die Frauen, die vor ihr hockten, weiter. Bei solchen Gelegenheiten war der Erwählte der einzige Mann, der den Raum betreten durfte. Die Meßdienerinnen fielen bei seinem Anblick auf die Knie und berührten den Boden mit der Stirn. Der Erwählte machte
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eine abwehrende Handbewegung, grüßte Gauri mit einem Kopfneigen, stand in ihrer Mitte und sonnte sich in ihrer Anbetung. »Ah«, begann er, »unser großes Werk beginnt.« Er faßte eine der Frauen ins Auge. »Nun, Deborah, sage mir, hast du dich der Mutter Gauri geöffnet, hast du dich von allen Sehnsüchten, Wünschen und emotionalen Bindungen frei gemacht, die dir nur im Wege sein würden?« »Nicht von allen, Herr«, erwiderte Deborah mit niedergeschlagenen Augen, »noch nicht.« »Das mußt du aber, mein Kind. Du bist nicht mehr länger Deborah Klaus von gestern. Zwischen uns darf es nichts Verborgenes mehr geben. Treue Yoni, komm an meine Seite. Erzähle ihnen, wann du zu uns kamst und was du erlitten hast. Erzähle es und demonstriere damit, wie nackt und bloß wir voreinander dastehen müssen.« Er senkte die Stimme, und sein Ton wurde mit einem Mal streng: »Und gerade ihr, meine Kinder, denn nie zuvor war es Frauen gestattet, die Schlinge zu werfen.« Yoni-Elvira Moniz fuhr nervös mit der Zunge über ihre Lippen und blickte, wie um Kraft bittend, Gauri an. Deren leuchtendes Gesicht gab auch ihr die nötige Begeisterung. Und sie begann: Vor Jahren hatte sie ein armes Klarissenkloster mitten in der Nacht verlassen. In ihrer Klosterzelle hatte sie eine Erscheinung gehabt und einen Mann in einer Kutte gesehen, der Christus ähnelte. »Bist Du es?« hatte Elvira, von der Gewalt dessen, was sie sah, überwältigt und der Ohnmacht nahe, gefragt. Doch er hatte nur erwidert: »Du mußt diesen Ort für immer verlassen!« Elvira hatte sofort gehorcht. Aber danach erhielt sie keine weiteren Anweisungen, und die namenlose Erscheinung wiederholte sich nie mehr.
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Erbittert lehnte sie daraufhin das Christentum und alles, was damit zu tun hatte, ab und traf bald darauf Norman Taurog, einen ehemaligen Soldaten, der am Vietnamkrieg teilgenommen hatte. Er war ebenso tief im Tantri-Buddhismus wie in Drogen verstrickt. Da sie immer nur eine Dienende, die ihren Meister suchte, sein wollte, fand Elvira eine Zeitlang Trost in Esoterik, Drogenkonsum und Sex. Beide wählten neue Namen für sich. Er nannte sich Kaula und Kundalini, was Schlange und Geschlecht bedeutete. Elvira ihrerseits entschied sich für den Beinamen Yoni, was das weibliche Geschlechtsorgan bezeichnete. Sie kauften sich in der Nähe von Laconia, New Hampshire, ein kleines Stückchen Ackerland, um dort glücklich und abgeschieden von aller Welt zu leben. Kaula kannte Yonis Wesen, ihr Bedürfnis, sich zu unterwerfen und beherrscht zu werden, nur allzugut. Mitten auf der Straße, seinen Penis wie das zweischneidige, göttliche Schwert in der Hand haltend, schrie Kaula ihren angenommenen Namen auf Englisch, so daß sie sich besudelt vorkommen mußte, was jedoch auch zu ihrer Erregung beitrug: »Du bist meine Yoni«, schrie Kaula, »du bist meine Möse, Möse, Möse, meine kostbare, jederzeit fickbare Möse!« Yoni-Elvira, die deflorierte Jungfrau und Märtyrerin, ergab sich ohne weiteres seinen folgenden Handlungen. Aber später kamen die Schuldgefühle und die tiefe Überzeugung, daß sie ihren im Stich gelassenen Erlöser wieder und wieder ans Kreuz schlüge. Kaula Kundalini quälte sie mit dem irren Vergnügen seiner Tantrapraktiken und seiner hypersexuellen Gelüste, während sie anschließend jedesmal von dem körperlosen Christus ihrer Kindheit mit schrecklicher Verzweiflung fast erdrückt wurde. Yoni-Elvira konnte weder mit dem einen noch dem anderen weiterleben. Beide Geliebten ihres großen Passionsspiels mußten sterben.
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So ermordete Yoni-Elvira Moniz in einer Liebesnacht Kaula Kundalini, einst Norman Taurog genannt. Elvira hatte als Reaktion auf ihre Zeit als arme Klarisse ihr Haar so lang wie möglich wachsen lassen und es nun zu zwei dicken schwarzen Zöpfen geflochten. Oftmals schlang Elvira sie um seinen schmalen Brustkorb, wenn sie einander liebten. An diesem Abend wählte sie seinen Hals. Kaula schrie, daß er gleich käme, während sie mit voller Kraft an beiden Zopfenden zog. Die Haarschlinge zog sich zu. Sie schloß die Augen. Während Norman keuchende und stöhnende Laute von sich gab, versank Elvira in ihrem eigenen Orgasmus. Fast vier Stunden leidenschaftslosen Daliegens hielt das Gefühl, sich ihrer selbst bewußt zu sein, an. Normans Armbanduhr, die auf einem Haufen schmutziger Wäsche lag, zeigte genau zehn Uhr abends an, als ganz plötzlich die Angst in ihr hochkroch. Gedanken brachen ein, krallten sich in ihr fest, vernichteten ihr Entzücken. Angenommen, sie würde verhaftet und ins Gefängnis geworfen? Elvira eilte ins Schlafzimmer, zog ein schmutziges Bettuch von der Matratze, rannte zurück und wickelte Normans schmächtigen nackten Körper schnell darin ein. Dann zog sie sich an, hob das Bündel hoch, verließ das Haus und packte die Leiche in den rückwärtigen Teil von Normans heruntergekommenen Chevrolet-Lieferwagen, Baujahr ‘67. Zuerst fuhr Elvira auf der Hauptstraße Richtung Nordwesten und brachte es fertig, ihre Geschwindigkeit trotz ihrer panischen Angst vorschriftsmäßig einzuhalten. Jeder Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens ließ sie zusammenzucken. Wenn zwischendurch einmal ein Polizeifahrzeug auftauchte, klebten ihre Hände geradezu am Lenkrad fest, und es bedurfte gewaltiger Willensanstrengung, um diesen Krampf wieder zu lösen. Überzeugt davon, daß sie irgendwann angehalten werde, konnte es Elvira kaum fassen, daß sie schließlich die Landstra-
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ße erreichte, die sie ursprünglich im Sinn gehabt hatte. Jetzt war es bis zu der kleinen Lichtung, auf der der hohle Stamm einer gewaltigen, abgestorbenen Eiche stand, nicht mehr weit. Sie fuhr mit dem holpernden Lieferwagen querfeldein auf den grauen, gespaltenen Baumrest zu, der im dunklen Schatten der benachbarten Bäume stand. Sie parkte den Wagen, lief nach hinten, klappte die rückwärtige Bordwand herunter und zog die Leiche heraus. Als sie Zugriff, vergruben sich ihre Finger in Normans entblößte Zehen, ein Gefühl, das sie aufkreischen ließ, es fühlte sich wie gefrorener Kitt an. Plötzlich rutschte das Bettuch und glitt an Norman herunter, dessen Leiche halb aufrecht auf der Ladefläche verstaut war. Als die im Körper verbliebenen Gase entwichen, klang es, als ob die Leiche seufze. Der Schweiß rann Elvira von Nase und Kinn. Sie zog das Tuch vollends herunter und hob die Leiche an. Das Blech der Ladefläche, durch das Gewicht des Toten niedergedrückt, beulte sich knatternd zurück. Elvira hielt sich an dem Baum fest und schwitzte vor Entsetzen. Die Nachtgeräusche des Waldes drangen an ihr Ohr. Grillen zirpten, Nachtgetier pfiff, knurrte und heulte. Das alles hörte sie plötzlich bewußt. Sie versuchte die Angst abzuschütteln, verspannte sich aber in dieser sternlosen Finsternis sofort wieder. Ihre Sandalen schlurften durch das überall dick herumliegende Herbstlaub. Ihr Blick war auf die hohle Eiche und die sie umgebenden Bäume gerichtet. Unter den Wipfeln angelangt, blieb ihr fast das Herz stehen, sie erkannte einen Umriß: Eine Gestalt im langen Gewand, lang herabfallendes Haar … War es wirklich Er? Elvira rieb sich die Augen. Als sie wieder auf die gleiche Stelle schaute, sah sie nur eine aufragende Rotbuche, deren gekrümmte Äste in den Himmel ragten. Ihr Yoni-Ich schalt: Bist du immer noch die dumme Träumerin? Erinnere dich, du hast Christus getötet. Ja, ja, erwiderte Elvira in ihr, ja, ich habe Ihn gekillt, und voller Zorn ergriff sie
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Norman, hob ihn sich auf die Schulter und stapfte den Weg hinüber zum hohlen Baum, ging prüfend um den Stamm herum und fand die niedrigste Stelle der Höhlung. Aber dennoch mußte sie sich auch da noch auf die Zehen stellen, um die Leiche hochzuheben und in das hohle Innere hinabgleiten zu lassen. Aber siehe da, zu ihrem Entsetzen ragten Kopf und Schultern noch über den Rand hinaus. Man sah deutlich die verfilzten Haare und den ungekämmten Bart. Elvira stand auf den Zehen und drückte Normans Gesicht so lange, bis die Leiche in dem knorrigen Innern des Baumes verschwunden war. Erschöpft ließ sich Elvira an der harten Rinde zu Boden gleiten. Ihre feuchten Zöpfe blieben an der rauhen Oberfläche hängen. Dann lag sie schweratmend auf dem Boden, horchte auf die Geräusche der Nacht und fühlte sich unendlich erleichtert. Die Blätter rauschten, und plötzlich war es, als wäre das raunende nächtliche Leben ringsum erstarrt: »O Jesus!« formten ihre Lippen, doch sie war unfähig, es auszusprechen. Grelles Licht blendete sie. Elvira wußte, das war eine Lampe, wie Camper sie gewöhnlich benutzen. Sie versuchte über den Rand des Lichtkreises hinwegzusehen und erkannte zwei schlanke Frauenarme, die sich ihr entgegenstreckten. Zitternde Hände ergriffen schmale Finger, es war eine instinktive Reaktion. Gehämmerte goldene Armbänder glänzten im Licht, und die Arme, kräftig und doch irgendwie zart, ergriffen Elvira und stellten sie auf die Füße. Elvira blickte in das Gesicht und dann in die Augen. So begegnete Elvira Moniz oder Yoni dem Erwählten, Gauri und einer Handvoll weiterer Mitglieder der Bruderschaft. An jenem Abend zog Gauri sie nahe zu sich heran, legte ihren Mund auf den Elviras, und darin lag die Besiegelung dieses Zusammentreffens. Dieser Kuß war eine geistige Kommunikation, die nie mehr gelöst werden konnte. An jenem Abend fiel Elvira dem Erwählten zu Füßen und gestand alles. Er gab ihr
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zu verstehen, daß sie sicher sei, und Jadu, in Erinnerung an alte Gewohnheiten und mit der Vorliebe für geheime Begräbnisplätze, zog Normans Leiche aus der Baumhöhlung und grub mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Thugs ein Grab. Elvira genoß diese Erinnerung sichtlich. Wie wunderbar war es doch, daß der Erwählte ausgerechnet in dieser Nacht diese Lichtung aufsuchte, weil er für die Zukunft Land kaufen wollte. Die tiefen Wälder New Hampshires schienen ihm ein geeigneter Platz, um einen neuen Ashram einzurichten. Der Erwählte beobachtete die Frauen, nachdem Elvira ihre Geschichte beendet hatte. Er erkannte, daß sie es alle als Hinweis auf eine Vorbestimmung begriffen hatten. Sie empfanden die Macht hinter den Ereignissen. Er lächelte in sich hinein und dachte, daß er doch der erfolgreichste Mann auf Erden sei. Drei Wochen später erlebte der Erwählte seinen ersten Rückschlag. Er saß auf seinem Thron und unterhielt sich mit Chundra Bala, Makunda und Sahib Khan, dem intelligentesten der drei moslemischen Thugs. Sie unterhielten sich über alte Traditionen. Speziell Sahib Khan, der mehr als irgend jemand anderes über die Geschichte des Thugismus wußte, führte das Wort, als Trande Gautam, der Arcoteer, um Gehör bat. »Ja?« fragte der Erwählte ungeduldig und über die Störung verärgert. Der Arcoteer warf sich ihm zu Füßen und wimmerte, als sei er tödlich verwundet: »O Herr, ich habe etwas Schreckliches entdeckt, und ich glaube, einer meiner Schüler ist dafür verantwortlich.« »Was hat dein Chela getan, mein Bruder? Erhebe dich. Heute abend sind wir alle Brüder.« »Nachdem die Schüler gegangen waren«, begann der Arcoteer zögernd, »zählte ich, wie immer, unsere Schlingen, bevor ich sie wegschloß.«
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Der Erwählte runzelte die Stirn. Er glaubte, ein leichtes Beben unter seinen Füßen zu fühlen. Vielleicht war dieses Beben ja noch weit, weit fort, ganz woanders, auf einer anderen Ebene? Welcher Gott, welche Kraft arbeitete gegen ihn? »Fahre fort«, brummte er. »O Herr, einer der Schüler muß eine Schlinge mitgenommen haben.« Tiefe Stille. Die Schlingen waren geheiligt, waren durch viele Generationen vererbt. Manch ein Thug-Heiliger hatte sie schon in der Hand gehabt. »Und warum glaubst du, daß es einer deiner Schüler war, Trande Gautam?« »Er lungerte so auffallend an dem Tisch herum, wo jeder Schüler seine Schlinge hinlegt, bevor er geht. Oh, dies ist wahrhaftig eine große Bürde, die mir auferlegt wurde.« Der Erwählte erhob sich schweigend. »Falls es an dem ist, wird es der Schüler sein, der die Bürde tragen muß, die durch Mutter Kalis Grimm über ihn kommt. Und diese Last wird ihn erdrücken. Aber laß uns nicht anklagen, bevor wir es nicht geprüft haben.« Er schwieg eine Weile. »Doch warum sollte er das eigentlich tun?« überlegte er laut. An diesem Abend beantwortete der Erwählte seine Frage nicht mehr. Er schlief schlecht und warf sich unruhig im Bett herum. Als der Morgen schließlich dämmerte, war die Vermutung, daß der Dieb die Schlinge womöglich als Andenken behalten wolle, verflogen. Eine andere Annahme verdrängte die erste, und wieder fühlte der Erwählte das ferne Beben. Der Schüler hatte die Absicht, mit dem gestohlenen Schal zu experimentieren!
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10 Boston – Januar 1976 Der Kurzstreckenflug von New York nach Boston war, trotz anhaltender Sturmwarnung, pünktlich. Nun kann das Abenteuer wirklich beginnen, dachte Rama Shastri, als er zum ersten Mal nach so langer Zeit Stephen Wrench erblickte. Sobald er sich in der Cocktailhalle des Flughafens mit einem milden Wermut niedergelassen hatte, war er sich nicht nur seiner eigenen Sicherheit, sondern auch anderer Dinge gewiß: Er hatte weder Das noch Ileana im Stich gelassen, was am wichtigsten war, auch nicht Mutter Indien. Vom Augenblick seiner Flucht an hatte Shastri geglaubt, ein fernes, lautloses Donnern zu hören, eine immerwährende Anklage. Und obwohl er verstandesmäßig wußte, daß ihn keine Schuld traf, raubten ihm Schuldgefühle wie ein Geier, der wartend seine Kreise über ihm zog, die Ruhe. Sosehr er sich seiner kindischen Bedrückung wegen auch schalt, dieses Gefühl ließ ihn auch in Hongkong nicht los. Bevor er mit einem Flugzeug der Japan-Airlines weiterflog, ging er zu einem Kiosk, um sich Reiselektüre zu besorgen, und las bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von dem Mord an Ved Addy. Die Schlagzeile im Bengal Herold forderte nur seinen Spott heraus. Andere Berichte über den Mord fanden sich breitgestreut auf den Frontseiten The Bengalee, The Amrita Bazaar Patrika, The Sandhya, The Hindustan Times, The Time of India und The India Gazette. So las er also auf dem Weg nach Tokio ausgiebig über den Mord an Ved Addy, der nach Art der Thugs begangen worden 177
war, und er erinnerte sich an das kurze Verschwinden von Ajit Majumdar an jenem Abend. Shastri bekam feuchte Handflächen, während er die Seiten der Bengalee durchblätterte, nun darauf gefaßt, daß Rasul die Gelegenheit wahrgenommen hatte, ihn für das Verbrechen verantwortlich zu machen. Aber auch das, was er anschließend las, versetzte ihm einen Schock. Eine Viertelstunde saß er da und bedeckte die Augen mit der Hand. Ileana hatte, stand in dem Bericht, die Leiche gefunden. Sie hatte der Polizei angegeben, daß sie vom Fenster aus einen Schatten über das Grundstück habe huschen sehen. Daraufhin habe sie ihren engen Freund, den unvergleichlichen Rama Shastri, sofort unterrichtet. Er und ein ihm ergebener Polizeileutnant hätten daraufhin die Verfolgung aufgenommen … Shastri hielt das Glas Wermut eine Weile, ohne daraus zu trinken. Ileana hatte dadurch wieder einmal die Richtigkeit des Grundsatzes bestätigt: Je unverschämter die Lüge, desto glaubhafter. Und Ileana hatte, stellte er mit einigem Zynismus fest, in erster Linie nur deshalb gelogen, um sich selbst zu schützen. Doch niemand würde sie für einen Würgemord verantwortlich machen. Frauen waren in der Sekte gar nicht zugelassen. Gleichzeitig hatte sie der Presse von Shastris letztem, erfolgreichem Fall erzählt, der mit dem neuerlichen Aufkommen des Thugismus in Verbindung stand. Der Rest des Artikels befaßte sich mit ausführlichen Schilderungen über die Historie der Geheimsekte zur Zeit des Generalmajors Sleeman. Shastri wußte wohl, daß sie auch gelogen hatte, um ihn zu schützen. Sie hatte es geschafft, vor Rasul zur Presse zu gehen und alles zu erzählen, was ihr einfiel, um Shastri als Helden erscheinen zu lassen. Vielleicht hoffte sie, daß die Regierung nun nicht mehr wagen würde, ihn zu verhaften, vielleicht träumte sie von seiner Rückkehr nach Indien und zu ihr … Vielleicht. Doch das bombastische Getue um seine Person in der indischen Presse, die Mythen, die sich Journalisten so ger-
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ne einfallen lassen, ließen auch ihn nicht ganz unbeeindruckt. Er war für die Öffentlichkeit stets der Held gewesen, eine, wenn nicht sogar die einzige Personifizierung der Gerechtigkeit; das, was ihre tausendundein Sadhus nicht sein konnten, denn was hatten sie schließlich mit Gerechtigkeit zu tun? Aber er war Rama Shastri, der den Thugismus verfolgte, wo immer er ihm begegnete. Und das war nun nicht länger Indien. Der Erwählte war hier in Amerika, hier! »Bist du noch ansprechbar, Ram?« fragte Steve. »Ja. Ich dachte nur gerade an Ileana. Sie hat meinen guten Ruf gerettet und meine Flucht gedeckt bis zum Schluß.« Er unterbrach sich, als er bemerkte, daß Santha männliche Begleitung mitgebracht hatte. Er beobachtete das Paar möglichst unauffällig und ließ seinem Neid, als Santha ihn Onkel Ram nannte, auf George Buchan freien Lauf. Shastri betrachtete sie und stellte wieder fest, wie ähnlich sie ihrer Mutter sah und noch darüber hinaus in besonderer Weise eine eigene Schönheit besaß. Er überlegte, welch gefühlloses Schicksal ihn gleich zweimal getroffen habe, so daß er einmal nur als Trauzeuge und für den Rest seines Lebens nur als »Onkel« auftreten konnte. »Ja«, wiederholte er, in dem Vergangenheit-GegenwartsSpiel gefangen, als sei er mit einer Zeitmaschine, nicht mit einer DC 10 gelandet, so als ob die Zeituhr defekt sei. Er empfand es als Quälerei, gleichzeitig zu Mutter und Tochter sprechen zu müssen, die hier in demselben Körper vereint zu sein schienen. »Was ist schon Zeit?« flüsterte er leise und gedankenverloren. »Was meinst du, Onkel?« »Ich fühle den Zeitunterschied«, sagte er laut. Santha nickte mitfühlend und erinnerte sich an das, was sie
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eigentlich hatte fragen wollen. »Ißt du immer noch soviel Rindfleisch wie früher? Ich habe George erzählt, wie erbittert du über das Tabu der heiligen Kühe bist.« »Ja, das tue ich.« Ihr Englisch klang so, wie man es in Indien sprach. Dort war sie ja auch zur Schule gegangen, erinnerte er sich. Kamala hatte auch so gesprochen. Er mochte es, im Gegensatz zu der härteren, weniger sorgfältigen, amerikanischen Aussprache. Santha sprach Queens-Englisch. War es nicht das, was alle braven, kleinen indischen Jungen und Mädchen lernten? Er mußte lachen und erklärte ihnen, warum. »Ich habe das alte Regime so gehaßt«, sagte er, »aber dennoch bin ich von dem Wohlklang seiner Diktion abhängig.« Die anderen griffen das Thema auf. Man sprach über die verschiedenen amerikanischen Dialekte, einschließlich des breiten a, das man in Boston zu sprechen pflegte. Shastri zündete sich eine Sher Bidi an – er war wieder auf seiner erlaubten Ration angelangt – und preßte die Sohlen seiner Schuhe fest gegen die Fliesen auf dem Fußboden. Ja, er war gelandet. Jetzt war er hier, und der schuldbeladene Geier war fort. Alles lag hinter ihm. Zurückgeblieben in der Luft oder in der DC 10 oder der 747, die auf der Strecke Hongkong–Tokio flogen. Es mußte ein Feind von Rasul gewesen sein, der Ileana Zugang zu den Redaktionen verschafft hatte, überlegte er, es mußte einfach so gewesen sein. Vielleicht einer der Politiker, der bei jenem Bankett anwesend war und Rasul eins auswischen wollte. Der Mord war ein Skandal, das war in jeder Zeitung herausgestellt worden, und Addy war als Persönlichkeit wichtig genug, um die Frage aufzuwerfen, warum die Regierung unfähig gewesen war, ihn vor einem solchen Ende, noch dazu auf seinem eigenen Grund und Boden, zu bewahren. The
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Sandhya fragte, warum Rasul so etwas nicht habe vorhersehen können, daß nämlich gerade zu dem Zeitpunkt und bei der Gelegenheit ein Thug auftauchte. Er war früher schließlich Polizeibeamter gewesen. Konnte man da nicht annehmen, daß er gewohnt war, solche Überlegungen in Betracht zu ziehen? Und warum hatte die Regierung die Presse nicht sofort über den neuen Ausbruch des Thugismus und über den Umfang seiner Ausbreitung, die sehr wohl alle Schichten der Bevölkerung erreichen konnte, informiert? Was war denn noch alles zu erwarten, wenn ein Regierungsbeauftragter wie Krishna Rasul einen anderen, in der Öffentlichkeit weithin bekannten Mann wie Ved Addy nicht schützen konnte? Wenigstens hatte Rama Shastri die Tollkühnheit besessen, sich in den Untergrund zu begeben, um die Täter doch noch dingfest zu machen. »Ram, hast du gehört, was ich sage?« Shastris Lippen formten automatisch ein »Ja«, und Wrenchs Kopf tauchte wieder aus dem wogenden graublauen Pfeifenrauch auf. Shastri stieg der beißende Geruch des Tabaks, weil Wrench versuchte, die Pfeife anzuzünden und deshalb heftig vor sich hin paffte, in die Nase. Es war lange her, daß Shastri diese ständige Pfeife hatte ertragen müssen. »Es tut mir leid. Aber ich leide wohl wirklich unter dem Zeitunterschied.« Shastri wußte, daß Wrench das nicht glaubte. Keiner von beiden war bis jetzt besonders gesprächig gewesen; eine kurze Umarmung zur Begrüßung, dann die kleine Pause bei den Drinks, bevor sie sich auf den Weg in die Stadt machen würden, das war alles. Kaum Unterhaltung, über was auch immer. Er hatte mehr Fragen von Steve erwartet, aber George Buchan war ja da. Der hochgewachsene junge Mann mit dem eindrucksvollen Bart, guten Manieren und einem besorgten Ausdruck, sobald er verliebt in Santhas Gesicht schaute. Ja, das war das richtige Wort – verliebt. George hatte ihr in dem über-
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heizten Barraum aus dem Mantel geholfen, hatte ihr die Pastete für ihre Crackers hinübergereicht, nichts Besonderes, nur daß alles an ihm dabei angespannt wirkte, selbst die Finger, die das Pastetenschüsselchen hielten. Shastri versuchte, den jungen Mann abzuschätzen. Er schien eigentlich keineswegs der nervöse Typ zu sein, der zwischen einer Frau und feinem Porzellan nicht unterscheiden kann. Das würde sich Santha auch nicht gefallen lassen, überlegte er. Wrenchs Gesicht erschien jetzt wieder klar hinter dem sich langsam verziehenden Rauchvorhang. »Was ist denn los, Steve«, erkundigte sich Shastri mißtrauisch. »Seit meiner Ankunft hier hast du dieses Katz-und-MausGrinsen im Gesicht.« »Ach, hab’ ich das?« »Ja, das hast du. Hast du irgendwelche Überraschungen parat?« »Nun ja, keine Willkommensparty. Das schwöre ich. Ich weiß, du kannst so was nicht ausstehen, Ram. Das nicht.« »Was ist es denn?« »Daddy«, unterbrach Santha, »ich hab’ dir gleich gesagt, daß er dein Spiel durchschaut. Sag’s ihm doch!« Und sie fügte fast trotzig hinzu: »Wir, George und ich, werden dich und Daddy heute nachmittag irgendwo absetzen.« Wrench runzelte die Stirn. »Verdammt, laß noch ein bißchen für mich übrig«, sagte er. Santha tat, als ob sie zerknirscht wäre: »Entschuldige, Daddy!« »Also«, drängte Shastri, »wenn du mir jetzt nicht bald sagst, was los ist, Steve, dann bist du schuld daran, daß ich mehr rauche, als ich darf!« Wrench zögerte nicht. Noch ein kurzes Stirnrunzeln zu seiner Tochter hinüber und dann sagte er knapp: »Sie sind im Räume Boston!«
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Shastri wurde es plötzlich eiskalt. Er zerbrach einen Cracker zwischen den Fingern, erstaunt darüber, daß ihn das so aus der Fassung brachte. In Boston! In Amerika, das war gewiß, aber doch nicht in Boston! Ausgerechnet in der Stadt, in die er geflohen war! Statt des schuldbeladenen Geiers war da plötzlich etwas anderes, irgendein dunkler Schatten, der seine Flügel schlug. Wieder brachte dieses merkwürdige Gefühl, daß das Leben außerhalb des Zufalls abläuft, sein Denken aus dem Gleichgewicht. Wrench erklärte: »Vor drei Tagen wurde in der Nacht eine Leiche in einer Nebenstraße der Symphony Road entdeckt. Es war ein strangulierter Mann, erwürgt mit einem Schal, einer Thug-Schlinge.« »Wie kann man das so ohne weiteres wissen?« fragte Shastri, halbwegs sowohl über diesen neuen »Zufall« als über die Furcht vor einem Schicksal, dem man nicht entrinnen konnte, und auch über die Offenheit, mit der dies alles vor Santha und ihrem Liebhaber oder was immer er sein mochte, besprochen wurde, erbittert. »Sie fanden direkt neben der Leiche eine Würgeschlinge, Ram.« Shastri blinzelte. Unmöglich! Neben der Leiche! Seitdem der Thugismus besteht, würde kein Thug seine Würgeschlinge liegenlassen. Zweifel gewannen die Oberhand. Zerrissen war das Gespinst übernatürlicher Fügung. Wrench, der alte Polizist, war im Unrecht. Das war keine Thug-Schlinge. Das war ein ganz ordinärer Schal. Er griff nach einer Sher Bidi und blickte bedeutungsvoll zu dem jungen Paar hinüber. »Sie wissen Bescheid«, beantwortete Wrench die unausgesprochene Frage, »als ich krank war, hat mir Santha deinen Brief laut vorgelesen. George war dabei und zeigte sich an der Frage des Thugismus sehr interessiert.« »Wie intellektuell stimulierend«, bemerkte Shastri ironisch.
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»Also komm, laß das, Ram. Sie haben bloß versucht, hilfsbereit zu sein. Das ist der Grund. Ich war nach Kamalas Tod verdammt hilflos … Ich habe mit ihnen über Thugismus und vieles aus früherer Zeit diskutiert. Was konnte ich schon anderes tun, wenn ich hilflos auf meinem Hintern saß und mir Gedanken machen mußte, ob es dir wohl jemals gelingen würde, hier hinüber zu kommen? Mit ihnen darüber zu sprechen, brachte mich wieder auf die Beine.« »Es erhielt ihn am Leben, Onkel Ram.« Es war Santha mit dieser Gewohnheit, andere zu unterbrechen, an die er sich erst wieder gewöhnen mußte. Sie lächelte entschuldigend, und Shastri schmolz trotz seiner Verärgerung. Das farbige Glasfenster in der Decke warf bunte Reflexe auf ihr zerzaustes, schwarzes Haar. Indisches Haar, dachte Shastri, wunderschönes schwarzes Haar, so seidig, wie nur Frauenhaar sein kann. Gott, was war sie für ein schöner Anblick! Er dachte an die Anmut jener Statue an der Felsenwand beim Höhlentempel in Dekhan, an das tanzende, girlandenbehängte Mädchen. Und er dachte an die siebenhundertundachtzig seltsamen Männer mit dem Ruf nach Mord und Tod in jener Höhle. »Tut mir leid«, sagte Shastri. »Natürlich war das eine Angelegenheit, die mehr für dich bestimmt war, Steve.« Er betonte es ausdrücklich. Er mußte es tun. Damit sollte es für heute genug sein. »Ich habe mit der Polizei vereinbart«, sagte Stephen Wrench, »daß wir sowohl die Leiche als auch den Schal sehen können. George wird uns beim Leichenschauhaus absetzen und uns von dort wieder abholen, wenn wir fertig sind.« »Gut«, stimmte Shastri zu und beobachtete Santha, die sich erhob, um den Waschraum aufzusuchen und sich frisch zu machen. Er wünschte immer noch, sie wüßte nichts davon. Doch was für Schaden konnte es anrichten? fragte er sich, oder vielmehr, welche Gefahr könnte ihr daraus erwachsen? Im Grunde
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genommen konnte nichts geschehen. Dennoch blieb das eisige Gefühl, das ihm den Rücken hinaufkroch. Santha verließ etwas benommen, doch begeistert darüber, daß die beiden Männer ihre alte Freundschaft erneuerten, den Raum. Diese Tatsache bot ihr mehr Freiheit, die sie vorher nicht gekannt hatte. Jetzt konnte sie sich endlich ausschließlich auf George konzentrieren. Fröhlich und erleichtert schritt sie dahin. Bewundernde Blicke folgten ihr. Santha spürte es im Vorübergehen und freute sich über die Wirkung, die sie, selbst an diesem grauen Nachmittag, auf andere hatte. Sie genoß es wie eine Art Macht. Es war wundervoll, jung, eine Frau und verliebt zu sein. Sie betrat den Vorraum und ging zu den Waschkabinen. Leise eine Melodie vor sich hin summend, öffnete sie den Wasserhahn. Doch während sie sich die Hände wusch und im Begriff war, ihr Gesicht zu reinigen und frisches Make-up aufzulegen, hörte Santha … Hörte … Fußspangen, die gegeneinanderklirrten. Sie erkannte es sofort; es war dasselbe Klirren wie in jenem verwahrlosten Gebäude in ihrer Vision damals bei George. Dieselben Schritte, dieselben Geräusche, das gleiche metallische Klingen und der Klang, wie es bei schmuckbehängten indischen Frauen klimpert. Sie ließ den Pinsel, mit dem sie den Lidstrich nachziehen wollte, sinken und lehnte sich vor Schrecken gegen die Holzwand der Kabine. Vor knapp einer Minute war sie noch allein in dem großen Raum gewesen. Sie hatte sich zwar nicht überzeugt, ob in den anderen Kabinen jemand war, aber sie hatte jedenfalls nichts gehört. Da! Da war es wieder! Das Aneinanderklirren von Metall, die Schritte und … jetzt wurde es lauter. Santha hielt den Atem an und wartete. Sie getraute sich nicht zu denken.
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Oder zu hören, verdammt! Und dann ein neues Geräusch. Die Tür der am weitesten entfernten Kabine wurde geöffnet. Dann war es still. Jene Art von Stille, die ihre Erwartung schärfte. Schließlich schloß sich die Tür. Santha wurde von plötzlichem Schwindel erfaßt. Wahrscheinlich war es nur eine Frau gewesen, die eine Menge Schmuck trug. Warum sollte eine Frau in dieser Zeit bizarrer Moden nicht imitierte Fußspangen als Modeschmuck tragen? Entspann dich, du hysterische Person, beschimpfte sie sich. Santha machte wieder den Versuch, eine Melodie vor sich hin zu summen. Doch sie hielt mitten im Versuch inne. Da, jetzt hörte sie es tatsächlich, dieses verdammte Geklirre. Es … sie … war sie nicht in der Waschkabine? Eine weitere Tür öffnete sich. Santha stieß heftig den Atem aus, so als würde er aus ihr herausgeschlagen. Was war … was tat diese Frau? Schaute sie in jede Kabine? Santha wich zurück. Ihre Beine waren steif, sie war von Kopf bis Fuß angespannt und verkrampft. Albern! Hysterisch! Daß das Geräusch von irgendeinem dummen Modeschmuck so etwas in ihr auslösen konnte … Wieder schloß sich eine Tür. Dann wieder Schritte … KLANG, KLING, KLANG … Die nächste Tür. Santha fragte heiser und mit erhobener Stimme: »Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie … jemand Bestimmten?« KLANG, KLANG, KLING. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Es war die Waschkabine direkt neben Santha. »Ist alles in Ordnung?« rief sie laut, und ihr Ruf hallte als Echo von den Kachelwänden wider. Keine Antwort. Gleichzeitig: KLICK. Diesmal klang es sehr, sehr laut … Auf einmal schien die Türe ihrer Waschkabine verschwunden zu sein. Santha sah ein barfüßiges, abgewinkeltes Bein, das mitten im Schritt verhielt und dann, nach etwa einer Sekunde, langsam und vorsichtig wieder zu Boden ge-
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setzt wurde. Zehen, eine dunkle Fußsohle, flach auf die Fliesen des Vorraums gesetzt, Fußspangen, die übereinanderglitten. Ein Tanzschritt. Der Tanz eines Gottes oder einer Göttin, so wie sie es im Hindutheater gesehen hatte. Sambuka, der Dämon aus dem Bhavabhuti-Spiel, schritt in dieser Weise dahin. Warum dachte sie an Dämonen? Oder wie die Kathakalitänzer, die sich nur durch ihren Willen in übernatürliche Wesen verwandeln konnten. Plötzlich war die Tür wieder dort, wo sie hingehörte, eine hellgrau gestrichene Metalltür. Stille. Dieselbe knisternde Stille von vorhin. Nun ist es genug! mahnte sich Santha zur Ruhe. Sie zwang sich, einen Schritt vorwärts zu tun, und biß die Zähne zusammen. Sie stützte beide Handflächen gegen die Seitenwände der Kabine und fragte: »Wer ist da? Antworten Sie mir, verdammt noch mal. Ich weiß, daß da draußen jemand ist!« Ihre Ungeschütztheit war schrecklich. Die Tür ihrer Waschkabine war zwar verschlossen, aber alle Sicherheit war trotzdem dahin. Sie war in einem Netz gefangen. Schon jetzt fühlte sie sich als Opfer. KLANG! Sie schaute auf den Boden zu dem breiten, offenen Türspalt hin und ob jemand vorbeiginge. KLANG! Der Griff wurde vor und zurück bewegt. »Lassen Sie die Pfoten davon!« Es wurde an die Tür geklopft. Santha ließ sich auf die Knie nieder und schaute unter dem Türspalt hindurch auf den Boden des Vorraums. Es mußte doch etwas zu sehen sein. Sie mußte wissen, ob die Bedrohung weiter bestand. Sie mußte es wissen, wie auch immer das Resultat ausfallen mochte. Während sie die geflieste Fläche vor der Kabinenreihe mit den Augen absuchte, so gründlich wie nie zuvor etwas anderes
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in ihrem fünfundzwanzigjährigen Leben, entdeckte sie … nichts … keine Beine, keine Knöchel, keine Fußspangen, keinen Schatten. Nichts. Santha rieb sich die Augen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, die schweißnaß waren … Feuchte Strähnen fielen über ihre Stirn und über ihren Nakken. Wieder bückte sich Santha und spähte durch den Spalt. Immer noch nichts. War sie verrückt? Hatte sie sich das alles bloß eingebildet? Sie wandte sich zur Seite, saß auf dem Boden, lehnte sich gegen die Trennwand und dachte nach. Sind diese Visionen, die ich bis jetzt durchlebt habe, meine Schuld? Ist es meine Phantasie, die sie hervorruft? Aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß dies etwas war, was allein aus ihr selbst gekommen sein sollte. Irgend etwas, eine unbekannte Kraft, stand mit ihr in Verbindung. Das war viel eher vorstellbar. Ihr Unterbewußtsein war die einzige Erklärung. Was immer auch … Bitte, lieber Gott, betete Santha spontan, bitte, lieber Gott, laß so etwas nicht mehr geschehen! Die Heftigkeit ihres impulsiven Stoßgebetes erschreckte sie. Doch sie fuhr fort: »Bitte, mach, daß es wegbleibt!« Mit geschlossenen Augen blieb sie, wo sie saß. Ihr stoßweiser Atem beruhigte sich allmählich, und sie fühlte sich besser. Santha erhob sich auf zitternden Beinen und versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen. Sie lehnte sich gegen die Wand der Kabine und wartete noch etwas. Die Tür im Vorraum öffnete sich mit einem Ruck, und ein Paar Stöckelschuhe klapperte über die Fliesen. Die Frau öffnete eine der Waschkabinen, schloß die Tür hinter sich und drehte den Wasserhahn auf. Santha tat, was sie ursprünglich gewollt hatte, und erneuerte ihr Make-up. Ihre Bewegungen waren automatisch. Mit Be-
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dacht legte sie Rouge auf. Wenn sie in die Bar zurückkehrte, durfte man ihr nichts von der durchgestandenen Aufregung, die ihr jetzt noch im Gesicht geschrieben stand, anmerken. Sie betrachtete sich im Spiegel, forschte in ihren Zügen. Ihr Verstand, überlegte sie in jäher Furcht, war in gewisser Weise daran schuld. Sollte ich vielleicht doch mit jemandem darüber reden? Vielleicht mit Onkel Ram … NEIN! Santha ließ das Rougedöschen sinken und schaute unwillkürlich über die Schulter, wußte aber, daß der Vorraum leer war. Nur die Frau ließ ein paar Kabinen weiter immer noch Wasser laufen. Aber die Stimme war dicht hinter ihr gewesen. NEIN! Sie zwang sich, in den Spiegel zu schauen. Ein Wimmern blieb ihr in der Kehle stecken. Das Spiegelbild war ihres, schon recht, aber es war anders: Ein safranfarbener Sari, Ketten um den Hals, Armreifen um die Handgelenke, dicke schwarze Schminke um die Augen. Dieses Gesicht starrte sie an, und Santha hörte das dritte NEIN! NEIN und noch mal NEIN! Laut und nachdrücklich. Ihre Lippen hatten sich nicht bewegt, und doch hatte es wie ein wütendes Kommando geklungen. Vielleicht hatten die Augen dieses Wort ausgesandt? NEIN! Und Santha ergab sich und wußte, daß es ihre eigene Angelegenheit war und bleiben sollte. Unnatürlich schnell war ihr diese Einsicht gekommen. Dies alles ging nur sie etwas an, die Visionen gehörten ausschließlich ihr allein. Ausschließlich! Nicht Onkel Ram, ihrem Vater, George oder sonstwem. Sie gehörten Santha Wrench. Sie trat vom Spiegel zurück, jetzt aufrecht und selbstbewußt. Die Frau nebenan verließ die Kabine und ging mit klappernden
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Absätzen davon. Dieses hackende Geräusch zerstörte das Spiegelbild vor ihr, wer auch immer das gewesen sein mochte. Nun sah Santha sich selbst, die gleiche, die vor kurzem hier hereingekommen war. Dieselbe, die jetzt in die Bar zurückgehen würde, entschied sie. Dann machte sie sich mit einer Heiterkeit, die all das Lügen strafte, was sie kurz vorher ausgestanden hatte, auf den Weg zurück zu den anderen.
11 »Es ist tatsächlich eine Thug-Schlinge«, sagte Rama Shastri und befühlte den alten Schal. Seine verblichene, gelbe Oberfläche war mit getrockneten Schmutzflecken übersät. Er betrachtete flüchtig die Kleider auf dem Tisch und den geöffneten Rucksack, in dem ein Paket Flugblätter steckte. Auf dem obersten Blatt konnte man in großen Buchstaben eine Überschrift erkennen: »LEBE LÄNGER!« Die schreckliche Ironie dieser Aufforderung fuhr ihm, so kalt wie der eisige Bostoner Wintertag da draußen, in die Knochen. Immer noch die Schlinge in den Händen haltend, wandte er sich von den anderen Männern ab, ging zum Fenster und blickte in den stiebenden Schnee hinaus. Unten drängte sich jemand durch eine Parklücke zu seinem Wagen hin und ließ eine geschlängelte, schwarze Spur im Schnee zurück. Shastri hatte nie zuvor Schnee gefühlt, es war eine ganz neue Faszination. Captain Adair fragte: »Sind Sie ganz sicher?« Er fragte auf die gleiche Art und Weise, wie er seine Zigarre paffte, mit zusammengebissenen Zähnen und tief herabgezogenen Mundwinkeln. Er wirkte, als habe er ständig einen schlechten Geschmack im Mund, dachte Shastri. 190
Er wandte sich vom Fenster ab und ging zum Schreibtisch zurück und wiederholte: »Ja, es ist eine indische ThugSchlinge. Es ist ein Gewebe, das in Indien hergestellt wurde.« Er hob das eine Ende des Schals hoch. »Und dies ist ein typischer Schlingenknoten. Die Münze, die darin gesteckt hat, ist eine Rupie aus der britischen Kolonialzeit. Das ist eine ThugGepflogenheit.« Leutnant Terranova entschloß sich, sich ins Gespräch einzuschalten. Er war Stephen Wrenchs Verbindungsmann zur Bostoner Polizei in einem Fall gewesen, in dem das FBI Rauschgift aus dem »Goldenen Dreieck« in dem gleichen Augenblick beschlagnahmte, in dem sie im Bostoner Hafen eintrafen. »Das heißt, daß man mit dieser Schlinge ohne weiteres einen Mann, zwei oder drei umbringen kann?« »Ebensoleicht wie vier, fünf oder sechs«, entgegnete Shastri kalt. Vom Zeitpunkt ihres Eintreffens an hatte Adair sie fühlen lassen, daß sie keineswegs willkommen waren. Wrench hatte seine Verbindungen genutzt, um das Opfer des Würgers in der Symphony Road sehen zu können, und der Captain hatte sich gegen die Einmischung in seinen Fall gewehrt, noch dazu von einem FBI-Agenten, der drei Viertel seines Lebens im Ausland zugebracht hatte und der außerdem – er sprach die Bezeichnung aus, als litte er plötzlich an Bauchschmerzen – »Indiens größten Spezialisten für heiße Fälle« mitgebracht hatte … Vielleicht hätte nichts davon auf Shastri Eindruck gemacht, wäre er nicht schon zuvor durch etwas anderes beunruhigt worden. Santha war, nachdem sie lange weggeblieben war, völlig anders und offensichtlich außer sich in die Flughafenbarhalle zurückgekehrt. Dieser Umstand machte auch George Buchan besorgt, der nervös nachfragte, was denn los sei. »Ein verkorkster Magen«, hatte sie geantwortet, aber keiner hatte ihr geglaubt. Daß es
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mehr war als das, davon war Shastri überzeugt. Santha war froh und gelöst, eine schöne junge Frau, vom Tisch aufgestanden, und sie war wie eine Geschlagene – erledigt, verstört, offensichtlich ohne ihr Zutun kühl, fast spöttisch, unbewußt abwehrend, – zurückgekommen. Diese Veränderung, die mit Santha in so verhältnismäßig kurzer Zeit vor sich gegangen war, beunruhigte Shastri aufs höchste. Dies, zusammen mit dem Verhalten Adairs, war, als er die beiden Polizeioffiziere im Leichenschauhaus kennenlernte, genau das, was die alten Briten früher »a bit to much« nannten. Zuerst waren Wrench und Shastri ins Untergeschoß zu dem Raum gebracht worden, in dem die Leiche besichtigt werden konnte. Da lag sie, langgestreckt und schmächtig, unter dem Tuch auf dem Seziertisch des Pathologen. Shastri, mit jeder Faser ein Fachmann, ging sofort hinüber und begann mit der Untersuchung. Irgendwo im Hintergrund las Adair mit sonorer Stimme von einer Liste an der Pinnwand: »Name des Opfers: Abel Joseph Fairley; Wohnung: 19. Symphony Road, Boston; Alter: dreißig Jahre; Körpergröße: eins dreiundachtzig; Gewicht …« Fairley war bereits aktenkundig gewesen, weil er Flugblätter verteilte, die er selbst druckte. Sie befaßten sich, angefangen bei politischen Themen, mit allem bis hin zu alltäglichen Sozialproblemen. Er war in und um Boston herum als »Abel, der verrückte Flugblattverteiler« bekannt. Doch Shastris Konzentration ließ ihn kaum auf das hören, was da vorgelesen wurde. Er hatte so etwas selbstverständlich schon gesehen, aber diesmal hatte der Schal tief ins Fleisch eingeschnitten. Es war auffallend. Geübte Thugs waren so geschickt im Umgang mit den Schlingen, daß kaum eine Spur an den Hälsen ihrer Opfer festgestellt werden konnte. Doch hier hatte es einen Kampf gegeben. Fairleys Tod mußte langsam und qualvoll gewesen
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sein. »Das hat kein erfahrener Thug getan«, sagte er leise zu Wrench. Adairs Stimme fuhr fort vorzulesen, daß am Donnerstag (Datum wie oben angegeben) um 21.48 Uhr zwei Studenten der North Eastern University, Philip Grunberg und Edward Nyes, den Weg von der St. Stephen Street in die Symphony Road eingebogen seien und dabei »Kampfgeräusche« gehört hätten. In der schwachen Straßenbeleuchtung hätten sie aber sehen können, wie das Opfer zu Boden fiel, während sich ein Mann und eine Frau über ihn gebeugt hätten. Die Frau hätte beim Anblick der Studenten gerufen: »Scheiße! Schnell, wir müssen weg!«, während der Mann – beide seien offenbar Kaukasier gewesen – in Panik geriet und das Mordinstrument liegenließ. (Siehe Beweisstück A) Das Paar habe sich umgedreht und sei in der entgegengesetzten Richtung die Gasse bis in die Gainsborough Street entlanggelaufen. Adair schwieg. Shastri fuhr mit dem Zeigefinger der zerfleischten Spur rings um den Hals des Opfers nach. Es war mit Gewißheit weder ein schneller noch ein gnädiger Tod gewesen. Er hob den Kopf des Toten leicht an und stellte an der Art, wie er zurückfiel, fest, daß das Genick gebrochen war. »Insoweit bin ich nicht ganz überzeugt«, sagte er zu Wrench. »Frauen sind außerdem bei den Thugs nicht zugelassen.« »Warte erst, bis du den Schal genau geprüft hast.« Das stimmte, erst davon konnte man es abhängig machen. Als Shastri kurz darauf, eine Treppe höher, den Schal gegen das Licht hielt, überkam ihn ein Zittern. Er hielt das Gewebe an die Nase und stellte fest, daß es unverkennbar nach Betelnuß roch. Der Schal war alt, die Rupie noch älter, die Inschrift auf der Münze schon fast nicht mehr lesbar. Wahrscheinlich war der Schal vom Vater auf den Sohn vererbt worden, eine übliche Gepflogenheit. Aber wie war dieser Schal in den Besitz der Mörder geraten, die ihn offenbar nicht zu handhaben wußten?
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Und eine Frau? Eine junge Kaukasierin, wie die Augenzeugen glaubten? Falls man ihre Aussagen überhaupt ernst nehmen konnte. Die Beleuchtung in diesem Gäßchen war, wie der Bericht sagte, sehr schlecht gewesen. Er ging wiederum zum Fenster. Natürlich gab es auch Schnee im Himalaja. Aber er, Shastri, war nie dagewesen. Nicht einmal, um die Mönchsitze und die Schreine am Ganga Gangotri zu besichtigen. Der Schnee wirbelte gegen die Fensterscheiben und blieb dort in vereinzelten Sternchen haften. Unten auf der Straße rutschte eine Frau auf dem Glatteis, das sich überall gebildet hatte, aus. Sie wäre fast gestürzt. Es war eine attraktive Person. Was war mit Santha los? Adair vermutete, daß der Mord die Tat zweier ausgeflippter Diebe sei, die nichts Besseres als einen Schal zur Hand gehabt hätten, um ihr Opfer zu killen. Na gut, dachte Shastri, aber warum gerade dieser Schal? Warum eine Thug-Schlinge? »Er hatte aber noch seine Brieftasche«, warf Stephen Wrench ein. »Ja«, stimmte der Captain zu, »die Kerle hatten ja keine Zeit mehr, um sie mitzunehmen.« So konnte man es sehen. Der Schnee fiel auf einmal dichter, und all die Sternchen wurden ein dicker Eisbrei, der die Sicht versperrte. Aber gerade diese Art Schal! Die Schlinge und die darin eingeknotete Rupie änderten die Dinge und machten Adairs Logik zunichte. Was war geschehen, als Santha hinausging? Er mußte unbedingt mit George Buchan darüber sprechen. »Es überläuft mich kalt«, sagte Shastri laut. Dabei stand er dicht vor der voll aufgedrehten Heizung, die vor sich hin fauchte. Keiner antwortete. Wrench, der sich von Zeit zu Zeit die
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Augenbrauen rieb, starrte ihn an. Terranova brach das Schweigen: »Können Sie uns mehr über den Thugismus erzählen?« fragte er. Immerhin ein gewisser Erfolg. Shastri war davon überzeugt, in Terranova einen interessierten Zuhörer zu haben. So erzählte er von der Göttin Kali, und daß die Thugs glaubten, ihr auf die beste Art und Weise zu dienen, wenn sie raubten und mordeten. »Sie machen das mit einem Schal wie diesem, damit sie kein Blut vergießen. Es scheint so, als ob die Leute, die Abel Fairley umbrachten, den Versuch gemacht haben, einen Mord nach Art der Thugs zu begehen. Aber ganz offensichtlich beherrschen sie die Methode nicht, sonst würde Fairley nämlich nicht die geringste Chance zur Gegenwehr gehabt haben.« »Mich überrascht es, daß er nicht schon vorher abgemurkst wurde«, unterbrach Adair. »Mit seinen Flugblättern und ewigen Drucksachen war er für die ganze Umgebung eine reine Landplage.« Shastri nahm eines der Fotos in die Hand, die am Tatort gemacht worden waren und Fairley in Großaufnahme zeigten. Der Kopf war im rechten Winkel abgedreht, das Gesicht einer Ziegelmauer zugewandt. Die Augen waren offen. Das Entsetzen stand noch darin. Der Mund war aufgerissen. Auf einem weiteren Foto waren die verstreuten Drucksachen zu sehen, die durch den Kampf und durch den Wind davongewirbelt worden waren … »War die Verteilung solcher Flugblätter gegen das Gesetz?« erkundigte sich Shastri. »Nein, aber trotzdem fiel er jedem auf den Nerv. Er hatte die komischsten Ideen. Hört mal zu, Leute«, wandte sich Adair an Shastri und Wrench, »es wird spät, und ich habe auch noch anderes zu tun. Wenn Sie jetzt fertig sind, würde ich den Laden gerne schließen.« »Charlie, um Himmels willen«, sagte Terranova, »der Mann
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kann uns noch einiges beibringen.« »Okay. Dann mal los!« Adair legte die Füße auf den Schreibtisch: »Schießen Sie los.« »Zuerst einmal: Fairleys Mörder mußten diesen indischen Schal erst mal von irgendwoher, von irgend jemanden bekommen haben.« »Klar. Von einem Trödler, der fernöstlichen Krempel verkauft. Vom Turban über die Wasserpfeife und was man sonst noch alles haben will. Am Harvard Square gibt’s ein paar solcher Schuppen. Also, Leute, Ihr müßt es sehen, wie es nun mal ist. In dieser Stadt und in Cambridge gibt es tausendundeinen Spinner, die sich diesem oder jenem Kult widmen. Schwarze Magie, Hexerei, Teufelsanbetung, Hare Krishna, freie Liebe, alles. Es kann ja sein, daß zwei von diesen verrückten Kerlen etwas über Thugismus gelesen haben und sich entschlossen, es selbst mal an irgendeinem armen Schwein auszuprobieren. Es hätte schlimmer sein können, sie hätten an einen respektableren Bürger geraten können. Damit will ich nur sagen, daß Abel Fairley der gleiche Spinner war. Ich weiß, Sie meinen es gut, aber es gibt nichts, was mich noch schockieren kann. Diese neue Generation probiert eben alles aus.« »Verdammter Blödsinn!« schrie Wrench plötzlich und lehnte sich über den Schreibtisch: »Adair, wenn sich hieraus mehr und Schlimmeres entwickelt, als Sie heute noch glauben, werden Ihre Dummköpfe …« Shastri nahm ihn am Arm und zog ihn zurück: »So geht es nicht.« »Worauf Sie sich verlassen können!« schrie Adair nun seinerseits und stand auf. »Was glauben Sie denn, in drei Teufels Namen, wer Sie sind, Wrench? Ich habe die Schnauze von FBI-Leuten wie Ihnen, die sich immer nur in meine Angelegenheiten mischen, voll. Um es gleich zu sagen: Ich hatte nicht die Absicht, hierbei anwesend zu sein.«
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»Was nicht zu übersehen ist.« »Natürlich. Ich habe Besseres zu tun, als mit Ihnen über diesen ›Gunga Din‹-Scheiß zu diskutieren.« Shastri gab Wrench ein Zeichen, die Nerven zu behalten. »Es war kein einfacher Tod«, sagte er mit Nachdruck. »Es war ein brutaler Mord von Amateuren, der mit dieser Schlinge begangen wurde.« Er hielt den Schal in die Höhe. »Ob diese Mörder nun mit Thugs in Verbindung stehen oder nicht, Captain, sie sind bestimmt gefährlich und jedes grausamen Mordes fähig.« »Fairley wäre so oder so nicht in der Lage gewesen, sich zu verteidigen. Ich bin deswegen nicht besonders beeindruckt. Hier drüben in Amerika geht es eben ein wenig rauher zu. Mit Schießereien, Messern und Muskeln, nicht mit einem beschissenen Stück Seide …« Was in diesem Augenblick mit Shastri vorging, konnte er selbst später nicht mehr erklären. Seine schmalen Hände warfen den Schal mit dem beschwerten Ende, in dem die Rupie steckte, durch die Luft und über Adairs Kopf. Er hielt das eine Ende fest, während sich die Schlinge hinter Adairs Ohren zusammenzog. In dem Versuch zu schreien, öffnete der Captain den Mund, schloß ihn wieder und schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft. Der Druck war hart, und seine Kehle begann sich zusammenzuziehen, als Shastri leicht an dem freien Ende zog. Dann ließ Shastri los. »Sehen Sie?« sagte er. »Bastard!« keuchte Adair und hielt seinen Hals fest. »Sie –« Er murmelte etwas Unverständliches »– Bastard!« Shastri glaubte, das unverständliche Wort hätte »Schwarzer« geheißen, doch er war sich nicht ganz sicher. »Wie Sie sehen«, stellte er fest, »ist die Thug-Schlinge eine genauso hervorragende Waffe wie ein Schießeisen oder ein
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Messer, von Muskeln ganz zu schweigen.« Adairs Wut war unbeschreiblich. Sein Gesicht war verzerrt, während er hustete und schrie, daß Shastri versucht habe, ihn umzubringen. »Das«, versicherte ihm sein Gegenüber, »ist nicht wahr, und das wissen Sie!« Adairs freie Hand griff nach dem Revolver. Terranova sprang schnell auf und schob Adair gegen die Wand: »Sachte Charlie, sachte!« Und zu den beiden anderen sagte er, über die Schulter gewandt: »Sie gehen jetzt besser.« Wrench, der bis jetzt völlig verblüfft und regungslos dagestanden hatte, geriet in Bewegung und schob Shastri zur Tür. »Um Gottes willen, Ram! Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?« Hinter der geschlossenen Tür hörten sie Adair weiterbrüllen. Sie eilten den Korridor entlang zum Ausgang und verließen das Gebäude. Auf Wrenchs Winken hin hielt ein Taxi an. Sobald sie drin saßen, fuhr er fort: »Verdammt noch mal, Ram, da hast du dir einen Feind gemacht.« »Das war er schon vorher, Steve.« »Wo wollen die Herren hin?« fragte der Taxifahrer. Wrench gab ihm die Adresse der Pinckney Street. »Nun wird Adair nie mehr mit uns zusammenarbeiten.« »Das hätte er ohnehin nicht getan. Das stand für ihn schon fest. Wir haben ihn mit unseren Fakten bloß verunsichert.« Wrench griff nach seiner Pfeife. »Du hättest es mir überlassen sollen, lieber Himmel. Gerade eine Minute vorher hast du mir zugewunken und gesagt, daß ich mich beruhigen soll, und dann gehst du los und lieferst ihm eine Demonstration wie im Bilderbuch. Verdammt, Ram. Er ist Captain bei der Kriminalpolizei. Er hat einen gewissen Einfluß. Eine Vorführung wie diese genügt, um dich auszuweisen. Am besten telefoniere ich gleich, sobald wir zu Hause sind.«
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Shastri studierte das Muster, das die Schneeflocken auf dem Wagenfenster hinterließen. Es schneite jetzt weniger, und er fühlte sich enttäuscht. Er hätte sich einen Schneesturm gewünscht, einen Blizzard, um zu erfahren, was Schnee alles anrichten kann. Aber er stimmte zu: »Es tut mir leid, Steve. Du hast vollkommen recht. Ich konnte nicht widerstehen. Adair hatte nicht das geringste Mitgefühl mit dem armen Kerl, dem Fairley. Kannst du dir vorstellen, was er leiden mußte? Je mehr er sich wehrte, desto länger dauerte die Qual. Amateure haben das verlängert, was ein schneller und schmerzloser Tod sein sollte, so grausam auch der Thug-Mord ist.« »Das klingt, als bescherten die Thugs ihren Opfern eine Art Gnadentod.« »Also du, ich hab’ genug von dem, was Adair darüber gesagt hat. Selbstverständlich lehne ich jeden Thug-Mord ab, und wenn er noch so perfekt begangen wurde, aber eines steht fest: Einer, der die Schlinge zu führen weiß, erledigt sein Opfer in Sekunden. Fairleys Tod war eine langsame Tortur, und was mich so aus der Fassung gebracht hat, ist, daß wir es nicht mit dem in Verbindung bringen können, was wir suchen. Zwei unerfahrene Mörder, ein Mann und eine Frau, beide Kaukasier.« »Der Schal, die Rupie …« »Ich weiß, ich weiß. Vielleicht hat Adair recht. Vielleicht haben sie die Schlinge bei einem Trödler oder sonstwo aufgegabelt.« Wrench setzte sich zurück und paffte seine Pfeife: »Gut, ich werde mich mit Washington in Verbindung setzen, um dich abzusichern. Aber um alles in der Welt, Ram, wir müssen verdammt vorsichtig sein. Sonst stehen wir am Ende wie zwei vertrottelte, senile Narren da. Bei den Behörden dieses Landes
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gibt es noch mehr Schafsköpfe, schlimmere als Adair, und du mußt lernen, falls dir jemand eine Ohrfeige verpaßt, auch die andere Wange hinzuhalten. Sonst sehe ich dich auf dem Weg zurück nach Indien, bevor wir noch begonnen haben. Und das gilt auch für mich selbst, Ram. Ich war viel zu schnell mit meinem Jähzorn bei der Hand.« Shastri nickte. Einige Frauen an der Straßenecke versuchten, ihre Röcke festzuhalten, die der Wind hochblies. »Ich hasse barbarisches Verhalten«, gab er zu, und als Wrench nicht antwortete, dachte er sich: Auch gut. Die Frauen da draußen interessierten ihn plötzlich. Sie sahen so distinguiert und so von der Männerwelt entfernt aus, nur mit ihren eigenen Sorgen und den im Wind flatternden Röcken beschäftigt. Fremde Frauen, ihre Körper, ihr Duft … Er mußte an Ileana denken, die für ihn gelogen hatte und ihn, selbst aus der Entfernung noch, zu schützen versuchte. Er vermißte Ileana schrecklich, und der Anblick dieser Frauen verstärkte seine Sehnsucht und die Schwere seines Verlustes. Vielleicht war er unbewußt bemüht, hier drüben alles zu tun, was verboten war, nur, um wieder zurückkehren zu können? Später teilte er es Wrench in seiner Wohnung mit. »Ich vermisse Indien. Alles. Gutes oder Schlechtes in diesem Land. Das verblüfft mich«, sagte Shastri nachdenklich. »Ich muß lernen, damit umzugehen. Noch nie habe ich mich so als Patriot gefühlt.« »Warum denn auch nicht?« entgegnete Wrench verständnisvoll. »Auf dem Flug von Tokio saß ich neben einem alten Herrn, einem Chinesen, einem wirklich erfreulichen, sympathischen Mann, doch ich fürchte, ich war nicht in der Lage, ihn richtig einzuschätzen. Er hatte eine Miniaturpagode bei sich, ein Spielzeug mit zwei kleinen Mandarinfigürchen, die abwechselnd hinter einer Tür der Pagode verschwanden und heraustra-
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ten.« Shastri machte eine kleine Pause, um festzustellen, ob Wrench seine Erzählung langweilte. Das Thema war nicht Thugismus, aber dafür viel persönlicher als sonst. Wrench, der seinen Zweifel wohl spürte, lächelte Shastri jedoch zu. Immerhin waren sie alte Freunde. »Diese Figürchen waren entzückend, beide bärtige Männchen mit langen Zöpfen, einer in Gelb, der andere in Rot und mit diesen komischen Kappen mit dem kleinen Knopf obendrauf. Sie hatten jeder sein Türchen, hatten jeder die Hände in den Ärmeln versteckt, traten aus der Pagode heraus, verbeugten sich und kehrten wieder zurück. Etwas für die Sammlung eines Liebhabers. Nun, ich flog erster Klasse. Wir waren nur wenige Passagiere, der tadellos angezogene, alte Chinese, ich, eine Frau mit einem verzogenen, etwa achtjährigen kleinen Jungen. Das Pagodenspielzeug forderte das ganze Interesse des Kindes, und der gute Chinese nahm den Jungen auf die Knie, bediente den Mechanismus, und die beiden Miniaturmännchen traten unaufhörlich vor und zurück und verbeugten sich immer wieder.« Shastri erhob sich aus seinem Sessel, trat zum Fenster und bewunderte die Esplanade, auf die der Schnee immer höher und höher fiel. »Der chinesische Gentleman, der sich mir nicht vorstellte, betrachtete die Zeitung, die ich las, und fragte mich, ob ich aus Indien käme. Ich bejahte das, und er erzählte mir, ohne zu zögern, daß er zwar die amerikanische Staatsbürgerschaft besäße, jedoch in Hongkong geboren sei. Er pflegte Inder abzulehnen, erzählte er mir in einwandfreiem Englisch, denn seinerzeit brachten die Briten Sikhs mit, die sie in Hongkong als Polizisten einsetzten, und kein Chinese mochte diese Leute, die sie als grausam und trunksüchtig betrachteten. Als die Chinesen schon mathematische Probleme lösten, haben die Sikhs sich zweifellos noch gegenseitig zum Frühstück verspeist. Das war jedenfalls die Auffassung in der chinesischen
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Bevölkerung. Später, als er nach New York umzog, traf er eine Gruppe indischer Austauschstudenten und entdeckte erst da, daß nicht alle Inder so wie die Polizisten in Hongkong waren.« Stille. »Und?« fragte Stephen Wrench. »Ich saß da, hörte zu und entdeckte plötzlich, daß ich ein wutschnaubender Patriot war. Ein Sikh gehört ebenso zu Indien wie dravidische Bauern, die wahrscheinlich die Urbevölkerung des Landes begründeten. Nun ja, das ist es, was so verletzt, Steve. Ich bin sicher, daß die Sikhs die ihnen gestellten Aufgaben völlig übertrieben haben. Insofern hatte der alte Mann recht. Dennoch stemmte ich mich gegen seine Kritik gegenüber allem, was indisch ist. Es ist ziemlich unerfreulich, wenn man auf Reisen entdecken muß, daß man selbst eine Variante des ›häßlichen Amerikaners‹ darstellt.« »Ich glaube, so schlimm ist es gar nicht, Ram. Aber die meisten von uns verteidigen eben die Heimat, sobald sie sie verlassen haben. Das ist doch normal. Hier drüben bist du ein Fremder in einem fremden Land. Das geht vorüber.« Er lachte. »Erinnere dich, wie schnell sich das ändern wird, wenn du eines Tages nach Indien zurückkehrst.« Shastris Gedanken schweiften zu Ileanas Armen zurück, zu Krishna Rasuls ekelhafter Angewohnheit, sich auf die fetten Oberschenkel zu schlagen und dabei von »ihr« und »ihnen« zu sprechen. Ja, es würde ihm guttun, sich davon zu erholen. Er konnte den stiebenden, leichten weißen Schleier, der hier zur Erde niedersank, genießen. »Erledige deinen Telefonanruf«, sagte er, »du hast mich gründlich davon überzeugt, daß ich mich genau da befinde, wo ich hingehöre.«
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12 »Ich liebe dich, Kesari«, sagte Santha Wrench. Sie beobachtete George Buchan, wie er noch rechtzeitig bremste, um einem Caravan auszuweichen, der mitten auf der Berkeley Street wendete. Er biß die Zähne zusammen, während sich der Audi ruckweise auf die linke Straßenseite hinüberschob. »Verdammte, enge Straßen New Englands«, fluchte er. Sie waren ursprünglich für Pferdewagen gebaut worden; an Autos hatte da noch niemand gedacht. Santha hörte ihm zu und war sich darüber klar, daß sein Zorn noch andere Ursachen haben mußte als das schwierige Manövrieren auf dieser Straße. Einen Augenblick später fragte George: »Du nennst mich wieder mal ›Kesari‹. Was heißt das eigentlich?« »Kesari«, erklärte Santha lächelnd, »heißt ›Löwe‹, mein edler Kesari.« George schüttelte den Kopf: »Also, ich fühle mich eigentlich nicht wie ein Löwe. Eher fühle ich mich gerade jetzt so wütend wie die beiden großen Katzen in Rousseaus Yardwigas Traum.« Er sprach von einem Gemälde, das Santha besonders liebte. Sein Ton klang bitter. »Warum bist du wütend, George?« Er antwortete nicht, sie war erleichtert. Sie blickte auf die Stadt hinter der weißen Barriere hinüber. Der Straßenverkehr und der Schnee schienen wie miteinander verschmolzen. Der Sturm hatte die Herrschaft übernommen, und die Wagen taten, was er befahl. Die hin und her jagenden Böen da draußen ließen Santha 203
über sich selbst nachdenken. Auch sie wurde von irgend etwas gebeutelt, wurde hin und her geworfen. Jetzt, gerade in diesem Augenblick, wünschte sie, sie könnte George alles erzählen. Doch die Erinnerung an das Gesicht in dem Spiegel, damals im Damenwaschraum auf dem Flugplatz, hielt sie davon zurück. Dieses Gesicht sollte George niemals sehen. Niemals. Santha wußte, daß er sich über sich selbst ärgerte, darüber, daß er zögerte, sie zu fragen. Früher oder später würde der Arzt in George wieder die Oberhand gewinnen, oder sein anderes Ich, der Künstler in ihm, würde die Wahrheit entdecken. Mit der Zeit würde es vor Georges Erkenntnissen kein Entrinnen mehr geben. Den Künstler fürchtete Santha am meisten. George hatte sie vor kurzem gezeichnet, in der Absicht, das Porträt später in Öl auf die Leinwand zu übertragen. Würde diese Arbeit allen enthüllen, daß auch sie zwei Ichs mit sich herumtrug? Oder war es mehr eine Überlagerung des einen Ichs durch das andere? Das Gesicht im Spiegel. Sie mußte noch einige seiner Züge getragen haben, als sie in die Barhalle zurückkehrte. George hatte es sofort entdeckt. Das Gesicht, das Santha gesehen hatte, war entstellt gewesen. Warum dachte sie, daß es »entstellt« gewesen war? Warum hatte sie kein anderes Wort dafür? Warum nicht das Wort »verwischt«? Oder warum nicht »vom Lippenstift verschmiert«? Das klang noch schlimmer. War überhaupt ihr Lippenstift daran schuld gewesen? Santha benutzte nur sparsam Make-up, ohne extremen Lidschatten beispielsweise. Wo war der entstellende Ausdruck überhaupt gewesen? In ihren Augen? Um ihren Mund herum? War ihre Stimme entstellt gewesen? Verblüffend gegenwärtig irgendwo, aber wo? Und wer, welche Santha war das damals gewesen? George drückte auf die Hupe. Der Fahrer vor ihm reagierte nicht. George verließ die Stadtmitte und bog in die Charles
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Street ein. Von weitem erkannte man die nebelhaften Umrisse Beacon Hills. »Laß uns doch schnell bei DeLuca vorbeigehen und einkaufen. Dann essen wir in deiner Wohnung«, schlug Santha vor, »ich möchte gern mal wieder selber kochen.« George war einverstanden. Dieser Vorschlag schien ihn zu erleichtern. Sie brauchten es, wieder einmal ganz nahe zusammenzusein. Das las sie in seinen Augen, als sie ihn anschaute. So schien also die andere Santha im Augenblick nicht gegenwärtig zu sein. Es war wie früher, so als ob nie etwas geschehen wäre. Der Laden von DeLuca war überfüllt. Die Leute kauften wegen des Schneesturmes auf Vorrat ein. Erfreut über Georges veränderte Stimmung, tätigte Santha ihren Einkauf mit Genuß. »Wir werden Currylamm kochen«, kündigte sie an. Ihre Stimme klang fröhlich über den Einkaufslärm hinweg; es sollte Artischocken und einen guten Tafelwein dazu geben. Ihr gelang es, bis zum Verkaufsstand des Metzgers vorzudringen, und bat dort, daß man ihr das Lamm zerteile. Sie freute sich, daß sie wieder einmal richtig zum Kochen kam. Irgendwann, jetzt, wo Daddy wieder gesund war, würde sie in die vollen gehen (auch so eine amerikanische Redensart) und richtigen bengalischen Curryfisch kochen. Das und Kofta-Fleischbällchen oder ein anderes indisches Fischgericht, Macher Mauli, oder sogar indische Eiscreme. Sie beobachtete die anderen Kunden an den gläsernen Schaukästen vor der Fleischtheke. Eine ältere Frau mit reichverziertem Spazierstock machte ihre Bestellung mit der Gestik einer großen Dame, die ihre Dienstboten kommandierte. Wetten, daß sie jemand Besonderes ist? dachte Santha, während sie ihr Beacon-Hill-Lieblingsspiel spielte, das darin bestand, Leute einzuschätzen, die ihrer Besonderheit wegen ihren Wohnsitz in Beacon Hill hatten. Ich wette, setzte sie ihren Gedankengang
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fort, sie ist Schriftstellerin oder irgend etwas Ähnliches. Sie klingt so literarisch und hat eine Ausstrahlung wie eine typische Athenäum-Schmökerin, die ständig in der großartigen, alten Athenäums-Bücherei herumstöbert. So was Ähnliches wird sie sein. Vermutlich spricht sie fließend drei bis fünf Sprachen und hat die ganze Comédie Humaine von Balzac gelesen. Es muß Balzac sein. Proust würde sie wahrscheinlich langweilen. Sie ist alt genug, um der klassischen Form der Novelle den Vorzug zu geben. Dann war da noch eine untersetzte junge Frau, die ihre Tasche hin und her schwang, während sie die ausgelegten Kalbskoteletts inspizierte. Vermutlich eine Studentin, dachte Santha, wenn man die büchergefüllte Tasche in Betracht zog. Was mochte wohl ihr Fach sein? Wohl kaum die humanistische Richtung. Dazu wirkte sie in der frischgebügelten Kleidung mit diesem absichtlichen Touch von Ausgeglichenheit, als wäre sie schon lange getragen, bewußt zurechtgemacht. Papierstreifen ragten aus den Büchern in der Tasche. Eine kleine, regelmäßige Schrift war auf ihnen zu erkennen. Nun ja, vielleicht war Psychologie ihr Hauptfach? Oder Sozialwissenschaften? Santha betrachtete ihr Spiegelbild im Glas der Theke. Würde Onkel Ram nicht von ihren detektivischen Fähigkeiten begeistert sein? Ihr forschender Blick schweifte weiter durch den Raum und hinüber zu der Abteilung mit alkoholischen Getränken. Wir brauchen heute abend noch einen Aperitif und einen Tafelwein, überlegte sie. Was macht der denn dort? dachte sie plötzlich. Der war ein sehr großer, mindestens drei Zentimeter größerer Mann als George Buchan. Santha drehte sich nach George um, der am Gemüsestand, etwa einen halben Meter entfernt, war. So erlaubte sie sich den Luxus, den Fremden weiter zu betrachten. Er war nicht der Typ Mann, den Frauen anstarren, während ihr Liebhaber zugegen ist. Sein Alter schätzte sie auf
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Mitte Dreißig. Ein lockiger Michael-Caine-Typ, mit stark angegrautem Haar, dachte Santha. Wenn es so etwas wie gelbliches Grau gäbe, müßte man diese Bezeichnung dafür wählen. Auch die Augenbrauen waren hell, sein Gesicht aber so jugendlich, daß sie sich über seinen weißblonden Bart wundern mußte. Als sie bei diesem Punkt ihrer Beobachtung angelangt war, tat er einen Schritt vorwärts zu einem der Flaschenregale hin. Sein Blick erfaßte sie und blieb auf ihr ruhen. Er war zu weit entfernt, als daß sie seine Augenfarbe hätte erkennen können. Sie nahm an, daß sie so blau wie das Eisblau von Glasmurmeln waren. Er wandte ihr den Rücken zu, als er sich über die Flaschen beugte. George trat an ihre Seite. »Die Artischocken sehen gut aus«, sagte er. Sie gingen zum Gemüsestand hinüber, kauften noch einige spanische Zwiebeln für die Currysoße ein und witzelten, daß es ja, wenn sie sich heute abend küssen würden, egal sei, wenn sie beide Zwiebeln äßen. Düfte führen zu weiteren Düften. Santha schnupperte, schreckte plötzlich auf und lauschte. Blitzschnell wandte sie sich um und gesellte sich zu zwei Männern, die bei den Tomaten standen. Es waren Inder. Santha sprach eine Weile unbefangen mit ihnen. Als sie zurückkam, sah George erleichtert aus. Santha erzählte: »Sie sind aus Varanasi. Sie sprachen Bihari. Der große, Bärtige – er heißt Makunda – ist dort geboren. Da mein Hindi besser als ihr Amerikanisch ist, bat ich sie, mit mir in Hindi zu sprechen, und habe ihnen gezeigt, wie sie die Tomaten und Peperoni in die Tüten verstauen können und ihnen erklärt, wie sich die unerträglichen Massachusetts-Steuern zusammensetzten. Es ist lustig, Makunda hatte Attar, ein Rosenöl, welches die moslemischen Stämme im Norden bevorzugen, in seinem Bart. In seiner Jugend war er eine Zeitlang in Nordindien gewesen, erzählte er, dort habe er die gleiche Gewohn-
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heit angenommen.« »Was ist denn daran so bemerkenswert?« »Daß Erinnerungen nach so vielen Jahren so ausgeprägt zurückkehren. Als ich noch ein kleines Mädchen in Indien war, hatten wir einen moslemischen Diener, der mich oft auf den Armen trug. Er hatte auch immer Attar in seinem Bart.« »Dieser Makunda hat dich aber gewaltig angestarrt und beim Abschied deine Hand ein bißchen zu lange in seiner gehalten.« »Er sagte … daß ich hübsch sei.« »Das bist du auch. Aber er sah aus, als ob er dich auf der Stelle entführen wollte.« »Na, und was ist so schlimm daran? Er kann mich ja nicht entführen, oder?« »Nein, aber ich möchte es trotzdem nicht. Er sah dich an, als wärest du, wie alles ringsum, eßbar, als ob er dich pflücken und gleich verspeisen möchte.« Santha lachte: »Verpack mich mal. Stell mich ins Regal und kleb mir ein Schildchen mit meinem Pfundpreis auf.« Jetzt mußte auch er lachen. »Komm!« drängte er und schob das Einkaufswägelchen zu den alkoholischen Getränken hinüber. »Laß uns mal bei den Weinen bleiben. Wie wäre es denn mit einem Campari als Aperitif? Und einem weißen Burgunder zum Hauptgang?« »Genehmigt«, zirpte sie und wäre fast mit dem großen, schlanken, blauäugigen Weinkenner zusammengestoßen. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte sie, daß sie richtig vermutet hatte. Seine Augen begegneten den ihren und zwinkerten ein wenig nachdenklich. Santha entschuldigte sich und blieb mit dem Blick an seinem rosa Hemd und der schwarzen Krawatte hängen, während er über ihre Schulter schaute und rief: »George! George Buchan! Das ist ja großartig, dich wiederzusehen!« Überrascht sah Santha zu, wie George die Hand des anderen
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herzlich schüttelte. »Kurt Leinster, du lieber Himmel! Ich habe dich ja jahrelang nicht mehr gesehen. Ich dachte, du bist in Rom?« Das wäre er auch gewesen, erzählte Kurt. Vor einem halben Jahr wäre er in die Gegend von Boston zurückgekehrt. Hatte George sein Medizinstudium in Harvard zu Ende geführt? Ja, erwiderte George, er sei nun Psychiater. Großartig, und wie ginge es Georges Familie? Die sei in Arizona und mache Ferien bei Georges Onkel, auf einer Ranch bei Phoenix. »Wie geht es deinen Leuten, Kurt?« »Ach, mit denen ist es immer das gleiche. Ich habe nicht viel Kontakt zu ihnen. Aber wie geht es denn dem …?« Und dann ging es mit Erinnerungen und der Erwähnung von Studienfreunden los. Santha stand zwischen den beiden hochgewachsenen Männern, die weder Notiz von ihr nahmen noch daran dachten, sie miteinander bekannt zu machen. Sie fühlte sich, als gehöre sie nicht dazu. So schob sie den Einkaufswagen zur Weinabteilung hinüber. George rief hinterher: »O Santha, es tut mir leid!« Sie wandte sich lächelnd um: »Ist schon gut, George, ich verstehe ja, wenn sich alte Freunde treffen.« »Kurt und ich waren zusammen in Harvard.« »Wirklich?« George runzelte wegen ihrer sarkastischen Reaktion die Stirne. Kurt hingegen schien es gar nicht zu merken. »Santha Wrench, Kurt Leinster«, stellte George vor. »Wir haben uns schon bei einem Zusammenstoß kennengelernt«, hörte sie ihn sagen und verkrampfte sich bei der Art, mit der er sie fixierte … »Hallo«, sagte sie kühl, wieder im Begriff, das Wägelchen zu den Weinen hinüberzuschieben. George bat: »Laß uns doch bald wieder zusammentreffen.« »Gern. Wie wäre es denn mit morgen, George? Ich rufe dich
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morgen an, wenn du mir deine Telefonnummer gibst. Dann können wir ja alle zusammen zum Essen gehen.« »Prima, hier ist meine Visitenkarte. Aber ruf auch wirklich an und warte nicht wieder Jahre …« »Keine Sorge. Ich rufe bestimmt an.« Santha war damit beschäftigt, ihre Einkäufe zu stapeln. »Es war ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Santha«, hörte sie. Sie hob den Kopf. »Ebenfalls«, erwiderte sie gleichmütig, konnte es jedoch nicht verhindern, daß sie ihm nachschaute, als er davonging. »Also, so was, Kurt so unvermutet zu treffen!« George strahlte. »Kurt ist eine besondere Art Mensch, wie man sie heutzutage nicht mehr allzuoft trifft. Er ist sehr kultiviert, spricht etwa sieben Sprachen fließend, Russisch inbegriffen. Er ist außerdem ein überdurchschnittlich guter Musiker. Unter anderem spielt er die Zither.« »Das ist beeindruckend.« »Er zeichnet auch sehr gut, hat zwei Gedichtbände herausgegeben, ist Experte in bezug auf florentinische und flämische Malerei, russische und griechische Ikonen, kann dir genaue Beschreibungen einer jeden Schlacht des Peloponnesischen Krieges geben und zitiert Homer in griechischer und in englischer Veralberung.« »Das geht mir schon über die Hutschnur, von der Veralberung abgesehen.« Santha runzelte die Stirn. »Dann ist Kurt Leinster also ein Bildungsathlet, ein Ausnahmefall.« »Ganz gewiß. Sicherlich wäre er glücklicher, wenn er früher zur Welt gekommen wäre, vor Jazz und Rock, vor Kino und selbst vor Autos. Er hat, soweit ich mich erinnere, nicht mal einen Führerschein.« »Das ist nun wirklich ganz unamerikanisch«, meinte sie scherzend, war jedoch gleich wieder angespannt. »Ich bin heil-
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froh, daß wir den Rest des Tages nun endlich alleine sind«, grollte sie, nachdem sie den Laden verlassen hatten. »Worüber ärgerst du dich?« »O George, laß uns allmählich nach Hause gehen«, rief Santha, während sie sich der Mount Vernon Street zuwandten. Sie ergriff seinen Arm und zog ihn in das kleine Verbindungssträßchen zwischen Charles Street, Kirche und Feuerwache. Irgendwie schien ihr dieses romantische Gäßchen vom Rest der Welt abgetrennt zu sein, besonders wenn, wie jetzt, der Schnee so dicht fiel und die alten Beacon-Hill-Häuser mit weißen Kappen versah. Sie stellte sich vor, daß es hier um die Jahrhundertwende genauso ausgesehen hatte, ein New-EnglandDorf mitten in der Stadt, stolz auf seine Geborgenheit und Bedeutung. »Ich liebe diese Gegend sehr«, sagte sie. Fast hätte sie hinzugefügt, daß sie sich hier irgendwie geborgen fühlte. Sie schauderte und mußte plötzlich an den Vorfall im Waschraum des Flughafens denken. »Ich brauche ein Bad.« »Ein Bad?« wiederholte George. »Ja, ein Bad«, sagte sie entschieden. »Was ist denn daran so merkwürdig?« »Nichts, nichts. Warum bist du denn so heftig?« »Ich nehme an, daß mir deine Reminiszenzen mit deinen Harvardkumpel zuviel wurden.« »So hast du dich also vernachlässigt gefühlt?« »Einen Augenblick lang schon.« Santha lachte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Sie wußte, daß George gerne die Arme frei gehabt und keine Einkaufstüten getragen hätte, um sie küssen zu können. Sie lachte und genoß den kurzen Augenblick der Macht, die sie auf ihn ausübte. Schnee fiel aus ihren Haaren, und die verbliebenen Wassertropfen funkelten darin wie Edelsteine.
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»Dein Haar macht mich geil«, gestand George. »Na prima«, lachte sie, »jetzt leidest du noch ein bißchen länger. Das ist gut für die männliche Seele, falls es so was gibt.« Wieder lachte Santha. »Also schön, nimm ein Bad bei mir«, meinte er grollend. Sie nickte fröhlich, und zuerst gingen sie zur Lime Street in ihre Wohnung. Die Jalousien waren hochgezogen, die Vorhänge offen. Das bißchen Licht, das es an diesem stürmischen Nachmittag gab, drang dünn ins Wohnzimmer. Santha eilte zum Kleiderschrank ins Schlafzimmer, holte sich frische Kleider heraus, griff nach ein paar Kosmetikartikeln, die sie in die Tasche stopfte, bohrte George ihren Zeigefinger in den Magen und sagte: »Na, dann mal los!« Sie knöpfte ihren Mantel wieder zu, schlang sich den langen, weißen, gestrickten Wollschal um ihr Kinn und blickte über den Rand des Schales wie eine Verschleierte hinweg, so wie sie das bei den käuflichen Mädchen in der Kalkuttastraße gesehen hatte, ergriff seine Hand und zog ihn hinaus. Doch er mußte gar nicht erst gedrängt werden. Als sie am Otis Place ankamen, sagte George: »Ich werde kochen, während du ein Bad, das du so verdammt nötig hast, nimmst. Ich garantiere dir, wenn du fertig bist, wird das Abendessen so toll wie im Luxusrestaurant schmecken.« »Ich verstehe. Das spart Zeit, nicht wahr? Du bist wirklich ein geiles Mannsbild.« »Das bin ich, mein Liebling, sehr sogar.« Santha zog sich den Schal herunter, warf George einen bedeutungsvollen Blick, wie ein versiertes Straßenmädchen, zu und eilte aus dem Zimmer, bevor er sie auch nur berühren konnte. Im Bad summte sie eine Melodie vor sich hin, während sie die Wasserhähne öffnete. Dann mußte sie an Kurt Leinster denken und hörte zu summen auf. Wenn George doch bloß
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nicht Leinsters Einladung zum Abendessen angenommen hätte! Sie hatte es ganz und gar nicht gemocht, wie Kurts Augen sie bei der Vorstellung taxiert hatten. Santha stieg in die Wanne und saß bis zum Hals im Badeschaum, von dem Duft aromatischen Badeöls umgeben. Kurts Blick war mehr als lüstern gewesen, überlegte sie. Er war verdammt besitzergreifend. »Ich gehöre George Buchan«, sagte sie laut. Das Wort »gehören« wirkte plötzlich wie eine Drohung. Sie gehörte keinem, noch keinem, wiederholte sie, während sie sich abtrocknete und in einen Kimonohausmantel hüllte, nachdrücklich. Ihre Reaktion war so unerwartet heftig, daß sie selbst einen Schreck bekam. Santha ging in den Flur hinaus und öffnete dort ein schmales Fenster, das zum Hinterhof hinausführte. Der Sturm fuhr hinein. Santhas Haut wurde im Nu von den kleinen Tropfen feucht. Ihr Haar, soeben noch lose über ihre Schultern fallend, verwirrte sich im Luftzug, und seine rabenschwarze Oberfläche war augenblicklich von einem Netz weißer Flocken bedeckt. Ihre Lippen teilten sich wartend. Sie löste den Kimono, und ihre Brüste hoben sich dem Sturm entgegen. Dann starrte sie auf den vagen Umriß hinter dem Schneeschleier, dort, wo er sich vor der Straßenlaterne in Wirbeln drehte. Santha Wrench zuckte peinlich berührt zurück und schmetterte das Fenster zu. Sie drehte sich heiß errötend zur Wand um, krallte ihre Fingernägel in die Tapete und zog den Kimono fest um ihre Brust. Unmöglich konnte dort heute abend bei diesem Wetter jemand stehen. Nein … Aber sie hatte jemanden gesehen. Eine Gestalt, kaum erkennbar, stand dort unten und blickte zu Buchans Wohnung hinauf.
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Trotz des Schneeschleiers, der das Licht der Straßenlaterne trübte, hatten die Umrisse den ungefähren Eindruck eines bärtigen Mannes ergeben und die Ausbuchtung eines Turbans auf seinem Kopf erkennen lassen. Der Bart war lockig, und der Schnee wirkte darin wie weißer Rasierschaum. Zweifellos duftete er nach Attar. Ohne es sich erklären zu können, vermutete sie, daß es der Mann gewesen sein mußte, der sich Makunda nannte.
13 Der Sturm hatte allmählich nachgelassen und rüttelte nur noch leicht an den Fenstern. Rama Shastri fuhr über die Scheiben und erschauerte unter der beißenden Kälte, die durch das Glas drang. Die Schneearabesken darauf faszinierten ihn. Schnee war immer jenseits seiner Möglichkeiten gewesen, in gewisser Weise auch jenseits seines Begreifens. Während seiner kurzen Aufenthalte in England hatte Shastri hier und da ein wenig bereits schmelzenden Schnee liegen sehen, aber nur auf den Dächern und Glockentürmchen von Oxford. Es hatte sich immer so ergeben, daß er sich im Winter in Indien aufhielt und vom wirklichen Schneefall auf den Britischen Inseln nie etwas mitbekam. Kam er dann zurück, war der Schnee längst verschwunden. Er hatte nie den Wunsch verspürt, den oberen Ganges zwischen den Gletschern und den schneebedeckten Gipfeln kennenzulernen. Die Vorstellung von Entsagung und Askese, die für ihn damit verbunden war, störte ihn. Shastri zog von jeher die Philosophie dem Mystizismus vor. Seine Logik sagte ihm, daß es nur eine Weltsicht zur gleichen Zeit geben könne, und war von dieser Auffassung auch nie abgewichen. 214
Aber als die Briten die Grenzen für die Karawanen afghanischer, bokharanischer, turkomanischer und mittelasiatischer Christen öffneten, hatte er von Peshawar oftmals zu den Gipfeln mit ihren weißen Schneekronen hinübergeschaut. Seinerzeit hatte er für die Regierung spioniert, eine Arbeit, die er nie gemocht hatte. Er zog sich damals entweder eine weiße afghanische, grüne bokharanische oder turkomanische braungelbe Tunika über und begab sich in die Menge, um Informationen über die Aufstände im Norden zu erhaschen. Wie sich die Briten doch um den Norden Sorgen gemacht hatten! Die Stämme jenseits der Pässe waren fortdauernder Gegenstand ihres Mißtrauens gewesen. Und Shastris Herz hatte angesichts dieses Spionagespielchens nicht höher geschlagen, wie es das später, in den Kriegsjahren gegen die Japaner, tat. Für die Briten gegen die Hindus, Moslems, Buddhisten oder Christen zu arbeiten war nicht das gleiche. Die Japaner hingegen waren ein Übel, von dem Südostasien befreit werden mußte. Die britische Regierung war ein Übel im eigenen, indischen Haus, ein Ärgernis, eine Fliege, die man nicht dulden mußte und es aus irgendeinem Grunde doch tat. In der Rückschau auf vergangene Zeiten schien es völlig unverständlich, daß man den albernen John Bull mit seinem Offiziersstöckchen überhaupt so lange toleriert hatte. Aber selbst von Peshawar aus hatte er nie einen Schneesturm erlebt. Vielleicht würde er eines Tages hier in Boston mit einem Schneesturm Bekanntschaft machen. Seine Reflexionen über den Schnee ließen Shastri hinausgehen. Er mußte jetzt Schnee anfassen, mußte durch das Flockentreiben schlendern. Er ging zum Schrank, den Stephen Wrench ihm zur Verfügung gestellt hatte und der mit Winterkleidung, einschließlich der amerikanischen Wintergummistiefel, gefüllt war. Er zog einen teuer aussehenden, beigen Mantel mit Kapuze
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und Pelzfutter heraus. Seine Körpermaße hatten sich im Laufe der Zeit nicht viel geändert. Insofern war für Wrench und Santha der Einkauf kein Problem gewesen. Außerdem fand Shastri ein Paar schwarze, pelzgefütterte Lederhandschuhe, eine Pelzmütze und einen dicken hellblauen Rollkragenpullover. So begann er sich anzuziehen. Er zögerte eine Weile und überlegte, ob er Steve einen Zettel mit ein paar erklärenden Worten zurücklassen sollte. Steve hatte, bevor er ging, gemeint, Shastri solle sich von der Müdigkeit, die der Zeitunterschied der Reise auslöste, ein wenig erholen, sich hinlegen und schlafen, während er im Großmarkt noch etwas zu essen einkaufen wollte. Aber da Shastri ja nur ein wenig die Charles Street hinaufgehen wollte, hielt er es für überflüssig, einen Zettel zu schreiben, und ging so los. Als er die Charles Street erreicht hatte, änderte er seine Absicht. Er hielt ein Taxi an; doch bevor er einstieg, beugte er sich über einen Schneehaufen am Straßenrand und formte mit beiden behandschuhten Händen einen Schneeball. »Zur Symphony Road, dort, wo sie in die St. Stephen Street einmündet«, sagte er dem Fahrer, sich an Captain Adairs Bericht erinnernd. Das Taxi fuhr los. Shastri studierte den Schnee in seinen Händen, als handele es sich um eine zukunftsweisende Kristallkugel. Es war unklug, sagte er zu sich selbst, sich zur Nachtzeit allein und unbewaffnet in einer fremden Stadt herumzutreiben. Dies war zwar nicht die gefährlichste aller Großstädte, die er bisher kennengelernt hatte, doch lauerten auch hier Gefahren. Der Schneeball zwischen seinen Fingern fühlte sich herrlich an. Shastri preßte ihn, formte ihn wieder, konzentrierte sich ganz darauf und vergaß die Umgebung und die Straßen, durch die sie fuhren. Ja, überlegte er, zur Zeit war er sorgloser als früher. Das Abenteuer im Tempel bei den West Ghats, wo die Thugs sich
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versammelt hatten und Das ermordet worden war, trug dazu bei, die übliche Vorstellung vom Schneid der Bilderbuchhelden verblassen zu lassen. Seitdem hatte er sich nur noch in seinen eigenen Phantasien bewegt, hatte sich, angetrieben von jugendlicher Tatkraft, wie neugeboren gefühlt, obwohl er wußte, wieviel Legende sich um den Begriff Jugend rankte. Jugend war oftmals überfordert, unfähig, selbständig zu handeln und Risiken auf sich zu nehmen. Dennoch wurde die Jugend immer so dargestellt, als sei sie unternehmungslustig, mutig und phantasiebegabt. In Wahrheit machten sich junge Leute jedoch viel zu häufig Sorgen um die Zukunft, während die Älteren schon den Trommelwirbel, der zum Schlußakkord gehörte, der in nicht allzu langer Zeit gespielt werden würde, Voilà vernahmen. Die Älteren zuckten öfter gleichmütig die Achseln und wurden dadurch die Sieger. »Wir sind da, Mister«, sagte der Taxifahrer. Shastri legte den Schneeball neben sich auf den Sitz und griff nach seiner Brieftasche, um den Mann zu bezahlen. Erst nachdem er ausgestiegen und das Taxi davongefahren war, bemerkte er, daß er den Schneeball vergessen hatte. Zuerst wollte er sich einen neuen machen, zögerte jedoch eine Weile und zündete sich statt dessen eine Sher Bidi an. Dann schlug er in die Hände und stampfte frierend mit den Füßen. Er war zwar warm angezogen, doch die Kälte biß ihn in die Nase, in die Wangen und durchdrang ihn bis in die Zehenspitzen. Er mußte über seine unwissenschaftliche Betrachtung der Kälteauswirkung lachen. Shastri blickte sich um. Er befand sich an einer Straßenecke im trüben Schein einer Straßenlaterne. Die Straße vor ihm befand sich im rechten Winkel zu dem Stück Weg hinter ihm. Es mußte also die Symphony Road sein, eine so kurze Straße, daß er von hier aus durch den allmählich nachlassenden Schneefall ihr Ende erkennen konnte. Ja, sie war kurz und wirkte verlassen.
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Stephen Wrench hatte ihm erzählt, daß sich in dieser Gegend, in einem Umkreis von ein paar hundert Metern, eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten Bostons befänden. Die Symphony Hall, das New-England-Konservatorium, das Museum der Schönen Künste und das berühmte Isabella-StewartGardener-Museum. Aber um diese Stunde wirkte das verschneite Sträßchen von jeder Zivilisation völlig abgetrennt. Er schritt aus und hörte den Schnee unter seinen Sohlen knirschen. Dann stand er am Ende des Gäßchens. Rama Shastri hatte in seinem Leben schon eine Menge Tatorte gesehen und natürlich auch eine entsprechende Menge Leichen, die erstochen, erschossen, geköpft und noch schlimmer zugerichtet waren, aber dieser Mord war ihm die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf gegangen. Die unnötige Brutalität, die verlängerte Qual für das Opfer hatten ihn verfolgt. Selbst Folterungen hatten ihren Zweck, sie dienten dazu, Informationen aus jemanden herauszuholen, aber ein von Amateuren ausgeführter Mord nach Art der Thugs war besonders schrecklich. Das unnötig lange Ringen nach Luft, eine furchtbare Qual! Diese Vorstellung zermürbte ihn. Der Polizist in ihm wußte, daß es auf diesem Planeten immer das Böse geben würde, aber wenn das Böse schon nicht zu vermeiden war, sollte es schnell und gründlich getan werden. Das zumindest war ein Anspruch, der den Unschuldigen dieser Welt zustand. Shastri watete durch den tiefen Schnee bis dahin, wo, wie er vermutete, der Mord stattgefunden haben mußte. Das Gäßchen lag voller Schneeplatten, die von den Dächern gerutscht und auf der Straße zerbrochen und zerstoben waren. Ein schwacher Wind war aufgekommen. Im Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte bläulich der Schnee. Die Kristalle glitzerten. Die Unwirklichkeit des Ortes ließ ihn noch tiefer erschauern. Shastri überlegte, warum er überhaupt hierhergekommen war. Welchen Hinweis konnte er hier noch finden, nachdem der
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Schneesturm alles verweht hatte? Oder war es doch nicht so? Shastri warf seine Sher Bidi in einen Schneehaufen, der sich gegen die Ziegelrückwand eines Hauses aufgetürmt hatte. Natürlich gab es hier keine greifbaren Hinweise, solche, wie die Polizei sie suchte. Aber Rama Shastri war hierhergekommen, um zu spüren, nicht um zu denken. Zu spüren, wie einer, der telepathisch begabt ist, nach Vibrationen in einem verlassenen Hause sucht, von dem behauptet wird, daß es darin geistere. Er versuchte, Fühler auszustrecken, psychische Antennen, um … Der Tempel. Er erinnerte sich, versuchte erneut zu erleben, was er im Dekhantempel gesehen hatte … Was hatte hinter dem Erwählten gesteckt? »Du bist verrückt geworden!« sagte er laut zu sich selbst und machte sich auf den Weg zur Straßenecke zurück, von der er gekommen war. Mit schnellen Schritten ging er die St. Stephen Street entlang. An der Ecke der Gainsborough Street sah er die schummrige Beleuchtung eines McDonald’s-Restaurants und stellte fest, daß er hungrig war. Seit seiner Ankunft am Flughafen hatte er nichts mehr gegessen, hatte Wrench gesagt, daß er nichts brauche. Vielleicht fühlte er sich jetzt so schwach, weil er geistig ein wenig aus der Balance geraten war. Sobald er das Restaurant betreten hatte, dachte er nur noch an eine kräftige Fleischmahlzeit. Als er einen uniformierten Mann mit dem gestickten Wort »Manager« über der Brusttasche entdeckte, fragte Shastri: »Könnten Sie mir bitte sagen, wo genau ich mich befinde?« »Ja, Sir, dies ist die Ecke Huntington Avenue und Gainsborough Street, Sie befinden sich in Back Bay.« »Und wo ist die Symphony Hall? Verstehen Sie, ich bin mit einem Taxi hierhergekommen und habe nicht aufgepaßt, wo wir entlanggefahren sind.«
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Der Mann zeigte nach links. »Dort, am Ende des Blocks.« er machte einen kleine Pause und fuhr fort: »Wenn Sie musikinteressiert sind – das New-England-Konservatorium liegt gerade gegenüber.« »Nein, es ist nicht deswegen. Ich wollte nur die Richtung wissen, in die ich zu gehen habe.« Shastri bestellte sich einen Hamburger, eine Tasse Schokolade und setzte sich an einen Tisch neben dem großen Fenster, das auf die Gainsborough Street hinauszeigte. Als der Hamburger serviert wurde, stellte er fest, daß eine Soße darüber gegossen worden war. Er biß hinein und fühlte seinen Gaumen beleidigt. Geschockt, daß das jemand dem von ihm so geschätzten köstlichen Rindfleisch antun könne, schob er den Teller angewidert quer über den Tisch. Er trank seine heiße Schokolade und schaute durch das Fenster in die wirbelnden Schneeflocken hinaus. In der reflektierenden Scheibe sah er das Spiegelbild einer Kundin, die an der Theke, die schmale Figur in enge Jeans gepreßt, stand. Shastri mußte lächeln. Er erinnerte sich, daß Steve Wrench ihn oftmals bezichtigt hatte, ein lüsterner alter Mann zu sein, und er mußte zugeben, daß dies stimmte. Aber hatten die Götter nicht solch junge Schönheiten geschaffen, damit sie bewundert, begehrt und angestarrt werden? Die Götter? Ja, die Götter, die es niemals gegeben hatte und die doch immer schon irgendwie da waren, die gleichen Götter, die er beschimpft, verleugnet und beschuldigt hatte, die einzig wirklichen Feinde Indiens zu sein. Diese imaginären, bankrotten Triebkräfte, die für alles, wofür man keine Antwort wußte, für alles Unerklärliche herhalten mußten. Und wenn etwas danebenging – war es ihr Wille oder war es ihre Schuld? Warum hatte Jaipur unter einer Überschwemmung zu leiden gehabt, die vierhundert Menschen das Leben gekostet hatte, wo doch in Wirklichkeit mehr Trockenheit nötig gewesen wäre?
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Warum dauerte der Monsun bis zu drei Monaten und brachte oftmals Regenfluten mit sich, die bis zu einem Meter hoch und höher anstiegen? Warum fiel Wasser in Wolkenbrüchen sintflutartig hernieder, wenn Wasser in geringeren Mengen gebraucht wurde? Warum wurde in Gebieten wie Maharashtra, Tamil Nadu und Karnataka, wo Regen so nötig gewesen wäre, nur Dürre verzeichnet? Welcher Hohn des Schicksals, welcher wahnsinnige Schöpfer, welche wütenden Mächte schütteten über Indien, da, wo es kein Wasser benötigte, soviel Wasser aus, soviel Wasser wie kaum sonstwo in der Welt? Wurde nicht behauptet, daß es der Wille dieser geheimen Mächte war? Wie einfach, wie leicht, so etwas zu glauben und sich danach zu richten. Die Götter waren Summe und Inhalt allen Lebens, aller Vorkommnisse, alles Lebendigen; sie waren Atem, Körper, befehlende Stimme, Shivas Faust … Die Augen! Der nachlassende Schneefall, die Fensterscheibe, in der die Spiegelbilder dahinhuschten, das war wie die Auflösung der Wirklichkeit. Die Augen! Shastri mochte diese Augen nicht! Dort standen drei Gestalten, drangen lauernd in seine Gedanken ein, standen dort an der Ecke der Huntington Avenue. Jetzt drangen sie in sein Bewußtsein, es waren zwei Männer und eine Frau. Es hatte zu schneien aufgehört, und die Eiseskälte kroch durch die Fenster. Der eine der beiden Männer weckte, als er sich jetzt bewegte, seine Erinnerung an Chundra Bala. Dies drang, leicht wie Schneeflocken, in Shastris, durch die Betrachtungen über die Götter, deren Unbeständigkeit und schwankenden Willen und ihres Spiels mit den Schicksalen der Menschen, mit Shivas Faust benommenen Verstand. … ihren AUGEN! Diese Augen wirkten zerstörend und so, als drängten sie
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splitternd durch das Glas hindurch. Sie zerstörten Shastris letzte Verbindung mit der Realität. Gauri Bala hielt mitten im Schritt inne. Ihr Kopf war mit einem Zipfel ihres Saris bedeckt. Sie trug einen grauen Mantel mit Pelzkragen über dem leichten Gewand. Ihren Nasenring hatte sie, als sie nach Amerika kam, nicht entfernt. Das weckte in Shastri die Erinnerung an die Frau in dem Ochsenkarren, damals, bei dem Tempel unterhalb der Klippen. Gauri, die Shastri erkannt hatte, zog Chundra am Ärmel. Bidhan, der Handlanger, blieb hinter ihr stehen. Shastri sah, wie ihre Lippen seinen Namen formten. Das Licht, das aus dem Restaurantfenster fiel, ließ ihren Nasenring funkeln und fiel auf ihr geöltes schwarzes Haar, das unter dem Sarizipfel hervorlugte. Alle drei standen da und starrten zu ihm herüber; aber immer noch waren es die Augen der Frau, die Shastri auf seinen Platz bannten. Gauri hielt ihr Gesicht mit dem einen Ende des Saris bis auf die funkelnden Augen verdeckt. Schwarze Augen, uralte Augen voller Hohn. Shastri sagte sich, daß er sofort zur Tür laufen müsse. Die drei setzten sich gleichfalls in Bewegung. Er sah sie in einigem Abstand langsam am Fenster vorbeigehen, ihre Blicke bei jedem Schritt auf ihn gerichtet. An der Ausgangstür blieb er stehen. Er hatte keine Waffe und kein Recht, jemanden in diesem Land zu verhaften. Und doch würde er ihnen folgen müssen, sich an sie heranpirschen, bis er sie besiegt und den treuen Das gerächt hatte. Mit trockenem Mund wagte er sich wieder in die Nacht hinaus. Er hörte ihre Stimmen in der Verlassenheit der Gainsborough Street. Die Schneedecke schien den Atem der Welt zu ersticken. Die Stimmen fuhren fort, drangen mit einem leisen, unverständlichen Gemurmel an sein Ohr. Shastri sah, wie sie über die St. Stephen Street gingen, sah Bidhans breiten Rücken
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hinter Chundra Bala und der Frau hergehen. Der Schnee knirschte unter Shastris Schritten. Seine Wut wuchs. Die Herausforderung dieser Frau traf seinen vitalsten Nerv. Sein Mund war staubtrocken. Diese Frau krallte sich in seinem Innern fest, bis es nach Rache schrie. Rache für all das, was Shastri heilig war und was diese Menschen entwürdigten. Der Gedanke daran schmerzte ihn. Während er hinter ihnen herging, blickte die Frau zurück. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf das Ende des Saris, das ihr Haar bedeckte. Er schaute sie an und stolperte in blinder Wut weiter. Die Straße war vollkommen leer. Zwei Häuserblocks weiter mündete sie in eine andere, rechtwinklig verlaufende Straße. Shastri entschloß sich, den Bürgersteig zu verlassen und in der Mitte der Straße zu gehen, auch hier im tiefen Schnee watend. Er fragte sich, was passieren könne. Er bewegte sich vorsichtig und beobachtete die drei, die jetzt hinter den parkenden Autos auf dem linken Bürgersteig verschwanden. Die Umrisse der Wagen verbargen sie vor seinen forschenden Augen. Und dann tauchten sie wieder auf. Wieder hörte er ihre Stimmen durch die Dunkelheit, wieder verschwanden sie hinter abgestellten Wagen. Als sie wieder hervorkamen, waren es nur noch zwei. Zwei. Diese Zahl drang ihm ins Bewußtsein. Im Dunkeln glitzerte der safranfarbige Sari nicht mehr. Die Gestalt der Frau war nur noch ein braunrötlicher Schatten. Und wieder verschwand einer. Übrig blieb nur noch einer. Einer. Es dauerte nicht lange, und er begriff. Ein erleuchtetes Erkerfenster im ersten Stock eines Hauses ließ ihn stehenbleiben. Auf der linken Straßenseite, in dem Haus etwas weiter von der wartenden Frau entfernt, war eine Party im Gange. Die gerundete Vorderfront des Hauses ragte heraus. Hinter den erleuchteten Fenstern sah man Paare zu Rockmusik tanzen. Die Musik war so laut und anschwellend,
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daß sie fast wie ein Sirenenton klang. Sirene, Warnung! Einer ist übrig, dachte Shastri und ließ sich im gleichen Augenblick instinktiv in den Schnee fallen. Das jahrzehntelange Training, Gefahren auszuweichen, machte sich bezahlt. Genauso schnell erhob er sich wieder. Seine beiden Hände kneteten den Schnee, den er aufgenommen hatte. Er fühlte, daß die beiden verschwundenen Thugs irgendwo lauerten. Einer, um ihn von hinten anzufallen, einer, um ihn festzuhalten, damit der andere die tödliche Schlinge werfen konnte … Zwei, um gemeinsam und präzise zu töten … Rama Shastri warf den Schneeball. Als kleiner Junge, wie er Englisch zu lernen begann, hatte er einmal eine Geschichte gelesen, die von einer Schneeballschlacht zwischen Kindern erzählte. In dieser Kindergeschichte hatte einer der drei geworfenen Schneebälle … Glas krachte durch die Nacht. Die Musik wurde lauter. Darüber hinweg waren Schreie, Gebrüll und Flüche zu hören. Er hörte auch eine andere Stimme, die, wie er vermutete, Ramasi sprach, hörte einen Befehl, und er sah, wie die beiden Männer durch den Schnee davoneilten. Shastri näherte sich der Stelle, wo Gauri gestanden hatte. Die Leute von der Party waren bereits draußen auf dem Bürgersteig, um die Rowdys zu ergreifen, die das verbrochen hatten, aber das war ihm einerlei. Die Frau – er mußte sie finden! Als wäre sie durch seinen Wunsch herbeigezaubert worden, sprang sie aus dem Schatten eines Hauses auf ihn zu. Ihre Fingernägel zerkratzten seine Wange. Zwei schwarze Augen funkelten ihn eine Sekunde lang an, und Shastri wußte, daß er keine ruhige Nacht haben würde. Der Anprall ließ ihn taumeln und hinfallen. Währenddessen hörte er sie keuchen: »Du, ich werde dich vernichten, und zwar bald!« Als er eine Sekunde später den Kopf hob, war sie bereits fort.
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14 Rama Shastri lehnte sich auf den Klingelknopf und drückte und drückte. Wrenchs Stimme kam aus der Sprechanlage: »Ram, bist du es?« »Ja, laß mich rein.« Sie trafen sich im Treppenhaus neben dem Aufzug. Shastris Gesicht war blau vor Kälte, doch darunter war es totenbleich. Auf seiner rechten Wange waren Kratzspuren. »Du lieber Himmel!« schrie Wrench. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen? Ich habe hier rumgesessen und Musik gehört, um mich zu beruhigen. Außerdem hat Dan Terranova angerufen. Er möchte, daß wir mit jemanden sprechen, der vielleicht eine Spur hat.« »Laß uns erst miteinander reden«, beharrte Shastri und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Trompetenmusik von Jeremiah Clarke in d-Moll drang aus dem Wohnzimmer. Wrench ergriff Shastris Arm und führte ihn ins Bad. »Du läßt zu viele Leute an dich ran«, witzelte er. »Ja, diesmal die Königin des Todes und der Verzweiflung«, flüsterte der andere rauh. »Sie muß ja ein charmantes Frauenzimmer gewesen sein.« Shastri wich dem Jodtupfer aus: »Ihr Charme machte mich atemlos. Im wahrsten Sinne des Wortes, mir blieb die Luft weg, Steve. Es war die Königin der Thugs.« Wrench verschüttete vor Schreck das Jod: »Was?« »Oder die Mutter der Thugs. Wer weiß. Auf jeden Fall war sie keine normale Frau.« »Wenn es keine Frau war, was, zum Teufel, war sie denn?« »Keine Frau.« 225
»Nein? Also, Ram, jetzt laß uns erst mal Tee trinken, damit du dich aufwärmst.« »Ich weiß genau, wie eine Frau zu sein hat, Steve«, kam die ärgerliche Erwiderung. »Das ist mir völlig klar, alter Junge.« »Weiblich, aber keine wirkliche Frau. Der Körper einer Frau, das Gesicht einer Frau, aber nicht … oh, die Augen!« »Wo, zum Kuckuck, warst du überhaupt? Warum bist du weggegangen?« »Zum Back Bay, zum Tatort.« »Um Himmels willen, Ram!« »Sie ist keine Frau, eine Kraft vielleicht. Etwas Elementares … Unmenschliches.« Wrench war schon im Flur und rief über die Schulter zurück: »Ich setze schnell mal Teewasser auf.« Rama Shastri bat den Freund, ihm lieber etwas Scotch einzuschenken, und nippte am Glas, während er sein nächtliches Abenteuer berichtete … Aus dem Hintergrund drang der vierte Satz der Trompeten-Suite. Stephen Wrench hörte auf, vor dem Kamin auf und ab zu laufen, nahm eine Fotografie vom Kaminsims, setzte sie wieder hin und drehte sich heftig um, als Shastri seine Erzählung beendet hatte: »Es gibt keine Entschuldigung dafür, Ram. Du hattest kein Recht, dorthin zu gehen. Wir hätten dich verlieren können, verdammt noch mal.« Und so leise, daß Shastri es kaum verstehen konnte: »Und dann, was würde aus mir?« »Vielleicht hatte ich keine andere Wahl, Steve.« »Quatsch. Diese aus den Fugen geratene Besessenheit von einer Idee, das paßt nicht zu dir. Von mir aus führe es auf den langen Flug von Kontinent zu Kontinent oder auf durcheinandergeratene Gefühle bezüglich Das zurück, aber behaupte nicht, du wärst wie von Sinnen von einer Idee besessen!« Shastri versuchte es noch einmal: »Steve, als ich in diese
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schrecklichen Augen sah, ist irgend etwas mit mir vorgegangen. Du weißt, ich habe es immer abgelehnt, an Unerklärliches zu glauben, aber diese Augen …!« Shastri setzte sein Glas ab und runzelte angestrengt die Stirn. »Während der Taxifahrt zurück habe ich in meiner Erinnerung geforscht, um etwas analog zu diesen Augen zu finden. Es sind Augen, die dich bis ins Mark erzittern lassen, Steve, nicht nur den Körper, sondern noch tiefer innen.« Wrench mühte sich mit einem Streichholz ab und blies die Flamme aus, noch ehe er die Pfeife angezündet hatte. »Nun hör mir mal zu, Ram«, sagte er in dringlichem, doch besänftigendem Ton. »Du hast mir mal einen Vorfall in einem Kino in Kalkutta geschildert. Dieser Vorfall war für mich, was dich, Rama Shastri, betrifft, immer typisch. Von früher Jugend an blieb er von den jahrhundertealten, großen Lügen unangefochten.« »Das hat sich auch nicht geändert«, entgegnete der Freund und fügte zögernd hinzu: »Hörst du überhaupt auf das, was ich sage?« »Also gut, ich mache dir einen Vorschlag. Erzähl mir die Geschichte aus dem Kino in Kalkutta, und ich will versuchen, deiner Erzählung über diese Augen mit aller Aufmerksamkeit zuzuhören. Ich will ja nur, daß du deine Ansichten von damals gegen deine heutigen Auffassungen abwägst. Das ist alles.« Rama Shastri seufzte, aber er begann: »Mein Vater war, wie du weißt, Arzt. Er hatte mit seiner naturwissenschaftlichen Denkweise für Mythen und Aberglauben, kurzum für die ganze indische Kosmologie, keinen Sinn. Er anerkannte weder die Götter noch die Kastenordnung, vor allen Dingen aber nicht die Witwenverbrennung. Mein Vater war durch diese Verbrennungszeremonien so abgestoßen, daß er mir, als wir einmal in den Außenbezirken von Delhi an so einem Verbrennungsritual vorbei mußten, die Augen zuhielt, damit ich nicht die Angst
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der Witwe sah, die in die Flammen geschickt wurde.« Shastri drückte seine Sher Bidi aus und fragte indigniert: »Muß ich noch weiter fortfahren?« »Nur noch diese eine Sache, Ram, und denke darüber nach, was du damals gelobt hast.« »Was ich damals gelobt habe«, wiederholte der kleine Mann. Er holte tief Luft und berichtete im Ton eines Schuljungen, der eine Liste langweiliger Fakten aufsagen muß: »Ich war siebzehn Jahre alt, als ich dieses Kino in Kalkutta besuchte. Der Film hieß Shiva Rastri, damals eine sehr populäre Darstellung. Die Geschichte war mythologisch. Der Held, ein Tyrann und Trunkenbold, behandelte seine Familie schlecht, ließ sie hungern, kam oft nur nach Hause, um seine Frau zu schlagen, und tötete schließlich in einem Wutanfall seinen Sohn. Aber dann bewirkte die Göttin Parvati einen Sinneswandel, und der Held kam eines Tages reumütig nach Hause und starb in den Armen seiner Frau. Die Schlußszene dieses Schmalzfilmes zeigte die Frau, ekstatisch lächelnd, den Kopf ihres toten Mannes im Schoß, auf dem Scheiterhaufen sitzend, während die Flammen beide verschlangen.« Nach einer Weile bat Wrench: »Mach weiter, Ram, warst du daraufhin nicht verdammt wütend?« »Ja, der Film war so gräßlich rührselig. Steve, ich will das zu Ende erzählen, weil du so darauf beharrst, aber dann lehne ich jedes weitere Wort ab, bevor ich nicht irgend etwas gegessen habe. Versprich mir, daß du Abendessen machst.« »Gut, du kriegst was zu essen. Aber nun komm zum Punkt, Mann.« »Was mich am meisten in Wut versetzte, war die Reaktion der Zuschauer. Während des ganzen Filmes waren sie total apathisch. Aber die Verbrennung, der Moment, als die Witwe sich selbst opferte, riß sie von den Stühlen. Es erregte ihre Herzen so, daß ein einziger Aufschrei der Begeisterung durch die
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Menge ging, die heftig applaudierte. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich stand da, schrie und schüttelte meine Fäuste gegen die Leinwand: ›Ich gelobe‹, schrie ich, ›daß ich niemals eine Religion anerkennen werde, die eine derartige Barbarei duldet. Ich gelobe, daß ich mein Leben der Vernichtung solcher gnadenlosen Rituale widmen werde. Diese widerwärtige Unsitte muß ein Ende haben.‹« »Du riskiertest deine Haut damit, nicht wahr?« »Ja, ich mußte unter Polizeischutz aus dem Kino gebracht werden. Die hätten mich am liebsten auf der Stelle gelyncht.« Shastri erhob sich und schien mit seiner Handbewegung die ganze Episode fortzuwischen. »Und nun gib mir was zu essen, bevor ich zusammenklappe. Ich bin den ganzen Abend Taxi gefahren, Steve.« Sein Gastgeber versorgte ihn schnellstens mit einem halben Dutzend dünner Roastbeefscheiben, einer kleinen Schüssel kalter, grüner Bohnen, Toast, Marmelade und russischem Tee. Doch trotz Sättigung war Shastri über Wrenchs Erklärung, daß die Frau, die er zusammen mit Chundra Bala getroffen hatte, offenbar eine Meisterin der Hypnose war, wütend. »Nein!« Er schluckte den letzten Rest Tee, lehnte sich in den Stuhl zurück und sagte mit Nachdruck: »Ich finde es nett von dir, daß du mich vor der indischen Sucht, das Leben in übernatürlichen Dimensionen zu sehen, bewahren willst. Ich weiß, was ich damals, als ich siebzehn war, gelobt habe. Daran habe ich auch stets festgehalten.« Shastri erhob sich und ging zu dem großen Fenster hinüber, zog die Vorhänge zurück und starrte auf die Autos, die sich dort unten auf dem Storrow Drive mühsam vorwärts kämpften. Seitdem es zu schneien aufgehört hatte, schien auch die wiedergewonnene Freundschaft am Ende angekommen, und dieser Gedanke machte ihn traurig und hilflos. Schließlich und endlich war es der Schnee, der ihn gerettet hatte. Ein paar Stunden
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früher und … Die Augen! »Augen!« wiederholte er laut. »Spiegel der Seele, hat mal einer gesagt. Aber was ist, wenn die Seele unterjocht und unter einer anderen Identität begraben ist? Nimm mal an, daß jemand mit einem Fuß in dieser und mit dem anderen in einer anderen Welt steht, Steve? Nimm an, daß, trotz schlimmer, unverantwortlicher Dinge wie Witwenverbrennung, Kastenunwesen, dem unreinen Schatten der Unberührbaren und des Thugismus, trotz falscher Interpretationen, Vorstellungen und Überzeugungen, etwas irgendwo außerhalb unseres gewöhnlichen Gesichtskreises, jenseits unserer überschätzten fünf Sinne existiert.« »Gut«, kam die Antwort. »Ich finde das gar nicht so unmöglich. Ich würde gerne glauben, daß zum Beispiel …« Wrenchs Stimme wurde leise. »… Kamala dort irgendwo ist und auf mich, auf Santha, auf alle ihre lieben Freunde … wartet. Aber das ist nicht der springende Punkt, Ram. Wenn du von dieser Frau sprichst, dann tust du so, als sprichst du über Kali persönlich …« Shastri wandte sich um: »Genau.« »Genau. Das ist doch Blödsinn, Ram. Kali ist ein Mythos, eine Fiktion, die Ausgeburt irgendeiner verrückten Hinduphantasie. Kali, die Blutsaugerin, ist genauso fiktiv wie Bram Stokers Dracula. Und das weißt du.« »Du mußt mir zuhören, Steve. Du hast versprochen, du würdest das tun. Ertrage mich, alter Freund, wie ich dich ertragen mußte, und, während wir so viel durchmachen, setz doch bitte Teewasser auf.« Während Wrench den Tee zubereitete, ging sein indischer Freund in der Küche ruhelos auf und ab: »Steve, wir beide sind intelligent genug, um übernatürliche Dinge mit einiger Leichtigkeit erklären zu können. Ich würde mich deswegen nicht in
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die Forschungen stürzen, die seit zehn Jahren oder länger auf diesem Gebiet gemacht worden sind. Ein gewisser Prozentsatz Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Vorkommnisse darf einen vernünftigen Mann aber doch wenigstens beeindrucken, oder?« »Wenn du von den Entdeckungen der Duke-Universität sprichst, von ein paar Ufo-Berichten, von Leuten wie Uri Geller und Hans Holtzer und ähnlichem, stimme ich dir zu. Also?« »Nun zieh mal in Erwägung, daß es physikalische und psychische Gesetze gibt, die bisher noch nicht entdeckt wurden, ein paar Yogis, ein paar Medien vielleicht, die bisher unbekannte Quellen angezapft haben. Akzeptiere nur das, und dann haben wir schon mal einen Anfang.« Wrench nickte. »Was«, fuhr Shastri fort, »würdest du dann zur Inkarnation und Menschwerdung göttlicher Wesen sagen? Daß es zum Beispiel Menschen gegeben hat, die die Inkarnation von Gottgestalten waren. Jesus fällt mir dabei ein. ›Mein Vater tut diese Werke durch mich‹ oder so ähnlich. Hat er nicht so was gesagt?« »Mehr oder weniger.« »Warum kann dann nicht die Göttin Kali – natürlich nur, wenn sie wirklich existiert – aus dieser unbekannten Ebene heraustreten, wie es der christliche Gottvater in der Gestalt von Jesus tat? Durch ein Medium oder durch Besessenheit, wie du willst. Ja, eine höhere Form dämonischer Besessenheit …« »Ich hab’ mal einen Film über ein kleines Mädchen, das zuviel Erbsensuppe verdrückte, gesehen.« Shastri runzelte verständnislos die Stirn. »Tut mir leid, Ram. Es war nur ein Witz, ein ganz persönlicher. Ich konnte nicht an mich halten. Später erkläre ich dir seine Bedeutung.« »Mir wär’s lieber, du würdest mir wirklich zuhören, Steve.« »Das tu’ ich ja, aber es macht mich bestürzt, das ist alles.« »Meinetwegen?« »Nein, meinetwegen, Ram. Ich habe dich noch nie so über-
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zeugt gesehen, und deshalb muß an allem etwas Wahres dran sein. Du bist nicht der Typ, der auf die Lügen anderer Leute hereinfällt, das weiß ich gewiß. Daran kann ich nicht zweifeln.« »Ich wäre von dir enttäuscht, wenn du nicht gelegentlich an mir zweifeln würdest. Wir sind unser Leben lang bei der Polizei gewesen und sind keine Verfechter metaphysischer Ideen. Aber diese Augen haben für mich einiges geändert. Versuche das, bitte, zu verstehen. Diese Augen sind in sich selbst lebendig, sind wie abgetrennt von der menschlichen Hülle, die sie trägt. Frag mich nicht, wie das möglich sein soll oder ob es nur Einbildung ist. Meine Reaktion beruht nicht im entferntesten auf Einbildung, da bin ich mir sicher. Ich reagierte mit Abscheu und Anspannung. Es war wie ein Erfaßtwerden, so, als würde Besitz von mir genommen. Mich ergriff das Gefühl, daß etwas in dieser Welt sehr, sehr schlimm, daß etwas Neues gegenwärtig ist und daß dieses Etwas nicht zu dem Leben, wie wir es uns vorstellen, gehört.« Rama Shastri schloß die Augen. Er hielt sie so lange geschlossen, daß Wrench einen Augenblick lang dachte, er sei eingeschlafen. Er hüstelte ein-, zweimal, und schließlich schlug Rama Shastri die Augen wieder auf. »Wir müssen morgen noch mal dorthin gehen«, sagte Shastri, der durch die kurze Ruhepause sein inneres Gleichgewicht wiedergewonnen hatte. »Sie müssen da irgendwo in der Nähe zu finden sein, denke ich. Und wir müssen sie finden.« »Und wenn wir das wirklich schaffen, was dann?« »Steve, nur immer einen Schritt zur gleichen Zeit.« »Entschuldige«, sagte sein Freund und ging ins Schlafzimmer hinüber. Kurz darauf kam er mit zwei halbautomatischen Waffen, einer Browning 38 und einer Walther 32, zurück. »Wir müssen uns fertigmachen, um mit Dan loszuziehen, Ram. Aber von jetzt an werden wir, wo immer wir sind, be-
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waffnet sein.« Wrench nahm den Telefonhörer und wählte, blickte zu Shastri hinüber und sagte: »Bitte, Ram, geh nicht noch mal einfach so weg!« Rama Shastri begriff plötzlich das volle Ausmaß von Wrenchs Einsamkeit. Kamala war tot. Santha würde sicherlich bald heiraten. Er, Shastri, war alles, was Stephen Wrench in dieser Welt geblieben war. Und er, Shastri, brauchte seinen alten Freund mindestens ebenso dringend. »Es war dumm und unüberlegt gewesen«, gab er zu. Als sie Leutnant Terranova abholte, war es schon nach Mitternacht. Ein Lächeln glitt über das hübsche Gesicht, als die beiden zu ihm in den Wagen stiegen: »Wir fahren zu Bernie Thurnauer«, sagte er, »er ist einer unserer besten Geheimagenten. Heute nacht ist er gerade mal zu Hause. Er erwartet uns, obwohl er angenommen haben muß, daß wir etwas früher kommen als gerade jetzt.« Terranova fuhr Richtung Nord-Cambridge, bis er in eine Seitenstraße, die nach Somerville abzweigte, einbog. Noch ein paar Häuserblocks, dann hielten sie vor einem zweistöckigen Haus an. Alle Fenster, außer einem, das zu einer Terrasse hinausführte, waren dunkel. Terranova klingelte, worauf im ersten Stock das Licht anging. Der Geheimagent war im Bademantel. Er ließ sie herein und ging ihnen in die Küche voraus. Irgendwo schrie ein Baby. »Gary ist durch das Klingeln wach geworden«, sagte Bernie erklärend, nachdem sie einander vorgestellt worden waren. Er sah wie der Ersatzmann für die Christusrolle aus. »Es tut mir leid, daß wir so spät dran sind, Bernie. Aber wir brauchen ein paar Informationen, und du bist dafür genau der richtige Mann«, erwiderte Dan. »Geheimagenten kommen be-
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kanntlich nicht nur in einen Bezirk, sondern überallhin.« »Einverstanden, aber bist du jetzt nicht außer Dienst?« »Worauf du dich verlassen kannst. Wenn Adair hiervon wüßte, bekäme er einen Tobsuchtsanfall.« »Der Hammel! Du weißt ja, warum ich mich als Geheimagent beworben habe. Der Job hält mir Kerle wie ihn vom Leibe.« »Ja, seinetwegen könnte man sich schämen, Polizist zu sein. Er … ach, zum Teufel mit ihm.« Und dann berichtete Dan von dem Mord an Abel Fairley, von Rama Shastri und Wrench. »Wir brauchen Informationen über fernöstliche Kulte im Großraum Boston. Vielleicht weißt du was, womit wir weiterarbeiten können?« Bernie Thurnauer nahm Kugelschreiber und Papier zur Hand und sagte, als er mit Schreiben fertig war: »Hier hast du eine Liste aller Zentren, Treffpunkte und Ashrams (heilige Wohnsitze, Anm. d. Übers.). Aber um euch Zeit zu sparen, schlage ich vor, daß Ihr euch auf die oberste Anschrift konzentriert. Die haben fast immer ›Haus der offenen Tür‹, und da tauchen früher oder später auch mal Mitglieder der anderen Gruppen auf.« Er schob Terranova den Bogen zu, der ihn liegenließ, damit ihn alle lesen konnten. Das zuerst genannte Zentrum sei das größte und das, was sich am meisten am Westen orientierte, erklärte Bernie. »›Mai Yoginis Yoga-Center‹ bietet verwässerten Mystizismus«, sagte er. »Nichts, was zu schwer oder zu anspruchsvoll wäre. Ihre Kundschaft ist meistens schlichten Gemütes und hat überwiegend genug Geld. Verstehen Sie, Angestellte, Leute mit mangelndem Selbstbewußtsein, die ihre Beta-Wellen vermindern und durch Alpha-Wellen ersetzen wollen. Oder ein paar fette Weiber, die durch richtiges Atmen und ein paar Asanaübungen Gewicht loszuwerden hoffen. Sie ist teuer, die Gute. Man zahlt selbst für ein Mantra mit harten Dollars.«
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»Soll das heißen, daß die sogar für Gebete zahlen müssen?« »Halt, halt! Ein Mantra ist nicht einfach nur ein Gebet. Ein Mantra verändert den Lauf der Dinge und krempelt den Kosmos um – sagen die!« Bernie blickte zu Shastri hinüber: »Hab’ ich recht?« Shastri nickte. »Alles hängt natürlich von dem jeweiligen Mantra ab«, fuhr Bernie fort. »Einige sind teurer als andere. Mai Yogini behauptet, sie habe einen direkten Draht zu der Quelle, die die Mantras ausspuckt. Das ist sowieso alles Blödsinn. Aber die Leute glauben es ihr. Sie sagt im übrigen auch die Zukunft voraus, doch nur für einen kleinen Kreis spezieller Kunden mit Geld, nehme ich an.« »Wer ist sie?« »Sie ist halb Französin, halb Inderin. Eine hübsche Person. Ihr richtiger Name ist –« Bernie erhob sich, ging zu dem Schreibtisch in einer Nische und zog eine Schublade heraus und daraus einige Karteikarten, von denen er vorzulesen begann: »Claudine de Brisson-Jaiswal. Da gehen Sie mal am besten zu dritt hin«, schlug er vor, »ich glaube, das ist die Mühe wert. An manchen Abenden ist da was los – Nackedeis und Gruppensex.« Nach einer Weile setzte er seine Beschreibung fort: »Die haben ‘ne Menge Platz. Eine Begegnungshalle, ein paar Büros und Unterrichtsräume. Die unterrichten auch ziemlich viel, was man als ›legal‹ bezeichnen kann. Werke des Mönches Nagas und Vivekanandas werden gelesen.« Wieder wandte er sich an Rama Shastri. »Sie wissen ja, die Sekte, die es ablehnte, Kleidung zu tragen. Dann befassen sie sich mit Tota Puri, einem nondualistischen Vedantisten, der das Große Ramakrishna lehrte. Und für gewöhnlich rezitiert jemand aus den Veden – alles in allem ein Packen indischer Mystik. Aber warten Sie, bis Sie erst das Wandgemälde an der Wand außerhalb des Hauses sehen. Eine kleinere Kopie gibt es auch in der großen Be-
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gegnungshalle hinter dem Podium.« Bernie schüttelte den Kopf. »Die Yogini ist davon überzeugt, daß es ein Original ist.« Wrench ergriff schließlich das Wort: »Das scheint mir doch sehr von dem abzuweichen, was wir eigentlich suchen. Die Leute sind offenbar ziemlich harmlos.« »Das ist möglich. Aber es gibt Verbindungen unter den einzelnen Gruppen. Vielleicht haben irgendwelche Leute unter ihnen von denen gehört, die Sie suchen.« Wrench mußte zustimmen. Er wandte sich an Shastri: »Was hältst du davon, Ram?« »Wir sollten zuerst etwas anderes untersuchen«, erinnerte ihn der Inder. »Die Nachbarschaft. Ich schlug es dir vorhin schon vor.« »Um welche Gegend handelt es sich denn da«, erkundigte sich Terranova. Shastri seufzte. Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, einem weiteren skeptischen Polizisten seine Geschichte zu erzählen. Und schon gar nicht um diese Zeit. Im Hintergrund hörte er noch immer das Baby weinen und eine leise Frauenstimme, die ihm beruhigend vorsang. Das Wimmern des Babys war in der folgenden Stille deutlich zu hören. Terranova ließ nicht nach: »War das die gleiche Gegend, in der Sie sich auch die Kratzer geholt haben? Falls dem so ist, könnten Sie das nächstemal Polizeihilfe brauchen, nehme ich an.« Steve kam Shastri zur Hilfe: »Dan, in dem Augenblick, in dem die Thugs erfahren, daß die örtliche Polizei mitmischt, werden sie schnell und spurlos verschwinden, so daß wir froh sein können, wenn wir sie im Laufe unseres Lebens überhaupt noch einmal aufstöbern. Lassen Sie das diesmal Ram und mich alleine erledigen. Ich verspreche Ihnen, wenn uns dieses Eisen zu heiß wird, werden wir Sie sofort verständigen.« Und fügte
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hinzu: »Außerdem wollen wir das Yoga-Center Mai Yoginis auch nicht aus dem Auge lassen. Rufen Sie mich doch bitte morgen abend um achtzehn Uhr an. Vielleicht gehen wir alle etwas später dorthin?« Terranova war einverstanden.
15 Als der Sturm noch auf seinem Höhepunkt tobte, war Gauri aus tiefer Trance aufgetaucht und hatte angeordnet, daß sie ihre kleine Wohnung verlassen müßten. Gehorsam hatten sich Chundra Bala und Bidhan gemeinsam mit ihr dem Unwetter ausgesetzt. Manchmal gingen ihre Forderungen über das hinaus, was ein Mensch zu ertragen vermag. Dennoch hatte Chundra Bala die gloriose Veränderung bei seiner Ehefrau zutiefst berührt. Es machte sogar ihre augenblickliche Abhängigkeit von Tierblut erträglicher. Er mußte sich immer wieder daran erinnern, daß dies nicht Gauri war, sondern die Göttin, die sich in ihr offenbarte und die jedesmal deutlicher, jedesmal stärker vom Blutdurst getrieben wurde. Blut war in diesen Tagen das einzige, um Mutter Kali zu besänftigen und zurückzuschicken. Chundra erinnerte sich der Höhle hinter dem Ort, wo sich die uralten Propheten gezeigt hatten, und er erschauerte. Aber hatte der Erwählte nicht gesagt, daß die amerikanischen Schüler bald soweit sein würden, daß Kalis Blutdurst auf die übliche Art befriedigt werden konnte? So ekelerregend es auch war, wenn Kali in Gauri eine Schale Tierblut nach der anderen verlangte und austrank; das Resultat, eine neue, frische, strahlende Gauri, war es ihm wert. Dann schien sie noch jünger als damals, als sie sich, noch halbe Kin237
der, begegnet waren und ihre Hochzeit bald darauf gefeiert wurde. Jetzt war sie noch schöner, noch heiterer und klarer. An solchen Tagen ähnelte sie einer jungen Heiligen, umgeben von einem Glanz, der geradezu sphärenhaft war. Dann schien sie nicht mehr körperlich zu leiden oder sich gar an der Grenze zum Tode zu befinden. So gehorchte also Chundra, was immer sie auch befehlen mochte. Auch er fühlte sich erneuert. Die Erfahrung, die er dort bei den Sehern gemacht hatte, verlieh ihm bei seinen ThugGefährten ein besonderes Ansehen. All die Weisheiten, die großen Offenbarungen, die ihm dort zuteil geworden waren! An seiner Seite befand sich immer der verehrte Meister, der von der Göttin Auserwählte, der ihm von der Mutter in eigener Person anvertraut worden war, dem er zu dienen und den er zu schützen hatte. Für die übrigen war er der Stellvertreter, der Thug-Guru, der bei der Einführung seines Herrn zugegen sein durfte. Nach dem vergeblichen Attentat auf Shastri war die Limousine des Erwählten gekommen, um sie zu dem geheiligten Wohnsitz zu bringen. Im Rücksitz des Wagens forderte jetzt die rauhe Stimme: »Sein Schädel muß an meinem Gürtel hängen. Unter den Größten der Toten, die ich mit mir herumtrage, soll Rama Shastris Schädel klappern!« Sie hatten an jenem Abend versagt. Sie waren in der Kälte und dem Schnee durch die Straßen von Back Bay gestreift. Dies war wahrhaftig ein unerfreuliches Land. Die heisere Stimme Kalis war laut geworden, hatte befohlen, gemahnt, gewütet und kundgegeben, daß Rama Shastri sich in der Nähe aufhalte. Und dann entdeckten sie ihn im Schaufenster des Restaurants … und hatten versagt … Die Stimme fuhr fort: »Er wird sterben. Er muß sterben. Rama Shastri, der Beschmutzer aller heiligen und ewigen My-
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sterien, dieser Dunghaufen des Unglaubens, dieser Sklave der Gesetzgebung und der Regierung mit ihrer schmutzigen Gesinnung. Der Betrüger alles Indischen, der Götter und der Heiligen; der Verfechter der Logik und der Wissenschaft und des madenzerfressenen westlichen Lebensstils. Der unindischste aller Inder. Verflucht sei der Fliegendreck, der den Versuch wagt, die Mutter zu zerstören. Oh, er ist wie der böse Geist des einst geliebten Feringheea, der seine eigenen Brüder schädigte und verfolgte. Wie sehr muß ich um meine Söhne weinen, die von dem Gesetz niedriger Menschen vernichtet wurden.« Chundra wagte einen Blick nach hinten zu der Gestalt hin, die sich nun die Haare raufte, sich gegen die Brüste schlug und im Wagenpolster festkrallte. Die übrigen Wageninsassen waren er selbst, Bidhan und der Amerikaner Duane Longstreet, die sich unter dem schrillen Keifen dieser Stimme wanden. Es ist, als kriechen einem eisige Finger den Rücken hinauf, dachte Chundra. Schließlich sank die Gestalt schwer atmend in den Sitz zurück und war still. Bidhan, der neben ihr saß, hatte sich eingeschüchtert gegen die Wagentür gepreßt. Die Limousine glitt durch die engen Straßen New Englands, bog in die Massachusetts Avenue ein und fuhr über die Brücke nach Cambridge. Die zusammengesunkene Gestalt auf dem Rücksitz blieb still. Jemand räusperte sich, jemand anderes folgte. Gauri Bala war erschöpft eingeschlafen. Die drei Männer atmeten auf. Gauri schlief, bis sie den geheiligten Wohnsitz erreichten. Als sie ihre Augen öffnete, schossen keine lodernden Blicke mehr daraus hervor. Sie waren wieder die stillen schwarzen Seen, die Chundra so sehr liebte. Sie lächelte, und die Männer erwiderten ihr Lächeln. Sie waren von dem friedlichen Zauber, der von ihr ausging, von dieser verwandelten, zarten Heiligen überwältigt. Während er auf dem roten Teppich zwischen dunkeldrapier-
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ten Wänden auf den Thron des Erwählten zuging, wuchs Chundras Erregung. Der Meister hatte sie aus einem ihm unbekannten Anlaß zu diesem spätabendlichen Treffen gerufen. Der Herr trat ein, setzte sich und schwieg eine Weile grimmig und gedankenvoll. Auch der Sessel, einem Thron ähnlich, war purpurrot drapiert. Der Erwählte hatte ihnen erklärt, daß alles, was östlich sei, besonders herausgestellt werden müsse, um damit die Neulinge, die mit indischem Gedankengut und indischer Kultur nicht vertraut waren, zu beeindrucken. Spannung lag wie die Schwingungen eines angeschlagenen Gongs in der Luft. In der Mitte des großen Raumes standen zwölf Bankreihen. Dort saßen, jede für sich, weil es so leichter war zu meditieren, dreiundzwanzig Dienerinnen. Davor befanden sich, den Rücken zu den Bänken gewandt, die zwölf regulären Mitglieder der Thug-Bruderschaft, die alle aus Indien kamen. Jeder war für zwei der neuen Mitglieder als Lehrer eingesetzt worden. Doch heute abend fehlte einem der Gurus ein Schüler. Aus einem Gefäß mit glühendem Sandelholz stiegen duftende Rauchwolken auf. Zur Rechten und zu Füßen des Erwählten saß Gauri mit geschlossenen Augen in Lotosposition. Sie lächelte verzückt. Ihre rechte Hand ruhte in ihrer linken, die im Schoß lag. Oberhalb des Erwählten stand auf einer Säule die Statue der Göttin Kali, die aus Ebenholz, in halber Lebensgröße und reich mit Gold verziert war. Ihre Fuß- und Armspangen, die Miniaturbecken, ihr Gürtel mit den daran hängenden Schädeln, die Hacke, die Schlinge, ihre heraushängende Zunge und ihre Augen waren aus purem Gold, das im Lichte der brennenden Kerzen rötlich blinkte und glänzte. Im Säulenfuß gab es eine verborgene Tür, hinter der ein Geheimfach mit den Schriftrollen der Propheten war. Aber davon
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wußten nur der Erwählte und Gauri. Die erwartungsvolle Spannung, die in der Luft lag, war wie heißer Wind. Ayub, der Zweitälteste der Moslem-Thugs, stellte die Frage: »Warum, o Herr, gibt es jetzt weibliche Thugs? Erkläre uns den Sinn, der darin liegt, bitte noch einmal!« Er warf einen mißtrauischen Blick auf die fünf Frauen, die hinter ihm saßen. Eine Welle des Gelächters ging durch die Reihe der Bruderschaft. »Dickköpfiger Narr!« schalt Sahib Khan, »du beschämst Mohammed mit deiner Weigerung, das hinzunehmen, was unser Herr und seine Mutter beschlossen haben. Hat er uns nicht bereits erklärt, warum? Besteht dein verfilzter Bart aus Wolle oder aus Haaren? Sag uns das.« »Aus Haaren natürlich.« »Wenn das so deutlich ist wie die Nase in deiner nichtswürdigen Hundevisage, dann ist der Befehl unseres Herrn, des Fürsten unter den Würgern, genauso klar.« »Jetzt seid still«, sagte der Erwählte freundlich. »Früher haben Frauen bei den Thugs nichts zu sagen gehabt, ganz zu schweigen von den Generationen vor uns. Doch das Gelöbnis durch die Jahrhunderte hat sich nun geändert. Wir befinden uns in einem Land, dem alles, was wir glauben, fremd ist. Hier haben Frauen große Bedeutung. Meine allwissende Mutter weiß sehr genau, daß die Hände der Frauen, ebenso wie ihre Bereitschaft zu töten, stark sein können. Frage mich nicht mehr, guter Ayub, da ich dir von nun an nicht mehr antworten werde. Stelle meine Güte nicht weiterhin auf die Probe.« Chundra Bala, der darauf gewartet hatte, daß die Reihe an ihn kam, begann: »O Herr, Erwählter der Heiligen Schriftrollen, der Ewigen Rishi, ich möchte dich von dem Abenteuer in Kenntnis setzen, das wir heute mit Rama Shastri hatten, der …« Jeder der zwölf Thugs wartete gespannt, was mit dem Polizeichef, der ihre Brüder überwältigt und sie bis ans Ende der Welt verfolgt hatte, wohl geschehen war.
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»Du hast Rama Shastri gesehen«, unterbrach ihn der Erwählte. Chundra trat näher und gab einen genauen Bericht von dem Zwischenfall in der Gainsborough Street. Bidhan grollte voller Wut, als Chundra die Geschichte mit dem Schneeball erzählte. Als Bala geendet hatte, saß der Herrscher der Thugs mit aufgestütztem Kinn da und starrte auf den Boden. Chundra wies auf seine Frau. Seine Stimme klang verzweifelt. »Sie träumt immer wieder den gleichen Traum von Rama Shastri, wie er seinen Bogen gespannt und den Pfeil auf unsere Mutter Kali gerichtet hat.« Ayub, der Moslem, spie angesichts der unsichtbaren Drohung verächtlich aus. »Was können wir tun, o Herr? Gewiß sind diese Träume ein Omen. Sie weisen uns den Weg, den der Thugismus gehen muß.« »Ja«, stimmte Sahib Khan zu, »Fatimas Brust darf niemals durchbohrt werden, oder unsere Zeit ist zu Ende. Gelobt sei Allah, das kann nicht sein.« Makunda trat einen Schritt nach vorn und wartete, bis die Rufe der Zustimmung verebbten. »Und ich sage, dies ist eine Warnung, die wir beachten müssen, eine Gefahr, auf die wir gefaßt sein müssen.« Ramanuja, der Makunda zu dem DeLuca-Supermarkt in der Charles Street begleitet hatte, trat gleichfalls vor und rief, von seinen phantastischen Vorstellungen beflügelt: »Siehe, o Herr, ist denn nicht die strahlende Sau gesehen worden? Strahlend selbst in der niedersinkenden Dunkelheit, wenn die Finger des Tages die Blätter der Samtblume liebkosen. Wahre Flamme in der Nacht. Ihre schwarzen Flechten sind wie gesponnener Mondschatten.« Er sprach in Hindi, weil sein Englisch nicht ausreichte. »Fahre fort«, forderte ihn der Erwählte in der Thug-Sprache Ramasi auf. »Ja, und noch mehr, Herr der Täuschung. Sie ist es, wirklich!
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Sie ist die, die wir suchen.« Der Blick des Erwählten verweilte auf Gauri. »Die andere. Die andere Frau, das andere Gefäß.« »Fürwahr. Vielleicht die Größere. Ihre Schönheit erregt das Blut. Es ist die Schönheit einer Göttin. Schönheit, die bezwingt, überwältigt und befiehlt, eine angemessene Schönheit.« Sein Blick fiel auf die sitzende Frau, und er fügte leise hinzu: »Größer als selbst die Schönheit der Ersten unter Kalis Töchtern.« Gauris Augenlider zuckten. »Du Himmelhund«, sagte der Erwählte, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. »O Herr der Schlinge, ich habe dein Herz erleichtert.« »Das hast du, Ramanuja, in dir wohnt die Seele eines Poeten. Was hältst du von dem, was er sagt, Makunda?« »Diese Frau, Santha, ist genauso, wie er sagt, o Herr, und mehr als das.« Gauri öffnete die Augen, und ihr Mund wurde schmal. Chundra machte sich ihretwegen Sorgen. Törichte Frau! Sah sie denn nicht ein, daß dies eine Erleichterung für sie bedeuten würde? Befreiung zumindest von der immerwährenden Kontrolle, die Mutter Kali auf sie ausübte! Befreiung davon, das schreckliche Blut trinken zu müssen. »Und was denkst du?« fragte der Erwählte Sahib Khan, den ältesten der drei Moslem-Thugs, ein Nachkomme jenes Sahib Khan, der durch den gefürchteten Generalmajor Sleeman seinerzeit gefangengenommen und verhört worden war. »Teile uns deine Gedanken mit.« »O Herr aller Täuscher von allen vier Enden der Welt! Ich glaube, daß, wenn sie so strahlend ist, sie Fatima ist, die Tochter des Propheten Mohammed, weil geschrieben steht, daß von keiner, weder auf Erden noch in der Ewigkeit, mehr Heiligkeit ausgehe als von ihr.«
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»Sie ist Satis Inkarnation, behaupte ich«, beharrte Ramanuja. »Wie willst du das wissen, du Ungläubiger. Waren Bhowani, Kali und Fatima nicht auch so? Ich könnte vergessen, daß wir Brüder der Spitzhacke sind!« »Aha«, sagte ihr Anführer lachend, »die alte Diskussion kommt wieder auf, wie ich sehe. Darin liegt das große Geheimnis, daß die Hindus und die Kinder des Propheten in dem Dienst an der Göttin übereinstimmen. Das freut die Göttin. Oder tut es das nicht, Gauri, du Erwählte?« »Doch«, kam die leise Antwort. »Ich verstehe dich nicht, Gefäß der Gottheit.« »Doch, es freut mich.« »Seht ihr«, der Erwählte wandte sich an seine Bruderschaft. »Wer könnte es besser wissen als sie?« Er lehnte sich zurück, blickte zu den Dienerinnen hinüber, die auf ihren Bänken saßen, runzelte finster die Stirn und sagte zornig: »Der fehlende Schüler ist immer noch nicht eingetroffen. Möge uns das sein Lehrer bitte erklären.« »Ich bin der Lehrer«, sagte Trande Gautam, der Arcoteer. »Dann sag uns, mein Bruder, wer ist dieser Schüler, der sich nicht zu erkennen gibt?« »Es ist ein Robert …« Gautam hatte Schwierigkeiten, den Familiennamen auszusprechen. Er wandte sich an eine zitternde Gestalt in der letzten Bankreihe, die sofort aufsprang und heraustrat. »Erkläre es!« verlangte Gautam. »Bob Fevre, Robert Fevre«, erwiderte die junge Frau mit bebender Stimme aus ihrer Kapuze heraus. Der Erwählte gebot: »Komm näher und laß dein Gesicht sehen.« Sie streifte die Kapuze zurück. »Wie ist dein Name?« »De… Deborah Klaus.« »Lauter, wenn du mit unserem Herrn sprichst«, schnauzte sie
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Makunda an. »Deborah Klaus, o Herr.« Der Erwählte lächelte freundlich: »Du stehst nicht vor Gericht, mein Kind. Wir sind deine Brüder und Schwestern. Tritt näher, Kind.« Er sagte es in freundlicher, geradezu herzlicher Art, und Deborah wurde es vor Erleichterung schwindlig. Nie hatte sie solches Entsetzen gekannt; denn eine Schlinge war für jeden Thug ein geheiligter Gegenstand. »Komm, Kind«, drängte der Erwählte. Deborah trat näher und blieb bei den Mitgliedern der Bruderschaft, die sie alle durchbohrend anstarrten, stehen. Wieder stieg Panik in ihr auf. Gauri schalt: »Laßt sie zu Wort kommen. Kind, wie sollen wir dir helfen, wenn du uns nichts sagst?« »Ja, Mutter«, stimmte Deborah eifrig zu, und ihre Ruhe kehrte wieder. »Bob hat die Schlinge gestohlen.« »Bist du sicher?« »Ja, ja, mein Herr, ich sah es.« Ein Getöse erhob sich. Viele Stimmen schrien zu gleicher Zeit durcheinander. »Sie sah ihn damit … tötet den gotteslästerlichen Chela!« »Aufhören!« Die Stimmen schwiegen. »Wollt ihr unsere Schwester ängstigen? Komm Kind, streng dich an. Was geschah dann?« »Ihr alle habt Bob nicht richtig gekannt. Er ist verrückt. Er wollte die Schlinge einmal selbst ausprobieren. Er wollte Autorität nie anerkennen. Zu mir sagte er, daß keiner ihm befehlen könne. Die Armee hat das nicht geschafft, warum sollte es einem von euch gelingen?« Deborah bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und wimmerte. »Wir wurden durch Kokain high, und er überredete mich.« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Er sagte mir, man müsse die vorgegebenen Regeln brechen, bevor man von der Gruppe aufgesogen würde. Darum stahl er die
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Schlinge. Je mehr Kokain wir schnupften, um so mehr fühlten wir uns verpflichtet, es zu versuchen. Er glaubte, daß es ein ungeheures Gefühl sein müsse, jemanden zu strangulieren. Wir machten so eine Art Thug-Spiel für uns selbst. Dann … dann haben wir es getan.« »Was getan?« fragte der Erwählte scharf. »Ihn getötet.« »Sagtest du töten? Sprich lauter.« »Ihn getötet. Abel getötet.« Etwas lief verkehrt. Sie schrie hysterisch. Die Panik war wieder da, und sie verlor jede Kontrolle über sich. »Ich habe diesen Burschen Abel kennengelernt, der immer Flugblätter verteilte. Er wollte immer allen Menschen helfen. Die Flugblätter, die er an dem Abend bei sich hatte, trugen die Aufschrift: ›Lebe länger durch Liebe!‹ Ich erinnere mich genau. Ich habe ihn dazu gebracht, mit mir in eine kleine Gasse zu gehen, und Bob sprang ihn mit der Schlinge an.« Das Schweigen, das hierauf folgte, war tödlich. Es kam einem Urteil gleich, das spürte sie plötzlich. Dennoch konnte sie nicht aufhören zu reden. »Bob kannte Abel. Er konnte es nicht zügig machen, als er sein Gesicht erkannte. Es war fürchterlich. Fast hätte er den Schal wieder fallengelassen. ›O Gott, ich kenne ihn‹, sagte er immerzu. Vielleicht hätte er Abel laufenlassen, aber ich erkannte, daß es dafür schon zu spät war. So half ich Bob, es zu tun … Abel fuhr mit seinen Händen durch die Schlinge, zwischen seiner Haut und dem Stoff. Dabei stieß er Bob und mich mit aller Kraft gegen die Hauswand. Er hatte plötzlich viel Kraft, vielmehr, als man dem dünnen Kerl zugetraut hätte. Jedenfalls sah ich, daß sein Rucksack mit den Flugblättern im Weg war. Bob, der wieder hinter ihm stand, nahm den Rucksack. Dann haben wir mit den Rucksackgurten Abels Arme festgeschnürt und konnten schließlich mit ihm fertig werden.
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Aber es dauerte so lang. Seine Augen traten hervor, immer weiter hervor, bis er schließlich …« Deborah brach zusammen. Der Erwählte war aufgestanden und ergriff sie an den Schultern. »Und die Schlinge? Was ist damit geschehen?« »Jemand sah uns. Wir mußten davonrennen.« »Die Schlinge?« »Wir haben sie liegengelassen.« Das Schweigen, das jetzt eintrat, war erstickend. Deborah fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie nahm kaum wahr, daß Hände sie ergriffen und nach vorne schoben. Finger gruben hastig und entschlossen in ihren Arm. Man zog ihr die Kuttenärmel zurück. Der Geruch von Betelnuß und Schweiß, den sie stets mit Gautam in Verbindung brachte, riß sie aus ihrer Starre. Was taten sie? Deborah blinzelte und starrte auf ihre entblößten Handgelenke, die man über Gauris Trinkgefäß hielt. Gauris Hände arbeiteten hastig. Deborah fühlte zwei scharfe Schnitte und beobachtete das winzige Messer, das zwei rote Linien in ihre Handgelenke zog und immer länger, immer blutiger wurde. Das Blut floß aus ihren Armen in das Gefäß hinein. Deborah schloß die Augen, akzeptierte, was geschah, und war darauf vorbereitet, ja geradezu froh, jetzt sterben zu müssen. Aber einen Moment später schrie sie auf, weil es plötzlich heiß in ihr Bewußtsein drang. Gauri hielt das Gefäß stetig und so lange, bis es voll war und sein Inhalt fast über den Rand floß. »Und was«, schleuderte Gauri dem poetischen Ramanuja zornentbrannt entgegen, »hat die schöne Sati mit Kalis Tempel zu schaffen?« Der Thug wich zurück und fiel auf die Knie. Elvira zog sich eilig zum äußersten Ende der Empore zurück. Gauri schloß die Augen. Ihre Mundwinkel zuckten, ihr Kinn war vorgeschoben,
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ihr Kopf pendelte rhythmisch hin und her. Langsam zuerst nach links, dann nach rechts und dann schneller, immer schneller. Hals und Kopf wurden hin und her geworfen, eine rasende, gewaltige Bewegung hatte sie erfaßt. Doch sie vergoß nicht einen Tropfen des Gefäßinhaltes. Unter dem Sari spreizte Gauri die Knie, ihre Füße standen im rechten Winkel, die freie linke Hand bewegte sich, die Finger zurückgebogen, der Daumen in einer flatternden Bewegung, zu einem unhörbaren Takt. Dann trank Gauri das Blut, ihr Gesicht hinter dem Rand des Trinkgefäßes verborgen. Murmeln erklang – Erregung, Ehrfurcht, Ekel, Widerwillen. Gurgelnde Laute brachten das alles bald zum Schweigen. Schließlich ließ Gauri das Trinkgefäß sinken. Immer noch bebten ihre Finger. Dunkle Blutspuren zogen sich von ihren Mundwinkeln herab zum Kinn. Ihre Augen waren, wie auch der Hals, geschwollen, die Wangen gedunsen. Ihre blutigen Lippen teilten sich und ihre Zunge fiel lang und bewegungslos heraus. Langsam sickerten Blutstropfen davon herab. Und dann stieß sie ganz unerwartet ein lautes Gekicher aus, das selbst den Erwählten von seinem Thron riß. »O Herr, laß es genug sein!« flehte Chundra Bala. »Das ist nicht mehr zu ertragen.« Er wollte noch sagen, daß Gauri gefährdet sei, aber ihr Name blieb ihm im Halse stecken. Seine Worte wurden ein stammelndes, unverständliches Lallen, Worte, die ihm nicht über die Lippen wollten. Es war, als müsse er ersticken. Die geschwollenen Augen waren fest auf ihn gerichtet. Chundra warf die Arme in die Luft in dem Versuch, diesem gnadenlosen Blick auszuweichen. Dann schlossen sich die Augen für Sekunden, und er konnte wieder durchatmen. »Bald ist es zu Ende, treuer Chundra«, sprach der Erwählte mitfühlend. Gauri war zusammengesunken. Ihr Körper fiel zu Boden. Die heraushängende Zunge glitt in den Mund zurück, so als würde daran gezogen. Ihr schwerer Atem wurde ruhiger.
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Der Geist verließ sie. Nach einer bestimmten Zeit würde sie wieder heiter und glücklich dasitzen. »Bald«, wiederholte der Erwählte, »bald wird ihre Prüfung vorüber sein. Das neue Gefäß ist endlich gefunden.«
16 Sie ging an dem Ufer, an dem sich der Beni-Madhav-Tempel von Varanasi befand, entlang und folgte dem Lauf des Ganges. Santha war schon einmal hier gewesen, und alles kam ihr bekannt vor; es war genau wie damals. Sie schritt an der Gruppe von Pilgern vorüber, die sich überall zusammengefunden hatten. Frauen, Männer, Kinder und heilige Kühe waren dicht aneinandergedrängt. Männer in purpurroten und blauen Gewändern standen auf den gelben Sandsteinstufen, die ins Wasser führten. Die Kuppeln der Tempelschreine blitzten wie Zinnober in der Sonne. Die Menschen sangen Bivo vishwanath, o Herr, o Meister des Universums. Einige beteten Pahi, pahi, schütze, o schütze uns. Santha fühlte sich wie eine Fremde unter ihnen. Sie zog sich von diesem Schauplatz zurück und betrat eine enge Straße, in der die vorspringenden Warenlager der Häuser dem Sonnenlicht den Eingang verwehrten und die Gasse verfinsterten. Santha empfand die düstere Umgebung als bedrohlich. Sie drehte sich nach dem Geräusch der Schritte hinter ihr um und stellte fest, daß die Frau mit dem Nasenring neben ihr herging. Wer ist sie? überlegte Santha. Sie ging schneller, und dann begann sie, von plötzlicher Panik erfaßt, zu rennen. Die Straße führte zu einem Marktplatz. Die brütende Hitze war kaum zu ertragen. Wieder wandte sich Santha um. Die Frau war fort. Die Sicht auf den Marktplatz schien ver249
schwommen, so als wäre ihr Sehvermögen gestört. Ein Elefant, auf dem ein Bauer saß, schob sich in ihr Blickfeld. Sie glaubte, daß er immer breiter würde, und sprang nach links. Fast hätte Santha einen Fakir auf seinem Nagelbett übersehen und hatte plötzlich das Bedürfnis, auf ihn zu hüpfen, bis ihn die Nagelspitzen durchbohrten. Ein Straßenmädchen ölte sein verwahrlostes Haar ein und starrte sie an. Einen Augenblick lang dachte Santha, daß es wieder die fremde Frau mit dem Nasenring wäre. Santha trat näher und schaute durch den Türeingang, in dem die Frau hockte, und stellte fest, daß sie sich geirrt hatte. Der Marktplatz wurde immer verschwommener, nur da und dort war noch etwas zu erkennen. Ein Stand mit Stoffen; Bettler, die um hingeworfene Münzen kämpften und dabei nicht auf den Straßenstaub achteten; ein Ohrenreiniger mit rosa Turban, einen winzigen Löffel und eine Phiole in der Hand. Ein Brahmane im weißen Dhoti kam so plötzlich ins Bild, als ob er aus der flimmernden Hitze herausgestiegen wäre. Und wieder durchfuhr Santha der Wunsch, gewalttätig zu werden. Sie hätte den Brahmanen am liebsten in die Gruppe der Bettler gestoßen. Statt dessen wandte sie sich abrupt um und eilte wütend auf einen betenden Heiligen zu. Als sie sich vor dem Sadhu befand, erhob sich dieser, wies mit dem Zeigefinger auf etwas hinter ihr und rief: »Kunkali! Kunkali!« Santha drehte sich abermals um. Da stand, ein paar Meter von ihr entfernt, die Frau mit dem Nasenring, den Mund zu einem Lächeln verzogen, die Arme ausgestreckt, als wolle sie Santha in eine Umarmung schließen. Santha Wrench erwachte und sah eine Weile nichts weiter als die Augen der Frau. Schließlich bemerkte sie, wo sie war. Sie blickte auf den schlafenden George an ihrer Seite, vergrub das Gesicht ins Kissen und weinte. Was für ein wahnsinniger Traum, dachte sie, teilweise so real wie diese psychischen Zu-
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stände, die sie in der Vergangenheit hatte. Kunkali! Warum sollte sie von Kunkali träumen? War das etwa die fremde Frau gewesen? Hatte das der Sadhu in ihrem Traum ausdrücken wollen? Santha stützte sich auf die Ellbogen und forschte in Georges Gesicht. Es war so entspannt, so zufrieden. Sie dachte an ihre Liebesumarmung einige Stunden zuvor. Es war schöner und intensiver gewesen als jemals zuvor. Wie war es möglich, daß sie ausgerechnet danach einen so schrecklichen Traum hatte? Sie blickte auf den Wecker und sah, daß es noch eine Stunde dauern würde, bis er läutete. Sie erhob sich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Während sie ihr Gesicht wusch, forschte sie im Spiegel nach der anderen Santha und entdeckte keine Spur davon. Warum auch? fragte sie sich. Doch irgendwie fühlte sie, daß das fremde Selbst, das sie damals im Damenwaschraum des Flughafens kennengelernt hatte, wieder auftauchen würde. Dieser Gedanke irritierte sie so sehr, daß sie ihn verzweifelt zu verdrängen versuchte. Sie verließ das Bad und eilte in die Küche hinunter. Dort kochte sie Kaffee, zog ihren Kimono fest zu und öffnete die Vordertür. Die aufgehende Sonne warf ihre ersten Strahlen über den Otis Place. Der Schnee war gefroren. Der kleine Vorgarten glänzte wie Samt und Seide. Santha nahm die Morgenzeitung von der Türschwelle, blieb noch eine Weile draußen stehen und lauschte auf die Morgengeräusche. Ein Wagen fuhr durch die Mount Vernon Street. Das harte Schlagen seiner Schneereifen klang deutlich durch die kalte Morgenluft herüber. Santha schloß die Tür. Sie ging in die Küche zurück, legte die Zeitung auf den Tisch, zog Weißbrot aus einem Brotkasten und steckte zwei Scheiben in den Toaster. Dann stellte sie Butter und Marmelade dazu und wartete. Sie überflog die Schlagzeilen der Zeitung, seufzte, weil es sie langweilte, und ging ziellos hin und her,
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nicht wissend, was sie jetzt tun sollte. Ihre Bewegungen waren hastig und fahrig. Sie faßte die Spüle an, die Küchenschränke, den Brotkasten, den Kühlschrank. Sie hatte sich selten so unruhig gefühlt. Das Weißbrot sprang im Toaster hoch, aber sie ließ es, wo es war. Schließlich legte sie ihre Hände auf ihre Brüste und umfaßte sie. Und plötzlich durchrann es sie wie glühendes Feuer, breitete sich in ihrem Busen aus. Eine heiße Welle des Errötens stieg ihr den Nacken hoch und überflutete ihr Gesicht. Sie beugte sich nieder und betrachtete ihr Gesicht im glänzenden Metall des Toasters. Ihre Lippen waren röter als sonst, ihre Augen dunkler. Santha kicherte. George lag immer noch in tiefem Schlaf auf dem Rücken. Sie stellte sich aufs Bett, spreizte die Beine über ihm und hielt den Kimono bis zur Taille gerafft. Leise bewegte sie sich vorwärts, bis sie direkt über seinem Gesicht stand. Wider kicherte sie, spreizte die Beine noch weiter, beugte die Knie und ließ sich langsam herabsinken. George wurde unruhig, so als spüre er, daß etwas im Gange war. Als ihre Vulva sich seinem Gesicht näherte, öffnete er die Augen. »Mein Gott!« sagte er, und der Rest von dem, was er sagte, wurde erstickt. Santha bewegte sich vor und zurück, während sie sich gegen ihn preßte. Sie fühlte, wie sich Georges Hände in ihre Schenkel vergruben und sie wegschoben. »Was, zum Teufel, tust du da, Santha?« fragte er und setzte sich mit einem Ruck aufrecht hin. »Ich wecke dich mit meiner Muschi«, erwiderte sie, kroch unter die Decke und zu seinem Penis hin. George schlug die Decke zurück und versuchte, ihren Kopf zu heben, aber schon schloß sich Santhas Mund um seine Penisspitze. »Santha … also gut … he, laß mich doch erst mal wach wer-
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den!« Santhas Mund bewegte sich seinen Penis, in dem Versuch, eine Erektion zustande zu bringen, hinauf und hinab. George starrte sie ungläubig an. Als sie ihn losließ, ballte sie die Fäuste und schlug damit auf seine Oberschenkel. »Werde groß, George!« schrie Santha. »Ich will, daß du ein Löwe bist, du sollst so groß wie ein Löwenschwanz werden!« George stieß sie weg. Er sah sehr traurig aus und schüttelte den Kopf: »Nein, Santha.« Er legte beide Hände um ihr Gesicht und blickte ihr in die Augen. »Was ist mit dir los, George?« fragte sie und rieb ihre Brüste an seiner Brust. »George«, bat sie, »ich brauch’ es jetzt. Ich möchte auf der Stelle gefickt werden. Gleich jetzt!« Er blieb still. Santhas Hände schlossen sich wieder um seinen Penis. »Bitte …« Ihre Finger gruben sich in seine Arme und versuchten ihn auf das Bettlaken niederzudrücken. George schaute sie, verblüfft über die plötzliche Kraft, an. Dann betrachtete er den Blutstropfen auf seinen Bizeps, wo ihre Nägel durch die Haut gedrungen waren. Santha lachte: »Sei nicht so langweilig, Liebling. Wir leben nicht mehr im vorigen Jahrhundert. Heute kann auch eine Frau der Angreifer sein.« Er wandte den Blick ab. »Warum bist du so?« rief sie und schlug ihn in die Rippen. George stieß einen Schmerzenslaut aus. »Gefällt es dir nicht, wie ich aussehe? Sehe ich anders aus als sonst?« Wieder spreizte sie die Beine. »Es hat sich nichts geändert, Schatz. Das ist die gleiche Muschi wie die, die du in der vergangenen Nacht gefickt hast! Fühl mal nach. Fühlt sie sich nicht genauso an?« »Ich möchte nicht«, sagte er. Santha kicherte wieder: »Georgi wird auf die kleine Santha wütend. Was ist los, Dr. George? Hast du nicht alles unter
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Kontrolle? Stört es dich, Georgi, daß du Santha nicht mehr in den Griff bekommst?« »Es tut mir leid.« Seine Stimme klang weich. »Santha, laß uns miteinander reden.« »Ich will nicht. Fick mich, George! Ich brauche es, jetzt gefickt zu werden. Merkst du das denn nicht?« »Ich kann nicht. Nicht, wenn du dich so aufführst wie jetzt.« »Wieso wie jetzt? Wie ein brünstiges Tier? Warum nicht? Was hast du gegen Brunst?« »Das bist nicht du, Santha.« »Ist es das, was du in meinem Gesicht erkennst? Was siehst du in meinem Gesicht, George?« Er fühlte, wie er gegen seinen Willen erigierte. Sie ergriff seinen Penis und streichelte ihn. »Na also«, sagte sie, ergriff ihn und versuchte, George über sich zu ziehen. »Bitte, George!« sagte sie. George tat, was sie wollte. Santha lag da und schlang ihre Beine um ihn. Für Sekunden wurde ihre Stimme sanft und zärtlich. »So ist’s recht, Kesari.« Ihre Beine schlossen sich fester um ihn. »Hab’ ich dir wehgetan, Kesari? So ist’s gut. Mach weiter! Wie schön du es einer Frau machen kannst. Oh, komm, komm, geh tiefer hinein, hinein, George! Ich möchte dich ganz in mir haben.« Sie schlug ihn. »Komm, komm!« Sie schlug wieder. Und dann spürte sie, daß er seine Erektion nicht halten konnte. »Streng dich an, George!« schrie sie. »Du hast kein Recht, dich von mir abgestoßen zu fühlen! Aber ich habe das Recht zu kriegen, was ich brauche. Verdammt noch mal, George!« Er löste sich von ihr und brach fast in Tränen aus, als er neben dem Bett stand. »George«, bat sie und strich mit den Fingern über ihre Schamlippen, »tu mir das nicht an!«
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George ließ sich in einen Sessel am Fenster sinken und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich kann nicht«, sagte er, »wir müssen miteinander reden.« »Na, dann rede.« »Santha, du benimmst dich sehr merkwürdig.« »Alles, was ich wollte, war, von dir geliebt zu werden. Was ist daran merkwürdig?« »Beruhige dich erst«, sagte er, »versuche etwas liebevoller zu sein.« »Aber gerne, Liebling«, sagte sie bereitwillig. Als er vor ihr stand, beugte sie den Kopf, steckte ihn zwischen seine Beine und liebkoste seine Hoden mit der Zunge. Die andere Hand legte sie um seinen Penis und fühlte, daß er wieder hart wurde … »Jetzt!« flüsterte sie. George drang in sie ein, und sie begannen sich zu bewegen. Santha spürte deutlich, daß es diesmal so war, wie er es gewollt hatte. Sie war, wie er es sich wünschte, behutsam gewesen. Dennoch, stellte sie fest, schaute er sie immer noch nicht an, nicht ein einziges Mal. Er fürchtet sich wohl davor, dachte sie, und dieser Gedanke störte sie sehr. Ihre Wut kam genauso rapide und überwältigend in ihr hoch wie ihr Orgasmus. Beides war miteinander vermischt, waren eins; Zorn und Ekstase waren wie Liebende zusammengeschlossen. Und dann kam der Augenblick. Außer ihrem lustvollen Stöhnen blieben sie stumm. Santhas Orgasmus begann. Sie hob die Hände, legte sie um sein Gesicht, und bevor er sie daran hindern konnte, küßte sie ihn wild und leidenschaftlich auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich, während sie kam, und er drückte sie gleichzeitig erschrocken zurück. Sie stieß ihren Liebesschrei aus, während sich George verzweifelt und immer noch erigiert von ihr zurückzog.
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Santha wartete darauf, daß George zu sprechen beginnen würde. Er hatte sich eine Hose übergezogen und stand am Fenster. Sein Rücken war ihr lange Zeit zugewandt. Was immer er zum Ende ihres Liebesaktes in ihren Augen gesehen haben mochte, es war die Ursache dafür, dessen war sie sich sicher. Sie war sogar ins Bad gegangen, um im Spiegel festzustellen, wie sie aussah, hatte aber nichts Außergewöhnliches gefunden. Doch George hatte ganz entschieden etwas gesehen, etwas, was ihn so tief abgestoßen haben mußte, daß er seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. Und dann hörte sie ihn fragen: »Gehst du zur Arbeit?« Es war eine so unerwartet alltägliche Frage, daß sie erschrocken zusammenfuhr. »Natürlich gehe ich. Warum fragst du?« Er gab keine Antwort, blickte sie statt dessen nur nachdenklich an. Santha zog Unterwäsche aus ihrer Reisetasche. George näherte sich ihr langsam. Sie blickte auf. Er starrte in ihr Gesicht und schien erleichtert. »Santha, was ist geschehen?« Unfähig, ihm zu antworten, schob Santha die Schiebetür des Kleiderschrankes zurück. Sie nahm einen beigen Hosenanzug vom Bügel und legte ihn aufs Bett. »Santha, wir müssen dringend miteinander reden. Du mußt dich in eine Therapie begeben. Bald. Ich würde dir die bittere Pille gerne versüßen, aber ich habe keine andere Wahl, als offen mit dir zu sprechen. Es sind zu oft zu merkwürdige Dinge passiert. Vor kurzem hast du halluziniert, und vor einiger Zeit ist eine Persönlichkeitsveränderung mit dir vorgegangen, die so extrem ist, daß ich kaum mit dir darüber sprechen kann.« Santha nickte. »Ich habe dich gekränkt, nicht wahr? Ich war wohl ziemlich ekelhaft, nehme ich an.« »Erinnerst du dich daran?« »In etwa, aber nur in der Art, wie man sich eines Traumes
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erinnert. Ein bißchen undeutlich, mit ein paar Erinnerungslükken.« Sie zog sich an. George nahm ihre Hand. »Liebling, ich kann das nicht einfach abschütteln. Weder als Arzt noch als dein Liebhaber kann ich dich einfach davonrennen lassen.« »Ich renne ja gar nicht davon, ich bin nur durcheinander, George …« Das Telefon läutete. »Ich kenne eine wirklich gute Therapeutin. Ich glaube …« Wieder läutete das Telefon. »… du wirst sie mögen. Ich bin überzeugt davon. Sie …« Wieder klingelte es. Santha wies auf das Telefon: »George …« Er hob den Hörer hoch. »Ja? Oh, hallo, Steve. Ja, sie ist hier.« Er gab ihr den Hörer. »Ja, Daddy?« »Ich habe zuerst in der Lime Street angerufen, und als du nicht zu Hause warst …« Ihr Vater räusperte sich. »… dachte ich mir, versuch’s mal bei George.« »Das war vernünftig«, erwiderte sie lächelnd. »Äh … Onkel Ram und ich haben uns gerade über die Schriftrolle unterhalten, die ich dir gegeben habe, damit du sie Frau Dr. Kimm zeigst. Glaubst du, daß sie damit fertig ist? Du sagtest doch, daß du sie Dr. Kimm geben würdest, war es nicht so?« »Ja, aber sie hat sie mir zurückgegeben, sie hat sie nicht angeschaut. Verstehst du, sie ist so mit der bevorstehenden Indienausstellung beschäftigt, daß wir warten müssen, bis sie vorbei ist.« »Aber es ist doch schon einen Monat her.« »Ja. Es tut mir leid …« »Warte mal eine Minute, Santha. – Was meinst du, Ram? Ist
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die Schriftrolle wenigstens im Safe, Santha?« »Natürlich.« »Santha, Onkel Ram und ich möchten, daß du sie zurückbringst, wenn möglich noch heute abend. Vergiß es nicht, Liebes.« »Ich werde es nicht vergessen.« Nach einer Pause: »Wie fühlst du dich, Santha?« »Danke, bestens. Ich bin gerade im Begriff, zur Arbeit zu gehen. Ich liebe dich und Onkel Ram.« »Wir dich auch, Santha …« Das Büro war wie der einsamste Platz auf der Welt. Santha saß, unfähig zu arbeiten und den Kopf in die Hände gestützt, hinter ihrem Schreibtisch. Erinnerungsfetzen daran, wie sie über George gekauert hatte, während er schlief, plagten sie. Mittlerweile glaubte Santha nicht mehr, daß all diese seltsamen Vorfälle, die sie bisher heimgesucht hatten, auf eine wohlmeinende Macht zurückzuführen waren. Wie sollte das möglich sein, wenn diese unbekannte Energie so rapide darauf aus war, ihre Verbindung zu George zu zerstören? Andererseits hatte sie George, bevor er zur Arbeit fuhr, davon überzeugen wollen, daß dem nicht so war. Er hatte sein Auto in der Garage in der Brimmer Street gelassen, damit er es am Morgen nicht aus den Schneemassen herausschaufeln mußte. Als sie sich dann gemeinsam zu Fuß auf den Weg machten, war es Santha aufgefallen, daß er sehr still war. Aber, erinnerte sie sich, als wir uns trennten, hat er mich ganz lieb geküßt und versprochen, später anzurufen. Das war nicht die Reaktion eines Mannes, der kein Interesse mehr an ihr hatte. Das Telefon läutete. Santha nahm den Hörer ab und verzog enttäuscht das Gesicht. Der Herausgeber des Ausstellungskata-
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logs war am Apparat, nicht George Buchan. Zehn Minuten lang besprach sie die Layouts mit dem Mann. Danach fühlte sie sich immer noch tief deprimiert. Kunkali, erinnerte sie sich. Der Name Kunkali war in ihrem Traum aufgetaucht. Sie hatte sich anschließend in ein wildgewordenes Wesen verwandelt. Vielleicht sogar in ein dämonisches. Was hatte George in ihrem Gesicht gesehen? Was hatte ihn so abgestoßen? Bin ich wahnsinnig? dachte sie verzweifelt. Gewiß bin ich das, ich halluziniere, wie George schon gesagt hat. Santha versuchte sich daran zu erinnern, was sie einmal in einem Psychologiekurs, den sie während ihres Studiums belegte, gehört hatte. Silvano Arieti hatte die verschiedenen Stadien der Schizophrenie dargelegt. Sie mußte mindestens im dritten Stadium sein, in welchem sich psychotische Zustände entwikkeln und der Schizophrene die Welt in einer neuen Dimension autistischen Denkens sieht. Sie hoffte, daß ihre Erinnerung stimmte. Sie lachte laut und bitter. Verdammt noch mal. Wenn diese Definition nicht auch auf einige mystische Erweckungen zuträfe, von denen sie gelesen hatte … Was für ein Witz, soweit es Silvano und seine Theorien betraf. Dennoch reichte keine dieser Betrachtungen aus, um Santhas Herz zu erleichtern. Komm, Santha, versuchte sie sich zu ermuntern, du bist doch ein kluges Mädchen. Versuche, es genau zu durchdenken. Du hast den Bachelor of Arts der Bostoner Universität und den Master of Arts von Harvard. Das sollte eigentlich genügen, um festzustellen, ob du an Persönlichkeitsspaltung leidest oder an dämonischen Besessenheitszuständen. Besessenheit? Ich muß anfangen zu arbeiten, mahnte sie sich und erhob sich vom Stuhl. Ich sollte lieber arbeiten, anstatt nachzugrübeln. Sie öffnete den Safe und ging hinein. Sie fühlte sich wieder
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sicher und geschützt vor dem Unbekannten. Artefakte, die sie umgaben, waren ihr bekannte Dinge, in gewisser Weise Freunde. Jedes hatte seine eigene Geschichte, jedes hatte eine solide, erdgebundene Vergangenheit. Sie griff nach dem Fach, in dem die Rolle lag. Jemand betrat das Büro. Santha hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Sie drehte sich, um zu sehen, wer da war. Doch die Person, die jetzt im Eingang des Safes stand, war keine Kollegin. Santha wich erschrocken zurück. Die Frau vor ihr war hochgewachsen und schlank. Zwei lange Zöpfe reichten ihr bis zur Hüfte. Sie trug einen gesteppten Trenchcoat mit Pelzbesatz. Den Kragen hatte sie bis zu den Ohren hochgeschlagen. Ihre Haut war zwar olivfarben, aber mit Sicherheit war sie keine Inderin. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Santha. »Mein Name ist Elvira Moniz«, antwortete die Frau mit tiefer, fast männlicher Stimme. »Sind Sie Santha Wrench?« Verblüfft fragte Santha: »Woher kennen Sie meinen Namen?« Sie ging nach vorne. Sie hatte plötzlich bemerkt, daß sie sich im Safe befand und die Frau direkt an dessen Tür stand. »Sie haben vedisches Sanskrit studiert, nicht wahr?« »Bitte, beantworten Sie meine Frage: Woher kennen Sie mich?« Mittlerweile war Santha nur noch einige Zentimeter von der Frau entfernt … »Jemand von der Universitätsbibliothek sagte es mir.« »Wer?« erkundigte sich Santha. »Ich erinnere mich nicht an seinen Namen.« »Das ist aber merkwürdig. Lassen Sie uns in meinem Büro weitersprechen.« Die Frau rührte sich nicht vom Fleck. »Miss Moniz«, sagte Santha und versuchte, die aufsteigende Panik niederzukämpfen, »bitte, lassen Sie mich vorbei!« »Versuchen Sie gerade, vedisches Sanskrit zu übersetzen?«
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Die Augen der Frau wanderten über Santhas Schulter hinweg zu den Regalen. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen?« »Bitte, lassen Sie mich vorbei, Miß!« »Darf ich sehen, woran Sie arbeiten? Ist es dort?« Santha duckte sich. Die Hände, die sie wegzuschieben versuchten, griffen ins Leere. Santha wollte der Frau ans Schienbein treten, doch sie wich dem Stoß aus, und bevor Santha aus dem Safe heraustreten konnte, stießen sie die Hände der Fremden wieder in den Gang zwischen die Regale zurück. »Ich werde um Hilfe schreien!« drohte Santha. »Tun Sie das. Dann werde ich eben die Tür schließen. Da drinnen hört Sie niemand.« Sie lächelte auf eine höchst unerfreuliche Weise und zeigte dabei ein ungepflegtes Gebiß mit abgebrochenen Eckzähnen. »Werden wir noch zu einer Einigung kommen? Ich kam hierher, um Ihnen zu helfen. Ich könnte Ihnen bei der Übersetzung helfen, wenn ich einmal sehen dürfte, um was es sich handelt.« Santha brauchte etwas Zeit, um nachzudenken und einen Plan fassen zu können. Die Panik war entsetzlich. »Ja, und …?« fragte sie. »Kann ich das Fragment einmal sehen?« »Fragment?« wiederholte Santha. »Fragment von was?« »Es ist eine Schriftrolle, nicht wahr?« Die Eindringende setzte erst den einen, dann den anderen Fuß über die Schwelle des Safes und war auch schon drinnen. Sie blickte forschend durch die Glasscheiben der Regale und suchte. Santha senkte den Kopf, ballte die Fäuste und ging zum Angriff über. Mit dem Kopf traf sie die Frau mit voller Wucht vor die Brust, und beide taumelten ins Büro zurück. Santha wurde durch den Schreibtischstuhl aufgehalten, doch Elvira Moniz fiel gegen die Wand. Santha sprang hoch, zog die Safetür zu und schloß sie ab.
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»Machen Sie, daß sie rauskommen!« Sie eilte zum Telefon. »Ich rufe die Sicherheitspolizei!« Elvira Moniz rieb sich den Kopf. Von dem Zusammenprall mit der Wand hatte sie eine Platzwunde davongetragen. »Ich gehe ja schon«, sagte sie, »aber Sie sind sehr töricht. Die Schriftrolle gehört rechtens uns. Vielleicht gehört sie auch eines Tages Ihnen, wenn Sie ihr Karma zu akzeptieren lernen.« Sie ging zur Tür, schaute kurz zurück und sagte mit sanfter Stimme: »Der Pfad, der nach links führt«, während sie auch schon aus dem Zimmer war. Zitternd lehnte sich Santha gegen ihren Schreibtisch. Der Pfad nach links? Was war damit? War es nicht, aus esoterischer Perspektive gesehen, der Pfad des Bösen? Santha hatte in Indien einmal davon sprechen hören. War es der Pfad, der einen, durch schlimme Taten, die man beging, vom immer sich drehenden Rad der Wiedergeburt erlösen konnte? So etwas wie der Thugismus? Und die Schriftrolle? Woher wußte Elvira Moniz davon? Oder, was noch verblüffender war, woher wußte sie, daß sich die Rolle hier im Safe des Peabody-Museums befand? Wie eine Antwort kamen ihr Wortfetzen in den Sinn, hörbare Gedanken wie Eissplitter: Der Geist der Schriftrolle ist selbst im Fragment noch lebendig und ruft jene, die hören können, auf, daß es wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werde. »Was war das? Wer sind Sie?« schrie Santha auf und wartete. Aber es kam keine Antwort. Wer war es, der in ihr auf diese Weise sprach? Das Telefon läutete. Sie fror. Sie fror, weil etwas Eiskaltes nach ihrem Verstand griff. Wieder läutete das Telefon … Santha nahm den Hörer ab. »Santha?« »George. O George!« Sie begann zu weinen.
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»Santha …!« »Bitte, komm und hol mich hier weg, George. Ich weiß, ich bin eine Plage, aber ich möchte sofort nach Hause. Ich werde hier sagen, daß ich krank bin. Das ist sowieso die Wahrheit. Ich bin krank, nicht wahr, George?« »Ich habe noch eine Patientin hier. Danach komme ich sofort«, versprach er. »Ich könnte mir ein Taxi rufen, aber ich möchte bei dir sein, George. Das ist dir doch recht, oder?« »Aber selbstverständlich, Liebling. Bist du sicher, daß es in der Zwischenzeit nicht schlimmer wird?« »Ja, hab keine Sorge. Ich liebe dich, George.« »Ich liebe dich auch, Santha. Ich bin in einer knappen Stunde bei dir.« Als Santha auflegte, mußte sie an Elvira Moniz denken und begann wieder zu zittern. Sie eilte aus dem Raum. Sie mußte jetzt unter Leuten sein, denen sie trauen konnte. Sie ging zu Frau Dr. Kimm, um ihr Bescheid zu sagen, daß sie früher nach Hause gehen wolle.
17 Am darauffolgenden Tag schneite es mit immenser Dauer. Schon um zehn Uhr früh waren die wichtigsten Bostoner Zufahrtsstraßen verstopft. Die Winterreifen der Autos mahlten sich durch die Schneemassen. Das Heimtückische an den Stürmen New Englands war, daß sie die Arbeit der Schneeräumkommandos, die die ganze Nacht hindurch geschuftet hatten, im Handumdrehen zunichte machten. Der sturmgetriebene Schneeschleier, die Schneehaufen, die sich an den Straßen türmten, die zunehmende Kälte, die der Sturm mit sich brachte, 263
waren für die Menschen, die ohnehin unter dem Wettersturz litten, eine wahre Strafe. Am späten Vormittag kroch Mai Yoginis Limousine die Massachusetts Avenue in Cambridge entlang. »Jetzt sind wir bald beim Affenhaus«, sagte der Chauffeur. Yogini zog ihre Strümpfe glatt und prüfte ihr Make-up im Spiegel der Puderdose. Sie mußte tipptopp aussehen, denn Nirmal Kapur würde da sein. Ohne ihn war ihr Plan nicht durchführbar. Über Nirmal wollte sie an Hanuman herankommen. Sie fröstelte und zog ihren Leopardenfellmantel enger um sich. »Fredrico, ist die Heizung an?« »Das ist sie«, versicherte der Chauffeur. Mir ist schon so viel passiert, überlegte sie, Amerika verdirbt den Charakter. Alles kann passieren und passiert immer wieder. Ziellos, ohne Sinn. L’homme est une passion inutile, dachte sie und fand es toll, einmal Jean Paul Sartre zu zitieren, anstatt immer nur Weisheiten. Von ihr und der Weisheit wurde immer so viel erwartet. Die anbetenden, ihr zugewandten Gesichter sogen jedes Wort auf, das sie von sich gab. Wenigstens konnte sie sich bei Nirmal ein wenig erholen und brauchte nicht unbedingt auf alles und jedes, was sie sagte, zu achten, konnte witzig und kosmopolitisch sein. Was für eine Erleichterung, unbedeutend und klein sein und so sprechen zu dürfen, wie man wollte. Die sanfte Stimme vergessen, die allem und jedem, Großem und Kleinem immer nur Gütiges sagen darf. Bei Nirmal brauchte sie keinerlei Glauben zu bekennen. Keinen. Sie nestelte an dem Sari, den sie für sich selbst entworfen hatte. Mai Yogini trug Strümpfe an einem Strumpfbandhalter darunter, aber das war ein Geheimnis, das nur ihre Liebhaber kannten. Liebhaber, die ihr Firlefanz schenkten, nach dem ihr
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der Sinn stand. Trotz allem, was sie von ihr forderten, hatten weder der Erwählte noch Balas Frau jemals das Geld von ihr gefordert, das sie gehortet hatte, oder etwas von dem Schmuck, der im Banksafe verwahrt war, dachte Mai Yogini plötzlich. Der Schnee fiel mit solcher Wucht gegen die Wagenfenster, als ob er, um die Insassen zu bedecken, durch das Glas dringen wolle. Angenommen, die Thug-Bruderschaft tat mit dem Versuch, Hanuman zu vernichten, Nirmal etwas Schlimmes an? Mai Yogini wimmerte bei diesem Gedanken unkontrolliert vor sich hin. »Stimmt was nicht, Yogini?« fragte Fredrico. »Doch, doch, ich habe mir nur den Finger an einer Brosche zerstochen.« Fredrico sagte nichts. Er kannte sie besser und wußte mehr von ihr und über sie als alle anderen. Er hatte sie zu so vielen Rendezvous gefahren. Er war absolut zuverlässig. Niemals würde er ein Wort verlauten lassen. Er beschützte sie immer, trug stets ein Messer und Schlagringe bei sich, und eine Fünfundvierziger lag bei ihren Ausfahrten im Handschuhfach. Yogini wußte, daß er sie liebte und sich nach ihr verzehrte. Sie wußte, daß Fredrico für sie sogar sein Leben hingeben würde, und sie genoß die Macht, die sie über ihn hatte. Zögernd ließ sie schließlich vor dem Gebäude anhalten, das sie das Affenhaus getauft hatte. Es war eines von drei zusammenhängenden Häusern mit großem Vorgarten. Jedes Haus hatte eine Terrasse, zu der einige Stufen hochführten, und einen gemeinsamen, alle verbindenden Ziegelsteinbogen. Über jeder Terrasse wölbte sich nochmals ein Ziegelbogen mit Schneckendekor. In der warmen Jahreszeit floß der Vorgarten von gepflegten Rosenbüschen über. Fredrico hatte sich ein paar Meter entfernt in die schneegeräumte Auffahrt gestellt. Sie sagte ihm, daß er in etwa eineinhalb Stunden wiederkommen solle. Dann setzte sie ihre teuren
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Papagallostiefel vorsichtig in den Schnee und stapfte zum Vorgarten. Sie zögerte. Mai Yogini war Swami Hanuman erst einmal begegnet, und er hatte sie sofort durchschaut. Er war ein echter, ein wirklicher Meister. Das Gerücht, daß er über ungeheure geistige Kräfte verfüge, ging um. Mai Yogini registrierte eine kleine Bewegung, einen Schatten an der rechten Seite hinter einer Schneeverwehung vor der Gartenhecke, und fuhr erschrocken zusammen, wäre fast ausgerutscht und gefallen. Sie zwang sich, noch einmal hinzusehen, konnte aber nichts entdecken. Das kann doch nicht sein, dachte sie, da war doch etwas, ein Schatten, irgend etwas Verhülltes, das ihr zuzuwinken schien. Und es traf sie wie ein Eisdolch in die Brust; ob Sie etwa auch hier ist? Sie klingelte an der Hausglocke. Der seltsame zweidimensionale Schatten verschmolz mit dem Schneehaufen. Sie muß hier sein, dachte Mai Yogini und erschauerte, als sie sich das vorstellte. Gewiß beobachtet sie mich. Es wurde behauptet, daß Swami Hanuman sich eines Tages in die reine Erkenntnis zurückgezogen habe, daß Vishnu und König Rama ihn aufgesucht und ihm erklärt hätten, daß er der berühmte Affengott sei. Also wirklich, redete sich Mai Yogini zu, was habe ich überhaupt, falls das wahr sein sollte, mit Hanuman zu tun? Ich bin nicht diejenige, die ihn retten muß. Dennoch hatte Yogini das Gefühl, daß Kali hier der Eintritt verwehrt sei, daß die Macht des Thug-Fürsten an dieser Schwelle zu Ende war. Die Tür wurde geöffnet. Yogini sah sich einer jungen Frau im weißen T-Shirt und Latzhose gegenüber. PRIVATBESITZ war auf dem T-Shirt aufgedruckt. »Hallo, Yogini.« »Hallo, Molly. Ist Nirmal da?« »Ja, aber er meditiert. Komm rein und warte.«
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Drinnen setzte sie sich auf eine Couch und rückte erschrocken ein Stück weiter, als von Zeit zu Zeit eine Feder hochsprang. Schließlich war sie bis ans andere Ende gerutscht. »Das macht sie immer«, erklärte Molly Doyle, nachdem sie einen Kaugummi ausgestoßen und wieder eingesogen hatte. »Es sieht ganz so aus, als würde das Ding nie mehr aufgepolstert. Möchtest du ein bißchen Tee haben? Ich habe guten Kräutertee.« »Nein, vielen Dank, Molly.« Das Mädchen ging zum Fenster, blickte hinaus und kratzte sich unter dem Arm. Außer dem Ticken einer häßlichen Bronzeuhr mit halbnackten Putten auf jeder Seite, die in der Mitte des Kaminsimses stand, war Mollys Kauen auf dem Kaugummi das einzige Geräusch. Yogini fuhr mit dem Finger über die Platte des Couchtisches und runzelte die Stirn, als sie den Staub an ihren Fingerspitzen betrachtete. Molly nieste, wischte sich die Nase am T-Shirt ab und sagte: »Also, bis dann«, und ging. Das T-Shirt spannte sich stramm über ihre Oberweite. Molly hatte allerhand zu bieten. Warum umgibt sich der Affenmann mit einer so dreckigen Kreatur wie dieser? fragte sich Yogini. Molly Doyle war in ihrem Alter, zweiunddreißig Jahre alt. Das hatte Nirmal ihr einmal gesagt, aber sie sah wie eine Dreizehnjährige aus und benahm sich auch so. Sie war in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Ihre Eltern waren Alkoholiker gewesen und hatten sich nie um sie gekümmert. Das hatte sie so aggressiv gemacht, daß sie nicht erwachsen werden wollte. So hatte es Swami Hanuman gesagt. Sie wollte aber auch die reine Erkenntnis erhalten, um Macht über andere ausüben zu können, und vielleicht auch eines Tages zu ihrer Familie zurückkehren. »Aber das ist doch nicht die richtige Motivation, um zur reinen Erkenntnis zu gelangen.« »Der Swami hat gesagt, daß es auf dieser geistigen Ebene
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überhaupt keine klare Motivation gibt.« »Na, ich weiß nicht. Wenn ich jemand aufnehmen sollte …« »Yogini, bitte, höre mit dieser Heuchelei auf. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du einen Schüler ablehnst, falls er gezahlt hat. Ich nehme eher an, daß du dir in diesem Fall selbst für Molly ein dämonisches Mantra austüfteln würdest. Es gibt auch dämonische Mantras, wie du weißt.« »Aber nur die Asuras, die Dämonen, können so singen, daß sie auch etwas bewirken.« Nirmal hatte etwas über ihre schlagfertigen Antworten vor sich hingemurmelt, und sie hatte gelacht. Mai Yogini seufzte. Das waren noch Zeiten gewesen. Sie und Nirmal hatten sich zwischen ihren Liebesumarmungen oft auf diese Weise unterhalten. Und dann entschied er sich eines Morgens, sie zu verlassen und hierherzuziehen. Wieder zog sie den Spiegel hervor, um ihr Gesicht zu prüfen, und dann entschloß sie sich, die Regeln des Affenmannes zu durchbrechen. Hinter ihr befand sich eine Tür. Sie blickte sich um und vergewisserte sich, daß auch wirklich niemand in der Nähe war. Erst dann ging sie hinüber, legte die Hand auf die Klinke, drückte sie vorsichtig herunter, öffnete sie und überschritt die Schwelle. Auf Zehenspitzen schlich sie einen langen Flur entlang. Zur Rechten beleuchteten schmale hohe Fenster den düsteren Flur und eine lange Reihe von Türen. An der dritten Türe hielt sie an und drückte die Klinke wieder herab. Hier gab es nur eine Beleuchtungsquelle mit einem bläulichen Farbton. Daneben saß Nirmal in Lotosstellung auf einem Kissen. An der gegenüberliegenden Wand erkannte man die Umrisse eines Feldbetts und einiger Musikinstrumente. Leise trat Yogini näher. Nirmal war vollkommen nackt. Die Umrisse seines Körpers, vom blauen Licht angestrahlt, ließen sie ehrfurchtsvoll, so als stünde sie vor dem jungen Krishna, verharren. Die gelösten Haare fielen ihm glatt auf die Schultern. Er
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bewegte sich mit keinem Muskel. Yogini fiel auf die Knie, blickte ihn nur an und zitterte. Warum hatte er ihr Verhältnis beendet? Warum? Ihr Blick glitt über seine haarlose Brust, den straffen Oberkörper. Warum? Ihr Unterleib schmerzte. »Mai Yogini«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Woher weißt du das?« »Dein Parfüm«, rief Nirmal und sprang auf die Füße. Yogini starrte auf seine Schenkel, seine Hoden, seinen Penis und wurde von entsetzlicher Traurigkeit ergriffen. »Dies sind Privaträume«, hörte sie ihn sagen, »aber das ist dir wohl egal, oder?« »Ich bezweifle, daß du gerade im Begriff warst, eine astrale Welt zu betreten«, entgegnete sie, aus der Fassung gebracht. »Wenn du in der Nähe bist, bestimmt nicht.« Mai Yogini schluckte an ihrem Stolz. »So darfst du es nicht sehen, Nirmal. Ich mußte kommen. Ich brauche dich.« Als er nicht antwortete, flehte sie mit allem schauspielerischen Talent, das sie aufbringen konnte: »Nirmal, sie haben mich schließlich doch gekriegt. Ich bin … in Schwierigkeiten. In echten Schwierigkeiten diesmal.« Nirmal stand immer noch da, blickte auf sie herab und runzelte die Stirn: »Ist das nicht doch wieder eines deiner kleinen Spielchen, um mich zurückzubekommen?« Yogini schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten. Ihre Finger verlangten danach, sich auszustrecken und ihn zu berühren. Sie senkte den Kopf und gab sich alle Mühe, reumütig zu erscheinen: »Du hast mich immer gewarnt, Nirmal. Ich hätte auf dich hören sollen. Meine Chelas beginnen mich in Zweifel zu ziehen. Sie sehen die teuren Möbel, den Materialismus im Center.« »Verdammt, da kannst du doch rauskommen. Sag ihnen, daß
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hübsche Möbel nichts Schlimmes sind, solange nur dein Verhalten das richtige ist. Sag ihnen, daß sie eine Menge hübscher Dinge um sich haben dürfen, solange sie dem Guten verbunden bleiben, Gott zu dienen bereit sind und dem Bösen abgewandt, allumfassende Liebe üben. Das ist der Weg.« »Wirklich?« »Das war doch stets deine Botschaft, oder nicht?« Yogini nickte. Tränen rannen ihr die Wangen herab. Diesmal waren sie echt. Sie blickte ihn an und vermißte seinen Körper. Sie fuhr fort: »Sie wissen auch von allem anderen.« »Yogini, fühlst du dich nicht wohl?« Nirmal beugte sich herab und fing sie in seinen Armen auf. Sie war einer Ohnmacht nahe. Mit aufgerissenen Augen keuchte sie: »Nirmal, du mußt im Center spielen. Du mußt den Swami mitbringen. Für mich. Meine Chelas werden dann davon überzeugt sein, daß ich immer noch die reine Wahrheit verkünde, weil nämlich der Swami der Größte ist. Das wissen sie.« Die aufgeregten Worte sprudelten aus ihr hervor. Schluchzend schmiegte sie sich in seine Arme. Einen Augenblick lang hielt Nirmal sie fest und streichelte ihr Haar. Dann ließ er sie plötzlich zu Boden gleiten und verschwand. Als er wiederkam, trug er Jeans. »Ich weiß«, sagte er zynisch, »die möchten gern, daß jeder Hindu erleuchtet und randvoll von göttlichen Gnaden ist.« Er nahm ein rosa Seidenhemd vom Stuhl und zog es über. »Wovor hast du eigentlich Angst, Yogini?« »Ich muß überleben … Du weißt, wie hart das Leben nach dem Selbstmord meines Vaters und nach Mutters Tod für mich war. Ich war allein hier in Amerika.« »Also bitte, leg nicht wieder diese Platte auf. Für die nächsten zwei Wochen bin ich ausgebucht. Tut mir leid, Yogini. Heute abend bin ich noch frei und –«
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Schnell fiel sie ihm ins Wort: »Heute abend würde es großartig passen. Ich könnte all meine Schüler anrufen und es ihnen sagen. Sie wissen, der Swami würde nicht kommen, wenn er der Ansicht wäre, hier würde falsches Spiel gespielt.« »Ich kann nicht erwarten, daß Billy Dangerfield und die kleine Esmeralda ohne Ankündigung spielen. Und ich glaube nicht, daß Swami Hanuman daran interessiert ist, mitzugehen.« »Du mußt ihn mitbringen. Bitte, mach, daß er kommt, Nirmal!« Er schwieg eine Weile. Niemals hatte er Yogini so außer sich gesehen. Irgend etwas stimmte hier nicht. Etwas wurde verheimlicht. Früher hatte ihn der Swami darauf hingewiesen, daß er aufmerksamer und scharfsichtiger sein sollte. Der Swami war wegen etwas besorgt, was er ihm nicht mitteilte. Er sagte nur, daß eine große Gefahr zu erwarten wäre und daß sie sich plötzlich in jeder Form manifestieren könne. Vielleicht käme sie aus einer völlig unerwarteten Richtung. Und Nirmal wußte, daß sein Meister niemals übertrieb. »Dann laß uns gehen und ihn fragen, was er davon hält.« Yogini folgte Nirmal bis zum Ende des Flures. Eine Tür weiter, und sie befanden sich in einem großen Raum, in dem sechs Menschen einschließlich des Swami anwesend waren. Ein hochgewachsener, ungewöhnlich magerer Mann mit Brille hielt gerade einen Vortrag. Zwei junge Frauen, eine ältere fettleibige Frau in dreiviertellangen Hosen und ein Mann mittleren Alters mit einem Plastikstock waren zugegen. Der Blick des Swami blieb auf Yogini geheftet, und sie wand sich innerlich unter diesen Augen. »Was ist?« flüsterte Nirmal. »Nichts«, erwiderte sie und hatte dabei das Gefühl, daß ihre Persönlichkeit auseinandergenommen würde. Nervös versuchte
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sie, sich auf die Miniaturbildchen an der Wand zu konzentrieren, die den Affengott zeigten, wie er König Rama half, seine Geliebte zurückzuerobern. »Nun, wenn wir also voraussetzen, daß alle Ebenen gleich sind und die Theorie des Superraumes anerkennen, dann wissen wir auch, daß die Einzigartigkeit der Zeit im Raum sowohl Eingang wie Ausgang bedeuten, und wenn wir das noch der Vorstellung von Kant hinzufügen, daß nämlich Zeit im Raum eine Konstruktion menschlichen Intellekts ist, kann es sehr wohl sein, daß …« »Mein Gott«, sagte Yogini laut, »was soll das heißen? Warum erlaubt Hanuman solches Gefasel?« »Pssst! Er, findet, daß Leute so beginnen müssen, wie sie sind. Er will nicht, daß man ihm blind folgt, wie du weißt. Er unterscheidet zwischen dem Glauben, der aus dem Verstehen erwächst, und dem Glauben, der nur auf blindem Vertrauen basiert und wie die Kirche ihn verlangt, und wie er von bestimmten Gruppen auch angenommen und akzeptiert wird. Er sagt, daß die Sache mit dem Vertrauen nur eine Weile funktioniert.« Der Sprecher schwieg. Der andere Mann meinte dazu: »Das ist gewiß beeindruckend, Bill. Aber ich muß gestehen, daß ich verwirrter bin denn je. Die Frage lautete, wenn ich mich recht erinnere: Wie können wir glauben, daß alles möglich ist? Also, wie können wir das glauben?« »Wer ist das?« fragte sie. Bill antwortete ärgerlich: »Hättest du richtig zugehört, wärst du jetzt nicht verwirrt.« Nirmal sagte stirnrunzelnd: »Er ist ein Schriftsteller, ein Romancier.« »Oh!« »Also Bill«, meinte der Mann mit dem Stock bissig. »Ich bitte dich, Unterschiede zu machen. Ich habe zugehört!«
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»Es ist ja nur so, daß du die Dinge nicht in literarischer Form hören willst.« »Nun ja, es mag ja zweckmäßig sein, wenn man’s gedruckt herausgeben will. Aber es wäre schön, wenn du es für gewöhnliche Menschen etwas verständlicher zusammenfassen würdest.« »Ich hab’ mich gelangweilt«, sagte die eine Frau in den Dreiviertelhosen. »Sie sind schon gelangweilt auf die Welt gekommen«, sagte Bill. »Das ist wenig geistreich.« »Soll es auch nicht. Das ist eine Diskussion.« »So, aber warum? Ich unterrichte meine Schüler nur, und sie hören zu.« »Das ist genau das Problem.« »Das Leben ist keine Erfindung«, verkündete Bill, »Ihr seid alle in Worten befangen.« »Komisch, während ich dir zuhörte, dachte ich, daß du es wärst. Dein Vortrag hat mich an den Mann, der das Wort Banane buchstabieren lernte und dann nicht wußte, wann er damit aufhören mußte, erinnert.« »B-A-N-A-N-A-N-A«, zirpte eine der jungen Frauen, und beide kicherten. Die Dicke meinte: »Das versteh’ ich nicht.« »Ich ebensowenig«, stimmte Yogini zu. Bill wütete: »Ihr redet so viel Mist, wißt ihr das?« Plötzlich ergriff Hanuman das Wort. Diesmal trug er nicht seinen blauen Turban mit dem Goldrand. Seine unbedeckten Haare glänzten im Licht der Deckenlampe. Er krauste die flache Nase wie ein Affe. Doch ließ er die Autorität eines Lehrers gegenüber seinen Schülern völlig vermissen. Er schien eher amüsiert zu sein und meinte fröhlich: »Heute haben wir erforscht, was Zweifel sind, und dennoch bleiben wir von unseren Überzeugungen besessen. Wenn Logik ausreichte, so wä-
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ren wir alle in diesem Augenblick erleuchtet und weise. Doch denken Sie grundsätzlich, daß die Frage, ob alles möglich ist, nicht genügt. Die Dinge sind so, wie wir sie sehen. Jedes Objekt, jeder Vorgang, jede Vorstellung, jede Erscheinung, ja selbst jeder Gedanke, das alles sind Dinge. Nur Zweifel und Vertrauen unterscheiden sich nicht voneinander. Jeder von uns hat Zweifel erfahren. Konzentrieren wir uns auf das Vertrauen, auf den Glauben, der Berge versetzt und alles möglich macht. Das Urvertrauen ist es, welches, wenn es direkt der Realität begegnet, ihr Fundament verändern kann, transformieren und in etwas Neues verwandeln, das wir vielleicht als unmöglich betrachten. Denn wenn der Mensch wirklich sehen will, muß er hinter die optische Illusion einer mißratenen Wirklichkeit kommen. Nur durch das innere Auge, liebe Schüler, ist es möglich. Nur so kann man klar und unverzerrt erkennen und hinter die verfälschenden Illusionen sehen. Aber dieses innere Auge muß erst befreit werden, muß durch Meditation und Kontemplation und, als wichtigstes von allem, durch Verständnis sehend werden. Indem man Lügen verstehen lernt, wird das Vertrauen, das Dinge bewegt, alles verändern und niemals zunichte werden. Der Beginn des Vertrauens heißt verstehen, der Weg, Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, zu erkennen, was wirklich vor sich geht.« Hanuman saß in seinem Stuhl. Die Sitzung war zu Ende. Nirmal sagte: »Ich werde ihn fragen, bevor die Schüler ihn umringen und weitere Fragen stellen.« Er eilte zum Stuhl des Swami. Mai Yogini sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Als sie sich trennten, nickte Hanuman und lächelte ihr zu. Als sie in den Flur zurückgingen, sagte Nirmal: »Wir werden heute abend da sein.« »Um halb neun?«
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»Genau.« »Ich danke dir, Nirmal. Ich könnte dich küssen.« »Tu’s lieber nicht.« Eine Pause trat ein. »Dann werde ich jetzt besser gehen. Fredrico ist vermutlich in der Zwischenzeit schon tausendmal ums Viereck gefahren. Was sagte er?« »Wer?« »Der Swami.« »Daß es sehr passend war, daß du bei diesem besonderen Symposion heute anwesend warst.« »Das sagte er?« »Ja.« »Warum? Was soll das heißen?« »Das weiß ich nicht. Daß nichts unmöglich ist, nehme ich an.« Sie fühlte kurz, daß es noch Hoffnung gab. Alles kann sein, kann geschehen, selbst die Befreiung von Ihr, vom Erwählten und den übrigen. Draußen wartete immer noch das Gebüsche zwischen den Schneewehen. Der hauchdünne flache Schatten war zwar jetzt weiter entfernt, aber irgendwo über dem Verkehrslärm hörte man das Geräusch schlagender Schwingen. Yogini beeilte sich, daß sie in ihren Wagen, weg von den Schneeanhäufungen kam, über die die Dunkelheit hereinbrach.
18 Rama Shastri fror. Die Heizung im Taxi schien nicht zu funktionieren. Wrench saß neben ihm. Er hielt eine kleine gefüllte Dokumentenmappe in der Hand und zog an seiner Pfeife. »Du hattest recht, was diese Schriftrolle anbelangt, Ram«, 275
meinte er zwischen zwei Zügen. Der Rauch vernebelte den Innenraum des Wagens. »Sie sollte sich nicht in Santhas Nähe befinden. Wir haben an der falschen Stelle Prioritäten gesetzt, den geheimnisvollen Tod von Abel Fairley beispielsweise.« »Ich habe sie dem Oberpriester seinerzeit aus der Hand gerissen, Steve. Das Ding muß ihm wichtig sein.« Shastri versuchte, tiefer in seinen Mantel zu kriechen und sich zu wärmen. »Es ist meine Schuld. Mittlerweile kann ich als Entschuldigung auch nicht mehr den Zeitunterschied von Indien zu hier anführen. Aber wir wollen wohl beide nicht, daß Santha da mit hineingezogen wird.« »Ich habe angenommen, daß sie die Rolle in der Zwischenzeit einem der Indologen dort gezeigt hätte. Zum Kuckuck, in Harvard gibt es genug davon, denke ich. Sie ist von Kamalas Tod tief betroffen, Ram. Buchan sagte mir, daß sie vor ein paar Wochen in eine Art Trance fiel und halluzinierte. Heiliger Himmel! Und ich war viel zu sehr mit meinem eigenen Kummer beschäftigt, um ihr helfen zu können.« »Santha hat doch alle Hilfe, die sie braucht, Steve. Buchan wirkt auf mich sehr zuverlässig. Sie wird sich mit der Zeit erholen. Jetzt fühlt sie sich zerrissen. Das sieht man auf den ersten Blick.« »Traumata und Halluzinationen sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.« »Da stimme ich dir zu. Aber übertriebener Schutz ist auch nicht das richtige. Denke daran, daß George Buchan Nervenarzt ist. Wenn mit Santha etwas nicht stimmen sollte, kann sie in keinen besseren Händen sein als in seinen. Aber unsere Pflicht ist es, sie vom Thugismus fernzuhalten.« Wrench schauderte und machte sich nervös an seiner Pfeife zu schaffen. Die Scheibenwischer arbeiteten wie verrückt und schoben die Flocken massenweise zur Seite. Mittlerweile war
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es so dunkel, daß der Fahrer die Scheinwerfer eingeschaltet hatte. Ram hatte das Gefühl, als fahre man durch einen Tunnel. Irgendwo baute sich unsichtbar, aber dennoch in sein Leben eindringend, eine dunkle Kraft auf, wurde immer schneller, rückte immer näher … Er und Ram und alles um sie herum wurde schicksalhaft bedroht. Wrench legte eine Hand über die Augen und fragte sich, ob dies wohl je wieder aufhören würde. Shastri zeigte auf den Tisch hinter dem Fenster des McDonald-Restaurants. »Genau hier war es.« Er zog an dem langen weißen Wollschal, den Wrench ihm am Morgen um den Hals geschlungen hatte. Santha hatte ihn ihrem Vater einmal zu Weihnachten gestrickt. Der kleinere Shastri mußte ihn sich so oft um den Hals wickeln, daß Kinn und Nase fast dahinter verschwanden. »Tut mir leid, ich kann mir nicht helfen. Ich muß immer wieder dahin sehen. Sie standen hier, vor mir, dort. Verdammt! Aber zu sehen, wie dieses Weib dir die Psyche kaputtmacht, zerstört auch das falsche Gefühl der Sicherheit, welches einem die Logik vermittelt.« Der Schnee fiel unaufhörlich. Vor ihnen war ein Mann verzweifelt bemüht, den Motor seines Autos wieder in Gang zu bringen. Ein paar Sekunden lang heulte die Maschine auf. Rauch stieß aus dem Auspuff. Dann starb der Motor wieder ab. Eine Studentin verfiel in ungewollte Tanzschritte, als sie die eisglatte Straße zum Konservatorium überqueren wollte. Mit Mühe behielt sie die Balance. Der Schnee glitt von ihrem Mantel auf die Füße hinunter. »Die Zweifel lassen einen nicht los«, fuhr Shastri fort. »Tun wir das Richtige? Oder sind wir schon besiegt, bevor wir beginnen? Vorausgesetzt, daß ich weder hypnotisiert war noch an Selbsttäuschungen litt, haben wir es ganz entschieden mit etwas Übernatürlichem zu tun. Jetzt, genau in diesem Augen-
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blick, habe ich das Gefühl, daß sie Bescheid weiß. Sie weiß, daß wir kommen. Sie weiß es, ohne uns gesehen zu haben. Und wie werden wir mit dieser Tatsache fertig?« Wrench gab die Diskussion nicht auf: »Ram, laß es uns auf irgendeine Weise herausfinden, ob du an Selbsttäuschung leidest oder ich ihr vielleicht zum Opfer falle. Das ist ja alles möglich. Aber zusammen können wir beide uns nicht zu gleicher Zeit irren. Das ist ziemlich ausgeschlossen und eigentlich ganz unwahrscheinlich. Also müssen wir herausfinden, was los ist, okay?« Er klopfte sich leicht auf die Manteltasche und fügte gedämpft hinzu: »Außerdem sind wir bewaffnet. Vielleicht ist sie unverwundbar, aber die Thugs sind es nicht. Thugs sterben dran. Das ist erwiesen.« Während sie sich mühsam zu Fuß durch den Schnee kämpften, kam ein wenig Sonne durch die Wolken. Wrench betrachtete ihre grotesken Schatten, er, ein breitschultriger, langer, dunkler Fleck, Shastri, etwas kleiner und mit dem dicken Schal, der sich dort befand, wo sein Kopf sein sollte. Flüchtig kam ihm der Gedanke, daß sie zwei alte Spinner waren, die krampfhaft glaubten, daß sie bei diesem Unternehmen unentbehrlich wären. »Sie haben das Fenster noch nicht wieder eingesetzt«, sagte Shastri. Wrench schaute hinauf. Vor die zerbrochene Scheibe des Eckfensters war Holz genagelt. Die strahlenförmig auseinanderstrebenden Risse im übrigen Glas waren genau zu erkennen. Einer der Risse zog sich quer durch das hindurch, was einmal ein eindrucksvolles Erkerfenster gewesen war. Plötzlich erschien ihm nichts mehr verrückt. Er überlegte, ob sie heute morgen nicht doch besser seinen VW-Käfer hätten aus dem Schnee schaufeln sollen. Der arme Ram hätte sich dann, wenn es ihm zu kalt wurde, an die Heizung retten können. Es würde seine Zweifel besänftigt haben, denn seit einiger
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Zeit konnte Wrench die Vorstellung nicht loswerden, daß sie sich von allen Windmühlen, die ein Don Quichotte bekämpfen konnte, gerade die passendste davon ausgesucht hatten. Sie waren alt geworden, kleine Jungen, die versuchten, etwas Wiederaufleben zu lassen, was damals, als sie noch jung und mit Indien vollkommen vertraut waren, in einer Zeit, in der Abenteuer noch passend gewesen sein mochten, allenfalls vertretbar gewesen wäre. Anders diese letzten paar Dekaden, in deren Ablauf alles in Frage gestellt werden mußte. Gut und Böse, Moral und Unmoral – das ganze, verdammte philosophische Konzept der Menschheit war angeklagt. Die Komplikationen, die sich auftaten, machten ihn schwindlig. Fast hätte er ein Stoßgebet losgelassen: Bitte, laß es wieder so sein, wie es einmal war, laß die Erde fest und solide und die Grenzen unverrückbar und abgesteckt wie früher sein. Schick mir einen Haufen Thugs über den Weg, eine Armee mörderischer Bastarde, die aus jeder Pore Böses schwitzen. Hab Erbarmen! Die Welt wird für einen Mann wie mich viel zu oberflächlich und nicht mehr durchschaubar. Als sie die Hemenway Street erreicht hatten, steckte Wrench die kleine Dokumentenmappe in die Innentasche seines Überziehers. »Ich hoffe, deine Theorie stimmt, Ram«, sagte er, »und sie leben hier in der Nähe.« Es entstand eine kleine Pause. Rama Shastri betastete die Kratzer in seinem Gesicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Stelle, wo es passiert war … durchlebte es noch einmal … Wrench beharrte auf seinem Vorschlag: »Wir wollen uns diese Straßenseite bis zur Huntington Avenue vornehmen. Dann gehen wir auf die andere Seite rüber. Wir sehen uns die Wohnungsschilder auf indische Namen hin durch. Aber ich werde außerdem auch auf jeden anderen Klingelknopf drücken.
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Es wäre ja möglich, daß sie in der Wohnung von jemand anderem wohnen. Ich werde ihnen sagen, ich sei ein Angestellter der Stadtverwaltung und erhebe eine Statistik, ob die Bürger mit der Schneeräumung nach dem Sturm zufrieden sind oder nicht und welche Wünsche offenbleiben. Ich habe im Radio nämlich gehört, daß es in diesem Jahr deswegen erhebliche Beschwerden gegeben hat … Rama, hörst du mir überhaupt zu?« »Ja, Steve!« »Auf jeden Fall wird sie das wenigstens vor die Wohnungstür locken. Nur nach Indern zu suchen macht die Sache verhältnismäßig einfach. Wieviel Inder, glaubst du, wohnen – wenn überhaupt – in dieser Straße? Einer statistischen Wahrscheinlichkeit zufolge, liegt die Zahl bei nicht mehr als einer Familie. Vielleicht sind es gerade sie.« »Vielleicht. Aber Steve, dies ist eine akademische Gegend. Überall hier gibt es Studenten. Du könntest eine andere Gruppe von Indern antreffen, vielleicht jemanden, der Chundra Bala ähnelt, oder, was ich sehr bezweifle, eine Frau, die, wie ich es dir beschrieben habe, einen Nasenring trägt. Deshalb müssen wir uns absolut sicher sein, daß sie es auch wirklich sind. Einen meiner indischen Landsleute zu bezichtigen, Thug zu sein, ist so, als ob man einen Italiener in Amerika beschuldigte, Mitglied der Mafia zu sein.« Die Antwort kam zögernd: »Ich werde mich vorsehen, da kannst du sicher sein …« Shastri stampfte vor Kälte mit den Füßen, rieb seine Hände und blies verzweifelt hinein. »Ich habe das Gefühl …« »Was für ein Gefühl?« »Nenn es von mir aus Polizeinase. Obwohl sie halb erfroren ist, funktioniert sie dennoch. Sie roch es sozusagen schon gestern abend. Und das ist es, was mich so irritiert. Es ist zu ein-
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fach. Wenn sie hier sind, ist es zu offensichtlich, um nur Zufall zu sein. Wie in dem Höhlentempel …« »Es ist nicht noch einmal eine Falle. Damals, Ram, hat euch Chundra Bala übertölpelt. Diesmal sind es aber bloß wir beide, du und ich …« »Dennoch, sei vorsichtig. Lieber Himmel, wie es zieht! Laß uns von dieser Ecke verschwinden. Es liegt bestimmt ein geographischer Irrtum vor. Der Nordpol befindet sich genau an dieser Stelle.« »Wo willst du bleiben, wenn ich gehe? Wenn du mir folgst, werden sie dich sofort erkennen.« »Keine Angst, ich finde irgendwo ein warmes Plätzchen. Und denke daran, Steve: Überprüfe genau, ob sie hier oder woanders wohnen. Nichts weiter. Sobald wir sicher sein können, werden wir die zuständigen Behörden verständigen, um sie in ihrem Unterschlupf auszuräuchern.« Überreizt schrie Wrench plötzlich los: »Das haben wir doch schon vorher vereinbart! Himmeldonnerwetter! Hör mit deiner Umstandskrämerei bitte auf, ja?« Er haßte den Gedanken, mit den Behörden zusammenarbeiten zu müssen. Die nehmen es uns glatt aus der Hand, dachte er. Das heißt, wenn sie ihr spärliches Vorstellungsvermögen nur ein bißchen zu dem hin ausweiten können, was wir ihnen erzählen. Er sah plötzlich Adairs Gesicht vor sich und mußte grinsen. Keine Chance, dachte er, daß sie das schnell kapieren. Und damit gingen beide weiter.
19 Es war ein atemberaubendes Gefühl, diese schwarzen, glatten Palastmauern zu berühren. Sie fühlten sich weder wie Stein noch wie irgendein anderes Baumaterial an, und Gauri zog 281
überrascht ihre Hand zurück. Sie stand an einer Mauer, über die sie auf eine Ebene blicken konnte, die der Ganges-Ebene sehr ähnlich war. Sie schloß daraus, daß dies eine andere, aber nicht die echte Ganges-Ebene war und sie sich dort befand, wo Kali wohnte. Sie stand oberhalb des großen Tores. Hinter ihr befand sich ein riesiger Hof und der innere Palast, von dessen Säulen sich gemeißelte Arme, ohne Symmetrie und Ausgewogenheit, ausstreckten. Alles hier war schwarz, auch das Gesicht der Frau auf dem sich im Hintergrund erhebenden Gebäude. In dem Dunst, der überall aus dem Erdboden nach oben quoll, war das Gesicht fast nicht zu erkennen. Trotz ihres hochgelegenen Sitzplatzes erreichte dieser Dunst auch Gauri. Schwitzend versuchte sie, ihn mit den Händen wegzufächeln. Etwas zerrte an ihrem Sari, doch es war nicht der leichte Luftzug, der über sie hinwegstrich, es war eher eine raunende Stimme: »Wenn Surya in seinem Wagen über das Land hinwegfährt, lausche ich in der Nacht auf das Flüstern der ehebrecherischen Liebenden, das durch die Jasmingärten wispert, dort, wo noch finstere Taten reifen und ihre Schale wie Melonen sprengen, die zu lange an ihren Ranken hingen.« Dann war es wieder still. Das Mondlicht fiel auf die glatte Oberfläche des Gemäuers und warf eine lange Bahn über die Ebene, als müsse es am Horizont etwas zum Vorschein bringen. Eine Bergkette vielleicht, dachte Gauri, obwohl es zu dunkel war, um dergleichen erkennen zu können. Schritte erklangen auf dem Pfad, der an der inneren Mauer entlangführte. Gauri erblickte den Erwählten. Er blieb neben ihr stehen. Seine Augen glühten, als er ihr jetzt das Medaillon zeigte, welches an seinem Halse hing. Das Silber schien zu fließen und war doch fest. Es bebte wie etwas Lebendiges. In seinem Innern befand sich eine kleine Höhlung. Der Erwählte
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fuhr mit dem Fingernagel über die Oberfläche, und das Medaillon öffnete sich. Die feuchte Nachtluft füllte Gauris Lungen, und ihr Atem ging mühsam. Doch sie konnte den Blick nicht von dem Medaillon wenden. Im Innern des Schmuckstückes befand sich ein Herz, schwarz wie der Palast, außer den roten Adern, welche das Herz durchzogen. Sie dehnten sich aus und zogen sich im Rhythmus des Pulsschlages wieder zusammen. Gauri legte ihr Ohr an das kleine Medaillon und hörte das Pochen. Der Erwählte schloß das Medaillon wieder und sagte: »Hier habe ich Ihr Herz verborgen, damit sie es nicht finden können. Diesmal können ihre Pfeile es nicht durchbohren.« Gauri wußte, von wem er sprach, sie wußte auch, warum ihre Augen immer wieder im Mondlicht verweilten, das sich über die Ebene ergoß. Es sollte abermals geschehen. Genau in dieser Nacht sollten die Aufrührer kommen, um wieder einmal zu versuchen, ihre Pfeile auf Mutter Kalis Brust zu richten. Aber nicht nur ihr Herz war verborgen, sondern auch die Mutter selbst, dachte Gauri voller Freude. Wie schlau, wie listig, Königin der Täuscher, diesmal bist du wahrhaftig vorbereitet. Auf einmal begann die Ebene zu beben. Gauri Bala starrte in die aufkommende Helligkeit, eine bläuliche Wolke mit blitzenden Lichtern darin. Immer wieder mußte sie, weil es sie so sehr blendete, ihr Gesicht abwenden. Die Wolke kam näher, und wieder flüsterten die Mauern: »Denk an mich. Überall ist faulende, modernde Süße. Die Toten und die Sterbenden sind mein Lohn. Ich bin wie der Monsun, der unerwartet ausbricht, um das Leben der Menschen mit gnadenloser Flut und mit Pestilenz zu zerstören. Ich bin Kali. Denk nur an mich.« Die bläuliche Gewitterwolke schien alles andere zu verdrängen. Gauri sah, wie sie Gestalt annahm: Ein riesiger, juwelen-
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geschmückter Elefant mit einem Baldachin, darunter ein Elefantenreitsattel aus Gold. Der Elefant raste auf den Palast zu. In dem Sattel saß schweigend ein Mann, und zwischen den hin und her schlagenden Ohren des großen Tieres sprang der höhnende Affe. Die Vorhänge des Baldachins teilten sich, und sie erblickte den Bogenschützen, welcher den Angriff führte. Tonlos formte sich ein Name auf ihren Lippen: Rama Shastri. Der Erwählte schrie über den Lärm hinweg: »Öffnet die Tore. Laßt sie die Geisel sehen!« Im Hof war ein laut widerhallendes Klirren zu hören. Gauri blickte nach unten. Festgebunden an einem schwarzen Pfahl sah sie das Mädchen … das auserwählte Gefäß. Sie schlief, und ihr zerzaustes Haar bedeckte fast ihr ganzes Gesicht. Eine weitere Stimme zerrte an Gauri. Ein Baß, welcher von dem daherdonnernden Elefanten herüberdröhnte: »Santha, Santha, Santha.« Es war ihr Kriegsruf. Vor dem geöffneten Tor hielt das Tier an. Es hob den Rüssel und trompetete herausfordernd. Der Affe mit dem Turban sprang zwischen dem großen Kopf des Tieres und dem Sattel immer hin und her. Gauri sah auch die anderen Bogenschützen, einen großen Mann, der wie ein junger Arjuna aussah, und noch ein weiterer, der weniger deutlich zu erkennen war. Gauri hörte Rama Shastri einen Befehl rufen, und die blaue Bestie stampfte in den Innenhof. Die ebenholzschwarzen Mauern schienen gellend aufzuschreien. Gauri hielt sich die Ohren zu. Die Arme an den Säulen bewegten sich und schüttelten ihre Armbänder. Ein lautes, fegendes Geräusch erklang. Die Mauern begannen zu reißen und in sich zusammenzufallen. Die Risse im Gemäuer erglühten rot. Sie erinnerten an das Geäder des schwarzen Herzens. Eine Flut von Blut – Kalis Blut – ergoß sich über den Hof, baute sich zu einer riesigen Welle auf, die auf den Elefanten zurollte. Mit einem Satz sprang der Affe von dem Kopf des Tieres auf
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die Spitze des schwarzen Pfahles. Er schüttelte die Faust und schnatterte zornig gegen die anrollende Welle. Mit der anderen Hand wies er auf das Mädchen. Der Elefant, der dem Winken des Affen gehorchte, ergriff den Pfahl mit seinem Rüssel und riß ihn heraus, drehte sich um und raste auf die Tore zu. Sie waren noch fest geschlossen, als der Elefant dagegen stieß, doch dann gaben sie krachend nach. Sie polterten und lärmten mit metallenem Protest, und Gauri hörte den Schmerz, der daraus klang. Und dann entdeckte sie, daß Kali sich selbst in den Palast verwandelt hatte. Nun bewegte sich der Elefant über die Ebene. Das Mondlicht glitzerte auf seinem goldenen Kopfschmuck. Die Blutwelle schlug gegen die Palastmauern und strömte durch das Tor, bevor sie sich in mehreren Pfützen verlief. Der Elefant war schon weit weg. Der große Bogenschütze war abgestiegen und befreite das Mädchen von dem Pfahl, an den es festgebunden war. Sobald das getan war, ergriff der Elefant den Pfahl mit seinem Rüssel und schmetterte ihn gegen das Tor. Als er wieder zu Boden fiel, konnte Gauri Kalis Todeskampf fühlen. Die Blutpfützen zogen sich bis zu den Grenzen des Palastes zurück, rote Blasen gurgelten darin. Von fern trompetete triumphierend der Elefant. Gauri begann zu taumeln, und der ganze Kalipalast brach in sich zusammen. Plötzlich fand sich Gauri in einem großen Silberbehälter wieder. Der Erwählte war an ihrer Seite. Perlenbestickte Vorhänge bewegten sich an ihrer Schulter. Sie teilte das silbern schimmernde Gespinst mit der Hand und sah über sich einen großen Baldachin. Sie saß auf dem Rücken von Kali, die sich jetzt in einen schwarzen Elefanten verwandelt hatte. Der Sattel, auf dem sie saß, schwankte auf dem Rücken des Tieres, während die Göttin durch die Nacht stampfte. Kali war auf der Flucht. Auf der Flucht! Der Sattel geriet ins Rutschen, und Gauri wurde durch die
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ungeheure Geschwindigkeit völlig benommen. Das Stampfen war so laut, daß es ihr in den Ohren dröhnte. Plötzlich schien sich der Lärm zu steigern. Gauri schaute aus dem Vorhangspalt und erblickte die blaue Flanke des anderen Elefanten, der sich jetzt direkt vor Kali befand. Der Bogenschütze auf seinem Rücken zielte kaltblütig. Ein Pfeil sprang wie ein Feuerstrahl von der Sehne seines Bogens. Kali glitt aus, und fast wäre Gauri aus dem Sattel gestürzt. Sie hielt sich an den Seiten der Sänfte fest und fühlte, wie sie dennoch immer weiter abrutschte. Schmerz und Wut drangen als Trompetenstöße durch die Luft. Nun war es an dem Knaben, der Ajurna ähnelte, den Pfeil auf die Sehne seines Bogens zu legen und zu zielen. Ein weiterer Pfeil sirrte und bohrte sich in die schwarze Masse. Kali war stehengeblieben. Ihre Elefantenlungen pumpten und rangen in der feuchten, lauen Nacht verzweifelt nach Luft. Der Knabe schüttelte seine langen Haarsträhnen und schrie seine Freude heraus, flüsterte dem Affen etwas ins Ohr und schleuderte ihn zu dem schwarzen Elefanten hinüber. Der Affe schlug einen Salto durch die Vorhänge des Baldachins, landete auf Gauris Knien und griff den Erwählten an. Mit erschreckender Leichtigkeit schnappte er sich die Kette mit dem Medaillon und zog daran, bis sie riß. Bevor es der Erwählte verhindern konnte, war der Affe auch schon wieder durch den Vorhang davongesprungen. Die Gram des Erwählten und Kalis Schmerz vermischten sich miteinander, und Gauri glaubte, es nicht mehr ertragen zu können. Mit weitaufgerissenen Augen sah sie, wie der Affe das Medaillon hin und her schwang. Der Deckel war geöffnet. Rama Shastri, der auf dem blauen Elefanten saß, schoß nun auch einen Pfeil ab. Die Spitze war auf die kleine Vertiefung in dem Medaillon gerichtet. Die Luft erzitterte im Takt mit dem Pochen des schwarzen Herzens. Der Pfeil durchdrang das Herz – »Mann!« Gauri saß aufrecht und schweißgebadet von dem
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schrecklichen Alptraum da. Ihr Rücken war steif. »Mann!« rief sie wieder. Doch Chundra Bala war nicht da. Wahrscheinlich war er bei dem Erwählten. Dies war der schlimmste Traum von allen. Immer noch sah Gauri vor ihrem geistigen Auge den flirrenden Pfeil, der in das schlagende Herz drang. Sie wußte, das bedeutete den Tod. Nicht für die Göttin, die ja unsterblich war, aber für jemand, der Kalis Herzen nahestand, vielleicht für sie selbst. Vielleicht … Ihr Schrei gellte durch den verdunkelten Raum. Sie fiel zurück und vergrub das Gesicht in den Kissen. Als Chundra Bala endlich zurückkehrte, fand er Gauri immer noch von ihrem Traum erschöpft. Sie berichtete, was sie geträumt hatte, während er sanft über ihr Haar streichelte. Dann versanken sie in einer Liebesumarmung. Nun hob Chundra Bala den Kopf von der Brust seiner Frau. Es war, wie es sein sollte, dachte er, während er sich wieder anzog. Nie zuvor hatten sie sich so wunderbar geliebt. Chundra flüsterte der schlafenden Gestalt im Bett zu: »Bist du wirklich Gauri?« Die entblößten, freischwingenden Brüste hoben sich für eine Sekunde wie eine Antwort. Sie kamen ihm wie lockende, reife Früchte vor. Am liebsten wäre er sofort wieder zu ihr zurückgekehrt. Doch er stand nur da und betrachtete sie, wie sie dalag. Gauris Haare verbargen fast ihr ganzes Gesicht. Nur der Ring hielt ein paar Strähnen zurück. Chundra tat einen Schritt auf das Bett zu, um ihren Hals zu küssen, und dann … ließ er sich abermals auf ihr nieder … Chundra lachte laut in die Dunkelheit des Raumes hinein, während er fühlte, wie er erigierte. Seit einiger Zeit konnte er nicht genug von Gauri bekommen. Nicht immer war das so,
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nur wenn sie seine Frau war, ganz sie selbst, gelassen und heiter, nicht das blutdürstige Wesen, das er gestern abend im Wohnsitz des Erwählten erlebt hatte. Nie zuvor hatte Chundra sie mehr geliebt … oder sie mehr gefürchtet. Einmal, als sie gegen Morgen in Elvira Moniz’ Wohnung zurückgekehrt waren, hatte Chundra lange mit ihr darüber gesprochen. Sie hatten über das neue Gefäß diskutiert, das Makunda und Ramanuja am Tage zuvor gesehen hatten und dem sie gefolgt waren. Und darüber, wie sie, Gauri, diese neue Frau akzeptieren sollte, bereit, ihre große Macht zu teilen. Als sie geheiratet hatten, war Gauri noch ein Kind gewesen. Chundra hatte jede Phase ihres Erwachsenwerdens miterlebt. Ganz anders und sehr attraktiv war sie damals, nichts Heiliges, nichts Durchsichtiges war in ihrem Gesicht im Gegensatz zu heute zu finden gewesen. Während der Unterhaltung hatte Gauri ihn freundlich und geduldig angelächelt. Ihr unverwandter Blick hing an ihm und war dennoch gleichzeitig nach innen gekehrt. Er hatte in diesem Gespräch versucht, es ihr richtig darzulegen, es so erfreulich zu schildern wie die Aufmerksamkeit, die sie in letzter Zeit genossen hatte. Sie solle froh sein, erklärte er ihr, durch das neue Gefäß, das ihr gesandt wurde, Entlastung zu finden. Der Erwählte, ihr Herr, würde sich an die Neue wenden müssen, und die Last, die bisher allein auf ihren Schultern gelegen habe, würde bedeutend leichter werden. Für einen Augenblick war Gauris Ruhe dahin. Stirnrunzelnd fragte sie: »Und was wird dann aus mir?« »Du kommst immer an erster Stelle. Das wird er gewiß nicht vergessen.« »Das neue Gefäß. Beide, Makunda und Ramanuja, sagen, sie sei sehr schön. Hast du das nicht gehört? So schön und so gesegnet wie Sati.« »Ist das denn etwas Schlimmes, meine Liebe?« »Bei mir ist es etwas anderes. Ich gehöre dir, bin deine Frau.
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Aber sie ist hübsch – und unverheiratet, sagen sie.« »Aber was hat das mit unserer Unterhaltung zu tun? Der Erwählte sucht keine Frau. Er sucht die Mutter.« »Gewiß, aber wenn die, die kommt, mehr Macht erhält als ich, wird sie auch den größeren Einfluß haben. Das spüre ich in meinem Herzen. Unser Herr wird sie öfter aufsuchen als mich, und dann werde ich vergessen sein.« »Unser Herr ist nicht so grausam, nicht so oberflächlich. Ich wiederhole es: Du bist das kostbarste der Gefäße, durch die Kali sich verständlich macht.« Gauri streichelte sanft Chundras Hand und sagte traurig: »Mein lieber Mann, keiner kennt den Erwählten so wie ich, niemand auf dieser Welt.« Seine Antwort klang besorgt. »Was soll das heißen, meine Blume?« »Zeitweise bin ich für ihn hier auf Erden eine Ersatzmutter gewesen, was ja auch ganz in Ordnung ist. Wenn die Göttin in mich einfuhr, haben wir ihm gedient, haben ihm oftmals gesagt, was er tun müsse. Wenn die Göttin in mir ist, bin ich mir dennoch meiner selbst bewußt. Ungefähr so wie kurz vor dem Einschlafen. Man dämmert dahin und bemerkt dennoch das, was ringsum geschieht. Ich weiß, ich sehe, ich höre, ich empfinde mit allen meinen Sinnen, doch hilflos, wie ich bin, fühle ich mich dabei wie gelähmt. Ich erfahre gleichzeitig, was in Ihr vorgeht, Ihre Gedanken, und ich fühle, wie Ihr Herz in meinem schlägt. Insofern kenne ich unseren Herrn genau.« Gauri befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und schien für einen Augenblick lang völlig abwesend zu sein. Dann beugte sie sich vor, so nahe, daß ihre Nase fast die seine berührte. Ihre schwarzen Augen tauchten in seine. Und so saßen sie eine Weile, Auge in Auge, und er fühlte ihren inneren Frieden. »Man kann nicht aufhalten, was vorbestimmt ist«, sprach sie weiter. »Und selbst, wenn ich es könnte, würde ich es nicht
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tun. Oh, mein geliebter Mann, manchmal befürchte ich, daß mein Ende zu früh kommen könnte.« »Sprich nicht so!« »Ich habe mich darein ergeben. Keine Aufruhr wütet in meiner Brust. Ich bin bereit, für alles, was eines Tages kommen mag. Und das ist, finde ich, bereits eine Art Tod.« Chundra wunderte sich, daß er von ihren Worten nicht tiefer getroffen war. Gauri schien seine Gedanken lesen zu können. »Wir sind schon angekommen, wir beide.« »Wo, geliebtes Weib, wo?« »Wo immer Kali will. Wer weiß? Bei uns ist die Freude, geliebter Mann. Doch ich vermute, es ist nur die Freude, die uns jetzt in der Gegenwart erfüllt. Nur Kali allein vermag sie uns zu geben. Wenn Sie zu mir kommt, bin ich Zeuge der Dunkelheit, in die Sie gehüllt ist. Sie gibt und verspricht uns, die wir Ihr dienen, nur wenig. Keiner von uns bedeutet Ihr soviel wie der, den Sie für sich erwählt hat, unser Fürst.« »Was ja auch ganz in Ordnung ist. Er ist ihr auserwählter Sohn.« Seine Augen schweiften durch die dunklen Ecken des Raumes. »Ja, aber Kali gewährt und nimmt immer nur nach Gutdünken. Sie hat Launen und dunkle, unerklärliche Begierden, geheime Vorhaben birgt sie tief in sich, die das Begreifen aller ihrer Anhänger übersteigen. Kali ist nicht wie wir, sie hat mit uns nichts gemein, mein Gatte. Da kannst du dir sicher sein!« Chundra Balas Erinnerung wanderte zu der Höhle zurück, in der die kreisenden Seher ihre Schriftrollen vorgezeigt hatten, zu jenem Platz der zahllosen Dinge, die alle im Entstehen begriffen waren. Er nickte verständnisvoll. Seine Handflächen waren feucht. Gauri fuhr fort: »Sie kann weder lieben noch hassen in der Art, wie wir es tun. Ihre Gedanken und ihr Begehren entsprin-
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gen anderen Quellen, weit weg, dort, wo unser Wissen an seine Grenzen stößt.« Dies war eine Zusammenfassung all dessen, was Gauri seither erfahren hatte. Nie zuvor hatte sie soviel enthüllt. Die Wahrheit versetzte Chundra in Erstaunen, und er versuchte das, was Gauri behauptete, vor sich zu rechtfertigen. Es gab keine andere Wahl. Angenommen, Gauris Vermutungen und Feststellungen wären zutreffend. Sie konnte eines Tages, wenn sie nicht mehr länger einem Zweck diente, beiseite geschoben werden. Und was dann? Es gab keine Flucht. Sie waren weder jetzt, noch waren sie jemals frei gewesen. Frei zu sein war unvorstellbar. »Uns ist ein Pfad gewiesen worden«, sagte er mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch zuließ und die ihn selbst überraschte; denn diese Feststellung war jenseits jeder Vernunft oder Logik. »So sind wir gesegneter als die meisten.« Gauri stimmte eilig zu. Sie hatte, während er sprach, auf das hell-dunkle Muster gestarrt, das die Fensterläden an die Wand warfen. Die Fenster knarrten, die Fensterläden und die Fensterscheiben bebten. »Ja. Dafür laß uns dankbar sein. Für diesen Augenblick, für das, was heute ist …« Und mit einem nachdenklichen Lächeln, das auf ihrem Gesicht erstarrte, hatte sich Gauri entkleidet, und sie hatten sich geliebt wie nie zuvor. Chundra Bala betrat den Wohnraum. Die schneeverkrusteten Fenster erinnerten ihn an die Tage am Ganga Gangotri. Er überlegte, wohin der alte Sadhu damals in der Höhle der Seher plötzlich verschwunden war. Wahrscheinlich zu irgendeinem verborgenen Platz, um dort auszuruhen und durch die Jahrhunderte hindurch zu schlafen, bis er wieder erweckt würde. Narr, dachte er spöttisch. Was braucht er Schlaf? Schliefen die Mutter, Vishnu oder Brahma? Bedarf die Ewigkeit der Ruhe? Nein, der Sadhu und die wirbelnden Seher blicken auf uns herab, immer und immer. Sie befolgen damit, was die Ordnung der Schöpfung gebietet. Chundra seufzte müde. Nur die Zeit und
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nur die Menschen brauchten Ruhe. Der Mensch, weil er schwach und sterblich ist, und die Zeit, weil sie ein Mythos ist, der in der ewigen Wiederkehr ermüdet. Das hatte Chundra bei seinem Gangotri-Abenteuer erkannt. Er sah, daß Bidhans Zimmertür offenstand. Der Mann war nicht in seinem Schlafzimmer, auch nicht in einem anderen Raum der kleinen Wohnung. Chundra fluchte und stieß mit dem Fuß gegen den Aschenbecher auf dem Boden neben Bidhans Bett. Bidhan war vielleicht unterwegs, um Zigaretten zu kaufen. Der Aschenbecher war randvoll mit Filtermundstükken. Der Thug liebte die amerikanischen Zigarettenmarken. Nun ja, Chundra würde Bidhan lehren, unabgemeldet fortzugehen und Gauri allein zu lassen! Das war höchst gefährlich … Ein Schrei erklang, ein zweiter und ein dritter. Chundra Bala eilte ins Schlafzimmer zurück. »Sie sind unten auf der Straße!« Gauris rauhe Stimme bewirkte, daß es ihm eisig den Rücken hinaufkroch. Dann taumelte er plötzlich ins Wohnzimmer. Die Kraft von Gauris Hand gegen seine Brust hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und er stieß gegen den Tisch. »Sie kommen, sie kommen, genau wie ich mir das gewünscht habe!« Chundra starrte seine Frau sprachlos an. Die schwarzen Augen tanzten. Feindselige Energie flackerte darin. Die Zunge fiel ihr baumelnd aus dem Mund. Gauri war mit ihrem rosa-gelben Sari halb bekleidet. »Sie sind hier, da auf der Straße, so, wie ich es wollte, da unten, da unten!« Sie zeigte durch das Fenster. »Was soll ich tun?« fragte er. »Bidhan ist nicht da. Nur ich bin bei dir.« »Unten«, wiederholte sie scheinbar zusammenhanglos und stieß ihn zur Seite. Die Kraft, die sie dabei entwickelte, war beeindruckend. Chundra fiel gegen ein Buchgestell, wobei ein kleiner Messingkessel herabpolterte. Dieses Geräusch ent-
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sprach seiner Entrüstung, die er zwar deutlich genug empfand, jedoch nicht ausdrücken konnte. Dann fiel klirrend ein Glas zu Boden und sogleich ein weiteres. »Mutter Kali!« flehte Chundra innerlich. Gauri drängte ihn zum Fenster. Mit einem Zipfel ihres Saris wischte sie die Feuchtigkeit von der Fensterscheibe. »Schau«, sagte sie gurgelnd. Schaum stand in ihren Mundwinkeln, und plötzlich stieg Chundra der Geruch von verbranntem Fleisch, Moschus und Körperschweiß in die Nase. Er starrte auf ihr Profil, beobachtete, wie sich ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund und ihr Kinn dehnten, während sie die Straße mit den Augen absuchte. Ihre Haut war deutlich geschwärzt. Die seltsame Plastizität der Haut, ihre plötzliche Dehnbarkeit, verursachte kleine Risse. Chundra geriet in Panik. Wo, wo war Gauri? Ihre Finger krochen seinen Arm hinauf und krallten sich aufgeregt in seine Schulter. Ihre Nägel drangen durch Chundras Hemd, rissen die Haut auf. Er wimmerte leise, während sie triumphierend rief: »Wie ich es wollte, wie ich es wollte!« »Hat Dein Wille sie gezwungen, hierherzukommen, Mutter?« fragte er, mehr aus dem Drang heraus, etwas zu sagen, als aus Neugier. Wut sprach aus ihr: »Rama Shastri wird tun, was ich ihm gebiete!« So war es also, wie er erwartet hatte, Shastri, der dort unten stand. Wer sonst hätte solche Raserei entfachen können? Ihr Atem streifte ihn, und er wandte den Kopf ab. »Shastri ist gekommen, wie ich es ihm geboten habe. Nach dem, was gestern abend geschah, muß er jetzt Nachforschungen anstellen. Ich weiß es, er ist es. Ich sehe, daß er es ist.« Aber wie? fragte sich Chundra. Wie konnte sie Rama Shastri von hier aus erkennen? Er suchte die Straße mit forschendem Blick ab, sah nach links und nach rechts. Er konnte keinen
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Fußgänger entdecken. Da waren nur ein oder zwei Wagen, die gegen den mittlerweile etwas abgeschwächten Schneesturm ankämpften. Rama Shastri, der Jäger mit dem Polizistenhirn, wie sein Schicksal es ihm zugedacht hat. »Er mußte ja kommen«, bemerkte sie hämisch. Chundras Schulter fühlte sich taub und kalt an. »Da, da ist Shastris Genosse.« Ihre Finger ließen seine Schulter los. Er fiel gegen die Fensterscheibe und sah unten auf der Straße einen großen Mann in braunem Überzieher, einen Trapperhut auf dem Kopf. Er stand direkt unterhalb ihres Fensters. Der Mann trug eine Mappe in der Hand und ging jetzt auf den Hauseingang zu. Aber wo war Shastri? Wie konnte sie so sicher sein? Die Göttin griff in ihr Haar, riß ekstatisch daran. Die schwarzen Strähnen breiteten sich wie ein Fächer aus, verharrten so in der Luft, und ein leises, knisterndes Geräusch ging von dem elektrostatisch geladenen Haar aus. »Er verbirgt sich«, sagte sie. »Shastri, der Narr, verbirgt sich. Und wer wird veranlassen, daß er hierherkommt? Chundra Bala.« Sie blieb, immer noch mit suchendem Blick, am Fenster stehen, bis sich die Schlafzimmertür hinter ihm geschlossen hatte. Im Nebenzimmer fiel Chundra erschöpft in einen Sessel. Minutenlang konnte er weder denken noch etwas empfinden. Der tiefe, zuckende Schmerz in seiner Schulter schreckte eine furchtbare Frage in ihm auf. War Gauri für immer gegangen? War das, was sie vorausgesehen hatte, geschehen? War sie auf einem unsichtbaren Scheiterhaufen verbrannt? War dies das Ende …? Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich, und Chundras Herz tat einen Sprung, als er ihr zauberhaftes Lächeln sah. »Wenn der Fremde hier an die Tür klopft, öffne ihm, lieber Mann!« sagte Gauri mit sanfter Stimme.
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20 Eine Weile blieb Stephen Wrench im Vorraum stehen und blickte durch das Glas der Eingangstür zurück auf die Straße. Zwei Häuser weiter hatte er Rama Shastri zurückgelassen. Wieviel Häuser hatte er bereits betreten, mit wie vielen Leuten gesprochen? Er betrachtete die Notizen, die er sich jedesmal gemacht hatte. Sechs Häuser waren es, und mit elf Leuten hatte er gesprochen. Unter die Namen hatte er die erhaltenen Antworten hingekritzelt. Zum Beispiel standen neben dem Namen von Mrs. Phyllis Taylor-Wright eine Zusammenfassung einzelner Worte, unverständliche Sätze. Ihr gehörte das Eckhaus, in dem sie bereits seit 1900 wohnte. Und in diesem sogenannten fortschrittlichen Zeitalter sollte man eigentlich annehmen, daß die Schneeräumer schneller eintreffen, als es der Fall war. »Aber das taten sie nicht«, hatte sie ihre Beschwerde fortgesetzt und dabei mit ihren Hausschuhen auf den Boden gestampft. Und das war ihrer Meinung nach nur eines der vielen Dinge, die im neuen Boston verkehrt liefen. Die Stadt war durch den Fortschritt nur zerstört worden. Zu viele Schulen, zu viele Versicherungsgesellschaften. Wo waren die alten Gebäude, die alten Wahrzeichen? Alle durch den Fortschritt niedergerissen. Wrench drückte auf den Klingelknopf von Appartement 1 A. Die Stimme einer Frau erscholl: »Wer ist da?« Wrench sagte sein Sprüchlein in die Sprechanlage. Eine kleine Pause, ein Summen, und die innere Glastür, die zum Treppenhaus führte, öffnete sich automatisch. Stephen Wrench trat ein. Er ging durch einen Flur, dessen Wände durch Graffiti und 295
herabgerissene Tapeten verunstaltet waren, und fand die Tür. »Mr. John Barrows« stand auf dem Türschild. Eine hellere Stelle im Holz zeigte, wo das frühere Namensschild einmal angebracht gewesen war. Die Tür öffnete sich, bevor er klopfen konnte. Wrench sah einen Teenager in grober Arbeitshose vor sich, Lockenwickler im Haar. Aus dem Hintergrund drangen lärmende Rockmusik und der Geruch von gebratenem Fleisch. Das Mädchen erwiderte seinen Blick mißtrauisch. »Wer, haben Sie gesagt, sind Sie?« Wrench wiederholte geduldig seine Geschichte. »Aha. Aber meine Mutter ist nicht da.« »Wer lebt sonst noch in diesem Hause?« Sie zog die Nase kraus: »Warum wollen Sie das wissen?« »Ich möchte nur wissen, wer da ist und wer nicht«, erwiderte Wrench halbwegs gereizt, weil sie offenbar Schwierigkeiten hatte, ihn über den Lärm von zwei Gitarren hinweg zu verstehen. Er sprach mit erhobener Stimme weiter: »Ich möchte nur wissen, ob die Leute bei der Arbeit sind oder nicht. Das würde mir Zeit und Mühe ersparen.« »Oh.« Dann stand sie schweigend da und schien darüber nachzudenken, was er gesagt hatte. Schließlich sagte sie abrupt: »Ich hab' keine Lust.« »Wieso nicht?« »Ich bin keine Petze. Wie kann ich wissen, ob Sie nicht ein Bulle sind, der hier bloß rumschnüffeln will?« »Ich bin städtischer Angestellter, aber kein Polizist.« »Na, wenn schon, will ich gar nicht wissen. Cal hat mich gebeten, aufzupassen, ob nicht ein Geheimer unterwegs ist.« Damit schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Wrench schimpfte still in sich hinein, wandte sich um, sah sich nun dem Appartement 1 B gegenüber und las den seltsamen Namen »Umerzurike« auf dem Türschild. Keine Antwort kam auf sein Klopfen. Er ging zur Treppe. Im ersten Stock gab
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es drei Appartements. Voss in 2 A war nicht zu Hause, genausowenig wie Kellys in 2 B. An der nächsten Tür standen vier verschiedene Namen. Sein Klopfen blieb unbeantwortet, aber Wrench hörte, daß jemand in der Wohnung rumorte. Er klopfte wieder. Die Tür blieb immer noch geschlossen. Wrench las einen der vier Namen und hatte einen Einfall: »Cal?« fragte er, »sind Sie es? Das Mädchen unten sagte, Sie wären zu Hause.« Eine Minute verging. Wrench fühlte, daß jemand direkt hinter der Tür stand. »Cal?« versuchte er es wieder. Die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt weit. Ein pickliger zwanzigjähriger Mann blinzelte ihn an. »Hat Ginny Sie raufgeschickt?« »Ja, Cal. Wir haben von dir geredet. Sie sagte, gehen Sie mal eine Treppe höher zu Cal.« Plötzlich wurde er eifrig. »Warum? Haben Sie Stoff?« »Nein, Stoff nicht, ich mache nur eine Befragung und –« »Was für ‘ne Befragung denn?« Wrench erklärte es ihm. »Ich bin nur Student. Ich lebe nicht ständig in Boston. Ich weiß überhaupt nichts von der Schneeräumung.« Wrench hielt seine breite Schulter gegen die Tür. Cal Nugent versuchte, sie zu schließen, aber es gelang ihm nicht. Als er feststellte, woran es lag, riß er seine Augen mit den ohnehin erweiterten Pupillen auf und schaute sehr verängstigt drein. Wrench sprach so leise, daß er fast flüsterte: »Schauen Sie«, sagte er besänftigend. »Ich weiß, Sie haben Angst wegen des Rauschgiftdezernats. Ginny hat es mir schon gesagt. Aber ich gehöre nicht dazu. Ich tu’ bloß meinen Job, mehr nicht. Eine Befragung für die Stadt, nichts weiter, okay?« Er ertrug Cals intensiv forschenden Blick: »Und wie steht’s mit ihrer Wohngemeinschaft?« fragte er so beiläufig wie mög-
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lich. »Sind die auch nur vorübergehend in Boston?« »Marty nicht. Sie hat immer schon in Black Bay gelebt, glaube ich. Aber sie ist nicht da.« Cal hatte sich weichreden lassen. Wrench hatte den Test bestanden. »Schade«, fuhr der junge Mann, inzwischen vertrauensselig, fort. »Sie hätte bestimmt was zu sagen gehabt. Sie ist ganz groß, was soziale Reformen angeht.« »Na schön, dann geh’ ich wieder. Wissen Sie, ob im zweiten Stock überhaupt jemand um diese Zeit zu Hause ist?« »Weiß nicht. Aber ich warne Sie. Bestimmt weiß keiner was über die Schneeräumer. Wieviel Leute machen sich schon darüber Gedanken. Man sieht diese Scheiß-Schneeräumung ja nur ein- oder zweimal im Jahr. Wenn es ‘ne Befragung wegen Autos wäre, na ja, das würde ich noch einsehen. Jeder denkt über Autos nach, und zwar viel öfter, als man über Leute nachdenkt. Wagen, Fahrgestelle, Vergaser, gelaufene Kilometer, Frontantrieb, Stoßdämpfer, Speichenräder. Speichenräder! Mann, das törnt mich an, wenn ich über diese massenhaften Autoteile nachdenke …« »Na, dann bis später«, sagte Wrench, beeilte sich wegzukommen und dachte dabei, hoffentlich nie mehr, während er die Treppe weiter hinaufkeuchte. So sicher wie Gott weiblichen Schnabeltieren Zitzen verliehen hat, philosophierte er vor sich hin, so gewiß ist diese Welt hart und grausam geworden. Im zweiten Stock lehnte er sich gegen das Treppengeländer und verschnaufte. Hier befanden sich die Wände in noch schlimmerer Verfassung als unten im Parterre. Die Tapete hing in Streifen herunter, und dazwischen zeigte sich ein schmutziges Gelb. Es war stickig hier oben, und er lockerte seinen Schlips. Aus allen Türritzen drangen Küchengerüche. Er näherte sich einer der Türen und las »Elvira Moniz«. Stephen Wrench klopfte.
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Ein Mann stand in der Tür, der genau Ramas Beschreibung von Chundra Bala entsprach. Wrench krampfte die Finger um seinen Notizblock. »Ja bitte?« fragte Bala mit jenem schneidenden Akzent, der noch aus der Kolonialzeit stammte. »Mein Name ist Stephen Wrench«, entgegnete eine Stimme, die so klang, als gehöre sie einem Betrunkenen. Wrench hustete eine Weile, murmelte eine Entschuldigung und betete, daß der Druck in seinem Magen nachlassen möge. »Ich bin Verwaltungsangestellter des Rathauses und mit einer Umfrage beschäftigt, welche die Schneeräumung während des vergangenen Sturms betrifft.« Na, das klang schon besser, normaler und überzeugender. In Balas Augen war nichts zu lesen. Er betrachtete Wrench nur eingehend. Und das war ein Fehler. Kein Mensch betrachtet einen Fremden, der an seine Tür klopft, mit solcher Intensität. Gewöhnlich drückte sich allenfalls Überraschung in den Gesichtern aus, Mißtrauen, Furcht und eine Art GroßstadtVerfolgungswahn. Wrench war sich völlig sicher, daß dies sein Mann sein mußte. Unmerklich trat er, in dem Versuch, über Balas Schulter hinwegzusehen, etwas zur Seite. Doch Bala stand mit der Hand gegen den Türrahmen gestemmt und versperrte den Blick. Man konnte über den Kopf des Hindus nur die Flurdecke erkennen. »Eine Befragung?« wiederholte Chundra Bala, als habe er Mühe zu verstehen. Dann lächelte er geradezu herzlich. Wrench legte seine Hand auf seine Manteltasche. Balas Blick flackerte. Er folgte dieser Bewegung. Nun wußte er, daß Wrench bewaffnet war. Und das war genau das, was Wrench beabsichtigt hatte. Chundra Bala setzte zu einer höflichen Antwort an: »Ich fürchte, wir können Ihnen da nicht helfen. Wir sind nicht Bürger dieser Stadt. Sehen Sie, wir benutzen diese Wohnung nur
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vorübergehend. Sie gehört …« »Was ist los, Lieber?« fragte eine Frau in Hindi. Wrench sah eine ringgeschmückte Hand, die nach der Tür griff und sie vollends zurückzog. Armbänder klirrten am Handgelenk. Unter dem freundlichen und durchdringenden Blick der Frau ließ Wrench die Hand von der Manteltasche sinken … Bala erwiderte auf englisch: »Dieser Mann ist ein Vertreter der Stadtverwaltung.« »Ah«, sagte sie, nickte und nahm den Sari vom Gesicht. Der Nasenring und das dicke, schwarze Haar kamen zum Vorschein. Er hatte solch große Nasenringe schon in Indien gesehen, meist aus Anlaß einer Hochzeit. Die Frau sagte wieder »Ah!« und sprach diesmal in MoslemUrdu weiter. »Versteht uns dieser Mann?« »Ich glaube, ja.« Doch Wrench geriet keinen Augenblick lang aus der Fassung. Er spielte überzeugend den Dummen. Er spürte den Hohn, der darin lag, daß sie von einer Sprache zur anderen überwechselten, genau. Sie wußten also bereits, daß er nicht der war, für den er sich ausgab. Irgendwie hatte er das von Anfang an gefühlt. Und als er nach dem Grund suchte, gefror ihm das Blut in den Adern. Er konnte es sich nicht erklären. Dann fragte sie ihn auf englisch: »Aus welchem Grund kommen Sie, Mr. …? Entschuldigen Sie, aber mein Mann hat mir Ihren Namen nicht gesagt.« »Stephen Wrench. Wir führen eine Befragung durch und wollen wissen, ob die Bürger mit der Schneeräumung in diesen Tagen zufrieden waren.« »Oh, ich verstehe«, sagte sie auf bengalisch zu Bala. »Er versteht Hindi, er versteht Urdu. Er weiß offenbar eine ganze Menge.« Und zu Wrench gewandt: »Sie waren schon mal in Indien?«
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»Nein, leider nicht«, log Wrench. »Sie sind niemals dort gewesen?« Gauri Bala drehte den Kopf und lächelte. Ihre Zähne waren sehr klein und sehr weiß. »Wir wissen nichts über die Schneeräumung der Straßen«, sagte sie, »das heißt, ich habe natürlich gesehen, wie der Schnee fiel, und habe die großen Wagen gesehen, die ihn zur Seite drückten. Beschreibe ich das richtig?« »Vollkommen.« »Ich fand es in Ordnung. Wenn Sie wollen, können Sie schreiben, daß Mr. Chundra Bala und seine Frau Mrs. Gauri Bala aus Varanasi die Schneeräumungsarbeiten der Stadt für gut halten.« Wrench kritzelte etwas nieder und bedankte sich. Dann legte Gauri Finger und Handflächen vor ihrer Brust zusammen, der indische Gruß Namaskar, mit dem in Indien einem Ebenbürtigen Ehre erwiesen wird. »Es tut mir leid, daß wir Ihnen nicht mehr bieten können«, sagte ihr Mann. Wrench bedankte sich nochmals. Die Tür schloß sich. Er wartete, das Ohr ans Holz gepreßt. Doch er hörte nichts. Er schnaufte mißvergnügt und ging auf die Treppe zu. Er mußte Rama Shastri finden. Das waren sie also, gut, immerhin zwei von den Dreien, die Rama beschrieben hatte, und weil die Frau wirklich nur einen durchschnittlichen Eindruck auf ihn gemacht hatte, konnte er nicht verstehen, was die ganze Aufregung ihretwegen sollte. Während seines Aufenthaltes in Indien hatte Wrench eine Menge solcher Inderinnen gesehen. Diese Gauri Bala schien wenigstens noch eine Art von Charme zu besitzen, bizarr genug für eine Thug-Frau – sie wirkte fast heilig. Wo, zum Kuckuck, steckte Ram …? Peng! Er wirbelte herum. Die Appartementtür war aufgerissen worden und knallte gegen die Wand des Wohnungsflurs. Wrench fuhr mit der Hand in die Tasche, bereit, den Revolver
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zu ziehen, aber statt Chundra Bala kam etwas wie ein Sturmwind aus der Tür bis zum Treppenabsatz, auf dem er stand, gefahren. Diese Kraft traf ihn wie eine gigantische Faust in den Unterleib. Er wich zurück und stieß dabei gegen das Treppengeländer. Sein Blick trübte sich, und als er die Augen zur Dekkenbeleuchtung hob, erschien ihm die Lampe plötzlich doppelt. Wrench richtete sich auf und hörte auf die drängende innere Stimme in sich: Er mußte hier weg. Er mußte … Die Sichttrübung und das Doppeltsehen hörten auf. Nun wird sie kommen, wußte er plötzlich und begriff auch, daß das nicht nur er dachte. Sie will, daß ich mir ihrer bewußt bin, daß ich weiß … Und er hatte recht. Da stand sie mit ausgestreckten Armen im Tür- rahmen. Der Sari wirkte wie eine bunte Schwinge. Wrench sah das Gesicht und schrie: »Heiliger Himmel!« »Tamakhu Kha-lo!« kam es heiser zurück. Der Todesruf der Thugs, der nichts anderes bedeutete als »Rauche Tabak!« Doch für die Thugs war dieses Codewort die Aufforderung, die Schlinge zu werfen. Wieder griff Wrench nach der Waffe. Die Frau sprang. Eine unglaubliche Kraft schmetterte ihn gegen die Wand. Er drehte sich so, daß die rechte Schulter das meiste abfing. Seine Arme wurden zurückgerissen, bis seine Handgelenke auf gleicher Ebene mit seinem Rückgrat waren. Er hätte nicht vermutet, daß Chundra Bala solche Kraft entwickeln könne, und fluchte laut, als er den Thug vor sich sah, wie er die Schlinge schwang. Also war es nicht Chundra, sondern die Frau, die ihn festhielt! »Sanp, Sanp!« gellte der gutturale Schrei hinter ihm. »Schlange! Schlange!« Das war das Kommando für sie, ihn in die richtige Todesposition zu bringen. Sie keuchte und stank in widerlicher Weise nach Fäulnis. Dann sprang sie ihn kurzer-
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hand an und umklammerte ihn mit ihren Beinen. Ein unglaublicher Lebenswille verlieh ihm fast übermenschliche Kräfte, und er kämpfte. Ihr Körper reagierte wie eine Schraube. Die Frau quetschte ihre Arme zwischen die gespreizten Beine und hielt ihn nach wie vor so fest, als sei er angenagelt. Die Beine hielt sie weiter um ihn geschlungen. Wrench spannte die Muskeln von Nakken, Arm und Rücken an, bis er glaubte, sie vor Anstrengung knacken zu hören. Es war ein seltsam stummer Kampf, der da voller Wut geführt wurde. Ein Stakkato aus Stöhnen und Keuchen. Ganz in der Nähe stand Chundra Bala, seine Hände streichelten den Schal in der Erwartung des richtigen Moments, ihn schleudern zu können. Doch Wrench drehte und wand sich unentwegt nach allen Seiten. Jedesmal, wenn Chundra werfen wollte, bewegte sich Wrench, so daß die eigene Frau dem Thug im Wege war. »Sanp! Sanp!« wurde das tödliche Kommando keuchend wiederholt. Wrench wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er die Frau mit aller Kraft erst in die Wange biß, dann den Nasenring mit den Zähnen packte und daran zog. Die ekelerregende Mischung von Öl- und Schweißgeruch stieg ihm in die Nase. Er riß so lange und so kräftig an dem Ring, bis sie schrie und ihn losließ. Immer noch hing sie an seiner rechten Seite, mittlerweile die gespreizten Beine um seine Taille geschlungen. Da, wo der Sari zur Seite fiel und die Schenkel freigab, konnte er erkennen, wie sich ihre Oberschenkelmuskeln spannten, während sie die Beine gegen seinen Brustkorb preßte. Wrench hatte nun seine Arme freibekommen und schlug mit aller Kraft auf ihre Schenkel. Dann wirbelte er um die eigene Achse, bis ihm ganz schwindlig und flau wurde. Währenddessen hing sie mit gestrecktem Oberkörper an ihm. Es sah wie die erschreckende
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Parodie einer akrobatischen Vorführung aus. Dabei stieß sie kehlige, unverständliche Laute aus. Ihre Arme fuhren wie Dreschflegel durch die Luft. Ihre heraushängende Zunge bebte wie der Griffel einer dunklen, übelriechenden Blume. Allmählich glaubte Wrench, zusammenbrechen zu müssen. Der Schwindel war kaum noch zu ertragen, sein Kopf dröhnte. Seine Bewegungen wurden langsamer, obwohl er bestrebt war, nicht damit aufzuhören. Chundra Bala bemerkte das und kam sofort einen Schritt näher, trat dann jedoch wieder zurück, woraufhin die Frau die Beine von ihrem Opfer löste, abrollte und auf die Füße sprang. Wrench taumelte und versuchte zu begreifen, woher dieser plötzliche Wechsel kam. Und da hörte er auch schon jemanden die Treppe hinauflaufen und »Steve! Steve!« rufen. Die Frau befahl etwas. Eilige Schritte nach oben, und die Wohnungstür schlug zu. Rama Shastri erreichte Wrench auf dem Treppenabsatz darunter. Der Freund stand flach gegen die Wand gepreßt und rang nach Luft. Sein Überzieher hatte einen Riß im Rücken. Sein Gesicht und sein Hals waren geschwollen und zerkratzt. Den Revolver in der Hand stand Shastri vor der Appartementtür. Doch diese blieb verschlossen. »Laß uns weggehen von hier«, sagte er schließlich, »wir waren uns doch einig, daß wir sie nicht allein angehen wollten.« Wrench fühlte das Abklingen des inneren Tumults und nickte nur. Mit Shastris Hilfe bewegte er sich mühsam eine Stufe nach der anderen treppab. Am Fuße der Treppe konnte er dann schon fast ohne Hilfe stehen. Shastri schaute, die Waffe gezückt, immer wieder über die Schulter zurück. Keiner war ihnen gefolgt. Alles blieb still. Shastri nahm Wrenchs Arm von seiner Schulter, lehnte den Freund gegen die Wand und legte die Hände auf dessen breite Brust. Wrench, immer noch nicht ganz bei Kräften, atmete schwer. Jeder Atemzug schmerzte.
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»Ich entschloß mich, dich zu suchen«, berichtete Shastri. Er sprach sehr schnell, um die eigene Angst zu überspielen. Stephen Wrenchs Gesicht war totenbleich, von roten Flecken und Kratzern übersät. »Ich nehme an, sie glaubten, daß sie zu zweit gegen uns ankommen könnten. Ein Glück, daß der andere Thug nicht da war.« Stephen brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Du hattest absolut recht, Ram«, keuchte er. Sobald sie aus dem Hause waren, führte ihn Shastri die Hemenway hinunter und war froh, daß der doch etwas schwergewichtige Freund jetzt ohne Hilfe gehen konnte. Er blickte nach oben, wo er die Fenster des Appartements vermutete, aber nichts zeigte sich dort. Nicht einmal die Vorhänge bewegten sich. Langsam gingen die beiden Männer die Straße entlang. Wrench stolperte oft und hielt sich die Seiten. Shastri hielt Ausschau nach einem Taxi, konnte aber keines entdecken. Als sie die Boylston Street fast erreicht hatten, drehte sich Wrench um. Sein Gesicht hatte mittlerweile wieder Farbe angenommen. Sein Atem ging normal. »Es war, als hätte es sich um zwei verschiedene Frauen gehandelt, Ram. Zuerst Balas Ehefrau und dann diese schreckliche Hexe mit Augen wie Quecksilber. Eine Kraft ging davon aus … eine Kraft … und ihr Atem, wie Todeshauch …« »Scheißjob für einen Polizeibeamten, was, Steve?« »Überhaupt kein Job.« Wrench zog ein Taschentuch aus der Tasche, um sich über das Gesicht zu wischen. »Ich kann jedem verdammten Thug auf der Welt entgegentreten, aber – dieses Weib …!« »Wir müssen die hiesige Polizei benachrichtigen, obwohl …« »Ich glaube nicht, daß das gut wäre. Falls das Paar überhaupt noch da sein sollte, wenn die Polizei eintrifft, fänden sie nur
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Balas Frau vor, nicht die Bestie, die sie außerdem noch ist.« »Ihr Name ist Gauri Bala. Stell dir vor, mit Mrs. Bala verheiratet zu sein, die eigentlich Mrs. Hyde ist …« In der Boylston Street angekommen, bogen sie in die Massachusetts Avenue ein. Wrench klagte, daß sich seine Beine wie Gummi anfühlten. An dem Türeingang zu einem leeren Haus ließen sie sich eine Weile auf den schmalen Stufen nieder. »Na, weißt du«, Wrench wischte sich wieder über das Gesicht, »ich habe mich in meinem Leben noch nie so erledigt gefühlt. Und zwar schon, bevor ich den Kampf mit ihr aufnehmen mußte; und sie, die Hexe, wußte alles über uns. Sie erwartete uns und lauerte auf unser Kommen, da bin ich ganz sicher. Sie sah auch genau, was in mir vorging. Du lieber Himmel, Ram, können wir es mit denen überhaupt aufnehmen? Sie sind uns um eine ganze Nasenlänge voraus, warten irgendwo im Hinterhalt, lauern und warten …« Er suchte nach seiner Pfeife, fand sie, stopfte sie, zündete sie aber nicht an. »Dies ist etwas, was sich unseren Möglichkeiten entzieht«, fuhr er fort. »Wir brauchen Hilfe, ein gewisses Maß an Beistand, um mit dieser widerwärtigen Angelegenheit fertig zu werden. Hast du es schon mit einem Gebet versucht, Ram?« Diesmal schauderte sein Freund, aber nicht aus Furcht. Der Gedanke an ein Gebet verursachte bei ihm eine Gänsehaut. Für ihn bedeutete Gebet, daß man mit seinem Verstand am Ende angelangt war und die Vernunft nicht weiterhalf, bedeutete, daß er und Stephen Wrench schon jetzt zu Fall gebracht worden waren, daß ihre Möglichkeiten, diese, wie Stephen so schön gesagt hatte, widerwärtige Angelegenheit allein und ohne Hilfe durchzustehen, begrenzt waren. Eine Schlacht wie diese war nicht allein zu gewinnen. Und dabei hatte er doch schon so viel unternommen, um diesen Oberpriester der Thugs zur Strecke zu bringen.
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Um die Erneuerung des Thugismus zu verhindern, hatte er Ileana und Mutter Indien verlassen. Und jetzt waren er und Stephen machtlos, zwei alte Männer, die sich verlaufen hatten und nun in einem leeren Torweg standen, um zuzusehen, wie die übrige Menschheit an ihnen vorbeizog.
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DRITTER TEIL
Garbha Entwicklung und Verschärfung
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21 Der Fluß des Ganges winkte … lockte … war eine einzige Aufforderung. Die Sonne beschien weißglühend die sommerliche Landschaft, auch jetzt noch, wo sie bereits am Horizont niederging. Sie ließ den Fluß rot und gelb aufleuchten, ein verwischtes Goldgelb, das in kleinen Wellen ans Ufer schlug, während eine Prozession von Sadhus zum großen Damm schlurfte. Ihre leisen Gesänge klangen wie ein undeutliches Flüstern, vielleicht um die brennenden Toten einzulullen. Santha Wrench konnte nicht mehr zählen, wie viele Scheiterhaufen es auf den Uferdämmen ringsum gab und wie viele auf den dahintreibenden Flößen. Sie hoben sich auf den Wellen des Flusses, versanken dazwischen und tauchten wieder auf, den Hauch des schwelenden Holzes hinter sich herziehend. Santha hielt sich in ausreichender Entfernung. Langsam ging sie am Uferrand dahin. Immer wieder zählte sie die aufgeworfenen Hügel mit den Scheiterhaufen darauf, im Norden, im Süden, zwanzig, fünfundzwanzig, dann dreißig und noch mehr. Immer weiter, bis die Rauchfahnen dünner wurden und schmale, schwarze Linien hinterließen, so dünn, als wären sie mit der Feder gezeichnet. Santha war sich sicher, daß es nirgendwo in Indien etwas Ähnliches gab wie an diesen Ufern des Ganges. Es war ein Traum … nein, ein zweidimensionaler Platz. Es war das Gangesufer. Santha Wrench wandte sich um und näherte sich den Steinstufen, die so breit angelegt waren, daß eine Infanterie-Kompanie darauf Platz gehabt hätte. Jeder Quadratzentimeter Stein war mit eingemeißelten Figuren bedeckt, die von der Witterung verwaschen, fast schon zerstört worden waren, zu sehr, um sie im einzelnen noch erkennen zu können. 309
Santha überlegte, wie diese Verwitterung zustande gekommen sein könnte, denn augenblicklich war die Luft trocken, und es rührte sich kein Lufthauch. Sie konnte auch nichts riechen. Das erleichterte sie sehr. Die Toten brannten und brannten immer weiter, doch glücklicherweise gab es keinen Gestank von verbranntem Fleisch. Während Santha den langen Weg an den Scheiterhaufen vorbeiging, bemerkte sie, daß sie sich auf festem Grund befand. Doch gleichzeitig ging sie irgendwo im Raum, ja, um es genauer zu sagen, sie schritt auf der Zeit dahin. Sie stöhnte ärgerlich, wie, zum Teufel, konnte ein Mensch auf der Zeit Spazierengehen? Der Gedanke durchfuhr sie kalt wie tropfendes Eis und mit einem Anflug unterdrückten Gelächters. Aber, meine Liebe, die Toten wandern auf der Zeit; die, die sich jenseits vom Avidya befinden, wandern auf jeder beliebigen Zeit, in jedem beliebigen Raum. Das tun sie, wirklich, das tun sie, mein Kind. Jenseits Avidya, der Illusion, die die Welt bedeutet, tun sie das, ganz bestimmt. Santha Wrench blieb stehen. »Wer bist du?« schrie sie. »Wer spricht in meinem Kopf?« Sie sprach diese Worte auf bengalisch, der gleichen Sprache, in der die Stimme sich hatte hören lassen, und sie war selbst überrascht darüber. Doch hier paßte es. Der Rauch hüllte sie ein, biß ihr aber weder in den Augen noch in der Nase, kratzte nicht in der Kehle, war nur schwarzer, zerfetzter Wirbel dämmrigen Graus. Die Prozession der Sadhus vor ihr hatte sich geteilt. Sie standen beidseits des Weges, schwenkten ihre Bambusstäbe und schlugen damit im Gleichtakt auf die Steine. War das ein Salut, eine Ehrung, die ihr galt? Warum? überlegte sie verblüfft. Dann zog sich der Rauch zurück, und Santha näherte sich den entferntesten Haufen brennenden Holzes, brennender Zweige und verglühter Blätter. Rote Knollenrosen, feurigfar-
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bene Sandblumen und weißer Jasmin lagen oben auf dem Scheiterhaufen und bedeckten ihn ganz. Die Blumen ließen eher auf ein Fest als auf ein Begräbnis schließen. Santhas Blick ruhte auf dem halbverbrannten Körper dort in den Flammen und – sie schrie auf: »Onkel Ram!« Das Profil war das von Rama Shastri. Immer noch schreiend, schaute Santha zu dem nächsten Scheiterhaufen hinüber und sah, was sie bereits erwartet hatte: ihren Vater. Die Flammen leckten gierig an seinem Körper. Schwach, einer Ohnmacht nahe, zwang sich Santha, weiterzugehen. Auf dem dritten Scheiterhaufen lag ein kleinerer Mann, den sie nicht kannte, und weiter weg, ganz in der Nähe der plätschernden Gangeswellen, lag die Leiche eines indischen, jungen Mannes. Santha blieb einen Augenblick lang stehen, füllte ihre Lungen mit Luft und stieß einen langen, wehklagenden Jammerton aus. Er schallte über das Wasser, übertönte das Flackern des Feuers, das laute Schlagen des Flusses gegen den Uferdamm. »Trauere nicht, geliebte Tochter«, drängte die Stimme, die wie frostiger Atem zu ihr kam und sie ganz erfüllte, »diese Toten werden den Himmel sehen und reich belohnt werden. So geht es allen, die durch die Seidenschlinge sterben.« Ein Klirren und Klappern von Armbändern, die aneinanderstießen, war zu hören. Santha fuhr von dem scharfen Schmerz eines Schlages auf ihre Wange zurück. Langsam ließ sie die Hände sinken, die sie vor die Augen gelegt hatte, und starrte die Frau an, die vor ihr stand. Diese Frau war ihr bekannt. Wo, wann und wie waren sie einander schon begegnet? Sie trug einen Nasenring, der das Sonnenlicht glitzernd reflektierte. »Wer sind Sie?« fragte Santha unerwartet sanft. »Ihre Augen sagen es mir bereits, glaube ich, aber ich kann nicht hineinschauen. Lassen Sie es Ihre Lippen mir sagen.«
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»Mit meinen Lippen?« sagte die andere, und mit einer Stimme, die leise wie Asche auf einem Stein raschelte. »Ich bin die, die gekommen ist, dich aufzusuchen, die, die eine Tochter sucht, jene, die die Mutter aller Täuscher ist.« Die Frau gebrauchte das Wort »Thug«, und Santha verstand es sofort: Thug gleich Täuscher. Bevor Santha protestieren konnte, griff die Frau nach ihren Ellbogen, hielt ihre Arme angewinkelt, an die Seite gepreßt, und küßte sie auf den Mund. Santha versuchte sich frei zu machen, aber sie war wie festgeklammert. Der Kuß der Frau war hart und wie kalter Stein, doch je länger er anhielt, desto mehr wandelte sich diese Härte in leidenschaftslose Wärme. Heiterkeit durchflutete Santha. Die Wärme schien durch ihre eigenen Lippen zu dringen. Santha fühlte ihren Unterleib, fühlte ihre ganze Person vor Ekstase erbeben. Gleichzeitig ergriff sie ein Gefühl des Schmerzes. Santha begann zu stöhnen. Der Nasenring preßte sich gegen ihre Wange und ihre Mundwinkel. Doch mittlerweile war ihr das einerlei. Plötzlich öffnete die Frau den Mund, und winzige Zähne bissen in Santhas Unterlippe. Sie blutete. Das Blut vermischte sich mit ihrem Speichel, als sie jetzt gleichfalls den Mund öffnete. Die Zunge der Frau berührte die ihre und wuchs. War es möglich, daß eine Zunge so lang werden konnte? Sie wand sich um Santhas Zunge und zerrte und zog, bis Santha fürchtete, sie würde ihr die Zunge aus dem Leibe reißen. Aber trotz des Schmerzes erfüllte sie ein schwindelndes, eruptionsartiges Lustgefühl. Das Gesicht der Frau wurde dunkler, als sie Santha losließ. Ein Schatten nach dem anderen glitt darüber, doch in der Landschaft war immer noch das safrangoldene Licht. Die Schatten kräuselten sich, während die Frau sprach: »Sieh, wer ich wirklich bin!« Sie hob die Arme, und der Sari teilte sich unter ihren Ach-
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selhöhlen. Santha beobachtete, wie das entblößte Fleisch sich zwischen den Stoffrändern auszudehnen begann. Dieser Vorgang wurde von einem Geräusch begleitet, das wie ein Zerreißen klang und dann so, als schlüge ein Knochen gegen einen Brustkorb, als patsche etwas in eine dicke Flüssigkeit. Blut und ungesund gelblich-jauchiges Blutwasser flossen aus den Armhöhlen, rannen in Kaskaden über den Sari und bildeten Lachen um die Sandalen der Frau. Die heraushängende Zunge wanderte von einem Mundwinkel zum anderen, und dazu kreischte die Kreatur ihre Lust heraus. Santha verließ alle Heiterkeit, die sie eben noch empfunden hatte. »Jesus, hilf! Hilf mir!« murmelte sie und griff damit auf ihre christlichkatholische Erziehung zurück. »Du gehörst nicht Jesus!« schrie die Kreatur gellend, »du bist mein! Mein!« Geschwülste, mit Blutwasser befeuchtete Schwellungen bildeten sich, wieder das Schlagen von Knochen auf Knochen, mehr Blut, noch mehr wasserhelle Flüssigkeit drangen hervor. Die Geschwulst dehnte sich jetzt bis zum Ellbogen aus. »Ganesha, erhöre mich, Ganesha, bitte hilf!« flehte Santha. »Ganesha!« schrie die andere, »Ganesha! Ganesha kann dir nicht helfen, mein liebes Kind. Selbst wenn du Vishnu und Shiva anrufst, rufe nur, wen du willst.« Nun hob die Frau die Arme über den Kopf. Die Fleischwülste darunter baumelten. Das grelle, schrille Kreischen erscholl flußabwärts den Strand entlang, hohl und entfernt, wie ein Echo aus unauslotbarem Abgrund. »MARIA BESCHÜTZE MICH! ALLE HEILIGEN, STEHT MIR BEI!« schrie Santha. Es war, als löse sich eine Umklammerung. Das Entsetzen, der Alptraum schwanden. Hinter den Scheiterhaufen beugte sich Santha vor, sprang vom Uferdamm und tauchte in die Fluten, in eine Stille hinunter, die das höhnische Schrillen dort
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oben nicht mehr durchließ. Verzweifelt schwamm Santha durch trübes Wasser. Dieser Fluß war enorm verschmutzt, und das Schwimmen fiel ihr immer schwerer. Sie fühlte sich wie ein Fisch, der in Schlick geraten war und darin festgehalten wird. Dennoch erkannte Santha, immer noch unter Wasser, die dunklen Umrisse der Scheiterhaufen über sich. Als sie an einem Floß vorbeischwamm, fiel plötzlich etwas von dessen Rand direkt auf sie herab und driftete in ihren Weg: Ein verkohlter Fuß versperrte ihr die Sicht im Wasser. Gleich danach geschah dasselbe mit den Überresten eines Schädels. Die leeren Augenhöhlen darin schienen sie anzustarren. Santha Wrench öffnete den Mund zu einem Schrei. Sofort strömte ihr Flußwasser in die Mundhöhle … »Nein!« schrie Santha gegen die Schlafzimmerwand. Dann heftete sich ihr Blick auf die Handdrucke an der Wand. Lange, lange starrte sie darauf, bis ihr Verstand jeden Kubikzentimeter vertrauter und willkommener Beruhigung aufgenommen hatte. Immer noch konnte sie kaum glauben, daß sie wieder zurück war, immer noch hatte sie das Gefühl, daß der Ganges ganz in der Nähe sein müsse. Er wartete und trug auf seinen Wellen die dahintreibenden Flöße mit den brennenden Scheiterhaufen. Irgendwo, ganz in der Nähe … »Nein! Nein! Verdammt noch mal, nein!« schrie sie wieder. Das Telefon läutete. Santha versuchte, irgendwo den Ganges wieder zu entdekken, aber diesmal blieb er weg, wirklich weg. »Es ist ja alles gar nicht wahr«, sagte Santha laut und entschieden. Das Telefon läutete und läutete. Santha Wrench erhob sich mühsam vom Bett und betrachtete sich im Spiegel über der Kommode. Mit gerunzelter Stirn sprach sie sich zu: »Du bist wirklich ein tolles Mädchen. Ver-
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giß das nicht!« Aber dann kehrte alles zurück, was mit der fremden Frau zu tun hatte. Es war, als wären ihre Erinnerungen wie ein langsam brechender Deich mit zahllosen Rissen in seiner Oberfläche, der schließlich nachgab und die Erinnerungen auf sie einströmen ließ. ES IST BESSER, ICH REDE MIT JEMANDEN DARÜBER. Ihre Unterlippe war verletzt. Ein kleines Dreieck getrockneten Blutes war dort zu sehen. Santha öffnete den Mund, und wieder ertönte der Schrei … NEIN! Kurz und hart, wie die Knöchel einer Faust, die ihre Furcht niederdrückten. Erzähl es niemandem, Kind! Geh mir aus dem Kopf! befahl Santha, den Blick auf ihr Spiegelbild gerichtet. Gehorche! DU SOLLST MIR AUS DEM KOPF GEHEN! Gehorche! Das Spiegelbild wurde dunkel. Santha blickte auf ihre Haut. Sie trug nur einen Slip am Körper. Das Gesicht im Spiegel war nun schwarz. Gehorche! JA, JA, ICH WERDE! BITTE, HÖR DAMIT AUF! Erzähle niemandem davon! »NEIN, ICH ERZÄHL’S KEINEM! BITTE! ICH VERSPRECHE ES, BITTE, HÖRE DAMIT AUF.« Das Spiegelbild hellte sich auf. Santha examinierte ihren Körper, ihr Gesicht, ihre Arme, ihren Rücken, ihre Beine und Füße. Sie betastete jede Brust, untersuchte sogar die Brustwarzen. Sie schlüpfte aus dem Slip und untersuchte sich weiter. Dann atmete sie tief durch, wischte sich den Schweiß mit dem Slip ab und füllte ihre Lungen bis in den äußersten Winkel mit Luft. Nichts hatte sich verändert. Das Telefon hatte zu läuten aufgehört.
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Santha ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Es schneite nicht mehr. Sie erinnerte sich der brennenden Scheiterhaufen und schauderte, als sie im Geiste die riesigen Holzstöße auf dem Wasser dahintreiben sah. Draußen schien die Nachmittagssonne. Santha wandte sich um und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie hätte auf George hören sollen, dachte sie. Als er sie vom Peabody hierhergefahren hatte, schlug er ihr vor, sie solle sich in seiner Wohnung ausruhen. So wäre sie wenigstens nicht allein gewesen. Aber plötzlich hatte sie ihm gar nichts erzählen können, erinnerte sie sich jetzt. Es war, als sei sie völlig mundtot gemacht worden. Nicht einmal von dieser Elvira Moniz, die sich am Vormittag eingeschlichen hatte, konnte sie etwas verlauten lassen. Auch nicht, daß sie gedroht hatte, sie im Safe einzuschließen. Santha konnte nur darauf bestehen, allein sein zu wollen. George gab nach. Aber man konnte es ihm ansehen, daß er es nicht gerne tat. Inderin zu sein ist wohl von Bedeutung. In Indien hatte alles begonnen. Alles. Dennoch darf ich es niemandem erzählen. Es wäre ein Sakrileg, wenn ich es täte. Diese Ereignisse können jedenfalls keine Halluzinationen sein. Sie sind Teil meines Lebens, sind mein Geheimnis. Wieder klingelte das Telefon. Santha zögerte und nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Hier spricht George.« Santha setzte sich aufrecht hin. »Santha, ist alles in Ordnung mit dir? Ich habe die ganze Zeit angerufen.« »Ja, ja, George. Ich habe geschlafen.« »Ich habe darüber nachgedacht. Ich könnte ja unsere Abendessensverabredung mit Kurt Leinster absagen, wenn du dich
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nicht wohl fühlst.« »Kurt?« »Ja, Kurt. Erinnerst du dich nicht?« »Doch, selbstverständlich. Ich bin immer noch nicht ganz wach, glaube ich.« »Soll ich absagen?« »Nein … nein, George. Ich glaube, die Ablenkung wird sogar gut sein.« »Bist du sicher?« Es klang nicht sehr erfreut. »Ja, ganz sicher, George. Komm, fang nicht wieder an, Druck auszuüben. Ein paar Stunden Ablenkung von … von allem wäre gut, macht vielleicht sogar Spaß.« Er schwieg eine Weile. »Glaubst du, du kannst bis um sechs Uhr hier sein?« »Sechs Uhr? Natürlich. Warum fragst du?« »Ja, du klingst so … so müde.« »Ich habe dir ja gesagt, ich tauche gerade aus tiefem Schlaf auf.« Santha dachte an die braune Brühe ihres Gangestraumes und an die langsam herabsinkenden Schädel … und schauderte.
22 Als Wrench und Shastri den Hauseingang verließen und wieder auf die Boylston Street hinaustraten, wandten sie sich in Richtung Massachusetts Avenue. Shastri schlug vor, daß sie eine Kleinigkeit essen sollten. Wrench, immer noch benommen, stimmte zögernd zu. Shastri bestellte eine Lende mit Bratkartoffeln, Wrench Salat und eine Flasche dunkles Löwenbräu, doch die meiste Zeit über saß er nur da und sah Rama beim Essen zu. Ihre Unterhaltung war minimal, denn beide waren zu sehr mit dem Gedan317
ken an den Thugismus beschäftigt. Gelegentlich jedoch, wenn ihn im Nacken oder in der Schulter ein scharfer Schmerz durchfuhr, fluchte Wrench vor sich hin: »Verdammte Hexe!« Erst als sie mit dem Essen fertig waren, stieß Wrench unkontrolliert hervor, wie sehr er doch Kamala vermisse. Es war das Äußerste, was er seit Shastris Ankunft in Boston darüber hatte verlauten lassen. Der kleine Mann nickte, und beide hingen ihren Erinnerungen nach. Sie hätten nicht erklären können, warum sie das gerade jetzt taten. Selbst der Schmerz, den der erlittene Verlust in ihnen hervorrief, war irgendwie besänftigend, etwas Normales, das ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellte. Stephen Wrench warf einen kurzen Blick auf die Gäste, die soeben das Lokal betraten, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Dieser Hundesohn! Das ist doch wirklich eine Unverschämtheit!« sagte er mit erhobener Stimme. Der Zorn, der daraus klang, veranlaßte Shastri, sich umzudrehen. Chundra Bala und Bidhan standen im Eingang. »Sie halten nach uns Ausschau, Ram. Wie können sie wissen …?« »Sie weiß es. Ihr Astralleib oder was auch immer, ist uns gefolgt.« Wrench zog den 38er-Browning aus seiner Manteltasche und steckte ihn in seinen Hosenbund. Rama Shastri legte die Hände auf den Tisch, faltete sie und zwang sich zur Ruhe, als Chundra Bala auch schon auf sie zuging. Durch Shastris Erinnerung zuckte wie ein Stück Filmstreifen das Bild seines ermordeten Mitarbeiters Das, leblos auf dem Boden des Tempels liegend … Immer wieder, immer wieder: Das, zusammengebrochen auf dem Felsboden der Tempelhöhle. Das, ermordet, erwürgt. Wieder und wieder Das, wie er Shastris Namen rief und dann plötzlich mit dem Gesicht nach oben dalag. Das …
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Bidhan zog einen Stuhl von einem leeren Tisch weg, und Bala nahm darauf Platz. Bidhan blieb, die Arme über der Brust gekreuzt, an seiner rechten Seite stehen. Die Kellnerin kam und fragte nach Balas Bestellung. Nein, entgegnete der Thug, er würde nicht lange bleiben. »Bringen Sie ihm einen Tee«, verlangte Wrench, »und wie steht es mit Ihrem Freund?« Bidhan rührte sich nicht. »Keinen Tee, bitte«, widersprach Bala. »Tee«, beharrte Wrench im besten britischen Kolonialakzent. »Kommen Sie, alter Junge, Sie brauchen Tee.« Bala versuchte zu lächeln, aber seine Augen waren voller Haß. Schließlich sagte er seufzend: »Also gut, eine Tasse Tee.« Als die Kellnerin gegangen war, meinte er: »Ich mag den Tee nicht, der in amerikanischen Restaurants serviert wird.« »Ganz recht«, stimmte Shastri zu, »da bin ich mit Ihnen einer Meinung.« Chundra Bala stützte die Ellbogen auf den Tisch: »Ich bin zu Ihnen geführt worden«, gab er bekannt. Shastri spielte mit einer Sher Bidi. »Natürlich«, sagte er ruhig. »Überrascht es Sie nicht, daß ich hier bin? Können Sie sich vorstellen, wie ich Sie gefunden habe?« Wrench und Shastri schwiegen. Die Kellnerin brachte den Tee. Bala starrte in die Tasse. »Trinken Sie!« sagte Wrench. Bala ließ den Tee stehen. »Sie gehören auch zur Polizei«, sagte er zu Wrench. »Ach, du lieber Himmel, was sind wir doch klug.« »Ich bete um Klugheit. Und diese große Weisheit, die ich anflehe, hat mich auch hierhergeführt, damit ich mit Ihnen spreche. Nachdem wir nun einander kennen, können wir ja anfangen.«
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»Wie heißt denn Ihr Kumpel? Außerdem müssen Sie jetzt den Tee trinken.« »Bitte, hören Sie endlich mit dem Tee auf! Mein Begleiter ist Bidhan. Er ist sehr stark. Seine Arme wurden so kräftig, weil er die Deichseln der Ochsenkarren in Indien anheben mußte. Er beteiligt sich nicht an der Unterhaltung, weil sein Englisch dazu nicht ausreicht.« Bala wandte sich Shastri zu: »Rama Shastri, Sie sind heute nachmittag sehr schweigsam.« Als er hierauf keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Kennen Sie den Panjika? Den astrologischen Almanach? Ich nehme an, Sie kennen ihn. Und ich glaube, Sie verstehen seine Bedeutung.« Bala wandte sich nun an Wrench: »Shani, der gefürchtete Saturn, das Übel aller Übel, das Böseste vom Bösen, sitzt rittlings auf seinem Geier, wo seine Ringe sich einander küssend berühren, ist der Zeitpunkt, wo das Leben und die Unendlichkeit einander umarmen. Sie, meine Herren, können von Glück sprechen, daß Ihnen das vor allen anderen eröffnet wird, damit Sie nicht eines Tages Opfer der Heimsuchung werden, die den Atem erstickt. Einer Heimsuchung, die unausweichlich ist. Nichts kann sie aufhalten.« Rama Shastri erreichte es, daß die flackernden Erinnerungsbilder vor seinem Auge zum Stillstand kamen. Der mit dem Gesicht nach oben liegende Das, er war mit einem Mal verschwunden. An seine Stelle trat nun Chundra Bala. Der Thug trug einen farblosen Überzieher über einem alten, grauen Flanellanzug, der aussah, als sei er ihm eine Nummer zu groß. Sein Schlips war breit, ein verblichenes Gelb mit blaßroten Streifen darin und mit einer Menge Flecken darauf. Das weiße Hemd hatte einen ausgefransten Kragen. Rama Shastri sagte in Hindi: »Wo ist Ihre Frau?« Chundra Bala warf Bidhan einen raschen Blick zu. Der Riese trug einen braunen Mantel mit großen braunen Holzknöpfen. Um seinen Hals hatte er einen karierten Schal gewunden. Bid-
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han lächelte seinem Guru zu. »Warum wollen Sie das wissen?« stellte Bala die Gegenfrage. »Sie beide sind nur Hampelmänner dieser Frau«, erwiderte Shastri ruhig. »Da ist nicht Shani, aber da ist ein schrecklicher Geier – Ihre Frau. Ich würde es deshalb vorziehen, jetzt mit ihr zu sprechen. Ich ziehe den Geier den Ratten vor, die nur auf Kommando dahin und dorthin huschen.« Die Röte stieg dem Thug ins Gesicht, und er erwiderte in der gleichen Sprache: »Ich habe gesehen, wie Ihr Herz vor Furcht erbebte«, sagte er scharf. »Auf der Suche nach ihr würden Sie gewiß sterben, Rama Shastri. Ich habe Schreckliches gesehen, und ich lebe.« »So? Erzählen Sie uns doch davon!« »Ich war derjenige, der zur Höhle der Seher ging und meinen Herrn dorthin begleitete. Ich, nicht meine Frau. Ich sah …« Er schlug sich gegen die Brust. »… und hier ist es aufgezeichnet. Ich bin derjenige, der allen anderen vorgezogen wurde. Und ich sitze hier mit Ihnen, weil ich derjenige bin, der mit ihm, unserem Fürsten, auf dem Dach der Welt war.« Shastri schüttelte den Kopf: »Das glaube ich nicht, Chundra Bala. Daran zu glauben ist genauso unsinnig, wie an Shani, den gefürchteten Saturn, zu glauben. Wenn Sie in den Augen Ihres hohen Herrn so angesehen sind, wie Sie behaupten, warum behandelt er sie dann nur wie einen Boten, einen Nachrichtenüberbringer? Ich nehme Ihnen Ihre Prahlerei nicht ab. Du etwa, Steve?« »Ebensowenig«, erwiderte Wrench in Hindi. Chundra Bala erhob sich von seinem Stuhl, setzte sich aber sogleich wieder und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Allmählich schwand der Ausdruck der Wut aus seinen Augen, und er setzte in einem verächtlichen Flüstern zum Gegenschlag an: »Dies ist eines Ihrer Täuschungsmanöver, mit denen Sie sich in
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Indien einen Namen gemacht haben.« »Ach, Sie kennen auch Bluff?« fragte Rama Shastri spöttisch. »Ihre Angeberei mit dem, was Sie über das Dach der Welt erzählen, die Höhle der Seher und Ihren Rang als Guru unter den anderen, das ist schierer Bluff, das muß ich zugeben. Ich erkenne Sie als großen Lügner an, Chundra Bala, aber nicht als Guru. Gurus, ob groß oder klein, lügen nicht.« Später fiel Rama Shastri ein, daß Bala das Gespräch wohl Bidhans Anwesenheit wegen abgebrochen hatte. Shastri hatte ihn mit voller Absicht in der Sprache angegriffen, die Bidhan verstand. Chundra Bala stützte sich wieder auf seine Ellbogen und streckte das Kinn vor, sein Kopf nahe an Shastris Gesicht. »Erinnern Sie sich«, sagte er warnend, und seine Worte klangen scharf. »Erinnern Sie sich des Tempels in Sati vor ein paar Monaten. Ich führte Sie und Ihren Spion, diesen Das – hieß er nicht so? – durch die Menge, die meinen Herrn erwartete. Erinnern Sie sich, wie sie mir alle gehorchten? Wie sie auf mein Kommando hin zurückwichen? Ist das nicht Beweis genug, daß sie einem Führer gehorchten, einem großen Lehrer, einem hochangesehenen Guru? Erinnern Sie sich jenes Morgens, und hören Sie auf zu spotten, Rama Shastri! Denken Sie an den Beweis, den dieser Morgen gebracht hatte.« Rama Shastri bedurfte dazu keiner Aufforderung. Das, gestürzt und mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht auf dem Boden des Tempels. Dieses Bild stand sofort wieder vor seinen Augen, und er packte zu. Er ergriff Balas rotgelben Schlips. Mit der einen Hand drückte er den Knoten der Krawatte gegen die Kehle des Mannes und zog am Schlipsende. Chundra Bala gurgelte. Sein Kinn kippte vor, und der Tee, den er soeben trinken wollte, ergoß sich über den Tisch. Shastri zog weiter und wand das Schlipsende um seinen Finger.
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Wrench saß seitlich auf seinem Stuhl, so daß er die Beine in den Gang zwischen den Tischen ausstrecken konnte, für den Fall, daß er sich plötzlich erheben müßte. Er war nicht darauf vorbereitet, daß Shastri als erster aktiv würde. Er erhob sich, beeindruckt von dem, was geschah, um vor allem Bidhan daran zu hindern, einzugreifen. Er stellte sich hinter den riesigen Thug und bohrte den Revolver in Bidhans Rücken. »Sanp!« sagte er in Ramasi, das gutturale Kommando, das er vor Stunden gehört hatte, wiederholend. Auch Rama Shastri stieß kurze Kommandos aus. Er lockerte die Krawatte etwas und sagte zu Bidhan, ohne die Augen von seinem Opfer zu lassen: »Verhalten Sie sich ruhig, oder ich mache diesen Schlips zur Todesschlinge!« Balas Augen quollen wie Porzellankugeln hervor. Sie waren blutunterlaufen. Speichel troff von seiner Unterlippe. Shastri sagte kalt: »Sehen Sie, ich erinnere mich. Ich sehe Das, von Ihrer Hand getötet. Gerade jetzt habe ich dieses Bild vor Augen. Und merken Sie sich, daß ich die Methoden der Täuscher gelernt habe.« Dann zog er den Knoten fester zu. Wrench, dessen breiter Rücken den übrigen Gästen bis zu diesem Moment die Sicht versperrte, wurde allmählich besorgt. »Jetzt ist es genug, Ram«, warnte er. Chundra Balas bis dahin gesunde Gesichtsfarbe hatte sich mit alarmierender Schnelligkeit in ein höchst ungesundes Blaurot verwandelt. Seine Wangen wurden vor Anstrengung dunkel, und Schweißbäche rannen ihm von der Stirn und über den Hals, auf dem sich unterhalb der Krawatte ein weißer Ring mit roten Flecken bildete. »Ram, um Gottes willen! Es ist genug!« Wrench streckte die Hand aus, um Shastri daran zu hindern, den Knoten weiter zuzuziehen. Chundra Bala ließ den Kopf nach vorne sinken. Er hatte vergebliche Versuche gemacht, seine Hände zu heben, doch Shastri hatte ihn so dicht an den Tisch gezogen, daß die
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Arme des Thugs unter der Tischplatte wie eingeklemmt waren. Der Tisch war am Boden festgeschraubt, und es war unmöglich, ihn zu verrücken. Die vergebliche Anstrengung hatte ihm die Luft noch weiter abgeschnürt. Rama Shastri ließ ihn los, bevor die Kellnerin kam, die nachsehen wollte, was für seltsame Geräusche von diesem Tisch kamen. Bevor sie Fragen stellen konnte, zeigte Wrench auf Bala, der seinen Hals festhielt und stöhnende Laute ausstieß. »Er hatte einen Asthmaanfall«, erklärte ihr Wrench. Bidhan hatte Chundra Bala hochgezogen. Bala stand da, unauffällig den Kopf schüttelnd, und versuchte zu sprechen. Aber ein Hustenanfall hinderte ihn daran. Sein Blick befahl Bidhan, nichts zu unternehmen. Der Restaurantleiter erschien. Wrench schob die beiden Thugs schnell dem Ausgang zu. »Er ist gleich wieder in Ordnung«, sagte er zu dem ängstlich dreinblickenden Restaurantleiter, als sie an ihm vorbeigingen. An der Tür gab ihm Wrench den guten Rat: »Seht zu, daß ihr euren Hintern so schnell wie möglich von hier wegbekommt!« und steckte seine Waffe wieder in den Hosenbund. Als er zu Shastri zurückging, merkte er, daß ihm alle Gesichter erstaunt zugewandt waren. Wrench bezahlte die Rechnung und ließ ein beachtliches Trinkgeld für die Bedienung zurück. Er und Rama Shastri beeilten sich, auf die Massachusetts Avenue hinauszukommen. »Eine Minute lang hast du mir angst gemacht«, bekannte Wrench, und Bewunderung schwang in seinen Worten. »Du hast den Spieß umgedreht. Bala hätte im Traum nicht daran gedacht, daß du wie ein Thug handeln kannst. Gute Arbeit, alter Freund!« »Wirklich?« fragte Shastri etwas benommen. Wrench dachte eine Weile nach. »Jedenfalls besser als nichts.«
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»Das ist auch nicht allzuviel, Steve.« »Mach die Sache nicht bedeutungsloser, als sie ist, Ram. Meine Skrupel sind seit der Begegnung mit …« Wrench zog heftig an seiner Pfeife. »… ihr verschwunden«, vollendete er schließlich. »Sie war leider nicht da. Statt ihrer schickte sie Bala und diesen Ochsen. Damit wollte sie demonstrieren, wie leicht sie uns finden kann, wenn sie nur will.« Jedes Wort, das Shastri sprach, bewies seinen Widerwillen. »Chundra Bala hatte recht. Wir wurden nicht verfolgt. Ich bin sicher, Steve, daß niemand hinter uns herschlich. Ich habe mich auf dem ganzen Weg immer wieder umgesehen.« Rama Shastri schüttelte die tiefe Müdigkeit ab, die ihn ergriffen hatte. »Sie weiß zuviel«, fuhr er fort, »und erfährt es zu leicht. Ich muß dir gestehen, es war ein gutes Gefühl, dem Kerl eine Weile die Luft abzudrehen. Dennoch bin ich davon überzeugt, Steve, daß wir es sind, mit denen hier gespielt wird. Und sie läßt sich Zeit dabei, bis sie ihrerseits das Gefühl hat, daß der richtige Augenblick gekommen ist, um uns auf die Straße, die alle Thug-Opfer gehen müssen, ins Jenseits zu schicken.« Als sie die Pinckney Street erreichten, war ihre Furcht noch größer als zuvor. Abends um achtzehn Uhr rief Terranova an.
23 Santha erwachte, völlig ausgeruht, um vier Uhr nachmittags. Gutgelaunt, ein Lied vor sich hin summend, sprang sie aus dem Bett und beeilte sich, unter die Dusche zu kommen. Sie würde ihr bestes Winterkleid anziehen, das rote, mit dem Seidenoberteil. Sie würde zwar in Stiefel schlüpfen müssen, aber ihre flachen, so sexy wirkenden Ballerinapumps mitnehmen. 325
Unbewußt feuchtete sie ihre verletzte Lippe mit der Zunge an und blieb unschlüssig vor ihrem Schmuckkasten stehen. Das Perlenhalsband, die goldenen Ringe, die Zirkonohrringe, ihren ganzen wertvollen indischen Schmuck ließ sie liegen. Was man in Indien, ohne Gefahr, beraubt zu werden, zeigen konnte, war in Boston – wie ihr Vater ihr schon vor Jahren warnend erklärt hatte – unmöglich zu tragen. Sie entschied sich für eine vielfarbige Glasperlenkette. Über das linke Handgelenk streifte sie zwei Armbänder, eines aus Silberlegierung mit britischen und indischen Münzen daran – keine davon war wirklich wertvoll – und eines aus Koralle mit einem Perlmuttanhänger. In Indien pflegte sie immer vier Armbänder übereinander zu tragen, doch sobald sie in Amerika waren, hatte Kamala darauf bestanden, nur zwei überzustreifen. Vier seien »zu indisch«. Santha befeuchtete ihre Lippen abermals mit der Zungenspitze und durchforstete ihren Schmuck. Da waren diese wunderschönen, goldenen Ohrringe. Bevor sie nach Amerika zogen, hatte Kamala sie für Santha eigens anfertigen lassen. Sie hatten Kamalas Vetter besucht, der an der Universität von Kalkutta griechische und bengalische Literaturvorlesungen hielt. Da hatte ihre Mutter darauf bestanden, ein kleines Dorf am Flußlauf aufzusuchen. Dort, zwischen Bambushainen und Sumpfland, besuchten sie einen Goldschmied, der in ganz Bengalen als der bedeutendste seiner Zunft bekannt war. Er benützte nur ganz einfache Werkzeuge und einen winzigen Blasebalg und fertigte die Ohrringe auf der Stelle aus dem Gold an, das Kamala ihm gab. Sie waren lang, hauchdünn, mit kunstvollen Filigranornamenten geschmückt und endeten an Santhas Kieferbogen. Jeder Ohrring bestand aus zwei Einzelteilen, die von einer kleinen Kette herabbaumelten. Immer wenn sie den Kopf bewegte, stießen die Teile aneinander und gaben einen zarten, klingenden Laut von sich. Die werde ich tragen, entschied Santha. Zwei kräftige, junge
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Männer sollten wohl in der Lage sein, sie heute abend vor Dieben zu schützen. Der große, schwarzbärtige Kesari und der große grauhaarige Kurt Leinster. Sie kleidete sich an und blickte auf die Uhr. Viertel nach fünf. Warum sollte sie eigentlich nicht schon jetzt zu George gehen? Sie holte ihren weißen Wintermantel aus dem Schrank und dazu den flauschigen weißen, nach oben aufgeschlagenen Hut, der ihr Gesicht wie eine Mondsichel umgab. Santha faßte plötzlich den Entschluß, ihrem Vater und Onkel Ram von dem versuchten Diebstahl des Schriftrollenfragments zu berichten. Das mußten sie einfach wissen, dachte sie entschieden und ging zum Telefon. NEIN! Der Schock war ungeheuer. NEIN! Santha hielt die Luft an und preßte die Hände gegen die Schläfen. Betäubende Kälte schoß ihr vom Nacken das Rückgrat herunter, und ihre Hand hing auf dem Telefonhörer, als sei sie gelähmt. »Ich tu’s ja nicht. Ich verspreche es!« bat sie laut. »Bitte, hör auf, bitte!« Der Schmerz, den sie soeben noch empfunden hatte, schwand. Ich bin besessen, dachte sie, es kann gar nicht anders sein. Irgend etwas, etwas Lebendiges ist in mir. Der Schmerz schwand vollends, und an seine Stelle trat ein euphorisches Gefühl, so daß sie Mühe hatte, noch zu glauben, daß soeben etwas Schlimmes geschehen war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und verließ die Wohnung. Beacon Hill war von Fußgängern bevölkert, die sich auf den Bürgersteigen entlangschoben. Eine Frau und ein Mann verstauten eine Skiausrüstung in ihrem Volkswagenbus. Sie ging an der Episkopalkirche vorbei, die sie gelegentlich zum Gottesdienst aufsuchte. Die Straße lag zwischen ihr und der Kirche, aber irgendwie kam ihr die Entfernung viel weiter vor. Der kalte Wind, der über die Straße pfiff, ließ die Sehnsucht nach Kalkutta aufkommen. Kalkutta, bevor der Monsun losbrach.
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Wenn man da nur ein paar Schritte ging, war man von Kopf bis Fuß schweißgebadet. Nein, war ihr zweiter Gedanke, lieber nicht Kalkutta. Als sie zum Otis Place kam, fuhr der Wind eisig vom Storrow Drive und vom Fluß herüber. Sie beeilte sich, in den Innenhof zu kommen, und drückte auf Georges Klingelknopf. Er öffnete und hielt sie fest umschlungen. »O George, bitte gib mir eine Tasse Tee«, bat Santha, als er sie schließlich aus seiner Umarmung entließ. »Englischen Frühstückstee oder lieber russischen?« »Lieber russischen Tee, und bitte, mach schnell und tu auch noch eine schöne Portion Honig hinein.« Sie zog den Mantel aus und setzte sich aufs Sofa. »George?« rief sie. Aus der Küche kam die Antwort: »Ja?« »Laß uns heute abend, wenn wir wieder allein sind, das Kaminfeuer anmachen, ja?« Eine Minute später: »George, hast du gehört, was ich gesagt habe?« »Ja, sicher, Santha.« Er kam ins Wohnzimmer zurück und setzte das Teetablett auf einen kleinen Tisch neben dem Sofa. »Der Tee ist serviert, gnädige Frau«, sagte er mit manieriert näselndem englischen Akzent. Santha schlürfte genüßlich und seufzte: »Dieser Teil von Boston muß der kälteste Platz auf der ganzen Welt sein«, sagte sie. »Ja, das ist er wohl. Ich wünschte, meine Worte wären eingefroren, bevor ich Kurt meine Zusage für heute abend gab.« Er zerrte an seinem Schlips. »Es ist so unglaublich kalt, daß man gar nicht ausgehen kann. Zu Hause bleiben, du und ich ganz allein an einem gemütlichen Feuer, das wäre die vernünftigste Lösung.« Er blickte sie lächelnd an. »Du bist so schön wie immer.« »Danke schön.«
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»Wie geht es deinem Vater? Fühlt er sich immer noch wohl?« »Ja, ja. Er und Onkel Ram unternehmen eine Menge zusammen. Daddy fängt an, wieder ganz der alte zu sein. Hast du Kurt um diese Zeit erwartet?« George nickte. »Vermutlich ist er gerade auf der Suche nach dem rarsten von allen raren Dingen – einem Beacon-HillParkplatz. Keine Sorge, der taucht schon auf.« »Ich bin nicht besorgt, aber hungrig. Sehr sogar.« Sie nahm ein paar Crackers und den Käse, den er ihr hingestellt hatte. Sie fühlte sich entspannt und erleichtert, sie war nicht allein. Zwölf Minuten nach sechs läutete es. »Es klingelt«, rief Santha George zu, der wieder in die Küche gegangen war. »Laß ihn rein, Santha, sei so gut!« Als sie die Tür öffnete, fuhr Santha ein kalter Luftzug ins Gesicht und durchs Haar. Sie hob die Hände, um ihre Frisur zu retten, und schaute dabei Kurt Leinster an, der sie verzückt ansah. Hochverlegen rief Santha laut: »Kommen Sie doch bitte herein!« Das tat er, und Santha kämpfte mit der Tür. »Ganz schön stürmisch«, sagte Kurt lächelnd. Santha nickte und bot ihm die Hand, die er einen Augenblick lang festhielt. Sie wiederholte verwirrt: »Ja, sehr stürmisch«, und betrachtete dabei seine blauen Augen. Als sie ihn bat abzulegen und seinen Mantel in Empfang nahm, klang ihre Stimme wieder ganz normal. »Nein«, sagte George, der gerade aus der Küche kam, »wir sollten weggehen. Wenn wir hierbleiben, wollen wir nie mehr hinaus. Es tut mir leid, daß ich dir keinen Drink anbiete, Kurt, aber die Wärme hier drinnen lahmt die Aktivität. Sobald wir
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erst mal sitzen, gehen wir nicht mehr hinaus.« »Aktivitätslähmend ist ein gutes Wort.« Kurt wandte sich zu Santha und sagte: »George hat früher immer gute Drinks gemixt. Kann er das noch so gut?« »Ja«, bestätigte Santha, aber sie konnte nur an das denken, was ihr an der Haustür aufgefallen war: sein intensiver Blick. Sie gehörte George, und Santha hätte Kurt das gerne von vornherein klargemacht. Sie lächelte kühl. Da Kurt weit weg geparkt hatte, beschlossen sie, mit Georges Wagen zu fahren. »Wohin, Kurt?« »Wie wär’s mit Grendels Kneipe?« »Grendels Kneipe«, wiederholte Santha und erinnerte sich. »Würdest du lieber irgendwo anders hingehen?« »Nein, George. Ich mach’ schon mit.« Würde wohl wieder so etwas Ähnliches passieren wie damals im Damenwaschraum des Flughafenrestaurants? Santha Wrench zeigte sich nicht von ihrer besten Seite. Je mehr sie versuchte, liebenswürdig zu sein, desto mehr mißlang es ihr. Schließlich gab sie es auf und verfiel in Schweigen. Es ärgerte sie, wieviel Zeit George und Kurt damit verbrachten, sich an ihre alten Harvardzeiten zu erinnern. Natürlich hatten sie ein Recht auf Reminiszenzen, aber deswegen brauchten sie doch nicht so zu tun, als existiere sie überhaupt nicht. Santha wollte beachtet werden. Nie zuvor hatte sie das so dringend gewünscht. Wenn sie es auf andere Art und Weise nicht erreichen konnte, dann schwieg sie eben. So saß sie da, stocherte in ihrem Essen, schaute mit jenem lauten Schweigen, das immer so gut gewirkt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war, zu Boden. Was hast du, Santha? pflegte Daddy in solchen Fällen zu fragen. Er war mal wieder von einem seiner geheimnisvollen Ausflüge zurück, die ihn sowohl in einen anderen Stadtteil von
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Neu-Delhi, wo sie damals lebten, wie auch ins Ausland geführt hatten. Die meiste Zeit, die er sich zu Hause aufhielt, war er mit seiner Frau zusammen und nicht etwa mit ihr! Was ist denn los, Liebes? Er war mit Geschenken für sie beide nach Hause gekommen, aber weder die neuen Puppen noch die neue Schultasche waren ihr genug. Überhaupt keine Spielsachen. Santha, Santha, Liebes, hörst du zu? Und dann verstand Daddy plötzlich, hob sie lächelnd mit seinen großen Händen hoch, setzte sie auf seinen Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: Ich habe dich so vermißt, meine kleine Süße, und streichelte ihr lange über das kunstvoll geflochtene Haar und wollte wissen, ob sie ihn auch vermißt habe, woraufhin sie heftig nickte, und er ihr sagte, wie hübsch sie in ihrem hellblau-weißen Sari und dem blauen Jäckchen aussähe und daß er sie in das Old Delhi Jam House mitnehmen würde, zu den Pferden in Red Fort, zu den Springbrunnen im Connaught Circus oder ins internationale Puppenmuseum in Bahadur Zafar Marg. Dann lächelte Santha schließlich, beruhigt darüber, daß sie nicht vergessen worden war, zufrieden, daß man sie liebte … Auch George blickte sie von Zeit zu Zeit forschend an und, dessen war sie sicher, verstand, warum sie so reagierte. Vielleicht war er sogar pikiert, weil sie sich so benahm. Er reagierte jedenfalls nicht. Aber das war auch einerlei. Dafür tat es Kurt Leinster. »Langweilen wir Sie, Santha? Es ist ruppig von George und mir, all diesen alten Studentenquatsch wieder aufzuwärmen, nicht wahr?« Santha brachte eine freundliche Erwiderung zustande: »Sie haben sich so lange nicht gesehen. Das war zu erwarten.« Verflixt noch mal, George, dachte sie, hör auf, mich anzustarren wie ein Falke seine Beute. Ich bin ja nicht mehr aggres-
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siv. Wirklich nicht. Sie lächelte beiden zu: »Wirklich charmant«, sagte sie. »Was?« erkundigte sich Kurt. »Der Abend«, entgegnete Santha hastig, entsetzt über sich selbst. Sie blickte sich um. »Ich bin doch tatsächlich in Begleitung der beiden bestaussehenden Männer im ganzen Lokal.« Kurt hob das Glas: »Zum Wohle der attraktivsten Frau im ganzen Lokal!« Santha warf George schnell einen Blick zu und sah gleich wieder weg. »Wohin sind Sie denn anschließend gereist, Kurt?« fragte sie. »Nach Europa. Ich war ein halbes Jahr in Paris. Dann in Italien, Schweden, Norwegen, Dänemark und auch in Deutschland. Eine Weile habe ich in Schloß Helsingor gewohnt. Ich wollte etwas von der Hamlet-Atmosphäre mitkriegen. Mein neues Buch hat den Titel Die Hamlet-Urkunden.« »In gewisser Weise ist Kurt ein Renaissancemensch, Santha«, sagte George. »Er beschäftigt sich auch mit Archäologie, nicht wahr, Kurt? Du hast doch ein oder zwei Ausgrabungen mitgemacht. Dann kam die Ölmalerei dran. Ähnlich wie Hieronymus Bosch mit einer sehr eigenen Vorstellung von Himmel und Hölle. Hast du diese Gemälde noch, Kurt? Sie waren wirklich etwas Besonderes.« »So gut waren sie gar nicht, und das weißt du auch, George. George ist überzeugt davon, daß ich allzuleicht von einem Gegenstand zum anderen springen kann.« George wandte sich an Santha: »Das kann er doch auch, oder?« Auch Kurt sprach auf Santha ein: »Meine Gemälde sind wirklich nicht gut, müssen Sie wissen. Ich sage die Wahrheit.« »Vielleicht sind Sie zu bescheiden. Warum lassen Sie nicht andere das beurteilen?«
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»Das habe ich schon getan. Niemand ist durch meine Malerei besonders beeindruckt. In Wahrheit bin ich nur ein Dilettant«, bekannte Kurt, »ruhelos und leicht gelangweilt durch alles, was ich anfange. Ich kann mich nicht nur einer Sache verschreiben.« »Vielleicht haben Sie sich noch nicht selbst gefunden?« meinte Santha. Benommen hörte sie George plötzlich sagen: »Offenbar hast du Santha völlig für dich gewonnen, Kurt. Gewöhnlich hat sie nur wenig Sympathie für Leute, die nicht genau wissen, was sie wollen.« Die Musik hatte sich auf einmal drastisch geändert. Santha hörte jetzt eine Sitar. »Na, das ist aber ein Wechsel!« sagte sie. Dann Tabla-Trommeln und Stimmen, Frauen- und Männerstimmen. Sie sangen im Chor. »Diese Idioten!« »Was hast du denn, Santha?« Sie wich Georges Hand aus, war bereits aufgestanden und ging quer durch das Lokal. Je näher sie der Musikquelle kam, desto deutlicher waren die Worte zu verstehen: Kali Yuga! Kali Yuga! Kunkali, Kunkali! Kali Yuga! Kali Yuga! Kunkali! Kunkali! dröhnte der Gesang immer und immer wieder. »Was soll das heißen?« fragte sie die Lokalbesitzerin, eine langbeinige Blondine. Santha hatte die Frage ziemlich scharf gestellt, und die Frau wich etwas zurück. »Was meinen Sie?« »Die Musik!« Die Frau hielt einen vorbeieilenden Kellner an. »Duane, du hast das aufgelegt. Singen sie es nicht da, wo du immer hingehst?« »Ja«, erwiderte er und wandte sich zu Santha: »Sie sind doch
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aus Indien, oder nicht? Ich sah Sie dort am Tisch sitzen und dachte, Sie mögen das.« »Ich mag es nicht. Bitte, drehen Sie es aus. Ich bestehe darauf!« »Warum?« »Duane!« sagte die Blonde im Befehlston. »Lotte Lenya. Leg die Lotte-Lenya-Platte auf!« »Wissen Sie, was der Text bedeutet?« fragte Santha. »Klar doch«, erwiderte Duane ruhig. »Das Kali Yuga ist eines der Hinduzeitalter. Zuerst war das goldene Zeitalter, und jetzt leben wir im Kali Yuga, dem eisernen Zeitalter, einer dunklen Zeit.« »Und Kunkali? Wissen Sie, was das bedeutet?« »Ja.« »Duane, die Kundin möchte, daß die Platte abgestellt wird.« Die Frau seufzte und ging hinter ein Regal, das mit Topfpflanzen vollgestellt war. Der Gesang brach ab. »Welche Gruppe war das?« fragte Santha bedrückt. »Die Kali-Akali-Gruppe.« »Gehören Sie dazu?« »Ja. Was ist daran schlimm?« »Alles!« rief Santha laut und bemerkte die erstaunten Blicke ringsum. Sie wandte sich um und ging zu ihrem Tisch zurück. Hinter ihr sang Lotte Lenya das Lied von Mackie Messer auf deutsch. »Was war los?« fragte George nach einem Augenblick des Zögerns. »Dieser Krach paßte mir nicht«, grollte Santha. »Sie sangen Lobgesänge auf Kunkali.« »Kunkali?« wiederholte Kurt. »Ich weiß zwar, wer Kali ist. Aber das andere …« »Kunkali heißt die Menschenfresserin. Der schlimmste Aspekt der Göttin Kali, der nur mit dem Begriff des Blutver-
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gießens und der Zerstörung gebraucht wird. Manchmal ist sie als Blutsäuferin dargestellt, die das Blut von Menschen oder von Dämonen schlürft. Ich weiß, es klingt albern, aber dieser blöde Gesang hat mich erschreckt und irritiert. Ausgerechnet hier und heute abend.« »Schämen Sie sich deswegen?« fragte Kurt. »Sie sind doch Halbinderin, oder?« Santha verspannte sich: »Ja, das bin ich.« »Ja, und warum ist Ihnen das unangenehm? Ich selbst bin nie in Indien gewesen, obwohl ich es oft in Erwägung gezogen habe, einmal hinzufahren. Wissen Sie, Rupien und Ananas, Radjas und Reiten in einer Art Sänfte auf einem Elefanten …« Santha lachte: »Touristenmentalität. Ich fürchte, das Indien, was Sie da schildern, finden Sie gar nicht mehr. Unsere Währung basiert mittlerweile auf dem Dezimalsystem. Die Rupie ist nun in hundert Paisa aufgeteilt, obwohl die armen Leute immer noch Kaurischnecken oder Muschelgeld als Währung benutzen. Und was die Radjas angeht, es sind nur noch wenige da. Einige sind im Exil. Andere haben ihren Titel, ihre Ländereien und ihre Paläste verloren. Und Sänften auf Elefanten finden sie vor, die eigens für romantische Touristen so aufgezäumt wurden.« »Aber ist das denn notwendig? Es ist geradeso, als ob man die arabischen Nächte ihres Zaubers entkleidet.« »Wir kommen vom Thema ab«, meinte George, der unbedingt in Erfahrung bringen wollte, warum sich Santha so aufgeregt hatte. »Was mich anbelangt«, sagte Kurt, »so bin ich ein überzeugter Atheist. Götter, Göttinnen oder eine übernatürliche Macht sind für mich nicht existent. Es sind einfach Märchenfiguren. Dennoch respektiere ich selbstverständlich religiöse Überzeugungen anderer. Kalis Name und ihre Bedeutung müssen schon von Kindheit an in Ihrem Bewußtsein schlummern. Sind Sie
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Hindu?« »Nein, ich bin Christin. Angehörige der episkopalischen Kirche, wie mein Vater. Meine Mutter Kamala blieb, oder besser gesagt, sie wandte sich dem Hinduismus wieder zu, trotz der Missionsschule, die sie besucht hatte. Sie hatte eine eigene Interpretation des Hinduismus, könnte man sagen. Sie meditierte gerne, glaubte an ein vorgegebenes Schicksal und konnte insofern das christliche Dogma nicht akzeptieren. Sie glaubte allerdings auch, daß Christus in jungen Jahren nach Indien gereist und ein hervorragender, geistiger Lehrer gewesen war, so etwa wie ein Guru. Sie glaubte auch an Rama Krishna und an die großen indischen Mysterien. Sie fand, daß sie Christus ebenbürtig sind.« »Wie lange haben Sie in Indien gelebt?« erkundigte sich Kurt. »Bis zu meinem elften Lebensjahr. Dann rief Washington meinen Vater in die Staaten zurück. Er arbeitete eine Zeitlang in D.C. und ist nun Repräsentant des FBI in Boston, wohin wir gezogen sind.« »Elf Jahre, diese Zeit genügt, um unauslöschliche Eindrücke in der Seele eines Kindes zu hinterlassen.« »Ich bin Amerikanerin, Kurt.« »Ganz recht … aber Ihre Wurzeln sind drüben. Haben Sie Indien je vermißt?« In dem Augenblick bemerkte Santha, daß George sie beide beobachtete. Sie schüttelte den Kopf und dachte, er ist eifersüchtig, ich spüre es. »Ich hab’ genug von diesem Restaurant«, bekannte sie. »Wollen wir nicht noch woanders hingehen?« »Okay«, stimmte Kurt mit einiger Enttäuschung in der Stimme zu. »Wohin denn?« fragte George. »Irgendwohin. Wie wäre es denn mit dem Blue Parrot?«
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schlug sie vor. Während Kurt die Rechnung zahlte, drückte sie Georges Hand. »Ich liebe dich«, sagte sie leise. »Ich liebe dich auch.« Santha nickte erfreut. Keine Unterhaltung mehr über Indien, sagte sie sich. Ich weiß schon, was ich mache. Ich werde George dazu bringen, über seine Angelegenheiten zu sprechen. George soll die Unterhaltung übernehmen. Ich werde sie sogar wieder in ihrer Erinnerung an ihre Sportclubs schwelgen lassen, Hauptsache, das Thema heißt nicht mehr Indien. George Buchan ging zum Ausgang, Santha folgte, Kurt ging als letzter. Aber dann war die Versuchung, sich umzudrehen und ihn anzuschauen, zu groß für Santha, als daß sie ihr hätte widerstehen können. Sie tat es, und sie sah das Signal: »Ich brauche dich!« wie eine tanzende, heiße Flamme in den blauen Augen.
24 Das Yoga-Center war ein zweistöckiges Gebäude in der Nähe des Kenmore Square mit einem Wandgemälde an der südwestlichen Seite. Gegenüber dem Parkplatz erstrahlte hell ein Lichterbogen in Rosa, Gold und Blau und beleuchtete diese Wandmalerei, die eine andere Welt signalisieren sollte, eine Art von Verzückung. Eine riesengroße Mai Yogini in betörend rosa-blauem Gewand war darauf zu sehen, die ihre Arme einer Schülerschar, die viel kleiner abgebildet war als sie, entgegenstreckte. Sie trugen alle hellblaue, weiß abgesetzte Gewänder. Hinter Mai Yogini ergossen sich goldene Lichtstrahlen. Das gleiche goldene Licht floß aus ihren Handflächen und beleuchtete die aufblickenden Gesichter der junge Leute vor ihr. 337
Durch das leichte Schneegestöber hindurch besah sich Rama Shastri diese Pracht. Er stand da, mit schiefgeneigtem Kopf und zusammengekniffenen Augen. Stephen Wrench und Leutnant Terranova hingegen schauten von dem Gemälde zu Shastri hinüber und wieder zurück zum Gemälde. Dann ging Shastri einfach weiter. Wrench zuckte die Achseln und meinte zu Terranova: »Er hatte heute einen harten Tag.« In der Tat, Shastri war übelgelaunt. Vielleicht hätten er und Steve Bala vom Steakhouse aus auf irgendeine Weise folgen können, dachte er, und vielleicht wären sie Balas Frau wieder begegnet. Möglicherweise hätten sie in dem darauf folgenden Gerangel die Oberhand gewonnen. Aber in Wirklichkeit glaubte er dies nicht ernsthaft. Er, Indiens bekanntester Polizeioffizier, war Mitspieler in einem Kinderschattenspiel auf der Wand. Selbst Chundra Bala zu vernichten wäre wirkungslos, denn für Bala wäre es ein edler Märtyrertod. Nein, Shastri wünschte, daß der Thug vor seinem Tode noch das Schlimmste zu sehen bekäme, das Ende seines Glaubens, seiner Träume, seines Meisters, des Thugismus und …? Ihr eigenes Ende? Mutter Kalis Ende! War Balas Frau deren Verkörperung? Und wenn es so wäre? Wie und wodurch konnte Mutter Kali besiegt werden? Besiegt? Wer oder was auf Erden konnte den Kampf mit Ihr aufnehmen? Wer konnte Sie aus dem Felde schlagen? Nachdem Terranova angerufen hatte, war er kurz darauf, Wrenchs Einladung folgend, in der Pinckney Street erschienen und hatte vorgeschlagen, daß sie alle zusammen zu dem Center gehen sollten. »Dort gibt es vielleicht einen Hinweis auf das, was wir suchen«, hatte der Detektiv vorgeschlagen. »Mai Yoginis Laden zieht jeden östlich orientierten Ausgeflippten unwiderstehlich
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an, und heute abend ist was Besonderes los. Im Radio ist es gerade durchgegeben worden: Nirmal Kapur, der Rockstar, gibt ein Ein-Mann-Konzert mit Gitarre und indischen Instrumenten und einem Synthesizer. Das wird bestimmt einige Leute auf die Beine bringen.« Wrench hatte daraufhin bemerkt, daß er Kapur schon einmal hatte spielen hören und daß er ihn interessant fände. Dann hatten sie Rama Shastri dazu überredet, mit ihnen zu gehen, obwohl er einige Zweifel anmeldete. Als die drei Männer den Parkplatz überquerten, schob sich eine dunkle Wolke hinter das ohnehin herrschende Schneegestöber. Wie Terranova es schon vorausgesagt hatte, kamen die buntgeschecktesten Besucher zuerst. Allen voran die Anhänger von Mai Yogini, dann die Liebhaber von Rockmusik, auch die Fans, die vor allem Kapur meinten, und schließlich die, denen die Musik egal war, die aber gehört hatten, daß Kapurs Guru Hanuman anwesend wäre, was für die Besuchergruppe den besonderen Reiz ausmachte. Ein junger Polizeibeamter ließ seine Frustration an einer Gruppe von Demonstranten aus. »Sie verstopfen hier die Straße. Bitte, sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen!« schnauzte er einen großen, schlanken Mann in Uniformmütze und Regenmantel an. Dieser, Simon Ark, der Anführer der Gruppe, wandte sich von dem jungen Paar ab, mit dem er sich soeben unterhalten hatte. In einer Hand hielt er einen Stapel blaugold eingebundener Bücher, auf denen der Titel Die Wiederkunft des Herrn zu lesen stand. Über die Schulter trug er einen Kassettenrecorder. Eine Stimme auf Band schmetterte eine Botschaft hinaus: »Es gibt nur einen Gott, und das ist Jesus Christus, der Auferstandene. Hütet Euch vor dem Antichrist aus Indien. Mai Yogini ist die Hure von Babylon, wie es die Propheten uns enthüllten.«
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Sahib Khan, der gerade vorbeiging, fragte Elvira Moniz: »Erklär mir mal, was das bedeutet.« »Diese Leute gehören einer christlichen Sekte an«, sagte sie. »Ist ein Christ nicht ein Christ?« »Es gibt verschiedene Gruppierungen. Manche wollen das Dogma nicht wahrhaben. Die werden von den übrigen Christen als Fanatiker angesehen.« »Und die Hure von Babylon?« »Sie ist eine symbolische Hure im Buche der Offenbarung, der christlichen Bibel.« »Aber sie nennen Mai Yogini so«, sagte er lachend, »und an ihrer Hurerei gibt es nichts, was symbolisch wäre, möchte ich wetten.« Akmed und Ayub, die beiden anderen Thugs, lachten gleichfalls. Dann machten sich die drei auf den Weg, um die Straße zu überqueren. Als sie bei der Menge angekommen waren, bemerkte Sahib, daß Elvira fehlte. Er wandte sich um und sah, daß sie mit Simon Ark sprach. Als sie wieder zu ihnen stieß, fragte er: »Was hast du gemacht, Yoni?« »Er gab mir dieses Heftchen«, sagte Elvira und erwiderte gelassen Sahib Khans Blick, »da steht drin, wo sich ihre Kirche befindet und wann sie Gottesdienst haben.« Er runzelte die Stirn. »Willst du etwa dahin?« »Ich will nicht dahin gehen«, versicherte sie ihm. Dann verlor sie kein weiteres Wort mehr darüber, und Sahib Khan betrachtete sie mit wachsendem Mißtrauen. Bei Kalis Gürtel, mußte sie angesichts der heiligen Aufgabe, die heute zu verrichten war, ausgerechnet bei denen rumstehen? Sie versucht zu dominieren, schloß er daraus, und allein ihr Anblick erregte seinen Widerwillen. Die gespannte Olivenhaut über ihren Bakkenknochen, ihre langen, dicken, schwarzen Zöpfe, die sie über den Kragen ihres Regenmantels geworfen hatte, der leichte Schatten von Damenbart auf ihrer Oberlippe, nichts an ihr fand
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Sahib Khan anziehend. Er hatte daheim eine junge Braut zurückgelassen, füllig und mit üppigen Formen. Das war vor Monaten im Staate Assam gewesen. Außerdem hatten diese Yoni, diese Elvira Moniz den Geruch von etwas Ungewaschenem an sich. Ayub griff nach Sahib Khans Burnus und zerrte mit voller Wucht daran: »Rama Shastri! Gerade vor uns!« Sahib Khan blickte in die angegebene Richtung. Bei den glühenden Augen Fatimas, bei Allahs Lieblingsgeistern, bei dem Duft in den Gärten der heiligen Huris, es war tatsächlich Rama Shastri! »Der Swami Hanuman kommt zuerst dran«, unterbrach Elvira. »Der Swami ist für heute als erster bestimmt.« Akmed befeuchtete seine Lippen: »Vielleicht hat uns die Göttin gleich zwei anstatt einen geschickt.« »Oder mehr«, stimmte Ayub zu. »Rama Shastri hat noch zwei andere bei sich.« Während über ihr Lebensende diskutiert wurde, geleitete man Shastri, Wrench und Polizeileutnant Terranova zu ihren Sitzen. Terranova hatte schließlich einem anderen Polizeibeamten gegenüber seinen Status preisgegeben und den Wunsch geäußert, möglichst nahe bei der Bühne plaziert zu werden. Das Ergebnis waren drei Sitze in der vierten Reihe. Die drei Männer saßen da und starrten auf den Altar oben auf der Empore. Darüber war wieder eine Wandmalerei zu sehen, die verkleinerte Ausgabe des Gemäldes an der Außenwand. Shastri hingegen beobachtete die gemischte Gesellschaft, die sich hier versammelt hatte. Sie hatten sich offenbar eingefunden, um sowohl soziale Kontakte zu knüpfen als auch eine spirituelle Lücke zu füllen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Diejenigen, die eher die Rowdytypen verkörperten, riefen sich gegenseitig etwas quer durch den Raum zu. Als die Lichter zu flackern begannen, ließ der Lärm ein we-
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nig nach, ein leises Geraune und schließlich völlige Stille. Aus dem linken Seitenflügel erschien Mai Yogini, und das Publikum hielt den Atem an. Unter ihrer blau-rosa Seidenrobe war ihr Körper deutlich abgezeichnet. Sie stand vor dem Mikrofon und hob die Arme. Shastri blickte um sich. Alle erwarteten eifrig, was sie zu sagen habe. Sowohl Männer als auch Frauen. Er schloß die Augen, um das Geheimnis ihrer Wirkung, losgelöst von ihrem Anblick, besser ergründen zu können. Aber dann mußte er doch wieder hinsehen. Denn das Geheimnis lag einzig und allein in ihrer Erscheinung. Der Anblick dieser Frau erinnerte Shastri an die weichen, gerundeten, feuchten, kuscheligen Stellen des weiblichen Körpers. Mai Yoginis Macht ging von ihrer sexuellen Anziehungskraft aus. Ihre Stimme kam durchs Mikrofon: »Seid gegrüßt!« begann Mai Yogini in ihrer überaus gepflegten Sprechweise. »Dies ist ein besonderer Anlaß. Nirmal Kapur, der Komponist und Musiker, hat sich bereit erklärt, heute bei uns, hier im Center, aufzutreten. Da wir ihm ausschließlich unsere Zeit zur Verfügung stellen möchten, wird unsere übliche Lesung wegfallen und nur eine kurze Meditation stattfinden.« Sie machte ein Pause und fuhr dann beiläufig fort: »Und, o ja, bevor wir anfangen, laßt mich noch bekanntgeben, daß wir einen sehr willkommenen, hochangesehenen Gast hier haben: den Swami Hanuman.« Das Spotlight schwenkte von ihr weg und hin zur zweiten Stuhlreihe. Ein kleiner Inder im blauen Turban saß im Lichtstrahl gefangen. Sein Gesicht war ausdruckslos »Hanuman«, wiederholte Shastri leise. »Wer ist das, Ram?« fragte Stephen Wrench. »Hanuman«, sagte Shastri abermals, »Swami Hanuman ist hier.« Noch bevor Shastri Erklärungen abgeben konnte, ging Mai
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Yogini zu einer blumengeschmückten Bühne hinüber und setzte sich auf ein dort liegendes Kissen, was bedeutete, daß nun die Meditation zu beginnen habe. Es wurde still im Saal. Alle Augen schlossen sich. Die Meditierenden nahmen den Ausdruck der Verzückung an. Spannungen in den Gesichtern lösten sich. Dan Terranova dachte, während er mit geschlossenen Augen in dieser schummrigen Atmosphäre versank, wie wunderschön diese Mai Yogini doch sei. Er konnte sich auch jetzt noch ihre Ohrringe, die im Licht der Scheinwerfer blitzten, und ihre dunklen, glänzenden Augen vorstellen. Die dunkle Umrandung darum verhieß verwirrende Nächte, dahingleitende Stunden in einem tiefen See. Shastri fühlte sich durch die Erscheinung Hanumans in einen Bann gezogen wie durch die Kristallkugel eines Hypnotiseurs. Nachdem die Lichter ausgegangen waren, war es ihm nicht möglich, den zierlichen Swami weiterhin ins Auge zu fassen, aber er starrte doch in die Richtung und dachte nach. Wieder war das Gesetz der Vorsehung gegenwärtig, das den Lauf der Sterne lenkte und das Schicksal gestaltete. So, wie die Existenz des absolut Bösen in der Verkörperung von Kali gegenwärtig war, mußte in diesem Mysterium, das man Leben nannte, doch auch das Gegenteil zu finden sein. Shastri hatte vor langer Zeit, in Indien schon, von diesem Mann gehört, der sich selbst Hanuman nannte. Dann sah er, wie sich eine Silhouette erhob und den Sitzplatz am Durchgang verließ. Hanuman war auf dem Weg zu dem rückwärtigen Teil des Saales. Shastri flüsterte Wrench zu: »Ich komme gleich wieder«, hörte jedoch nur die Andeutung eines sanften Schnarchens. Shastri lächelte, beschloß, den Freund nicht aufzuwecken, und erhob sich gleichfalls, um über die Füße der Meditierenden hinweg zum Gang hinauszustreben. Im rückwärtigen Saal, stellte Shastri fest, gab es nur noch
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Stehplätze. Ein Gebäudeflügel, der direkt anschloß, stand offen. Da standen die, die schon zufrieden waren, die Atmosphäre in sich aufsaugen zu dürfen, ohne die Bühne zu sehen. Die meisten dieser Leute waren Musikliebhaber. Sie lehnten an der Wand oder hockten auf dem Boden und erwarteten die ersten Akkorde von Nirmals Musik. Erwartungsvoll flüsternd sahen sie, wie der Zeitpunkt näher und näher rückte. Shastri sah Hanuman zwischen ihnen gehen und einem Korridor bis an sein Ende folgen. Dann bog der Swami in einen Seitenflur ein und war verschwunden. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, drückte sich Shastri gegen den Wall von Körpern und betrat kurz darauf den Korridor. Im Hintergrund stand Elvira Moniz, beobachtete ihn und folgte ihm. Dort, wo der Korridor um die Ecke bog, wäre sie fast mit einem Polizisten zusammengestoßen. Sie drehte sich auf dem Absatz herum und tat so, als sei sie auf der Suche nach der Toilette. Doch sie ging an der Tür vorbei und zu den Garderoben hinüber. Sahib Khan amüsierte sich über ihr Zögern. Er, Ayub und Akmed waren kaltblütig an dem Polizeibeamten vorbeigegangen und blieben jetzt auf Rama Shastris Spur. Beunruhigt und gleichzeitig gelangweilt, beobachtete Mai Yoginis Chauffeur Yogini aus der Kulisse. Dann ging er auf den Parkplatz hinaus, um zu rauchen. Dort, das Gesicht in den Sprühregen gehoben, stand er fast zehn Minuten lang. Er machte den Eindruck eines Verschmachtenden, der nichts dringlicher braucht als Wasser. Der Anblick von Yogini auf der Bühne war eine Qual für ihn gewesen und verfolgte ihn. Er konnte nicht begreifen, warum Nirmal fähig gewesen war, sie zu vergessen. Gerade war er mit triefender Chauffeursmütze wieder ins Haus gegangen, als er Elvira Moniz sah, die den Ankleideraum Yoginis betreten wollte. »Es tut mir leid«, sagte er knapp, aber bestimmt, »dort hat
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niemand Zutritt.« Lächelnd erwiderte Elvira: »Oh, ich wollte auch nur zur Toilette.« Fredrico nahm die Einladung, die in ihrem Blick lag, wohl wahr, doch er achtete nicht darauf, sondern zeigte ihr die Richtung zu den Toiletten. Innerlich von dem Feuer brennend, das Gauri Bala im Wohnsitz mit ihr teilte, zögerte Elvira noch, in die angegebene Richtung zu gehen. Ihre Hände waren hart und heiß und vor Erregung und innerer Kraft geschwollen. Fredrico wandte den Kopf. Elviras Hände hoben sich. Die Schlinge zischte und griff. In dem Augenblick, in dem Fredrico starb, hatte Rama Shastri fast den Treppenschacht erreicht. Die Treppen führten ins Kellergeschoß hinunter, und jetzt beschäftigte Shastri die Frage, warum Hanuman ausgerechnet da hinuntergegangen war. Er zögerte nicht lange und stieg gleichfalls hinab. Vor der Kellertür blieb er stehen und spähte durch das dicke Glasfenster, wobei er ein Durcheinander von Schatten erkennen konnte. Er drückte auf die Klinke. Die Tür öffnete sich. Er ging in den dunklen, betonierten Kellerraum. Die Tür schwang hinter ihm zu. Durch die Kellerdecke drangen das Dröhnen der Trommeln und der Klang der elektrischen Gitarre. Der Raum war stickig, heiß und feucht. Unendlich viele Leitungen liefen hindurch. An der linken Wand blubberte ein Boiler. Das triste Interieur war durch eine einzige Birne erhellt. Im Vorbeigehen erkannte Shastri die Umrisse einer Stehleiter. Die Atmosphäre in diesem Keller war zum Zerreißen gespannt und wie elektrisch geladen. Etwas traf ihn mit voller Wucht in die Rippen und schlug ihm ins Gesicht. Den Bruchteil eines Atemzuges bedeckte seidenes Gewebe seine Kehle. Er war seitlich auf die Schulter gefallen. Nun zog er die Walther 32 aus dem Hosenbund und feuerte.
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Das Geräusch hallte von den Wänden wider und knallte gegen sein Trommelfell. Dennoch konnte er ein tiefes Stöhnen hören und sah Ayub im Feuerstoß der Pistole zu Boden sinken. Shastri erhob sich. Jetzt erst erkannte er, daß er im Flur draußen auf Schritt und Tritt verfolgt worden war. Er hatte das katzenpfotige Schleichen des Mannes jedoch nicht einen Augenblick lang gehört. Seine Nackenhaare sträubten sich. Offensichtlich hatten ihm die Fußtritte eines anderen Bewegungsfreiheit verschafft, und zwar in dem Augenblick, in dem der jetzt tot auf dem Boden liegende Thug die Schlinge geworfen hatte. Gottlob hatte er das Streifen des Seidengewebes über seiner Wange gespürt und noch Zeit gehabt zu feuern. Nun war der zweite Angreifer, der Handlanger, der zweifellos dem Würger als Hilfskraft zur Verfügung gestanden hatte, auf sehr merkwürdige Art und Weise festgehalten. Shastri sah Hanuman, der seitlich an der Leiter hing. Seine kurzen Beine hatte er etwa einen Meter über dem Boden ausgestreckt und um die Kehle des Handlangers geschlungen. Enger und enger quetschte Hanuman den Hals des Mannes zwischen seinen dünnen Beinen, und der Thug trommelte wie wild auf Hanumans Waden und Schenkel. Aber die Kraft und die Balance des Swami waren unerschütterlich. Ein- oder zweimal wackelte die Leiter gefährlich, um sich sofort wieder in die Grundstellung zurückzuschaukeln. Rama Shastri sah, wie Akmeds Arme seitlich schlaff herunterfielen. Als Hanuman ihn schließlich losließ, brach der Thug bewußtlos zusammen. Sahib Khan schnellte aus der Dunkelheit hervor, beugte sich zuerst zu dem toten Ayub hinab und richtete sich sofort wieder auf, um Shastri anzugreifen. Wieder feuerte die Walther, verfehlte jedoch ihr Ziel. Tränen strömten über das Gesicht des Thugs, als er erkannte, daß seine beiden Brüder tot waren. Er nahm seinen ganzen Mut
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zusammen, um zwischen Rama Shastri und Hanuman hindurchzuflitzen und den Toten die Seidenschlingen aus den Händen zu ziehen. Dann raste er wie der Blitz zur Kellertür. Zement spritzte, als das Geschoß an der Wand abprallte. Shastri fluchte über die schlechte Beleuchtung. Die Tür schlug zurück, und als er hinterherlief, fand er draußen den Kellergang leer. Als er zurückkam, sah er Hanuman auf einer Leitersprosse sitzend. Zu seinen Füßen erbrach sich Akmed. »Ich danke Ihnen«, sagte Shastri unvermittelt. »Ich wollte nicht, daß Sie der Schlinge zum Opfer fallen, die heute abend für mich bestimmt war«, entgegnete Hanuman. Keuchend vom schnellen Lauf entlang der drei Straßen, bis zum vereinbarten Treffpunkt, stand Sahib Khan an der Straßenecke und wartete. Tränen der Wut und des Schmerzes behinderten seine Sicht. Schließlich entdeckte er Elvira Moniz. Ihre schwarzen Zöpfe flogen, als sie herbeigerannt kam. Als sie die Mordlust in seinem glühenden Blick sah, verlangsamte sie ihr Tempo und hielt sich in gebührender Entfernung. »Sie sind tot, meine Thug-Brüder«, keuchte er. »Tot? Ayub? Akmed?« »Niemand anderes, du Stinktier, du Schweinedreck«, erwiderte er auf parsisch. »Es tut mir leid«, antwortete Elvira, »ich kann dich nicht verstehen. Sprich bitte Ramasi!« »Wo hast du gesteckt?« schnauzte Sahib Khan. Die Schlinge tanzte zwischen seinen Fingern. Elvira wich noch weiter zurück. »Ich habe jemanden getötet. Den Chauffeur von Mai Yogini.« »Den Chauffeur, du irrsinnige Hure! Die Yogini ist eine von uns.« »Aber er nicht.« Wieder auf parsisch: »Du stinkende Schweinepisse. Der Gestank dringt dir aus jeder Pore.«
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»Wer hat Ayub und Akmed umgebracht?« »Rama Shastri und der Affe, beide«, sagte Sahib Khan. »Wie?« »Der eine mit einer Kugel. Der Affe hat seine Beine benutzt.« »Seine Beine? Wie denn das?« »Das war weder Kismet noch Karma!« schrie er. »Allah würde sie beschützt haben, wenn du dagewesen wärst.« Elvira geriet plötzlich in Wut: »Ich habe gut getötet. Die Göttin hat diese Hände verwandelt und mir eine Kraft verliehen, die selbst du noch nicht erfahren hast. Ich sage dir, Kali ist erfreut. Ihr Hunger ist gestillt. Und nun laß uns gehen.« Gehen, dachte Sahib Khan. Wären wir doch nie in dieses verfluchte Land gekommen, wo auch Frauen die Schlinge werfen dürfen. Wäre dieser fremde Anführer doch niemals aufgetaucht. »Es war Kalis Wille«, beharrte Elvira. Vielleicht, dachte der Thug, aber ich werde unserem Herrn und Meister was erzählen, und falls du nicht recht hast, du verdammte Kreatur, dann wird der Hunger Mutter Kalis vielleicht nochmals gestillt werden.
25 »Während ich inmitten der heißen Asche sitze, mitten im Schwefelgestank des Bösen vom vergangenen Tage, träumt mir, meine Liebste sei eine Hexe. Aus ihr züngelten die Flammen und wir liebten uns, zuckten und wanden uns auf ewigem Magma wie die schwarzen, nackten Teufel bei ihrem Höhlenspiel.« Santha ließ das Buch auf die Steppdecke sinken. 348
Nein, also dieses Gedicht beeindruckte sie nicht. Leinster ist kein wirklicher Dichter, fand sie. Sein ständiges Dauerthema »Feuer« in seinen Gedichten … wieso eigentlich? Der kleine Band war betitelt: Zwölf Illusionen. Nicht besonders einfallsreich, aber Kurt hatte das Buch aus seinem Handschuhfach genommen und mit folgender Widmung versehen: »Für Santha Wrench, die dreizehnte Illusion.« Was sollte das nun wieder heißen? Santha legte das Buch auf ihren Nachttisch und kuschelte sich wieder unter die Decke. Draußen prasselte der sturmgepeitschte Regen gegen die Scheiben. George Buchan, sagte sie sich, war der einzig Richtige. Er konnte wirklich zeichnen und malen, war eine echte Begabung, besaß Formgefühl und beherrschte die erforderlichen Techniken. Leinster war ein Blender, der lächerliche, sensationslüsterne Phantasien zu Papier brachte, keine wirklichen Gedichte. Sie überlegte, was denn eigentlich so Besonderes an ihm war. Kurt war kein Renaissancemensch, wie George glaubte. Er war nur einer unter vielen herumpfuschenden Dilettanten, der sich in diesem Augenblick für Musik begeisterte, in jenem vielleicht für Lyrik oder für Archäologie, dann für Ölmalerei, Romanschriftstellerei usw., usw. Alles Pfuscherei. Nichts ist wirklich fundiert. Nichts, was überzeugend wirkte, nichts von Bestand. Dennoch hatte sie das Buch natürlich nicht zurückweisen können. Später, als sie mit George allein war, hatte sie gesagt: »Weißt du, einiges an Kurt scheint nicht ganz echt zu sein.« Er hatte nichts darauf erwidert, doch sie spürte, daß er über diese Bemerkung erfreut war, und das war kein Wunder. Kurt hatte seine Begeisterung für sie zu unverhohlen gezeigt. George hatte sie gefragt, ob sie nicht bei ihm bleiben wolle. Aber Santha hatte verneint. »Mir wäre es lieber, du bliebest, Liebling. Ich mache mir
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Sorgen, wenn du allein bist.« Doch sie hatte darauf bestanden, daß er sie zur Lime Street brachte. Sie parkten vor ihrem Haus, und er sagte wieder: »Santha, ich lass’ dich gar nicht gern allein. Ich mache mir Sorgen.« »Mit mir ist alles in Ordnung«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, »ich habe mir gedacht … bitte, George, ruf doch morgen diese Therapeutin an. Mach für mich sobald wie möglich einen Termin aus.« Das hatte gewirkt. Er war überzeugt, daß es ihr jetzt ernst damit war. Aber war es das auch? Santha war sich selbst nicht sicher. Sie wußte nur, daß sie Angst davor hatte, in seiner Wohnung zu bleiben. Für den Fall, daß sie wieder einen dieser Anfälle bekam, hätte sie den Ausdruck von Entsetzen und Widerwillen in seinem Gesicht nicht ein zweites Mal ertragen können. Hatte sie wirklich die Wahrheit gesagt, was die Therapeutin betraf? Santha streckte die Hand aus, um die Leselampe auszuknipsen. Sie war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken. Das Telefon läutete. Sie seufzte. Das muß Daddy sein, der sich wundert, warum ich ihm heute die Rolle nicht zurückgebracht habe. »Hallo?« »Santha, hier spricht Kurt Leinster.« »Kurt?« wiederholte sie und fuhr ärgerlich fort: »Woher haben Sie meine Telefonnummer?« »Sie steht im Telefonbuch.« »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Wenn meine Armbanduhr richtig geht, ist es jetzt drei Minuten vor halb zwölf.« »Hören Sie zu, ich kann mich jetzt nicht unterhalten. Morgen muß ich um neun Uhr im Büro sein.« »Es tut mir leid, daß ich Sie störe. Ich hätte nur gerne ge-
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wußt, ob Sie schon in mein Buch geschaut haben.« »Ein bißchen habe ich drin gelesen. Aber es ist nicht die Zeit, um sich darüber zu unterhalten. Jetzt –« »Santha, ich muß Ihnen etwas sagen. Bitte, lassen Sie es mich sagen.« »Gut, sagen Sie es, aber danach hänge ich sofort auf.« »Ich habe mich nie wohler gefühlt.« »Fein. Das freut mich für Sie. Also gute Nacht jetzt.« »Santha, ich finde, Sie sind die schönste und interessanteste Frau, der ich jemals begegnet bin.« »Kurt, also spätestens hier müssen Sie bitte aufhören. Sagen Sie nichts weiter.« »Ich mußte es sagen. Das ist alles.« »Also gut. Ich lege jetzt auf, Kurt.« »Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.« »Vielleicht irgendwann. Gute Nacht, Kurt.« Santha legte den Hörer auf. Sie lag im Dunkeln und dachte nach. Dieser Kerl! Um diese Zeit anzurufen! Sie hatte von Anfang an gewußt, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Warum war George solchen Typen gegenüber so nachsichtig? Aber vielleicht sind Psychiater an allerhand gewöhnt. Dennoch mußte sie über das Gedicht nachdenken, das sie soeben gelesen hatte. Das Böse des vergangenen Tages … Ob Luzifer auch so von dem Gedanken an das verlorene Feuer besessen war? Ihre Gedanken verwirrten sich. Seltsame Bilder tauchten auf. Sie schlief schnell ein. Wieder schreckte ein Klingeln Santha hoch. Zuerst griff sie nach dem Telefonhörer, aber dann merkte sie, daß es diesmal die Wohnungsklingel war, die läutete. Sie erhob sich, zog ihren Morgenrock über, verließ das Schlafzimmer und knipste das Flurlicht an. Sie ging durchs dunkle Wohnzimmer ans Fenster und schaute auf die Straße. Unten standen Rama Shastri und
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ihr Vater. Santha drückte auf den Türöffner und ließ sie herein. Sie hatte die Tischlampe angeknipst und betrachtete nun die beiden. Sie sahen übermüdet und abgekämpft aus. Keiner von beiden sprach. Besorgt fragte Santha: »Was ist denn los, Daddy?« Keiner der beiden setzte sich. »Die Rolle«, sagte Wrench, »hast du sie mitgebracht?« Einen kurzen Moment lang war sie versucht, die Wahrheit zu sagen, besann sich jedoch. »Ich habe sie vergessen, Daddy. Es tut mir leid. Total vergessen. Es war so stürmisch heute, daß ich nur daran dachte, heil nach Hause zu kommen.« Sie lächelte. »Möchtet ihr eine Tasse Tee?« »Nein danke. Es ist zu spät, um zu bleiben, Santha. Ich muß diese Rolle bis morgen abend haben. Es ist dringend. Ich kann dir nicht klarmachen, wie dringend.« »Was ist denn passiert?« »Wir hatten beide einen harten Tag«, stellte Shastri fest. Er hatte die ganze Zeit geschwiegen, nur damit beschäftigt, von der Kälte aufzutauen. Doch jetzt war wieder Leben in ihn gekommen. »Zuerst hatten wir die Absicht, dir so wenig wie möglich von unseren Unternehmungen in letzter Zeit zu berichten, aber dann haben wir uns doch anders entschieden. Und zwar seit heute abend.« »Dann ist etwas passiert. Etwas ganz Schlimmes, nicht wahr?« Wrench nickte. »Wir gingen zu einem Konzert. Ich hörte wieder einmal Nirmal Kapur. Er war in Mai Yoginis YogaCenter aufgetreten. Hast du jemals etwas davon gehört?« »Ja. Erinnerst du dich nicht mehr, wie empört Mutter war, als sie etwas darüber las? Sie sagte, diese Mai Yogini müsse nach Indien ausgewiesen werden, weil sie solchen Blödsinn unter die Leute brächte.«
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Wrench hörte gar nicht zu. »Da wurde heute abend ein Mann umgebracht. Erwürgt, Santha. Mit einer Thug-Schlinge.« »Erwürgt? Warum?« »Das wissen wir nicht. Aber wir wissen, daß die Thugs dahinterstecken.« »Was bedeutet, daß wir hier in Amerika Thugismus haben«, fügte Shastri hinzu. Wrench räusperte sich: »Ram mußte ebenfalls einen Mann töten, einen Inder, einen Thug. Es ist schlimm genug, Santha. Die Polizei weiß, daß Ram es getan hat. Er hat meinen Revolver benutzt. Er hat zwar in Notwehr gehandelt, aber dennoch muß ich alle meine Verbindungen spielen lassen, um ihn da herauszupauken. Mein Freund Dan Terranova von der Bostoner Polizei deckt Ram für den Augenblick. Leider wird das nicht lange vorhalten.« »Aber du kannst doch nicht zulassen, daß Onkel Ram ausgewiesen wird, Daddy!« Shastri fiel ihr ins Wort: »Unser erster Gedanke galt deiner Sicherheit, Santha. Die Rolle, die ich deinem Vater geschickt habe, enthält etwas, was die Thugs haben wollen. Dieses Fragment ist ihnen so kostbar, daß wir uns darüber einig sind, daß wir es nicht in deiner Nähe belassen können. Diese Fanatiker werden wahrscheinlich nichts unversucht lassen, um es wiederzukriegen.« Santha befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze. »Du meinst, sie wollen über mich an dich kommen? Wie vorsichtig gehst du selbst denn dabei vor, Daddy? Die haben doch schon mal versucht, Onkel Ram umzubringen.« »Mach dir keine Sorge um mich, Santha.« »Das ist eine dumme Bemerkung, Daddy.« Wrench antwortete nicht. »Du bist bitte auch vorsichtig, ja? Bitte!« »Ja, ja, das werde ich, Santha. Ich … Santha, da ist noch et-
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was.« Santha wartete. Sie wartete so lange, daß sie schon dachte, er hätte es sich anders überlegt und würde niemals aussprechen, was er eigentlich sagen wollte. »Was hältst du von außersinnlichen Wahrnehmungen?« fragte er plötzlich. »Ich meine, glaubst du, daß es so etwas gibt? Was hältst du zum Beispiel von Christus? Ist er von den Toten auferstanden? Du gehörst der episkopalischen Kirche an, wie ich, Santha. Unsere Kirche glaubt an die Auferstehung. Du mußt doch auch schon darüber nachgedacht haben.« »Eine ganze Weile überhaupt nicht. Aber Mutter und ich haben uns oft darüber unterhalten. Sie glaubte daran. Sie sagte, es gäbe indische Heilige, die gleichfalls auferstanden wären.« »Ich bin froh, daß ihr darüber gesprochen habt, Santha. Im Laufe der Jahre hat sich deine Mutter in eine völlig eigene Richtung entwickelt. Das Resultat war nicht ganz Christentum, aber auch nicht ganz Hinduismus oder Buddhismus, sondern ein Glaubensbekenntnis, das von allen drei Religionen etwas enthielt.« Er griff nach seiner Pfeife und zog sie aus der Tasche. »Deine Mutter hatte ein feines Gefühl für diese Dinge. Ich erinnere mich an Vorfälle … Wie damals, als ich in Pakistan angeschossen wurde. Du warst damals noch zu klein, um dich daran erinnern zu können. Im gleichen Moment fiel deine Mutter in Ohnmacht. Sie war im Haus deines Großvaters in Delhi. Es wurde gerade eine Gartenparty gefeiert. Infolgedessen gab es viele Zeugen für diesen Vorfall. Als sie wieder zu sich kam, sagte sie, daß ich verwundet worden wäre.« »Sie hat von solchen Gaben nie gesprochen, Daddy.« »Vielleicht hast du das geerbt. Erzähle mir«, drängte er, »hast du in letzter Zeit irgend etwas gespürt? Die Gegenwart von etwas Bösem oder etwas Gutem? Warum hast du das gerade jetzt gemacht?«
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»Was gemacht?« »So nervös an deinem Ausschnitt gezerrt.« Santha warf Shastri einen bittenden Blick zu, aber auch er sah sie an. »Völlig ohne Grund …« Sie machte eine Handbewegung hinüber zu dem dunklen Raum. »Macht nur so weiter, und ich fange an, unter meinem Bett nach Einbrechern zu suchen.« »Das ist kein Scherz, Santha.« »Ich weiß, Daddy. Sei nicht gleich ärgerlich.« »Du weißt nichts. Da gibt es etwas, was absolut merkwürdig ist. Ich hab’s gesehen.« »Ist es etwas Böses – was du sahst?« Wrench biß auf seinem Pfeifenstiel herum, nahm dann die Pfeife aus dem Mund und sah sie stirnrunzelnd an. Schließlich sagte er: »Ja, es ist böse, es ist ganz schlimm. Verdammt, es ist etwas, was uns über den Kopf wächst, Santha, über Rams und meinen Kopf. Wenn du also nur das Leiseste merkst, die Gegenwart einer übernatürlichen Kraft, bitte, laß es uns gleich wissen. Verstehst du mich?« »Ich glaube doch. Ja, das werde ich tun.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Du gehst jetzt besser wieder ins Bett, mein Liebes, und vergiß bitte die Rolle morgen nicht.« Wieder allein, fühlte Santha, wie an ihrem Willen gezerrt wurde. Sie dachte daran, daß sie schon entschlossen gewesen war, ihrem Vater und Shastri zu sagen, was passiert war, aber plötzlich war sie wie taub und stumm gewesen, unfähig zu sprechen. Ich werde beobachtet, dachte sie, und zwar von Anfang dieser schrecklichen Geschehnisse an, und bis das nicht geklärt ist, bin ich verdammt, zu schweigen … Als ob es eine Antwort sei, nahm die Sturmstärke draußen
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ständig zu, so heftig, als stünde eine Explosion bevor. Da ist etwas, dachte sie und kletterte wieder ins Bett; stellte es ihr nach? Ich werde es George sagen, beruhigte sie sich, ich sage es ihm, und bitte, laß diesen Sturm aufhören! Sie preßte die Fäuste gegen ihren Magen. Wenn ich es Daddy nicht sagen kann, dann kann ich es wenigstens George sagen, verdammt noch mal. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Bald darauf war sie eingeschlafen.
26 Chundra Bala schritt den zinnoberroten Teppich entlang. Er konnte den Erwählten oben auf dem Podium wüten hören und überlegte, warum wohl. Tiefgebeugt standen Sahib Khan und Elvira Moniz vor dem Thronsessel, Gauri und die übrigen Mitglieder der Bruderschaft schauten zu. »Allah hat uns im Stich gelassen!« wimmerte Sahib Khan. Der Auserwählte brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen und starrte Gauri an. »Die Rolle muß wieder ganz sein«, sagte Gauri, »wir müssen das Stück wiederhaben, das Rama Shastri abgerissen hat. Mutter Kali hat das Versteck entdeckt. Wir müssen unseren Teil dazu beitragen und es finden.« Der Erwählte hatte zugehört und sagte mit Nachdruck: »Du, Sahib Khan, und du, Yoni, ihr habt versagt, und es war euer Wille und nicht der unserer Mutter Kali, daß es so gekommen ist.« Elvira Moniz fiel auf die Knie und beugte die Stirn auf den Boden: »O mein Herr, ich bin unwürdig.« »Dumme Heuchlerin! Unwürdig!« Der Erwählte erhob sich 356
und spie ihr auf den Kopf. »Wo ist dein Stolz, Tochter der Kunkali? Wieder muß ich dich anspucken. Ich werde so lange vor dir ausspucken, bis du dich als stolze Beherrscherin der Schlinge fühlst. Weder ich noch meine Mutter wollen etwas von der christlich gefärbten Demut hören. Damit wollen wir nichts zu tun haben. Oder ist dir das immer noch nicht klar?« »Ich habe heute abend getötet«, entgegnete Elvira bedrückt. »Ja, du hast getötet, aber nicht den Teufel, den du töten solltest, und nicht den affengesichtigen Swami, der versucht, Kalis Ziele zu vereiteln. O nein, statt dessen hast du Mai Yoginis Chauffeur beseitigt. Warum? Antworte!« Elvira blickte zu ihm auf: »Er war gerade da, o Herr. Meine Hände wurden stark. Feuer pulsierte durch meine Finger, und ich wurde geleitet. Ich sollte diesen Mann, diesen Fredrico, töten, o Herr.« Der Erwählte schwieg. »Du wurdest geleitet«, wiederholte er schließlich. »Deine Hände schwollen, wurden heiß? Ungestüm und heiß? Forderten sie, daß du die Schlinge wirfst?« »O Herr, du kannst mein Leben nehmen, wenn ich lüge.« Der Erwählte schritt auf und ab: »Erhebe dich, Yoni!« kommandierte er schließlich etwas freundlicher. Er wandte sich Duane Longstreet zu: »Geh jetzt zu Mai Yoginis Yoga-Center. Erkläre ihr, daß Yoni angewiesen war, Fredrico zu töten. Falls sie protestiert, sage ihr, daß es eben so gewesen ist. Wenn sie weiter protestiert, sage ihr, ich habe der Mutter versprochen, daß ich ihr den Verlust ersetzen werde. Es war Bestimmung, daß Fredrico sterben mußte. Aber nur, weil auf irgendeine verfluchte Weise eine andere Bestimmung vom Kurs abgewichen war. Sage ihr, ich werde ihren Wohlstand mehren, und sage ihr auch, sie bekäme von mir mehr Befugnisse innerhalb der Organisation.« Er lächelte dünn: »Gewalt über Yoni, falls Yogini es wünscht. Ich will ihr alles zugestehen, außer ihrer persönli-
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chen Freiheit. Laß sie auch das wissen. Geh jetzt, und, o ja, du mußt vorübergehend Fredricos Aufgabe übernehmen.« Duane Longstreet eilte davon. Plötzlich hörte Chundra ein Stöhnen. Gauri war sehr blaß geworden und einer Ohnmacht nahe, wie er feststellte. »O Herr«, flehte er, »meine Frau!« »Setz dich«, sagte der Erwählte freundlich zu Gauri und klatschte in die Hände. Eine der Frauen aus dem Wohnsitz des Erwählten erschien. »Bring der Mutter Wein, schnell!« Nun wandte sich der Erwählte Sahib Khan zu. »Nun?« grollte er. »Auch ich biete dir mein Leben, o unser aller Fürst.« »Sprich in Ramasi.« »Nimm mein Leben, o ruhmvolle Saat Fatimas!« Der Erwählte lachte. Es klang nicht eben freundlich. »Hört, ihr Brüder, ist euch jemals eine geschicktere Zunge begegnet? Alles Schmeichelei! Unser aller Fürst. Fatimas ruhmreiche Saat. Ich sollte dich mit einem Schweinedarm erwürgen, Sahib Khan.« Der Moslem wurde rot vor Zorn. »Sich vorzustellen, daß auch Rama Shastri da war.« »Der auch?« unterbrach Chundra Bala. »Rama Shastri schoß und tötete Ayub. Stimmt das, Sahib Khan?« »Herr, ich erzähle keine Lügen. Sieh hier, Ayubs Blut auf meinem Ärmel.« »Und was geschah mit Akmed?« »Hanuman würgte ihn mit seinen Beinen.« »Hör dir das an, Chundra! Mit seinen kleinen Beinchen hat dieser Hanuman unseren Akmed gewürgt! Hast du schon jemals so was gehört? Muß das nicht jeden Thug beschämen? In der Tat, dieser Hanuman hat eine bessere und tödlichere
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Schlinge entdeckt – seine kleinen Beine. Müssen wir uns nicht alle schämen, meine Brüder?« Die Anwesenden murmelten empört. Der Erwählte erhob sich, spreizte seine langen Beine über dem vor ihm hockenden Sahib Khan und schloß die Knie so weit, bis sie sich der Kehle des Thugs näherten. »Bei Kalis Gürtel. Ich möchte diese neue Technik des Swami ausprobieren!« Eine Weile blieb er in dieser Haltung stehen und wandte sich dann plötzlich ab. Sahib Khan schluckte und wagte dann, etwas zu sagen: »Wenn die Frau nicht weggegangen wäre, vielleicht … Sie hatte eine Schlinge. Vielleicht hätten wir dann Erfolg gehabt.« »Aha, und wer kontrollierte Yoni? Wer war für heute abend ihr Guru?« »Ich.« »Ich kann Yoni kontrollieren, Sahib. Warum kannst du das nicht?« »Weil sie dich respektiert und dir gehorcht, o Herr. Es ist nicht das gleiche, wenn ich ihr einen Befehl gebe.« Der Erwählte tat einen Sprung und ging Sahib Khan an die Kehle. Das Gesicht des Thugs wurde hochrot. Seine Augen traten aus den Höhlen. Der Erwählte ließ ihn los und warf ihn vom Podest herunter. Sahib Khan rollte auf den Boden und rang verzweifelt nach Luft. »Dann fordere Yonis Respekt, bei Gott, oder ich werde dir das nächste Mal auf die schlimmste Art und Weise, die sich vorstellen läßt, wirklich das Leben nehmen«, fuhr er in Ramasi fort, weil nur die Mitglieder der Bruderschaft es verstehen sollten. »Es ist des großen Namens, den du trägst, und der Heiligkeit deiner Vorfahren wegen, daß ich dich diesmal noch verschone, Sahib Khan; denn für das, was heute abend geschah, bist hauptsächlich du verantwortlich. Ja, zwei unserer Feinde
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hätten heute abend sterben können, und diese unruhigen Zeiten wären vorbei gewesen. Versage noch einmal – ich warne dich! Dann nimm dir lieber selbst das Leben, bevor ich dir deine Männlichkeit in dein Maul stopfe! So, und jetzt ist es vorbei. Erhebe dich und geh hinüber zu den Brüdern. Es ist vergessen. Nein, sage nichts mehr, damit ich meine Meinung nicht ändere. Mein Zorn ist noch groß.« Als der Erwählte zu seinem Thron zurückkehrte, trat Chundra vor. Er sprach so leise, daß es nur der Erwählte verstehen konnte: »Als einer, der mit dir und einem heiligen Mann in großen Höhen wanderte, gebe ich dir einen Rat. Ich spreche als derjenige, zu dem die Mutter sprach, während du an ihrer Brust saugtest: Nimm dich meines Sohnes an, befahl sie.« Der Erwählte nickte. »Darum höre mich jetzt, o Herr. Unsere Zuversicht ist dahin. Sie schwindet unter der Prüfung, die uns auferlegt wurde. Die Männer lassen in ihrer Enttäuschung abends ihre Schals flattern. Wir müssen bald töten. Und wir müssen viele Male töten, sonst raubt uns dieses fremde Land unseren Glauben. Schicke uns fort, um der Göttin dienen zu können. Zögere nicht länger. Sieh zu, daß Rama Shastri und der Swami jetzt wirklich getötet werden. Unser Anliegen bedarf noch vieler Tode.« Der Erwählte legte Chundra die Hand auf die Schulter und sagte voller Herzlichkeit: »Weiser und treuer Bruder, edelherziger Chundra, ich habe vernommen, was du sagst.« Er zog ein Heftchen unter seinem Gewand hervor: »Die Frau, die sich Yoni nennt, hat es mir gezeigt. Es handelt sich um eine Kongregation. Pilger brechen das Brot mit ihnen, singen an den nächtlichen Feuern, wie es in früheren Zeiten war, als Thugs selbst als Pilger auftraten. Du kennst ja die alten Geschichten, die man sich davon erzählt. Dann schlugen sie zu und kamen so zu vielen Opfern, die sie töten konnten.« »O ja!« stimmte Chundra Bala begeistert zu. »Das ist wirk-
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lich wie von einem richtigen Täuscher ausgeheckt!« »Und so wird es auch ausgeführt, das verspreche ich dir. Wir wollen an unseren alten Traditionen festhalten. Aber dreierlei muß zuvor getan werden.« Er erhob sich und rief laut: »Brüder, wir müssen uns darum kümmern, daß Akmed und Ayub beigesetzt werden. Wir müssen uns die Leichen von der Polizei herausgeben lassen.« Chundra Bala war starr vor Bewunderung. Von der Polizei! Ja, das würde die Moral der Bruderschaft wieder heben! »Mein zweiter Plan ist, daß wir, das heißt, einer von uns, in die Reihen unserer Feinde eindringt. Er muß sie unterwandern, und zwar derjenige, der zu Kalis Nahrung wurde.« Chundra verstand die Schlauheit dieser Entscheidung, ja, so könnte es gehen … »Aber zuerst müssen wir die Schriftrolle der Mutter Kali wieder ganz machen. Dann erst können wir erfolgreich sein«, fuhr der Erwählte fort. »Dies muß vor allem anderen zuerst getan werden.« Gauri blickte in die Runde: »Die Mutter hat mir gesagt, daß es so geschehen soll. Die Schriftrolle muß wieder ganz sein, denn sie bedeutet unser aller Leben.«
27 Polizeihauptmann Charles Adair ging mit sicheren, ausgreifenden Schritten hinüber in den Raum, in welchem die Verhöre stattfanden. Darauf hatte er sich schon den ganzen Morgen vorbereitet, eigentlich schon von dem Zeitpunkt an, da er von dem Wirbel, der im Yoga-Center stattgefunden, gehört hatte und den Bericht in die Finger bekam. Da schon war es ihm klar gewesen, daß er nun mit Rama Shastri und diesem großmäuli361
gen Regierungsmenschen, diesem Wrench, ein Hühnchen würde rupfen können. Shastri hatte Wrenchs Waffe benutzt, die jedoch dem Großmaul zustand und unter seinem Namen eingetragen war. Besser konnte es gar nicht sein. Das war gewiß das letzte, was in diesem Land gebraucht wurde – überschlaue, braunhäutige Polizeikonkurrenz aus Indien, die versuchte, die Dinge in den Griff zu kriegen, speziell wenn’s einer war, der versucht hatte, ihn zu strangulieren – dieser Schweinehund! Er dachte an den Gefangenen. Adair war eigens ins Stadtgefängnis hinübergegangen, um sich den Inder vorzunehmen. Im Bericht stand, daß der Gefangene seit seiner Ergreifung kein Wort gesagt, nicht einmal seinen Namen angegeben habe. Auch als Adair eintrat, blieb er schweigsam. Aber Adair hatte dem Gefängnisbeamten wenigstens erklären können, wobei es sich in diesem Falle dieses Mordes wirklich handelte, um Opiumschmuggel, um nichts anderes. Oder um Hasch oder sogar um Heroin. Akmed hatte an Fredrico geliefert, und der hatte ihn irgendwann übers Ohr gehauen. Da hatte ihn der Inder eben abgemurkst. Was konnte man von Leuten, deren Heizmaterial Kuhmist ist, auch anderes erwarten. Darüber hatten sich die Gefängnisaufseher köstlich amüsiert. Na! hatte Adair gesagt, das habe ich gelesen, daß sie Mist als Feuerung benutzen. Stellen Sie sich mal vor, dort zum Abendessen eingeladen zu sein, und die ganze Küche stinkt nach Kuhmist! Die Aufseher hatten sich vor Lachen geschüttelt. Und der Angriff auf Swami Hanuman? Der Swami hatte erklärt, daß die Inder und nicht Shastri hinter ihm hergewesen wären. Nun, das paßte auch ins Bild, wenn Adair es entsprechend erklären konnte. Und dann war da noch so ein schräger Typ, so ein Rockfan, der früher mal rund um die Uhr bekifft war. Was das bedeutete, war doch klar. Damit stand der Swami doch irgendwie in Verbindung. Vielleicht war seine Wohnung der Umschlagplatz für den Stoff? Mensch, das war doch so
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klar, daß man sich nur wundern konnte, daß die vom Rauschgiftdezernat selbst noch nicht darauf gekommen waren. Das reichte, um Wrench und Shastri als die Schaufensterpuppen auszuweisen, die sie waren. Und sie wollten ihm was über den Thug-Kult und ähnlichen Blödsinn weismachen. Captain Adair fühlte sich in so gehobener Stimmung, daß er einem Darmwind freien Lauf ließ. Der Furz war so gewaltig, wie er es gehofft hatte. Elinor Carter, eine von der neuen Polizeiwagenbesatzung, die auf dem Weg zu dem Raum mit den Fingerabdrücken war, blieb kurz stehen und blickte zu ihm herüber. In sich hineinkichernd, setzte Adair seinen Weg fort. Im Vernehmungsraum fand Adair Shastri, Wrench und einen ulkig aussehenden Inder mit Turban vor; sie standen im Kreise zusammen. Dann entdeckte Adair Nirmal Kapur, der auf einem Stuhl saß, den er gegen die Wand gekippt hatte. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« fragte er. »Ich bin Nirmal Kapur, Schüler und Freund des Swami Hanuman.« »Verschwinden Sie«, sagte Adair unfreundlich. »Sie haben gestern abend auf der Bühne gespielt. Insofern stehen die Vorgänge im Keller – vorläufig wenigstens – in keinem Zusammenhang mit Ihnen. Also raus!« Nirmal zuckte die Achseln, schaute zu seinem Lehrer hinüber und erhob sich. Adair ging betont langsam in die Mitte des Zimmers und warf den Morgenbericht auf den Schreibtisch. Aus einer Schublade zog er einen Kassettenrecorder heraus und setzte sich. Dann starrte er finster auf die drei Männer. Rama Shastri rauchte eine Sher Bidi. Der Rauch zog in feinen, sich drehenden Linien durch den Raum. Wrench putzte sich geräuschvoll die Nase, und der Swami war vollauf damit beschäftigt, aus dem Fenster zu schauen. Adair wandte sich gleichfalls dem Fenster zu, sah jedoch nichts außer der Andeutung eines
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schwachen Sonnenstrahls, der durch die Wolken drang. Er grunzte mißvergnügt. Dann begab er sich in seine Ausgangsposition, sprach leise in den Recorder, Tagesdatum, Ort des Verhörs, seinen Dienstrang und den Fall, um den es sich handelte. Er stellte den Regler hoch, schob den Recorder auf dem Schreibtisch etwas von sich weg und gab mit der Hand ein Zeichen, daß die Männer mit ihren Stühlen näher rücken sollten. Sie kamen dieser Aufforderung nach, erstaunlich bereitwillig, wie er insgeheim dachte. Na ja, sie waren darauf gefaßt, daß er jetzt kam – der Hammer! Sie wußten, daß er sie nicht ungeschoren davonkommen lassen würde. Adair räusperte sich: »So, ich wünsche jetzt einen detaillierten Bericht über das, was gestern abend in dem Keller passierte. Die ganze Geschichte. Ist das klar?« Allseitiges Nicken, schweigende Zustimmung. Adair grinste böse vor sich hin und wandte sich zuerst an Rama Shastri: »Zuerst einmal Sie. Was hatten Sie gestern abend im Keller des Mai-Yogini-Yoga-Centers zu suchen?« Rama Shastri berichtete. Als er erwähnte, daß Dan Terranova ihnen vorgeschlagen hatte, zusammen ins Yoga-Center zu gehen, stieg Adair die Zornesröte ins Gesicht. Aha, dachte er, auf diese Art erfahre ich auch etwas über die internen Schlaumeier. Was fiel Terranova ein, diese beiden in seine Nachforschungen einzubeziehen? Die beiden waren schließlich längst ausrangiert. Alte Furzer. Bei dem Wort Furz wäre Adair fast in Gelächter ausgebrochen. Der Ausdruck auf Elinor Carters Gesicht war köstlich gewesen. Himmel, ein wirklich toller Anblick! Als Shastri seinen Bericht beendet hatte, wandte sich Adair zu Hanuman: »Und jetzt Sie.« Hanuman begann, und Adair unterbrach ihn plötzlich: »Warum gingen Sie in den Keller hinunter?« »Ich wußte, daß mich die Thugs töten wollten.«
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»So? Woher denn? Sie sind doch so ‘ne Art Lehrer, oder?« »Ja. Doch für sie bin ich eine Bedrohung. Ich bin bereits durch Bhowani angegriffen worden … Verzeihung, ich nehme an, daß Ihnen der Name Kali geläufiger als Bhowani ist.« Adair stellte den Recorder ab. »Hören Sie, lassen Sie uns bei den Tatsachen bleiben. Ist das wohl möglich?« »Aber das ist eine Tatsache«, erwiderte Hanuman. »Eines Abends, nach einem anderen Konzert in Beacon Hill, manifestierte sich Kali in einem rasenden Inferno. Sie wählte eben diese Form, verstehen Sie? Und Nirmal und ich, die wir uns in einem Sträßchen hinter dem Konzertsaal befanden, wären beinahe in den Flammen umgekommen. Das war zu dem Zeitpunkt, als ich mir sicher war, daß sie Amerika für sich gewählt hatte.« Adair wurde stocksteif, stellte den Recorder wieder an und sagte: »Wiederholen Sie das bitte!« »Ich hatte ein Konzert in Beacon Hill besucht, eines von Nirmals –« »Nein, nein. Nicht das. Ihren letzten Satz.« Hanuman überlegte ein wenig. »Ach so, ich sagte, ich sei nach dem Feuer sicher gewesen, daß Kali Amerika für sich ausgewählt hatte.« Wieder versteifte sich Adair. »Amerika? Wieso?« »Zur Erneuerung des Thugismus.« Wrench wandte sich zu Hanuman: »Er meint, Swami Hanuman, ob da nicht vielleicht auch Russen mit drinstecken. Kommunisten, KGB und so. Swami, machen Sie ihm eine Freude, sagen Sie ihm, daß Kali der Deckname für einen Topagenten des Kreml ist.« Adair stellte den Recorder wieder aus: »Hören Sie mal zu, Wrench, und Sie auch, Shastri, Sie alle!« schrie er plötzlich los. »Ich habe Sie beim Kragen, und ich habe die Absicht, sie tüchtig zu beuteln, worauf Sie sich verlassen können!« Er zeigte
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mit dem Finger auf Wrench. »Weil Sie Ihren Revolver Shastri gaben und Sie« – diesmal zeigte er auf Shastri – »weil Sie einen Mann damit umgebracht haben. Es ist ungesetzmäßig, ohne Waffenschein eine Waffe zu tragen. Und jemanden damit zu töten ist noch schlimmer!« »Auch in Notwehr?« »Das muß erst bewiesen werden.« »Das wird es.« »Wrench, Sie sind von diesen Indern vereinnahmt worden. Das ist es nämlich. Haben Sie schon jemals vom Goldenen Dreieck gehört? Na schön. Diese Thugs sind keine Thugs, sondern Leute aus dem Goldenen Dreieck, Leute, die Opium und Hasch schmuggeln, die Rauschgift ins Land bringen. Und ich wette zehn gegen eins, sie haben diesen Swami um die Ecke bringen wollen, wie sie es mit Fredrico Gonzales taten, denn er steckte mit drin. Und das werde ich beweisen, Wrench!« Adair hatte sich erhoben, streckte sich in die Höhe, bereit, noch mehr zu sagen, als jemand den Raum betrat. Er erkannte den Assistenten seines Chefs, sozusagen seine rechte Hand, Mel Hughes. Hughes gab Adair ein Zeichen und ging in den Flur hinaus. Adair folgte ihm. Sein Magen zog sich zusammen. Was, um Himmels willen, wollte Hughes hier? Adair schloß, als sie draußen im Flur waren, die Tür hinter sich und wartete ab. »Ich mache mir deinetwegen Sorge«, sagte Mel bekümmert, aber dennoch freundlich. »Immer diese Schreierei und der erhobene Zeigefinger. Ist ein bißchen anstrengend, oder nicht?« Adair wollte antworten, aber Mel hob die Hand. »Laß mich erst zu Ende reden, Charlie. Wir möchten, daß du die Sache ab sofort richtig anfaßt. Bitte, Charlie, ich bin noch nicht fertig. Der Kommissar bekam heute morgen einen Anruf aus Washington. Das ganze Durcheinander ist von internationaler Bedeutung, Charlie. International! Außerhalb unserer Rechtspre-
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chung. Sieht ganz so aus, als ob dieser Bursche, der Wrench, weitreichende Verbindungen hätte. Und dieser indische Polizeibeamte, der ist auch kein Dummkopf. Zu seiner Zeit gehörte er zur Polizeispitze des Fernen Ostens. Also Washington will jemanden hierherschicken. Hoher Dienstrang, wir wissen nicht mal, ob vom FBI oder vom Geheimdienst, es scheint was ganz Neues zu sein. Aber aus welcher Ecke er auch kommt, was dieser Horace Birch sagt, gilt. Und er sagt, wir sollten den beiden Vögeln da drinnen volle Unterstützung geben. Ab sofort. Keine Schwierigkeiten mehr, sondern Unterstützung. Kapiert, Charlie?« Captain Adair hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, wieder zu furzen. Wenn er sich nur getraut hätte … Er brachte es fertig, mißvergnügt zu nicken. »Schau, Charlie, warum nimmst du dir nicht den Rest des Tages frei? Du siehst gar nicht gut aus. Es herrscht wieder mal Grippe überall. Soll ‘ne scheußliche Form sein diesmal, hab’ ich gehört.« Hughes drehte sich um, ging ein paar Schritte weit, erinnerte sich und rief über die Schulter: »O ja, noch was. Dieser Wrench hat beantragt, daß Leutnant Terranova ihm und Shastri beigeordnet wird. So ‘ne Art Verbindungsmann zwischen ihnen und uns. Okay, Charlie?« Adair glotzte bloß und nickte wieder. Und dann furzte er doch. Von Adair und seinen boshaften Absichten befreit, fuhren Shastri, Wrench, Hanuman und Nirmal mit einem Taxi in die Pinckney Street. Terranova fuhr Mai Yogini ins Yoga-Center zurück. Sie war von der Polizei in einem anderen Raum vernommen worden. Als ihr Anwalt anrief, um mitzuteilen, daß er nicht rechtzeitig eintreffen könnte, weil er durch einen anderen Klienten aufgehalten wurde, hatte sich Mai Yogini an ihren neuen Chauffeur gewandt und war zur Salzsäule erstarrt. Zu Terranova sagte sie, sie könne sich nicht so schnell an jemand
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Neuen hinter dem Steuer gewöhnen, und ob er nicht so nett sein würde, sie in ihrem Wagen nach Hause zu bringen? Dan Terranova hatte sich dazu bereit erklärt. Während der Fahrt hatte er sich geduldig ihre Tiraden gegen den »Kartoffelfresser« Adair angehört, der nichts anderes getan habe, als in ihrem Privatleben herumzuschnüffeln und sich über ihren Glauben lustig zu machen. Als Polizist erfuhr Terranova nur wenig durch diesen Schwall von Schmähungen, doch jedesmal, wenn er während des Fahrens Mai Yoginis Limousine betrachtete, fragte er sich, was, zum Teufel, es wohl mit dem neuen Chauffeur auf sich habe, daß Yogini bei seinem Anblick erschauerte. Es war nur schlecht vorstellbar, daß dieser Zwerg etwas mit den Thugs zu tun hatte. In der Zwischenzeit saß Shastri stumm im Taxi und dachte über Swami Hanuman nach, den er eingeladen hatte, mit ihnen zu kommen. Er hatte das Gefühl, daß durch die Anwesenheit des Swami in diesem bösen Spiel wenigstens eine schwache Hoffnung bestand. Hanumans Ruf als bedeutender indischer Mystiker der Jetztzeit war weit verbreitet. Shastri bezweifelte, daß es im Fernen Osten einen Menschen gab, der Hanumans Namen nicht kannte. Trotz Shastris schon fast chronischer Abneigung gegen Gurus und Heilige hatte er während der ganzen vergangenen Jahre Hanumans Weg mit großem Interesse verfolgt. Als geborener Narayan Rana stammte er von den kriegerischen Gurkhas ab, die in den Bergen von Nepal ansässig waren. Er war ein kräftiger, körperlich gesunder Junge gewesen. Dennoch bot er mit seiner untersetzten Figur und seinen affenartigen Gesichtszügen einen seltsamen Anblick, wirkte irgendwie deformiert. So führte sein Äußeres und seine Fähigkeit, mit unglaublicher Geschwindigkeit und Leichtigkeit zu klettern, bald zu dem
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Beinamen Hanuman. Später dann, im Zweiten Weltkrieg, erwies er sich als ein besonderer Gewinn. Damals überwand er die höchsten Gebirgszüge, um die Japaner auszukundschaften, ja, es gelang ihm sogar, ihre Reihen zu durchbrechen. Damals hörte Shastri zum ersten Mal von dem »kleinen Tausendsassa«, wie ihn die Briten liebevoll nannten. Nach Kriegsende standen neue Berichte über Narayan Rana in den Akten, die auf Shastris Schreibtisch landeten. Rana hatte sich einer militaristischen Splitterpartei angeschlossen, die für Indiens Unabhängigkeit kämpfte. Das stimmte Shastri betrübt; denn er war der Auffassung, daß die langersehnte Unabhängigkeit von britischer Vorherrschaft auch friedlich erreicht werden könne: Alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung, daß er diesen Mann, der ein Kriegsheld gewesen war, eines Tages wie einen ganz gewöhnlichen Aufrührer verfolgen und festsetzen müsse. Glücklicherweise kam es nie dazu; denn gerade zu diesem Zeitpunkt wurde Narayan Ranas Leben zu einer Art Legende, zumindest für den Agnostiker Shastri. Weil er verdächtigt wurde, Waffen aus einem britischen Arsenal gestohlen zu haben, versteckte Narayan sich in einem nepalesischen Dorf. Und dort begegnete er einem Guru namens Vishnarma. Dieser verwandelte den jungen Mann völlig. Er vergaß seine Träume von einem befreiten Indien und folgte dem Heiligen. Drei Jahre lang streiften die beiden Männer durch Indien und diskutierten über das, was Vishnarma lehrte. Doch eines Morgens kam Vishnarma bei einer Schießerei zwischen pakistanischen und indischen Dorfbewohnern ums Leben. Das war in Multan, nahe dem Thal Desert gewesen. Narayan Rana war gebrochen. Voller Gram über den Tod des geliebten Meisters wanderte er fünf Jahre lang umher. Eines Tages entschloß er sich, unfähig, diesen Schmerz länger zu
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ertragen, in den heiligen Wassern des Ganges den Tod zu suchen. So machte er sich auf den Weg. An der Howrah Bridge in Kalkutta ließ er sich in die Fluten sinken. Und dann – Hunderte von Beobachtern beschworen, es genau gesehen zu haben – erschien eine bläuliche Gestalt. Die schimmernde Gestalt tauchte und kam kurz darauf wieder mit Rana auf den Armen ans Ufer. »Meister Vishnarma«, rief Rana und warf sich der Erscheinung zu Füßen. Hunderte ehrfürchtiger Zuschauer erzählten, daß der Guru zu Rana folgendes gesagt habe: »Ich habe dich alles gelehrt, Narayan Rana, was es über die kosmischen Gesetze zu sagen gibt. Erhebe dich, lebe und lehre! Diene mir, Narayan Rana, der du nun als die Verkörperung des großen Hanuman bekannt werden wirst.« Das war die Legende, wie sie Rama Shastri erzählt worden war. Oftmals überlegte er, wo der wiederauferstandene Narayan Rana wohl hingegangen sei, was er wohl treiben mochte. Hanuman war für Jahrzehnte nicht mehr in Indien gesehen worden. Als das Taxi in der Pinckney Street haltmachte, fühlte er den alten Widerstreit in sich. Die eine Seite seines Wesens suchte die Hilfe Hanumans. Das war eine ganz neue Seite in ihm. Wieder sah er in seiner Vorstellung die funkelnden Augen dieser Wölfin, fühlte die übernatürliche Stärke, beides manifestiert in Gauri Bala. Es war ihm, als durchlebte er alles Schreckliche noch einmal. Insgeheim fragte er sich, ob es nicht doch Hanuman, der Kriegsheld, war, der ihn beeindruckte und nicht der spirituelle Hanuman. Aber wie dem auch war, mit Hanuman auf ihrer Seite glaubte er, daß es noch Hoffnung gab. »Steve und ich brauchen Hilfe in dieser Angelegenheit«, sagte er, nachdem er Hanuman seinen Bericht über das Wiederaufleben der Thugs vorgetragen hatte, und setzte die Frage hinzu: »Wissen Sie, warum man Sie gestern abend umbringen
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wollte? Sie sind Ihnen doch kaum so hart auf den Fersen gewesen wie Steve und ich.« »Doch, das weiß ich«, entgegnete Hanuman. Mittlerweile saßen sie in Stephen Wrenchs Wohnzimmer. Das Dämmerlicht vor den Fenstern ließ auch die Menschen im Raum grau erscheinen, alle Gesichter waren verwischt. Sie sahen wie eine Gruppe weißangemalter, trauriger Clowns aus. »Vor Monaten«, fuhr Hanuman fort, »sah ich während einer Meditation, wie die dunkle Pforte wieder geöffnet wurde.« »Dunkle Pforte«, wiederholte Shastri. Warum konnte nicht alles unkompliziert und einfach bleiben? Hanuman, der seine Gedanken erriet, versuchte klarzustellen: »Versuchen Sie doch, in modernen Analogien zu denken, wenn Ihnen das leichter fällt. Eine enorme widerstandleistende Kraft, wenn man es ins Quantitative übertragen will. Oder stellen Sie sich ein schwarzes Loch im Weltall vor, einen saugenden Strudel, der allem Irdischen zuwider arbeitet, Ja, etwas, das allen Naturgesetzen und jeder natürlichen Ordnung entgegenwirkt. Die gleiche Kraft wurde schon einmal freigesetzt. Allgemeinverständlich ausgedrückt: Diese Gegenpolarität hinter der dunklen Pforte wird das Böse genannt. Manchmal ist es, abstrakt, als das negativ Geistige gegenwärtig und immer übermächtig. Manchmal ist das Böse personifiziert, der Teufel, oder, in diesem Fall die schwarze Göttin Kali, Bhowani, Kunkali – welchen Namen Sie wollen. Eine Kraft als Gegenkraft zum Guten, die fast alles und jeden durchdringt. Nur wenige Menschen können dieser überwältigenden Macht Widerstand leisten. Fast niemand ist imstande, sie total zu bekämpfen.« »So sitzen wir also im Weltlichen, im Materiellen und im Bösen fest, Swami, was also nun? Ist das etwas Neues?« »Neu daran ist, daß dieser Widerstand so ungeheuer ist, so total dem Leben entgegengesetzt, so unlebendig, daß er, in sich selbst verhaftet, stagniert, sich sozusagen als etwas Nichtle-
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bendiges aufhebt. Der Teufel, alle dunklen Gottheiten, sind tot, wurden wirkungslos. Die Menschheit wurde sich selbst zum bösen Geist, wurde ihr eigener Dämon. Nun kann sie den Erdball mit nuklearer Verwüstung vernichten. Wirklich, wenn der Teufel noch am Leben und stark wäre, würde dies seiner Existenz nicht dienlich sein. Totale Vernichtung würde heißen, daß es keine Seelen mehr gäbe, die er in Versuchung führen, auf die er in der Hölle lauern könnte. Keine Spielwiese mehr für den Teufel, keine Mitspieler mehr für ihn. Das kosmische Übel hat sich gestaut. Die Menschheit tut immer noch Böses, und die Ergebnisse, finstere Philosophien, die Instinkte des Bösen, treiben immer noch ihr Unwesen. Das genau ist das Problem, um das es geht. Eine dunkle Gottheit würde die Menschheit zwingen, daß ein jeder weiter dächte, bereit, wieder um seine Seele zu kämpfen.« Rama Shastri wurde ungeduldig und beschwerte sich: »Sie behaupten, der Kosmos hätte die dunkle Pforte geöffnet, damit Kali heraustrete, um damit wieder das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse herzustellen.« »Ja, Kali versucht, ihren Platz in der kosmischen Rangordnung zurückzugewinnen. Nun ja, wenn die Gerüchte über die geheiligten Schriftrollen der Seher wahr sind, hat das dynamische, übernatürliche Böse wieder Eingang in die Welt gefunden.« Wrench mischte sich in die Unterhaltung ein: »Und die Thugs sind hinter Ihnen her, weil Sie all dies wissen?« Hanuman nickte: »Diese Kraft habe ich während jener Meditation gespürt. Sie ging von Osten aus, von Mutter Indien, und ich begriff auch bald, daß sie sich einen Körper ausgesucht hatte – Gauri Balas menschlichen Körper –, durch den sie sich bemerkbar macht und wirkt. Das war nach einem Konzert von Nirmal auf Beacon Hill. Ich wurde durch diese Kraft attackiert, und es wurde mir klar, daß ich nun in diesen Konflikt mit ein-
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bezogen war.« »Wenn diese große Kraft aus Indien kommt, woher konnte sie wissen, daß Sie sich hier aufhalten?« »Sie bewegt sich in einer uns fremden Dimension, in welcher Zeit und Raum, so wie sie uns bekannt sind, nicht existieren.« Nirmal Kapur, der während der ganzen Unterhaltung geschwiegen hatte, beteiligte sich nun: »Meister, vielleicht haben die Thugs herausgefunden, daß Sie, besser als jeder andere, wissen, wie man ihnen zu begegnen hat. Wie Mr. Wrench und Mr. Shastri schon gesagt haben, sie sind nur Polizeibeamte. Doch Sie, Meister, sind mehr als ein gewöhnlicher Mensch.« »Mein Sohn, deine Weisheit ist die eines Kindes, auch ich bin nichts anderes als ein gewöhnlicher Mensch.« Rama Shastri verschanzte sich sofort hinter seinem Zweifel: »Was Nirmal sagen wollte, ist, glaube ich, daß Sie, Swami, mit dem Übersinnlichen vertrauter sind als die meisten Menschen. Da kann ich ihm nur zustimmen. Daher auch unsere Bitte. Steve und ich, wir haben beide diese dämonbesessene Frau, diese Gauri Bala, in Aktion erlebt. Können Sie uns helfen?« »Mein Meister, Vishnarma, kann es vielleicht. Ich sage vielleicht, und ich wiederhole – versprechen kann ich nichts.« Er lächelte zu Wrench und Shastri herüber. »Seien Sie nicht so besorgt, meine Freunde. Sie sagen, Sie hätten ein Stück der geheiligten Schriftrolle. Das ist schon ein Vorteil.« »Meine Tochter Santha will sie heute abend mitbringen«, erklärte ihm Wrench. »Dann werde ich hier solange warten. Wir werden sehen, was wir daraus noch erfahren können, sobald ich sie in Händen halte.«
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28 Es schneite schon wieder. Ihr Büro war auch ohne den alles dämpfenden Schnee schon ruhig genug, dachte Santha. Sie fühlte sich sehr isoliert, fast wie eingeschlossen, und wenn es nicht der Rolle wegen gewesen wäre, hätte sie heute gar nicht die Anstrengung unternommen, ins Museum zu gehen. Aber am Morgen war sie mit dem Gefühl erwacht, daß sie nun wirklich Daddy und Rama das Rollenfragment bringen müsse. Wenn sie schon nicht arbeiten wollte, das zumindest mußte sie tun. Sie könnte in Gefahr sein, hatte ihr Vater gemeint. Gestern abend war Santha einen Augenblick lang versucht gewesen zu erzählen, was ihr alles zugestoßen war. Aber das fremde Etwas in ihr hatte das zu verhindern gewußt. Nun gut, wenn sie über diese Dinge schon nicht sprechen durfte, so war sie doch in der Lage zu handeln, dachte Santha. Irgendwie war es ihr klar, daß was oder wer auch immer sie kontrollieren mochte, doch noch nicht solche Kraft besaß, sie daran zu hindern. Santha wandte sich vom Fenster ab, ging zu ihrem Schreibtisch zurück und überprüfte noch einmal den Druck des Akbarnama, des Buches, das Akbar der Große im siebzehnten Jahrhundert in Auftrag gegeben hatte. Der Druck, den sie jetzt betrachtete, zeigte Akbar beim Entwurf und der Konstruktion seiner neuen Hauptstadt Sikri. Der Mongolenkaiser hatte nie lesen gelernt, so war die Illustration besonders lebendig. Über und über mit Gestalten angefüllt, die in den verschiedensten Stadien des Bauens gezeigt wurden. Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. »Peabody-Museum, Miss Wrench am Apparat.« 374
Es war George Buchan: »Ich kann dich erst eine Stunde später als sonst abholen. Ich habe eine dringende Sitzung mit einem Patienten. Vielleicht solltest du bei diesem Wetter lieber ein Taxi nehmen.« »Mir macht es nichts aus zu warten, Schatz. Vielleicht werden wir dann beide eingeschneit und übernachten unter dem Wandteppich in der Halle, weißt du, den mit dem jungen Krishna, der gerade eine Frau verführt. Das könnte sich als sehr anregend erweisen.« »Dich zu mir nach Hause an den warmen Kamin zu bringen ist anregend genug. Du hast doch nicht vor, eine weitere ereignislose Nacht in der Lime Street zu verbringen, oder?« Santha schwieg eine Weile. Sollte sie das Risiko eingehen? Konnte sie sich noch auf sich selbst verlassen? »Übrigens«, unterbrach George ihre Überlegungen, »ich habe mit Dr. Kitteridge für morgen nachmittag um sechzehn Uhr dreißig einen Termin ausgemacht.« »Dr. Kitteridge?« »Ja. Dr. Annette Kitteridge, eine Kollegin. Erinnerst du dich?« »Klar. Aber ich habe nicht erwartet, schon so bald einen Termin zu bekommen.« »Doch, wir hatten beide das Gefühl, je eher, desto besser. Du wirst sie mögen, Liebling, glaube mir.« Vielleicht werde ich das wirklich, dachte Santha. Vielleicht ist es leichter, sich bei einer Frau auszusprechen. Ihre Lebensgeister hoben sich. »Na schön, George. Ich werde also morgen zu ihr gehen … und heute nacht bleibe ich bei dir.« Er klang ungeheuer erleichtert: »Fein. Dann erwarte mich so gegen halb sieben.« »Fahr vorsichtig, Schatz, und noch was, Liebling –« Santha liebkoste fast den Hörer. »Ich bin überzeugt, es wird ein wun-
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dervoller Abend an deinem Kamin. Ich weiß es.« Als sie den Hörer auflegte, dachte sie, verflixt, ich habe vergessen, ihm zu sagen, daß wir zuerst bei Daddy vorbeifahren müssen, um die Rolle abzugeben. Dann entschied sie schnell, ich werde George bitten, daß er mich in der Pinckney Street aussteigen läßt. Und die paar Schritte zum Otis Place gehe ich anschließend zu Fuß. Es ist ja nur eine Straße weiter. Außerdem, dachte sie, wird das Kaminfeuer um so behaglicher sein, wenn ich schneebedeckt bei ihm ankomme und mich sofort aus den nassen Kleidern schäle. Das würde den Verlauf des Abends bestimmen. Santha lächelte vor sich hin, vollkommen entspannt, auf die kommenden Stunden konzentriert. Die Uhr schlug halb sechs. Santha sammelte das Dutzend Drucke des Akbarnama ein, stand von ihrem Schreibtischsessel auf und ging damit zum Safe. Sie öffnete die Safetür, ging hinein, legte die Drucke in ein Regal und wandte sich dem Fach zu, in welchem die Rolle lag. Sie nahm sie und machte sich auf den Weg zur Safetür. Einen Augenblick fröstelte sie in der Erinnerung an Elvira Moniz, die ihr seinerzeit den Weg verstellen wollte, und beeilte sich, um über die Schwelle ins Büro zurückzugelangen. Ist dir klar, Santha, fragte sie sich, während sie sich niederließ, daß du dieses Miststück nie angezeigt hast? Was, um alles in der Welt, ist los mit mir? Elvira hätte ihre Drohung ja durchaus wahrmachen und dich in den Safe einschließen können. George hat ganz recht, fuhr sie in ihrem Gedankengang fort, ich sollte wirklich mit dieser Frau Dr. Kitteridge sprechen. Unbewußt drehte Santha die Rolle zwischen den Fingern. Sie stellte dabei fest, daß sie im Grunde genommen gar nichts damit zu tun haben wollte. Dieses uralte Dokument mit seiner
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weichen Rindenoberfläche und den frühbrahmanischen Buchstaben verfolgte sie geradezu. Dabei liebte Santha alte Dinge, und irgendwie faszinierte sie die Nennung der grimmigen dunklen Mutter. Kali. Ja, Kali. Das ergab definitiv eine Verbindung zwischen dieser Schriftrolle und dem Thugismus. Aber wie mochte der Inhalt der ganzen Schriftrolle lauten? War es ein Mantra, eine Beschwörung? Welchem Zweck diese Rolle auch immer dienen mochte, sie war doch, dessen war sich Santha gewiß, für die Thugs ebenso wichtig wie für die Katholiken Christi Leichentuch in Turin. Santha öffnete den Behälter, um einen letzten Blick auf das Dokument zu werfen. Ihre Hände zitterten, als sie danach griff. Und dann geschah es abermals. Das war nur einmal passiert, als sie das Schriftstück das erste Mal angerührt hatte. Wieder erblickte sie die dunkle Höhle. Die Szenerie explodierte und drang in ihr Bewußtsein. Genauso abrupt erschien ein dunkles Antlitz in gleicher Höhe mit ihrem Gesicht, und Santha blickte in Augen, die ihr die Seele aus dem Leib zu ziehen schienen. Dann verschwand dieses Bild, löste sich auf, und sie sah sich wieder in ihrem Büro. Santha rang nach Luft und brach ohnmächtig über ihrem Schreibtisch zusammen. Ihr Kopf lag auf ihrem Eintragungsbuch, soviel wußte sie, aber es hatte einige Zeit gedauert, bis sie es erkannte. Sie öffnete die Augen und sah nur verschwommen. Sie konnte nur das Grün der Eintragungsmappe erkennen, kaum etwas anderes. Über sich hörte sie Geräusche, Stimmen. Vielleicht ihre Chefin, Dr. Kim; wenn die nun plötzlich in ihr Büro käme und sie so vorfände … Aber als die Worte, die gesprochen wurden, deutlicher zu verstehen waren, handelte es sich weder um Dr. Kims Stimme
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noch um eine bekannte Sprache. Sie hatte die verschwommene Erinnerung an ein Augenpaar, die wie Krallen gewirkt hatten. Der Druck, der ihren Kopf niedergehalten hatte, ließ nach. Als dieser lähmungsähnliche Zustand gänzlich verschwand, hob Santha den Kopf. »Ah, da sind Sie ja endlich wieder bei uns«, sagte Elvira Moniz. »Ich habe eine Botschaft meines Herrn für Sie. Er läßt Ihnen sagen, Sie mögen sich bereit halten, Ihre Zeit sei bald gekommen. Nun, da wir dies haben …« Elvira hielt die Rolle in einer erhobenen Hand, den Behälter in der anderen. »… kann uns nichts mehr aufhalten. Ihre Zeit ist bald gekommen, sagt mein Herr.« »Geben Sie das sofort zurück!« schrie Santha. »Mach schnell, Yoni, es könnten Wachen im Gebäude sein«, hörte sie jemand von der Tür her sagen, und Santha erblickte Sahib Khan. Er erwiderte kurz ihren Blick, drehte sich um und blickte hinaus in die Halle. »Geh und schau nach«, erwiderte Elvira. Sahib Khan murmelte ein paar Worte in Ramasi und verschwand. Elvira steckte das Dokument in den dazugehörigen Behälter. »Es tut mir leid, daß ich nicht länger bleiben kann«, sagte sie zu Santha. »Eines Tages wird alles anders sein, und Sie werden mir Befehle erteilen. Aber bis dahin muß ich mich leider ein wenig widersetzen. Das dauert nicht lange. Wenn Ihre Zeit erst gekommen ist, werden Sie mir verzeihen, weil Sie dann alles verstehen werden. Dann will ich Ihnen gerne dienen. Denken Sie daran!« Santha erhob sich und sagte ruhig: »Können Sie mir nicht noch ein bißchen mehr erzählen?« Sie wollte sich vom Schreibtisch abwenden und gehen. »Nur, daß Sie jenseits der irdischen Welt auserwählt wurden. Gauri Bala hat gebetet und meditiert, daß ein neues Gefäß
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kommen und sie ablösen möge. Kalis Augen sehen weit. Was ist ein Ozean, was sind tausend Meilen für Sie? Sie erblickte Sie, erwählte Sie – und das ist nun Ihr Schicksal.« »Gauri Bala? Gefäß? Kali? Ich bin völlig verwirrt. Können Sie mir keine genaueren Erklärungen geben?« Santha trat näher heran. Voller Anteilnahme erwiderte die andere: »Ich weiß, es muß schlimm für Sie gewesen sein. Erschreckend vielleicht sogar. Aber das wird alles ein Ende haben. Sie werden sehen. Und jetzt muß ich gehen.« Elvira Moniz stand direkt neben der Tür. Ohne Vorwarnung warf sich Santha auf sie. Ihre Schulter traf Elviras Arm. Die Rolle fiel zu Boden. Santhas Hand schoß hervor und ergriff Elviras Hals. Stöhnend fiel die junge Frau auf die Knie. Santha ihrerseits sah sich sofort nach dem Behälter mit der Rolle um. Er war unter ihren Schreibtisch gerollt. Santha tastete und fand ihn, als sich harte Finger in ihre linke Wade vergruben und an ihr zogen. Santha kroch rückwärts über den Boden, um zu entkommen. Elvira ließ Santhas Bein los und versuchte, ihr auf den Rücken zu klettern. Santha rollte zur Seite, stemmte den Fuß zwischen Elviras Beine und stieß hart zu. Elvira schrie auf und lockerte ihren Griff. Den Behälter mit dem Dokument fest in der Hand, raste Santha in die Halle hinaus. Sie war leer. Santha bewegte sich so lautlos wie möglich zu einem Wandschrank linker Hand, öffnete ihn, griff hastig nach Mantel, Handtasche und Stiefeln und zog sich ebenso hastig an, den Blick immer noch auf ihre offene Bürotür gerichtet. Sie hörte Elvira Moniz immer noch stöhnen. Nun nahm Santha die Schlüssel aus ihrer Handtasche und näherte sich leise dem Büro. Als sie hineinblickte, sah sie, wie Elvira auf den Knien krabbelte. Elviras Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Sie erblickte Santha und stieß einen so schrillen Schrei aus, daß Sahib Khan sie hören mußte, soviel war Santha klar. Sie mach-
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te die Tür zu und schloß ab. Als sie die Halle entlanglief, verfolgte sie das Geräusch hämmernder Fäuste. Elvira Moniz schlug mit aller Kraft gegen die verschlossene Bürotür. Santha war ganz nahe an der Haupttreppe und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach Sechs. Um diese Zeit nahmen die Wachen an, daß wegen des Sturmes alle Angestellten aus dem Hause sein würden, alle, außer den Wächtern. Sie wunderte sich, warum noch niemand aufgetaucht war bei diesem Radau, und dann fiel ihr mit eisigem Entsetzen ein, daß und auf welche Weise man die Wachen vielleicht entfernt haben könnte. Santha blieb im Schatten der Treppe stehen und lauschte. Sie hörte ein kaum wahrnehmbares Knacken der Treppenstufen und bewegte sich langsam rückwärts, bis sie an die Klinke der Tür zur Indienausstellung stieß. Santha drückte die Klinke herunter und schlich in den riesigen, dunklen Raum. Sie ließ die Tür einen Spalt weit offen und entdeckte Sahib Khan am Treppenabsatz, in seiner Hand eine Seidenschärpe – er hatte sich den Turban vom Kopf gezogen. Einen Augenblick lang sah Sahib Khan in ihre Richtung, ging dann jedoch den Korridor entlang bis zu ihrer Bürotür. Santha schloß die Tür und suchte einen Platz, um sich zu verstecken. Wenn es ihr gelang, hierzubleiben, dann würde George kommen und Hilfe holen, wenn er sie vergebens suchte. Das bedeutete die Ergreifung der Thugs, bevor sie wieder in den Besitz der Schriftrolle kommen konnten. Santha hörte draußen auf dem Korridor Elviras Stimme, dann Sahib Khan, dann die Stimme eines anderen Mannes und die eines weiteren. Wie viele Thugs befanden sich im Gebäude? Sie beeilte sich. Sie erinnerte sich an jedes Ausstellungsstück und an den Platz, an dem es stand. So hatte sie keine Schwierigkeit, in der Dunkelheit das zu finden, was sie suchte. Hier befanden sich die Vitrinen mit Radscha-Kleidung, hochge-
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schlossene Mäntel aus Brokat mit Diamantknöpfen, Kleidungsstücke aus handgewebter Seide, mit Gold und Silber bedeckt, Turbane mit Perlenschmuck. Und eine weitere Vitrine mit Kusãna, vorguptanischen und guptanischen Münzen, zwei buddhistischen Bodhisattvas-Statuen mit ihren androgynen Körpern und schließlich noch ein riesiges Flachrelief von Kartikeya, reitend auf einem Pfau. Dahinter versteckte sich Santha. Sie fand einiges Handwerkszeug, ein paar Lumpen und eine angelehnte Trittleiter auf der Rückseite des Reliefs. Da öffnete sich auch schon die Tür. Elvira Moniz und Sahib Khan stritten. Ihre Stimmen hallten wider und ließen sie sehr nah erscheinen, Santha hatte das Gefühl, daß ihr die Luft wegbliebe. Sie preßte den Behälter mit der Schriftrolle an ihre Brust. Sie durften sie ihr nicht noch einmal wegnehmen. Sie ahnte, daß ihr Vater und Rama Shastri in große Gefahr gerieten, wenn die Thugs wieder in den Besitz der Rolle kommen würden. »Ich sage dir doch«, hörte sie Elvira Moniz’ aufgeregte Stimme, »du mußt die Tür finden, die ins Botanische Museum führt. Vielleicht ist sie dort.« »Ruf mal den Trande«, erwiderte Sahib Khan. »Ich habe das Gefühl, daß sie hier ganz in der Nähe ist.« Eine andere männliche Stimme sagte auf hindi: »Tue ihr kein Unrecht, Sahib Khan. Der Erwählte schenkt ihren Worten mehr Beachtung als den deinen.« Ein Fluch, und Santha hörte, wie jemand aus dem Raum und hinaus auf den Flur ging. »Also, Trande, Ramanuja, durchsucht diesen Raum.« »Sollen wir kein Licht anmachen?« »Nein, das könnte jemand von draußen sehen. Ich suche derweil noch einmal in der Halle. Beeilt euch!« Santha wurde es heiß in ihrem Wintermantel. Aber das war
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einerlei. Sie würde, wenn es sein mußte, für immer hier stehenbleiben. Die beiden Männer gingen eilig quer durch den Raum und ohne Rücksicht auf den Lärm, den sie dabei machten. Sie standen unter dem Druck, sie möglichst schnell zu finden. Vielleicht wissen sie, daß George kommt, dachte Santha. Doch woher sollten sie das erfahren haben? Sie schienen immer alles aus ihrem persönlichen Leben, ihrer Privatsphäre zu wissen. Trug sie selbst dafür die Verantwortung, war ihre Verbindung mit dem unbekannten Etwas schuld daran? Einer der beiden Männer blieb vor dem Relief stehen. Santha konnte seinen Atem bis in ihr Versteck hinein hören. Verzweifelt blickte sie um sich und sah die angelehnte Leiter, die fast bis zur Decke reichte. So leise wie möglich stieg sie die Sprossen empor und blieb in gleicher Höhe mit dem oberen Rand der Steinplatte stehen. Mittlerweile hatte der eine der beiden Männer trotz der Dunkelheit den Spalt zwischen Wand und Relief entdeckt. Er zwängte sich, die Wand abtastend, dazwischen, geriet dabei auch an die Leiter und stieß daran. Santha hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Aber der Thug ließ die Leiter sogleich los und quetschte sich auf der anderen Seite wieder zwischen Wand und Relief heraus. Einen Augenblick später gingen die Männer. Dabei hörte sie, wie der eine, der Trande genannt wurde, sagte: »Sie ist nicht hier. Gehen wir.« Die Tür schloß sich hinter ihnen. Santha stieg die Sprossen wieder hinunter und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis George eintraf. Sobald er sie am Oxford-StreetEingang vermißte, würde er die Polizei rufen. Dann würde sie in seinen Armen wieder sicher sein. Jemand lachte. Es war ein leises Lachen, angsteinflößend, und Santha fühlte einen Atemzug über ihr Gesicht streichen.
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Santha stürzte aus ihrem Versteck, rannte in die Mitte des Raumes. Sie hörte das Klirren von Fuß- und Armreifen hinter sich und schrie wider Willen laut auf: »Nein!« Die Tür des Saales schlug zurück. Im schwach vom Treppenhaus her erleuchteten Türrahmen stand einer der Thugs und kam auf sie zu. Santha versuchte auszuweichen und rannte hinüber, wo in einer Ecke einige indische Instrumente ausgestellt standen, Sarangis, Tamburas, Cymbeln, Gongs, Trommeln und zwei prächtige Sitars. Eine davon ergriff Santha, nachdem sie zuvor den Behälter mit dem Dokument auf einen Instrumentenständer abgelegt hatte. Sie schwang die Sitar in hohem Bogen und schmetterte sie dem Thug ins Gesicht. Von der Gewalt des Schlages tat ihr der Arm weh. Sämtliche Saiten der Sitar waren gesprungen. Der Mißakkord schrillte ihr in den Ohren. Geschwind drehte sie sich um, schnappte sich die Rolle wieder und stürmte an dem zu Boden gestürzten Thug vorbei hinaus in die Halle. Jetzt war kein Lachen mehr zu hören, kein Klirren von Schmuckringen, dennoch meinte Santha, den Nachklang im Kopf zu spüren. Sie polterte die Treppen hinunter. Sie mußte zusehen, daß sie ungehindert zur Eingangstür und hinaus auf die Straße kam. Sie mußte George finden, mußte aus dem Museumsgebäude hinauskommen, weg von dem gespenstischen Lachen und dem fremden Atemhauch in ihrem Nacken. Sie öffnete die schwere Tür und lief in die stürmische Nacht hinaus. Sie versuchte, etwas durch das dichte Schneegestöber zu erkennen. Sie wagte es nicht, sich in der Eingangstür aufzuhalten. So ging sie über den verschneiten Rasen hinüber zu dem Weg, der am Labor vorbeiführte. Auf der Oxford Street blieb sie stehen und hielt links und rechts nach Georges Wagen Ausschau, konnte aber nichts entdecken. Die Straße war wie ausgestorben, nirgendwo war Verkehr. Der Wind trieb ihr den
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Schnee ins Gesicht. Ihre Wangen brannten, ihre Augen tränten, ihre Sicht war getrübt. Santha drehte sich um und starrte auf das Museumsgebäude. Niemand war herausgelaufen. Sie verstand es nicht. Warum ließen sie sie einfach laufen? Sie kämpfte gegen eine neue Schneeböe an. Ihr Mantel war schneebedeckt, und an ihren Wimpern hingen feine Eiskristalle. Sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln. Die Straße war erschreckend still, schien mit ihr zu warten. »Wo bist du, George?« fragte Santha laut. »Um Gottes willen, wo bleibst du nur?« Ihr Blick fiel auf die Rolle in ihrer Hand. Vielleicht habe ich gesiegt, dachte sie, vielleicht habe ich es ihnen gezeigt. Etwas wie Stolz stieg in ihr auf, und sie wunderte sich, warum sie so leicht hatte entfliehen können. Dann fiel ihr ein, daß die Thugs nicht richtig versucht hatten, sie aufzuhalten. Wenn die Rolle für die einen so besonderen Wert besaß, wie Elvira Moniz behauptet hatte, hatten sie wohl auf Gewaltakte verzichtet, die sie verletzen oder gar hätten töten können. Dieser Gedanke wurde ihr immer unbehaglicher. Offenbar hatte man ihr erlaubt, bis hierher zu fliehen. Oh, komm doch, George, Liebling, komm endlich! Das Knirschen von Schritten im Schnee. Rechts von ihr, dort, wo die Oxford Street an der Conant Hall vorbeiführte, näherten sich zwei Gestalten. Es waren zwei Männer, dessen war sie sich sicher. Der eine groß und schlank, der andere untersetzt. Falls das Harvardstudenten waren, wollte sie sie bitten, bei ihr zu bleiben, bis George endlich da war. Santha legte die Hand leicht vor die Augen, um durch den Schnee etwas erkennen zu können. »Hallo«, rief sie, doch die beiden gaben keine Antwort, kamen jedoch näher. Santha sah durch den wirbelnden Schnee, daß dies keine Studenten waren. Die beiden Männer schritten durch den Lichtkreis einer Straßenlaterne, und
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Santha konnte erkennen, daß es zwei Inder waren. Das Gesicht des größeren ähnelte dem Makundas, der ihr vor ein paar Abenden bis zum Otis Place nachgegangen war. Aufschreiend rannte sie davon. Der Sturm war so stark, daß sie einige Male fast auf dem eisigen Bürgersteig ausgeglitten wäre. Sie entschloß sich, auf dem schmalen Seitenstreifen entlangzulaufen, obwohl es langsamer ging. Aber die Gefahr des Ausrutschens war weniger groß, und sie konnte besser Fuß fassen. Ein-, zweimal sah sie zurück. Die beiden Inder liefen jetzt auch. Sie rannte am Mallinckrodt-Gebäude vorbei und hatte fast die Kurve erreicht, die in die Kirkland Street führte. Santha wagte einen weiteren Blick über die Schulter zurück. Ihr Atem ging keuchend. Die beiden Männer rannten hinter ihr her, vor ihr erschienen die Scheinwerfer eines Autos. Santha verließ den Seitenstreifen des Bürgersteigs und sprang in die Mitte der Straße, winkte mit beiden Armen. Die Scheinwerfer blinkten, und der Motor röhrte. Das ist George, dachte sie, das muß er sein. Aber mittlerweile hatten ihre beiden Verfolger sich auch in der Straßenmitte postiert. Einer von ihnen, Makunda, näherte sich ihr mit Riesenschritten. Santha drehte sich um, duckte den Kopf und spurtete zum Science Center auf der rechten Seite. Dann wich sie plötzlich aus. Drei weitere Inder in der Nähe des Centers stellten sich ihr in den Weg. Santha wirbelte herum. Fast war sie in Makundas Reichweite. Seine Augen schienen grimmig entschlossen, sie zu fangen. Hinter ihm röhrte Georges Audi. Er fuhr direkt auf die anderen Verfolger zu. Ein Thug sprang zur Seite und landete auf dem Seitenstreifen. Nun war der Audi hinter Makunda her, aber es bedurfte nur des Zugriffs, nur eines Armstreckens des großen Mannes … Santha schlüpfte unter seinem Arm hinweg und machte sich in Richtung Kirkland davon; aber auch Makunda wich aus, rannte hinter ihr her und zwang sie, auf dem Bür-
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gersteig entlang hinüber zu dem Säulengang der Memorial Hall zu laufen. Keuchend und gebückt rannte Santha in die Dunkelheit. Makundas Schritte waren nicht mehr zu hören. Santha lief langsamer und überlegte, was hinter ihr geschehen sein mochte. Ob sie George angegriffen hatten? Sie blieb stehen und lauschte angestrengt, aber sie konnte auch den Audi nicht mehr hören. »George!« rief sie laut. Eine schnelle Bewegung neben ihr, das Klirren schwerer Fußreifen, und plötzlich sah Santha sich der Frau gegenüber, die durch ihre Visionen gegeistert war. Das Gesicht der Frau lag im Dunkel, doch im Licht der Straßenlaternen von Harvard Yard erkannte Santha ihre Umrisse, das lange Haar, den blanken Nasenring. »Du Kind der Kunkali«, sagte die Frau leise. Ihre Hand hob sich, und etwas Scharfes traf Santha an der Stirn. Vor Schmerz laut aufschreiend, ließ Santha den Behälter mit der Rolle zu Boden fallen. Sie stand gegen die Mauer gelehnt, die Arme über das Gesicht verschränkt. Fußtritte kamen näher, rannten auf sie zu. George, der laut ihren Namen rief. Seine Hände ergriffen sie an beiden Handgelenken, zogen ihre Arme herunter. Santha fühlte, wie Blut über ihren Nasenrücken rann. George hatte die Taschenlampe aus seinem Handschuhfach dabei. Ihr Licht blendete Santha. »Santha, mein armer Liebling«, rief er entsetzt aus und trat noch einen Schritt näher, um die Wunde besser betrachten zu können. »Jetzt nicht!« Santha stieß ihn zurück. »Schnell, George, such hier auf dem Boden nach einer Papprolle, einer Rolle, wie sie mit der Post verschickt wird. Schnell, bevor sie zurückkommen.«
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Der Strahl der Taschenlampe huschte über den Boden. »Versuch es mal dort in der Ecke«, wies sie ihm die Richtung. »Wer waren die beiden Männer, Santha? Warum haben sie –« »Beeile dich, bevor sie zurückkommen! Bevor die Frau … nein, da, oder dort drüben …« »Da ist nichts.« Er zog sie am Mantel. »Liebling, ich muß dich in eine Klinik bringen.« »Wo sind sie, George? Wo ist diese schreckliche Frau?« Santha begann zu zittern. »Sie muß die Rolle an sich genommen haben. Sie hat sie aufgehoben, als ich hinfiel.« George schob sie vor sich her, legte den Arm um sie und dirigierte sie hinüber zum Bürgersteig. Als sie schon fast an der Kirkland Street waren, blieb Santha plötzlich stehen. »Vielleicht sind sie noch hier draußen, George. Vielleicht warten sie dort.« George zog sie weiter mit sich. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Nachdem du hier herübergelaufen bist, rannten sie weg. Nie zuvor habe ich Leute so schnell von der Bildfläche verschwinden sehen.« »Die Frau – hast du sie gesehen, George? Sie hat mich angefallen«, stieß Santha schluchzend hervor. »Nein, ich habe sie nicht gesehen.« Als sie weitergingen, sagte er beruhigend: »Schau, Liebling, niemand ist hier.« Santha, wie ein Kind in seinen Arm geschmiegt, blickte verängstigt die Straße hinauf und hinab. »Die Frau schlüpfte an dir vorbei, George, aber bestimmt beobachtet sie uns jetzt von irgendwoher. Ich spüre sie. Ich spüre sie sogar in der Dunkelheit.« Sie erreichten den Audi. George ließ sie auf den Sitz gleiten und befestigte ihren Sicherheitsgurt. Als er in den Wagen stieg, nahm er seine Arzttasche vom Rücksitz und wollte sie untersuchen. »Es hat aufgehört zu blu-
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ten«, meinte er und betupfte mit einem Stückchen Mull ihre Nase. »Nicht hier, bitte! Fahr mich von hier weg. Gleich, bitte!« bat sie. »Ich werde dich gleich zur Notaufnahme in das StillmanKrankenhaus fahren. Du mußt eine Tetanusspritze haben. Die Wunde ist dir mit etwas Metallischem zugefügt worden, unter Umständen war es ein Siegelring. Außerdem müssen wir zur Polizei.« Santha, die sich müde in ihren Sitz gekuschelt hatte, öffnete die Augen: »Nein, keine Polizei!« »Aber das müssen wir. Du bist überfallen worden, Santha!« »Du kannst im Krankenhaus eine andere Erklärung abgeben. Ich bin auf dem Bürgersteig ausgerutscht, habe mir die Stirn angeschlagen, irgend so etwas. Daddy und Onkel Ram kannst du alles erzählen, George. Bitte, glaube mir. Du mußt es Daddy und Onkel Ram sofort erzählen.« »Wer waren diese Männer, Santha? Im Scheinwerferlicht meines Wagens sah der eine wie der Inder aus, den wir mal bei DeLuca’s getroffen haben. War es der?« Santha murmelte leise »Ja« und sagte von da an kein Wort mehr.
29 Wieder beobachtete Rama Shastri Stephen Wrench am Telefon. Wrench hatte zahllose Male versucht, das Museum anzurufen oder Santhas oder Georges Appartement zu erreichen. Die Uhr zeigte neunzehn Uhr zweiundzwanzig. Wrench knallte den Hörer hin. »Mittlerweile könnte Santha wirklich zu Hause sein«, grollte er und ging unruhig auf und 388
ab. »Ich habe so ein ekelhaftes Gefühl, Ram. Es muß etwas passiert sein.« Die anderen saßen am Tisch und aßen. Nirmal Kapur hatte die improvisierte Abwandlung indischer grüner Paprikaschoten mit Krabbenfüllung und russischen Tee dazu gereicht. Shastri schwieg. Die Vorstellung, daß Santha durch den Thugismus bedroht sein könnte, machte ihn genauso nervös wie Stephen, aber er versuchte, dagegen anzugehen. Er mußte dem Freund und sich selbst zuliebe so objektiv wie möglich bleiben. Er betrachtete Hanuman nachdenklich und intensiv. Mehr denn je war er davon überzeugt, daß, wenn irgend jemand in der Lage war, die hintergründigen mystischen Motivationen des Thug-Kults zu begreifen, dies allein Hanuman war. Hanuman fragte Shastri leise: »Hat Santha die geringste Ahnung, was dieses Dokument bedeutet?« »Ich glaube nicht. Wir haben ihr jedenfalls nichts davon gesagt. Sie weiß nur, daß es für uns wichtig ist, und wird es uns deshalb auf jeden Fall heute abend bringen, obwohl sie sich in der letzten Zeit offenbar nicht recht wohl fühlte.« »Und wodurch kommt das?« erkundigte sich Hanuman. »Steve sagt, daß es immer noch von dem Kummer über den Tod ihrer Mutter herrührt.« »Hat sie sich seltsam verhalten?« »Ihr Freund, der von Beruf Psychiater ist, hat zu Steve gesagt, sie habe ein ernstzunehmendes Trauma erlitten.« Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Unterhaltung. Wrench griff nach dem Hörer: »Hallo? Ja, George … Was! Ist Santha o. k.? … Gott sei Dank! … Ja, ja. Inder, sagst du? Wo, zum Teufel, waren denn die Museumswachen? Gut, ich setze mich mit der Polizei in Verbindung. Wir kommen gleich rüber.« Wrench legte den Hörer hin, aschfarben im Gesicht. Er zitterte vor Aufregung: »Sie haben Santha überfallen«, sagte er
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schwer atmend. »Sie ist jetzt bei George.« Er konnte kaum sprechen. »Diese Schweinehunde haben sie gekennzeichnet – auf die Stirn.« Dann begann er zu wählen. »Dan. Hör zu. Meine Tochter ist heute abend überfallen worden. Doch, Gott sei Dank ist sie bei uns. Es sieht ganz so aus, als hätten unsere Freunde, die Thugs, das auf dem Gewissen. Ja, im Peabody-Museum. Nachtwachen? Ja. Das wüßte ich auch gerne. Verständige bitte die Cambridge-Polizei, ja? Und komm, so schnell du kannst, hierher. Vielleicht kannst du was ausfindig machen. Ich wette …« Er gab ihm Georges Anschrift und Telefonnummer durch. »Ja, ruf mich bitte irgendwie an. Ich muß jetzt erst –« Die Stimme brach ihm. »– mein kleines Mädchen sehen. Fein. Danke, Dan. Ich weiß das sehr zu schätzen!« Dann wandte er sich zu Shastri: »George sagt, sie hätten Santha etwas weggenommen.« Wrench stemmte die geballte Faust in die andere gespreizte Hand. »Verdammt noch mal!« sagte er dumpf. »Die ganze Zeit wußten sie, wo es sich befand.« »Wo ist sie, George?« fragte Wrench als erstes, als sie am Otis Place eintrafen. George legte einen Finger auf die Lippen. »Sie schläft oben. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.« Sein Gesicht wirkte schmal. Voller Verwunderung sah er auf Hanuman und Nirmal Kapur. Er ging den Gästen ins Sprechzimmer voraus. Shastri stellte Hanuman und Kapur vor. George erkannte den Sänger, und Shastri fügte hinzu, daß er die Anwesenheit beider später erklären wolle. George nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und sagte kopfschüttelnd: »Santha bestand darauf, daß ich als allererstes
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dich, Steve, anrufen solle. Sie wollte nicht, daß ich die Cambridge-Polizei verständige. Aus welchem Grunde weiß ich nicht, keine Ahnung.« »Da hatte sie ganz recht«, sagte Wrench. »Die wüßten ohnehin nicht, was sie damit anfangen sollten. Ich habe einen Beamten hingeschickt, der in meinem und Shastris Namen die Sache erklärt.« George fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar: »Santhas Verfolger waren Inder. Einen erkannte ich im Scheinwerferlicht meines Wagens. Sie sagte außerdem, daß eine indische Frau ihr dieses Mal auf die Stirn gedrückt hat.« »Schweinerei!« sagte Wrench erbittert. »Dieses Mal ist direkt über der Nasenwurzel, etwa in der Höhe der Augenbrauen, angebracht.« Er zeigte die ungefähre Stelle auf der eigenen Stirn. »Warum um alles in der Welt macht jemand so was?« Und als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Ich muß gestehen, das hat mich total irritiert. Das und noch etwas … Santha ist, wie ich glaube, mit einem Siegelring verletzt worden. Es blutete eine Weile …« George sah sie fragend an und wirkte zum ersten Mal hilflos, fast verloren. »Tja«, sagte Wrench, nicht minder hilflos. »Kurz bevor ich sie zu Bett brachte, habe ich mir dieses Mal genauer angesehen. Die Wunde ist im Stillman-Krankenhaus genäht und verbunden worden. Es war eine relativ kleine Wunde. Nur vier Stiche waren nötig, sie zu nähen, verstehen Sie … Ich untersuchte sie anschließend, wie gesagt. Ich weiß nicht, warum. Sehr gute Arbeit … Ich war irgendwie besorgt … aber verdammt noch mal, medizinisch war das Ganze irgendwie unmöglich.« Shastri wurde ungeduldig: »Erzählen Sie mal Genaueres, George.« »Als ich sie mir ansehen wollte, war da keine Wunde mehr
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und auch keine Stiche. Alles ist weg, außer dem Zeichen, das ist, klein, schwarz und etwas erhaben, sehr genau zu sehen … es sieht aus, als hätte Santha es schon immer gehabt, wie eine Tätowierung oder ein Muttermal. Wie konnte das so schnell heilen? Und dann die Fäden … wo sind sie geblieben?« Während er dies alles erzählte, wuchs Georges Wut. »Was, zum Teufel, ist mit Santha geschehen, meine Herren? Kann mir das einer von Ihnen beantworten?« »Das ist mit einem Fingernagel gemacht worden«, sagte Hanuman ruhig. »Ein Fingernagel hat dies Zeichen in die Haut gegraben. Lassen Sie mich erst zu Ende erklären, Doktor, bevor sie antworten. Es war nicht unbedingt ein menschlicher Fingernagel. Die Frau, die Santha auf diese Weise gezeichnet hat, ist gelegentlich jenseits des normal Menschlichen. Was sie in solcher Phase ihres Seins zustande bringt, geht über die Naturgesetze hinaus.« George erhob sich: »Swami, dies soll keine Beleidigung sein: Der heutige Tag war merkwürdig genug, aber das ist nun der Gipfel der Verrücktheit!« Shastri übernahm es, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »George, warum erzählen Sie uns nicht in allen Einzelheiten, wie es dazu kam. Danach können wir immer noch debattieren.« George gab nun seinen Bericht und fügte hinzu, was Santha ihm erzählt hatte: »Sie waren hinter irgend etwas her, was Santha in der Hand trug. Sie sagte, eine Papprolle, die man für die Postbeförderung zu benutzen pflegt.« Shastri erklärte nun seinerseits: »Ja, diese Rolle enthielt das Fragment eines sehr alten Dokuments.« »Und Santha hat alles versucht, es ihnen vorzuenthalten!« Wrench war den Tränen nahe. »Mein tapferes kleines Mädchen.« »Und daß die Thugs es nun tatsächlich zurückerhalten ha-
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ben, kommt einer Katastrophe gleich, meine Herren«, fügte Hanuman hinzu. »Thugs!« wiederholte George verständnislos. Das Telefon läutete. George hob ab und übergab den Hörer Wrench: »Für dich«, sagte er, nachdem er eine Weile zugehört hatte. »Ja, Dan«, hörten sie Wrench sagen, »ich verstehe. Sie haben die Wachen mit Chloroform betäubt und gefesselt. Es sollte wohl wie ein gewöhnlicher Einbruch aussehen. Ja, laß die Cambridge-Polizei ruhig bei dieser Annahme. Um des Himmels willen, wir wollen gar nicht, daß die Wahrheit durchsikkert. Dann hätten wir die Presse am Hals, und die Panik der Bevölkerung wäre gar nicht auszudenken! Genau. Okay, das ist ein guter Vorschlag. Vielen Dank, Dan.« Er legte auf und berichtete den anderen: »Diesmal haben sie niemanden stranguliert. Sie sind ganz einfach und simpel eingebrochen. Dan Terranova schickt einen Streifenwagen her. Der wird so lange hier vorm Haus parken, bis Santha sich wieder erholt hat.« »Thugs«, wiederholte George noch einmal. »So ist es, George. Du erinnerst dich der Diskussion, die wir vor kurzer Zeit hatten?« Hanuman erhob sich: »Mit Ihrer Erlaubnis, Doktor, würde ich jetzt gerne einmal Ihre Patientin sehen.« George zögerte. Wrench stand bereits hinter dem Inder. Shastri mußte seinen Freund insgeheim bewundern. Er wußte, daß Wrench Indien und seine Bevölkerung von innen heraus akzeptierte. Es war für ihn geheimnisvoll, manchmal sogar unergründlich. Doch das war in Ordnung so. Wrenchs gesunder Instinkt sagte ihm, daß dieser unansehnliche kleine Inder mit seinen durchdringenden klugen Augen in der Lage sein könne, seine Tochter zu retten. Hanuman ging zum Schlafzimmer und überschritt die
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Schwelle. So vorsichtig, als wandle er durch ein Minenfeld, näherte er sich Santhas Bett. Dabei schaute er beständig um sich und beobachtete vor allem die Zimmerdecke. Wrench und Shastri hinter ihm taten desgleichen, obwohl sie nicht ganz begreifen konnten, warum es dieser Alarmbereitschaft bedurfte. Der Swami beugte sich über die Schlafende und betrachtete aufmerksam das Zeichen auf ihrer Stirn. Eine Weile legte er seinen Handrücken gegen ihre Wange. Dabei hielt er die Augen geschlossen. Dann machte er den beiden Männern ein Zeichen, daß sie näher kommen sollten. Er wies auf das Mal, und die beiden Männer betrachteten es fassungslos. »Schauen Sie«, flüsterte Hanuman, »das sind die Umrisse einer Spitzhacke, des geheiligten Symbols der Thugs.« Hanuman ließ den Blick zu der Treppe schweifen, die außen an der Hauswand weiter nach oben führte. »Was befindet sich dort?« fragte er über Wrenchs Schulter hinweg. Als Wrench sich umwandte, sah er George mit angespanntem Gesicht. Neben ihm stand Nirmal Kapur. »Das Gästezimmer und darüber mein Atelier. Das ist direkt unter dem Dach.« »Atelier?« »Ich male in meiner Freizeit.« »Ah, ein Künstler.« Hanuman wandte sich wieder Santha zu. »Ich hatte gerade begonnen, sie zu porträtieren. Dazu bedurfte es einer Menge Zeichnungen zuvor, denn ich wollte sicher sein, daß ich alles zu erkennen vermochte, was ich in ihr sah.« »Natürlich, was Sie in ihr sahen. Ja, natürlich. Bitte, zeigen Sie mir diese Zeichnungen, das Gemälde auch. Alles davon.« George zeigte sich ganz unverhohlen bestürzt. »Swami Hanuman versteht besser als jeder andere von uns, was Santha zugestoßen ist«, sagte Rama Shastri.
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»Menschenskind«, fügte Nirmal hinzu, »der Swami spürt Schwingungen, die wir nicht mal im entferntesten erahnen können. Glauben Sie mir!« »Gut. Folgen Sie mir.« Wrench war im Begriff hinterherzugehen, doch Hanuman legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleiben Sie unten«, riet er, »bleiben Sie bei Ihrer entzükkenden Tochter. In Ihnen ist so viel Liebe für sie, und ein solcher Mensch muß ständig um sie sein.« »Wollen Sie damit sagen, daß Liebe das heilt, was sie krank macht?« »Liebe hilft. Doch ist es nur Feuer, das wirklich heilen kann. Kennen Sie nicht auch das Wort, daß Feuer nur mit Feuer zu bekämpfen ist?« Jetzt sah Wrench genauso bestürzt drein wie zuvor George, doch er widersprach nicht. Hanuman gab George ein Zeichen, er möge ihm vorangehen. Oben warf er einen Blick ins Gästezimmer und betrachtete auch hier aufmerksam die Zimmerdecke. Das Fenster im Flur bebte, und George ging hin, um zu sehen, ob schon wieder ein Sturm im Anzug war. Aber da war weder Schnee noch Hagel, nur ein grauer Nebel über dem Storrow Drive, doch ein Wind rüttelte unentwegt an allem, was lose war. Ein schmiedeeisernes Balkongeländer schwankte bedenklich, blieb jedoch in seiner Halterung. Der Wind nahm zu, wurde heftiger, prallte gegen die Hauswand. »Lassen Sie uns weitergehen«, sagte Hanuman. Wieder zögerte George, doch Shastri, der mitgekommen war, sagte: »Du kannst ihm wirklich vertrauen!« George nickte und erwiderte rauh: »Ich tu’ ja alles, was ihr mir sagt.« Die oberste Etage war ursprünglich ein Dachboden gewesen. Jetzt waren überall in jedem Winkel Bücherborde angebracht, selbst unter allen Dachschrägen. Das Balkenwerk schien unter
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dem ständigen Druck des Windes zu vibrieren. George führte sie ganz in die Tiefe des Raumes. Er zog an einer Schnur, ein Vorhang glitt von einem großen Fenster zurück. Hier war die Arbeitsecke, wo er zu malen pflegte. Man sah einen großen, mit Farben und Malgerät bedeckten Tisch, da standen Behälter mit Pinseln, eine benutzte Palette lag daneben, ein Köcher mit Zeichenkohle und Bleistiften. Gegen die Wand waren einige Ölgemälde gelehnt, worauf hauptsächlich Straßenlandschaften, vorwiegend aus Boston mit seinen altertümlichen Gebäuden und den Schornsteinen, die wie Türmchen in den Himmel ragten, waren. Da war ein Bild vom Charles River an einem Sonnentag, Segelboote, eine HarvardRudermannschaft und die zuschauende Menge auf der Flußpromenade. Aber Hanuman ließ sich nicht ablenken und richtete sein Augenmerk sogleich auf die Stelle des Tisches, wo lauter Skizzenbücher säuberlich gestapelt lagen. »Ah«, sagte er, »hier sind Zeichnungen von Santha. Sind das alles Zeichnungen und Skizzen von ihr?!« »Ja«, bestätigte George, einigermaßen nervös. »Liegen sie in chronologischer Reihenfolge?« »Ja. Die oberen habe ich vor etwa einem Monat gezeichnet. Die weiter zurückliegenden sind weiter unten.« »Merkwürdig, die liegen nicht obenauf.« Hanuman blätterte durch die Skizzen, die Santha essend, lachend, in verschiedenen Stellungen oder auf einem Sessel sitzend, zeigten. »Man würde doch annehmen, die neueren Datums lägen obenauf.« »Was meinen Sie damit?« »Oh, bitte, ich habe nicht die Absicht, Sie in Verwirrung zu bringen, ich sehe nur auf die Daten in der unteren rechten Ekke. Sie haben Ihre Zeichnungen ja höchst präzise jeweils mit dem Datum der Anfertigung versehen. Diese hier ist drei Monate alt, am vierundzwanzigsten angefertigt, wie man sieht.« Er
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hielt die Zeichnung dicht ans Licht, so daß er jede Einzelheit erkennen konnte. Und alle schauten. Hanuman blätterte weiter, hielt bei der zwölften Zeichnung inne, dann bei der sechzehnten: »Sie haben sie oft gezeichnet.« »Manchmal zehn schnelle Skizzen täglich«, bestätigte George. »Santha ist ein hervorragendes Modell, ein ebenmäßiges Gesicht …« »Ja, eines, das im Gedächtnis haftet«, meinte Hanuman und blätterte mehrere Skizzenbücher durch, sorgfältig eines auf das andere legend. »Nun werden wir …« Er öffnete eines in der Mitte, aber die Seiten schlugen blitzschnell zurück, als blase ein scharfer Wind hindurch. »Aha!« sagte Hanuman. »Haben Sie das alle beobachtet?« Er versuchte dasselbe noch einmal, mit dem gleichen Resultat. »He«, rief Nirmal plötzlich. »Es wird auf einmal so kalt. Wie damals in dem Gäßchen, Meister!« Hanuman öffnete das Buch von neuem und drückte die Seiten beiderseits flach auf den Tisch hernieder. Er tat dies unter Gewaltanstrengung beider Arme. Der Tisch darunter bewegte sich, versuchte, sich zu bäumen, Hanumans Druck zu entweichen, und fiel zurück. »Der Tisch wiegt mindestens einen Zentner!« sagte George atemlos. »Zwei starke Träger haben ihn hier hinauftransportiert.« Die anderen waren zu sehr mit der Federzeichnung beschäftigt, die vor ihnen lag, als daß sie zugehört hätten. Ein Halbakt von Santha. Das Gesicht war ihr Gesicht, doch Rama Shastri, der sie am längsten kannte, begann angesichts des Fremden, das darin lag, zu zittern. Etwas anderes war an die Stelle der Ähnlichkeit mit Kamalas sanften Gesichtszügen getreten. Nichts mehr von dem herzlichen, schelmischen Lächeln, das sie von der Mutter geerbt zu haben schien. Der Mund war leicht geöffnet, die schlaff herunterhängende Unterlippe er-
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weckte den Eindruck von Heißhunger. Es war bemerkenswert, wie die Feder diesen Eindruck festgehalten hatte. Ein paar geschickt gesetzte Striche da und dort. Die hängende Unterlippe schien feucht vor Gier – der Ausdruck war fast der eines tollwütigen Tieres. Nirmal sagte in das Schweigen hinein: »Mann, wen will sie denn da verschlingen?« Hanuman brach der Schweiß aus. Es machte ihm offensichtlich Mühe, die Seite umzuwenden und eine andere aufzuschlagen. Ein schneller Blick nur auf eine Kohlezeichnung: Wild dreinblickende Augen. Der Mund halb geöffnet, kleine, scharfe Zähne, fast gefletscht. Auch George stand der Schweiß auf der Stirn: »Bis jetzt habe ich gar nicht bemerkt …« »Ja. Sie waren ihr zu nahe. Ihr Bewußtsein konnte diese Veränderung nicht akzeptieren. Darum haben sie die neuen Zeichnungen unter den alten versteckt.« Hanuman versuchte, seinen Atem wieder zu stabilisieren. Dies alles hatte ihn eine enorme Anstrengung gekostet. »Sie sind der ausführende Künstler, mein Freund, der, welcher die Dinge ans Licht bringt, so, wie sie wirklich sind. Die volle Wahrheit, sozusagen.« Rama Shastri trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Qual, die er durchlitt, war jenseits dessen, was er für möglich gehalten hätte. Kamen sie zu spät, um Santha zu helfen? Er hörte den Wind durch die Ritzen der Fensterrahmen pfeifen. Er zerrte an den Dachbalken. Plötzlich erklang es wie ein schwerer Schlag über ihren Köpfen. »Nun zu dem Ölgemälde«, sagte Hanuman und griff nach der Leinwand. Der Wind heulte über das Glas des schrägen Dachfensters hinweg. Eine ganze Reihe von Schlägen hämmerte auf die Dachplatten. »Verflucht noch mal«, schrie George, »wer springt denn da oben herum?« Dann wurde er rot vor Verlegenheit und meinte
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entschuldigend: »Das alles reißt an den Nerven. Es kann ja gar niemand dort oben sein. Du lieber Himmel – was für ein Sturm!« Hanuman hielt die bemalte Leinwand in den Händen. »Sprich, Gefangener, wer die unverwüstliche Kette zerbrach?« zitierte Nirmal Kapur. »Von wem ist das?« erkundigte sich George und wandte den Blick nicht von dem Porträt. »Aus dem Gitanjali von Tagore«, erwiderte Nirmal. »Diese Dame scheint mir in Ketten zu liegen. Na, und wie!« »Also, ich finde, sie sieht ganz und gar ungekettet aus. Sie sieht eher aus, als wolle sie aus dem Bild heraus – und uns anspringen«, sagte der Maler des Werks. »Aber das ist doch nicht Santha. Was, zum Kuckuck, war los mit mir, als ich das malte?« »Wieder der Künstler, der die Wahrheit ans Licht bringt.« »Das ist völlig verkehrt gemalt. Das ist doch nicht Santha! Ich kann fast nicht glauben, daß ich das gemalt haben soll … Wo war ich mit meinen Gedanken?« »Vielleicht erinnern Sie sich nicht völlig und genau. Vielleicht geht es Santha genauso. Aber sie hat Ihnen doch für dieses Gemälde gesessen, nicht wahr, George?« George starrte Hanuman, sprachlos an und fuhr sich mit der schweißnassen Hand über das Gesicht. Stirnrunzelnd blickte er zur Decke hinauf: »Ich wünschte, der Lärm hörte allmählich auf dort oben. Ich kann vor lauter Krach kaum noch denken. Du lieber Gott – ja, ich habe sie gemalt. Santha saß genau in diesem Sessel. Vor ein paar Tagen war das – morgens.« Er trat von dem Bild zurück, als müsse er einer Gefahr ausweichen. »Aber an Einzelheiten kann ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern.« »Wie war denn das an jenem Morgen?« George fuhr sich mit den langen schmalen Fingern durch den
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Bart: »Lieber Himmel, ich weiß nicht mehr. Ich … ich kann nicht mehr denken.« »Verständlich«, meinte Hanuman, und sein Blick suchte plötzlich die anderen. »Da fehlt jemand. Wo ist Rama Shastri?« Er hob die Stimme und rief: »Nirmal, geh und suche Rama Shastri! Bring ihn hierher, schnell!« Dort oben, dachte Rama Shastri. Es ist dort oben und lauert. Er stand im Flur, am Fuße der Treppe, die zu einer Klappe im Dach führte. Lauert und brütet über Santha, über Steve und über Kamalas Asche. Schaut hämisch auf uns Lebende und auf die, die in meiner Erinnerung weiterleben. Kamalas Kind. Nicht aber das Kind der Kunkali. Rama Shastri stieß mit einem Haken die Klapptür auf. Die Tür hob sich ein Stück. Aber dann kam eine Bö, riß die Tür aus dem Haken und schmetterte sie mit voller Wucht aufs Dach zurück. Shastri stieg die letzten Stufen hoch, stemmte sich gegen den Wind und stand nun mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem Dach. Er sah hinunter auf die düstere Esplanade, den bleigrauen Fluß. Dann schrie er plötzlich laut auf und wich, wie von einer riesigen Hand gestoßen, zurück, wild balancierend stand er nun an der Dachrinne, strebte zurück und suchte Schutz in einer Ecke zwischen den Schornsteinen. Zu Füßen im Westen dehnte sich ein Stück schmaler Helligkeit wie ein opalisierender Riß über dem schwarzen Himmel aus. Geisterhaft, wie ein Alptraum war dieser Anblick. Nebel stieg aus dem Fluß. Es sah aus, als wirbele er aus der Dachtraufe heraus, versperrte die Sicht. Hie und da noch ein Blick auf den sich verdunkelnden Fluß, auf die am Horizont versinkende Sonne. Aber da war doch gar keine Sonne … Schon wieder, schrie es in seinem Kopf, genau wie damals. Ich bin hier heraufgelockt worden! Da war das Geräusch schwerer Füße, stampfend im Übermut oder im Zorn. Shastri wußte es nicht. Und er war doch hier
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hinaufgestiegen, um nachzusehen, was … Was Kamalas Kind bedrohte. Der Nebel war undurchdringlich geworden, und es stank – stank nach Leichen. Rama Shastri hustete und krallte seine Fingernägel in die Ziegel des Schornsteins, hinter dem er sich verborgen hatte, bis seine Finger bluteten. Du Narr, beschimpfte er sich selbst und hörte das Echo: NARR! Und wußte, es war keine Einbildung. Dann hörte er seinen Namen im brausenden Wind. Jetzt hatte Sie ihn. Sie war der Nebel oder Sie war im Nebel verborgen. Neben ihm oder über ihm. Sie war gegenwärtig. Das war sicher. Sie war es, die in den Zeichnungen und dem Gemälde da unten steckte. Vielleicht schon sogar in Santha selbst. Sie war es, die aus Gauri Balas Augen sprach. Und auch aus Santha. Steves Baby, Kamalas Kind, ihrer aller Santha. Seine Santha. Rama Shastri begann zu weinen. »Rama Shastri.« Ein Paar kräftiger junger Arme umschlang ihn. Warmer, menschlicher Atem war an seinem Ohr. Er hob den Blick und sah Hanumans Schüler. Sie bewegten sich langsam von dem Schornstein fort. Einen Augenblick lang dachte Shastri, daß die beiden vom Dach gefegt werden würden, doch Hand in Hand brachten sie es fertig, wieder sicheren Boden zu erreichen, den Sims, der zu der offenstehenden Dachluke führte. Der Nebel teilte sich, war auf einmal fort. Als Nirmal sich zu der Türluke herabbeugte, fiel ein Sonnenstrahl auf eine seiner Haarsträhnen, verfing sich darin wie rötlicher Feuerschein. »Puh, das stinkt aber hier oben«, sagte Nirmal. »Der Flußnebel«, sagte Shastri und rieb sich die Tränen von den Wangen. »Der beißt einen auch in die Augen.« »Dies alles zu akzeptieren ist für Sie als Psychiater gewiß schwierig, mein Sohn«, sagte Hanuman und legte mitfühlend seine Hand auf Georges Schulter, nachdem sie jetzt alle wieder
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beisammensaßen. »Aber als Künstler wissen Sie, was Perspektive und das Ändern und Neugestalten von Gegenständen auf der Leinwand bewirken kann. Vielleicht ist die Dimension, mit der und durch die Kali sich bewegt, etwas Ähnliches. Und ich bin gewiß nicht der einzige Mensch in Amerika, der in der letzten Zeit davon betroffen ist. Auch Santha ist es. Die Erfahrungen, die sie gemacht haben, war der Beginn einer Besitznahme, eine Veränderung ihrer Psyche, die bis zu diesem Augenblick im Gange war und ist. Wir können Santha als Medium betrachten, denn obgleich das ein abgedroschener Begriff ist, so entspricht es doch der Wahrheit. Sie trägt jetzt das Zeichen Kalis auf ihrer Stirn. Jetzt arbeitet die Kraft des geistigen Widerstands durch sie ebenso, wie sie durch Gauri Bala wirksam wird.« Er wandte sich Rama Shastri zu: »Selbst jetzt, wo Santha schlaft. Das dürften Sie soeben auf dem Dach festgestellt haben.« »Das tat Santha?« »Nein, Rama Shastri. Kunkali tat es, durch das Medium Santha, als Transmitter sozusagen.« »Was, um Gottes willen, ist passiert, Rama?« fragte Wrench. »Bitte, zuerst muß ich die Zusammenhänge fertig erklären. Die erneuerte Energie, die aus der dunklen Pforte tritt, wächst. Kali manifestiert sich durch Gauri Bala und jetzt auch durch Santha. Sie beweist sich in der Wiederkehr des Thugismus, in der Person dieses auserwählten Thug-Anführers, der auch die Rollen besitzt und festhält, die er von den Sehern erhielt. Diese Rollen sind zu allem der Schlüssel. Sie ermöglichen diesem Mann die Führerschaft über alle Thugs. Wir müssen ihn finden, und wir müssen die Rollen in unseren Besitz bringen, sonst …« »Sonst, was?« schrie Wrench verzweifelt. »Sonst sind wir nicht in der Lage, Ihrer Santha zu helfen.« Alle sahen plötzlich wie leblos aus. Rama Shastri war eine Weile wie gelähmt, als er versuchte, in den Gesichtern zu le-
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sen. Es war, als hätten Hanumans Worte alle Emotionen in ihnen abgewürgt, jeden Ausdruck zunichte gemacht. Hanuman saß da, merkwürdig anzusehen, wie eine Puppe mit flachgedrückter Nase unter blauem Turban. Für einen Augenblick lang schien es ganz unmöglich, das, was er sagte, ernst zu nehmen. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Seine ruhige, vertrauenerweckende Stimme und die wachen Augen drangen in ihr Bewußtsein. »Wir müssen jetzt unseren Willen anstrengen, weil Kunkali zuerst den Willen zu brechen sucht. Wenn da nur die geringste Schwachstelle in unserer Abwehr ist, wird sie sich das zunutze machen. Wenn nötig, müssen wir einander gegenseitig ermuntern. Wir müssen als Gruppe Geschlossenheit bewahren, intakt bleiben. Einzeln sind wir wie Wachs in ihren Händen, das sie nach Belieben kneten kann. Gemeinsam sind wir eine Gruppenenergie, ein einziger Wille, der imstande sein wird, ihr die Stirn zu bieten.« »Ich bete darum, daß es so sein möge«, sagte Shastri. Und Wrench ergänzte: »Amen!«
30 Shastri, Wrench, Hanuman und Nirmal fuhren in einem Taxi nach Cambridge. Hanuman hatte vorgeschlagen, in seine Wohnung zu fahren, damit sie dort ihre Strategie überlegen und vorbereiten könnten. Wrench verließ Santha zögernd, doch George hatte ihm hoch und heilig versprochen, gut auf sie aufzupassen. Nun saß er neben dem Fahrer, die anderen drei hatten auf dem Rücksitz Platz genommen. Nirmal fragte Shastri: »Was ist mit dem Auserwählten, Sie haben ihn doch einmal gesehen. Was ist das für ein Typ?« Ein paar Stunden später wiederholte er seine Frage, weil 403
Shastri nicht geantwortet hatte. Shastris Stimme klang ausdruckslos. Die Szene im Höhlentempel lag so fern zurück, irgendwo im Schatten Indiens, untergegangen im Dunkel der Vergangenheit. »Ein Riese an Gestalt«, sagte er, »dessen Stimme wie Donnerhall klang. Eigentlich wirkte er auf mich eher wie ein Phantom, statt wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.« »Aber er kann kein Phantom sein. Er muß ein Mensch sein. Ich meine, weil er doch offenbar ein großer Guru ist, ein Sadhu, der sich für den dunklen, den negativen Pfad entschieden hat, aber dennoch ein Mensch. Ein Thug-Fürst ist doch immer ein Mensch, oder?« »Ja. Er ist ein Mensch. Aber sehen Sie, die Umstände an jenem Morgen waren außergewöhnlich. Die Wachskerzen qualmten. Das Licht war so trübe, daß ich ihn nicht so genau betrachten konnte, wie ich es gerne getan hätte. Das Ganze war überhaupt bühnenreif arrangiert. Ich glaube, dieser Anführer hat eine ausgesprochen dramatische Ader.« Aber wie auch immer, wenn wir uns noch einmal begegnen – und das werden wir gewiß –, werde ich ihn näher kennenlernen, nahm sich Shastri im stillen vor. Ich werde ihn auch wiedererkennen. Nicht nur, weil er soviel größer war als alle anderen, nicht nur, weil mir seine Stimme wie ein Erdbeben in Erinnerung ist, sondern weil er die Macht des Thugismus verkörpert, und das Böse in ihm wird mir sagen, daß er anwesend ist. Ich glaube, dem ist wirklich so. Seit seinem schnellen unerwarteten Tod spricht das ständig zu mir. Ich glaube, daß er gerächt werden muß und daß dies meine Aufgabe ist, denn die Gerechtigkeit muß siegen, und es liegt in meiner Hand, daß dies geschieht. In Hanumans Wohnung begegneten sie Molly Doyle und der dicken Frau in Latzhosen, die auf der Couch saßen und Sahnebonbons aus einer Schale naschten.
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»Molly Doyle, Adelaide Jaworski«, stellte Nirmal vor, während sich unter seinen Schuhen allmählich kleine Pfützen bildeten. Der warme Wind da draußen hatte den Schnee in strömenden Regen verwandelt. Er trommelte nun gegen die Fenster, als sei er erbost, draußen bleiben zu müssen. Molly bot Sahnebonbons an, Wrench nahm eines, steckte es sich in den Mund und bedankte sich zwinkernd mit einem »Hmmm!« Nirmal trieb sie den Flur mit seinen vielen Türen entlang. Der Swami war schon ein ganzes Stück voraus und beeilte sich ganz offenbar, in sein Zimmer zu kommen. Als Shastri und Wrench im Begriff waren, ihn zu fragen, drängte Nirmal sie in einen anderen Gang: »Der Meister geht, um zu meditieren«, sagte er erklärend. Sie ließen sich schließlich in einem großen, gemütlichen Raum mit Kamin und geschmackvoller Einrichtung nieder. An den Wänden standen deckenhohe Bücherregale. Nirmal fragte, ob sie Tee und Gebäck haben mochten, er könne beides schnell besorgen. Sie stimmten zu, und er verschwand. Als er zurückkam, saß Stephen Wrench von Pfeifenrauch umwölkt und ganz in seine Gedanken versunken da. »Warum ging Hanuman neulich abend mit in Mai Yoginis Yoga-Center?« erkundigte sich Shastri unvermittelt. »Mai Yogini kam weinend und jammernd zu mir«, erklärte Nirmal, »und bat mich, Hanuman dazu zu bewegen, ihrem Center die Ehre zu geben. Sozusagen als Show-Effekt. Ich kenne die Dame wirklich sehr gut. Ich hatte ein Verhältnis mit ihr, als ich noch ein Flippy war. Das war, bevor ich mich für die Wahrheit entschied, bevor ich meinen Meister traf. Also, ich fragte ihn, ob er mitkommen würde, und zu meiner großen Überraschung sagte er zu. Hanuman wußte, daß er auf der schwarzen Liste der Thugs stand, da bin ich sicher. Er hat die
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Gabe, Dinge vorauszusehen, bevor sie geschehen.« »Ja«, stimmte Rama Shastri zu, »so muß es wohl gewesen sein, als er in den Keller hinunterstieg, um seinen vorgesehenen Mörder zu suchen.« »Drei, Menschenskind! So was macht mir Angst. Der reine Wahnsinn. Der Meister ist hart im Nehmen, aber es gleich mit dreien aufzunehmen!« »Diese Mai Yogini – Sie haben sie in Verdacht, daß sie mit den Thugs unter einer Decke steckt?« »Absolut. Aber nicht aus eigener Entscheidung. Da bin ich sicher. Das ist nicht ihre Art. Sie ist zwar eine Hochstaplerin, eine bildhübsche, äußerst anmutige Betrügerin, aber nicht von der Art, die zum Mord bereit ist. Sie hatte Angst, furchtbare Angst. Nie zuvor habe ich Mai Yogini so erlebt. Nie.« »Na, Ram – eine mögliche Hauptfigur?« »Gibt es noch irgendwelche anderen Hinweise, Nirmal?« »Nur, was ich aus Harvard-Square-Klatsch weiß. Bei ihr treffen sich alle, verstehen Sie. Diejenigen, die ganz wild auf jede Art fernöstlichen Kultes sind, die Vedantisten, HareKrishna-Jünger, die Sikhs und die Zen-Anhänger. Da kommt was zusammen, und man hört so allerlei. Und die Leute kennen mir gegenüber sowieso keine Hemmungen, weil ich Inder bin. Neulich habe ich von einer neuen Gruppe gehört – Kali Alkali. Speziell auch für Frauen. Die Kali Mahila Mandai – eine Frauenvereinigung. Möglicherweise hat diese Gruppe etwas mit unseren Gelbschalwerfern zu tun, und vielleicht ist Mai Yogini gezwungen worden, diesem Verein beizutreten, diesem Mahila Mandai, verstehen Sie?« »Sie glauben – gezwungen?« fragte Shastri erstaunt. »Ja, gezwungen. Die Yogini hat es nicht mit Clubs und Vereinen. Dazu ist sie viel zu ichbezogen. So was bedeutet ja, daß sie nur eine unter vielen ist.« »Steve, wenn sie ohne Überzeugung dabei ist, vielleicht
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können wir sie dazu bringen, daß sie plaudert. Ich kann ihr Schutz versprechen …« Shastri unterbrach sich. Sie hörten aufgeregte Schritte auf dem Flur und eine männliche Stimme, die immer wieder Wrenchs und Shastris Namen wiederholte. Nirmal ging zur Tür und schaute hinaus. »Was ist denn los, Adelaide?« »Draußen ist ein Mann mit einem verprügelten Mädchen. Die scheint mir nicht ganz astrein zu sein. Er sagt, er kommt noch mal. Er sei von der Polizei. Molly hat ihn nicht reingelassen. Du weißt ja, daß sie was gegen Bullen hat.« »Das klingt ganz so, als sei es Dan gewesen«, meinte Wrench. Sie hatten, bevor sie aufbrachen, Hanumans Adresse bei George Buchan gelassen, für den Fall, daß Polizeileutnant Terranova anrief oder selbst vorbeikam. »Bin gleich wieder da.« Nirmal ging zu dem Raum hinüber, wo die beiden Ankömmlinge warteten. In der Zwischenzeit rannte Wrench ungeduldig im Raum auf und ab. Auch Shastri war erregt. Diese neuen Informationen über Mai Yogini boten Aussicht auf Hoffnung für sie alle. Ein Hinweis, welcher Art auch immer, konnte zum Fingerzeig werden, wo der Erwählte und seine Anhänger sich aufhielten. Nirmal und Terranova traten ein, ein junges Mädchen in ihrer Mitte. »Als ich hier eintraf, fand ich diese junge Dame zusammengekauert auf der Treppe«, sagte Terranova. »Sie stöhnte und wimmerte. Sie ist völlig benommen, in einer Art Schock, möchte ich sagen.« Er machte eine Pause, sowohl um Atem zu schöpfen, als auch um seine Worte wirken zu lassen. »Und außerdem murmelte sie Unverständliches: Heute abend werden sie Bob erwürgen, wir hätten die Schlinge niemals klauen dürfen.« »Wie heißen Sie?« fragte Stephen Wrench und bemühte
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sich, möglichst klar, langsam und deutlich zu sprechen. »Mann, die ist wie aus Stein!« bemerkte Nirmal. Das Mädchen lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen in einem Sessel. Man hatte sie, weil sie völlig durchnäßt war, in Decken gewickelt. Sie zitterte. Shastri kniete neben ihr nieder und untersuchte ihre Arme auf Zeichen von Gewaltanwendung hin. Dann hob er ihre Augenlider. Die Pupillen waren stark erweitert. »Möglicherweise hypnotisiert«, meinte er schließlich. »Wie heißen Sie, meine Liebe?« wiederholte Wrench. Er hatte sich über sie gebeugt und sprach direkt in ihr Ohr. »Deborah«, teilte er den anderen mit, die gespannt um die beiden herumstanden. Wrench erkundigte sich, ob einer von ihnen diesen Namen schon einmal gehört hatte. Aber keiner konnte diese Frage bejahen. Shastri ergriff sie behutsam bei den Handgelenken, die beide bandagiert waren. »Deborah«, drängte er, »erzähl uns was von Bob.« Ihre Lippen formten lautlos »Bob«. »Ja, Bob. Was soll heute abend mit Bob passieren? Erzähl uns von Bob, Deborah!« Sie starrte ihn völlig verständnislos an. Dann entzog sie ihm ihre Hand und bedeckte ihren Mund. »Ooooooh!« stöhnte sie. »O Bob, mein Gott! Genau wie mit Abel.« Einen Augenblick hielt sie die Luft an, und kurz darauf seufzte sie tief. Wrench setzte seine Befragung fort: »Abel Fairley? Der Bursche mit den Flugblättern?« Sie hob die Stimme, schrie fast: »Wir hätten das nicht tun sollen.« Sie schnitt eine verzweifelte Grimasse. »Das war dumm von Bob, so was zu machen.« »Bob, wie noch?« drängte Shastri. »Bob Fevre. Er hat die Schlinge gestohlen. Der Erwählte – ach, du lieber Himmel, wie war der wütend!«
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»Klar«, sagte Shastri. »Wütend über Bob und über Sie wahrscheinlich auch.« »Ja, ja. Ich bin weggerannt. Die dachten, ich schlafe, aber ich bin weggerannt. Aus der Hintertür entwischt. Die Mutter war nicht da.« Deborah zitterte erneut. »Die Mutter mag es.« »Mag was?« »Blut!« schrie Deborah. Shastri hielt ihre Hand ganz fest. Terranova, der bis dahin geschwiegen hatte, meinte besorgt: »Wir sollten lieber mit ihr zu einem Arzt gehen.« »Natürlich, natürlich«, erwiderte Shastri ungeduldig. »Rufen Sie einen Polizeiarzt. Der hält wenigstens den Mund.« Er wartete, bis Nirmal Terranova hinaus zum Telefon geleitete. Nun, mit Wrench allein gelassen, wandte er sich dem benommenen Mädchen wieder zu und hob ihr Kinn an: »Deborah«, sagte er ernst, fast streng, »erzähle uns alles über Bob Fevre. Wo ist er jetzt? Warum wollen sie ihn töten?« Wieder nur ein starrer Blick. Er ließ sie ein paar Sekunden lang so ins Leere starren, aber dann änderte sich der Blick, und Shastri glaubte erstaunt, Haß darin lesen zu können, unversöhnlichen Haß. Deborah schien sich jedoch gleich darauf wieder zu beruhigen. Sie schluckte und setzte mühsam zum Sprechen an: »Bob hat Abel umgebracht.« Wieder ein nervöses Schlucken. »Ich hab’ Abel umgebracht. Bob meinte, wir sollten mal mit der Schlinge experimentieren.« Und dann schrie sie plötzlich lauthals: »Es war ein Scheißspiel!« »Bob hat diesen Seidenschal, aus dem die Schlinge gemacht wird, gestohlen. Und dafür wollen sie ihn nun bestrafen, stimmt das?« So einfach, dachte Shastri, ist die Erklärung für Abel Fairleys Tod. Zwei verführte Kinder spielen Thug-Spiele für Jugendliche, ein schändliches Spiel. Und völlig sinnlos. Aber
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man hatte sie dafür wohl ausgesucht. Deborah war vermutlich eine Gefangene gewesen. Sein Blick fiel auf ihre bandagierten Handgelenke. Da hatte es Blut gegeben … »Bob ist dauernd unterwegs, auf der Flucht. Er weiß, daß sie hinter ihm her sind. Heute abend um halb zehn wollen sie …« Deborah wirkte auf einmal sehr klar. »Heute abend wollen sie zu seiner Wohnung in Arlington gehen und –« »Und ihre Rache haben«, unterbrach Shastri sie. »Wo wohnt er genau?« »Mundy Street 216. Im vierten Stock, Appartement 44. Können Sie sie nicht aufhalten? Ich bin hierhergekommen, weil ich weiß, daß der Swami ihn retten kann. Und mich auch. Wo ist er denn?« »Er ist hier im Haus«, versicherte ihr Nirmal, der wieder hinzugetreten war. Wrench setzte die Befragung fort: »Sagen Sie uns etwas über die Adresse, von der sie fortgelaufen sind. Wo war das?« Sie nickte. »Ja, ich bin geflohen.« »Von wo?« Sie schloß die Augen, die Stirn gerunzelt. Schweiß tropfte ihr von den Schläfen. »Hören Sie besser auf damit«, meinte Terranova, der den Raum gerade betreten hatte, »wickeln Sie sie lieber in noch mehr Decken. Es ist ja schrecklich, wie sie zittert.« Wrench erhob sich. »Sie kennt das Versteck der Thugs, Dan, und das müssen wir auf jeden Fall erfahren«, schnauzte er plötzlich los. »Meine Tochter ist bereits in deren Klauen, falls Sie das vergessen haben! Dies ist eine Frage für Santha und für alle, die in ihrer Lage sind. Ich …« Terranova wies auf das Mädchen. »Mittlerweile ist sie bewußtlos geworden. Sehen Sie das nicht? Was erwarten Sie von mir? Was soll ich tun?« »Versuchen Sie, Hanuman herzuholen! Sie hat nach Hanu-
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man gefragt. Da ist wieder diese gottverdammte übernatürliche Komponente. Wir brauchen ihn.« »Übernatürlich?« fragte Terranova. »Da gibt es so etwas wie eine Göttin, einen Dämon … Verdammt noch mal … Frauen sind davon besessen, Dan. Es ist absolut unnatürlich, jenseits jeder uns bekannten Grenze …« Er wandte sich unvermittelt an Nirmal: »Wo ist der Swami?« »Sie wollen mich wohl verkohlen«, fragte Dan vorwurfsvoll. »Erklär du es ihm, Ram. Hilf mir mal, ja?« Und wieder zu Nirmal gewandt: »Holen Sie bitte Hanuman! Sie ist ohnmächtig geworden. Sie haben doch selbst gehört. Gerade wollte sie uns sagen, wo diese Aasbande sich versteckt hält.« »Sie geraten in Panik, Mr. Wrench. Der Swami hat uns gewarnt und gesagt, daß wir unsere Ängste in den Griff bekommen sollen, wir –« »Ja, ja, das sollten wir. Aber ich war schon so nahe dran. Diese Deborah weiß, wo sie zu finden sind. Können Sie den Swami nicht herholen?« Nirmal seufzte: »Na schön, dann versuchen Sie’s mal«, entgegnete er. Er führte Shastri und Wrench wieder den Korridor entlang und blieb vor zwei schweren Türen stehen. »Der Swami hat die Decke dieses Raumes herunterbrechen lassen, um den Effekt zu erzielen, den er sich vorstellt. Er liebt die Höhe«, sagte Nirmal erklärend. Sie betraten einen Raum, der so groß war, daß ihre Schritte widerhallten. Es gab keine Möbel darin und keine Beleuchtung. Dämmerlicht, das durch die Fenster an der Südwestseite des Raumes drang, ließ eine Reihe von Seilen erkennen, die von oben herabhingen. Wrench und Shastri bogen die Köpfe zurück und starrten sprachlos auf die Gestalt, die fast die Decke im zweiten Stockwerk berührte. Die Fenster dort oben im zweiten Stock ließen diese Gestalt noch so gerade im Dämmerlicht des einbrechenden Abends erkennen.
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»Wie Sie sehen, meditiert er immer noch«, sagte Nirmal. Hanuman hing an einem der sechs Seile, nur mit seinen Zehen festgeklammert. Er trug nichts außer einem Lendentuch und hing so mitten in der Luft, fast horizontal, die Arme über der Brust gekreuzt, die Augen geschlossen, den Ausdruck von Verzückung im Gesicht. »Wann kommt er wieder herunter?« erkundigte sich Wrench. »Wer weiß? Ich könnte mir jetzt die Lunge aus dem Leibe schreien oder ein Höllenfeuer unter ihm machen. Das würde alles nichts nützen.« Nirmal grinste verschmitzt zu seinem schwebenden Meister hinauf. »Er ist einfach nicht da.« Sie kehrten in die Bibliothek zurück, um Deborah in einem noch tieferen Trancezustand zu finden als zuvor. Wrench begann wieder auf und ab zu rennen. Da öffnete sich die Tür. Wrench drehte sich in der Erwartung des Polizeiarztes um. Statt dessen betrat Hanuman, völlig angekleidet, den Raum. Shastri erhob sich verblüfft aus dem Sessel, in den er sich niedergelassen hatte. Hanuman nickte nur, nachdem er alles über Deborah gehört hatte, ging zu ihr hin und hob ihr Augenlid. Seufzend setzte er sich in einen Sessel ihr gegenüber und schien plötzlich wieder wie geistesabwesend. Schließlich bedeutete er den anderen, den Raum zu verlassen. »Sie ist ein Köder«, sagte er, »man hat sie hypnotisiert, so daß sie nur das sagen kann, was sie sagen soll. Kein Wort mehr. Es würde für die Thugs eine Bedrohung darstellen, weil es wahrscheinlich ist, daß wir dann ihren verborgenen Wohnsitz finden und uns der Rishi-Rollen bemächtigen und damit die Macht des Erwählten auf ein Nichts zusammenschrumpft. Das fürchten sie, und darum haben sie alle Erinnerung an den Wohnsitz und alles, was damit zusammenhängt, aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Wir sollen manipuliert werden, Bob Fevres Wohnung aufzusuchen. Die Besorgnis des Mädchens um ihren
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Mordkumpanen ist nur gespielt. Sie ist direkt hierhergeschickt worden.« »Wie können Sie so sicher sein, daß Sie recht haben?« fragte Terranova erstaunt. »Betrug ist jedem Thug so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Man muß lernen, ihnen grundsätzlich nicht zu trauen. Thugs sind stolz auf ihre Täuschungsmanöver. Wie ein Taschendieb sorgt jeder Thug dafür, daß sich sein Gegner erst einmal in die absolut falsche Richtung orientiert. Ich versichere Ihnen, daß wir heute abend schon erwartet werden.« »Sollen wir dann überhaupt hingehen?« wollte Wrench wissen. »O ja. Sie erwarten uns, und wir müssen da sein. Besser ist es, den schlimmen Tatsachen ins Gesicht zu schauen, als wie ein paar Nachtwandler keine Ahnung zu haben, was auf uns zukommt. Vor uns liegt ein Abgrund, aber wenn wir unsere Gemeinsamkeit nicht aufgeben, werden wir nicht über den Rand stürzen.« »Ihre Augen sind wie tot«, sagte Wrench halblaut zu sich selbst. Als der Arzt, von einer Krankenschwester begleitet, eintraf, zeigte er sich sofort beunruhigt. »Da ist ja kaum noch ein Pulsschlag vorhanden«, meinte er erschrocken und zog eine Spritze mit Adrenalin auf. »Doktor, schauen Sie!« sagte die Schwester und zeigte auf das Mädchen. Deborah bewegte sich, ihr Gesicht bekam wieder etwas Farbe, ihre Augenlider zuckten. Wrench tat einen Schritt vorwärts. »Keine Fragen jetzt«, sagte der Arzt und hielt ihn zurück. »Soll es meiner Santha vielleicht genauso gehen?« schnauzte Wrench plötzlich los. Hanuman achtete nicht auf seine Aufregung, sondern schlug den Anwesenden vor, einen kleinen Imbiß zu nehmen, und führte sie ins Speisezimmer. Dort wurden Meeresfrüchte ser-
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viert, Krabben, Miesmuscheln, Venusmuscheln und einiges indisches Gemüse als Beilage. Fast alle aßen jedoch ohne Appetit. Statt dessen besprachen sie, um Terranova die Zusammenhänge klarwerden zu lassen, die übernatürlichen Aspekte dieses Falles. Und er hörte gespannt zu. »Diese grauenvolle Kali geht einem direkt an die Kehle«, sagte Wrench erbost. »Wenn du eine schwache Stelle hast, sie findet sie todsicher. Schau, was sie mir und meiner armen Santha angetan hat.« »Was Steve damit sagen will, Dan«, ergänzte Shastri, »ist, daß wenn sie einen von uns, getrennt von den anderen, erwischen kann, sie ihn an seiner verwundbarsten Stelle treffen und seinem sicheren Verhängnis zuführen wird. Darum bleibe heute abend bei uns und geh um Gottes willen keine eigenen Wege.« Terranova wurde sehr still. Aber dann sprach er aus, was er dachte. »Ja«, gab er zu, »ich habe eine schwache Stelle. Das war auch der Grund dafür, weswegen ich zur Polizei ging.« »Möchtest du uns daran teilhaben lassen?« fragte Wrench. Terranova zündete sich eine Zigarette an und rauchte eine Weile stumm. »Es ist schon Jahre her«, begann er schließlich, »damals war ich noch auf dem College. Dort hatte ich ein Mädchen kennengelernt, und wir wollten heiraten.« Er lächelte in der Erinnerung. »Betty Lassiter war das schönste und klügste Mädchen in unserer Oberstufe. Ach, nur wenn ein Mann sie ansah, begann er schon von ihr zu träumen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Ja, das haben wir alle schon mal durchgemacht«, bestätigte Wrench. »Also, eines Tages fuhr sie in den Sommerferien zu Verwandten nach Los Angeles. Ihr Vetter Eunice lebte dort. Als sie nach Wochen zurückkam, war Betty ganz verändert. Sie war von ihrem Vetter in die Drogenszene eingeführt worden
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und nahm LSD. Als ich sie vom Flugplatz abholte, war sie mit dem Zeug randvoll.« Wieder schwieg er eine Weile. Grimmig fuhr er fort: »Zwei Wochen später sprang sie vom Dach eines zehnstöckigen Hochhauses. Im LSD-Rausch hatte sie sich eingebildet, sie könne fliegen wie ein Vogel. Danach vergaß ich meine Berufspläne, und anstatt Ingenieur zu werden, ging ich zur Polizei und machte dort mein Examen. Ich wollte vernichten, was sie getötet hatte, die Dealer auf den Straßen, das organisierte Verbrechen. Nun ja, da liegt meine Schwachstelle.« »Bleib nur bei uns, Dan, und vergiß das nicht«, sagte Wrench wohlmeinend, nachdem sie alle lange geschwiegen hatten.
31 Die Mundy Street war eine der wenigen Straßen in Arlington, Massachusetts, mit einer Reihe von roten Backsteinhäusern. Sie waren um die Jahrhundertwende erbaut worden und boten Wohnraum für die wachsende Bevölkerung. Diese soliden Häuser beiderseits der Straße bildeten seit Jahrzehnten eine Schranke gegen das feuchtkalte Neuengland-Wetter. Fast alle waren in gutem Zustand, nur Bob Fevres Haus bildete eine Ausnahme. In dem Fenster der Doppeleingangstür war ein großer Riß, und die Tür hatte kein Schloß. Rowdys hatten es schon vor ziemlich langer Zeit einfach herausgerissen. Dan Terranova, Stephen Wrench, Rama Shastri, Swami Hanuman und Nirmal Kapur standen im allmählich nachlassenden Regenguß vor der verfallenen Hausfront. Shastris Armbanduhr zeigte genau vierzehn Minuten nach zehn Uhr abends. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf zwei weit offene Fenster im dritten Stock, deren lose Fensterläden im Nachtwind hin und 415
her schlugen. »Und das ist also Fevres Zufluchtsort?« fragte Nirmal. »Schon möglich«, entgegnete Hanuman. Er trug seinen Turban und einen alten Mantel aus Yakwolle. »Vielleicht ist er Frischluftfanatiker. Hören Sie mal, was ist das?« »Gesang«, stellte Terranova fest. Wrench verkrampfte sich, hörte die Stimme und versuchte, sie abzuschütteln, wie man Regentropfen abschüttelt. Immer noch sah er Deborahs ausdruckslose, erstorbene Augen vor sich und dachte verzweifelt: Werden sie Santha auch so weit bringen? Erregt schlug er seine Pelzkappe gegen seine Oberschenkel in dem Bemühen, das Regenwasser aus dem Fell zu schlagen. Der Regen war wieder stärker geworden und trommelte gegen die geparkten Wagen, klatschte gegen die Ziegelwände und strömte aus den Regenrinnen. Losgelöste Schneeplatten rutschten von den Dächern und donnerten auf die Straße oder in die Vorgärten. Überall lag Schneematsch. »Na, dann wollen wir mal raufgehen«, schlug Hanuman vor. Er wandte sich zu Nirmal: »Mein Sohn, du bleibst als Aufpasser an der Eingangstür. Aber streng dich bitte an, so unsichtbar zu sein wie Vishnus Atem!« Terranova zog einen Revolver aus seiner Manteltasche. »Können Sie damit umgehen?« Nirmal nahm die Haltung eines Golfspielers ein und schwang auch in ähnlicher Weise die Arme über den Kopf: »Vergessen Sie es. T’ai Chi.« »Erst zwei Lehrgänge«, sagte Hanuman lächelnd, »aber er hat schon eine Menge gelernt. Er spürt den leisesten Wind.« Terranova überlegte kurz, was der Wind Nirmal wohl in einem Handgemenge nützen würde, sagte aber nichts. Appartement 44 hatte kein Namensschild an der Tür. Aber von drinnen war ein dröhnendes, monotones Singen zu hören.
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Terranova klopfte an die Tür und rief Bob Fevres Namen. Erschöpft meinte er schließlich: »Vielleicht sollten wir doch lieber die Tür einschlagen.« »Ziehen Sie nicht die Aufmerksamkeit der Umwelt auf uns«, warnte Hanuman. »Wir müssen die Öffentlichkeit vorläufig noch meiden. Je mehr Leute mit hineingezogen werden, desto größer ist die Gefahr, die Spur zu verlieren. Die KunkaliAnhänger werden sich letzten Endes so verstecken, daß wir sie überhaupt nicht mehr finden.« Terranova erneuerte seine Anstrengung. Der Gesang drinnen wurde nicht ein einziges Mal unterbrochen. »Vielleicht ist er schon tot. Vielleicht kommt der Gesang von einem Tonband.« »Das wollen wir mal herausfinden.« Hanuman lief die paar Stufen bis zum nächsten Treppenabsatz herunter und blieb bei dem Fenster stehen, an dem die Feuerleiter vorbeiführte. »Mr. Terranova, Ihre Arme sind lang und kräftig. Können Sie mich bis zu der Fensterbank dort, halbrechts von der Feuerleiter, hochheben?« Dan wurde blaß. Hilfesuchend blickte er zu Wrench hinüber. Doch der nickte zustimmend. »Er kann wie ein Affe klettern.« Und Hanuman fügte hinzu: »Das Fenster, das ich meine, gehört zweifellos zu Fevres Appartement, es ist vielleicht die Küche oder das Badezimmer. Ich kann es aufdrücken und in die Wohnung einsteigen.« Terranova trat hinter Hanuman auf die Stufen der Feuerleiter. »Nun heben Sie mich an«, hörte er ihn sagen, woraufhin er den kleinen Mann vor sich unter den Achselhöhlen ergriff und hochstemmte. Es war einfach. Hanuman hatte das Gewicht eines Kindes. Auf Hanumans Bitten hin hob Terranova ihn über das Geländer der Feuertreppe hinaus. Einen Augenblick warf er einen Blick auf den verregneten Hinterhof, drei Stock-
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werke tiefer. Heiliger Himmel, dachte er, wenn ich nun ausrutsche? Das Fenster lag um einiges höher als das Geländer der Feuertreppe. Terranova streckte sich so weit es ihm möglich war, und die Hände des Swami konnten das Fenstersims fassen. »Höher«, drängte er, und Terranovas Hände glitten den schmalen Körper hinab bis zu den Knöcheln. Das gab dem Swami die Möglichkeit, gegen das Fensterglas zu drücken. Leise, kaum hörbar, öffnete sich das Fenster nach innen. Der Gesang, die tiefe Stimme eines Mannes, drang in den Hinterhof hinaus. »Jetzt lassen Sie mich los«, flüsterte Hanuman, und Terranova tat, was er sagte. Einen Augenblick lang hing der Inder in der freien Luft, die Hände am unteren Fensterrahmen festgekrallt. Dann stemmte er sich hoch. Sein Körper hob sich allmählich, die Arme beugten sich, zogen den Körper nach, und schließlich waren seine Hüften in gleicher Höhe mit dem Fensterbrett. Aufgerissenen Auges beobachtete Terranova, wie sich die Zehen des kleinen Mannes von der Ziegelwand abstießen, wie er das Bein beugte und sich mit einem Knie auf das Sims stützte. Das andere Bein wurde nachgezogen. Dann schwang sich der Swami lautlos in den Raum und verschwand. »Unglaublich!« murmelte Terranova und wäre fast gestolpert, weil sein Fuß gegen etwas gestoßen war. Dort standen die Schuhe des Swamis auf der Stufe der Leiter. Hanuman war, bevor die eigentliche Klettertour begonnen hatte, herausgeschlüpft. Terranova nahm sie mit ins Treppenhaus zurück und betrachtete sie fassungslos – sie hatten Kindergröße. Hanuman hatte mittlerweile festgestellt, daß er sich im Badezimmer befand. Leise schloß er das Fenster wieder. Aber die kalte Luft hatte den Raum bereits gefüllt und die Ecke eines Mick-Jagger-Posters losgerissen. Der Duft von Sandelholz erfüllte den kleinen Raum.
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Hanuman öffnete die Tür zum Flur. Er war unbeleuchtet. Er schlich lautlos in Richtung des Gesanges und kam ins Wohnzimmer. Er schaute vorsichtig um den Pfosten der weitoffenen Tür und erblickte in einer Ecke einen jungen Mann in Lotosstellung auf einem indischen Teppich sitzend. An allen vier Ecken des Teppichs stand eine brennende Kerze in einem Halter. Auch hier war der starke Duft von Sandelholz. Es rührte von dem Räucherstäbchen her, das zu Fevres Füßen in einem kleinen Gefäß verglühte. Mit dem Gesicht zum offenen Fenster gewandt, saß der junge Mann und sang flehentlich demütige Lobgesänge zu Ehren Kalis, verbunden mit der inständigen Bitte, ihn zu schützen und zu rächen. Der Gesang war halb in indischer, halb in englischer Sprache: »Hab Erbarmen mit mir«, sang Bob Fevre, »schütze mich und vernichte meine Feinde!« Und hinter jeder Bitte der Refrain: »O Kunkali!«, ähnlich wie in einer katholischen Litanei und genauso, immer und immer wiederholt. Hanuman lächelte grimmig über Bobs improvisierte Zeremonie. Und der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht vertiefte sich, als er einen Schrei hörte. Er kam aus dem Dunkel der Nacht, irgendwo von oben, und wiederholte sich, drang mit dem Pulsieren des Windes ins Zimmer, ein Ton, halb Vogelruf, halb Tierschrei, aber auch wie der Schrei einer Frau. In der vergangenen Stunde hatte Bob Fevre, zwischen Lob und Verwünschungen seiner Litanei hin und her schwankend, immer wieder einmal den Atem angehalten, gelauscht und zu wissen geglaubt, was geschehen würde. Plötzlich hatte er gewußt, daß er letzten Endes doch gewonnen hatte, daß Sie über seine unentwegte nächtliche Anbetung, seine Reue, seine flehentliche Bitte um Vergebung, um Gnade, Schutz, ja selbst um Führung, erfreut war. Bob Fevre war hohlwangig, viel mehr noch als in jener Nacht, in der er und Deborah Klaus Abel Failey erwürgt hatten. Seitdem hatte er nur wenig geschlafen, wenig gegessen und
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war verdammt durch die Gestirne, verdammt durch die Befehle des Auserwählten und durch die grausamen, eiskalten Launen einer Göttin, die er sich kaum vorzustellen vermochte. Immer noch war sie nur eine wolkenhafte Vorstellung für ihn, die sich eines Nachts im göttlichen Wohnsitz in der Gestalt der seltsamen Inderin Gauri Bala manifestierte. Augen waren dagewesen, die einen unsagbaren Druck auf ihn ausübten, seine Seele zu ersticken schienen, und eine Stimme, die aus dem Innersten der Hölle zu kommen schien. Dennoch hatte er der dämonischen Göttin getrotzt und die seidene Schlinge gestohlen. Sie wollten ihn töten. Sie würden ihn finden und ihn zu einem ihrer Opfer machen. Es war eben ihre Natur, ihr Glauben, ihre Religion, so und nicht anders zu handeln. Vor kurzem jedoch – war es einen Tag oder zwei Tage her? – hatte er eine Eingebung. Es war morgens gewesen, er war schweißgebadet aufgewacht, denn in seinem Traum waren die Augen wieder erschienen und die blutigen, gekräuselten Lippen, die sagten: »Suche mich!« Und das hatte er nun getan, mit Fasten und Gebet und den Gesängen seiner selbsterfundenen Litanei. Vielleicht konnte er Ihr auf diese Weise huldigen, Ihren Sinn wandeln, Sie dazu bewegen, Ihre äußerste Vergeltungssucht von ihm abzuwenden. Vielleicht würde Sie ihn annehmen, ihn zu etwas ganz Besonderem werden lassen, ihn lehren, Ihr Sklave zu sein, Ihr zu dienen und immer und zu jeder Zeit Ihren Geboten zu gehorchen. Vor einer Stunde hatte er die Antwort gehört. Und seitdem hatte er fieberhaft, nur mit seinen kurzen Hosen bekleidet, immer nur gesungen. Er hatte das Fenster geöffnet, um deutlicher hören zu können, diesen Ton, der von irgendwo da draußen zu ihm hereindrang, ein Ruf mit erhobener Stimme, befehlend, herbeirufend. Dreimal hatte Bob Fevre das gehört.
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»Rette mich, rette mich!« Sein schmaler, schweißbedeckter Körper schien den kalten Hauch, der durchs offene Fenster kam, nicht zu spüren. Er betete, betete ohne Unterlaß. Und wieder – einmal, zweimal, dreimal dieser langgezogene Ton. Dieser fremde, wundervolle Ruf. Kalis Ruf, der Befehl der dunklen Mutter … Kali … Kunkali … Ich, Bob Fevre, dein reuiges Kind … so klein noch … ich komme … Bob Fevre erhob sich, eilte zum Fenster, hielt den Kopf hinaus – Hanuman durchmaß mit einem Riesensatz den Raum. »Nein, nein!« schrie er. Im Treppenflur hörten die anderen Hanumans Schrei. Terranova und Wrench rammten mit der Schulter gegen die Wohnungstür, die mit Krachen nachgab. Wrench drängte sich durch den Türspalt, rannte zum Fenster und schrie auf: »Heiliger Himmel!« Rama Shastri war sofort neben ihm. Er hielt die Walther 32 schußbereit, die Terranova ihm vom Polizeipräsidium besorgt hatte. Fassungslos durch den Anblick außerhalb des Fensters, rang Shastri einmal nach Luft. Ganz oben, unmittelbar unter dem Dach, hielten zwei riesige kräftige Hände die Beine von Jadu, dem Thug. Jadu, seinerseits mit dem Kopf nach unten hängend, hielt Bob Fevres Kopf in der Schlinge. Der Junge hing in Jadus tödlichem Griff, sein Genick war gebrochen. Hanuman hatte sich zu Bob aus dem Fenster gebeugt, zugepackt und hielt dessen Knöchel umklammert. So sahen Shastri, Wrench und Terranova nun eine Kette baumelnder Menschenkörper, alle mehr oder minder in Bidhans Schraubstockhänden. In dem Augenblick, in dem Hanuman dem Jungen nachgesetzt hatte und sozusagen in der Luft hing, hörte er das häßliche Knirschen von Bob Fevres brechendem Genick. Blitzschnell, bevor Jadu die Hände öffnen und den Leichnam mitsamt dem dranhängenden Swami auf die Straße fallen lassen konnte, zog
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er sich an dem Körper des Toten hoch und befand sich nun Auge in Auge mit dem Entsetzen, das aus dem Gesicht des Toten sprach, den gebrochenen Augen und der weit heraushängenden Zunge. Noch ein kräftiges Zupacken, und Hanumans Finger umklammerten Jadus Arme oberhalb der Ellbogen. Nun war seine Sicherheit garantiert. Bidhan, der sich anstrengte, den gestreckten Körper seines Bruders zu sich nach oben zu ziehen, mußte wohl oder übel Hanuman mitziehen. Der Schweiß rann Jadu in Strömen von der Stirn. Er zog die Schlinge auf, und die Leiche des jungen Mannes landete mit Getöse auf der Motorhaube eines Fords, von wo sie in die regennasse Gosse hinunterrollte. Jadu fühlte, wie die Kraft in seine Hände zurückkehrte. Er blickte von den fallenden Regentropfen, die seine Sicht behinderten, fort und versuchte, die Schlinge wieder bereitzumachen, um sie um Hanumans Nacken zu legen. Dank sei Bhowani, dies war der Affe Swami in höchster Person, genau das richtige Opfer für seine ganz neu übernommene Aufgabe als Würger! Aber wieder machte Hanumans unglaubliche Behendigkeit den Wurf der Schlinge unmöglich. Oben grollte Bidhan, wütend über die beiden Männer, die in seinem Griff waren. Der kleine Swami hatte sich nach oben gezogen, den Rükken gewölbt und trampelte nun Jadu mit beiden Füßen ins Gesicht. Jadu schrie auf, als die Kraft dieses Fußtritts ihm das Nasenbein brach. Er ließ den Seidenschal los, der davongeflattert wäre, hätte Hanuman nicht mit einer Hand danach gegriffen. Hanuman umklammerte sofort wieder Jadus Arm, ließ sich zurückschwingen und traf diesmal mit der Ferse genau zwischen Jadus Beine. Jadu heulte vor Schmerz, die seine mißhandelten Hoden ihm bereiteten, auf. Wild versuchte er, Hanuman abzuschütteln, ihn zumindest aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber der Swami hatte schon wieder einen gewaltigen Satz gemacht, und Jadu
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hing nun nur noch in einer von Bidhans riesigen Händen, mit der dieser das rechte Fußgelenk seines Bruders festhielt. Das linke Handgelenk Bidhans hatte Hanuman umklammert. Die Kraftanstrengung, die Bidhan links aufbringen mußte, war eine wahre Tortur für ihn, der bäuchlings auf dem Dach lag, eine Position, die seine Beweglichkeit sehr einschränkte. Hanuman lockerte den Griff um Bidhans linkes Handgelenk nicht einen Augenblick, und die Kraft, mit der dies geschah, schien den riesigen Thug aufs äußerste zu erstaunen. Das Zischen der Seidenschlinge irritierte ihn fast bis zum Wahnsinn. Bidhan versuchte verzweifelt, seinen Bruder in Sicherheit zu bringen. Durch den Regenschleier konnte er Jadus blutüberströmtes Gesicht sehen. Mit aller Kraft versuchte er, Hanuman abzuschütteln. Doch Hanuman zog sich vollends hoch, kletterte über den Dachrand und zog Bidhans Arm dabei mit. Bidhan versuchte, sich halb aufzurichten, woraufhin Hanuman, jetzt endgültig auf dem Dach angelangt, den Arm des riesigen Thugs, den er immer noch am Handgelenk festhielt, hinter dessen Rücken verdrehte. Dennoch gelang es Bidhan, seinen erschöpften Bruder näher zum Dachrand zu ziehen. Während dieses Versuches hörte er die sausende Schlinge, die Hanuman mit seiner freien Hand in Bewegung gesetzt hatte. Bidhan hoffte jedoch, daß sein ungewöhnlich kräftiger Nakken der Wirkung des Schlingenzuges widerstehen könne. Im Augenblick war ihm nichts wichtiger, als seinen Bruder in Sicherheit zu bringen. Hanuman ließ die Schlinge durch die Luft zischen. Bidhans Kopf fuhr hinter seine Schulterlinie zurück. Die Plötzlichkeit dieser Bewegung lockerte zwangsläufig, wenn auch nur ein wenig, den Griff seiner Finger. Seine Hand hatte jetzt Jadus Fuß direkt über dem Schuh gepackt. »Rette mich, Bruder!« schrie Jadu entsetzt. Bidhan bewegte die Lippen, wollte sprechen, als die Schlin-
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ge fester in seinen Hals schnitt. Wie wahnsinnig spannte Bidhan die Muskeln an und versuchte Hanuman, der ihm jetzt buchstäblich im Nacken saß, abzuschütteln. Ein letztes Mal zog die Schlinge sich zu. Bidhan rang vergebens nach Luft, sprang hoch, um den Druck der Schlinge loszuwerden. Hanuman sprang von dem riesigen Rücken des Thugs und gab ihm einen heftigen Schlag gegen den rechten Ellbogen. Durch diese Bewegung lockerte sich die Schlinge um seinen Hals, und Bidhan gelang ein heiseres Krächzen: »Jadu!«; Sein Ellbogen und sein Unterarm waren taub, und Bidhan wußte auf einmal, daß Jadu nicht mehr in seinem Griff hing. Bidhan erstarrte, als Jadus Schrei durch die Luft gellte und erstarb, als der schwere Körper unten auf dem regennassen Pflaster aufschlug. Bidhan wirbelte herum, tat einen riesigen Schritt auf Hanuman zu. Da war er, der verfluchte Affenmensch, der die Schuld an allem hatte, was geschehen war! Bidhans rechter Arm stieß vor. Seine Faust traf Hanuman vor die Brust, stieß ihn in Richtung eines Schornsteins, der nicht rauchte. Hanuman rollte sich zusammen, flog durch die Luft und war, losgelöst vom Boden, noch in der Lage, die Richtung des Stoßes zu ändern, so daß er um Haaresbreite an der Schornsteinkante vorbeiflog. Mit einer Bauchlandung fiel er auf den Kiesbelag des Flachdaches dahinter und blieb liegen. Als die Männer in Bob Fevres Appartement die baumelnde Kette der in der Luft aneinanderhängenden Männer erblickten, rasten sie zu der Treppe, die nach oben aufs Dach führte. Die Tür war zwar verschlossen, aber Wrench hatte ein-, zweimal mit seinem Browning ins Schloß geschossen und die Türe aufgestoßen. Dann lugte er sehr vorsichtig hindurch, um zu sehen, was auf dem Dach vor sich ging. Abgesehen von Schornsteinen und herausspringenden, altmodischen Ventilationsröhren, die noch aus der Jahrhundertwende stammen mußten, war das Dach absolut flach. Es stand
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in unmittelbarer Verbindung mit den Flachdächern der Ziegelsteinhäuser links und rechts. Die drei Männer standen noch halb unter einem kleinen schrägen Vorsprung, der über der Türluke als Regenschutz angebracht war. Man hörte einen Schrei dahinter, und Wrench sprang auf, um nachzusehen. Terranova folgte ihm sofort. Shastri war der letzte, der in die Nacht hinaustrat. Er hörte einen leisen, zischenden Ton und drehte sich zu spät um. Eine Schlinge glitt über seinen Kopf. Auf dem schrägen Vorsprung hatte sich ein Thug verborgen gehalten. Gleichzeitig war Wrench wieder in den schützenden Schatten des Vorsprunges getreten, erblickte den dort kauernden Thug, zog Terranova aus der Gefahrenzone, reckte sich, ergriff den Würger beim Arm und zog ihn herab. Der Mann war starr vor Schrecken. Er hatte geglaubt, oben, verborgen auf dem Vorsprung, könne ihn niemand entdecken. Mit einem Kinnhaken setzte ihn Wrench außer Gefecht. Bewußtlos sank der Thug zu Boden. Wrench zog ihn zu der offenen Türluke und warf ihn die Treppe hinunter: aber gerade, als er sich wieder umwandte, um nach Shastri zu sehen, schien die Nacht zu explodieren. Wrench hörten den Thug-Kommandoruf auf ramsi »Sanp!«, den Befehl, zu töten. Zwei Männer sprangen von dem Verbindungsmäuerchen zum nächsten Dach und versuchten, sich auf ihn zu stürzen. Zwei weitere hatten es auf Shastri und Terranova abgesehen. Der eine der Männer klammerte sich an Wrenchs Rücken fest, der andere machte Miene, ihn von vorne zu attackieren und ihm die Arme festzuhalten, damit er wehrlos würde. Wrench trat mit aller Kraft zu. Der Mann, der von vorne angegriffen hatte, sank stöhnend zu Boden und hielt sich den Bauch. Nun war Wrench mit dem Würger allein, der seinen Schal zur Schlinge wand. Wrench sah es, hob seine Waffe und zerschmetterte ihm mit dem Pistolengriff die Backenkno-
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chen. Der Thug verlor das Gleichgewicht, fiel gegen den Vorsprung und auf die Seite. Wieder stieß Wrench mit dem Fuß hart zu und brach dem Thug den Kiefer. Terranova lag im Ringkampf mit einem Nichtinder, einem Schüler, der mit beiden Händen vor Terranovas Nase herumfuchtelte. Terranova hatte die Pistole fallen lassen, um den Thug an den Handgelenken zu fassen. Sie zerrten ein wenig hin und her, als Terranova plötzlich merkte, daß die Handgelenke des jungen Mannes unnatürlich kalt waren. Er spürte den Pulsschlag darin in gewaltigen, rhythmischen Wellen. Und dann begannen die Hände plötzlich zu glühen und anzuschwellen. Terranova geriet in Panik. Er drehte den jungen Thug so, daß er mit dem Rücken gegen den Vorsprung stand, packte den Kopf des Jungen und schlug ihn wieder und wieder gegen den Pfosten, bis sich eine dunkle, feuchte Fläche darauf bildete. Doch die Hände des Mannes, die immer noch die Schlinge erhoben hielten, glühten und schwollen weiter an. Schließlich hörte Terranova ein knirschendes Geräusch. Die Handgelenke des Thugs verloren ihre Kraft, die eisige Kälte war weg, die Augenlider des Mannes senkten sich, die Schlinge sank zu Boden. Terranova stieß den zusammengebrochenen Jungen zur Seite, wandte sich ab und mußte sich übergeben. Es war Trande Gautam, der Arcoteer, der sich Shastri näherte, welcher immer noch mühsam nach Luft rang. Der Thug schrie: »Sanp!« und hob die Schlinge hoch über den Kopf, bereit, sie zu werfen. Shastri blickte auf, konnte nur Verschwommenes erkennen und spürte die Gefahr mehr, als daß er sie sah. Er griff in den Kies, der das Dach bedeckte, und warf zwei Hände voll davon in Gautams Gesicht. Als der Thug versuchte auszuweichen, schlug Shastri mit seiner Pistole hart gegen die Schienbeine des Mannes. Mit einem Aufschrei wich Gautam zurück. Mittlerweile hatte Rama Shastri sich soweit erholt, daß er sich aus der knienden Stellung erheben und auf-
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recht stehen konnte. Er hielt die Walther 32 in der erhobenen Rechten, und jetzt kam ihm auch Dan Terranova, der seinen Angreifer losgeworden war, zu Hilfe. Als der Arcoteer sah, daß er allein und die anderen in der Überzahl waren, floh er in die Dunkelheit. »Ich kriege ihn!« sagte Terranova und war im Begriff, auf das andere Dach hinüberzulaufen. Wrench, der gleichfalls hinzugekommen war, starrte hinter ihm her und überlegte kurz. Er mußte zuerst den Swami finden. Ohne Hanuman hatte Santha keine Chance. Wrench begann zu suchen, im Geiste immer flehend: Rette sie, Hanuman. Gott muß sie retten. Bitte, lieber Gott, hilf … meine Kleine, mein … Ein Schornstein plötzlich, ein hochragender dunkler Block gegen den zuckenden Lichtwiderschein über der Stadt. Der Regen verhinderte die Sicht, verwischte das Licht am Abendhimmel, die Umrisse da und dort, die Dachkanten … Aus der Tiefe heraus trat gewaltig grollend eine Gestalt und stieß frontal mit ihm zusammen. Wieder stieß Bidhan Laute aus, die an ein tollwütiges Tier erinnerten, und riß Wrench mit beiden Armen in eine Umklammerung, wie in die Umarmung eines Bären. Es war ein brutaler Zugriff, in dem alles zum Ausdruck kam, was in Bidhan an Wut und Schmerz tobte. Er beugte sich vor, spannte Muskeln und Schultern zu knochenbrechender Gewalttätigkeit. Verzweifelt versuchte Wrench, sich an seine Kampftechniken zu erinnern. Er atmete so tief ein, wie es ihm nur möglich war, und als er dann ausatmete, wich sein Brustkorb ein wenig zurück, den Bruchteil einer Sekunde, aber genug, um durch die jetzt entstandene schmale Lücke zwischen den Kämpfenden zwei Finger zu stecken. Wrench tastete nach dem Abzug der Pistole und schoß auf Bidhans Fuß. Doch der Riese bewegte sich, und das Geschoß prallte von dem Kieselbelag des Daches gegen den Schornstein ab und
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flog von dort in die Nacht hinaus. Wie ein Berserker drückte Bidhan abermals zu. Ein entsetzlicher Schmerz fuhr Wrench durch alle Glieder. Er strengte sich an, um den nötigen Gegendruck aufzubringen, holte wieder so tief Luft wie möglich. Wieder lockerte sich die qualvolle Umklammerung ein wenig. Wieder schoß Wrench, sobald er den Abzug der Waffe ertastet hatte, und wieder ging der Schuß fehl, aber diesmal fluchte Bidhan erschrocken. Rama Shastri hatte den Lärm gehört, den die beiden kämpfenden Männer stöhnend und keuchend machten. Er war im gleichen Augenblick losgerannt, in dem Wrench schoß. Der Blitz aus Wrenchs Waffe erleuchtete kurz die Umrisse der ineinander verkrallten Männer. Shastri zog seine Walther. Da fuhr ein Luftzug direkt an seinem Ärmel vorbei, und die Walther polterte auf den Kies. Shastri drehte sich um, damit er seinen Angreifer erkennen konnte. Es waren zwei Männer, die sich leise und vorsichtig geduckt herangeschlichen hatten. Jetzt konnte er hören, wie sie sich über den Kies näherten. Plötzlich wurde es heller, ein Scheinwerfer schnitt von unten in den Nachthimmel, Lärm ertönte, der Lautsprecher eines Polizeiwagens, von irgendwoher mußten sie alarmiert worden sein. Aber die schleichenden Schritte kamen näher. Zwischenzeitlich, nicht allzuweit davon entfernt, versuchte Wrench seine Lungen mit Luft zu füllen. Bidhans Druck verstärkte sich, preßte den Stoff seines Mantels in seinen Arm, gegen seine Rippen … du lieber Himmel, welche Kraft dieses Ungeheuer entwickelte! … Wrenchs Brust dehnte sich aus. Er ließ den Atem strömen, tastete mit taub gewordenen Fingern abermals nach dem Abzug der Waffe in seinem Gürtel. Es gelang ihm, den Pistolenlauf ein wenig anzuheben, ein bißchen nur … dann schoß er. Das Geschoß fuhr mit schnei-
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dender Schärfe in Bidhans Unterschenkel. Starr vor Schmerz, lockerte der Thug seinen Griff, dann ließ er ganz los und rannte hinter den Schornstein. Gerade wollte Wrench hinterherrennen, als er seinen Namen rufen hörte. Im Aufblitzen des Mündungsfeuers hatte Shastri erkannt, wo sich Wrench befand, und um Hilfe gerufen. Die beiden Thugs, die hinter ihm her waren, gerieten unversehens in das Licht des suchenden Scheinwerfers. Die seltsam teigigen Hände der Männer dehnten sich deutlich aus. Die Schlinge war um die angeschwollenen Finger gewunden. Shastri starrte fassungslos auf diese Hände und wurde blaß. Im Scheinwerferlicht schienen diese Hände wie selbständig wuchernde, pilzartige Gebilde, die unabhängig vom übrigen Körper weiterwuchsen, ein übernatürliches Geschehen. Wrench, noch taub am ganzen Körper und mit schmerzenden Gliedern, erkannte die Gefahr, in welcher Shastri schwebte, sah aber ebenso, daß er nicht schnell genug an Shastris Seite sein konnte. »Ram, fang auf!« schrie er und warf ihm den Revolver zu, nicht in hohem Bogen, sondern flach. Dennoch war es seinem steifen Arm nicht gelungen, die genaue Richtung dabei einzuhalten. Fast wäre die Pistole über das Dach hinausgeflogen und in die Mundy Street hinuntergefallen. Shastri machte geistesgegenwärtig einen Satz zur Seite, und die Waffe landete in seiner Handfläche. Er wirbelte herum, als er den Kies hinter sich knirschen hörte, und schoß, beide Hände am Griff. Es spritzten Knochensplitter aus der Schläfe eines der Schüler in die Nacht. Shastri wandte sich dem zweiten zu und schoß. Der Getroffene hielt sich den Brustkorb, versuchte aber dennoch, sich auf Shastri zu werfen. Dieser sprang einen Schritt zur Seite und stieß den fallenden Mann an der Schulter über die Dachkante hinweg und hinunter auf die Straße. Der Schrei des Mannes vermischte sich mit dem Aufheulen der
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Polizeisirenen. Dan Terranova war bei dem Versuch, das Trennungsmäuerchen zwischen den beiden Dächern zu übersteigen, ausgerutscht. Hier war das Dach nicht mit Kies bedeckt, sondern lediglich geteert. Terranova erhob sich auf die Knie und überblickte die dunkle Fläche. Das einzige Geräusch bestand aus dem Klatschen des Regens in die Pfützen, die sich überall in den Einbuchtungen des Flachdaches gebildet hatten. Er erhob sich vollends. Sein Magen rebellierte immer noch. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht, auf Hals und Nacken. Er stand mit dem Gesicht in nordöstlicher Richtung. Als er weiterging, hörte er auf einmal in der Nähe eines Dachfensters ein Geräusch. Seine Hand, mit der er die Pistole hielt und auf Verdacht in die Dunkelheit zielte – dahin, dorthin –, bebte. Dann hörte er Schüsse vom anderen Dach. Er mußte zurück, mußte Shastri und Wrench zu Hilfe kommen. Polizeisirenen! Diese verrückten Hunde würden zuerst schießen und danach erst Fragen stellen. Er mußte hin, um sie zu beruhigen, zu erklären. Aber jetzt hörte er ganz in der Nähe ein völlig anderes Geräusch – klirrendes Metall, Münzen, Reifen, die aneinanderschlugen. Welcher Wahnsinnige würde hier draußen um diese Zeit in Münzen wühlen? Sein Herz kam ihm wie ein Bleigewicht in der Brust vor. Es schlug so heftig, daß es schmerzte. Ein Signal. Es konnte ein Zeichen sein. Einer der Thugs hatte andauernd etwas gerufen. Terranova versuchte, sich an das Wort zu erinnern. War es eine magische Formel, die bewirkte, daß die Hände der Würger sich plötzlich veränderten? Zum Teufel damit! Und dann sah er sie an der Dachrinne stehen. Eine Frau? Alle, Wrench, Shastri, Hanuman – sie alle hatten vor einer Frau gewarnt. Und wie war das mit Wrenchs Tochter gewesen? Die war doch auch von einer Frau überfallen worden!
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Sie hatte einen langen Mantel an und trug ein noch längeres Gewand darunter. Sie stand im Licht der Polizeischeinwerfer, mit dem Rücken zu ihm. Terranova näherte sich ihr, blieb jedoch stehen, als sich die Gestalt bewegte. Zuerst dachte er, sie tanze. Ihre Beine hatte sie etwas gespreizt, die Arme, über den Kopf erhoben, streckten sich, winkelten sich, bogen sich, wiesen in eine Richtung. Diese geschmeidigen Bewegungen, die tanzenden Finger und das leise Klirren der Armbänder bedeuteten etwas. Seine Panik schmolz dahin. Er stand wie gebannt und schaute zu. Der Sari der Frau glitt von ihrem Gesicht, und plötzlich sprach sie. Hastige, heisere Worte drangen zu ihm herüber. Sie waren intensiver als das Trommeln des Regens und das Geräusch der Autos dort unten auf der Straße. Und da war auf einmal Betty Lassiter, die zu ihm sprach: »Ich muß einfach springen, Dan. Ich muß fliegen. Das ist möglich, glaube mir.« Ihr Nachthemd war vom Regen durchweicht. Ihre nackten Zehen klammerten sich um den Rand der Dachrinne. Ihre Haare flatterten im Nachtwind, als wären es Flügel, und ihre sanfte Stimme wehte zu ihm herüber. »Ich liebe dich, Dan«, sagte sie weich, »ich liebe dich, und es tut mir so leid, daß ich weg muß von dir. Aber ich kann jetzt fliegen, Dan. Das mußt du mir glauben!« Dan Terranova stieß einen Verzweiflungsschrei aus und warf sich auf die schmale Gestalt, um sie vom Sprung zurückzuhalten. Seine Schuhe füllten sich mit dem Regenwasser, das aus der Rinne überfloß. »Betty! Betty!« schluchzte er, als er knapp vor der Dachkante der Länge nach hinschlug und bäuchlings liegenblieb. Seine Tränen vermischten sich mit dem Regen. Er konnte nichts mehr erkennen. »O Betty, ich habe dich verfehlt«, schluchzte er. »Wie kann man Tote denn verfehlen?« sagte eine spöttische
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Stimme in seinem Kopf. Von der Straße drang eine durch das Megaphon verzerrte Männerstimme: »Sie dort oben, Sie dort oben! Kommen Sie herunter. Sie sind umstellt!« Eilende Schritte liefen an ihm vorbei. Aneinanderklirrende Fußreifen. Er sah Füße in Sandalen, hob den Blick und erkannte die Frau im langen Mantel. Sie schaute im Vorbeilaufen kurz auf ihn herab: »Schwächling!« zischte sie und rannte davon. Als sich Terranova erhob, sah er noch, wie die Frau in dem Dachfenster verschwand, dann erkannte er einen Mann, viel größer als er selbst, der an der anderen Dachrinne entlanglief und bei jedem Schritt vor Schmerz wimmerte. Terranova hob seinen Revolver: »Stehenbleiben!« Aber der Mann war hinter dem Schornstein verschwunden. Jemand ergriff seinen Arm. Terranova wirbelte herum und zielte. Eine vertraute Stimme drang an sein Ohr: »Leutnant, ich bin’s, Hanuman.« »Mein Gott, Swami. Fast hätte ich Sie über den Haufen geschossen!« »Bitte gehen Sie nicht vom Fleck.« »Aber da sind sie!« Terranova zeigte auf die Dachluke. »Eine Frau und ein riesiger, hinkender Mann. Mein Gott, dieses Weib, die hat mir was vorgezaubert!« »Bleiben Sie hier stehen. Mr. Wrench und Rama Shastri kommen gleich. Hören Sie, warten Sie auf die beiden!« »He, dann gehen Sie aber auch nicht, wenn ich schon hierbleiben soll!« Aber Hanuman war schon in der Dunkelheit verschwunden. Er war bereits an dem Dachfenster angelangt, während Terranova noch hinter ihm herrief. Mit der Handfläche wischte er sich das Blut ab, das ihm von der Schläfe sickerte. Dieses schreckli-
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che Schwindelgefühl nach Bidhans mörderischem Schlag war weg. Als er wieder zu sich gekommen war, konnte er sich eine Weile an nichts erinnern. Irgendwo rechts von ihm hallte ein Schuß wider, und als er aufblickte, sah er den verletzten Bidhan zur Dachluke laufen. Hanuman lief hinter ihm her, aber die Anstrengung war noch zu groß. Ein paarmal mußte er stehenbleiben und Luft schöpfen, damit sein Gegner nicht zu schnell seine Verfolgung bemerkte. Vorläufig fühlte sich der Swami für eine neue Auseinandersetzung noch nicht stark genug. Er lauschte und hörte ein leises Quietschen. Vermutlich führte die Luke zu einer Treppe und die wiederum ins Innere des Hauses. Leise glitt er durch die Dunkelheit, fand die Luke, eine kurze Treppe und eine andere Tür. Hanuman schlich hinunter. Das Türschloß war zerstört. Eine Sekunde später stand der kleine Mann in einem spärlich erleuchteten Treppenhaus. Wieder lauschte er, hörte es flüstern und preßte nachdenklich die Lippen aufeinander. Aus seiner Hosentasche zog er die Schlinge des getöteten Jadu. Nun also, dachte er, kannst du kommen, du widerliche Kreatur der dunklen Mutter. Komm und tu weiter so, als wärst du ein Guru, erhaben über Leben und Tod. Trande Gautam war allein im Gebäude. Gauri, Bidhan und die übrigen hatten noch fliehen können. Doch Gauri mit dem drohenden Blick, der Kalis Feuer sprühte, hatte Gautams Handgelenk mit solcher Kraft umfaßt, daß er jetzt noch in der Erinnerung daran erbebte: »Der Affe kommt gleich. Bleib!« hatte sie ihm befohlen. Und nun beobachtete Gautam den Schatten, der sich an der Wand vor ihm immer länger ausdehnte. Na schau mal an, Hanuman, dachte er, dein eigener Schatten verrät dich. Möge Bhowani dir bald das Fleisch von den Knochen schälen. Möge dein Schädel gegen die anderen Schädel an ihrem Gürtel klappern. Es mußte geschehen, sagte sich Gautam. Alles andere war,
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wie schon einige Male zuvor, schiefgelaufen. Heute nacht war er die Hauptperson, wenn nicht die Mutter durch Gauri Einspruch dagegen erhob. Gautam schauerte und erinnerte sich ihres kalten, unerbittlichen Griffs, so daß ihm noch nachträglich ein Grauen überlief. Warum, überlegte er, konnte es mit den heiligen Thugs nicht wie früher sein? Damals hatten die Thugs die Allgegenwart der Göttin nicht nötig. Sie beließen sie im Himmel, wohin solche Wesen gehören. Damals genügten die Thug-Meister. Sie führten ihre Anhänger weise und erfolgreich, und manchmal konnten sie bis zu fünfzig Opfer auf einmal erledigen. Dann gab es auch mehr Beute. Es war eben dieses Land, dieses Amerika. Es war das neue Blut, die neuen Schüler, die in dieser gräßlichen, unnatürlichen Manier eingeübt wurden … Versündige dich nicht, rief Gautam sich zur Ordnung, konzentriere dich lieber auf den Schatten dort. Mach die Fehler des heutigen Abends wieder wett. Einen Swami Hanuman durch den Kuß der Schlinge getötet, das ist soviel wert wie zehntausend von diesen geistlosen Amerikanern, die nicht Seite an Seite mit ihren Göttern leben. Der Schatten verlängerte sich zusehends. Gautam biß sich auf die Lippen und wünschte, er könnte dasselbe mit seinem Atem tun, der ihm viel zu laut in die eigenen Ohren drang. Er hielt die Seidenschlinge wurfbereit. Ganz unerwartet zog der Schatten sich zusammen und war auf einmal ganz verschwunden. Gautam verfluchte alle Affen der Schöpfung. Der Schatten war plötzlich an der Oberkante der Wand, und Hanuman befand sich direkt bei der Ecke, hinter welcher Gautam sich verborgen hielt. Sie konnten einander nicht direkt sehen, aber Gautam erkannte wieder den Schatten und erstarrte: Hanuman gestikulierte mit den Händen wie einer, der die Schlinge zu handhaben wüßte. Gautam biß sich auf die
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Lippen, bis Blut kam, das er ausspie. Auch Hanuman hielt eine Schlinge zwischen den Fingern! Schmerz durchfuhr Gautam, tiefe, namenlose Qual. Wie konnte Mutter Kali so etwas zulassen? Gautam fühlte sich hintergangen, doch dann beruhigte er sich selbst. Hanuman spielte bloß sein Spielchen mit ihm, er tat nur so, als wüßte er, mit dem gelben Schal umzugehen. Gautam tat, als wolle er nach rechts ausweichen. Hanuman bewegte sich entsprechend. Nun nach links. Hanuman tat desgleichen. Nun noch mal nach rechts, Gautams Schlinge sauste in Hanumans Richtung. Gautam streckte den Kopf vor, blinzelte. Der Swami war fort. Und plötzlich war er hinter dem Thug. Gautam drehte sich blitzschnell um die eigene Achse, die Schlinge lose in der Hand, zu lose, fast wäre ihm der Schal aus den Händen geglitten. Doch Gautam gewann wieder Kontrolle über sich, machte sich zum Wurf bereit, als ihm plötzlich der Atem abgeschnürt wurde. Gautam griff verzweifelt nach der Spirale, die seinen Hals einengte, und fiel zur gleichen Zeit durch die Wucht, mit der der Swami auf seinem Rücken landete, zu Boden. Gautam dehnte die breiten Schultern, spannte seine Rükkenmuskeln an, machte einen Satz, um Hanuman abzuschütteln, schlug mit den Fersen nach ihm, doch Hanuman saß zu hoch. Gautams Augen quollen hervor. Weiße Flecken standen ihm im aschfahlen Gesicht, bis ihm fast die Sinne schwanden. Er machte einen verzweifelten Satz nach rückwärts gegen die Wand. Dann hörte er ein leises Stöhnen an seinem Ohr und spürte erleichtert, daß er wieder durchatmen konnte. Es hatte genauso funktioniert, wie er es gewollt hatte. Hanuman war mit voller Wucht gegen die Wand geprallt und hatte den Halt verloren. Jetzt hockte der Arcoteer in der Mitte des Raumes und atmete in kurzen, keuchenden Atemzügen ein und aus. Und wieder
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Geräusche, die näher kamen. Plötzlich erkannte Gautam Rama Shastri und zwei andere Männer, die aus der Dachluke nach unten gestiegen waren. Er hoffte inständig, die drei würden jetzt gleichfalls einzugreifen versuchen, wodurch Hanuman vielleicht von ihm abgelenkt würde. Doch das taten sie nicht, sondern blieben einfach stehen, ohne sich zu rühren. Gautam atmete tief, scharrte mit den Füßen auf dem Boden, versuchte eine Finte und griff an. Wieder und wieder warf er die Schlinge über Hanuman. Dieser wich jedoch immer im richtigen Augenblick aus. Mit einer geradezu bewundernswerten Beweglichkeit entkam er seinem Gegner. Minuten vergingen, und Gautam wurde allmählich müde. Die Kraft, mit der er die Schlinge schleuderte, ließ nach. Seine Beine wurden schwer. Und jetzt merkte er auch, daß Hanuman ihn zielbewußt zum Treppenhaus hin manövrierte. Ganz weit unten, drei Stockwerke tiefer, hörte er Stimmen. Er war umzingelt. Wie auch immer dieser Kampf mit Hanuman ausgehen mochte, ihm war vollkommen klar, daß es für ihn kein Entrinnen mehr gab. Doch Trande Gautam fuhr fort, seine Schlinge zu werfen, bis er am Rand des oberen Treppenabsatzes angelangt war. Dort stand er jetzt, keuchend vor Anstrengung und schweißgebadet. Er konnte kaum noch die Arme erheben. Mit wilden Augen starrte der Thug auf die vier Männer vor sich, grinste sie an, schnappte seinen Schal und steckte ihn in seinen Gürtel. Dann richtete er sich auf, griff nach dem Geländer, schwang sich hinaus ins Treppenhaus und schrie im Todessturz: »Kali! Kali!«
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32 Es war zehn nach elf am Vormittag, als sich der Medizinassistent Eric Lindstrom über das schlafende Mädchen auf der Couch beugte, um ihren Puls zu fühlen. Deborah Klaus’ Hand war eiskalt. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Merkwürdig, die war gar nicht kalt. Ganz normal. Wahrscheinlich Zirkulationsstörungen. Eric machte sich einen Vermerk. Er überprüfte den Raum. Die Temperatur schien zu stimmen. Als der Doktor weggegangen war, hatte er gesagt, daß dies hier ein Yoga-Zentrum oder so was Ähnliches sei. Inder lebten hier. Lauter echte Inder aus Indien. Eric beugte sich nochmals herab, um den Puls zu fühlen, und schob den Vorhang zur Seite, der irgendwie über das Couchende gefallen war. Er suchte nach der Kordel, mit welcher der Vorhang zurückgehalten wurde, und schüttelte den Kopf. Sie war nicht mehr da. Er blickte hinüber zum anderen Vorhang. Er war, wie üblich, durch eine Kordel gerafft. Er hatte zwar nicht genau darauf geachtet, dennoch hätte er schwören können, daß beide Vorhänge gerafft und durch eine Seidenschnur festgehalten gewesen waren, als er den Raum betrat. Eric Lindstrom runzelte die Stirn. Dieses Mädchen ist eher ein Fall für die Polizei, dachte er, ich sollte besser vorsichtig sein. Er schaute aufmerksam auf Deborah Klaus. Ihre Hände lagen unter der Decke. Seit er sich abgewandt hatte, um die Sache mit dem Vorhang zu überprüfen, hatte sie sich bewegt. Die kalte Hand, deren Puls er gefühlt hatte, lag nicht mehr auf der Decke. Donnerwetter, das war eine kalte Hand! Eric beugte sich noch weiter hinab, um im Gesicht des Mädchens zu for437
schen. Der Doktor hatte das Mädchen bis zu seiner Rückkehr in Erics Obhut zurückgelassen. Als Eric die Decke zurückschlug, öffnete Deborah die Augen. Draußen im Flur rannte Adelaide Jaworski unruhig auf und ab. Sie war wegen der Aufregungen dieses Tages übernervös und wußte, daß sie sich eigentlich zusammennehmen sollte. Sie rauchte auch wieder. Das wünschte der Swami nicht. Er schenkte ihr sein Vertrauen. Er glaubte auch, daß einige ihrer Visionen authentisch und nicht nur Halluzinationen waren. Swami Hanuman wußte, daß sie die meiste Zeit ihres Lebens in Nervenheilanstalten zugebracht hatte, aber er liebte gerade die Ausgestoßenen, Behinderten. Er behauptete, daß gerade die, die unerwünscht von ihren Mitmenschen waren, von Gott bevorzugt würden, die Außenseiter der menschlichen Gesellschaft. Molly Doyle, sie und Nirmal waren so gut wie verloren, bevor sie dem Swami begegneten. Er hatte sie bewahrt vor – Adelaide hörte im Zimmer etwas zu Boden fallen und eilte hinein. Sie sah, daß Deborah mit der abhanden gekommenen Vorhangkordel Eric Lindstrom das Genick brach, und schrie gellend nach Molly. Dann sprang sie auf Deborah zu, um Eric, wenn möglich, noch zu retten. Sie wich zurück, als sie scharf an ihrer Wange gekratzt wurde. Bevor sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ergriff sie Deborah an den Schultern und warf sie quer durch den Raum, um sich gleich darauf, mit der Vorhangkordel in der Hand, der zu Boden Gefallenen zu nähern. Ihre Augen waren dunkel und ganz anders als zuvor, drohend, und so, als gehörten sie gar nicht zu diesem Gesicht. Auch die Stimme, die Adelaide jetzt hörte, war völlig anders, rauh und krächzend zerrte sie an Adelaides Nerven. Und diese Hände, geschwollene, gekrümmte Hände, die immer näher kamen … Das Monstrum – Adelaide konnte sich dieses Wesen nicht mehr als Deborah vorstellen – griff nach ihr, die Kordel in der
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erhobenen Hand zur Schlinge gewunden. Gerade noch im Begriff, zu schleudern, taumelte das Monstrum. Sein schriller Schrei hallte von den Wänden wider. Sie fiel rückwärts über die Stühle und die heruntergerissene Stehlampe. Ein großes Küchenmesser steckte in ihrem Rücken. Hinter ihr stand Molly Doyle. Totenbleich sah sie zu, wie die Kreatur hierhin und dorthin torkelte. Als sie Adelaide schreien hörte, war sie sofort in die Küche gerannt und hatte nach dem großen Messer gegriffen. Und als sie das Zimmer betrat, hatte sie zugestoßen … Beide Frauen begannen auf einmal loszuschreien. Adelaide rannte zu Molly, sie hielten einander, immer noch schreiend, umarmt und blickten voller Entsetzen auf den Alptraum vor ihnen. Stinkender Dampf entströmte dem Mund des sterbenden Körpers. Blut floß in kleinen Rinnsalen, als die Gesichtshaut kreuz und quer in winzigen Rissen, die sich über das ganze Gesicht ausbreiteten, platzte. Das Haar brannte. Die brechenden Augen sprühten Haß. Die schwarzgewordenen Lippen formten lautlose Worte. Da lag sie, ausgebreitet auf dem Fußboden, direkt unter dem Fenster, das bei ihrem Fall zersplittert war. Als sie starb, erlöschte tief innen, unter dieser schauderhaften Schale, das letzte Fünkchen, das einmal Deborah Klaus gewesen war. Stunden später stand Chundra Bala auf dem purpurroten Teppich und starrte auf den roten Wandbehang hinter dem Thron des Erwählten. Er ging ein, zwei Schritte darauf zu und kehrte dann schnell auf den Platz zurück, wo er gestanden hatte. Das Murmeln, das leise unverständliche Sprechen, das wie verlorene Weihrauchwolken in den Raum drang, machte ihn halb wahnsinnig. Schweiß stand ihm auf der Stirn. War er wirklich eifersüchtig? Falls dem so war, verdiente er das Schlimmste, was sein unfehlbarer Herr und Meister ihm an Strafe auferlegen konnte.
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Das alles war so unerwartet, so irrsinnig. Nie hatte Chundra Bala gewußt, daß seine Liebe zu Gauri sich so steigern könne, daß sie nach all diesen Ehejahren in so neuer Blüte erstehen könne. Er hatte kein Recht, so leidenschaftlich zu lieben. Auch Gauri war auserwählt. Sie war zwar seine Frau, aber nur, wenn sie nicht ihrem Herrn diente, der auch sein Herr, ihrer aller Herr war. Aber da war wieder dies Murmeln, das immer zu hören war, wenn sich Gauri und der Erwählte hinter den Wandbehang zurückzogen. Chundra ging zu der Verkleidung und bedeckte sein Gesicht schamvoll mit beiden Händen. Aber diesmal hatte er nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. »Aber Mutter«, sagte der Erwählte, »ich habe alles falsch gemacht.« »Sei still, mein Sohn«, beschwichtigte ihn die andere Stimme, die nicht unmenschlich rauh und befehlend, sondern ganz Gauris eigene, sanfte, herzliche und liebevolle Stimme war. Chundra preßte sich näher an den Vorhang. Er mußte hören, mußte jedes Wort verstehen können, was da gesprochen wurde. Gauri füllte sein Herz bis zum Rand. Das war nun einmal nicht zu ändern. Nun war er eben auch eifersüchtig, war besitzergreifend, Kali möge ihm verzeihen! »Alles war falsch«, wiederholte der Erwählte. »Heute abend haben wir Trande Gautam, Jadu und die anderen verloren. Wann werden die Sterne sich zu unseren Gunsten wenden? Wann wird Saturn weichen?« »Nur still, mein Kind. Saturn hat seine Bahn beendet.« »Warum bemächtigt sich Gott dann meines Schicksals, Mutter?« fragte der Erwählte weinend. »Warum hat dieser AffenSwami mit seinen Leuten den Kampf gegen uns gewonnen? Ich bin auserwählt. Ich habe das fehlende Stück der Schriftrolle wieder. Ich bin der Fürst und Herr der Thugs, und dennoch
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können wir nicht, was früher möglich war. Hat die Kraft sich verflüchtigt, die von den Schriftrollen ausging? Warum mußten Hanuman, Rama Shastri und dieser Stephen Wrench Schatten auf meinen Pfad werfen?« »Nur still. Es wird eine große Veränderung kommen. Da ist diese Frau, diese Santha. Sobald sie einmal eine der unseren ist, können die anderen nicht mehr gewinnen. Unsere Zeit kommt erst noch. Die Stunde naht. Morgen schon wird es viele Tote geben, viele Schädel für Bhowanis Gürtel.« »Oh, meine Mutter!« Chundra hörte das Geräusch von Küssen. Er faßte an seine Schlinge und eilte an die Stelle, wo sich der Wandvorhang teilen ließ. Er spähte hindurch. Seine Schläfen pochten wild vor Aufregung. Gauri lag auf einer Ottomane, gegen einen Stoß Kissen gelehnt. Der Erwählte hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und küßte ihre Fingerspitzen. Sie streichelte sein Haar und blickte ernst vor sich hin. Chundra fuhr zurück, voller Angst, daß sie ihn gesehen haben könnte. »Sie bemuttert ihn«, redete er sich zu. »So steht es dem Gefäß der Göttin Kali ja auch zu. Also höre nun auf mit deinen schlechten und eifersüchtigen Gedanken, Chundra, und laß die beiden.« Dennoch blieb er auf seinem Lauscherposten, als er den Erwählten sagen hörte: »Diese Frau bedeutet wirklich Hoffnung für uns. Makunda hat sie gesehen und mit ihr gesprochen, auch Ramanuja mit der poetischen Seele hat sie gesehen und ich auch. Und du, gesegnete Gauri, hast sie berührt. Sie ist sehr schön.« »Ja, sehr schön, mein Sohn. Auserwählt für einen ThugFürsten. Sobald Santha bei dir ist, wird alles anders werden. Ein neues Gefäß bedeutet mehr Macht. Es ist Kalis Wille und ihre Machtfülle, die unseren Erfolg garantiert. Nicht wir selbst,
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nicht einmal unsere Erfahrung im Umgang mit der heiligen Schlinge. Bedenke die Schlinge, wir machen zwei Knoten hinein, ist es nicht so?« »So ist es.« »Einer der Knoten ist fixiert. Das, mein Sohn, ist Kali, die immer bleibt, um uns daran zu erinnern, daß uns schließlich alle der Tod erwartet. Aber in der Mitte befindet sich der andere Knoten, der Zwischenknoten. Und das sind wir, mein Sohn, ihre Diener. Wir töten, verhelfen der Seele zu ihrer schicksalhaften und endlichen Belohnung im Himmel. Der Thugismus kann nicht ohne den festen Knoten und ohne den Zwischenknoten existieren. Aber der feste Knoten ist derjenige, welcher der Kontrolle dient. Verstehst du das?« Chundra Bala hörte ein ersticktes »Ja« und wieder Küsse. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wippte nervös auf den Zehen. Dann spähte er noch einmal durch den Spalt. Ihm stockte der Atem. Gauri hatte ihren Sari sinken lassen, enthüllte ihre Schultern und ihren Oberkörper. Ihre eine Hand hielt den Kopf des Erwählten zwischen ihre Brüste. Mit der anderen streichelte sie sein Haar. »Mein Sohn«, sagte sie, »sauge!« Gehorsam nahm er die Brust, die sie ihm bot. »Sauge fest«, fuhr sie fort, »dann schlafe und vergiß. Morgen abend wird das Schlachtfeld so erfreulich werden, daß Mutter Kalis frohes Lachen überall zu hören sein wird.« Chundra Bala sah wie erstarrt seinem Herrn und Meister zu, wie er Gauris Brustwarze mit den Lippen umschloß. Er zwang sich schließlich, sich abzuwenden und zurückzuziehen, wobei er fast vom Podest gefallen wäre. Sie bemuttert ihn, sonst nichts, schalt er sich, und das gehört sich auch so für den Sohn der Göttin Kali. Aber trotz dieser Erklärung war sein Verstand hellwach. Chundra zitterte vor Kummer. Und das erstemal, seit er den Erwählten kannte, haßte er ihn.
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VIERTER TEIL
Nirwana Das Ende oder Die Katastrophe
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33 Dan Terranovas Befürchtungen wegen der Polizei erwiesen sich als berechtigt. Die Beamten waren überaus aktiv. Eine Gruppe kam über die Dachluke und feuerte erst einmal blind von oben ins Treppenhaus. Der andere Sturmangriff erfolgte von der Straße aus, nachdem Trande Gautams Leichnam auf dem Boden des Treppenhauses aufgeschlagen war, woraufhin die Bewohner des Hauses schreiend auf die Straße hinausflüchteten. Dieser Trupp machte es besonders forsch und polterte dementsprechend die Treppe herauf. Terranova konnte Rama Shastri noch gerade vor den Geschossen der heraufstürmenden Polizisten zur Seite reißen. Ein paar Minuten lang bestand die einzige Sicherheit darin, sich flach auf den Boden zu legen. Als die Schießerei schließlich aufhörte, forderte sie der rauhbeinige Sergeant auf, sich zu ergeben. Anstelle einer Antwort schrie Terranova seinen Namen und Dienstrang mit dem Hinweis, daß er Mitglied der Bostoner Polizei sei. Die Polizisten näherten sich langsam und vorsichtig. Als sie die bäuchlings, mit dem Gesicht nach unten liegenden Männer erreichten, zogen sie sie erst einmal hoch und stellten sie auf die Füße und gegen die Wand: Füße gespreizt, Hände flach gegen die Wand gestemmt. Dann wurden sie durchsucht, Waffen und Personalausweise konfisziert. Nachdem er schließlich Terranovas Identität akzeptiert hatte, verlangte der Sergeant eine Erklärung. Terranova erzählte ihnen eine Geschichte von einer fernöstlichen Bande und hielt an diesem Punkt auch schon mit seiner Erklärung inne: »Das übrige kann ich Ihnen leider nicht enthüllen, Sergeant«, sagte er nachdrücklich, »hier beginnt es, Staats444
affäre zu werden. Top Secret! Geheime Kommandosache!« Er wies auf Wrench, Shastri und den Swami. »Diese drei Männer arbeiten in dieser Angelegenheit für Interpol. Tut mir leid.« »Ach nein?« schnauzte der Sergeant. »Und was ist mit dem jungen Kerl da draußen? Er sagte, er hielte Wache vor dem Haus. Arbeitet er etwa auch für Sie?« Mit diesen Worten stieß er Nirmal Kapur vor sich her. »So ist es, Sergeant.« Der Polizeibeamte betrachtete sie aufmerksam. »Der merkwürdigste Heldenclub, der mir je begegnet ist«, und blickte Terranova durchdringend an: »Ebenso merkwürdig, daß Sie darunter der einzige mit Polizeiausweis sind. Ich glaube, ich brauche noch mehr überzeugende Informationen, als Sie mir geben konnten. Schließlich liegen auf dem Dach drei Tote herum und auf der Straße ebenfalls. Der eine davon knallte auf unseren Wagen und kam durch die Windschutzscheibe, und dann liegt noch einer am Treppenabsatz. Das langt, um Sie alle mit auf die Wache zu nehmen und Sie da auskühlen zu lassen, bis das Gegenteil von dem, was sie da erzählen, bewiesen ist.« »Genügt Ihnen Mel Hughes vom Bostoner Polizeipräsidium als Zeuge?« Wrench warf einen Blick auf seine Armbanduhr: »Oder Horace Birch vom Geheimdienst in Washington? Der trifft in ein paar Stunden in Boston ein.« Der Sergeant schluckte und sagte in einem freundlicheren Ton: »Na schön, versuchen Sie, so jemanden herzukriegen, und dann werden wir ja sehen.« Auf der Wache angekommen, rief Terranova sofort Hughes an, der noch im Bett war. Hughes war der Presse wegen etwas besorgt. Sieben Tote nach einer Schießerei auf den Dächern von Arlington, das war schon eine Sensationsnachricht. »Sehen Sie zu, daß Sie da rauskommen«, drängte Hughes, »und geben
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Sie mir mal Wrench!« Als Wrench den Hörer übernommen hatte, drängte Hughes: »Ich erwarte Horace Birch. Er soll das morgen mit der Presse in Ordnung bringen. Sagen Sie ihm das. Von hier aus können wir das nicht mehr regeln, es ist sozusagen unserem Zugriff entzogen. Sieben Tote? Was soll das? Ist ein neuer Weltkrieg ausgebrochen?« Anschließend erklärte Wrench dem Chef der Polizeiwache das Nötige: »Unser Verbindungsmann aus Washington, Horace Birch, wird morgen ein Statement für die Presse abgeben. Können Sie uns jetzt hier rauslassen? Vielleicht durch die Hintertür?« »Es ist die Frage, ob der Bürgermeister damit einverstanden wäre«, war die Antwort. »Er ist gerade auf dem Weg hierher, möglicherweise mit dem ganzen Stadtrat.« »Schön und gut, aber Sie können uns jetzt nicht länger festhalten«, widersprach Wrench und entschloß sich, Birchs Namen noch einmal in die Debatte zu werfen. Er war sicher, daß keiner von den sie umgebenden Beamten Birch kannte, aber ebensowenig würde einer von ihnen das zugeben. »Horace Birch wird mit dem Bürgermeister und allen, die das angeht, sprechen. Diese Angelegenheit hat internationale Bedeutung, meine Herren, und ist deshalb streng geheim, okay?« Der Ton, in dem Wrench Horace Birch erwähnte, ließ vermuten, daß er dem Präsidenten näher stand als selbst das Kabinett. Einige der Anwesenden dachten an CIA, andere wieder an FBI, und der Rest wußte nicht genau, was er davon halten sollte. Jedenfalls mußte das ein Riesending sein, weil es mit Washington zu tun hatte. Es wurde also so gehandhabt, wie Wrench es verlangte. Nun saßen sie also alle in Terranovas Wagen und brüteten vor sich hin. Erst jetzt spürten sie die Folgen der hinter ihnen liegenden Kämpfe, die körperliche Erschöpfung. Terranova brach das Schweigen: »Was Sie da an Kletterkunst gezeigt haben, Swa-
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mi, war ja atemberaubend. Haben Sie dafür ein Geheimrezept?« »Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Terranova. Daran ist nichts Geheimes.« Der Frager seufzte: »Ich will damit nur sagen, Sir – keiner von uns könnte das so wie Sie.« »Warum nicht? Die physikalischen Gesetze, die es mir ermöglichen, so zu klettern, gelten genausogut für jeden von Ihnen. Es ist bloß eine Frage der Beobachtung.« »Nun ist es an mir, nicht zu verstehen. Welcher Beobachtung?« »Es ist so ähnlich wie mit der Akupunktur. Chinesische Ärzte kennen Stellen des menschlichen Körpers, die sie mit ihren Nadeln behandeln, welche von der Schulmedizin schlichtweg geleugnet werden. Solche Punkte gibt es auch in der Landschaft. Alles ist eine Frage der Beobachtung, wie ich schon sagte.« »Wenn ich das richtig verstehe, Swami, so wollen Sie damit sagen, daß Sie eine andere Realität wahrnehmen als die, die wir kennen. Und sie handeln nach deren Gesetzen, die nicht unbedingt etwas mit den uns bekannten Naturgesetzen zu tun haben müssen? Nichts mit dem, was die Wissenschaft Tatsache nennt? Nun gut, aber wie gewinnt ein Mensch diese Erkenntnisse? Ich meine, wie könnte einer von uns beispielsweise die geheimen Punkte in der Landschaft kennenlernen und, wie Sie sagen, beobachten?« »Ganz einfach«, witzelte Nirmal Kapur, der an Hanumans ungewöhnliche Ausführungen gewöhnt war, »Sie müssen nur sehen, daß Sie zu Samadhi, dem Stadium des reinen Bewußtseins, kommen oder auch zu Nirwana oder ähnlichem. Jeder kann das zu jeder Zeit, es ist genauso einfach, wie mit den Fingern zu schnippen.« Alle, außer dem Swami, lachten. Ja, mein Sohn, dachte er, es
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ist genau das Fingerschnippen zum richtigen Zeitpunkt, doch er sprach es nicht aus. Sie erreichten Swami Hanumans Wohnung um zehn Minuten nach zwei Uhr nachts. Und sie sahen die aufblinkenden Lichter der Patrouillenwagen eine Straßenecke weiter. »Verdammt noch mal«, fluchte Dan Terranova, der befürchtete, er müsse Mel Hughes noch einmal anrufen. Was sich dann auch bewahrheitete. »Was?« fragte Hughes erbost und verlor seine sonstige Liebenswürdigkeit ganz und gar. »Die Cambridge-Polizei glaubt, daß zwei von Swami Hanumans Schülern die Zeugin verbrannt hätten? Warum sollten sie so etwas getan haben?« »Haben sie ja auch nicht. Aber die Dummköpfe greifen jetzt nach jedem Strohhalm, um zu einer Erklärung der Vorgänge zu kommen. Es ist schon sehr merkwürdig, Sir. Unser eigener Polizeiarzt nimmt an, daß die Zeugin, Deborah Klaus, eine Art ätzenden Brennstoff geschluckt haben könnte, so was Ähnliches wie Lauge, bloß viel wirksamer. Er glaubt, nach der Autopsie mehr sagen zu können. Sie verbrannte von innen nach außen … also wirklich … es ist einfach unheimlich … gespenstisch.« »Dan, also man verbrennt nicht plötzlich, durch welches Mittel auch immer, von innen nach außen. Glauben Sie, daß diese Schüler unschuldig sind?« »Aber selbstverständlich. Deborah Klaus hat auch sie angegriffen, Sir, gleich nachdem sie unseren Assistenten stranguliert hat.« »Also allmählich gerät das außer Kontrolle, Dan.« »Ich stimme vollkommen mit Ihnen überein, Sir.« »Gut. Beauftragen Sie jemand mit diesem Fall, wer immer dafür in Frage kommt. Dieser Fall muß auf bundesstaatlicher Ebene behandelt werden. Damit soll sich die Regierung befassen. Die Sache stinkt. Sollen die sich doch damit befassen.
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Dieser Birch kommt morgen. Da hat er gleich was zu tun, der soll sehen, wie er das Tohuwabohu in den Griff kriegt. Im übrigen, Dan, ganz im Vertrauen …« »Ja, Sir?« »Washington tat am Telefon so, als ob es sich bei Birch um Gott den Allmächtigen höchstpersönlich handele. Da gibt’s Gerüchte, die ich von meinen eigenen Regierungskontakten her bezogen habe. Seit dem Zweiten Weltkrieg macht er seinen Job. Militärischer Geheimdienst anfänglich, außerdem war er damals in Fernost tätig. Von der Roosevelt-Regierung bis zum heutigen Tag ist er mit der gleichen Aufgabe betraut. Der hat mindestens die gleichen Verbindungen, wie Hoover vom FBI sie hatte.« Eine lange Pause entstand. »Vielleicht«, sagte Mel Hughes abschließend, »sollten wir die Sache äußerst vorsichtig behandeln. Warum sollen wir jetzt schon Dampf machen, wenn Birch Befugnisse hat? Er war übrigens Stephen Wrenchs direkter Vorgesetzter, was bedeutet, daß auch Wrench seinerzeit Bedeutung hatte.« »Oh, auch heute noch, Mr. Hughes, und auch Rama Shastri weiß vollkommen Bescheid. Sie kennen ihre Widersacher. Besser, als wir das jemals können werden, Sir.« Wieder eine Pause. »Ich werde mit meinem Vorgesetzten sprechen. Wenn dieser Horace Birch wirklich die Allmächtigkeit in Person ist, macht es einen guten Eindruck in Washington, wenn wir kooperieren. Könnte ja sein, daß wir von denen auch mal einen Gefallen haben wollen. Aber jetzt gleich neun Tote. Was ist das für ‘ne Nacht!« »Wollen sie mit der Polizei von Cambridge sprechen, Mr. Hughes?« erkundigte sich Terranova. »Na schön, geben sie mir einen von denen, Dan.« Terranova überreichte den Hörer einem der Polizeioffiziere und ging dann quer durch den Raum, dorthin, wo der Geruch von Deborah Klaus’ verbranntem Körper nicht so durchdrin-
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gend war. Die Fenster standen weit offen, und die lose hängenden Vorhänge flatterten im Wind. Es war wirklich ungeheuerlich. Es war kaum zu glauben. Im Flur begegnete er Rama Shastri, der ihn aufgeregt informierte: »Wir müssen sofort in George Buchans Wohnung zurück. Steve hat gerade mit ihm telefoniert. Santha hat Alpträume. Als sie erwachte, war sie so verwirrt, daß sie eine Haarbürste zum Fenster rausgeschmissen hat.« Gemeinsam gingen sie zum Wohnzimmer hinüber. Mollys und Adelaides Schluchzen zeigten ihnen den Weg dorthin. Sie fanden Hanuman, der sich zwischen die beiden Frauen gesetzt hatte und sie in ihrem panischen Entsetzen tröstend um die Schultern gefaßt hielt. Wrench rannte wie wild auf und ab, Nirmal lehnte an der Wand, in seine eigenen Überlegungen vertieft. Terranova hörte, wie Hanuman die Weinenden tröstete: »Beruhigt euch, meine Kinder«, sagte er, »der Schrecken ist vorüber.« Zumindest im Augenblick, dachte Terranova. Kurz vor fünf Uhr morgens setzte Terranova Rama Shastri und Wrench an George Buchans Wohnung ab. George sah noch erschöpfter aus als sie alle. »Sie wachte früh am Morgen auf«, begann George, »und bestand darauf, frische Kleidung, Bücher und ein paar andere Dinge aus ihrer Wohnung haben zu wollen. Sie schien ganz in Ordnung zu sein, ruhig, herzlich, fast überschwenglich.« George zögerte. »Aber bald konnte ich feststellen«, fuhr er fort, »daß etwas mit ihr ganz und gar nicht in Ordnung war. Santha konnte nicht begreifen, warum hier eine Polizeiwache für sie war, warum sie bewacht und beobachtet wird. Ich erinnerte sie an die Thugs und an alles, was damit zusammenhängt.« »Wie konnte sie das denn vergessen?« wollte Wrench wissen.
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»Sie verdrängt es. Versuch einmal, so wie ich, ihr die Inderin ins Gedächtnis zu rufen, die auf sie losging. Sie weiß einfach nichts mehr. Dann bat sie mich, in die Lime Street zu gehen und ihr die Sachen zu holen, die sie gerne haben wollte. Das habe ich natürlich abgelehnt.« »Sehr gut«, bemerkte Wrench knapp. »Selbst mit dem Polizeiwagen direkt vor der Tür beziehungsweise dem Eingang zum Hof sind wir nicht völlig sicher. Da ist nur ein Polizeibeamter, der aufpaßt, verstehst du? Na, wie auch immer, Santha nahm es mir nicht übel, daß ich nicht weggehen wollte. Sie fing an, im Smithsonian-Magazin des Monats zu lesen. Danach haben wir ferngesehen. Um Mitternacht etwa sagte sie, daß sie ins Bett gehen wolle.« »Habt ihr euch während der ganzen Zeit nicht über irgend etwas unterhalten?« »Sie plauderte ein bißchen über den kunsthistorischen Artikel, den sie im Smithsonian gelesen hatte, und machte ein paar witzig-kritische Bemerkungen über Kurt Leinsters Gedichtband. Leinster ist ein alter Freund von mir. Wir haben vor ein paar Tagen mit ihm zu Abend gegessen, und er schenkte ihr sein Buch. Der arme Kurt, das hätte er lieber nicht tun sollen, Santhas Kritik war vernichtend.« George lächelte. »Sie aß sogar mit gutem Appetit, Steve. Zuerst verspeiste sie eine Avocado, und später teilten wir uns einen Krabbensalat.« »So war sie also nicht geistesabwesend?« erkundigte sich Shastri. »Nun, ich konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, wirklich nicht. Keine starren Blicke, keine seltsame Handlungsweise oder ungewöhnliche Bemerkungen. Nichts dergleichen. Sie schien nur noch etwas müde zu sein.« »Hatte sie keine Angst, keine Bedenken, was ihre eigene Person anbelangt?« fragte Wrench. »Nein. Wenn in dieser Situation etwas ungewöhnlich war,
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dann war es gerade, daß sie keine Angst hatte. Sie scheint die Gefahr, in der sie schwebt, gar nicht zu erkennen.« George hielt eine Weile inne. »Nicht, bevor sie ins Bett ging.« »Und was war dann?« George Buchan ging zu dem Barschrank, goß sich einen Whisky ein und bot auch den anderen einen Drink an, die ihn gerne akzeptierten. »So was hätten wir schon früher brauchen können«, sagte Wrench. George betrachtete ihre zerkratzten und sonstwie verletzten Gesichter. »Ja«, meinte er, »man kann sehen, daß ihr eine schlimme Nacht gehabt habt.« Dann setzte er sich und fuhr mit seinem Bericht fort: »Und jetzt der Schluß der Geschichte. Ich habe mich dabei zu Tode erschrocken, Mr. Shastri. Ich schlief hier auf der Couch. Um etwa halb zwei Uhr nachts hörte ich Geschrei. Ich wußte sofort, daß es aus Santhas Zimmer kam. Ich rannte die Treppe hinauf. Bevor ich noch die Tür erreichte, konnte ich die einzelnen Worte verstehen. Santha schrie irgend jemand an. Ich stürzte hinein, um jedem an die Gurgel zu fahren, wer es auch sein mochte. Aber verdammt will ich sein, Steve, es war niemand da, niemand außer Santha. Sie saß mit aufgerissenen Augen kerzengerade im Bett und schrie durchs ganze Zimmer. Erst hielt sie den Kopf in die eine Richtung, dann in die andere und schrie dabei aus Leibeskräften. Heftig, das kannst du mir glauben. Sie schien in unglaublicher Wut zu sein.« Nach einer Weile fragte Wrench: »Konntest du heraushören, wen sie angeschrien hat? Nannte sie Namen?« George nickte: »Ja, einen.« Er benetzte seine trockenen Lippen mit der Zunge. »Welchen, George?« »Den deiner Frau, Steve.« Wrench fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Mei-
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ner Frau?« flüsterte er. »Kamala?« »Ja, Santha schrie sie an, weil sie sie nicht schützte. Sie sagte mehrmals, ›Du bist, verdammt noch mal, meine Mutter und hast die Pflicht, mich zu beschützen.‹« »Santha sagte, ›verdammt noch mal‹ zu ihrer Mutter?« »Sie war außer sich, Steve, nicht sie selbst. Sie sagte auch: ›Du bist meine wirkliche Mutter, die einzige Mutter, die ich mir wünsche.‹ Dann zeigte sie in die andere Zimmerecke und fragte: ›Warum ist sie auch noch hier? Sie ist nicht meine richtige Mutter. Verflucht, warum machen Sie nicht, daß Sie hier rauskommen?‹« George errötete. »Sonst benutzt Santha nicht solche Ausdrücke. Das ist ganz und gar nicht ihre Art.« Shastri mischte sich ein: »Santha bat ihre Mutter Kamala, sie zu beschützen, und zwar vor einer anderen Frau, die sich gleichfalls im Raum befand? Hat die andere behauptet, sie sei ihre Mutter, und nicht Kamala?« »So etwas Ähnliches wohl. Soweit ich zugehört habe, schien es genauso zu sein. Und so ging es ungefähr fünf Minuten weiter. Hin und her. Santha klagte ihre leibliche Mutter an, sie nicht aus den Klauen der anderen zu befreien. Dann wandte sich Santha in die Richtung, wo offenbar ihre mysteriöse andere Mutter stand, und schrie etwa folgendes: ›Sie sind grauenhaft häßlich, wissen Sie das? Sicher denken Sie, Sie seien schön, aber Sie sind so unerträglich abscheulich, daß Sie wirklich keiner mögen kann!‹ Und schließlich sprang Santha direkt aus dem Bett und ballte die Fäuste. ›Nein, nein‹, schrie sie, ›das tue ich nicht. Ich hasse Sie, hasse alles an Ihnen.‹« »Das muß der anderen gegolten haben«, sagte Wrench, »nicht Kamala.« »Genau. Und sie schrie weiter: ›Das macht ihr nicht mit mir. Ich tu’s nicht, und mir ist völlig egal, wer Sie sind.‹ Schließlich wandte sie sich offenbar an Kamala: ›Du schützt mich, nicht wahr? Halte sie auf, hindere sie daran! Du bist meine einzige
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Mutter.‹ Immer und immer …!« Wrench räusperte sich und zog seine Pfeife hervor. »Und nachdem das alles vorbei war«, fuhr George fort, »und ich zu ihr zu dringen versuchte, indem ich sagte – Santha, ich bin’s, George –, du lieber Gott, sie starrte durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas. Da war mir klar, daß sie sich in einer Art Trance befinden mußte. Ich stand da und sah zu, wie sie sich langsam zurücklehnte und die Augen schloß. Und plötzlich war ihr Gesicht ganz entspannt, so als ob nichts geschehen wäre. Es war verdammt entnervend.« »Das scheint das Mindeste, was man dazu sagen kann«, sagte Wrench teilnahmsvoll. »Und was war mit dem kaputten Fenster?« »Das war ungefähr eine Stunde später, Mr. Shastri. Ich blieb im Zimmer, für den Fall, daß sie meine Hilfe brauchte. Ich war gerade eingeduselt, als ich das Splittern hörte. Santha war aus dem Bett gestiegen und war schweißnaß von oben bis unten. Sie hatte ihre Haarbürste durch das geschlossene Fenster geworfen. Ihr Gesicht war total verzerrt, und als sie mich sah, klappte sie zusammen. Ich fing sie in meinen Armen auf und hörte sie immer wieder das gleiche in mein Ohr flüstern, immer wieder das gleiche.« »Und das war?« George holte tief Luft: »Also gut, ungefähr so: ›Er will mich haben, George, tut mir leid. Ich weiß nicht, ob ich ihm widerstehen kann. Er ist stark, George. Er ist furchtbar stark.‹ Ich fragte: ›Wer, Santha, wer?‹ – ›Er kommt mit dem Todeswind, George. Er reitet wie ein Gott auf dem Wind des Todes.‹ Sie sagte das alles sehr sanft, sehr leise, sie befand sich fast im Stupor, fast lethargisch. Ich habe ihr dann ein Beruhigungsmittel eingeflößt, und dann habe ich sie ins Gästezimmer rübergebracht, denn sie konnte unmöglich in dem zugigen Zimmer bleiben, durch dessen zerbrochene Fensterscheibe der
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Wind hereinpfiff.« »Und das war’s?« fragte Wrench, die Lippen zu einem Strich verzogen. »Ja.« Wrench ging aus dem Zimmer und die Treppe hinauf zum Gästezimmer. Dort stand er vor Santhas Bett. Sie schlief. Ihre Augenlider bewegten sich zitternd, aber sie erwachte nicht. Dann hörte er Schritte, und Shastri stand neben ihm. »Der Wind des Todes«, wiederholte Wrench, »er reitet auf dem Wind des Todes. Der sogenannte Erwählte hat, so scheint es, ein Auge auf mein kleines Mädchen geworfen, Ram.« »Der Erwählte hat eine Vorliebe fürs Dramatische. Das habe ich schon seinerzeit im Satitempel feststellen können. Mit diesen Träumen, mit denen er Santha verfolgt, will er unserer emotionalen Abwehr begegnen.« Wrenchs Frage klang heiser: »Also glaubst du nicht, daß Santha wirklich Kamala gesehen hat?« Shastri legte Wrench die Hand auf die Schulter: »Nein, alter Freund, das glaube ich nicht. Nach all dem, was wir von den Kunststücken des Erwählten und dem Kaligefäß Gauri kennengelernt haben, kann man sich vorstellen, daß sie Santha nur ein Trugbild unserer lieben Kamala vorgespielt haben, speziell, wenn sie hoffen, dadurch die Harmonie, die zwischen Santha und uns bestehen könnte, zu zerstören …« »Das ist eine schmutzige Methode, einen Kampf auszufechten, Ram. Was anderes kannst du von einem, der sich Täuscher nennt, erwarten. Komm, Steve. Sie schläft jetzt ganz ruhig. Wir müssen auch zur Ruhe kommen.« Wrench blickte lange auf seine Tochter. »Ein bösartiger und schmutziger Kampf«, sagte er und ging hinter Shastri aus dem Zimmer.
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34 Weder Wrench noch Shastri hatten das Bedürfnis, in der Pinckney Street zu schlafen. Sie wollten lieber in Santhas Nähe bleiben. Sie entschieden sich für Georges Arbeitszimmer. Wrench starrte auf seinen schmutzigen Überzieher. »Morgen müssen wir aber die Kleider wechseln«, sagte er. »So, und jetzt erzählt ihr beide mal, was euch heute abend zugestoßen ist«, forderte George. Shastri nickte bereitwillig, doch Wrench bat: »Du, wir erzählen dir morgen alles, was du willst, aber jetzt haben wir beide dringend ein Auge voller Schlaf nötig.« Dennoch fand Rama Shastri keinen Schlaf. Ihn schmerzte der ganze Körper von oben bis unten, und obwohl seine nassen Sachen schon längst getrocknet waren, hatte er das Gefühl, bis auf die Knochen durchweicht zu sein. Auch Wrench mußte Schmerzen haben, denn er stöhnte laut, wenn er sich umdrehte. Schließlich erhob sich Shastri, ging ins Bad und nahm eine lange, ausgiebige Dusche. Es tat seinen Gelenkschmerzen wohl. Als er aus dem Badezimmer kam, sah er Santha die Treppe hinunterkommen. Einen Augenblick später war er mit ihr zusammen im Wohnzimmer. »Onkel Ram!« rief sie erschrocken aus, als sie seinen verletzten Hals sah. »Was ist dir denn passiert?« Er beschloß, eine direkte Antwort zu geben: »Wir hatten eine Begegnung mit den Thugs, Santha. Einer von ihnen hätte bei mir fast Erfolg gehabt. Das ist alles.« »Das ist alles«, sagte sie flüsternd. »Und was ist mit Daddy?« 456
»Er schläft in Georges Atelier. Jetzt geht’s ihm gut.« Sie ergriff seine Hand: »Gott sei Dank, daß ihr soweit in Ordnung seid.« Santha trug ein weißes Nachthemd, dessen tiefer Ausschnitt mit einer glänzenden Satinborte eingefaßt war. Das lange, schwarze Haar fiel über ihr Dekolleté, doch wenn sie sich bewegte, wurde ihr Brustansatz sichtbar. Shastri schaute weg. »Ich bin in einem anderen Zimmer aufgewacht«, sagte sie plötzlich und legte die Fingerspitzen an die Schläfen. »Du hast das Fenster in Georges Schlafzimmer kaputtgemacht. Erinnerst du dich nicht mehr?« »Das soll ich getan haben? Aber warum denn? Ich hatte doch keinen Grund dazu.« Er versuchte herauszufinden, ob sie jetzt die »wirkliche« Santha war. Er konnte es so ohne weiteres nicht feststellen. Es war, als schaute man in Moorwasser, ohne auf den Grund sehen zu können. »Santha, wo können wir uns in Ruhe unterhalten?« »Vielleicht im Eßzimmer?« Sie gingen hinüber, setzten sich an den prachtvollen, großen Tisch und knipsten die gemütliche Stehlampe an. Shastri zog einen Aschenbecher heran und griff nach einer Sher Bidi. »Diese Visionen, die du in letzter Zeit gehabt hast, müssen doch ziemlich bedrückend gewesen sein, oder nicht?« begann er einigermaßen nervös, was seine Wortwahl betraf. Aber einerlei, er stand unter Zeitdruck. Santha machte eine abwehrende Handbewegung »Ach, Onkel Ram, ich habe es restlos satt, über mich nachzudenken. Erzähl mir was von dir. Ist dir klar, daß dies seit deiner Ankunft das erste Mal ist, wo wir Gelegenheit haben, ganz alleine miteinander zu reden?« Shastri runzelte die Stirn und entschloß sich, auf sie einzugehen. »Von mir ist nicht viel zu berichten«, sagte er, »außer
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daß ich endlich hier bin.« Sie ergriff seine Hand und drückte sie. »Und das freut mich so«, erwiderte sie herzlich. »Mein Lieblingsonkel Ram! Sag, hast du jemand dort in Indien zurücklassen müssen?« Rama Shastri schwieg. Was nun? Er wartete ab. »Also, nun komm schon, Onkel Ram«, sagte sie wissend. »Was ist mit deiner Freundin drüben?« Sie lachte. »Hast du gedacht, ich wüßte das nicht? Mein Vater hat mir natürlich nichts davon gesagt.« »Wer denn?« fragte er leise. »Mutter.« Die Fenstervorhänge waren zugezogen, und er wünschte, er könnte ihren Gesichtsausdruck besser erkennen. »Wirklich?« Er erhob sich. »Ja. Eines Tages haben wir uns über dich unterhalten.« Shastri stand jetzt so, daß er ihr besser ins Gesicht sehen konnte, und fast verschlug es ihm den Atem – Kamala! Er setzte sich wieder. »Erzähle mir von ihr. Das bleibt unter uns, wir sagen Daddy nichts davon«, bat sie. So begann er zu erzählen und hoffte, daß er dadurch ihr Vertrauen gewinnen könne. Er schilderte Ileana, ihre Talente, ihre dunkle Haut, berichtete von allem, was er sie gelehrt hatte, schilderte, wie sie aussah, wie sie sich kleidete. »Und du vermißt sie natürlich, nicht wahr?« »Also in letzter Zeit habe ich nicht so oft an sie gedacht. Ich war zu sehr mit den Thugs beschäftigt. Santha, was das anbelangt –« »Hatte Sie einen besonderen Namen für dich, einen Kosenamen, wie Liebende es haben? Ja?« »Santha –« »Ich zum Beispiel nenne George ›Kesari‹.«
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»Kesari«, wiederholte er. Wie herrlich weiblich-verliebt klingt das. Aber wie ausweichend du bist. Shastri hörte auf, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen. »George sagt, du hättest in der vergangenen Nacht von deiner Mutter geträumt«, sagte er unvermittelt. »Wirklich?« fragte sie in einem unaufrichtigen Ton. »Ja, und von einer anderen Frau.« Noch falscher: »Ach?« »Wirklich«, bekräftigte er. Sie lächelte plötzlich herzlich, als ob diese Fragen nie gestellt worden wären, und fragte, um sein Wohlergehen besorgt: »Hast du keinen Hunger, Onkel Ram? Ich komme um vor Hunger! Komm, ich mache uns jetzt das beste Frühstück, das du je zu dir genommen hast.« Sie stieß den Stuhl zurück, so daß die Stuhlbeine auf dem Boden kratzten. Shastri hielt sie am Handgelenk fest und hinderte sie am Aufstehen. »Santha, bitte, höre genau zu. Diese ThugsAngelegenheit ist ernst zu nehmen, und du bist eine ihrer Schießscheiben.« »Du meinst …«, sagte sie spöttisch und entzog ihm ihre Hand. Dabei machte sie eine Bewegung, als würfe sie eine Schlinge, neigte den Kopf zur Seite und ließ ihre Zunge baumeln. »… die haben es auf mein kleines Ich abgesehen?« Shastri schlug zu. Er tat es, bevor er sich im klaren darüber war, was er da tat. Einen Augenblick stand er, zitternd vor Zorn, vor ihr und erwartete, daß sie ihm entweder eine Szene machen oder den Raum verlassen würde. Statt dessen brach es auf einmal aus ihr heraus: »Onkel Ram, ich habe solche Angst. Ich fühle, denke und sehe Dinge, die ich nicht erklären kann. George hat in der vergangenen Nacht versucht, es für mich zu entwirren. Ich weiß, du kannst das besser, und ich will auch auf dich hören. Wirklich, das will ich. Aber
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ich bin so entsetzt über das alles, daß ich es lieber hätte, wenn du es langsam herauszufinden versuchst. Verstehst du das?« »Natürlich, mein Liebes.« Sie strich sich die Haare zurück und lehnte sich über den Tisch. Ihre Augen waren wie tiefe Seen, dunkel und glanzlos, so als wären sie irgendwo in dunkler Weite verloren. Shastri wünschte, er könne in diese Dunkelheit, in diese Schlucht, die sich da auftat, eindringen, einerlei, wie bedrohlich sie sein mochte. Gott, er wollte sie retten! Und Steve. Und – ja – und Kamala. »Mein Kind«, sagte er und schluchzte fast, der Raum verschwamm vor seinen Augen. Er empfand so viel Liebe für sie, daß es schmerzte. »Bitte, Onkel Ram. Ich will mit dir darüber sprechen. Aber vorher möchte ich, daß George und Daddy aus dem Hause sind. Bitte … Es fällt mir dann leichter.« Shastri lächelte in ihre flehenden Augen. Sie blickten wieder herzlich drein. Tränen standen darin. Im Wohnzimmer waren George und Wrench schon munter. Offenbar hatten er und Santha George geweckt, der so nervös war, daß ihn das Fallen einer Stecknadel schon am Schlafen gehindert hätte. Im Gegensatz dazu hatten Wrench schon die paar Stunden Schlaf wiederbelebt. Im Augenblick schlürfte er starken schwarzen Kaffee, während er mit Horace Birch telefonierte. Der Regierungsvertreter hatte eine Suite im Bostoner Sheraton belegt. Wrench erblickte seine Tochter und senkte die Stimme. Er gab Birch gerade einen Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er winkte Santha zu, während sie vorbeiging, um George einen Kuß auf die Wange zu geben. Er ließ den Hörer sinken und sagte zu Shastri: »Wir treffen uns mit Horace um zwölf Uhr in seinem Hotel.« Santha beugte sich herab und küßte auch ihn auf die Wange: »Morgen, Daddy!«
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Wrench wies auf ihr Nachthemd: »Zieh einen Morgenrock über, mein Liebling, ja?« Santha reagierte mit einem scharfen Blick. Sie wandte sich abrupt um und ging die Treppe hinauf. »Warum geht ihr beide nicht zum Frühstücken aus?« schlug Shastri vor. »Dann kann George in aller Ruhe deinen Bericht von gestern nacht anhören, ohne daß ihr beide gestört werdet.« »Ich finde es hier viel gemütlicher«, wehrte Wrench ab. »George«, bat Shastri, »bitte führen Sie diesen Mann zu einem guten Frühstück, ja? Steve, Santha und ich haben etwas zu besprechen.« »Ich sehe schon«, Wrench erhob sich, »ich nehme an, dabei bin ich hinderlich.« »Santha und ich hatten gerade ein Tête-à-tête im Eßzimmer.« »Nichts weiter als ein verständnisvoller Onkel.« »Es könnte sein, daß ich dabei Wichtiges in Erfahrung bringe. Also, nun beeilt euch mal!« In weniger als fünf Minuten, nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, erschien Santha wieder. Er war sich sicher, daß sie so lange gewartet und oben auf dem Treppenabsatz gelauscht hatte. Außerdem hatte sie sich noch nichts übergezogen. Fröhlich summend huschte sie in die Küche: »George sagt, er hätte ein Steak für mich aufgehoben. Wie wäre das, zusammen mit Eiern, Onkel Ram?« Ihr Blick war übermütig. »Eine vorzügliche Scheibe von einer heiligen Kuh …« Sie kicherte. Ihre Äußerung verursachte in ihm Heimweh nach Indien. Die Frauen dort schienen ihm viel unverhohlener zu kichern und zu lachen als im westlichen Kulturkreis. Er saß am Küchentisch, trank in großen Schlucken heißen Tee, erinnerte sich an Kamala und wunderte sich, warum Santha ihr jetzt nicht mehr so ähnlich war. Kamala würde sich ihm niemals im
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Nachthemd gezeigt haben. Immer noch war die Erinnerung an Kamala so stark, daß sie alles andere in den Hintergrund drängte. Das kommt alles von der Unterhaltung über mein Liebesleben, folgerte Shastri. Ich fange an, mich einsam zu fühlen. Wenn ich in aller Morgenfrühe erwache, vermisse ich die Gegenwart einer Frau. Damals, als er noch in seiner Dienststelle wohnte: Wenn er wach wurde, war auch Ileana oftmals schon wach, und dann hatten sie sich geliebt. Santha stellte eine Grapefruit auf den Tisch. Shastri aß eine Weile stumm. Das Fleisch brutzelte bereits auf der Herdplatte. Santha zerschnitt eine Zwiebel und Peperoni und würzte den Fleischsaft damit. Sie summte dabei eine Melodie vor sich hin, irgend etwas Zeitgenössisches, etwas für junge Leute. Er mochte die moderne Musik und fand die Zwanglosigkeit und Lockerheit gut. »Warum ausgerechnet ich?« fragte sie plötzlich. »Wieso?« stellte er die Gegenfrage. Er verstand nicht, was sie meinte. »Warum haben sie gerade mich herausgepickt?« Sie sah ihn dabei nicht an, sondern betrachtete angelegentlich das Fleisch in der Pfanne. »Es hat sich so viel Merkwürdiges zugetragen, verstehst du? Ich gehe in anderen Gegenden spazieren, Onkel Ram. Die Landschaft ist immer in Indien, aber ich bin sicher, es ist bloß eine Nachbildung. Und während ich da so hindurchwandere, weiß ich, daß ich ihnen etwas Besonderes bedeute.« »Wem? Einem Mann? Einer Frau, Santha?« »Es ist eher eine Frau. Aber ich weiß, daß irgendwo auch noch ein Mann ist. Ich rieche ihn, und er weht mit dem Wind heran.« Shastri war erschrocken: »Das klingt ja fast romantisch, mein Liebes«, meinte er stirnrunzelnd. »Nicht wahr?« Santha schlug ein Ei in die Pfanne. Dann
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hielt sie inne und redete gegen die Wand. Sie wollte nicht in seine Richtung sehen: »Eigentlich ist es albern. Es gibt keinen Er. Ich nehme an … Indien ruft mich.« »Indien ruft dich?« Santha antwortete nicht. Shastri quetschte die Grapefruit aus und betrachtete ihren schmalen Rücken. Ihr Nachthemd fiel straff über ihre Hüften. Ihre hinteren Kurven zeichneten sich deutlich ab. Shastri schluckte trocken. Sie servierte Steak und Eier, munter über dies und jenes plaudernd, während sie sich einen Toast machte und Tee eingoß. »Es ist aufregend, für dich zu kochen. Ich weiß nicht, warum.« Santha saß ihm gegenüber und biß in ihren Toast. »Ich nehme an, weil ich jetzt eine Familie habe, die größer ist als noch vor einer Woche.« »Ich bin geschmeichelt. Aber sag, sind diese Visionen, die du hattest, das, was du mit Indiens Ruf meinst?« »Ja, das glaube ich, Onkel Ram. Ich habe das Gefühl, daß ich herbeizitiert werde. Seit Monaten ruft mich etwas.« Sie hatte die Stimme gesenkt, ihre Worte klangen geradezu ehrfurchtsvoll. Shastri schnitt sich ein Stück Steak ab: »Vermißt du Indien?« »Warum auch nicht, Onkel Ram? Die Frauen dort bekommen immer mehr Freiheiten. Und außerdem, seit kurzem vermisse ich die alten, die antiken Dinge. Das sind eben die indischen Wurzeln. Saris, tropische Blüten, Bombay-Ente, der Ton der Trommeln, die Ochsen auf den Feldern, die Fakire auf ihren Nagelbetten. Aber das ist es nicht allein. Ich denke nicht nur an die kleinen Dinge. Ich habe die klassischen epischen Gedichte wieder einmal gelesen, ich liebe die große indische Kunst, die gewaltigen Skulpturen, Kathakhali, das TanzDrama. Mutter und ich gingen bei solchen Gelegenheiten im-
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mer ins Theater. Ich habe die Legende von Poothana aufgeführt gesehen.« »Ich fürchte, daß meine Kenntnis der indischen Legenden und Sagen recht begrenzt ist, mein Liebes.« »Poothana war eine Dämonin. Eines Tages verkleidete sie sich als hübsche, junge Frau und unternahm den Versuch, den kleinen Krishna, der noch ein Baby war, zu töten. Und zwar mit …« Santha fing wieder an zu kichern. »… mit ihren vergifteten Brustwarzen. Ist das nicht köstlich?« Diesmal lachte sie laut und herzlich. »Hat Krishna das überlebt?« »Natürlich, Dummerchen. Das tut er doch immer. Er ließ beim Saugen ihre Brust nicht los, und sie verwandelte sich schleunigst wieder in die häßliche Dämonin. Doch er sog und sog das Leben aus ihr heraus.« »Erstaunlich!« »Ich vermisse seit kurzem so vieles, was in Indien zu Hause ist … Die Kultur. Die Traditionen. Die alten Sitten.« »Santha, diese Beschäftigung mit dem alten Indien, meinst du nicht, daß dir das absichtlich nahegebracht worden ist?« Shastris Blick fiel auf die Narbe auf ihrer Stirn. Sie sah dunkler aus als am Tag vorher. »Nahegebracht. Meinst du, ich bin beeinflußt, manipuliert worden? Wieso? Ist es denn verkehrt, mich meiner indischen Wurzeln zu entsinnen?« »Natürlich nicht. Aber du gibst doch zu, daß jemand oder etwas auf der Suche nach dir ist. Du hast gestern nacht eine Frau angeschrien, die behauptete, deine Mutter zu sein. Vielleicht war das eine Dämonin wie Poothana, eine falsche Mutter.« »Eine Dämonin? Und das von dir, Onkel Ram? Willst du etwa behaupten, daß du neuerdings an Dämonen glaubst?« Santha forschte in seinem Gesicht.
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»Ja. Siehst du, ich habe so ein … so ein Wesen getroffen, etwas, was nicht menschlich war. Sie hat mit diesem Thugismus etwas zu tun, etwas mit ihrem messianischen Guru, mit dem, den sie immer den Erwählten nennen.« Santha schob ihren Toast fort. Sie sah auf einmal krank aus. »Wie hat sie denn ausgesehen?« Rama Shastri gab ihr eine Beschreibung. »Oh, du lieber Himmel! Du hast sie genau beschrieben. Dann ist sie also tatsächlich lebendig.« »George hat versucht, dir das klarzumachen, nicht wahr?« »Ich habe kaum zugehört. Sie lebt also?« »Du zitterst ja, Santha, du mußt etwas überziehen, einen Bademantel oder so.« »George behauptet, ich hätte gesagt, daß eine Frau mich überfallen hätte. Glaubst du, daß sie es war?« »Ja, da bin ich mir ganz sicher. Sie heißt Gauri Bala. Sie ist aus Fleisch und Blut, das ist richtig. Aber wenn der Geist in sie fährt … hörst du überhaupt zu?« »Doch, doch, ich glaube schon. Es ist alles so seltsam und auch wieder so logisch. Dann vereint sich also auf irgendeine Art das menschliche Herz mit dem Herzen des Dunklen.« »Du bist doch mit dererlei vertraut, oder nicht, Santha?« »Es muß ja wohl so sein. Ich habe diese Frau in meinen Visionen gesehen, Onkel Ram. Ich erinnere mich aber nicht an sie. Neulich abends auch nicht. Wenn ich George erzählt habe, daß sie mir gegenüber gewalttätig wurde, muß es ja wohl so sein.« Shastri löste seinen Blick von dem Zeichen auf ihrer Stirn, der Miniatur-Spitzhacke. »Vielleicht, wenn wir uns genauer und in Einzelheiten über deine Visionen unterhalten, können wir den möglichen Einfluß erkennen, den sie verursachen. Aber du solltest dir zuerst etwas überziehen. Du zitterst ja schrecklich.« »Warum ich? Bin ich für das Böse empfänglicher? Bin ich
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selbst böse? Schlimmer als andere?« »Das bezweifle ich. Du bist nur aufnahmefähig, das ist alles. Du warst für sie ein leichtes Opfer wegen deiner psychischen Struktur.« »Mutter war genauso.« »Ich habe diese Seite an ihr nie kennengelernt. Warum holst du nicht deinen Morgenrock, oder soll ich ihn dir schnell holen?« »Warte noch einen Moment … erst muß ich wissen … kann mir … überhaupt geholfen werden?« »Da ist der Swami Hanuman.« »Ja, von dem habe ich schon gehört. Hanuman, der Affe.« »Ja, er und sein Schüler Nirmal Kapur. Sie waren bereits sehr hilfreich.« »Der Rockstar! Ein phantastischer Musiker und Komponist. Wir haben eines seiner Konzerte besucht … Oh, jetzt erinnere ich mich – ein ungeheuer sympathischer Mann mit affenartigen Gesichtszügen und einem Turban, war auch da.« »Das ist Hanuman. Aber jetzt hole ich deinen Morgenrock, Santha.« »In Georges Zimmer, über einen Stuhl geworfen.« »Ich beeile mich, Liebes.« Shastri lief die Treppe hinauf, betrat das Schlafzimmer und fühlte sofort den Luftzug von dem zerbrochenen Fenster. George hatte die Scheibe mit Malleinwand abgedichtet. Shastri glaubte, die Türglocke gehört zu haben. Er fand den Morgenrock, nahm ihn und ging wieder hinunter. Unten, am Fuße der Treppe stand Santha und wartete auf ihn. Neben ihr stand ein noch junger, aber bereits grauhaariger Mann. »Onkel Ram«, stellte Santha vor, »dies ist Georges alter Freund, Kurt Leinster.«
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35 Die Morgensonne schien warm. Ihre Strahlen schmolzen den Schnee hinweg. Breite Rinnsale flossen in die Straßengullys. Gauri Bala blickte durch das Rückfenster des Volkswagenbusses und lächelte über das Aufblitzen der Sonne in der Windschutzscheibe des folgenden Wagens. Wie offensichtlich und dumm sie doch zeigten, was sie vorhatten, dachte Gauri. Ob sie wirklich glaubten, sie wären unsichtbar? Im Inneren des Busses war es warm, und sie hatte ihren Mantel ausgezogen. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Auch Sahib Khan schwitzte. Nur Ramanuja schien kühl zu bleiben, doch Gauri bemerkte, als er sich das Bett mit Ayubs Leiche festzuhalten bemühte, daß er unter den Achseln seiner Jacke schweißnaß war. Das strahlende Sonnenwetter war ein Omen. Dieser Tag würde vielen den Tod bringen. Bis Mitternacht würde die Moral des Kali Akali Ashrams wieder hoch sein. Alles, was sie hatte durchmachen müssen, bekam auf einmal Bedeutung, wurde zum Hinweis. Und morgen, irgendwann am morgigen Tag, würde sie frei sein, eine andere würde an ihrer Stelle den Erwählten begleiten. Sie und Chundra konnten nach Indien zurückkehren. Selbst die Frauen im Hause Bala würden nach den Erfahrungen, die sie in diesem Lande hatte machen müssen, ein willkommener Anblick sein! Selbst ihre Mutter. Und Indien! Die Sonne fiel durch die Busfenster und ließ ihren Nasenring aufblitzen. Gauri lächelte. In Indien war das immer so. Indiens Sonne war Gauris stete Begleiterin gewesen, so nah, so vertraut. Sie dachte an das wunderbare Gedicht von Vidyakara, von der Katze, die einen in einer Glasschale gefangenen Sonnenstrahl aufleckt, weil sie glaubt, es sei Milch. 467
Gauri dachte auch an Santha Wrench, dankbar, daß es nicht mehr Eifersucht war, die sie empfand. Sie würde auch den Auserwählten über alle Maßen vermissen. Seine auf Erden inkarnierte Mutter zu sein hatte sie unter allen Frauen eine Gesegnete sein lassen. Gauris Finger strichen leicht über ihre Brüste, die reif und voll von der seltsamen Nahrung, die sich in ihnen bildete, waren. Gauri war mit Sahib Khan zum Leichenschauhaus gegangen, um Ayubs Leiche zu fordern. Sie hatte angegeben, sie seien die einzigen Freunde des Verstorbenen in Amerika und hatten ihre Personalpapiere vorgezeigt. Daraufhin waren keine weiteren Fragen mehr gestellt worden. Auf Herausgabe der anderen Toten, Jadu, Trande Gautam und natürlich die Arcoteer, konnten sie nicht bestehen. Insofern war ihr Erfolg nur unvollständig. Aber der Erwählte hatte schon vorausgesehen, daß man ihnen gestatten würde, Ayubs Leiche mitzunehmen, und daß ihnen selbstverständlich die Polizei folgen würde, um festzustellen, wo sich der Ashram befände. Wie der Erwählte so etwas voraussagen konnte, vermochte sie aus ihrer eigenen Erfahrung her abzuschätzen. Oftmals sah Mutter Kali die Dinge jedoch noch klarer. Aber nur bestimmte Ereignisse. Es gab feindliche Götter, die Kalis Sicht trübten, den Wert ihrer Prophezeiungen begrenzten. Es war nicht recht, daß die Thugs auch mit dem Rätselhaften leben mußten. Gauri seufzte. Wäre sie der Atem Brahmas, sie hätte die Dinge viel, viel besser erschaffen. Im gleichen Augenblick war sie über sich selbst entsetzt. Daß sie solch einen Gedanken überhaupt fassen konnte! Es war wirklich Zeit, daß sie durch eine andere ersetzt wurde, wenn sie schon soweit war, den Willen des Schöpfers in Frage zu stellen. Wie sich Gauri danach sehnte, aus der Verpflichtung entbunden zu werden! Nun ja, der Erwählte tat alles, um ihr die Last zu erleichtern. In letzter Zeit fühlte sie sich nicht mehr so
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ausgelaugt. Das Tierblut hatte den Appetit der Göttin für eine Weile gestillt. Und heute, an diesem Tag, dem Tag des Todeswindes, würde die Göttin so gesättigt werden, wie schon lange, lange nicht mehr. Gauri Bala beobachtete die Polizisten, die in einem nicht gekennzeichneten Polizeiwagen hinter ihnen herfuhren. Und heute morgen fängt es an, dachte sie.
36 »Ich weiß, daß es früh am Tage ist«, sagte Kurt Leinster, »aber da ich gerade in diesem Stadtteil um diese Zeit zu tun hatte, dachte ich mir, ich entführe Sie und George, bevor Sie anderweitige Pläne machen.« »George ist im Augenblick nicht hier«, erwiderte Santha. »Na gut, aber vielleicht können Sie ihn dazu überreden, heute abend mit in Shakespeares Macbeth zu gehen. Ich habe Freikarten bekommen. Dort haben sie das Stück modernisiert, und es wird uns bestimmt viel Spaß machen.« Santha sah unsicher zu Shastri hinüber. »Meinst du, daß die Gefangene heute abend Ausgang kriegt?« »Gefangene?« wiederholte Kurt, bevor Rama Shastri noch eine Antwort geben konnte. »Haben Sie schon gefrühstückt?« »Ja, das habe ich.« »Dann bleiben Sie wenigstens zu einer Tasse Tee.« Sie ergriff Kurt bei der Hand. Shastri, ihren Morgenrock über dem Arm, ging auf sie zu. Sie zitterte nicht mehr, dennoch legte er ihr den Morgenmantel über die Schultern. Sie führte Kurt zur Couch. Shastri beobachtete, daß sie mit 469
forcierter Herzlichkeit sprach. Verdammt, daß dieser Eindringling im verkehrten Augenblick kam. Wer war das überhaupt? Santha benahm sich so, als wäre er jemand sehr Bedeutendes. Shastri fühlte sich an der Nase herumgeführt. Innerlich raste er vor Enttäuschung. Ich war ihr so nahe, dachte er erbittert, vermutlich näher als irgend jemand anderes seit Monaten. Na schön, es war nichts zu ändern. Er mußte eben warten. Dennoch hatte er das Gefühl, daß nicht genug Zeit blieb. Leinster fuhr fort, von Macbeth zu erzählen: »Zur Zeit arbeiten sie mit hochmodernen Effekten, sogar mit Elektronik. Was halten Sie davon?« »Ach, wissen Sie …«, sagte Santha unsicher und hielt die Handfläche vor die Narbe auf ihrer Stirn. »Oh, lassen Sie nur … nichts weiter. Ich fürchte, ich habe mich äußerlich ein wenig verändert, seitdem wir uns das letzte Mal sahen. Das ist auch der Grund, warum ich hier wie eine Gefangene gehalten werde. Haben Sie nicht die Polizei gesehen, die vor dem Hause auf und ab wandert?« »Doch, ich habe mich schon gewundert und mich gefragt, was die dort machen.« »Sie behaupten …« Santha wies auf Shastri. »Onkel Ram, mein Vater und George … sie behaupten, daß eine Inderin mich überfallen habe. Daher auch dieses merkwürdige Zeichen auf meiner Stirn …« Santha beugte sich vor zu Kurt und lachte ein wenig rauh: »Ich vermute, sie war eine Hexe, weil es auf meiner Stirn … so prickelt.« »Man sieht es ja kaum, Santha.« »Das glauben Sie. Es heilte sofort. Ich muß irgendwann in naher Zukunft einen chirurgischen Eingriff vornehmen lassen, glaube ich.« Sie erhob sich. »Und jetzt hole ich erst einmal den Tee.« Schnell und verlegen fügte sie hinzu: »Ich sehe nicht mehr so gut aus wie früher, stimmt’s, Kurt?« »Glauben Sie mir, das ist nicht wahr!« rief Kurt mit solcher
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Leidenschaft aus, daß Santha insgeheim lächeln mußte. Dann ging sie in die Küche. »Ihr müßt euch kennenlernen!« rief sie von dort aus ins Wohnzimmer. »Kurt ist sehr begabt, Onkel Ram, Dichter, Romancier und Archäologe. Habe ich alles richtig aufgezählt, Kurt?« Shastri betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. »Er spielt sogar die Zither. Habe ich recht, Kurt?« »Ja, ja, das tu’ ich.« »Und schreibt Gedichte. Übrigens habe ich gestern abend Ihr Buch zu Ende gelesen.« »Ich bin auf meine Hinrichtung gefaßt.« Santha erschien mit dem Teetablett. »Es war eine Herausforderung, ja sogar eine Irritation. Sie sehen, es kann also nicht schlecht sein, wenn es die Gefühle in Wallung bringt.« Kurt wand sich ein wenig verlegen. »Ja schon, Abneigung zum Beispiel. Ich weiß, ich bin kein guter Lyriker. Es ist schon gut, Santha. Ich bin nicht empfindlich, was das anbelangt.« »Wirklich, ich mochte die Gedichte, Kurt. Ich würde nicht lügen.« Rama Shastri wurde noch aufmerksamer. »Also, ich habe das Buch nur herausgebracht, um mein Selbstbewußtsein etwas aufzumöbeln. Ich machte seinerzeit eine tiefe Depression durch.« Er wandte sich zu Shastri. »Solange ich denken kann, habe ich gegen die Depressionen ankämpfen müssen. Dieses Buch hatte eine vorübergehende Placebowirkung. Ich habe mir damit etwas vorgemacht, daß ich nämlich in der Lage wäre, schließlich und endlich doch etwas zu erreichen.« »Könnte ich das Buch auch einmal lesen? Hätten Sie etwas dagegen?« fragte Shastri. »Seien Sie mein Leser, falls es Santha recht ist.« »Besser Onkel Ram als Daddy, Kurt. Daddy haßt moderne Lyrik.« Sie lachte. »Er ist über die Anfänge heutiger Lyrik nie
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hinausgekommen. Das Buch liegt übrigens im Schlafzimmer, Onkel Ram. Das Zimmer mit der Klimaanlage.« Und sachlich fügte sie hinzu: »Ich habe in der vergangenen Nacht das Fenster eingeworfen.« Kurt Leinster starrte sie verständnislos an. »Ich nehme an, daß ich etwas Aufregendes geträumt habe. Aber das ist jetzt vorbei.« Sie lächelte Shastri freundlich zu, bereit, das Thema zu wechseln. »Onkel Ram ist Indiens bedeutendster Polizeifachmann, Kurt. Er hat eine fabelhafte Karriere hinter sich. Er hat alles zur Strecke gebracht, angefangen bei den Japanern im Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Thugs in letzter Zeit.« »Thugs? Gibt es in Indien noch Thugs, Mr. Shastri?« »Ja.« Shastri entschloß sich, der von Santha eingeschlagenen Gesprächsrichtung zu folgen, obwohl er nicht verstand, was sie dazu bewegen hatte. »Der Thugismus existiert immer noch.« »Ich habe mal was darüber gelesen, aber nur wenig. Eine faszinierende Sache.« »Finden sie?« »Für einen Laien wie mich gewiß. Lauter Räubergeschichten, wie Jack the Ripper, Thugismus, Blaubart, die Schwarze Hand – all das finde ich faszinierend. Vermutlich ist es meine unterschwellige Sensationslust, die sich da angesprochen fühlt.« »Waren sie jemals in Indien, Mr. Leinster?« »Sagen Sie ruhig Kurt zu mir. Nein, ich war nie in Indien, was um so überraschender ist, als ich an alten Kulturen hochinteressiert bin. Aber Santha sagte mir, daß Indien das exotische Flair mittlerweile verloren hat. Keine elefantenreitenden Radschas in goldenen Sätteln mehr. Vermutlich ist sogar der indische Seiltrick mittlerweile passé.« »Kurt, ich wollte Ihnen Ihr Indienbild nicht kaputtmachen. Manchmal rede ich wirklich zuviel.«
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Kurt lächelte: »Ich muß gestehen, daß ich die Tatsache, daß sich die Thugs wieder in Indien erhoben haben, unglaublich interessant finde. Ich möchte eigentlich sofort ein Flugticket nach Indien kaufen.« »Kurt, das ist total verrückt!« schalt Santha. »Können Sie sich nicht etwas Besseres einfallen lassen, um nach Indien zu reisen?« »Wahrscheinlich klang das ein bißchen sonderbar.« »Nein, nicht sonderbar, sondern verdreht, Kurt.« Shastri stand während des folgenden verlegenen Schweigens neben Kurt. Kurt hatte den Kopf zur Seite geneigt, was nur Santha noch die Möglichkeit gab, sein Gesicht zu sehen. Sie wich zurück, ihre Augen reflektierten seine Reaktion auf ihre Worte. Shastri beobachtete gespannt die Szene. Santha hatte ja Angst! »Das war nicht nett von mir«, sagte Santha entschuldigend und streckte Kurt ihre Hand mit einer geradezu abrupten Herzlichkeit entgegen, daß es Shastri erschreckte. »Lassen Sie uns von was anderem reden, Kurt.« Er lächelte. »Aber gerne.« Santha überlegte eine Weile, bevor sie zu sprechen begann: »Onkel Ram, könntest du uns kurz alleine lassen? Ich möchte mit Kurt etwas unter vier Augen besprechen.« Ihre Stimme klang rauh. »Gut, Santha. Ich gehe nach oben und lese Kurts Gedichte.« Bevor er die Treppe hinaufstieg, warf Shastri einen Blick zurück. Sie beobachtete ihn. Ihre Lippen bewegten sich. Er hätte gerne gewußt, was sie sagte. Verdammt, dieser Kurt Leinster beeindruckte sie so stark, daß sie seine Verärgerung, seine Ablehnung fürchtete. Santha sagte gerade: »Warten Sie, bis er nach oben gegangen ist. Dann will ich Ihnen alles erklären, Kurt … dann können wir frei sprechen.« Wieder berührte sie seine Hand. »Ich möch-
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te nicht unhöflich zu Onkel Ram sein. Ich bin augenblicklich das Opfer allgemein übersteigerter Aufregung. Ich muß hier raus.« »Was ist denn los?« »Sie wollen mich zwingen, hier im Hause zu bleiben, und zwar unter Polizeiaufsicht. George, mein Vater und Onkel Ram. Es geht um diesen Thugismus, den Onkel Ram erwähnt hat. Er behauptet, daß der Thugismus … also schön, daß er nach Amerika übergesprungen ist. Stellen Sie sich das mal vor!« Kurts Gesicht blieb unbeweglich. »Haben Sie die Sprache verloren?« »Sie wollen mir wegen vorhin eine Lehre erteilen, oder?« »Ich habe Ihnen gesagt, daß es mir leid tut. Aber hören Sie, falls das stimmt, falls es hier irgendwo tatsächlich Thugs gibt, dann habe ich einen Zugang dazu. Vielleicht.« »Wirklich?« »Ja. Und ich bitte Sie, Kurt, mir zu helfen. Bitte! Ich muß hier raus!« Kurt schaute zur Zimmerdecke. Santha machte eine ungeduldige Bewegung, zog ein Knie unter sich und fingerte nervös am Saum ihres Morgenrocks. »Sie wollen also«, begann er, »daß ich Ihnen zur Flucht verhelfe?« Santha kicherte: »Ja, genau. Fortlaufen von meinem Daddy, Onkel Ram und natürlich auch von George.« »Natürlich«, wiederholte er, wandte sich ihr abrupt zu und wirkte dabei so kalt, daß Santha erschrak. »Es ist ja nur für kurze Zeit, Kurt«, sagte sie unsicher, »ich verspreche es. Ich möchte bloß ein paar Stunden lang meine Freiheit haben. Mehr nicht. Außerdem bin ich sogar in gewisser Weise hilfreich für sie, wenn sie nämlich gezwungen sind, meiner Spur zu folgen.«
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»Sagen Sie mir zuerst, welcher Spur.« »Werden Sie es auch niemandem sagen?« Kurt seufzte: »Nein, Santha, das werde ich nicht.« »Erinnern Sie sich an neulich abend, als wir zu dritt zum Abendessen gingen? Als sie dort in dem Restaurant das Lied spielten?« »Ja. Der Kali-Gesang.« »Kunkali, um genau zu sein. Nun, einer der Restaurantangestellten gehört einer Kultgemeinde an, einer Kommune, einem Ashram – ich weiß nicht mehr genau, was – mit Namen Kali Alkali. Er sagte mir, daß er ein Mitglied wäre.« »Und Sie stellen sich vor, daß diese Kali-Alkali-Gemeinde mit den Thugs verknüpft ist?« »Sie sangen den Lobgesang auf Kunkali, die schlimmste aller Göttinnen, Kurt!« »Okay. Aber warum sagen Sie das nicht Mr. Shastri oder Ihrem Vater oder der Polizei?« »Verdammt noch mal, nein, Kurt. Gehen Sie doch nicht so schrecklich auf Sicherheit. Ich möchte es auf eigene Faust herausfinden.« Wieder diese Kälte: »Sie haben mich noch nie leiden können. Also, kommen Sie, leugnen Sie es nicht! Ich bin ja nicht dumm, und Sie haben mich das sehr deutlich spüren lassen. Warum benutzen Sie mich also jetzt?« Santhas Morgenrock spannte sich über ihrer Brust. Seine Augen waren hart, seine Stimme noch härter. Sie errötete tief und rang nach Atem. Ihr Mund war trocken. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Wieder veränderte sie ihre Haltung auf der Couch und ließ die Knie weit auseinanderfallen. Kurt senkte den Blick. Sie wußte, er konnte jetzt zwischen ihre Knie, ihre Schenkel sehen. Er starrte wie festgebannt und war erhitzt. Seine Augen waren jetzt von einem noch intensiveren Blau, und als er ihrem Blick begegnete, lag auch keine Ru-
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he mehr darin. Mein Gott, dachte sie, was tue ich? So etwas habe ich noch nie zuvor getan. Mein Gott! »Ich will Sie doch nicht benutzen, Kurt«, brach es aus ihr heraus, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Das ist es wirklich nicht! Sie müssen es mir glauben!« »Das würde ich ja gerne«, flüsterte er und senkte den Blick. Santha war unfähig weiterzusprechen. Ihr Mund, ihre Zunge schienen mit heißem Staub bedeckt zu sein. Aber ihr Verstand war wach. In Gedanken sprach und sprach sie, rasend wie heißer Monsun. Mein Gott. Dieses Verhängnis, diese Augenblicke, in denen ich nur noch Körper bin, wo die Vernunft nicht mehr existiert …! Santha Wrench spreizte ihre Knie noch weiter. Ihre Augen sprachen, während er den Blick nicht von ihr abwenden konnte: Sieh doch, wie sehr ich dich jetzt verstehe, wie ich verstehe, daß du mich brauchst, wie ich deinen großen Hunger, der so unersättlich ist wie der Hunger eines Kindes, begreife. Und sieh doch, wie ich dich mit meiner Feuchtigkeit willkommen heißen will, Lieber. Mein dunkles Schamhaar, ein Wald, der dich aufnimmt, feucht von meinen Rosenblätterlippen … Ihr war, als fiele sie in eine Schlucht. Sie zog die Beine von der Couch, stellte die Füße auf den Boden und starrte an die gegenüberliegende Wand, entsetzt über sich selbst. Kurt Leinster sagte unvermittelt: »Ich werde Ihnen helfen, Santha. Verlassen Sie sich auf mich. Wir werden es folgendermaßen machen: Wir bleiben telefonisch miteinander in Verbindung, und wenn Sie das Gefühl haben, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, rufen Sie mich an. Ich verspreche Ihnen, ich komme sofort und nehme Sie mit.« Santha seufzte. Die Zimmerwände warfen seine sanften Worte zurück: »… nehme Sie mit … mit.«
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37 »Wir hätten ein anderes Verfolgungsfahrzeug nehmen sollen, Chef«, sagte Carmichael, »ich wette, die haben uns schon längst erkannt.« Adair grunzte: »Na, wenn schon. Laß sie doch. Wir kleben an ihnen wie eine Briefmarke. Früher oder später werden sie den Knaben doch an Ort und Stelle schaffen.« »Sie meinen zum Beerdigungsinstitut?« erkundigte sich Jacobs. »Nein, die verbrennen ihre Toten.« »Aber die hier sind Moslems, Chef, keine Hindus.« Das hatte Adair nicht bedacht. »Was, zum Teufel, tun denn die Moslems mit einem toten Moslem?« Keiner wußte es. »Ich hab’ eine Idee«, sagte Francosi, der Fahrer, »fragen wir doch mal über Funk nach. Das Präsidium wird es schon rausfinden.« »Den Teufel tun wir«, grollte Adair. »Das hier ist unser Bier. So ist es auch abgemacht. Wir kümmern uns allein um diese Angelegenheit, dann gehört uns auch die Anerkennung allein. Ihr Burschen wollt euch doch beweisen, oder etwa nicht?« »Da bin ich mir nicht so sicher.« Carmichael zündete sich eine Salem an »Sosehr ich auch davon überzeugt bin, daß die Geheimdienstleute Heinis sind, so wenig möchte ich ihnen in die Quere kommen. Diese Indiensache ist ihr Bier, da wünsch’ ich denen viel Glück. Wenn man die Gerüchte hört, es ist doch Scheiße, was gestern nacht da in Arlington losgewesen sein muß. Kerle, die vom Dach runtergeschmissen wurden, und was sonst noch für Scheußlichkeiten passiert sein sollen!« 477
Adair drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten um und blickte Carmichael nicht eben freundlich an. »Und warum sind Sie dann freiwillig mitgekommen? Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt nur mitkommen, wenn ihr es wirklich wollt. Ich habe mit den Leuten vom Leichenschauhaus vereinbart, daß sie mich sofort anrufen sollen, wenn jemand käme, der die ThugLeiche haben will. Ich wollte dem Dummkopf Terranova in seinem eigenen Scheißspiel eins auswischen, und ich dachte, ihr macht gerne mit. Und jetzt biedert sich Terranova bei den Geheimdienstlern, beim Präsidium und bei dem Hindu mit dem hohen Polizeirang an und riskiert eine große Lippe. Und wir stehen dumm daneben.« Carmichael zuckte die Schultern. »Was soll das heißen? Dies ist eine ausschließlich freiwillige Beteiligung, Carl. Wenn Sie aussteigen wollen, können Sie das gleich tun.« Francosi fuhr langsamer. »Fahr weiter, Nick«, sagte Carmichael. Eine Weile herrschte Schweigen. »Das darf ja nicht wahr sein«, rief Jacobs plötzlich aus. »Wollen die die Leiche etwa in den Hafen kippen? Wir kommen gleich in den Hafenbereich.« Der VW-Bus bog zwischen zwei Lagerhäusern in eine schmale Gasse hinein. »Die Ecke kenne ich«, sagte Francosi. »Es ist eine Sackgasse. Unten ist der Bostoner Hafen.« »Vielleicht schmeißen die Moslems ihre Toten ins Wasser«, überlegte Jacobs. Sie näherten sich der Ecke, hinter der soeben der VW-Bus verschwunden war. »Vielleicht sollten wir um Verstärkung funken.« »Machen wir das nun alleine oder nicht?« »Also der Ruf um Verstärkung ist ja wohl nichts Außerge-
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wöhnliches.« »Das ist nicht üblich, Nick. Selbst der Verdacht, den wir haben müssen, ist nicht üblich. Diese Inder sind harte Brocken. Die haben unter Garantie eine Verbindung zum fernöstlichen Drogenhandel. Das ganze Land wollen sie mit ihrem Stoff verseuchen, das habe ich euch schon oft genug und alle Tage immer wieder klargemacht, Himmeldonnerwetter, warum muß ich denn alles drei- und viermal sagen?« Dann gab Adair Befehl, dem VW-Bus hinterher- und um die Ecke zu fahren. Der Bus stand direkt vor ihnen, in der Sonne funkelnd, mit der Rückseite direkt an der Kaimauer geparkt. Im Schatten des Lagerhauses, etwas weiter entfernt, parkte eine elegante, lange Limousine. Wieder setzte Francosi die Geschwindigkeit herab. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte er und schaute nervös auf das Funkgerät. »Laß die Finger davon!« befahl Adair. »Was die Dienststelle anbelangt, sind wir überhaupt nicht unterwegs heute. Und jetzt halte hier.« Er stieg aus. Carmichael und Jacobs stiegen gleichfalls aus. Francosi stieg als letzter aus und wollte gerade losgehen, als Adair die Anweisung gab: »Bleib hier, Nick. Wenn du siehst, daß wir Schwierigkeiten kriegen – und nur dann –, funkst du um Verstärkung, klar?« Francosi nickte. Sie machten sich auf den Weg. »Das bringt uns nicht zu ihrem Versteck«, sagte Carmichael ruhig. Adair zog die Augenbrauen zusammen, bis sie einander fast berührten. Aber, mußte er zugeben, der Kollege hatte recht. Dennoch hatte er das Gefühl, daß es besser sei, hier nachzusehen, was vor sich ging. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu: »Geh und sieh nach!« Die hintere Tür des Volkswagens stand offen. Eine Frau und zwei Männer stiegen aus. »Da ist auch noch der Fahrer«, sagte
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Adair. »Vielleicht bringen sie die Leiche in die Limousine rüber«, vermutete Saul Jacobs. Aber die Türen der Limousine waren geschlossen. Sie gingen an dem eleganten Wagen vorbei. Adair zog seinen Revolver und trat näher, um durch die Scheiben zu schauen. Dann ging er zu seinen Leuten zurück: »Nichts«, sagte er, »leer.« »Schauen Sie mal, Chef, der Nasenring«, flüsterte Jacobs. »Stimmt was nicht, meine Herren?« fragte Gauri und betrachtete ihre gezogenen Waffen. Adair trat einen großen Schritt vorwärts. Sein Blick wanderte von der Frau zu dem großen, schmalgesichtigen, dunkelhäutigen Mann an ihrer Seite. Seine Hand schloß sich fester um den Revolver. Hinter den beiden stand noch ein dritter Inder. Alleingelassen saß Francosi wieder im Streifenwagen und versuchte zu erkennen, was dort neben dem Bus vor sich ging. Aber das Sonnenlicht blendete. Er konnte nur wahrnehmen, daß im Gesicht der Frau etwas blinkte und blitzte. Was, zum Kuckuck, mochte das sein? Francosi stieg aus, tat ein paar Schritte in Richtung der Gruppe, besann sich jedoch und ging wieder zurück. Blitzschnell versuchte er, seine nähere Umgebung zu erforschen. Auch wenn er die Wagentür schloß und sich hinter das Steuer setzte, hatte er das Gefühl, daß etwas oder jemand ihn beobachtete. Wo und wer und was das war, blieb verborgen. Das Lagerhaus rechts von ihm hatte eine Tür mit zwei Steinstufen. Sollte er mal nachsehen, ob sie unverschlossen war? Vielleicht steckte einer von diesen Thugs dahinter. Polizeileutnant Nick Francosi fuhr erschrocken zurück, als sich die Tür plötzlich bewegte, wie etwas Lebendiges, das auf seine Überlegung hin reagierte. Er seufzte erleichtert, als zwei junge Frauen heraustraten. Die eine trug eine Lederjacke, die andere einen dreiviertellangen Webpelzmantel. Ihre Jeans um-
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schlossen eng die langen Beine der Mädchen. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Pflaster. »Okay, Mädels. Geht hier besser weg. Wir führen hier polizeiliche Ermittlungen durch.« Das Mädchen in der Lederjacke nickte nur und zupfte an dem Schal, den sie sich um die Taille gebunden hatte. Francosi richtete seine Aufmerksamkeit wieder voll auf den Volkswagenbus vor ihm. Adair sprach jetzt mit der Frau und den beiden Männern. Er hielt ihnen seine Polizeimarke unter die Nase. Francosi konnte jetzt die Worte hören, die der Wind herübertrug: »… Wir wollen bloß wissen, was Sie hier tun. Vor kurzem gab es hier eine Reihe von Lagerhauseinbrüchen.« Francosi konnte sich vorstellen, was Adair wirklich dachte, daß hier nämlich ein Rauschgifttreffpunkt war. Vermutlich war der Stoff in der Limousine versteckt und sollte jetzt von dem VW-Bus übernommen werden. Vielleicht wollten sie ihn neben der Leiche verstecken. Der Fahrer des Busses war ausgestiegen und trat jetzt zu den anderen. Ein riesengroßer Kerl, dachte Francosi, und wünschte, er wäre auch da. Carmichael beschäftigte sich jetzt mit dem rückwärtigen Teil des Busses. Francosi überlegte, warum sie den Bus wohl so nahe an der Kaimauer geparkt hatten. Eigentlich sollte man annehmen, daß sie dicht neben der Limousine stehengeblieben wären, um den Warenaustausch schnell bewerkstelligen zu können. Er verspannte sich, sprang aus dem Wagen und ging ein paar Schritte auf die Gruppe zu. Da waren doch ein paar Köpfe genau über der Kaimauer aufgetaucht! Ihm blieb die Luft weg. Da hingen Männer an Stricken über dem Wasser, so daß man sie nicht hatte sehen können. Jetzt zogen sie sich hoch und sprangen auf das Pflaster. Adair und die übrigen waren damit beschäftigt, den Bus zu durchsuchen. Sie sahen nicht, was sich
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hinter ihrem Rücken abspielte, sahen nicht die neu hinzugekommenen Thugs. Gerade wollte Francosi einen Warnruf ausstoßen, da hörte er ein Klappern, wirbelte herum, doch eine kräftige, schwere Hand legte sich auf seinen Mund. Sein Blick blieb an etwas haften, was er für einen Schal gehalten hätte, der ihm jetzt allmählich die Kehle zuschnürte. Die erste Ahnung, daß er in eine Falle geraten war, streifte Adair, als seine Knie unter ihm nachgaben. Makunda, der die paar Meter von der Kaimauer bis zum Bus leise hinter sich gebracht hatte, trat ihm von hinten mit der Kraft und Routine eines Fußballers in die Kniekehlen, während Carmichael von Bidhan an den Schultern ergriffen und in das Innere des Busses gestoßen wurde. Dann stieg der Riese, immer noch humpelnd, weil die Verwundung an seinem Bein noch nicht verheilt war, hinterher. In ein paar Sekunden brach Adairs Welt zusammen. Er sah Jacob in der Schlinge, die Sahib Khan geworfen hatte, erliegen. Ramanuja hielt das Opfer an den Armen fest, so daß es sich nicht mehr rühren konnte. Gleichzeitig drang Kampfgeschrei aus dem Bus, in welchem Carmichael verzweifelt zu entkommen versuchte. Immer wieder hämmerten seine Fersen auf den Metallboden des Busses, bis das Geräusch plötzlich aufhörte. Adair zweifelte nun nicht mehr daran, daß auch Francos! den Thugs zum Opfer gefallen war. Das Timing, die Präzision des Überfalls, ließ ihn erstarren. Kaum daß er noch ein »Heilige Maria, Mutter Gottes« murmeln konnte. Später würde er dieses Stoßgebet als ein Teil des Wunders ansehen, das ihn rettete. Einer der jungen Schüler agierte als Helfer, dem die Aufgabe zufiel, die Arme des Opfers festzuhalten. Noch schweißnaß von der Anstrengung, sich mit Händen an der Kaimauer hängend verborgen zu halten, taumelte er bei dem hastigen Versuch, Adair von hinten an den Schultern zu packen. Adair feu-
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erte, ohne viel nachzudenken, nach hinten und hatte Glück. Die Kugeln drangen in den Brustkorb des Schülers. Adair rollte sich rückwärts zur Kaimauer, nachdem ein anderer ThugSchüler sein Handgelenk mit einem Karateschlag außer Gefecht gesetzt hatte. Adair brach auf dem Pflaster zusammen. Auf den Knien liegend, sah er, wie der Tod immer näher auf ihn zukam. Er erhob sich mühsam, wich einem Schlag aus und spürte ungewiß, wie er selbst einem anderen gegen das Schienbein trat. Das Grauen verstärkte seine Muskelkraft. Es gelang ihm, aus der Reichweite der vielen Hände zu kommen, die nach ihm griffen. Ohne lange zu überlegen, nahm Adair die einzige Chance wahr, die ihm noch blieb. Als er sich von der Kaimauer abstieß, um in das dreckige Wasser des Hafenbekkens zu springen, ging ihm die letzte Zeile des Gebetes durch den Kopf … »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns … jetzt und in der Stunde unseres Todes …« Dann schlug das trübe Wasser über ihm zusammen.
38 Rama Shastri sah sich noch einmal gründlich die Illustrationen an. Die düsteren Wasserspeier; Cherubinen; Engel; die Katzen mit den Buckeln und dem gesträubten Fell; Eidechsen mit gespaltenen Zungen; die Tierkörper mit den gewaltigen Frauen- oder Männerköpfen, die riesige, nackte Frau mit dem Ausdruck von Qual und übermenschlicher Anstrengung, die, ein Elfenkind auf der Schulter, das sich an ihren Haaren festhält, auf dem Erdball reitet … Alles war düster und unheimlich. Oftmals hatte die eine oder andere Zeichnung mit dem Inhalt des Gedichtes auf der gegenüberliegenden Seite gar nichts zu 483
tun. Die Figuren gaben dann andere, zufällige Phantasien des Urhebers wieder. Der Strich dieser Zeichnungen war fließend, eilig, oftmals mit breitem Stift geführt. Unstet. Der Urheber war Kurt Leinster selbst. Die Zeichnungen spiegelten etwas von ihm wider. Jedenfalls war er ein Künstler, ein vielversprechendes Talent. Die Gedichte hingegen waren widerwärtig. Kurt Leinster mußte wahrhaftig in einer tiefen Depression gesteckt haben, als er glaubte, sie wären die Veröffentlichung wert. Rama Shastri schloß das Buch zum fünften Male. Halt dich da raus, warnte ihn seine innere Stimme. Er war, was Santha anbetraf, viel zu besitzergreifend, genau wie Steve. Er sollte seine Onkelrolle nicht so ernst nehmen. Warum konnte ein Künstler nicht jede Art von Dämon in sich haben? Shastri, der Polizeifachmann, auf einmal Analytiker von Kurt Leinsters kreativen Strömungen? Völlig sinnlos. Hör auf! Er hörte, wie sich unten die Tür schloß. Dann sah er Santha mit gesenktem Kopf die Treppe heraufkommen. Laß sie in Ruhe, Rama! Als Stephen Wrench und George zurückkamen, berichtete er ihnen von Kurt Leinsters Besuch. »Er kam sehr ungelegen«, erklärte er den beiden, »Santha war gerade im Begriff zu erkennen, daß sie alle diese Monate unter dem Druck von etwas nicht Sichtbarem stand. Und da läutete es an der Tür. Dein Freund, George, hat für heute abend Karten für Macbeth besorgt. Für dich und Santha. Ich würde an eurer Stelle nicht hingehen.« »Warum nicht? Vielleicht tut es ihr gut. Sie kann ja nicht ewig unter Bewachung im Hause bleiben. Keine Sorge, wenn wir alle hingehen, ist ihre Sicherheit um so besser gewährleistet.« Shastri gab ihm das Buch. »Hast du da mal reingeschaut?«
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»Nein. Kurt hat es neulich abends Santha gegeben, und sie wollte es zuerst lesen.« »Die Gedichte sind fürchterlich. Ganz abgesehen von ihrem barbarischen Inhalt, mythologischen Dämonen und ähnlichem Unsinn. Du kannst sie vergessen, furchtbar, fast unlesbar.« »So?« »Aber die Illustrationen sind hochkünstlerisch. Erinnern mich an den frühen Goya. Sieh selbst.« George blätterte und pfiff durch die Zähne: »Toll, Goya oder Heinrich Kley! Ich wußte nicht, daß Kurt so begabt ist. Sie sind alle gut.« »Ja, und ähnlich wie bei deinen eigenen Arbeiten oben im Atelier enthüllen sie, je besser sie sind, um so deutlicher die Wahrheit. Schau dir diese Phantasiegestalten mal genau an, und dann sage mir, was du von Kurt hältst.« »Er amüsiert sich über das, was er zeichnet«, meinte George. »Milde ausgedrückt, tut mir leid, daß ich so schroff urteile, George, aber da steckt mehr dahinter als nur Kurts Amüsement. Zeig’s mal Steve.« Wrench faßte bereits nach kurzer Zeit sein Urteil zusammen: »Das entspricht irgendwelchen Störungen. Er wütet über alles und über jeden. Diese Kreaturen glotzen so hämisch, als wollten sie dem Rest der Menschheit an den Kragen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.« »Genau.« »Na schön, so mögen sie aussehen«, protestierte George, »es sind ja auch Dämonen und Kobolde. Selbst die Cherubinen und Engel haben etwas Teuflisches an sich. Aber das ist doch auch das Thema des Buches, oder nicht? Das sind Phantasien, dunkle Phantasien. So hat Kurt das auch entsprechend illustriert. Na und?« »Na gut, aber findest du nicht, daß zwischen dem, was wir, deiner anschaulichen Darstellung entsprechend, hierin sehen
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und in deinen Santhaporträts oben in deinem Arbeitszimmer eine gewisse Übereinstimmung besteht? Dieselbe lauernde Bedrohung, das Gefühl, dem totalen Atavismus zu begegnen? Diese neue Thug-Bewegung hat auch nichtindische Mitglieder.« George platzte lachend heraus: »Kurt Leinster! Ein Thug?« »Was er sagte, ließ auf eine gewisse Kenntnis des Thugismus schließen«, beharrte Shastri, wobei es ihm kaum gelang, seine Verwirrung zu überspielen. »Er sagte tatsächlich, daß das Wiederaufleben dieser Sekte ihn außerordentlich interessiere. Er schien regelrecht von der Idee entzückt zu sein.« »Schön und gut, Ram«, unterbrach ihn Steve. »Anfangs waren wir deswegen auch nicht unbedingt deprimiert. Wir haben reagiert, als seien wir zwei Pfadfinder mit blühender Phantasie. Vielleicht ist das bei Kurt ähnlich.« »Das glaube ich nämlich auch«, schaltete George sich ein, »Kurt mag Thugs aufregend finden, aber ich garantiere, daß, wenn er einem begegnen würde, er im gleichen Moment auch schon über alle Berge Reißaus nähme!« »Angenommen, du hättest recht, George. Findest du, daß Santha der Umgang mit Kurt bekommt? Sie ist im Augenblick völlig verstört.« »Ich bleibe dabei, daß es ihr verdammt guttäte, wenn wir sie ins Theater mitnähmen. Es hätte gewiß eine therapeutische Wirkung, wenn sie sieht und fühlt, daß sie etwas unternimmt, was sie normalerweise auch unternähme.« »Und du, Steve?« »Bist du deines Freundes wirklich sicher?« fragte Wrench George. »So sicher, wie du dich auf Mr. Shastri verläßt. Kurt ist gelegentlich gewiß konfus, und als er diese Illustrationen zeichnete, mag er seelisch vielleicht gerade nicht ausbalanciert gewesen sein, aber wenn’s weiter nichts ist, habe ich wirklich
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keine Einwände gegen ihn. Hier handelt es sich ja nicht um einen Quartalssäufer oder Drogenabhängigen, Steve. Kurt Leinster hat es immerhin fertiggebracht, eine miserable Kindheit gut durchzustehen und sehr viel Einsamkeit zu verkraften. Er ist ganz in Ordnung. Ein bißchen exzentrisch vielleicht, aber sonst durchaus in Ordnung.« »Dann hat ein Theaterabend mit ihm zusammen auch meine Zustimmung.« Wrench legte Shastri freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »He, du, nimm’s nicht so ernst. Du bist und bleibst eben doch der alte Polizeibeamte, der du immer warst. Und der muß fast jedem mißtrauen.« Rama Shastri zog sich in seine Gedanken zurück. Aber erst, als sie im Hotel mit Horace Birch zu Abend aßen, vergaß er seine Bedenken. Horace Birch war eben ein Mann, der die volle Aufmerksamkeit erforderte. Groß, schmal und hager wie Lincoln. Der Blick seiner schmalen, grauen Augen, mit denen er Wrench und Shastri betrachtete, war zielbewußt. Alle drei aßen Hühnchen, und einen Augenblick lang erfaßte Shastri die Melancholie. Er erinnerte sich, daß er am Tage seiner Flucht, als Gast von Addy, das letzte Mal Hühnchen gegessen hatte. Noch hatte er Ileanas perlendes Lachen im Ohr. Gedanklich wandte er sich Ileana im Garten zu und fühlte sich gleich etwas besser. Wie lange war es her, daß er eine Frau in den Armen gehalten hatte? Mein Gott, er vermißte es so! Birch blickte auf seine Armbanduhr: »Und jetzt zu dieser Arlington-Geschichte. Mittlerweile ist es mir gelungen, die Polizeibehörden und die Lokalpolitiker einigermaßen zu besänftigen.« Er zog eine Zigarre aus einem Lederetui und beschnitt das eine Ende. »Aber es ist etwas zur Presse durchgesickert. Nicht so, daß es uns beunruhigen müßte, aber immerhin. Bis jetzt glauben sie noch, die Thugs gehörten zum Goldenen Dreieck.« »Ja, die Presse und ein gewisser Polizeioffizier sind dieser
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Auffassung«, bestätigte Wrench und dachte an Adair. »Wer ist das?« Wrench berichtete. »Leute wie er, die alles durcheinanderbringen und glauben, sie wären die einzigen, die die Lage beurteilen können, müssen wir fürchten. Die, welche gerne die Lokalhelden wären. Die werden mit dem, was ihr vorhabt, sowieso nicht übereinstimmen. Deshalb habe ich vor, so lange wie ihr mich braucht, hier in der Nähe zu bleiben. So ein bißchen Druck von oben – Regierungsebene, Sie verstehen?« Er zündete seine Zigarre an und blies den Rauch aus, unentwegt lächelnd. »Sind Sie also nicht allzu überrascht, wenn die anderen Geheimdienstleute versuchen, sich da einzumischen. Ich meine CIA und FBI. Wir werden noch eine Menge zu tun kriegen. Wahrhaftig eine Menge, den ganzen halbamtlichen Mist mit eingerechnet. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie – zum Teil wenigstens – mitmachen zu lassen. Hier ein bißchen und da ein bißchen. Aber ich möchte, daß Sie wissen – ich bin da, um Ihnen den Rücken zu stärken.« Shastri schob seinen Teller zur Seite und beugte sich zu Birch hinüber: »Thugs lieben jede Art von Geheimniskrämerei, Mr. Birch. Ihre Grundeinstellung als Täuscher – die sie auch bleiben wollen – erfordert das. Im Augenblick, in dem ihre Existenz in allen Blättern steht und in aller Munde ist, werden sie sofort weiterziehen. Und das wäre wahrhaftig eine Katastrophe. Dann wieder ihre Spur aufzunehmen wäre überaus schwierig. Wir verdanken einem ungewöhnlichen Mord – dem Würgemord an einem gewissen Abel Fairley – den Hinweis, daß die Thugs sich hier in Boston aufhalten. In gewisser Weise war es ein glücklicher Zufall, so grausam das auch in diesem Zusammenhang klingen mag. Aber wenn sie ihr Zeug zusammenpakken und in eine andere Stadt, ein anderes Land oder gar auf
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einen anderen Kontinent ziehen –« »Was Rama sagen will, Horace, ist, daß diese Schweinehunde so schwer zu fassen sind wie die Jungfräulichkeit einer Hure. Wir wissen nur, daß einige von ihnen Inder sind, was genügen müßte, um sie aus der übrigen Bevölkerung herauspicken zu können. Dennoch haben wir sie bis jetzt noch nicht finden können. Denn da ist noch ihr Anführer, der sich noch niemals gezeigt hat, und die geheiligten Schriftrollen, die überhaupt der Grund für das Neuauftauchen der Thugs sind.« »Geheiligte Schriftrollen? Davon hast du mir noch nichts erzählt.« »Keine Sorge. Ich hole es nach«, erwiderte Wrench und überlegte gleichzeitig, warum, in des Kuckucks Namen, er das tat. Rama Shastri zündete sich eine Sher Bidi an. »Seit kurzem bin ich der Überzeugung, daß die Thug-Abwanderung schon geplant ist. Sie haben sich bereits zu sehr exponiert, um hier noch in Ruhe bleiben zu können. Außerdem muß ihre Moral auf dem Nullpunkt angelangt sein. Schließlich haben sie dauernd den kürzeren gezogen. Sowohl seinerzeit in Indien, in dem Tempel von Sati, wie auch hier. Sie müssen was unternehmen, was sie und ihr Selbstwertgefühl stärkt, und zwar schnell. Was sie vor allen Dingen durchführen müssen, ist die Errichtung eines Bele.« »Was ist denn das?« »Ein Begräbnisplatz für die verehrten Thug-Opfer. Verehrt deshalb, verstehen Sie, weil sie ja auf der Stelle ins Paradies kommen. Eine Bele ist ein sehr geheiligter Platz. Die Opfer werden oftmals in seine Nähe gelockt, damit die Ausdehnung des Platzes durch das neue Begräbnis gesichert ist. Es gab zahllose Beles in den Tagen Sleemans, im Norden und im Süden. Er entdeckte einmal einen Platz, auf dem über hundert Opfer begraben waren. Ja, und ich glaube, sie werden bald versuchen,
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in der Nähe von Boston so einen Begräbnisplatz einzurichten.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie auch versuchen, eine ganze Menschenmenge anzulocken, um sie möglichst alle auf einmal umzubringen?« »Das ist eine Spezialität der Thugs, Mr. Birch. Oft schließen Thugs mit den Mitgliedern einer Karawane Freundschaft, um sich ihnen anschließen zu können. Dann, zum geeigneten Zeitpunkt, gewöhnlich, wenn die Leute singend am Lagerfeuer sitzen, tun die Thugs, wie sie es nennen, ihre Pflicht. Diese neue Thug-Generation nimmt es mit der rituellen Kunst des Genickbrechens anscheinend nicht so genau. Die Erfahrungen, die wir diesbezüglich selbst gemacht haben, deuten darauf hin, daß sie schon zufrieden sind, wenn sie jemandem einfach den Hals zuschnüren können. Manchmal versucht ein Thug, sein Opfer, ohne die Unterstützung eines Handlangers, zur Strecke zu bringen. Das beweist, daß sie von dem Wunsch getrieben sind, um jeden Preis zu töten, einerlei, wie. Sie sind fanatischer geworden. Immer noch benutzen sie den gelben Seidenschal zu diesem Zweck, aber ich sehe nicht mehr ein, wieso eigentlich. Mit der Zeit können sie, um schneller zum Erfolg zu kommen, auch dazu übergehen, Kordeln oder, wie die Mooltaneer-Thugs, Stricke zu benutzen.« »Und Sie glauben vorauszusehen, daß sie bald eine größere Gruppe von Opfern suchen und – falls sie damit Glück haben – diese in aller Heimlichkeit verscharren werden?« »Genau.« »Das bedeutet, daß plötzlich vierzig oder fünfzig amerikanische Bürger spurlos vom Erdboden verschwinden.« »Das passierte in Indien über einen Zeitraum von mehr als fünfhundert Jahren hinweg immer wieder, Mr. Birch. Von ihrer Weltanschauung her haben die Thugs gar keine andere Wahl. Sie müssen eine große Begräbnisstätte haben. Sie müssen sie mit vielen Leichen füllen. Und sie müssen es sehr bald in die
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Tat umsetzen. Doch das Schlimmste ist, daß wir keinen Hinweis haben, wo und wie es gemacht wird, und welche Menschen als Gruppenopfer ausersehen sind. In kurzer Zeit wird eine Tragödie stattfinden, deren Ausmaß wir noch gar nicht abschätzen können. Jedenfalls wird sie außergewöhnlich –« Rama Shastri blieb mitten im Satz stecken und schaute wie gebannt zur Tür. »Da kommt Dan Terranova«, gab er bekannt. Terranova, der ihn und Wrench auch sogleich entdeckt hatte, kam an den Tisch und fragte, ob er auf dem noch freien Stuhl Platz nehmen könne. »George Buchan hat mir gesagt, wo Sie sind«, sagte er, errötete und rieb sich verlegen die Stirn. »Charlie Adair hat alles verpatzt, was möglich war«, keuchte er. »Es sieht so aus, daß die Herausgabe der Leiche aus dem Keller von Mai Yogini von irgend jemand beantragt wurde. Adair fand das Leichenschauhaus heraus und suchte sich drei Leute aus, nur um Ruhm zu ernten. Sie fuhren hinterher. Die Thugs lockten sie in eine Sackgasse am Hafen und töteten die drei jungen Polizeibeamten. Adair konnte sich dadurch retten, daß er ins Hafenbecken sprang. Na, der war mit den Nerven fix und fertig, das kann ich Ihnen versichern! Er macht das ganze Präsidium, vom Polizeipräsidenten bis zum Verkehrspolizisten, verrückt.« Wrench biß auf seinem Pfeifenstiel herum. »Und mittlerweile wird der Feind immer unverschämter«, grollte er. »Mehr als das«, fügte Shastri hinzu, immer noch mit seinen schlimmen Vorahnungen beschäftigt.
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39 Als sich Wrench und Shastri von Birch verabschiedet hatten und zu George Buchans Wohnung zurückkehrten, fanden sie Kurt Leinster vor. Die Macbeth-Vorstellung sollte um halb neun beginnen. Shastri winkte Terranova, der sie hergefahren hatte und nun nach Hause wollte, zu. Doch auch dann blieb Shastri noch am Fenster stehen, starrte in den Hof hinunter und beobachtete in Abständen immer wieder Kurt Leinster in der Spiegelung der Fensterscheibe. Die drei jungen Leute, George, Santha und Kurt, schienen im Lichtkreis der Stehlampe eingeschlossen, die neben der Couch stand. Stephen Wrench hatte sich irgendwo anders in einen Lehnstuhl sinken lassen. Dort saß er, und nur der Rauch seiner Pfeife, den er hie und da ausblies, drang in dünnen blauen Schwaden dahin, wo das Trio saß. Bleib ruhig, Steve! Dieser Abend gehört den jungen Leuten, dachte Rama Shastri. Aber er empfand Mitleid mit dem Freund, gerade so, als wäre dieser ein Verbannter. Santha ließ dieses Gefühl tatsächlich aufkommen, indem sie ihre volle Aufmerksamkeit Buchan und Leinster schenkte. Kein gutes Spiel, dachte Shastri und glaubte, es nicht mehr aushaken zu können. Er befand sich in einer Stimmung, die nicht auf munteres Geplauder eingestellt war. Dann sah er wieder Kurt Leinsters häßliche kleine Engel und Dämonen. Sie schienen überall im Raum verteilt, irgendwo im Dunkel zusammengedrängt, mit höhnischen Gesichtern. Rama Shastri zog an dem Schalter der Lampe, die auf einem Tischchen neben Wrench stand. Der große Mann, aus seiner Träumerei aufgeschreckt, gab einen grunzenden Laut von sich. Tut 492
mir leid, Steve. Wir brauchen mehr Licht. Shastri entschloß sich, in Hanumans Wohnung anzurufen. Nirmal Kapur nahm den Hörer ab und sagte, der Meister meditiere gerade. Shastri zögerte, den Hörer hinzulegen, erleichtert, daß seine niedergedrückte Stimmung ein wenig gewichen war. »Der Meister sagt, wir haben keine andere Wahl, als abzuwarten, was noch kommen mag. Die Dinge würden ohnehin ihren Lauf nehmen«, sagte Nirmal. »Das sehe ich bereits«, entgegnete Shastri bitter. »Wie geht es Mr. Wrenchs Tochter?« »Oh, sie ist bester Laune. Sie, George und ein Freund gehen heute ins Theater«, gab Shastri bereitwillig Auskunft. Nirmal zeigte sich interessiert: »Ach, die blutrünstige Macbeth-Aufführung. Ich habe gehört, Sie hätten sie ganz neu aufgemotzt.« Er machte eine kleine Pause. »Ich hab’ hier aufregende Zeiten mit Adelaide und Molly hinter mir, die immer rumstöhnen. Macbeth wäre für mich vielleicht gerade das richtige, um meine Nerven wieder zu beruhigen. Warum gehe ich eigentlich nicht mit?« »Prima, wir können jeden Mann brauchen, der Santha zu schützen hilft.« »Das meine ich auch. Wie wäre es also?« Gleich an das Gespräch anschließend wurde sich Shastri der Gegenwart der anderen bewußt. Er war gespannt, wie sie reagieren würden. George verhielt sich passiv. Offensichtlich hatte er nichts dagegen. Kurt Leinster lächelte auf die gleiche entwaffnende Weise, wie er gelächelt hatte, als er Stephen Wrench vorgestellt wurde. Entweder war der Mann ein perfekter Schauspieler, oder er war tatsächlich so offen, wie er sich im Augenblick darstellte. Es war schwierig zu sagen. Santha fand es wundervoll. »Toll«, sagte sie. »Aber glaubt ihr, daß noch Karten an der Abendkasse zu haben sein wer-
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den?« »Wir lassen es drauf ankommen. Steve und ich fahren dann in Nirmal Kapurs Wagen mit.« »Prima«, sagte Santha, »dann muß er hinterher noch mitkommen, und ich kriege endlich ein Autogramm von ihm.« Rama Shastri steckte sich eine Sher Bidi zwischen die Lippen und beugte sich vor, um sich einen Aschenbecher heranzuziehen. Während er danach griff, war sein Kopf sehr nahe dem Gesicht Kurt Leinsters: »Tamakhu Kha-lo!« sagte er leise (Rauchtabak!), der Todesruf der Thugs. Leinsters linke Hand hob sich ein wenig, die Finger zitterten. Rama Shastri atmete tief und streckte sich. Es hatte eine Reaktion gegeben, wenn auch nicht unbedingt eine beweiskräftige. Und da wurde er auch schon gefragt: »Was sagten Sie eben, Mr. Shastri?« Er schaute in klare, blaue Augen. Sie wichen seinem Blick nicht aus, waren unverwandt auf ihn gerichtet. Die blassen Lippen des Fragers waren fast spöttisch nach unten gezogen. Aber auch dies war nicht mit Sicherheit zu behaupten. »O Verzeihung, ich habe nur laut gedacht.« »Es klang wie eine indische Sprache. Leider kenne ich keine davon.« »Es ist das Hindi-Wort für Tabak«, log Shastri, »ich wollte mir gerade die Zigarette anzünden.« Im Theater gab es noch genügend Karten im freien Verkauf. Wrench und Shastri mußten nach kurzer Zeit feststellen, daß es seinen Preis kostete, sich mit Nirmal Kapur in der Öffentlichkeit zu zeigen. Bald waren sie von Rockfans umringt. Die meisten waren Studenten. Santha war ganz bekümmert. Sie hatte nur kurze Zeit etwas von Nirmal, bis die Invasion der Rockfreunde begann. Als es Nirmal gelungen war, sich von seinen Bewunderern zu lösen, hatte das Schauspiel schon begonnen.
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Der Zuschauerraum war eher klein, und wenn er auch nicht ganz rund war, so hatte er doch fast die Ovalform erreicht. Wrench, Shastri und Nirmal saßen im ersten Rang, wo sie es ziemlich überheizt fanden. George, Santha und Kurt saßen unten im Parkett, ganz nahe beim Orchester, und bevor der Vorhang hochging, drehte sich Santha um und winkte nach oben. Wrench winkte eifrig zurück, und Shastri beobachtete, wie das Gesicht des Freundes die reine Freude über diese kleine Geste der Tochter ausstrahlte. Er schluckte hart. Das Spiel nahm seinen Lauf. Diese Modernisierung des Stückes war nicht im entferntesten so progressiv, wie man hätte annehmen können, aber auch die schauspielerische Leistung, fand Shastri, war ein Greuel. In den letzten Reihen verstand man die Schauspieler kaum, und Shastri war erleichtert, als die große Pause kam. Und eben dann erfuhr er einiges, was ihn sehr interessierte. Kurt Leinster und Santha waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, während George losgegangen war, um Erfrischungen zu kaufen. Die zwei fuhren schnell auseinander, als sich ihnen Shastri näherte. »Oh, Onkel Ram«, sagte Santha, »es ist wunderbar, wieder aus dem Haus und unter Menschen zu sein.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Die Vorführung hat einen ja nicht gerade vom Stuhl gerissen. Aber ist die Lady Macbeth nicht eine niedliche kleine Sexbombe? Mein Onkel Ram ist nämlich ein notorischer Lebemann, müssen Sie wissen, Kurt!« Shastri tätschelte ihre Hand. »Nun ist es genug, Santha, sei ein gutes Mädchen!« »Gut? Gute Mädchen machen auf niemanden Eindruck, Onkel Ram. Schau doch, wie interessant die Lady Macbeth ist. Die hört nicht auf, zu intrigieren, die Dinge nach ihrem Geschmack zu verändern, und trägt immer ihren stoßbereiten Dolch.«
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»Ja«, mischte Kurt sich in die Unterhaltung, »es ist nur schade, daß sie bereut und anschließend wahnsinnig wird. Am Anfang des Stückes ist sie eine starke Persönlichkeit, geradezu räuberisch in ihrer Machtgier.« »Bewundern Sie das?« erkundigte Shastri sich beiläufig. »Natürlich tue ich das. Bewundern wir nicht alle diejenigen, die vor dem Blutvergießen nicht zurückschrecken? Die meisten von uns leben wie die Schafe, was aber nicht bedeutet, daß wir es nicht gerne anders hätten. Seien sie ehrlich, Mr. Shastri, Sie sind die meiste Zeit Ihres Lebens im Polizeidienst gewesen. Haben Sie sich nicht einmal Gedanken gemacht, wie es wäre, als Dieb oder als Mörder zu leben?« In diesem Augenblick erschien Wrench mit Nirmal und drückte Shastri eine Tasse Kaffee in die Hand. »Doch, das habe ich«, gab Shastri zu, »aber nur für einen Moment.« »Und warum nur für einen Moment? Weil wir alle hier, genau wie ich auch, zu Schafen gemacht wurden. Einen anderen Grund gibt es wohl nicht.« Wrench, der mittlerweile begriffen hatte, worum es in diesem Gespräch ging, schaltete sich ein: »Ich glaube, Kurt, daß es wirklich ein paar Menschen gibt, die einfach friedliebend sind und Grausamkeit nicht kennen.« »Dann sind sie schon als Schafe geboren. Schafe von Natur aus, als Resultat der Evolution.« »Ja, und?« »Also schön, nehmen wir mal an, einer ist von Natur aus so wild wie ein reißendes Tier, ist schon so auf die Welt gekommen, was macht ein solcher Mensch?« »Meinen Sie damit die Theorie von der schlechten Anlage?« »Ich meine ein echtes Nicht-Schaf, durch das Erbgut seiner Gene und seiner Chromosomen. Ich meine ein Geschöpf, das zerstören, töten und andere berauben muß, ohne sich dessen
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richtig bewußt zu sein, ohne Gewissensbisse, ja sogar ohne Grund, das zu tun, außer dem Drang, seinem natürlichen Streben entsprechend zu handeln. Warum müssen wir annehmen, daß alle menschlichen Lebewesen auch menschlich sind? Dafür gibt es bisher keinen wissenschaftlichen Beweis, verstehen Sie?« George unterbrach ihn: »Du sprichst von einem Psychopathen.« »Vielleicht …« Die Klingel rief zum nächsten Akt. »Verdammt, ich glaube, der Rest der Diskussion muß auf nachher verschoben werden …« Und damit kehrten sie zu ihren Sitzen zurück. Shastri rief sich alles ins Gedächtnis, was Kurt Leinster gesagt hatte. Immer wieder. Warum? Sicherlich gab es keinen direkten Grund, dem Mann zu mißtrauen, selbst wenn Leinster unmittelbar zu erkennen gäbe, daß er genauso verdreht war wie seine Zeichnungen. Warum sollte man ihn mit dem Thugismus in Verbindung bringen? Es war nur, weil Shastri im Laufe der Jahre erfahren hatte, daß selbst seine unwahrscheinlichsten Ahnungen immer ein Körnchen Wahrheit enthielten, die dann schließlich ans Tageslicht kam. Und das Unbehagen, die unbestimmten mißtrauischen Überlegungen wegen Kurt waren immer stärker geworden, sobald er sich nur in der Nähe des Mannes befand. Auf dem Weg zurück zu Georges Wohnung fragte Shastri seinen Freund Steve: »Was ist nun mit deinen unterschwelligen Gefühlen Leinster gegenüber? Deiner Eingeweideaktionen, wie du zu sagen pflegst?« »Er hat mehr oder weniger nur Mist im Kopf.« »Da kann man wirklich von Eingeweiden reden, Mr. Wrench«, grinste Nirmal hinter dem Steuer. George und Santha fuhren in Leinsters Porsche mit. Shastri war mit dieser Auskunft nicht zufrieden.
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»Kannst du das nicht ein bißchen genauer definieren, Steve?« »Er ist mir zu konfus, unschlüssig, ohne feste Meinung.« »Na, so klang er aber gar nicht, als er seine Theorien zum besten gab.« »Alle diese Sophisten haben eine eigene Theorie über das Schlechte im Menschen. Es ist eine Art Rückschritt, weil sie selbst so verdammt wenig zuwege bringen. Du hattest diese Gattung doch in Indien genügend studieren können, Ram. Diese apathischen Typen.« »Aber nimm mal an, Steve … nimm mal an, Kurt Leinster gehört keineswegs dazu. Angenommen, er ist in Wirklichkeit jemand mit starken Antrieben?« »Ich habe ihn beobachtet, wie er um Santha herumkroch. Santha kann ihn um den Finger wickeln, dabei ist er ihr völlig einerlei.« Da wäre ich mir nicht so sicher, Steve, dachte Shastri, behielt es jedoch für sich. »Also diese Zeichnungen von ihm …«, begann er. Nirmal Kapur unterbrach ihn: »Darf ich meine Meinung dazu äußern?« »Ja, gerne.« »Ich werde dabei an ein Wort erinnert, das Swami Hanuman immer gebraucht: ›Asrave‹. Das bedeutet ›Vergifteter Geist‹. Es bedeutet, Vorstellungen zu haben, die den Geist betrunken machen, ihn außer Gefecht setzen. Asrave verhindert jede Art von Erleuchtung. Kurt Leinsters Geist ist von dieser Art. Außerdem glaube ich, daß er sehr selbstherrlich ist. Das zusammen ergibt eine ziemlich verwirrte Persönlichkeit. Ich weiß das, ich war selbst schon an dem Punkt angelangt.« Shastri versuchte zu sondieren: »Man kann beides sein, ohne zu den Schwachen zu gehören.« »Ja, ich weiß. Dann ist man aber größenwahnsinnig. Insofern
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haben Sie wohl recht, Mr. Shastri.« Als sie am Otis Place angekommen waren und Georges Wohnung betraten, waren nur Santha und George anwesend. George erklärte, daß Kurt wegen persönlicher Geschäfte gleich wieder hätte gehen müssen. Shastri bemerkte den verlorenen Ausdruck in Santhas Gesicht. Nirmal Kapur betrat als letzter den Raum. Er hatte die Gitarre mitgebracht. »Na, wie wär’ es mit Gesang?« fragte er. Sie starrte ihn ausdruckslos an. »Gesang«, wiederholte er und hielt die Gitarre hoch. »Oh.« Santha schreckte aus ihrer Vertiefung hoch. »Tut mir leid, Nirmal. Aber ich bin nicht in der Stimmung.« Sie wandte sich zu den anderen: »Ich gehe schlafen. Ich kann mich kaum noch wach halten.« George streichelte sie zart. »Fühlst du dich auch wohl?« »Laß das«, sagte sie schroff und wich zurück. »Mir geht’s gut. Kannst du es nicht seinlassen, mich wie die Insassin einer Irrenanstalt zu behandeln?« »Du bist ganz schön unfair«, grollte George. »Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht alle miteinander.« Santha warf jedem einen Kuß zu und ging die Treppe hinauf. »Sie war in guter Stimmung, bis Kurt ging«, beschwerte sich George und ging zur Hausbar hinüber. Rama Shastri nahm ihm die Flasche aus der Hand. »Trink lieber einen Tee, George. Wir werden bald einen kräftigen Burschen wie dich mit einem klaren Kopf brauchen.« »Ich glaube, sie fühlt sich plötzlich zu ihm hingezogen«, fuhr George fort. »Und ich glaube, das ist auch der wahre Grund, warum Kurt so bald ging. Er will unsere Freundschaft nicht gefährden.« George stützte den Kopf in beide Hände. »Verdammt, aber sie hat mit Kurt den ganzen Abend lang geflirtet. Sie tat, als sei ich überhaupt nicht vorhanden.« George lächelte müde, erhob jedoch keinen Einspruch, als
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die anderen sich erhoben. Er nickte Shastri zu und beließ es dabei. »Wir sind alle ziemlich bettreif«, meinte Wrench. »Wie wäre es, wenn wir auch nach Hause und ins Bett gingen, Ram?« Als sie beide in der Pinckney Street angekommen waren, stellte Shastri die Frage, die ihn, seitdem George seiner Frustration Luft gemacht hatte, beschäftigte. »Glaubst du, daß George recht hat, Steve? Daß sich Santhas Verhalten ihm gegenüber ändern könnte?« Wrench, der sich gerade das Hemd aufgeknöpft hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Ram, wenn ich, was Santha betrifft, eines sicher weiß, so ist es, daß sie weiß, was sie will. Sie ist nicht wankelmütig. Vielleicht hat sie heute abend ein wenig mit Leinster geflirtet, na und? Ich glaube nicht, daß es mehr ist als das. Denn ich hoffe doch, daß meine Tochter, was Männer anbelangt, Geschmack hat.« »Nimm mal an, sie hat in diesem Fall keine andere Wahl. Angenommen, etwas hat sie verändert, so daß sie gegen ihre Natur handeln muß. George hat das in der letzten Zeit häufiger beobachtet, wie du dich vielleicht erinnern kannst.« Shastri beschloß weiterzureden, auch wenn es den Freund verletzte. Es mußte einfach gesagt werden. »Und da Santha durch diese Bala gebrandmarkt wurde, ist es womöglich noch schlimmer geworden.« Stephen Wrenchs Zuversicht brach mit einem Mal zusammen. Er war den Tränen nahe. »Mein Gott«, murmelte er, »ich habe dieses Zeichen ja ganz vergessen.« Doch dann fuhr er fort. »Eigentlich ist es doch lächerlich, daß so ein kleines Mal auf der Stirn so etwas bewirken kann … oder nicht?« »Hanuman hat es uns ja erklärt, Steve. Wir wollen uns morgen weiter darüber unterhalten. Jetzt wollen wir erst mal schlafen gehen, mein Alter.« Doch so leicht kam der Schlaf nicht. Die beiden Männer
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warfen sich lange Zeit ruhelos herum. Schließlich hörte Shastri Wrench schnarchen und begann selbst einzudösen. Es mochten ein oder zwei Stunden vergangen sein, da läutete das Telefon. »Ja?« fragte Wrench schlaftrunken. »Man hat in Lincoln, Massachusetts, etwas gefunden, was ein Thug-Begräbnisplatz sein könnte«, begann Horace Birch.
40 Simon Ark ließ den Rasierapparat sinken, ging zur Badezimmertür und rief laut in den Flur hinaus: »Jacob, du hast schon wieder vergessen, die hintere Türe zu schließen.« Er zog seinen Bademantel fester um sich, weil es zog. »Jacob!« versuchte er es noch einmal. »Jaaaaaaacob!« »Ich bringe gerade den Müll raus«, kam die mißvergnügte Antwort. Simon zitterte und bat: »Alma, würdest du Jacob bitte daran erinnern, daß er die Tür zumacht?« Ihr Ja war kaum zu verstehen. Alma hatte diesen sanften und barmherzigen Ton in ihrer Stimme, seit jenem Sonntag, an dem Jesus in ihre Herzen eingekehrt war. Simon wünschte sich, Jesus würde sie lehren, sich durchzusetzen, speziell, wenn ein rechtschaffener Grund hierfür bestand. Die Hintertür, die sich in der Küche befand, schlug zu. Chloe, in ihrem neuen, weißen Kleid mit der Taftborte, erschien im Flur. Ihre glänzenden schwarzen Schuhe quietschten, als sie zu ihrem Vater hinrannte: »Die Tür ist zu, Daddy.« »Na, prima«, frohlockte Simon. »Ich würde dich ja gerne dafür umarmen und drücken, aber leider bin ich voller Schaum.« »Das ist schon okay, Daddy. Macht nichts.« »Macht nichts«, echote Christine, die Chloe wie ein Ei dem 501
anderen glich, rundlich, mit den gleichen Lackschuhen, deren Spangen über den winzigen Füßchen schlossen. Manchmal mußte er zögern, um den einen Zwilling von dem anderen unterscheiden zu können. Aber wenn Christine dann Chloe nachäffte und dabei wie sie die grünen Augen aufschlug, war das Problem das gleiche. In Christines Augen lag etwas, was, wenn sie erst einmal groß war, zur Wildheit auswachsen konnte. Man würde auf sie aufpassen müssen. Simon Ark schnitt sich mit der Rasierklinge und betupfte die Wunde mit einem blutstillenden Stift. Nein, schalt er sich gedanklich, Christine hatte zwar so etwas wie den Teufel im Leib, aber eigentlich war es nur ein Teufelchen. Man sollte nicht bei jeder Kleinigkeit in seinen Kindern gleich Satan erkennen wollen. Christine würde niemals so werden, wie es Alma vor Jahren war. Damals verschwand sie allzuoft von zu Hause und kam dann erst nach Tagen zurück, in denen sie getrunken und vermutlich mit Männern Sünde getrieben hatte. Nicht jetzt, wo das Wort Gottes in seinem und Almas Herzen wohnte. Nicht, seitdem Gott ihm zugesagt hatte, daß die heilige Hostie ihnen seine Weisheit offenbaren und nahebringen würde. Simon ging ins Schlafzimmer, nahm sich ein gestärktes, weißes Hemd aus dem Schrank und kuschelte sich in den frischen sauberen Geruch des Leinens. Alma sorgte für seine Hemden. Er band sich den schwarzen gestrickten Schlips um. Wie alt war das Ding! Er hatte es bestimmt vor 1960 bekommen. Er liebte gestrickte Krawatten ebenso wie tadellos gewaschene und gebügelte Hemden mit schön gestärktem und mit steifem Kragen. Amen. Die Haustür öffnete sich, und er hörte seine älteste Tochter Elizabeth mit dem Mädchen von Browders hereinkommen. Komisch, welche Zuneigung die beiden zueinander gefaßt hatten. Die Browders waren erst kürzlich Mitglieder der Gemeinde geworden und hatten die Sympathie eine Weile abgelehnt.
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Elizabeth’ Herzlichkeit und Geduld, ihre ungebrochene Freundschaft, ihre ständigen Bemühungen hatten gefruchtet. Und nun gingen die beiden Mädchen immer zusammen zum Gottesdienst. Die Kirche. Seine Kirche. Hier in Lincoln, Massachusetts. Gott hatte sie ihm gewährt, diese Kirche, die früher einmal den Baptisten gehörte. Simon summte die Hymne vor sich hin, die er für den heutigen Anlaß komponiert hatte. Im Eßzimmer fand er die Familie mitsamt der niedlichen Penny Browder wartend vor. Sie wollten noch eine kleine Mahlzeit einnehmen, bevor sie die dreißig Meter vom Haus hinüber zur Kirche gingen. Er bemerkte, daß Penny unter Jacobs Blick errötete. Simon setzte sich und begann, das Dankgebet zu sprechen. Als er den Kopf hob, sah er, daß Jacob immer noch unentwegt Penny anstarrte. Simon runzelte die Stirn. »Hast du mitgebetet, Jacob?« »Ja, Papa.« Sein Ton klang ganz überzeugend. In letzter Zeit war Jacob recht unruhig gewesen. Er war schon fünf Jahre alt, als Alma erst damit aufhörte, zu trinken und Unzucht zu treiben. Simon versuchte, sich daran zu erinnern und auch, daß ein gewisses Maß an Sünde gerade in diesem Kinde schlummern könne. »Sie sind schon hier«, sagte Elizabeth plötzlich. »Wer ist hier?« »Ach, diese Leute, weißt du, die Gäste«, entgegnete Elizabeth. »Penny und ich haben sie gesehen, wie sie in fünf Autos angefahren kamen. Jetzt stehen sie vor der Kirche.« »Vor der Kirche!« Jetzt erst erinnerte sich Simon Ark, wen sie meinte. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Da standen sie auf den Stufen vor der Kirche, eine ganze Gruppe Wartender. Du lieber Himmel. Miss Moniz hatte also recht gehabt. Er zählte dreißig Menschen … nein, fünfunddreißig … Herr
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und Heiland! Simon ging zu seinem Platz zurück und tauchte den Löffel in die Suppe. »Es sind lauter echte Inder«, fuhr Elizabeth fort, »denk dir doch, Daddy, sie sind gekommen, um das Wort Gottes zu hören! Ist das nicht aufregend?« »Ja, ja.« Aufregend? War es das? Würde die übrige Gemeinde das auch so sehen? Nun ja, sie würden sich darauf einstellen müssen. Das Wort Gottes war für jeden da, der willens war, es zu hören. Er äußerte sich in diesem Sinne. Alma bemerkte: »Lizzie sagt, daß einige der Frauen diese bunten Saris tragen.« »Vielleicht geben sie dir den Schnitt«, scherzte er. Aber er fühlte sich in Wirklichkeit ziemlich unbehaglich. Lieber Gott, betete er im stillen, hilf mir, die richtigen Worte zu finden, um ihnen Deine Liebe und Gnade verständlich zu machen … »Wir dürfen uns nicht zu beeindruckt zeigen«, sagte er laut, an die Familie gerichtet. »Ich habe gelesen, daß Bill Graham, als er in Indien predigte, zwar immer volle Säle hatte, aber wenig Menschen, die zum Glauben übertraten. Seht ihr, es scheint eine indische Gewohnheit zu sein, mit offenen Sinnen erst einmal jedermanns Ansichten über Gott zuzuhören.« »Warum auch nicht«, ließ sich Jacob vernehmen. »Es gibt viele, viele falsche Lehren, mein Sohn. Das weißt du sehr wohl. Satan ist ein Lügner und Betrüger. Er lehrt wissentlich Falsches. Verkündet Wahrheiten, die keine sind.« »Ist Gott so streng wegen jeder Kleinigkeit? Kümmert es ihn wirklich, wenn nicht alles und jedes genau nach der Schrift ist?« Simon hob die Bibel, die neben ihm lag, hoch und sagte: »Wenn nicht alles nach dieser Schrift, der Bibel, geschieht, dann schon, Jacob!« Alma hatte sich die Brille aufgesetzt und war im Begriff, et-
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was zu sagen, besann sich jedoch und ließ es sein. Ihr Mann war heute abend so angespannt, sagte sie sich. Dies war eine ganz neue Erfahrung in seinem Priesteramt. Die Gäste heute abend waren echte Heiden, die über Jesus Christus vermutlich genausoviel wußten wie sie über Brahma. Sie hatte bisher immer geglaubt, das sei der Name eines Stiers, bis Simon ihr kürzlich erklärt hatte, um wen es sich handelte. »Es ist eine indische Frau dabei, die einen Nasenring trägt, und der wird wiederum von Haarsträhnen gehalten.« Elisabeth kicherte. Die Zwillinge, die bisher ungewohnt still geblieben waren, stimmten in das Gekicher ein. Chloe zog die Nase kraus, schielte auf deren Spitze und versuchte sich dort einen Ring vorzustellen. »Na, wenigstens sehen sie nicht alle gleich aus, so wie wir«, witzelte Jacob. »Du mußt ja immer dagegen sein«, erwiderte Elizabeth streitlustig. Dennoch lächelte Penny, als ihr Jacob zuzwinkerte. »Ja, wir sehen alle aus, als habe Jesus Christus uns einen Gummistempel aufgedrückt.« »Wie hättest du’s denn gern, Jacob? Daß dein Vater langhaarig und bärtig predigt? Nein danke. Es gibt für meinen Geschmack schon viel zuviel langhaarige, falsche Christen in diesem Land.« Simon Ark schwieg, schaute seinen Sohn nur finster an. »Also, laß uns jetzt mit diesem Hickhack aufhören«, sagte er, sobald er sich selbst beruhigt hatte. »Diese Frau, namens Miss Moniz, ist auf mich zugekommen, als wir damals, sozusagen auf Vorposten, das Mai-Yogini-Yoga-Center aufsuchten. Sie sagte, sie kenne viele Inder und Angehörige dieses Kultes, die nach einer neuen Lehre suchten. Nun, wenn der Herr sich auf diese Weise zu erkennen gibt und mir sagt, ›hier sind Menschen, die des Wortes bedürfen‹, soll ich ihnen dann Gottes Wort verweigern? Denkt einmal darüber nach!« Jacob schwieg und sagte dann plötzlich mit einem boshaften
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Glitzern in den Augen: »Vielleicht handelt es sich hierbei um eine andere Prüfung, Daddy? Wie damals, als die Studenten von der göttlichen Schule Harvards kamen, um dich zu hören, und dann deine Predigt unterbrachen. Und was haben sie vorgebracht? Daß Johannes von Patmos schon Hunderte von Jahren vor Christus gelebt habe und nicht danach, wie behauptet wird. Diese Offenbarung hat mit der christlichen Botschaft nicht das geringste zu tun.« Alma erhob die Stimme: »Jacob, du weißt, daß das nicht wahr ist. Die Studenten haben vorher schon beschlossen, den Gottesdienst zu stören.« Simon Ark hatte sich erhoben und sagte leise: »Von mir aus denke, was du willst, mein Sohn. Ich kümmere mich jetzt um den Dienst des Herrn.« Er klemmte die Bibel unter den Arm, nahm seinen Mantel vom Garderobenhaken und war im Begriff zu gehen. Vorher wandte er sich jedoch noch einmal um, blickte über den Tisch hinüber zu Jacob und Penny und sagte: »Du erinnerst dich, wie die Hölle ist, Jacob? Sie ist der Ort, wo die Sünder und Ungläubigen verbrannt werden und den Wein des Gotteszorns trinken, Offenbarung 14, Vers 10.« Dann machte er eine Pause und genoß erst einmal seine Angriffswirkung. »Ein Platz, von dem der Rauch ihrer Qual aufsteigen wird, von Ewigkeit zu Ewigkeit …« Simon Ark hatte seinen großen Abgang. Kurz darauf folgte ihm seine Familie. Simon stand bereits an der Kirchentür und hieß die Gäste willkommen. Es waren nicht alles Inder. Einige waren Weiße, die meisten junge Leute. Zu Almas eigener Überraschung war sie von dem heiteren Lächeln der Frau mit dem Nasenring sehr beeindruckt. Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht hielt Alma die Hand dieser Frau bei der Begrüßung länger als üblich fest, von unerwarteter christlicher Barmherzigkeit für dieses ruhige, stille Geschöpf überfließend, besonders als die Frau die Fingerspitzen in der indischen Art
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der Begrüßung aneinanderlegte. Jetzt strömte auch die übrige Gemeinde herbei. Es waren mindestens sechzig Leute, wenn Alma mit ihrer Vermutung richtig lag. Die Menschen stauten sich an der Tür. Jacob befand sich, Penny am Arm, mitten in der Menge, zog sich plötzlich zurück. Wie Diebe schlichen sie davon, hinter die Kirchenmauer und von dort aus in den nahe gelegenen Wald. Simon Ark, im einfachen grauen Anzug (seine Kirche erlaubte weder Talar noch Stola), mit gestärktem weißem Hemd und schwarzem Binder, stand auf seiner Kanzel und betrachtete die versammelte Gemeinde. Dann erhob er seine volle, tönende Stimme und sprach zu den zu ihm aufgerichteten Gesichtern von »dieser gesegneten Stunde«. Das tat er im Hinblick auf die fremden Gäste. Die regulären Kirchenbesucher lächelten und murmelten beifällig. Die Kinder hingegen starrten nur auf das Wunder der bunten Saris und Turbane und auf die juwelengeschmückten Inderinnen in der zweiten Bankreihe. Simon Ark sprach das Eingangsgebet und bemühte sich, das Wort Gottes korrekt zu handhaben, bemühte sich, es den Fremden nahezubringen, die heute abend von weit her zu ihnen gekommen waren. »Oh, daß sich dir ihre Herzen öffnen mögen, Herr«, rief er aus, »wie sich dir die Herzen deiner Gemeinde geöffnet haben!« Simon prüfte jedes der zu ihm gewandten Gesichter. Die neu Hinzugekommenen saßen, wie er bemerkte, in jeder zweiten Bankreihe. In der ersten Reihe saßen seine Familie, die Browders, die Perellis mit ihren fünf Buben. In der zweiten Reihe befanden sich die Inder. Sie lächelten zu ihm hinauf. Die Frau mit dem Nasenring, die genau in der Mitte der Bankreihe saß, betrachtete ihn geradezu liebevoll. Es schien, als erreiche er sie tatsächlich mit seinen Worten. O Herr, mach, daß sie hören und verstehen! Simon konnte spüren, wie sich allseitig Liebe ver-
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strömte. Selbst aus dieser Entfernung fühlte er, wie sie von dieser Frau ausging. Wie hieß sie doch gleich? Er mußte, wenn er ihr nachher an der Kirchentür die Hand zum Abschied reichte, ihren Namen wissen. Er versuchte, sich zu erinnern, indem er seine Ansprache kurz unterbrach und sich stumm über die Bibel beugte. Und dann wußte er es wieder. Mrs. Bala! Mrs. Bala war ihr Name. Durch diesen Erfolg angespornt, fuhr Simon fort, Christi Lehre zu verkünden. Es gab nur einen Weg zur Rettung der Seele, und der führte über Jesus Christus. Das Gesetz des lebendigen Heilands würde das Gesetz der Sünde und den Tod, welche beide von Satan in die Welt gesetzt wurden, überwinden. Und wer war Satan? Er war ein Betrüger, der falsche Lehren verbreitete, Krankheit und Tod mit sich brachte. Oftmals war er unter anderen Namen und in anderen Ländern als Gottheit anerkannt. Er verbarg sich oft. O ja, bewahre uns, Herr, uns alle und einen jeden einzelnen. Denn Satan nahm oft eine hohe Stellung ein, trug die Maske eines falschen Priesters oder war in allen und jeden Verkleidungen ein Anführer der Menschen, immer darauf bedacht, etwas vorzutäuschen; denn Satan ist nichts weiter als »der Gott dieser Welt«. (2. Korinther 4.4.) Und dann blieb Simon Ark die Sprache weg. Sein Blick huschte zu seiner Frau hinüber. Er hatte entdeckt, daß Jacob nicht anwesend war. Sein Sohn saß sonst immer neben Alma, und nun, als er zu Elizabeth hinüberblickte, stellte er fest, daß auch Penny nicht da war. Selbstmitleid erfaßte ihn. »O nein, Herr«, jammerte er im stillen, »prüfe mich nicht auf diese Weise! Laß meinen Jacob nicht zu meinem Absalom werden.« Der Rest von Simons Predigt endete unzusammenhängend. Nachdem er erkannte, daß ihn der Eifer verlassen hatte, schloß er mit der Ansage des Kirchenliedes, das gesungen werden sollte: »Christi Wort, so wahr …« welches er der Melodie von »Rock of Ages« angepaßt hatte.
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Der Gesang begann. Die regulären Gemeindemitglieder warfen den Kopf zurück und sangen, um den Gästen ihre Einigkeit und ihre Freude an Christus möglichst deutlich zu demonstrieren, besonders laut. Speziell der Baß drang deutlich hervor – alle Perelli-Söhne sangen. Der Gesang hob Simons schlechte Laune ein wenig. Hoffnungsvoll spähte er nach Mrs. Balas seligem Lächeln. Sie lächelte immer noch. Simon Ark seufzte erleichtert, so hatte er doch wohl nichts falsch gemacht. Vielleicht konnten Jacob und Penny noch rechtzeitig auf den rechten Weg zurückgeführt werden … Dann erstarrte er. Kam dieses Gemurmel nicht aus der zweiten und vierten Reihe, wo die Gäste saßen? Es war nur ein Flüstern, aber die Einheitlichkeit ließ ihn erschauern. Kunkali, Kunkali, Kunkali. Eine Bewegung in der zweiten Bankreihe. Der Inder im Turban, der mit der scharfgeschnittenen Nase, erhob sich mit blitzenden Augen. Sahib Khan ließ die Schlinge sausen, und Alma Ark starb als erste. Den ganzen Abend hatte der Thug gewartet und das Gequatsche dieser Schweinefleischfresser über sich ergehen lassen; doch jetzt war es endlich vorbei. Aber Yonis Plan war trotzdem schlecht und gegen jede Thug-Tradition. Frauen und Kinder! Sahib Khan hatte festgestellt, daß viele davon anwesend waren. Und es war doch allgemein bekannt, daß sich das Thug-Glück zum Bösen wandte, wenn Frauen und Kinder getötet wurden. Und hier sollte es passieren! Er hatte zum ersten Mal ein weibliches Opfer erwürgt, und nun machte er sich für das zweite bereit. Dort drüben waren die Kleinen. Nein, er, Sahib Khan, würde keines anrühren. Aber wer würde es sonst tun? Simon Ark sah Almas Kopf rückwärts über die Kirchenbanklehne gebogen, sah, wie Sahib Khan sie näher zu sich he-
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ranzog. Offenen Mundes und mit hervorquellenden Augen lag ihr Kopf jetzt auf den Knien des Thug. Alles, was Simon jetzt noch von ihr erkennen konnte, waren ihre zappelnden Beine. Und er konnte sehen, daß das gleiche überall geschah. Es gab Keuchen und Schreie und das merkwürdige Geräusch knirschender Knochen. Die kräftigen Perelli-Buben waren mit baumelnden Köpfen vornübergesunken. Dann wurde seine Tochter Elizabeth über die Kirchenbank gezogen. Ihre Beine fuhren steil in die Höhe, knochige, dürre Beine in beigen Strümpfen. Simon Ark begann zu würgen. Die Akolyter in der vierten Reihe, die von Elvira Moniz angeführt wurden, sangen Kalis Namen, bis ihre Hände groß und angeschwollen waren, so, als würden sie gleich bersten. Gleichzeitig mit Sahib Khan warfen sie sich auf ihre Opfer. Ihre monströsen Hände wanden die Seidentücher zu Schlingen und warfen sie um die Nacken der nichtsahnenden Gemeindemitglieder. Alle, die nicht in der ersten oder dritten Reihe gesessen hatten, drängten panisch zur Tür. Dort standen schon Makunda und Bidhan, der längste der Thugs. Sie hatten die Tür verschlossen und den Weg versperrt, damit die Würger, wenn sie fertig waren, auch hier zuschlagen konnten. Als einige der Opfer sich zu wehren versuchten, ließen manche der Würger die Schlingen sinken, um als Handlanger zu fungieren. Die übernatürlichen Kräfte, die Kalis Glut in ihnen entfacht hatte, ließen das Ereignis schnell zu einem schrecklichen Ende kommen. Diese Glut flackerte überall. Sie erfüllte den Raum. Es war, als stünden die Wände, der Boden, die Decke in Flammen, als wäre allein die Luft schon imstande, das ganze Gemäuer einzuäschern. Die Gesichter verfärbten sich in dem rötlichen Todesleuchten, das von einem Thug auf den anderen übersprang, es brach aus ihren Augen, brannte in ihren Hirnen unter einem
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einzigen Befehl: Töte! Töte! Sahib Khan näherte sich Simon Ark, der wie irre in den Wirbel starrte, der sich feurig an der Decke drehte. Er konnte nirgendwo sonst hinsehen. Sein Verstand hatte sich voller Ekel von der Szene zu seinen Füßen abgewandt. Die sich windenden Körper, die zappelnden Beine, die aus ihren Höhlen quellenden Augen, wenn die Schlingen ihnen die Atemluft abdrehten. Das Keuchen, Gurgeln, Schreien, das Sterben, der Tod derer, die man liebte, der Tod der Freunde, all dies war für ihn nicht mehr existent. EIN SEE VOLL FEUER (Offenbarung 20: 10–15) EIN ORT DER QUAL (Lukas 16: 22–24) DAS EWIGE FEUER (Markus, 9: 43–48) EIN PLATZ DES WEINENS, HEULENS UND ZÄHNEKNIRSCHENS (Matthäus 8–12). Bibelstellen, die sich auf die Hölle bezogen, rasten durch Simon Arks Hirn. Als er dort neben der Kanzel hockte, den irren Blick immer noch zur Decke gerichtet, ließ Sahib Khan die Schlinge sausen. Nachdem der kurze Kampf vorbei war, wandte sich der Moslem zu Gauri Bala. Sie hatte alles beobachtet, war hierhin und dorthin geschritten. Das Glühen warf einen Widerschein auf ihr Gesicht. Sie war die Feuerquelle, und immer, wenn sie sah, daß ein Akali-Jünger dieses Feuer brauchte, hob sie die Arme und sprühte es von ihren Fingerspitzen und hüllte den Thug ein, der seine Arbeit durchführte. Sahib Khan schauderte bei der Frage, die er stellte: »Und was wird aus ihnen?« Elvira Moniz hatte die Kinder in eine Ecke gedrängt. Neun Kinder, die beiden Babys inbegriffen. Einige hatten versucht, auszubrechen und ihren Eltern zu helfen. Aber Elvira und eine andere Akolyterin hatten sie zurückgehalten. »Ihr habt Mama und Papa und Elizabeth umgebracht«, jam-
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merte Chloe. Christine hörte nicht auf, Elvira anzuspucken, die direkt neben ihr stand. »Sie sind Augenzeugen«, erwiderte Elvira. Gauri Bala stellte sich vor die Kinder. »Du bist eine böse Hexe«, schrie die Älteste, ein siebenjähriges Mädchen. »Du bist ein Teufel. Ich kann den Teufel in dir sehen!« Und sie versuchte, die Babys mit Hilfe eines kleinen Jungen, dem es, sechsjährig, schwer genug fiel, tapfer zu sein, zu schützen. »Laß die Mädchen leben!« krächzte Gauri, ihre Hände, deren Riesenschatten an den Wänden zuckten, wie Klauen gekrümmt. »Ich brauche die Mädchen.« »Die Mädchen. Ja, natürlich«, wiederholte Elvira. Aber keiner der Thugs rührte sich, um die übrigen Kinder zu töten. »Ich will, daß nur die Mädchen am Leben bleiben«, schrie Gauri Bala schrill. Sie war jetzt ganz die zornige Kunkali. Und damit ergriff sie eines der Babys, riß es dem kleinen Mädchen aus dem Arm und schmetterte seinen Kopf gegen die Wand. Oh, das ist sehr unheilbringend, dachte Sahib Khan im stillen, ganz unheilbringend ist das! Elvira Moniz griff nach dem anderen Säugling. Makunda, dem es bei dem Anblick des von der Kirchenwand herabtropfenden Bluts und Hirns schlecht geworden war, stieß Elvira zur Seite und hielt das Kind fest an sich gedrückt. Innerhalb einer Minute war das Baby erstickt. Anschließend tötete er, schnell und geschickt, die drei übrigen Buben. »Na also«, sagte er, »so war es besser und gnädiger.« Dennoch wollte er weder Elvira noch Gauri anschauen. Makunda mochte keine Kinder töten. Er selbst hatte zwei kleine Söhne in Indien zurückgelassen. Er konnte nur hoffen, daß seine Kinder nicht so leicht wie diese hier zu töten waren. »Gut«, gluckste Gauri mit belegter Stimme. »Nun haben wir genug Gefäße, um Kali zu dienen. Und sie sind jung genug, um
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sie in vielen Jahren auf ihren Dienst vorzubereiten.« Jacob Ark führte Penny Browder in den Gemüsegartenschuppen. Einige Tage zuvor hatte er zwei Kopfkissen dorthin gebracht und war ganz stolz darauf, alles so gut vorausgeplant zu haben. Er hatte Penny das Höschen bis zu den Knien heruntergezogen und streichelte nun dieses wunderbare Mädchenmysterium zwischen ihren Beinen, als er glaubte, Schreie zu hören. Doch er fuhr fort zu streicheln. Später, als er zu rasch gekommen war, und enttäuscht und beschämt über sich auf Penny herniedersah, hörte er Schritte, die an dem Schuppen vorbeischlichen. Er beeilte sich, durch eine Ritze hinauszuschauen. Nach einer Weile fragte Penny: »Ist das dein Vater oder jemand von meiner Familie, die nach uns suchen?« Er gab keine Antwort, die feinen Härchen in seinem Nacken sträubten sich. Er konnte eigentlich nur Umrisse erkennen, doch er war sich sicher, daß zwei Männer Leichen zwischen sich trugen. Eine der Gestalten kam ganz nahe an der Schuppenwand vorbei, und Jacob wurde es übel. »Was ist?« fragte Penny, als er sich abwandte, um sich zu übergeben … Jacob hielt ihr den Mund zu. »Pscht!« flüsterte er, und die Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Wenn die uns hören, bringen sie uns um!« Mehr sagte er ihr nicht, weil er befürchtete, sie würde sich losmachen und zu schreien anfangen, wenn er ihr erzählte, daß er gesehen hatte, wie sie die Leiche ihrer Mutter in den Wald zerrten. Jacob hatte den Umriß eines Turbans erkannt und wußte auf der Stelle, daß die Inder gemordet hatten. Er war überzeugt davon, daß sie auch seine Familie umgebracht hatten. Sein Blick fiel auf seinen nackten Penis, in dem sich nichts mehr rührte. Das ist die Strafe und Gottes Zorn, den Daddy immer warnend vorausgesagt hat, dachte er verzweifelt.
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41 Unausgeschlafen traf Horace Birch mit Wrench, Shastri und George Buchan an der Begräbnisstelle zusammen. Als Wrench George mit der Bitte angerufen hatte, erst Santhas Verfassung zu prüfen, bevor er mitginge, hatte George darauf bestanden, mitzukommen. Er habe alles zu unternehmen, sagte er, um Santhas Angst und Schrecken zu beenden. Beeindruckt hatte Wrench zugestimmt. George legte auf und berichtete Nirmal, was der Anruf bedeutete. Nirmal hatte die Nacht auf der Couch im Wohnzimmer zugebracht. Er versprach sofort, aufzupassen: »Keine Angst, ich bleibe wach, bis ihr zurückkommt. Wenn Santha unruhig wird, werde ich ihr ein oder zwei Lieder vorspielen. Das wird sie beruhigen.« Wrench stellte George Birch vor, und dann gingen alle vier zu dem Polizeikordon hinüber. Der Platz befand sich auf einer etwa dreißig Quadratmeter großen Waldlichtung eines Grundstückes, welches der Kirchengemeinde gehörte. Bei der Betrachtung des Polizeiautos, der Leichenwagen und in der Kirche herumrennenden Beamten schauderte Wrench. »Ausgerechnet eine Kirche, um darin ein Massaker zu veranstalten«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Rama Shastri nickte. »Das ist auch eine Art Botschaft, die der Erwählte damit zum Ausdruck bringt – Verachtung und offene Respektlosigkeit gegenüber fremdem Glauben.« »Wie herzlich!« Shastri fuhr fort: »Ich bezweifle, daß es religiöse Voreingenommenheit ist. Ich habe vielmehr das Gefühl, daß uns der Erwählte auf schauerliche Art und Weise eine Antwort erteilt. Es ist pervers und mit einer ungeheueren Dreistigkeit durchge514
führt. Wir haben ihn ein paarmal erfolgreich abgewehrt, und nun will er es uns zeigen!« Als sie am Begräbnisplatz ankamen, trat auch Dan Terranova hinzu. Er blinzelte im Blitzlicht der Polizeifotografen, die überall zugegen waren, um Aufnahmen zu machen. »Na, bis jetzt haben wir die Presse ja noch fernhalten können, aber ich bezweifle, daß es lange möglich sein wird. Bald sind sie auch hier.« Birch fügte hinzu: »Meine Herren, ich habe die halbe Nacht damit verbracht, die Bostoner Polizei zu beruhigen, aber dabei handelte es sich noch um die drei ermordeten Polizeibeamten von gestern. Leider kann ich keine Wunder vollbringen. Wie viele Leichen sind es diesmal?« »Fünfundzwanzig bis jetzt, aber vermutlich noch viel mehr.« Terranovas Brillengläser waren beschlagen. »Alle sind hier, die Beamten von Lincoln, die Staatspolizei, eine Polizeitruppe von Arlington, der Bostoner Polizeipräsident und seine Beamten, und Kriminalbeamte aus allen drei Städten.« »Gerade das, was wir brauchen …« »Genau, Steve. Wenn die Sache über die Polizeileitung geht, taucht gleich jeder persönlich auf, den es nur halbwegs was angeht. Ich wäre nicht überrascht, wenn der Gouverneur auch noch auf der Bildfläche erschiene. Dies ist eine Situation, die einen Notstand darstellt. Da drüben kommt Mel Hughes.« »Na«, meinte Hughes und wippte auf den Zehenspitzen, »was meinen denn die Experten dazu?« »Lassen Sie das, Mel. Es war nicht deren Schuld.« »Mr. Birch, bei allem Respekt, so etwas können wir im Staate Massachusetts nicht dulden. Genau das werden Sie vom Polizeipräsidenten zu hören bekommen.« Rama Shastri ging ein Stück weiter. Sie befanden sich auf einem schmalen, baumlosen Streifen, ganz in der Nähe des Waldes. Auf der anderen Seite neigte sich das Gelände etwas
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hügelabwärts. Shastri konnte die blattlosen Baumkronen unten erkennen. Zu beiden Seiten öffnete sich der Wald nach links und rechts, so daß die Lichtung wie ein unvollständiges Oval wirkte. Er blickte auf das wogende, hohe Gras zu seinen Füßen, das sich in einem leichten Windhauch auf und ab bewegte. Das perfekte Gelände für eine Thugs-Begräbnisstätte, die nicht so leicht entdeckt werden konnte. Als er sich dem Massengrab näherte, sah er, wie Polizisten loses Gestrüpp von dem Grabhügel räumten. Eine Menge Büsche waren verwendet worden, denn die Länge des Grabes betrug mindestens acht Meter. Das Grab selbst war flach gegraben und breit genug, um die dicht nebeneinanderliegenden Leichen aufzunehmen. Ein Geräusch hinter ihm veranlaßte Shastri, sich umzuwenden. George und Wrench standen hinter ihm. Auch Horace Birch kam näher, von einer Gruppe gutangezogener Männer umgeben. Er stellte jedoch nur einen von ihnen vor: »Steve, das ist Winslow Parker, FBI.« Birch biß die Spitze einer Zigarre ab und steckte die Hände in die Taschen. Fast hätte er einen Fluch ausgestoßen, so frustiert war er. Er unterließ es, die Zigarre anzuzünden. Shastris Interesse richtete sich auf einen halbwüchsigen jungen Mann, der vom Polizeiarzt herbeigeführt wurde, derselbe Arzt, der sich vor kurzem um Deborah Klaus gekümmert hatte. Sie gingen am Rande der offenen Grube vorbei, der Junge stolperte und betrachtete genau jede Leiche, die von den Männern freigeschaufelt worden war. Der Schmerz und die Qual, die er dabei empfand, spiegelten sich deutlich in seinen Augen wider, doppelt deutlich im grellen Licht der vielen Scheinwerfer. Die tragbaren Generatoren, die sie speisten, gerieten öfters ins Stottern und fügten dem Geräusch der arbeitenden Männer und dem Gequake der Walkie-talkies ein ohrenbetäubendes Quietschen hinzu. Von irgendwoher hörte man einen Polizeihub-
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schrauber näher kommen, vielleicht auf der Suche nach den Mördern, sofern sie sich noch im Gelände befanden. Eine Verschwendung an Arbeitsaufwand und Leuten, dachte Shastri. Er hörte den jungen Burschen aufschreien: »Dad, Dad, verzeih mir. Es tut mir so leid!« Das Weinen des Jungen drang durch die Nacht, und für einen Moment unterbrachen die grabenden Männer ihre Arbeit. Der übliche kühle Polizeiblick, den sie sonst zur Schau trugen, war einem Ausdruck der hilflosen Verständnislosigkeit gewichen. Dies war selbst für diese Männer, die einiges gewohnt waren, zuviel. Der FBI-Mann Parker trat auf Shastri zu: »Sind Sie vorsichtig«, sagte Birch warnend zu ihm. Doch Parker zeigte den gebotenen Respekt. Er hatte von Rama Shastri schon einiges gehört. Jetzt sagte er: »Mr. Shastri, vielleicht können Sie uns einiges erklären?« Shastri nickte und konnte dabei den Blick nicht von den nach oben gewandten, toten Gesichtern in der engen Grube wenden. Das Entsetzen malte sich grotesk in den erstarrten Zügen. Die Augen waren aufgerissen, die Münder weit offen, die Zungen geschwollen. Und plötzlich wieder ein Schrei: »Mama! Elizabeth!«, und ein kurzer Kampf, als der Junge von dem Versuch abgehalten wurde, sich selbst in das Grab zu stürzen. Ein tapferer Junge, überlegte Shastri, wenn er selbst nur hätte tapferer sein können. Birch hatte ihnen erzählt, daß der junge Bursche aus dem Schuppen herausgekrochen und den Thugs und deren toten Opfern in den Wald gefolgt war. Er hatte beobachtet, wie sie die Toten begruben, und es trotz seines überwältigenden Kummers geschafft, zu dem Mädchen zurückzukehren, sie aus dem Schuppen herauszuziehen, an die Autobahn zu eilen und eine Polizeipatrouille anzuhalten. Aber als die Polizisten bei dem Ort des Schreckens ankamen, waren die Thugs bereits fort. Der Junge hatte zugeschaut, wie die Bande auf dem Grab-
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hügel saß und lachte und sich überaus fröhlich gebärdete. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, die Polizei herbeizurufen, während die Thugs ihre festlichen Riten auf dem Grabhügel zelebrierten, hätte man die Mörder vielleicht noch erwischen können. Aber so wagte der Junge nicht, sich zu rühren, bis sich Kunkalis Kinder entfernt hatten. Schade. Der Junge schrie noch immer wegen seiner Eltern, seiner Schwester, Gottes und der Sünde wegen. Sie führten ihn schließlich fort. »Der wird lange in psychiatrischer Behandlung bleiben müssen«, bemerkte Parker, »das Mädchen ist in noch schlimmerer Verfassung. Schock. Sie bringt kein Wort heraus.« Rama Shastri kramte in seiner Jackentasche nach einer Sher Bidi. »Mr. Shastri, wir brauchen jede Hilfe, die Sie uns bieten können.« »Ja, natürlich.« Allmählich bildete sich eine Menschenmenge. Lauter fremde Gesichter, große, breitschultrige Männer, überwiegend Beamte, Kriminalkommissare, Polizeileutnants, Polizeihauptleute und Wachtmeister. Sie standen herum, um zuzuhören und einigermaßen zu verstehen, womit sie es hier eigentlich zu tun hatten. Parker meldete sich mit einer Frage: »Warum sind die Leichen zum Teil zerstückelt, sie wurden doch schon stranguliert? War das nicht genug?« Die Stimme des FBI-Mannes klang rauh. Sie durchdrang die heraufziehende Morgendämmerung. Es war eine vernünftige Frage. Shastri antwortete: »Um die Verwesung zu beschleunigen und auch, um die Gase, die aus den Leichen entweichen, freizusetzen, damit sie die Erdschicht des Grabhügels nicht aufreißen lassen können.« »Ich möchte auch etwas wissen«, rief eine Stimme zu Sha-
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stris Füßen. Ein Mann im Arbeiteroverall kletterte aus der Grube. »Mein Name ist Stevens, ich gehöre zur ärztlichen Untersuchungskommission.« Der Mann, keuchend von seiner Kletterei, bot Shastri die Hand. »Mir wurde gesagt, daß dies alles von Thugs angerichtet wurde. Stimmt das?« »Ja, das ist richtig.« Stevens schüttelte den angegrauten Kopf. »Das kann doch nicht sein. Unmöglich. Es sei denn, die Mörder haben die Kräfte von King Kong. Thugs benutzen doch nichts weiter als einen Schal? Habe ich recht damit?« »Ja, sie benutzen einen seidenen Schal, der an seinem Ende beschwert ist. Den schleudern sie dem Opfer um den Nacken und ziehen ihn eng zu. Sehr eng.« Shastri bemerkte einen Mann, der etwas von den anderen entfernt stand. Er kam ihm bekannt vor. »Na gut, aber es ist doch verdammt merkwürdig, Mann, da liegen zweiundvierzig Leichen, ein paar Kinder nicht mitgerechnet! Und jeder Nacken ist säuberlich gebrochen. Gebrochen! Jeder! Also, bei Halbwüchsigen und ein paar alten Leuten und anderen schmächtigen Personen verstehe ich das noch. Aber da gibt es eine Menge Leute mit erheblichem Halsumfang, unter anderem ein altes Mädchen mit dem Nacken eines Rhinozerosses. Und wenn sie ihr Morden auch in affenartiger Geschwindigkeit bewältigt haben, so konnten sie doch nicht die Dicken unter den Leuten so festhalten, bis sie sie im rechten Winkel hatten, um sie so umzubringen. Und die erforderliche Kraft dazu! Mein Gott! Der Mensch hat seinen Kopfwendemuskel, den Schulterzungenbeinmuskel und den vorderen Rippenhaltermuskel, um nur einige der Hindernisse zu nennen, die das Halsbrechen verhindern können. Da gibt es, wenn man die Dicken in Betracht zieht, aber auch noch eine Menge Fettgewebe zu überwinden, gar nicht zu reden von Muskelplasma, Drüsen und den großen Arterien wie der Halsschlagader. Lie-
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ber Himmel, da waren eine Menge kräftiger junger Burschen dabei. Der junge Ark sprach von den Perelli-Brüdern, die in der Abwehr der New-England Patriots hätten mitspielen können. Wollen Sie uns vielleicht erzählen, daß alle diese verdammten Thugs Hände wie Gargantua gehabt haben?« Genau, dachte Shastri, sobald sie ihre normale Größe verändern und anschwellen. Aber er sagte nichts dergleichen. Wer würde es ihm schon glauben? Stevens fuhr fort: »Natürlich kann ich nichts Genaues sagen, bevor ich die Leichen nicht geöffnet habe. Aber die gebrochenen Hälse sind verdammt genau gebrochen … Jeder! Sind Sie ganz sicher, daß die Thugs nicht eine Herde Orang-Utans angelernt haben?« Am anderen Ende der langen Reihe rief eine Stimme: »Babys! Zwei Säuglinge!« »Babys!« raunten ungläubig die Stimmen um Shastri. Dan Terranova war bei den Männern gewesen, als sie die beiden kleinen Bündel ausgruben. Als er die Längsseite der Grube entlangging, sah er Charlie Adair alleine dort stehen, ein abwesendes, triumphierendes Lächeln um die Lippen. Terranova ging wortlos an ihm vorbei. Er begegnete einem Fotografen mit einer Polaroidkamera und sagte: »Ich möchte ein paar Fotos von den schlimmsten Anblicken, die du finden kannst. Versteh mich – ich möchte sie für mich selbst haben!« Und als die beiden toten Säuglinge hochgehoben wurden, fügte er hinzu: »Speziell hiervon, bitte!« Sobald die Bilder entwickelt waren, steckte er sie in die Tasche und ging. Captain Charlie Adair sah, wie er den Platz verließ. Dann nicht länger in der Lage, sich unter Kontrolle zu halten, eilte er hinüber zu Shastri, welcher ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. »Babys!« schrie Adair. »Haben Sie das gehört?« Sein Gesicht war hochrot. »Babys!« »Wer hat Leute wie Sie gebeten, hierherzukommen? Zu kommen und unsere Kinder umzubrin-
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gen!« »Nimm dich zusammen, Charlie!« warnte ihn Mel Hughes. »Dafür bin ich nicht verantwortlich«, erwiderte Shastri und wandte den Kopf ab. »Nicht verantwortlich!« tobte Adair hinter ihm. »Natürlich sind Sie das. Schauen Sie sich doch die finstere Gegend an, aus der Sie kommen! Hierher kommen, um unsere Kinder zu ermorden, Sie schwarzgesichtiger Hundesohn!« Stephen Wrenchs Faust schoß vor. Adair knickte zusammen und hielt sich den Bauch. Wieder schwang Wrench die Faust und traf Adair am Kiefer. »O Steve!« Shastri blickte entsetzt auf den hingeschmetterten Polizeioffizier zu seinen Füßen. »Was hast du angerichtet?« Sie starrten einander an. Schließlich sagte Mel Hughes: »Also, so geht’s ja nicht, Mr. Wrench. Tut mir leid.« Er winkte zwei Polizisten, die sich links und rechts neben Wrench postierten. Wrench lächelte dünn: »Soll er mich doch verklagen.« »Ich befürchte, es wird mehr sein als das. Er ist immerhin Polizeioffizier.« Als sich Adair schließlich erhob, sagte Wrench zu ihm: »Das nächstemal breche ich Ihnen den Kieferknochen so total, daß Sie nie mehr keifen können!« Horace Birch flüsterte dem Polizeikommissar etwas ins Ohr. Mel Hughes blickte nervös in ihre Richtung. »Stimmt etwas nicht, Sir?« Der Kommissar nickte Birch zu und sagte zu Hughes: »Mel, warum gehst du nicht mal hin und schaust nach den Presseleuten? Ich kann schon von hier aus riechen, daß sie im Anmarsch sind. Du nicht?« Er zog die Nase kraus und schnüffelte in die Luft: »Das ist der Riesengestank, den sie immer verbreiten!« Gelächter. Hughes erwiderte pikiert: »Selbstverständlich, wenn du –«
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»Mr. Birch hat mir gerade erzählt, daß er mit Leichtigkeit die Geschichte von Adairs ekelhaftem Rassismus verbreiten könne. Na dies, und außerdem all das, was gestern morgen passierte, den heutigen Abend nicht zu vergessen, das würde diese Zeitungsschmierer außerordentlich erfreuen, findest du nicht auch? Also setz dich in Bewegung, Mel, während ich dies hier übernehme.« Hughes zögerte. Der Kommissar runzelte die Stirn, und Hughes eilte von dannen. »Nun, Captain Adair«, sagte der Kommissar, »ich nehme an, daß Sie Mr. Wrench für seinen Angriff verklagen wollen. Das ist, dem Gesetz nach, Ihr gutes Recht. Sie können, wie Mr. Wrench schon vorgeschlagen hat, Klage gegen ihn erheben. Das wäre gewiß sehr günstig bei Ihrem Gehalt als Streifenbeamter.« »Als Streifenpolizist?« wiederholte Adair mit blutenden Lippen. »Wer weiß. Es muß natürlich nicht sein. Sie haben der Bostoner Polizei lange Jahre Ihr Bestes gegeben. Das mag bei dem kommenden Verhör wegen der gestrigen Tragödie und dem heutigen, beschämenden Desaster zu Ihren Gunsten angerechnet werden. Wirklich, die Behörde mag das in Betracht ziehen, wenn Sie dann noch lernen, sich unter Kontrolle zu halten, ihren Jähzorn zu beherrschen und« – die folgenden Worte kamen einem kühlen, aber deutlichen Befehl gleich – »sich nicht immerzu in alles einzumischen.« Schwer atmend starrte Adair seinen Vorgesetzten an. Was würde seine Frau sagen, wenn er zum Streifenbeamten degradiert würde? Es schauderte ihn bei diesem Gedanken. »Yes, Sir«, sagte er, »das wird geschehen!« Als Adair gegangen war, wischte sich Birch die Stirn und wandte sich zu Parker, dem FBI-Mann: »Jetzt fragen Sie weiter, Winslow.«
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42 Santha Wrench erwachte. Sie war plötzlich so müde gewesen, daß sie in den Kleidern eingeschlafen war. Aber nun wurde sie von Widerstandsgelüsten verzehrt. Mehr und mehr empfand sie sich als eine Gefangene, wie ein Tier in der Falle. Sie sagen zwar, ich werde zu meiner eigenen Sicherheit bewacht, aber dabei machen sie mich kaputt, dachte sie, und bevor sie ihren Wutanfall bremsen konnte, überwältigte sie der Zorn. Ich bin eingesperrt, wieso eigentlich? Es ist eine absolute Gemeinheit, ein atmendes Lebewesen in einen Käfig zu sperren. Jedes Geschöpf, Löwen, Tiger, Bären und … in Delhi, Bombay, Varanasi, Kalkutta, Hyderabad, die Millionen unter heißer, safrangelber Sonne, ein einziges Gewimmel voller Leben, alle haben etwas gegen verschlossene Türen, gegen Mauern und Barrieren. Santha berührte das neue Zeichen auf ihrer Stirn. Ich selbst bin lebendiges Leben, dachte sie. Ich bin mit den Dingen angefüllt, mit der Natur all dessen, was mich umgibt. Ich bin nicht unterdrückt. Ich bin losgelöst von Raum und Zeit und unabhängig auch von Männern. Santha dachte an Kurt Leinster. Wie wäre es, wenn sie mit ihm davonlaufen würde, und wenn es auch nur für kurze Zeit wäre? Er war heute abend so selbstsicher gewesen, ein gutaussehender Mann. Die Welt schien dynamisch und vibrierend, ein Hort der Sicherheit, als er sie in der großen Theaterpause beiseite zog und ihr mit Feuereifer klarmachte, daß sie so leicht von hier wegkommen könne, wenn sie es nur wolle … Und da fühlte sie sich frei. Das Rad des menschenfordernden Molochs läuft und läuft 523
weiter. Man kann mit ihm dahinfahren und die vielen Toten und Sterbenden von oben sehen. Hoch oben gibt es einen Platz, von wo man sogar in die safrangoldene Sonne sehen und ihrer Glut widerstehen kann. Über diesem hohen Aussichtspunkt liegt immerwährender Schatten, kühl und besänftigend, der alles Lebende auf Erden dunstig verschleiert wie lindernder Balsam den Schmerz. Komm, steig herauf auf die Plattform, von der du alles überschaust, komm! Aber wo ist das? fragte Santha. Ruh dich aus, Kind. Schlafe. Was bisher eingeschränkt auf Erden war, soll von nun an uneingeschränkt sein dürfen, soll nicht länger in Sonnenhitze verdorren müssen. Millionen sollen auf dem hohen Rad fahren dürfen, ganz oben, wo es einen freien Sitz gibt, ganz ohne Gitter, ohne Halterung. Schlaf und träum davon. Schlaf, Kind. Santha Wrench lag eine Weile ruhig da, einen ratlosen Ausdruck im Gesicht, so, als habe sie etwas verloren und könne sich nicht mehr daran erinnern. Dann schlief sie ein. Als sie zum zweiten Mal erwachte, hatte sie die unbestimmte Erinnerung an einen weiten Ausblick über Zinnen und Türme. Und eine riesige Ebene hatte sie gesehen, mit vertrautem Baumwuchs und mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund. Santha blinzelte, sie hatte das Licht brennen lassen, das ihr jetzt dunkler schien. Über allem schien ein grauer Schleier zu liegen. Sie erhob sich und ging durch dieses Grau in den Flur hinaus, der vollends dunkel war. Santha knipste das Licht an. Es war, als sei das Grau ihr gefolgt. Wurde sie etwa blind? Santha beschloß, hinunterzugehen und demjenigen, der wach war, ihre Ängste mitzuteilen. Vorsichtig und langsam stieg sie die Treppe hinab und versuchte dabei verzweifelt, ihrer Panik Herr zu werden. Nirmal Kapur blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Lampenlicht, trat einen Schritt näher an den dunstig-grauen
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Lichtkreis und blickte auf seine Armbanduhr. Unfähig, das Zifferblatt genau zu erkennen, zog er an der Kette der Stehlampe auf dem Tisch. Wieder mußte er blinzeln. Die Stehlampe leuchtete nicht minder trüb als die Deckenlampe. Das mußte wohl eine Störung auf dieser Seite des Hügelviertels sein, vermutete er. Er setzte sich erschöpft auf den Rand der Couch. Aus einem unerklärlichen Grund hatte er wieder einmal an seine Mutter denken müssen. Und an die früheren Zeiten, seine Drogenjahre. Nirmal überlegte verwundert, warum der Tod seiner Mutter ihn auf einmal so bedrückte. Schließlich gab es zahllose indische Frauen, die auf genau die gleiche Weise gestorben waren. Außerdem hatte er sie nie gekannt. Sie war gleich nach seiner Geburt gestorben. Was er von ihr wußte, wußte er nur aus den Erzählungen seines Vaters. Das Schlimme daran war, daß seine älteren Geschwister so auf die Welt gekommen waren, wie es sich gehört: in einer Klinik. Warum war er so verflucht, daß ihm eine normale Geburt versagt geblieben war? Möglicherweise könnte seine Mutter heute noch leben. Und dabei hatte sein Vater noch in aller Öffentlichkeit die Ignoranz und Barbarei der alten Methoden verspottet! So hatte seine Frau auch während ihrer Schwangerschaften immer die beste Versorgung in der Klinik genossen. Gian Kapur war ein erfolgreicher Kaufmann aus Bombay, ein gebildeter Mann, der stets die Vorteile, welche die britische Kolonialmacht bot, wahrgenommen hatte. Er brauchte sich deswegen nicht zu schämen. Fortschritt und wissenschaftliche Erkenntnisse mußte ein Inder heutigen Tages schon anerkennen, um mit seiner Familie sicherer und gesünder leben zu können. Dennoch war diese Familie jahrelang uneins gewesen. Gians Mutter hatte die Tatsache, daß Gians Frau zur Entbindung in
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die Klinik ging, sehr pikiert aufgenommen. Wieder und wieder hatte sie wütend räsoniert, daß zu ihrer Zeit nur eine spezielle Hütte und eine gute Dhai, eine Hebamme, zu einer Entbindung nötig gewesen seien. Außerdem hatte Gian eine Schwester, die wie die Mutter sehr traditionsverbunden war. Den verbalen Ausbrüchen der Mutter fügte sie religiöse Argumente hinzu, indem sie sagte, wie unpassend es doch wäre, daß eine gute Frau sich in die Hände des Klinikpersonals begäbe, von denen die meisten doch zum Christentum übergetreten seien. Das beweise der indischen Jugend, daß ein Inder einzig und allein von Ungläubigen abhängig sei. Und zum Schluß würden solche Kinder gar den Tempeln und heiligen Stätten fernbleiben. Sie würden die ewigen Werte nicht mehr hochhalten. Dieser Einwand überzeugte Nirmals Mutter schließlich. Sie erklärte ihrem Mann ihre Meinungsänderung und bat ihn, eine Hebamme zu bestellen, die ihr diesmal beistehen solle. Gian lehnte das strikt ab. Als dann aber noch seine Mutter kam und dem Sohn den ganzen Nachmittag und auch noch einen Teil des Abends mit ihren Tiraden in den Ohren lag, schrie er schließlich lautstark: »Ja! Ja! Ja! Aber laßt mich gefälligst in Frieden!« Das genügte. Als die Wehen einsetzten, wurde Nirmals Mutter in eine einige Meter vom Hauptgebäude entfernte Hütte gesteckt. Dort legte sie die Hebamme auf die gleiche schmutzige Unterlage, die schon von einigen anderen Frauen zur Entbindung benutzt worden war. Und nun wurden die alten Methoden angewandt: Die Dhai verstopfte jedes Loch, durch das frische Luft in den Raum eindringen konnte, in dem uralten Aberglauben, daß frische Luft schädlich sei. Dann entzündete sie eine verrußte Kerosinlampe und streute faulig riechendes Pulver in ein Kohlenbecken, um das böse Auge fernzuhalten.
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In der Zwischenzeit hatte es sich Gian anders überlegt. Er rannte vom Haupthaus hinüber zu der Hütte. Unterwegs hörte er bereits die Schreie seiner Frau. Als er in den kleinen Raum stürzte, sah er, daß die Hebamme auf dem Körper ihrer Patientin auf und ab trampelte, um die Geburt zu beschleunigen. Seine Frau, beschämt über seine Anwesenheit, bat ihn, wieder hinauszugehen. Gian ging hinaus und hockte sich draußen vor die Hütte. Erst später erfuhr er, was die Hebamme sonst noch angerichtet hatte. Mit ihren schmutzverkrusteten Füßen hatte sie die Oberschenkel der Gebärenden massiert und Nirmal dabei mit einer Rosenmalvenwurzel herausgezogen. Zuvor hatte sie in den Geburtskanal Lumpen mit Quittensamen, Erdkrumen mit Knoblauch vermischt und Ringelblumen geschoben, die nun, zusammen mit dem Kind, wieder ans Tageslicht kamen. Ganz stolz zeigte sie Gian einen rostigen Nagel auf ihrer schmutzigen Handfläche, mit dem sie das Kind abgenabelt hatte. Als er nach dem Tode seiner Frau gegen sie wütete, erwiderte die Hebamme gleichmütig: »Ich bin für den Willen Gottes nicht verantwortlich. Du kannst dankbar sein, daß das Kind lebt und noch dazu so ein gesunder Junge ist.« Nirmal Kapur krümmte sich innerlich bei dieser Vorstellung … Seine Mutter, die sich in der Hütte vor Schmerzen wand. Das erste Mal nach langer Zeit wünschte er … Nirmal ließ die Hände sinken, die er vor sein Gesicht geschlagen hatte … »Meister Hanuman, hilf mir!« bat er im stillen. Im gleichen Augenblick lenkte ihn ein Kichern ab, das ihn unglaublich ärgerte. Er wandte den Kopf, um über die Schulter zu blicken. Durch den grauen Schleier sah er Santha, die im Flur telefonierte, und glaubte sie sagen zu hören: »Ich bin soweit, keine Sorge.« Dann legte Santha den Hörer auf. Nirmal sah, wie sie durch den Raum ging. Einen Augenblick
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war er verblüfft von ihrer Schönheit. Seine Gedanken wanderten zurück nach Bombay und zu einer bestimmten Berufstänzerin, die mit der Grazie einer Windgöttin tanzte. Ihr Haar hatte genauso ausgesehen, ein fließendes Schwarzblau. Santhas Augen sahen in der sie umgebenden Dämmerung noch dunkler aus als gewöhnlich, und das erste Mal, seit er sie kannte, fühlte sich Nirmal unbehaglich bei ihrem Anblick. Sie sah so sanft aus, so zart und biegsam, so melancholisch, ein Urbild reifer Weiblichkeit. Nirmal wurde nervös und wünschte, diese Störung im Elektrizitätswerk würde endlich zu Ende sein. Santha sagte: »Komisch, zuerst war ich so müde, daß ich in den Kleidern eingeschlafen bin, und jetzt bin ich wach wie nie.« »Ich auch«, sagte Nirmal kurz. Ihr seltsamer Telefonanruf von vorhin machte ihn ein wenig zurückhaltend. »Haben wir eine elektrische Störung? Ich dachte schon, ich würde blind, als ich von oben herunterkam. Dann verlor ich diese Angst wieder. Wo ist denn George?« »Er ist mit Ihrem Vater und Mr. Shastri weggegangen.« »Oh …« Sie bewegte sich seltsam vorsichtig durch den Raum. »Man kann die Dinge wirklich kaum erkennen.« Sie fühlte Nirmals Blick auf sich ruhen. Das verdarb ihr die Laune, und sie wurde im gleichen Augenblick wütend: Immer dieses Beobachtetwerden, dieses neugierige Geglotze. Wo sie stand und ging, wurde sie beobachtet. Während sie am Kamin vorbeiging, griff sie unwillkürlich nach dem Schürhaken in dem schmiedeeisernen Ständer. Du lieber Gott! Santha hielt in der Bewegung inne und kreuzte die Hände über der Brust. Was hatte ihre Hand tun wollen? »Ich bin sofort da«, hatte Kurt gesagt. Sobald sie von oben die Treppe herabkam, hatte sie instinktiv gefühlt, daß Nirmal allein war. Wieso hatte sie das mit solcher Sicherheit wissen können? Sie wich von dem Kamin zurück. Plötzlich hatte sie
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Angst davor. »Thugismus«, sagte sie halblaut zu sich selbst. »Kaum zu glauben, daß es so was wirklich gibt.« »Wie wahr«, stimmte Nirmal zu. Er wird gleich hier sein, dachte Santha mit plötzlichem Entsetzen. O Gott, warum habe ich ihn überhaupt angerufen? Wie komme ich da nur wieder raus? Santha hob einen gläsernen Briefbeschwerer vom Tisch und starrte auf eine Miniaturstadt, auf den fallenden Schnee in der kleinen Halbkugel. Komisches kleines Glasding. »Sie haben Ihre Gitarre mitgebracht«, sagte sie und ging auf das Instrument zu, »vielleicht fühle ich mich ein wenig besser, wenn Sie etwas spielen. Es hebt die Stimmung in diesem verdammten Halbdunkel.« Sie rieb sich über ihren Blusenärmel. »Es gibt mir das Gefühl, als brauchte ich dringend ein Bad.« Nirmal nahm die Gitarre und griff ein paar Akkorde. »Hier ist etwas, was ich in Nova Goa gelernt habe. Portugiesische Gefühlsseligkeit.« »Oh, wie romantisch«, sagte sie, indem sie auf und ab ging und zuhörte. Dabei balancierte sie den Briefbeschwerer in ihrer Handfläche. Ja, dachte sie, in dieser Musik spürt man den tropischen Mond, Wasser, einen Strand und die sich im Mondschein brechenden Wellen. Da sind Liebende, die sich nacheinander sehnen, und sie können den Hunger auf einander in des anderen Augen erkennen und … Er kann jeden Augenblick hier sein. Santha ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Wie konnte sie erkennen, ob es Kurts Autoscheinwerfer waren? Sie beugte sich rückwärts, schaute durch den Raum hinüber zur Couch. Die Gitarrensaiten begleiteten immer noch den Aufschlag der Wellen gegen mondbeglänzte Felsen. Santha hob die Hand, und die gläserne Halbkugel flog durch die Luft. Nirmals Fingernägel schrammten schlaff über das Griffbrett. Santha sah ein schmales Blutrinnsal über seine
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Schläfe sickern. Was habe ich getan! Was habe ich …? Santha kroch über den Teppich zu dem zusammengesunkenen Nirmal hin, erhob sich sodann und ging abermals zum Fenster. Scheinwerfer blinkten auf, tauchten in die Kurve der Brimmer Street und leuchteten wiederum auf. Santha wandte sich um, blickte nochmals zu Nirmal hinüber, blinzelte gedankenverloren in den grauen Lichtschleier und lief dann die Treppe hinunter. Einen Augenblick später rannte sie in Mantel, Schal und Handschuhen hinaus, während ihre Lippen wieder und wieder die Worte formten: »Ich muß mich beeilen! Ich muß mich beeilen! Ich muß mich beeilen!« Sie lief zur Mount Vernon Street. Der Polizeibeamte, der dort am Steuer seines Streifenwagens saß, sah sie kommen und öffnete ihr die Tür. »Was ist los, Miss Wrench?« »Bitte, kommen Sie rein. Nirmal Kapur, wissen Sie, der junge Mann, der bei mir geblieben ist, damit ich nicht alleine bin, muß auf den Kopf gefallen sein. Bitte, helfen Sie mir.« »Selbstverständlich.« Er blickte einen Augenblick lang unschlüssig auf das Funkgerät in seinem Wagen, entschied sich dann aber, den Vorfall später zu melden, und folgte Santha. Sie öffnete die Tür: »Dort drinnen!« Sie wies auf die Tür des Wohnzimmers. Der Beamte ging durch die Wohnungstür an ihr vorbei und betrat den Raum. Im gleichen Augenblick zog sich Santha vorsichtig aus der Eingangstür in den Hausflur zurück und lief hinaus. Sobald sie auf der Straße war, wandte sie sich um und rannte, so schnell sie konnte, zu Kurts Wagen hinüber, sprang hinein, ließ sich auf den Beifahrersitz sinken und zog gerade die Wagentür zu, als der Polizeibeamte aus dem Hause stürzte und hinter ihr herrief: »Halt! Bleiben Sie stehen, Miß Wrench!« Kurt gab Gas, und sie fuhren in Richtung Storrow Drive davon. Santha hielt den Blick auf die Cambridge-Uferpromenade
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gerichtet, deren Straßenbeleuchtung sich rötlich im Charles River widerspiegelte. Der graue Schleier von vorhin war fort. »Er hat meine Wagenmarke und das Nummernschild nicht mehr erkennen können. Gratuliere, das war perfektes Timing!« sagte Kurt. Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie kuschelte sich in ihren Mantel und begann zu weinen. Es war ein haltloses, tiefes Schluchzen. »Was ist denn, Santha?« fragte er. »Ich muß daran denken, daß Nirmal nicht gefallen ist und sich am Kopf verletzt hat. Ich habe ihm einen Briefbeschwerer an den Kopf geworfen! O Himmel, Kurt, ich glaube, ich hab’ ihn umgebracht.« Er legte seine Hand auf ihren Arm, und als er sie wegnahm, fühlte sie immer noch den Druck, warm und beruhigend. »Sie haben ihn nicht umgebracht!« sagte er in überzeugendem Ton. »Wirklich nicht?« »Natürlich nicht.« »Warum kann ich mich an überhaupt nichts erinnern, Kurt! Ich habe furchtbare Schwierigkeiten. Ich glaube, ich verliere den Verstand.« »Es wird Ihnen gutgehen, Santha.« Wieder berührte er sie. Sie atmete tief Luft, drehte das Seitenfenster ein wenig herunter und holte wieder tief durch. »Es ist so still draußen«, sagte sie abwesend und blickte in die Nacht hinaus. »Es ist wohl schon sehr spät? Was machen wir jetzt?« »Sie sagten doch, Sie hätten einen Plan, Ihrem Vater und dessen Freund zu helfen.« »Ja, aber dazu ist es jetzt zu spät. Wo können wir jetzt hingehen? Warum mache ich das überhaupt?« »Wollen Sie, daß ich Sie zurückbringe?« »Nein … Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe …
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O Gott, Kurt, ich habe Nirmal umgebracht.« »Hören Sie auf damit. Nirmal ist okay!« »Woher wollen Sie das so genau wissen?« »Ich fühle es. Das ist alles.« »Fühlen? Sind sie nicht seltsam, diese Gefühle? Als ich Sie anrief, wußte ich irgendwie, daß George und die anderen weg waren.« »Wohin sind sie gegangen?« »Irgendwohin, wo es um diesen Thugismus-Kram geht, nehme ich an.« Sie bogen in die Massachusetts Avenue ein. »Wo bringen Sie mich hin?« »Es gibt ein kleines Restaurant am Fluß, dort, auf der Cambridgeseite. Da können wir noch schnell einen Kaffee trinken, bevor sie schließen. Dann haben wir Zeit, uns zu überlegen, was wir als nächstes tun.« Warum erwähnt er nicht seine Wohnung? fragte sie sich. Warum nimmt er mich nicht mit dahin? Weil er nicht allein mit mir sein will? Ob er Angst davor hat, mit mir allein zu sein …? Santha schwieg, bis sie die Brücke kreuzten. Sie bemerkte, daß er immer wieder in den Rückspiegel schaute. »Werden wir verfolgt? Es ist wohl die Polizei! Der arme Nirmal!« Kurt bog nach links ab und sagte nach einer Weile: »Diese große Limousine war schon hinter uns, nachdem wir losfuhren. Aber nun ist sie weg. Irgendwo die Avenue hinauf.« Er lachte. »Ich glaube, heute bin auch ich fix und fertig. Kommen Sie, wir werden uns beide besser fühlen, wenn wir einen Kaffee getrunken haben.« Die Wirkung des Kaffees blieb jedoch begrenzt. Es war der schlechteste, den Santha je getrunken hatte. Den bestellten Toast rührte sie gar nicht erst an. Kurt Leinster, der stets zuvorkommende Gastgeber, bestellte einen Tee für sie.
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Während sie das heiße Getränk schlürfte, betrachtete Santha Kurts Gesicht und fuhr gedanklich mit den Fingerspitzen die feinen Linien um seinen Mund nach. Wenn ich jetzt im Bett mit dir läge, würde ich dasselbe tun, Kurt, sagte sie zu sich selbst. War dies schließlich nicht der wahre Grund für ihre Flucht heute abend? Santhas Blick löste sich von Kurt und schweifte zum Restaurantfenster und hinaus auf den Parkplatz. Nach einer Weile fragte sie nervös: »Kurt, ist das nicht der Wagen, von dem Sie eben sprachen?« Er wandte sich auf seinem Stuhl um und schaute gleichfalls hinaus. »Kann sein.« Dann lachte er ein wenig heiser. »Ach, kommen Sie, Santha, auch wenn es so ist, ist es bestimmt nur reiner Zufall.« »Kurt, lassen Sie uns gehen!« »Sie zittern ja. Frieren Sie?« »Kurt … ich … ich möchte gehen. Bringen Sie mich von hier weg! Bringen Sie mich in Ihre Wohnung!« »Aber gern«, sagte er. »Aber jetzt gleich, Kurt. Ich will ganz schnell fort von hier.« Ihr Blick war immer noch auf den Wagen da draußen gerichtet. An seinen Fenstern waren Vorhänge zugezogen. Warum fuhren Leute in ohnehin stockfinsterer Nacht mit zugezogenen Vorhängen? Das war ja, als führe man in einer Krypta umher. »Lassen Sie uns jetzt zu Ihnen nach Hause fahren, Kurt!« drängte sie. »Schließen Sie sich mit mir ein! Nehmen Sie mich in die Arme und halten Sie mich lange, lange fest. Und dann gehen wir zusammen ins Bett, bitte!« Er drückte ihre Hand. »Immer!« flüsterte er. »Lassen Sie uns von hier weggehen.« Ohne ein weiteres Wort erhob sich Kurt, um zu zahlen.
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Santha stand auf und wartete, bis er kam und ihr den Mantel über die Schultern legte. Santha hakte sich bei ihm unter, als sie zu seinem Wagen gingen. Auf dem Weg dorthin kamen sie auch an der Limousine vorbei. Santha betrachtete prüfend die Windschutzscheibe. Dahinter war niemand zu sehen. Sie streckte sich erleichtert, lachte und zog ihn spielerisch mit sich. »Kannst es nicht erwarten?« fragte Kurt. »Das verrat’ ich nicht«, erwiderte sie. Als sie im Wagen saßen, nahm Kurt sie in den Arm, küßte sie lange, drückte sie dabei sanft in den Sitz zurück, und sie fühlte sich wieder sicher und warm. »So, und jetzt fahren wir«, sagte Kurt und hatte die Hand am Zündschlüssel. Santha richtete sich plötzlich auf, rieb sich die Nase und schnüffelte. Der Duft nach Attar-Rasierwasser! »Kurt!« wollte sie rufen, aber schon legte sich ihr ein übelriechender Lappen über Mund und Nase. Seitlich von ihr zuckte etwas durch die Luft. Kurt Leinsters Profil verzog sich zu einer grotesken Grimasse mit hervorquellenden Augen, mit weit geöffnetem Mund, der verzweifelt nach Luft rang. Ein Alptraum … Das letzte, was Santha sah, bevor ihr das Bewußtsein schwand, waren die riesigen, braunen Hände, die den gelben Seidenschal um seinen Hals zusammenzogen …
43 Auf dem Parkplatz vor dem Mai-Yogini-Yoga-Center saß Polizeileutnant Terranova in seinem Wagen und starrte die Wandgemälde an. Er war im Begriff, ungesetzlich zu handeln, und war noch nicht ganz darauf vorbereitet. Um sich zu moti534
vieren, nahm er die Fotos der Thug-Opfer aus seiner Tasche und blätterte so lange, bis er das eine mit dem Baby fand, dessen Kopf zerschmettert worden war. Das würde die gewünschte Wirkung haben. Terranova stieg aus dem Wagen. Gleich darauf stand er vor der gläsernen Eingangstür des Centers und drückte auf den Klingelknopf, der in eine große Holzplatte rechts neben der Tür eingelassen war. Vielleicht würde der Chauffeur des Centers, Duane Longstreet, ihm aufmachen, dachte Dan, denn er hatte Mai Yoginis Limousine auf der anderen Seite des Gebäudes stehen sehen, genau vor dem rückwärtigen Eingang. Wieder drückte er auf die Klingel. Eine Jalousie ging hoch, und er sah, daß sich jemand, drei Fenster weiter, hinausbeugte. »Lassen Sie mich herein!« bat Terranova. »Gehen Sie, es ist noch viel zu früh«, erwiderte Longstreet und schloß das Fenster wieder. Terranova lehnte sich auf den Klingelknopf und nahm eine lange Zeit den Finger nicht weg. Aber niemand kam. Terranova fluchte und ging an der Hauswand entlang. Vor dem dritten Fenster hob er eine Handvoll Steinchen auf und warf sie gegen die Scheiben. Longstreet hob den Vorhang, preßte seine Nase gegen das Fensterglas und rief: »Hau ab!« »Mach die verfluchte Tür auf!« schrie Terranova zurück. Duane Longstreet zeigte ihm den Vogel und ließ den Vorhang sinken. Terranova fluchte und scharrte mit seinen Schuhen auf dem Boden, bis er wieder genug Steinchen zusammenhatte, die er wiederum gegen das Fenster schmiß. Anschließend kehrte er zum Haupteingang zurück und läutete weiter. Er starrte durch die Glastür in den Vorraum, von dem wiederum eine andere Glastür in die große Empfangshalle führte. Dort befand sich, wie er sich erinnerte, die Rezeption mit überall Blumenschmuck. Terranova glaubte, daß sich jemand im Dunkeln be-
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wegte. Plötzlich ging die Deckenbeleuchtung an, und er sah Mai Yogini, die in ein durchsichtiges Neglige gehüllt war, das halb wie ein Kimono und halb wie ein Sari aussah. »Claudine«, sagte Terranova, »ich muß Sie sprechen!« »Bitte, Leutnant. Jetzt muß ich meditieren. Das tue ich jeden Morgen bei Sonnenaufgang.« »Lassen Sie mich rein, oder ich verschaffe mir mit Gewalt Zugang.« Sie runzelte die Stirn und öffnete schließlich die Tür. »Was tun Sie denn hier um diese Zeit, Leutnant?« »Es ist dienstlich. Machen Sie endlich auch die äußere Tür auf. Ich muß mit Ihnen reden.« »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, Leutnant?« »Nein. Aber falls es das sein sollte, was Sie nervös macht, dann rufen Sie doch die Polizei an. Ich bitte sogar darum. Es wäre gar nicht schlecht, wenn sie kämen.« »Wirklich, Leutnant Terranova. Sind Sie sich da ganz sicher?« Dan Terranova stieß mit dem Fuß gegen die Glastür. »Lassen Sie das! Sind Sie verrückt geworden? Sie machen das Glas kaputt!« »Dann lassen Sie mich endlich rein!« Die Yogini warf verzweifelt die Hände in die Luft, durchschritt den kleinen Vorraum und öffnete das Schloß der Haupteingangstür. Als sie beide in der Halle standen, sagte sie: »Sie haben fünf Minuten Zeit, nicht länger. Was ist denn so wichtig, daß es nicht noch etwas hätte warten können?« »Dies hier!« Er hielt ihr die Fotos entgegen. Die Yogini nahm sie nicht, studierte statt dessen sein Gesicht und die zornerfüllten Augen. »Sehen Sie sich das an!« Sie hob zitternd die Hand. Er legte ihr die Finger um die Fotos, die glänzende Seite in
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ihrer Handfläche. »Drehen Sie sie um.« »Was für … Bilder sind es?« fragte sie. Das machte ihn nur noch zorniger. »Schauen Sie gefälligst hin!« schrie er fast. Langsam drehte Mai Yogini die Bilder um und erstarrte, während sie sie betrachtete. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Terranova sah es kommen: Er fing sie auf, und Sekunden später trug er sie zur Treppe, welche zu ihren Wohnräumen führte. »Longstreet!« schrie er. »Kommen Sie her und helfen Sie mir!« Er mußte noch einige Male rufen, während er die Bewußtlose auf den Armen zum zweiten Stock hinauftrug. Mai Yogini hatte die Augen immer noch geschlossen. »Verdammter Hundesohn!« knirschte Terranova zwischen den Zähnen und stieß mit dem Fuß gegen die halbgeöffnete Wohnungstür. Er ging ins Wohnzimmer und legte sie auf ein Sofa. Dann eilte er ins benachbarte Badezimmer, fand einen Waschlappen und hielt ihn unter kaltes Wasser. Er ging zu ihr hin, befeuchtete ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Handgelenke. Mai Yogini stöhnte. Wieder ging er ins Bad, füllte ein Glas mit Wasser, kam zurück, hob ihren Kopf an und sah zu, wie sie das Wasser trank, den Blick ihrer großen, ausdrucksvollen Augen auf ihn gerichtet. Auf ihrer feinen olivfarbenen Haut glitzerten Tränen. »Drüben in dem Schränkchen steht Brandy«, sagte sie. »Bitte!« Das Schränkchen war antik, aus gelacktem Holz. Er fand die Brandyflasche, nahm ein feingeschliffenes kleines Glas mit ziseliertem Blumendekor heraus, goß etwas Brandy hinein und brachte es ihr. »Sie sind zwar keine Thug«, sagte Terranova grob und kurz angebunden, »aber Sie haben Verbindung zu ihnen. Sie sind für mich die einzige Möglichkeit, um ihnen das Handwerk zu
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legen.« Mai Yogini trank das Glas in einem Zug aus, holte tief Luft und hielt ihn am Arm fest. »Es ist jemand hier!« sagte sie. »Klar. Sie und ich.« »Seien Sie nicht dumm, Dan. Wir sind nicht allein.« Terranova zog seine Hand weg und streifte dabei ihre Brust. Er stand auf und rieb sich die Knöchel, mit denen er sie berührt hatte. Dann ging er quer durchs Zimmer, öffnete drei große Schränke, eine riesige, geschnitzte Truhe, die, wie er feststellte, haufenweise teuere, indische Schals enthielt. Dann sah er, daß die Tür immer noch angelehnt war, ging hin und schloß sie. »Hier ist niemand.« »Schauen Sie in den anderen Räumen nach.« Das tat er, diesmal mit dem Revolver in der Hand. Im Bad machte er seine erste üble Erfahrung. Er zog den Duschvorhang zurück, und als er sich wieder umwandte, glaubte er, etwas vorbeihuschen zu sehen. Er eilte daraufhin sofort in den Flur und von dort aus ins Ankleidezimmer und ins Schlafzimmer. Er durchsuchte alle Schränke, stieß die Kleider zur Seite und schaute gründlich, was sich dahinter befinden könne. Er sah unter ein kleines, zweisitziges Sofa, unter die Sessel und unter das Bett. Als er in den Flur zurückging, glaubte er wieder, etwas vorbeihuschen zu sehen. »Es sind nur die Strahlen der aufgehenden Sonne, die von den Wänden reflektiert werden«, versuchte er ihr zu erklären, als er zurückkam, aber er glaubte es selbst nicht. Yogini lag immer noch flach ausgestreckt. Der Ausdruck ihrer Augen war jetzt ruhiger. »Setzen Sie sich«, sagte sie und zeigte auf den Sofarand. Terranova tat es. »Ich fühle mich jetzt wohler«, sagte sie. »Ich weiß auch, daß Sie recht haben.«
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»Werden Sie uns dann helfen?« Ein stummes Nicken. »Nehmen Sie die Brille ab!« sagte sie. »Warum?« »Ich möchte Sie küssen. Sie sind ein wirklicher Mann, Dan Terranova, keiner von den jammernden Neurotikern, die hierherkommen, um den Pfad der Wahrheit und einen Halt zu finden. Das brauchen Sie nicht. Das sieht man Ihnen an.« »Finden Sie das gut?« »Sehr. Ich will Sie küssen.« »Bleiben wir beim Amtlichen. Sie wissen, wo die Thugs sind und was Thugismus bedeutet.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das hilft auch nichts. Keine Tränen mehr, Claudine. Nur Tatsachen. Ich will wissen, wo sie sich aufhalten, wie viele es sind und wer ihr Anführer ist. Also nun los!« »Ich habe Angst, Dan.« »Ich weiß.« »Ich habe noch nie jemanden getötet. Ich bin oft ein schlechter Mensch, aber keine Mörderin.« »Na gut, ich glaube Ihnen. Aber neulich haben Sie Swami Hanuman hierhergelockt, oder etwa nicht?« Mai Yoginis Blick wich dem seinen aus. Wieder war die Tür zum Flur angelehnt, und sie sah, wie Duane Longstreet hereinschlich. »Ja, das habe ich«, gab sie schließlich zu. »Sie haben mich dazu gezwungen.« Sie legte die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich herunter. Er versuchte, sich zu befreien, doch da preßten sich schon ihre Lippen gegen seine, und sie fühlte, wie seine Anspannung sich in ihrer Umarmung lockerte. Wie widerlich, dachte sie, wie ekelhaft, es auf diese Weise zu tun. Aber Sie war die ganze Zeit im Raum gewesen, die Mutter war hier hindurchgeschwebt, eine nicht faßbare Er-
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scheinung, eine Bedrohung, die ihr peripheres Wahrnehmungsvermögen erreicht hatte. Duane Longstreet schob sich langsam hinter sie. Terranova hob den Kopf, aber sie zog ihn wieder zu sich und ihren Lippen herunter. Seine Hände glitten an ihren Schenkeln entlang, und sie genoß es in tiefen Atemzügen. Es war wunderbar, ihn zu fühlen, ihn zu riechen, so wundervoll, so hart, so männlich. Welch eine Verschwendung, solch perfekte Männlichkeit einfach auszulöschen. Mai Yogini bog den Kopf zurück, als Terranova nun ihre Küsse erwiderte. Ihr Blick fiel auf die Glasplatte des Couchtisches. Sie erkannte, wie Longstreet ungeschickt an der Schlinge nestelte. Im gleichen Augenblick wurde Terranova steif vor Anspannung, er warf sich zurück und rammte sein Knie mit äußerster Kraft zwischen ihre Beine. Der Schmerz war unbeschreiblich. Mai Yogini schrie auf und versuchte, seinen Körper von sich zu schieben. Sein Bein war nun wieder gestreckt, aber immer noch lag er schwer auf ihr. Die Schlinge schnitt ihm tief ins Fleisch, und Longstreet hatte so brutal zugezogen, daß sich die Seide des Schals blutig färbte. Terranovas Augen quollen mehr und mehr aus ihren Höhlen. Doch so verzweifelt er auch hinter sich griff, er konnte den Thug nicht erreichen. Longstreet kniete ihm nun auf den Lendenwirbeln. Mai Yogini brachte es fertig, die Waffe in seinem Gürtel zu fassen. Sie wollte sie so drehen, daß sie ihm in den Bauch schießen konnte, und damit seine Qualen beenden. Doch Terranova, obwohl halb besinnungslos, kroch ein Stück weiter nach vorn und preßte auf diese Weise ihre beiden Arme angewinkelt auf ihren eigenen Bauch. Mit dem freien Bein stieß sie wie wild um sich und trat Longstreet gegen das Schienbein. Dieser taumelte nach vorne und lockerte für einen Augenblick die Schlinge. Terranova konnte seinen Körper etwas anheben, und Mai Yogini bekam eine Hand frei, doch Terranova schmet-
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terte ihr Handgelenk mit äußerster Kraft auf den Glastisch, so daß der Revolver aus ihren blutenden Fingern zu Boden fiel. Sie stöhnte auf und sah, wie Longstreet sich bemühte, die Schlinge wieder in den Griff zu bekommen. Sie ergriff einen Splitter der zerbrochenen Tischplatte und drückte sie mit der ganzen Kraft in Longstreets Halsschlagader. Die Schlinge fiel endgültig von Terranovas Hals. Er fühlte, wie Blut gegen seine Wange spritzte, schob Longstreet von sich weg und starrte nur den Thug an, der sich wie ein Wahnsinniger gebärdete, gegen Wände und Möbel taumelte, während er vergeblich versuchte, die Blutfontäne, die aus seinem Hals sprudelte, zu stoppen. Obwohl es ihm gelang, den Glassplitter, der ihm immer noch im Halse steckte, herauszuziehen, verströmte die Arterie unvermindert seine Lebenskraft. Dan Terranova hielt sich mit beiden Händen den Hals und hustete trocken. Longstreet brach schließlich entkräftet vor dem lackierten Barschränkchen zusammen. Mai Yogini rannte aus dem Zimmer. Dan Terranova fand sie, den Rücken gegen die Wand gepreßt, zitternd in ihrem Schlafzimmer. Ohne Besinnung schlug er zu: »Sie haben mich festgehalten, damit man mich umbringen kann!« »Dabei habe ich Ihr Leben gerettet!« schrie sie zurück. »Sie haben gerade einen von ihnen getötet. Das werden sie Ihnen nie verzeihen. Das wissen Sie auch ganz genau. Es ist besser, Sie sagen mir jetzt gleich, wo sich die Schweine verstecken, wenn sie nicht gerade dabei sind, anderen Leuten die Luftröhren zuzudrehen!« Wieder begann Mai Yogini zu zittern. Aber allmählich konnte sie sich in den Griff bekommen. Das Blut, das ihr aus dem Mundwinkel floß, tropfte auf ihr Gewand. Sie blickte verwirrt durch den Raum. Vielleicht war in Duane Longstreets Todeskampf der Geist der Kali verschwunden? Doch wie auch immer, Dan hatte recht. Es blieb ihr keine Wahl.
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44 George Buchans Audi bog mit quietschenden Reifen in den Otis Place ein, was ein Dutzend Polizisten im Innenhof des Hauses alarmierte. Wrench, der als erster aus dem Wagen sprang, fragte einen der Beamten: »Irgendein Lebenszeichen von ihr?« »Mr. Wrench, wir haben die Personenbeschreibung Ihrer Tochter durch das ganze Land geschickt, aber bis jetzt war es erfolglos.« Wrench schlug unbeherrscht auf die Autohaube. Kurz zuvor, auf der Begräbnisstätte, hatte Jacob Ark sämtliche Leichen identifiziert. Er hatte auch festgestellt, daß seine zwei kleinen Schwestern, die Zwillinge, und vielleicht noch zwei weitere kleine Mädchen nicht dabei waren. Shastri war gerade im Begriff gewesen, den Behördenvertretern die Motivation der Thugs zu erklären, als über Funk die alarmierende Nachricht kam, daß Santha Nirmal Kapur überfallen hatte und mit Hilfe eines Fremden in einem Wagen geflohen war. Daraufhin war George in einem Tempo, das gegen alle Verkehrsregeln war, nach Hause gerast. In der Wohnung fanden sie Nirmal mit bandagiertem Kopf liegen. Ein Sanitäter maß gerade seinen Blutdruck. Wrench ließ sich aufstöhnend in einen Sessel fallen und fragte freundlich: »Geht es Ihnen etwas besser, mein Junge?« »Es tut mir leid, daß ich Sie so enttäuscht habe, Mr. Wrench.« »Das ist nicht Ihre Schuld, mein Sohn. Die Kleine ist offenbar verrückt geworden. Sie hätte Sie lebensgefährlicher verletzten können.« 542
»Sie wollte mich bloß eine Weile ausschalten. Mensch, mein Kopf dröhnt!« Rama Shastri sah Hanumans Turban herumliegen. »Wo ist der Swami?« »Ich habe ihn angerufen, sobald ich dazu in der Lage war. Er ist im oberen Stock und testet dort die Vibrationen, nehme ich an.« »Die Polizei sagt, draußen hätte ein Wagen gewartet.« »Genauso war es«, bestätigte der Polizeibeamte, der gewacht hatte. Er berichtete den Hergang und schloß: »Es tut mir leid, ich hätte besser aufpassen sollen, und um die Sache noch schlimmer zu machen, ich habe weder die Wagenmarke noch die Zulassungsnummer erkennen können.« »Ihre Vorgesetzten hätten lieber zwei anstatt nur eine Wache postieren sollen«, meinte Wrench verbittert. »Aber die haben das alles ja wohl nicht so ernst genommen.« Er dachte an das Massengrab, von dem sie soeben kamen. »Jetzt werden sie’s wohl endlich tun«, schloß er grimmig. Ein Kriminalbeamter, der geduldig gewartet hatte, räusperte sich. Er blickte in sein Notizbuch und begann: »Ich bin Inspektor Abbot. Was Miß Wrench anbelangt …« »Ja, was ist mit ihr?« »Da Mr. Kapur sich weigert, sie verfolgen zu lassen, befindet sie sich natürlich auch nicht in unserer Fahndungsliste. Jedenfalls steht es außer Zweifel, daß Ihre Tochter eine kranke Frau ist. Können wir davon ausgehen, daß sie gewalttätig wird, vielleicht eine Waffe bei sich trägt?« »Was Santhas geistige Verfassung anbelangt, können Sie alles mögliche vermuten, aber meine Tochter bewaffnet? Niemals!« »Hat einer von Ihnen eine Ahnung, wer den Fluchtwagen gefahren haben kann?« fragte der Beamte weiter. »Und das möglicherweise bewaffnet?« Er kritzelte eine entsprechende Notiz
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in sein Buch. Rama Shastri blickte zu George Buchan hinüber, der sich in die entfernteste Zimmerecke zurückgezogen hatte. »Keinerlei Vermutung? Kein Hinweis?« fragte der Beamte nochmals. »Konnte sie einen Freund haben, der ihr zu fliehen half? Ich meine einen wirklichen Freund, einen Liebhaber?« Wrench runzelte die Stirn und suchte nach seiner Pfeife. »Kurt Leinster«, flüsterte George. Der Kriminalbeamte wandte sich ihm zu: »Verzeihung, Sir. Ich habe es nicht verstanden. Könnten Sie bitte so freundlich sein, mir Ihren Namen zu nennen und mir zu sagen, warum Sie hier sind?« »George Buchan. Dies ist meine Wohnung.« George fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar. »Kurt Leinster«, fuhr er mit heiserer Stimme fort. »Buchstabieren Sie das bitte.« George tat es. »Und Leinsters Anschrift und Telefonnummer?« George gab beides an. »Welche Wagenmarke fährt dieser Mann? Kennen Sie die Zulassungsnummer?« »Natürlich nicht!« George schrie es fast, beschrieb jedoch Kurts Wagen. »Käme sonst noch jemand in Frage?« »Jemand anderen kann ich mir nicht vorstellen.« »Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß sie mit jemandem floh, den sie kannte und dem sie vertraute.« Alle stimmten dem zu, doch konnte niemand mit Sicherheit sagen, wer sonst noch in Frage käme. »Und warum glauben Sie, daß Leinster derjenige ist?« fragte der Kriminalbeamte George. »Santha … mag ihn … genug?« Der Beamte kritzelte wiederum in sein Notizbuch. Dann
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ging er, gefolgt von dem Polizeibeamten, der Wache gehalten hatte. »Wieso denkst du an Kurt Leinster, George?« unterbrach Wrench die eingetretene Stille. »An wen denn sonst?« »Santha hatte doch auch noch andere Freunde.« »Aber niemanden, der das tun würde. Außerdem hatte sie die Möglichkeit, es in aller Ruhe mit ihm zu vereinbaren. Erinnere dich, er war gestern abend bei uns zu Besuch. Seit Wochen ist keiner der anderen Freunde in Santhas Nähe gekommen. Ja, ja, sie hatte die Gelegenheit, so etwas Verrücktes mit Kurt zu arrangieren. Gott weiß, was sie ihm erzählt hat.« »Es tut mir leid, George«, Wrenchs Stimme klang müde, »daß Santha dir das angetan hat. Und ich meine es wirklich.« Shastri entschloß sich, mit seiner Meinung nicht zurückzuhalten. »George, Steve, möglicherweise war Santha in eben diesem Augenblick nicht zurechnungsfähig? Ich will damit nicht sagen, daß sie geisteskrank ist, jedenfalls nicht in der Art, in der man Geisteskrankheit üblicherweise definiert. Ihr dürft nicht vergessen, wie Kali in der letzten Zeit auch meine Gedanken und Vorstellungen irritiert hat. Terranova geht es übrigens genauso. Er ist fast …« Shastri sprach nicht weiter. Hanuman, einen Finger auf den Lippen, hatte den Raum betreten und bedeutete den Anwesenden, zu schweigen und zu lauschen. Und dann hörten sie es alle: ein Raunen und Flüstern, das von oben kam. Unverständliche Worte, heisere Töne. Der Fußboden begann unter einem langsamen, fast tanzenden, aber sehr nachdrücklichen Schritt zu knarren. Dazu hörten sie das metallische Klirren von Fußreifen und gleichzeitig einen fremden, hohlen Ton, der allen, die es hörten, die Haare zu Berge stehen ließ. Er drang aus dem oberen Stockwerk, aus Georges Arbeitszimmer, in dem auch Santhas erschreckendes Porträt in einer Mappe aufbewahrt lag.
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Hanuman spuckte in die Handflächen und blickte Stephen Wrench an. Dann legte er ihm die so angefeuchteten Hände über die Augen, worauf Wrench verblüfft nach einem Taschentuch suchte, um sich die Augen wieder abzuwischen. Statt dessen riß er sie jedoch nur noch sprachlos auf. Nicht mehr als etwa fünfzig Zentimeter über ihren Köpfen, jedoch bis zur Zimmerdecke reichend, sah er ein durchsichtiges, graues Nebelpolster, welches durch das Zimmer hinaus in den Flur und treppauf zog. Hanuman war eifrig damit beschäftigt, die Augen der übrigen auf die gleiche Weise zu beeinflussen. Die Schritte, das metallische Klimpern, die seltsam hohlen Laute verstärkten sich. Plötzlich klingelte das Telefon. Hanuman flüsterte Rama Shastri zu: »Heben Sie ab. Antworten Sie so kurz wie möglich. Danach schweigen Sie und sprechen erst, wenn ich Ihnen das Zeichen dazu gebe.« Shastri nickte und ging in den Flur hinaus. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, als er die graue Masse erblickte, die in der Zwischenzeit die Treppe hinaufgekrochen war. Mit schweißnasser Hand hob er den Hörer ab: »Ja bitte?« »Wer ist da? Hier spricht Dan Terranova.« »Shastri.« »Gut. Ich habe von Mai Yogini erfahren, wo der ThugAshram ist. Hier ist die Anschrift.« Shastri schrieb, riß das Blatt vom Notizblock und schob es in seine Jackentasche. »Wir treffen Sie gleich dort«, sagte er. »Ich kann nicht lange sprechen.« Dann legte er auf. Was immer sich von oben näherte, hatte bald den mittleren Treppenabsatz erreicht. Shastri ging schnell ins Wohnzimmer zurück. Dort standen die anderen und blickten durch die offenstehende Tür auf die Treppe hinaus. Von dort aus war bereits
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etwas zu erkennen, wiewohl noch in das umgebende Grau eingebettet. Dann glitt die graue Nebelbank schräg ins Wohnzimmer hinein. Die Temperatur war jäh gefallen. George, der der Tür am nächsten stand, begann sich die Arme zu reiben und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern. Sein Blick blieb an der letzten Treppenstufe haften. Jetzt kamen die rhythmischen Schritte näher, viel lauter als zuvor. Man sah einen nackten Fuß mit Metallreifen, der sich ausstreckte und die begrenzte graue Fläche betrat. Die Stufen knackten, als ob sie ein schweres Gewicht zu tragen hätten. Jetzt sah man ein abgewinkeltes Knie, den Schenkel, den Bauch und den Gürtel. Alles war sehr schwarz, aber kein menschliches Schwarz. George mußte an Teer denken, an eine dick verschmutzte, mit Schmierfett überzogene Radnabe. Die Gestalt hatte menschliche Umrisse. Ihre Bewegungen jedoch wirkten automatisch, fast wie die eines Roboters. Rhythmisch und zuckend trat sie ins Wohnzimmer. George wich zurück. Er konnte in dem Schwall arktischer Kälte, die aus dem Flur drang, kaum noch atmen. Sein Haar, seine Brauen, seine Nasenspitze waren im Nu vereist. Auch die Möbel bedeckten sich mit Reif. Er dachte, sie müßten jetzt alle erfrieren. Als er zu Wrench und Shastri hinüberblickte, sah er, daß auch sie sich die Hände rieben und mit den Füßen stampften. Hanuman war auf einmal verschwunden. George blickte zur Couch, erkannte jedoch nur Nirmal, der sich zurückgelegt und eine Decke bis zu den Ohren hinaufgezogen hatte. Wohin war der Swami gegangen? »Bivo Vishwanath!« hörte George, wandte sich um und sah Hanuman der Gestalt entgegengehen. »Pahi, Pahi!« Immer wieder und wieder rief Hanuman den Herrn des Universums an, Vishwanath, daß er sie alle beschützen möge. Die Gestalt, das linke Bein erhoben, im Begriff, einen Schritt zu vollenden, blieb stehen. Dann hörte man ein lautes Rauschen, etwas, das Übles
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verhieß. Die Luft wurde dick, ein schwerer Gestank erfüllte den Raum, und alle glaubten, sich erbrechen zu müssen. Die unheimliche Erscheinung erklomm tänzelnd die schiefe graue Fläche über ihren Köpfen. Teils schreitend, teils tanzend, drang sie ganz allmählich durch den schmutzigen Dunst zu ihnen vor. Ihre vier Arme zuckten und wanden sich in gleichmäßigen Rhythmen, die zu disharmonischen Tönen anschwollen. In der einen Hand hielt die Gestalt das bluttriefende Schwert, welches dem Dämonen Raktavija das Haupt vom Rumpf getrennt hatte. Eine lose geknüpfte Schlinge war über den unteren Arm gehängt. Die dritte Hand hielt die geheiligte Spitzhacke, während die vierte Hand mit dem Zeigefinger auf jeden der Männer wies, die ihr zu Füßen standen. »Schaut ihr nicht ins Gesicht!« warnte der Swami, aber seine Warnung kam zu spät. Bis zu diesem Augenblick waren ihre Gesichtszüge unkenntlich gewesen, hinter dem grauen Schleier verborgen. Doch nun wurden sie deutlicher, menschlicher. Auch ihr Tanz wurde weniger abrupt, weniger mechanisch, hörte schließlich ganz auf. Und nun stand sie bloß da, ohne zu tanzen. Ihre Gesichtszüge, ihre Glieder schienen auf einmal lebendig zu pulsieren. Selbst der Gürtel um ihre Hüften, an dem viele Schädel befestigt waren, verlor seinen Schrecken durch die Menschlichkeit, die plötzlich in diesem Gesicht zum Ausdruck kam. Wrench schrie auf, und die anderen taten es ebenfalls. Nur Hanuman schwieg. Wrench sah Kamala und dann Santha, die auf ihn herniederblickten. Shastri erblickte das traurige Gesicht von Ileana, George erkannte Santha, sah, wie ihre Lippen seinen Kosenamen Kesari formten, und Nirmal blickte in das Gesicht, das er nur von Fotografien her kannte, in das Gesicht seiner Mutter. Jetzt kniete die Göttin. In ihren Augen lagen tausendfache, schmerzliche Erinnerungen. Sie wandte sich jedem der Männer zu, von denen jeder in ihr seine eigene Trauer, seine eigene
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Sehnsucht und seine Liebe erblickten. Sie schien wortlos mit ihnen Zwiesprache zu halten, und alle brachen in Tränen aus und riefen weinend durcheinander. Nur Hanuman erkannte die dämonischen Augen, die spitzen Fangzähne, von denen Blut troff, und die hängende Zunge, die sich zuckend über dem Kinn bewegte. Nachdem sie sie geistig geködert hatte, hockte sich die Göttin Kali, die Menschenfresserin, hin. Dabei öffnete sich ihre Vulva. Dies war nun eine völlig andere Lockung: lästerliche Geschlechtslust, zwingend gegen alle Vernunft, krallte sich in ihrem Bewußtsein fest, zerrte an ihren vitalsten Bedürfnissen. Das schwarze Schamhaar sprang in wilder Fülle hervor und versprach süße Vergessenheit. Die feuchtglänzenden Schamlippen schienen den vier wie gelähmt dastehenden Männern Küsse zuzuhauchen. Hanuman raste von einem zum anderen und befeuchtete abermals die Augen. Als sie wieder aufblickten, war alles in einem grauen Tunnel verschwunden. Wieder hielt Hanuman einen Finger gegen die Lippen und wies sie schweigend an, das Haus zu verlassen.
45 Santha Wrench wollte nicht aufwachen. Aber irgend etwas jenseits ihrer entsetzlichen Kopfschmerzen drängte sie, sprach mit wirren, fast unverständlichen Worten auf sie ein. Die Stimme schien links von ihr zu sein, so nahe, als preßten sich Lippen direkt auf ihr Ohr. Und diese Stimme befahl ihr, die Augen zu öffnen. Als Santha sich schließlich dazu überwand, sah sie, daß sie auf einer rechteckigen Unterlage lag, einen Baldachin und Sei549
denvorhänge über und um sich. Durch die Vorhangspalten fiel in gleichmäßigen Abständen Licht und schien ihr ins Gesicht. Das zeigte, daß ihre kastenähnliche Liege getragen wurde, die sich in gleichmäßiger, schwankender Bewegung befand. Die Stimme dröhnte und schmeichelte. Die Kopfschmerzen würden bald vergehen, versprach sie, und tatsächlich ließen die Schmerzen allmählich nach. Sie erhob matt die Hand, um den Vorhang ein wenig zurückzuschieben, und dann schaute sie, dem Drängen der Stimme folgend, hinaus. Die Stimme befahl ihr, sich auf ihrem Ellbogen aufzurichten und den Kopf über den Rand ihres Lagers hinauszustrecken. Santha erblickte eine düstere, felsige Landschaft. Die gelbe Erdkrume barst unter den gigantischen Rädern eines zweistökkigen Karrens, der jenen Wagen glich, die von den Bauern im Punjab verwendet wurden. Die Luft war von wirbelndem Staub erfüllt, so daß sie kaum etwas erkennen konnte. Sie konnte jedoch feststellen, daß sie in dem oberen Stock des zweistöckigen Wagens lag und daß die Vorhänge des unteren Lagers fest zugezogen waren. Es muß wohl durch jemand anderen besetzt sein, dachte sie. Doch an dieser Stelle unterbrach die Stimme ihre neugierigen Überlegungen. Sie wurde lauter und zwang Santha, sich nach drinnen zurückzuziehen und sich wieder auf den Rücken zu legen. Sobald sie halbwegs zur Ruhe gekommen war, wurde die Stimme wieder vertraulicher, weicher, flüssiger, nicht mehr so abgehackt. Santha merkte, daß sie manipuliert wurde. Aber von wem und durch was? Die Stimme war so nahe, so mit ihrem Bewußtsein verknüpft, daß sie nicht hätte sagen können, ob sie weiblich oder männlich sei. Nun wurde ihr befohlen, die Augen zu dem Baldachin zu erheben, dessen Oberfläche aus einem hellen Orange und von einer Struktur des Gewebes, das an Holzmaserung erinnerte,
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war. Als Santha genauer hinsah, erkannte sie brahmanische Schrift. Ihr Verstand klärte sich allmählich, und schließlich stieg auch die Erinnerung an die Pergamentschriftrolle wieder in ihr auf. Die Worte auf der Innenseite des Baldachins waren in vedischem Sanskrit geschrieben. Während Santha die untere Zeile zu entziffern versuchte, stellte sie fest, daß es die gleiche Schrift wie die auf dem Pergamentfetzen war. Doch es war, als sei die ganze Schriftrolle auf den Baldachin übertragen worden, damit sie ihren gesamten Inhalt kennenlerne. Und sie verstand es jetzt auch ohne Schwierigkeiten. Sie konnte indisches Sanskrit jetzt so leicht lesen, als läse sie Englisch. Weder die Sprache noch die Schriftzeichen machten ihr, wie das vorher der Fall gewesen war, Mühe. Während ihre Augen die altertümlichen Zeichen lasen, begannen ihre Lippen, die Worte zu formen und laut auszusprechen. Gemeinsam mit ihr las die Stimme das Dokument von der grimmigen Mutter. Während Santha weiterlas, klärten sich nicht nur ihre Gedanken, sie begriff jetzt auch Zusammenhänge. Bestimmte Vorstellungen und Bilder glitten an ihrem inneren Auge vorbei. Sie fühlte und erblickte dunkle Geheimnisse, die in unauslotbaren Tiefen verborgen waren. Santha empfand die Wogen des Bösen so zeitlos, daß sie sinnlich nicht mehr zu erfassen waren. Das Böse, das in einem eigenen Universum wucherte und einer eigenen Gesetzmäßigkeit gehorchte. Mit jedem der Worte, die sie vom Baldachin über ihr ablas, fühlte sie dessen Macht, und ihre Stimme erhob sich fast zum Diskant, als sie bei den letzten Zeilen angelangt war. Die Kraft, die darin zum Ausdruck kam, riß sie mit. Kein Zweifel, dieser Schriftrollentext konnte Mächte erwecken und herbeirufen. Und … Etwas näherte sich, war im Begriff, Gestalt anzunehmen. Santha Wrench hörte zu lesen auf. Es ging nicht mehr. Die ständig gegenwärtige Stimme wurde ärgerlich, drohte, forderte,
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zerrte an ihrem Bewußtsein und wollte ihren Widerstand niederreißen. Aber ihr Wille wehrte sich, wollte sich nicht ergeben. Plötzlich war die Stimme fort. Santha wartete, völlig verblüfft, in der eingetretenen Stille. Auch die Schriftzüge auf dem Baldachin verschwanden, das kräftige Orange verblaßte. Santha spürte, daß das Fahrzeug auf einmal langsamer wurde und dann anhielt. Wieder wartete sie, was geschehen möge. Unvernünftige Furcht stieg in ihr auf. Die Vorhänge teilten sich, und fremde Hände hoben sie heraus. Sie wurde über die Köpfe vieler Frauen gehalten, deren Gesichter völlig ausdruckslos waren. Santha mußte im hellen Sonnenlicht blinzeln. Sie wandte den Kopf zur Seite und schaute nach unten. Von der unteren Liegefläche zogen die Männer eine schlaffe Gestalt. Santha erblickte die bleichen Gesichtszüge Kurt Leinsters. Die Erinnerung überwältigte sie mit voller Wucht. Sie schrie. Hände legten sich auf ihren Mund. Ihre hervorquellenden Augen blickten in einen Innenhof, in dem Frauen saßen und webten. Jetzt wurde Santha sanft auf die Füße gestellt. Die fremden Hände machten sich an ihren Kleidern zu schaffen. Innerhalb von Sekunden stand sie nackt da. Viele Frauen trugen sie an Armen und Beinen irgendwohin. Während des Gehens fuhren andere Frauenhände dazwischen, gossen aromatisches Öl auf ihren Körper und rieben und massierten die duftende Essenz in ihre Haut ein. Munteres Geplauder überall im Hof. Frauen, wohin sie sah. Die Sonne ging unter. Ihre Strahlen fielen schräg, abendliche Schatten stiegen auf. Santha wurde auf ein weißgoldenes Gewebe plaziert. Die Hände der Frauen wanden es um ihren Körper. Der Stoff fühlte sich kühl an und wirkte besänftigend. Santha Wrench verlor plötzlich das Bewußtsein. Als sie ebenso abrupt wieder zu sich kam, befand sie sich an einem anderen Ort …
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Auch hier überall und rund um sie her Stimmen. Sie sprachen leise, aber es waren ausschließlich weibliche Stimmen. Frauenhände strichen über ihr Gesicht und rieben etwas ein. Sie roch den Duft von Sandelholz, Blütenduft, aromatischen Ölen. Von weiter weg wehten Essensgerüche herbei, pikante Gewürze, Curryfisch. Sie hörte Stoff knistern und die Geräusche metallener Reifen, das leise Aneinanderschlagen von Perlschnüren. Überall wurde leise gesprochen, teils in Hindi, aber auch in Englisch, manchmal auch in einer Sprache, die Santha als einen ihr unbekannten indischen Dialekt einordnete. Sie wollte die Augen geschlossen halten. Ihre Hände fuhren sacht über ihren Körper, und sie erschrak. Sie trug Seide. Ein Sari, erkannte sie, man hatte sie in einen Sari gehüllt. Und dann waren es die Gedanken an Kurt Leinsters Gesicht, die alle anderen Bilder auslöschten. In der Erinnerung an seinen gequälten Augenausdruck, an die heraustretenden Augen, an die Schlinge, die von kräftigen Männerhänden zugezogen wurde, mußte Santha laut aufstöhnen. Man hatte auf dem Parkplatz auf Kurt und sie gelauert. Sie hatten sich aus ihrem schwarzen Wagen herausgeschlichen und in Kurts Wagen versteckt. Santha dachte, sie müsse an dem Schmerz sterben, der sie in diesem Augenblick überwältigte. Die tiefe Baßstimme eines Mannes erfüllte auf einmal den Raum. Santha öffnete die Augen und schaute. Wieder sprach man in diesem merkwürdigen indischen Dialekt. Ob das wohl das Ramasi der Thugs war, wovon sie schon gehört hatte? In dem Versuch, die plötzlich wieder eingetretenen, hämmernden Kopfschmerzen zu überwinden, setzte sie sich mit einem Ruck aufrecht und versuchte zu schreien: »Sie haben ihn umgebracht, Sie verdammter Bastard.« Aber ihre Worte blieben ein Lallen. Sie konnte selbst kaum verstehen, was sie sprach. Dann war der Mann auch schon wieder verschwunden.
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Santha sah statt dessen Elvira Moniz in einem Sari, die ein indisches Tablett trug. Darauf stand eine silberne Essensschale, von Bananenblättern umgeben. »Essen Sie!« sagte Elvira auf englisch. Sie nahm einen Löffel, schöpfte den Fischcurry aus der Schale und goß ihn in die Höhlung der Bananenblätter. Santha versuchte, ihr das Tablett aus der Hand zu schlagen, aber sie war durch das eingeatmete Chloroform noch zu geschwächt. Kraftlos fiel sie zurück und begann zu schluchzen. Dann hörte sie die befehlenden Worte einer anderen Frau: »Laßt uns allein.« Santha wandte die Augen zur Seite und erblickte eine Frau, die ihr gegenüber auf einer Ottomane saß, umgeben von Bergen grellfarbiger Kissen. Sie blickte Santha freundlich mit der Andeutung eines Lächelns an. Santha erkannte sie. Sie hatte sie in ihren halluzinatorischen Bewußtseinszuständen oft genug gesehen und ebenfalls in der Galerie der Memorial Hall. Das Gesicht der Frau war in jener Nacht undeutlich gewesen, dennoch wußte Santha mit Bestimmtheit, daß sie es gewesen war. »Kind«, sagte die Frau und hob eine Hand, als ob sie segnen wolle, »was getan ist, ist getan.« »Ihr habt Kurt umgebracht, Ihr dreckige Mörderbande!« schrie Santha außer sich, ließ sich zurückfallen und brach in Tränen aus. Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und wischte ihre Tränen mit einem Zipfel ihres Saris ab. Es war ein wunderschönes Kleidungsstück, überwiegend weiß mit goldener Borte und aus einem überaus feinen Gewebe hergestellt. »Warum bin ich so angezogen?« Die Frau sah ihr nur zu. Das wirkte beruhigend auf Santha, doch plötzlich mußte sie wieder gegen eine Schwäche ankämpfen. Sie wollte sich nicht in Passivität einlullen lassen. Die Vision in dem verlassenen Haus mit dem blühenden Hofgarten, die Vision am Ganges, diese Frau war immer dabeigewesen. Hinter ihrer scheinbaren Ruhe verbarg sich nur
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etwas, was über alle Begriffe böse war, davon war Santha überzeugt. Dennoch wirkte es entspannend, die andere zu betrachten. Santha Wrench setzte sich aufrecht und gab sich Mühe, ihre Stimme nicht schwanken zu lassen. »Wer sind Sie?« »Ich bin Gauri Bala, Kunkalis auserwähltes Gefäß.« Sie sprachen Hindi, Santha etwas stammelnd, da sie es seit langer Zeit nicht mehr gesprochen hatte und aus der Übung war. »Kunkali! Wie kann man so einem Wesen überhaupt dienen!« »Schau in dein Inneres, Kind. Auch du hast Ihr gedient.« Es entstand eine kleine Pause, ehe Santha erwiderte: »Ja, vielleicht. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich keinem mir gegebenen Gebot gehorcht. Warum?« »Du hast den richtigen Blick für die Zusammenhänge, und du bist empfänglich für deren Einflüsse! Deswegen bist du ausersehen, meine Nachfolge anzutreten. Wir sind wie Schwestern.« »Schwestern!« »Ja, Schwestern oder Mutter und Kind. Der Zugriff unserer Mutter Kunkali reicht weit. Sie hat dich hier, fern von unserem Heimatland, erreicht und angerührt, sobald du reif dazu warst. Du besitzt viele Gaben, Kind.« »Hören Sie auf, mich so zu nennen. Ich kann das nicht leiden.« »Kind? Aber du bist eines, und zwar eines, das nicht lange ohne Mutter sein sollte.« Gauri erhob sich. »Unser Herr erwartet uns.« »Ja«, sagte Santha auf englisch, »diesen Herrn möchte ich gerne kennenlernen, um ihm für das, was er Kurt angetan hat, die Augen auszukratzen.« »Makunda hat das getan.«
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»Ja, ich erinnere mich. Makunda, der Attar verwendet«, entgegnete Santha. Gauri nickte: »Das Leben ist nur ein Gedanke, meine Liebe. Es währt nur so lange, wie der Denkende es in Bewegung halten will. Dann vergißt Brahma, bis er sich wieder an uns alle erinnert. An Kurt Leinster wird man sich im Paradies erinnern. Er ist in der Tat unter vielen anderen vom Glück begünstigt. Das Opfer der Schlinge wird sofort vom Rad der Wiedergeburt losgebunden. Es ist erlöst. Für ihn bedarf es keiner Wiederkehr. Der Verlust dieses Lebens war der Preis für eine solche Gnade. Du solltest lieber um die trauern, die weder einen Pfad noch eine Gnade erwarten können.« Santha Wrench erhob sich mit wankenden Knien. Aber sie brachte es fertig, aufrecht zu stehen. Der Raum, in dem sie sich befanden, war groß und etwas düster. Vor ihr hing ein großer Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Sie streckte sich, um ihr Spiegelbild besser zu erkennen. Ihre Augen waren dunkel umrandet, und das Zeichen auf ihrer Stirn war purpurn gefärbt wie der sonst übliche rote Punkt über der Nasenwurzel, das TikkaZeichen. »Ramanujua, einer unserer Thugs, hat dich beschrieben. Er sagte, du wärest so schön wie die Göttin Sati selbst«, flüsterte Gauri Bala und zog Santha an sich, so daß diese den starken Duft aus ihren Haaren einatmen konnte. »Du bist wahrhaftig die Richtige für unseren Herrn.« Santha riß sich ungeduldig los. Ihr war äußerst unbehaglich zumute. Dann wurde sie in einen dunklen Flur hinausgeführt. Auf der linken Seite stand eine Tür weit offen. Vier Frauen in Saris, alles keine Inderinnen, arbeiteten in einer Küche. Der Herd war zwar elektrisch, aber die Küchengeräte bestanden aus Schüsseln ohne Griff, aus Töpfen mit zwei Griffen, einem riesigen Reisbehälter, der allein schon über dreißig Pfund wiegen
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mochte, einem großen Kasten mit einer Mischung von Asche und Sand, die zur Säuberung der Küchengeräte diente. Auf den Regalen war weiteres indisches Geschirr angeordnet, darunter auch die silberne Essensschale. Bengalischer Fisch-Curry, andere Gewürze und Sesamöl dufteten wundervoll. Sie kamen an einer geschlossenen Tür vorbei, hinter der Santha ein junges Mädchen weinen hörte. »Was machen sie mit ihr?« fragte sie und faßte nach der Türklinke. Gauri riß sie am Handgelenk zurück. »Das geht dich nichts an!« Der Zugriff tat Santha weh, doch sie wurde weitergestoßen. Am Ende des Flures betraten sie einen riesigen, mit dunklen Vorhängen ausgestatteten Raum, der sich über die ganze Hausbreite erstreckte. Gauri Bala ließ sich auf einem Haufen grellfarbiger Kissen in der Mitte des Raumes nieder und forderte Santha auf, das gleiche zu tun. Santha kam dieser Aufforderung nach. Sie hatte das Gefühl, daß sich ihr der Magen umdrehen würde. Die Schwäche wollte nicht weichen, und so nahm sie, ganz unbewußt, wie Gauri Bala die Lotoshaltung ein. Die Vorhänge teilten sich. Santha Wrench war gezwungen, zu der mächtigen Gestalt aufzusehen, die dort stand. Der Mann trug ein Gewand aus tiefem Purpurrot und einen weißen Turban. Das meiste von dieser hochragenden Gestalt lag im Schatten. Das flackernde Licht gab wenig von seinen Gesichtszügen preis. Das Gesicht wirkte unmenschlich. Die Haut über den hohen Backenknochen glänzte, während sie die langen, etwas verfilzten Haare, die unter dem Turban hervorquollen, an die Mähne oder den Schweif eines Pferdes erinnerten. Das Gesicht schien durch etwas anderes als durch Fleisch und Knochen geformt zu sein. Er sah wie ein grimmiger Berg aus, ein zottelig wildes Geschöpf, das auf felsigen Gipfeln oder in vergessenen Höhlen hausen konnte. Die Backenknochen sprangen weit hervor, die kalten Augen darüber flößten ihr Angst ein. Ich bin Stephen
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Wrenchs Tochter, dachte sie mit dem Versuch der Selbstbehauptung, meine Mutter war Kamala Wrench, und sie fürchtete sich vor nichts, weder im Leben noch im Tode. Gauri sprach zuerst: »O Herr, die erwählte Tochter Kalis ist bei uns.« »Es geschah, wie Sie es uns gebot.« Seine Stimme, die gleiche, die Santha schon einmal gehört hatte, war tief und vibrierte so stark im Raum, daß Santha glaubte, die Wände müßten davon erzittern. Kunkalis Tochter! Und er fuhr fort: »So, wie Gauri Bala uns gedient hat, wirst du in ihrer Nachfolge das neue Gefäß sein. Durch dich wird sich uns Mutter Kali zu erkennen geben, wird mit deinen Lippen sprechen. Und ihre Weisheit wird durch dich gehört werden.« »Neues Gefäß? Was soll das heißen?« »Kunkali ist immer bei dir. Ich, der auserwählte Sohn der Dunklen Mutter, spreche in Ihrem Namen, wenn ich dir gebiete, dich Ihrem Willen zu unterwerfen.« Santha verlor die Selbstbeherrschung: »Was habt ihr Kurt Leinster getan?« Der Erwählte blieb stumm. Zitternd und außer sich vor Wut, fragte sie noch einmal: »Warum, Sie verdammter Thug-Abschaum, haben Sie ihn umgebracht?« »Mutter Kali braucht ihre Opfer.« »Ich glaube nicht an Ihre Mutter Kali! Ich glaube überhaupt an nichts von diesem ganzen Blödsinn.« Plötzlich begann alles vor Santhas Augen zu verschwimmen, und sie mußte gegen eine Ohnmacht ankämpfen. Wie ein entferntes Echo hörte sie: »Was du glaubst, zählt hier nicht.« Sie hielt ihren inneren Widerstand aufrecht und stieß mit letzter Kraft hervor: »Sie sprechen hier nicht mit einem indi-
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schen Bauernmädchen. Ich bin keine Analphabetin.« Immer noch mußte sie gegen die Schwäche ankämpfen. Ihre Worte waren fast unverständlich: »Ich glaube nicht an Sie«, wiederholte sie mit schwerer Zunge. »Und das eine sage ich Ihnen: Sie haben mich einmal im Griff gehabt, aber jetzt nicht mehr. Ich werde Ihnen mit allem Willen, der in mir ist, entgegentreten.« »Tochter der Kunkali, dieser Mann war deiner nicht wert.« »Ich wollte ihn haben«, Santha fuhr sich verzweifelt durch die Haare. »Er war … ein Mann, den ich begehrte, dem ich nahe sein wollte.« Erschöpft ließ sie sich auf die Kissen zurücksinken. »Nahe sein, um ihn festzuhalten. O Gott, warum habt ihr ihn getötet?« Die Stimme des Thug-Anführers dröhnte, doch sie hörte kaum noch hin: »Du kannst froh sein, Kleines, denn du bist unter vielen auserkoren. Ich war ein verlorener Mann, dem Trübsinn verfallen. Das ist schon lange her. Ich suchte nach dem rechten Weg, nach dem Sinn des Lebens, nach etwas, das mich erhalten und stützen würde. In einem Dorf auf der Straße nach Lucknow hörte ich den Ruf der Devis. Doch in Wirklichkeit war es Kunkali, die mich rief, und ich bebte vor Furcht. Doch plötzlich begann ich den Sinn der Schöpfung mit dem Verstand zu erfassen. Man muß nur zuhören, muß offen sein, und wenn der Ruf dich erreicht, ihm willig folgen. Für jeden, der sich, ohne zu fragen, in den Rhythmus der Schöpfung einfügt, ist ein Platz bereit, und so wurde ich dazu bestimmt, einen neuen Thugismus zu schaffen. An diesem Tage in jenem Dorf gingen ein blinder Greis, der dennoch eine weit größere und klarere Sicht hatte als wir alle, und Chundra Bala, der Erste unter den Thugs, mit mir. Wir stiegen zu dem GangotriGletscher hinauf und verweilten dort in einer riesigen Höhle. Im Felsinnern begegnete ich den alten heiligen Sehern. Es waren vier. Sie verwandelten sich aus uralten Männern zu jungen
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Göttern und übergaben mir als Garantie für meine geheiligten Rechte vier Schriftrollen. Sie waren der Beweis für meine Bestimmung, über alle Thugs der Welt zu herrschen. Oh, welche Wunder habe ich an jenem Tage erblicken dürfen.« Santha erschrak. Die Stimme hatte sich auf einmal nur leicht geändert. Sie war leiser geworden, und Santha lauschte intensiv, völlig verblüfft. »Wenn du nur dabeigewesen wärst, Santha Wrench. Dann würdest du bereitwillig aller Welt erklären, dieser Mann hat keine andere Wahl, als seine Schicksalsbestimmung zu erfüllen. Du würdest nicht gehöhnt und nicht abgestritten haben. Und dann bin ich meiner wirklichen Mutter begegnet. Ja, ich habe sie kennengelernt, Santha. Ich lag in ihren Armen und habe ihre süße, dunkle Macht kennengelernt. Und dann sind nur Chundra und ich zurückgegangen, den Berg wieder hinab, erfüllt mit neuem Licht und neuer Hoffnung.« Langsam erhob sich Santha und ging taumelnden Schrittes direkt auf den Sprechenden zu, entsetzt von der plötzlichen Vertrautheit dieser Stimme. Ihre zitternden Finger streckten sich aus, ergriffen das Gewand des Anführers. Dieser wich zurück. Doch plötzlich schien er es sich anders überlegt zu haben und blieb, wo er war. Santha hob das Gesicht und forschte in den fremden Zügen. Sie starrten einander an, so nahe nun, daß sie seinen Atem spürte, als er sein Gesicht zu ihr hinunterbeugte. Santha hob die Hand, um ihn zu berühren. Aber er hielt sie am Gelenk fest. Doch dann ließ er sie los und sagte mit einem resignierenden Achselzucken: »Tu es eben.« Es klang wie eine sanfte Herausforderung. Santhas Nägel kratzten seine Wange entlang, und sie spürte, wie unter dem Druck ihrer Finger etwas zerkrümelte, zähe Viskosepaste, Klümpchen von Muschelkalk, klebrig mit Reispulver vermischt, fielen auf ihren Sari. Santha verkrallte sich in die falschen Haare aus gefärbter Kunstfaser, ein Teil des Bartes
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löste sich vom Kinn. An ihren Fingern hafteten die Spuren der verschiedenen Materialien, die sie abgekratzt hatte. Nur die kalten, beobachtenden Augen veränderten sich nicht. Santha sah grüne und schwarze Flecke auf den Augenlidern, sah die geröteten Augen. Mit eigener Hand zog er das untere, rechte Augenlid herab, und sie stellte fest, daß ein winziges Samenkörnchen, dort in die innere Augenecke eingeklemmt, den blutunterlaufenen Effekt zustande brachte. »Ich habe diese Kunst in Cheruthuruthy, von KathakaliSchaustellern erlernt«, erklärte er kühl und leichthin, so als handle es sich hier nur um absolute Belanglosigkeiten. Sie wich entsetzt zurück. »Du ringst ja nach Luft, Santha.« Er wollte ihre Hand ergreifen, doch sie wich weiter zurück. »Vor ein paar Minuten warst du meinetwegen noch todunglücklich. Nun spiele bitte nicht die enttäuschte, mißbrauchte Frau! Wenn du mich weiterhin in dieser Weise ansiehst, verdirbst du alles.« »Und was sollte ich sonst tun, Kurt Leinster?« fragte Santha mit zusammengebissenen Zähnen. »Nun …« Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Diesmal blieb Santha, ohne auszuweichen, wo sie war. »Du solltest begreifen, daß dies alles schon Bestimmung war, bevor wir noch geboren waren. Das kannst du doch sicherlich verstehen. Betrachte es als ein Geschenk. Bevor dies alles geschah, war ich eine verlorene Existenz. Ich wäre nahe daran, den Verstand zu verlieren. Das war genau in der Zeit, in der ich diese schrecklichen Gedichte schrieb. Dann begann ich tastend zu suchen – ein vergebliches Bemühen. Endlich schloß ich mich einer Gruppe an, die Satanskult betrieb. Sie stellten mir einen wirklichen, existierenden dunklen Gott in Aussicht, und ich machte eine Weile mit und hielt mich an dem angebotenen Strohhalm fest. Kannst du das begreifen?«
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Santha seufzte und sagte mit einem kleinen, verächtlichen Lächeln: »Kaum.« Er blickte sie unverwandt an: »Aber du verstehst es, oder?« »Ich denke doch, Kurt.« Er küßte sie leicht auf die Lippen. »Dennoch mußte ich weitersuchen. Und schließlich wurde ich nach Indien geführt. In dem Augenblick, in dem ich dort ankam, fühlte ich mich zu Hause. Auf einmal bekam alles einen Sinn. Es war wie eine Offenbarung – Gott, das Übernatürliche, war ein Teil der Evolution, und ich war ausersehen, den nächsten Schritt nach vorn zu tun.« Sie entzog sich ihm vorsichtig. »Und wie fand das statt, Kurt, wie?« »Indem mir die Schriftrollen übergeben wurden, die mich zum Fürsten des Thugismus machten. Ich wußte, daß ich etwas in die Schöpfung bringen würde, was bedeutender war als alle technologischen Kräfte der Welt. Ich habe neues Leben in den Sumpf des zwanzigsten Jahrhunderts gebracht. Weder Elektroschocks noch atomare Arsenale konnten daran etwas ändern, sobald es einmal begonnen hatte. Ich war es, der Gott wieder zum Leben brachte.« »Gott?« »In Übereinstimmung mit einer gewissen Richtung indischer Philosophie – ja! Der Philosophie des Dunklen Pfades. Es ist einerlei, wo und auf welche Weise du welchem Teil des Göttlichen dienst. Darum waren und sind die großen Thugs auch als Heilige anzusehen, Santha. Das sollte dir mittlerweile nun wirklich klar sein. Ich bin eine göttliche Wiedergeburt, ein wirklicher Avatar, eine wirkliche Heldengestalt.« »Warum hast du dich totgestellt?« »Monatelang bist du unter unserer Kontrolle gewesen. Die meisten deiner Gedanken und deiner Handlungen erwuchsen nicht aus dir selbst. Alles, was du getan hast, der Angriff auf
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Nirmal, deine Flucht, sind Bestandteile unserer Manipulation. Nur deine Gefühle für mich hatten damit nichts zu tun, waren nicht damit vermengt. Ich für meinen Teil wußte ja, daß ich dich uneingeschränkt liebe, Santha. Doch ich wollte sicher sein, daß du für mich genauso empfindest. Darum habe ich Makunda aufgefordert, so zu tun, als ob er mich erwürge. Ich mußte sicher sein, kannst du das akzeptieren?« »Beeindruckend, Kurt, wirklich sehr beeindruckend. Du hast mich an der Nase herumgeführt, hundertprozentig getäuscht.« »Thug bedeutet Täuscher, erinnere dich dessen«, erwiderte Kurt Leinster. »Das bist du in der Tat.« Santha trat näher. »Das macht dich zu etwas ganz Besonderem.« Kurt schien erleichtert. Wieder griff er nach ihr. Sie versuchte, ihn zu schlagen. Kurt wich seitlich aus, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. »Ich bin auch eine Täuscherin, Kurt«, sagte Santha zornentbrannt. Sie war noch zu schwach, um wirklich zuzuschlagen. Dennoch war er gestürzt, und nun, wie er so dalag, wirkte er außerordentlich lächerlich. Als Kurt Leinster zu Boden fiel, hörte man hinter dem Vorhang Gauris befehlende Stimme. Das Zimmer wurde plötzlich hell, und Santha fand sich von vier Akalifrauen und zwei indischen Männern umstellt. Eine der Frauen band ihre Schärpe los und trat auf sie zu. »Bringt sie nach unten, Yoni«, sagte Leinster zu der Frau mit der Schärpe. »Die Mutter soll bestimmen, was mit ihr geschieht.« Während sie Santha zu einer offenen Balkontür führten, legte Gauri Bala ihre Hand auf den Arm des Erwählten: »O Herr«, sagte sie drängend, »dies ist nicht der richtige Weg. Schließ sie
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ein, laß sie im Dunkeln allein nachdenken. Halte sie eine Weile gefangen. Doch betreibe ihre Sinnesänderung langsam und allmählich. Stelle sie behutsam um. So, wie du es jetzt vorhast, wird sie niemals dein werden.« »Aber was soll ich denn tun?« schrie er unbeherrscht los. »Hast du nicht gesehen, wie meine Brüder einander anblickten? Sie hat mich gedemütigt, und die Männer waren Zeugen. Das ist unverzeihlich, wenn ich auch zugeben muß, daß das, was du sagst, weise ist, so kann ich mich dennoch nicht damit begnügen. Sie muß auf der Stelle dafür bestraft werden.« »Mein Sohn, ich befürchte, daß ich zu dieser Stunde nicht genügend Kraft aufbringe, dich zu überzeugen. Die Göttin hat alle ihre Kräfte in der Kirche verausgabt. Gewiß hat man dir berichtet, wie vollkommen sie sich in mir verkörpert hat. Sicher hat man dir auch berichtet, was sie mit dem Baby gemacht hat. Ich bedauere es, daß sie sich meiner Hände bediente, um den kleinen Schädel an der Kirchenmauer zu zerschmettern. Jahrhundertelang hat der Thugismus Kalis Blutdurst unterdrükken können. Doch jetzt ist das anders – jetzt tut sie jederzeit, was sie will.« Es klang mitfühlend, als ihr Leinster antwortete: »Ich wünschte, es wäre anders. Ich teile deine Betrübnis, ich liebe sie, Gauri, ich begehre sie, wie ich noch nie eine andere Frau begehrt habe, aber ich bin kein Inder wie meine Brüder. Erinnere dich, daß ich mich ihnen monatelang so …« Er zeigte auf sein Make-up. »… in dieser Aufmachung zeigen mußte, mit Vorrichtungen in meinen Schuhen, die mich größer erscheinen lassen, bis sie mich allmählich akzeptierten. Zeige ich mich in diesem Augenblick, ohne Santha nicht in irgendeiner Weise zu bestrafen, werden sie sagen, daß man etwas anderes von einem, dessen Familie sich nicht auf die Thug-Vorväter zurückverfolgen läßt, nicht erwarten konnte. Dieser Mann, werden sie sagen, ist nur ein weiterer Weichling westlicher Prägung, der
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dem Thugismus mehr westliche Menschen, sogar Frauen, zuführen will. Nein, ich muß handeln wie einer, den sie als ihren Fürsten anerkennen. In diesem Fall muß ich unerbittlich bleiben.« Er ließ sie stehen, und Gauri Bala folgte ihm. Ihre Gedanken waren so düster wie der Raum, in dem sie jetzt das Licht wieder gelöscht hatte. Aiieee, diese Schatten überzeugten sie, daß die schrecklich hereinbrechende Nacht die bestimmte Nacht sein würde. Resigniert hob sie den Kopf und betrat den Balkon. »Dieses Haus und der ganze Besitz gehörte einer reichen theosophischen Gesellschaft in Cambridge«, erklärte Leinster Santha so, als ob nichts geschehen sei. Er sprach Englisch. »Wir haben es zu günstigen Bedingungen übernommen.« Santha blickte in den Hof hinunter, auf ein Podium und viele Bankreihen, auf den scharlachroten Läufer, den scharlachdrapierten Thron, die Kohlenbecken, aus denen der Duft verglühenden Sandelholzes in dünnen Schwaden aufstieg. Sie erschauerte. Dann erblickte sie die Statue der Kali, und sosehr sie sich auch wehrte, die Genugtuung, Kurt Leinster eins ausgewischt zu haben, schwand so vollständig, daß die Akalifrauen sie festhalten mußten, weil sie umzusinken drohte. Früher, im Ablauf ihrer Visionen, hatte Santha immer gewußt, daß alles, was sie dabei sah und hörte, unwirklich war, in Wahrheit überhaupt nicht existierte, daß sie sich in einem Zustand zwischen Traum und Wachen befand, dem sie, wenn sie wollte, jederzeit wieder entfliehen konnte, gleichgültig, was sich in diesen Trugbildern darstellen mochte. Dieses Mal jedoch fehlte die Überzeugung, daß alles was sich hier abspielte, verschwinden und vertrauten Dingen Platz machen würde. Santha wurde über den Balkon zu einer Wendeltreppe geführt, über die man, an der nördlichen Hauswand entlang, nach unten gelangte. Sie blickte das Geländer an, sah, daß es alt und brüchig war, und überlegte, ob sie sich nicht dagegen fallen
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lassen sollte, damit es nachgäbe und sie sich unten den Hals brach. Doch die Hände, die sie hielten, gaben nicht nach. Sie fühlte sich wie ein Kind, das gegen seinen Willen zu einer Einführungszeremonie gebracht wird. Sie hatte einmal eine Kindbraut gesehen, die auf diese Art zur Hochzeit geführt wurde. Die Augen der kleinen Braut waren starr vor Angst und Entsetzen, aber die Eltern hatten sie mit sich gezerrt. Warum sah sie sich in diesem Augenblick als Braut? fragte sich Santha und brach in einen Entsetzensschrei aus: »Du lieber Gott, es fängt schon wieder an! Es rührt sich schon wieder in meinem Kopf!« Jemand lachte rauh. Santha wehrte sich den ganzen Weg, sämtliche Stufen hinunter, und als sie schließlich unten waren, stand Bidhan am Fuße der Treppe, nahm sie auf Leinsters Befehl auf seine Arme und trug sie zu dem Podest. Dort lag ein großes Kissen, auf das er sie niedersinken ließ. Dann blieb er mit gekreuzten Armen vor ihr stehen. Gauri Bala trat aus der Gruppe der Frauen hervor und setzte sich, Santha gegenüber, auf ein weiteres Kissen. Kurt Leinster ging zu seinem Thron. Plötzlich war Santha Wrench sich seines durchdringenden, kalten Blickes bewußt und vermied es, ihn anzusehen. Sie stellte fest, daß es nur ein paar indische Männer und Gauri Bala waren, die auf dem Podium Platz genommen hatten, alle übrigen saßen unten in den Bankreihen. YoniElvira Moniz, als Anführerin der Akalifrauen, hatte ihren üblichen Platz an der Südwand eingenommen. »Nun«, begann Kurt Leinster. Seine Stimme war wieder ein tiefes Grollen. »Nun, meine Brüder und Schwestern, Kinder unserer Mutter Kunkali, ich habe euch hier zusammengerufen, damit ihr über diese Frau richten möget, die mich angegriffen hat. Wäre sie nicht erwählt, unser Gefäß zu werden, eine wahre Tochter der Spitzhacke und der Schlinge, würde ich unserer Schwester Yoni geboten haben, ihrem Leben ein Ende zu set-
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zen.« Wie immer war Kurt Leinster in seine Rolle geschlüpft und fühlte sich in seiner Bestimmung verankert. Er war dazu ausersehen zu tun, was die Frömmsten in ihren Klöstern gerne täten. Bot er nicht den Anblick eines Gottes? War er nicht auf das Dach der Welt gestiegen, war er nicht in Shangri-La gewesen, dem Sitz der Götter? Dort hatte er göttliche Nahrung zu sich nehmen dürfen, er, der Auserkorene, Kalis angenommener Sohn. Kein Mensch auf Erden war mehr mit Gaben überschüttet, keiner war auserwählter als er. Er war es, welcher aus den Höhlen der uralten Propheten zurückgekehrt war, mit ihren Schriftrollen versehen. Kein Mensch durfte über ihn richten. Das konnten nur die Sterne, und die standen ihm, gerade jetzt, günstig. »Ich habe euch mit der Bitte, über das Schicksal dieser Frau zu entscheiden, hierherbefohlen«, fuhr er fort. »Ist es gerecht, daß wir sie dem Grimm und dem Urteil unserer Mutter Kali überlassen?« Santha Wrench betrachtete die Ebenholz- und Goldstatue. Der Widerschein aus dem Kohlenbecken züngelte an den tanzenden Gliedern entlang, so daß es aussah, als bewegten sie sich. Das angewinkelte Bein war erhoben, um einen unirdischen Tanz zu beginnen. Man glaubte, den Schlag der Tablas zu hören, das zarte Geräusch der Becken, das Klirren gespenstischer Arm- und Fußreifen. Die goldenen Augen der Statue schienen voller Anklage. Santha versuchte, sich abzulenken und sich statt dessen auf Leinster zu konzentrieren. Er hatte seinen Bart und die verfilzte Haarpracht abgelegt. Dennoch konnte sie kaum glauben, daß er sich unter dieser grotesken Maske verbarg. »Ich muß hinzufügen, daß Santha nie Zeugin dessen gewesen ist, was wir mit unserer geliebten Schwester Gauri Bala durchgemacht haben. Hätte sie es gesehen, vielleicht könnte Santha dann glauben und dem Ruf der Göttin williger Folge
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leisten.« Ein Murmeln der Zustimmung ging durch die Reihen. Von was spricht er? fragte sich Santha. Jesus hilf, was soll das heißen? Einstimmig ertönte der Ruf: »Mach sie sehend, mach sie hörend. Kunkali! Kunkali! Kunkali!« Leinster erhob sich: »Kunkali, der wir dienen. Laßt uns unsere heiligen Schlingen erheben.« Er ergriff die Spitzhacke, die zu Füßen der Statue lehnte. »Hier, auch ich erhebe die geheiligte Spitzhacke der Thugs. Mutter Kali, Mutter über Leben und Tod, wir bitten dich, komm zu uns!« »Komm zu uns, o Kunkali!« wiederholten die anderen. »Haben wir nicht getan, wie Du uns befohlen hast? Haben wir nicht die Schlinge geführt und Opfer herbeigeschafft, um Deinen Hunger zu stillen? Waren wir nicht immer Deine Kinder im Geiste und in unserer Körperlichkeit? Haben wir nicht für Dich getötet? Und wir werden auch in Zukunft mehr und mehr für Dich töten, Du unsere Dunkle Mutter!« »Töten für Kunkali! Töten nach ihrem Willen! Töten! Töten! Töten! Ruf sie herbei, Fürst der Thugs!« rief Makunda, und die anderen wiederholten seine Worte. Sie sprachen diesmal in Hindi und nicht in Ramasi. Das hatte Kurt Leinster absichtlich befohlen, damit Santha alles verstehen konnte. Die Flammen aus den Kohlenbecken, die Duftschwaden, die daraus aufstiegen, umflackerten seine hohe Gestalt vor der Statue. Dauernd mußte Santha von Kurt Leinster hinüberschauen zu der Gruppe, zu den Flammen in den Kohlenbecken und hinüber zu Gauri Bala. Die Litanei steigerte sich zum Schrei, wie der Anprall von Wellen an einen Fels. Sie konnte sich vorstellen, wie der zeitlose Ganges aus ihren Visionen plötzlich über seine Ufer trat. Sie zupfte an ihrem Sari, blickte daran hinunter und wunderte sich, warum sie keinen Schmuck trug. Warum trug sie keine
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Armbänder, keine Fußspangen, keine Ohrringe? Sie sah gar nicht aus, wie es sich gehörte. Sie sah überhaupt nicht indisch aus. Sie hätte soviel Schmuck wie möglich tragen müssen. Santhas Blick fiel auf Gauris heiteren Gesichtsausdruck, auf ihre Augen, die nach innen zu blicken schienen. Sie mußte doch auch die Wellen des Ganges hören. Shiva und seine Frau Shakti waren doch im Begriff, ineinander zu versinken. Gauri mußte sie hören können. Vielleicht kamen die Geräusche der göttlichen Liebesumarmung auf dem zeitlosen Wind zu ihr hinüber. Santha seufzte. Gauri war so typisch indisch. Dann schüttelte Santha den Kopf, so daß ihr die langen dunklen Haare über die Augen fielen, damit sie Gauris unbewegten Blick nicht länger ertragen mußte. Der Zauber war gebrochen. Santha versuchte sich zu erheben. Sie hatte sich gerade aufgerichtet, als sie sah, daß Gauri zu glühen begann. Kalis Licht wurde auch auf die Umsitzenden geworfen und sprang auch auf Santha über, so daß sie sich geblendet zurücksinken ließ. Gauri fuhr fort, düster vor sich hinzublicken. Ihr Unterkiefer klappte herunter, ihr Mund stand offen. Es ging fast mechanisch. Zwischen dicken, weiter anschwellenden Lippen glitt eine dunkle Zunge hervor, bis über das Kinn hinunter, sich schlängelnd wie eine Schlange. Santha hob die Hände, schrie und bedeckte die Augen, um diesen Horror nicht länger mit ansehen zu müssen. Doch dann ließ sie die Hände wieder sinken und blickte bittend in die Runde: »Laßt sie aufhören damit!« flehte sie, das Wort vor allem an Kurt Leinster gerichtet. Doch der saß, vorgebeugt und regungslos, auf seinem Thron und schaute zu. Wieder bat Santha die anderen, sich diesmal an Chundra Bala richtend, der ihr am nächsten stand: »Bitte, lassen Sie nicht zu, daß man mit mir das gleiche macht!« Doch das tanzende Licht war wie eine
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Herausforderung. Langsam hob Santha das Gesicht und wandte es Gauri zu, während das Licht über ihre Backenknochen, ihre Nase, ihren Mund tanzte. Es drang in jede Höhlung ihres Gesichtes ein, floß in ihre Nasenlöcher, ihre Ohren und zwischen ihre leicht geöffneten Lippen. Sie fühlte, wie es in sie einfloß, von ihrem Gaumen abprallte und die Kehle hinabrann, bis tief nach unten in ihre Eingeweide. Schreien konnte sie nicht mehr, atmen war fast unmöglich. Das Feuer in ihr wuchs. Santha zuckte zusammen und warf den Fuß nach vorne. Als die Flammenzungen wuchsen und in ihren Mund zurückkehrten, floß ihr Speichel aus den Mundwinkeln, der schaumig wurde, ihren Hals hinunterlief und ihren Sari durchweichte. Santha hob die Hände und versuchte, die fremde Kraft wegzudrängen. Statt dessen verbogen sich ihre Finger zu Krallen. Entsetzt starrte Santha darauf, mit aufgerissenen Augen, die sich weder schließen noch nur blinzeln konnten. Ohne Vorwarnung stieg ihr das innere Feuer ins Gehirn. Und dann war der Terror plötzlich vorbei und machte einer schwindelerregenden Leichtigkeit Platz, die wie Gift wirkte. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit, eine Leichtigkeit sondergleichen ergriff sie. Santha hatte das sichere Gefühl, gleich schweben zu können. Der ganze Hof wurde heller. Die fremde Energie sprühte aus ihren Augen und Fingerspitzen. Die so verwandelte Santha sprang auf ihre Füße, hob das Gesicht zum Himmel und schrie in gellendem Ton ihre Bereitschaft, den herannahenden dämonischen Wahnsinn aufzunehmen. Dann begann der Tanz der Kunkali. Santha spreizte die Beine, die nackten Zehen gefächert. Das linke Bein hob sich und verharrte in dieser Stellung, während ihre Hände und Handgelenke ebenso wie ihr Hals nach links und rechts zuckten, so als bewegten sie sich nach den Klängen unhörbarer Musik. Dann setzte sie den linken Fuß zu Boden. Santhas Hals streckte sich, ihr Gesicht wurde gedunsen und schwoll. Wie ein langes, schmales Blatt glitt
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ihre Zunge über ihre geöffneten Lippen. Dann senkte sie den Kopf und riß ihn wieder zurück. Ihre schwarzen Haare breiteten sich wie ein aufgeschlagener Fächer aus. Plötzlich übertrug Kunkali in Santha ihre Ausstrahlung wieder auf Gauri Bala. Gauri sog unbewußt diese gewaltige Kraft in sich ein, bis ihr ganzes Gesicht damit übergossen und davon erfüllt war. Und dann schrie Gauri Bala laut auf, doch niemand beachtete es. Chundra, gebannt durch das, was mit Santha geschah, rührte sich nicht, bis Santha zum dritten Mal eine heftige Kopfbewegung in Gauris Richtung machte. Aber da war es schon zu spät. Kunkali-Santha kicherte schadenfroh, während sie um den verglühenden Körper zu ihren Füßen wirbelte. Chundra erkannte plötzlich, was geschah, sprang auf und ergriff Gauri an den Schultern. Doch im gleichen Augenblick schrie er auf und starrte ungläubig auf seine verbrannten Finger. Dennoch ließ er sich nicht abhalten, sondern hob Gauri hoch und versuchte, den Rauch, der ihr aus allen Poren quoll, zu ersticken. Während die anderen, zu entsetzt, um zu reagieren, nur zusahen, zog Chundra Gauri in den hinteren Hof. »Oh, geliebter Mann«, hörte er sie sagen. Ihre Worte kamen undeutlich, der Gestank verbrannten Fleisches wurde unerträglich. Mit schmerzenden Händen trug sie Chundra zu der Treppe, die zum Ashram hinaufführte. »Liebster Mann«, hörte er sie wieder, »man hat uns verraten.« Die gequälte Stimme war kaum noch verständlich. Chundra Bala hob sich seine Frau auf die Schultern, und als sie begann, mehr und mehr zu brennen, raste er zur Garage hinüber. Hinter sich hörte er aufgeregtes Durcheinanderrufen. Mit einer Hand zog er den Riegel von der Garagentür zurück und schrie dabei vor Schmerz auf, bis er schließlich die Garagentür weit öffnen konnte. Gauri verglühte weiterhin, ihr Sari fiel ihr in brennenden
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Streifen vom Körper. Das Fleisch darunter war bereits schwarz verkohlt. Verzweifelt stieß Chundra Bala die Garagentür mit seinen Füßen ganz auf. Er wußte, was er zu tun hatte, denn Gauri hatte recht. Sie waren beide verraten worden. Nicht Rama Shastri, Hanuman und seine Gefolgschaft waren die wirklichen Feinde in dieser Zeit des neuen Thugismus. Nein, es war die Göttin selbst. Ihre verfluchte Launenhaftigkeit und dieser Hund, den sie zum Anführer gemacht hatte, der ja nicht mal ein geborener Inder war. Plötzlich gab es keinen Sinn mehr für das alles, keine Vorherbestimmung, keine Sterne mehr, die den Weg zum Himmel wiesen. Kunkali verschlang und verschlang nur voller Gier, was sie kriegen konnte. Sie war wie eine räuberische Bestie. Sie war wie der bärtige Lämmergeier, der dort auf einem Felsen vor der Hütte des blinden Heiligen gehockt und ihn angestarrt hatte. Sie besaß nicht mehr Wert als jede verfressene Kreatur, die sich über ein Aas hermacht. Chundra Bala lehnte Gauri sanft an die Garagenwand hinter der Limousine des Auserwählten. Er betrachtete ihr Gesicht, dessen Haut sich schälte, und den Rauch, der aus ihrem Mund hervorquoll. Der Gestank war nicht mehr zu ertragen, aber er wandte sich nicht ab, denn Gauri war seine Frau. Und sie lebte noch, ihr Blick war mit vollem Bewußtsein auf ihn gerichtet. »Geliebte«, sagte er zu ihr in dem Versuch, sie zu trösten. »Ich bin bei dir.« Das leichte Zucken ihrer Augenlider war wie eine Antwort … Chundra erhob sich, kämpfte seine Tränen nieder und ging durch eine kleine Seitentür in einen Schuppen hinein, in dem Brennholz aufgestapelt lag. Dann suchte er drei Benzinkanister in der Garage zusammen, öffnete sie und goß ihren Inhalt über den Holzstapel in dem kleinen, angrenzenden Schuppen. Bei dem Geräusch der Garagentür wandte er sich um. Ma-
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kunda trat auf ihn zu. Hinter ihm war Elvira Moniz. Makunda blickte kurz auf Gauri und sagte: »Die Alarmanlage hat getönt. Wir werden überfallen.« Dann blickte er verwundert auf die zum Holzschuppen führende offene Tür und fragte: »Was tust du, mein Freund?« »Gauri muß ein richtiges Begräbnis haben«, erwiderte Chundra ungeduldig. »Aber dies ist doch nicht der richtige Platz dazu«, gab ihm Makunda freundlich zu bedenken. »Ich verstehe deinen Schmerz, aber wenn du hier ein Begräbnisfeuer entfachst, gefährdest du uns alle. Komm und hilf den Brüdern.« »Mein Bruder«, sagte Chundra traurig und legte die Hand auf die Schulter des Thugs. Und dann, bevor sein Jugendfreund es verhindern konnte, zog Chundra einen Dolch aus seiner Schärpe und stieß ihn Makunda tief in die Eingeweide. Genauso schnell, ohne daß Elvira sich hätte wehren können, goß er einen Kanister Benzin über sie und warf ein angezündetes Streichholz in ihre Richtung. Wie eine Wahnsinnige schreiend, rannte sie davon, eine in Flammen gehüllte Gestalt. Chundra jedoch hob seine Frau hoch und trug sie in den Holzschuppen hinüber. An der Tür blickte er sie noch einmal genau an und stellte fest, daß sie tot war. Dennoch verglühte ihr Körper weiter von innen heraus, und er beeilte sich, damit sie nicht in Asche zerfiel, bevor er den Holzstoß erreichte. »Du bist es wert, eine noble Beisetzung zu haben, Geliebte«, sagte er, während er sie oben auf das Holz legte. »Ich bin bei dir, ich bin bei dir!« rief er, als ob sie ihn noch hören könne, und leerte dabei den letzten Benzinkanister aus. »Geliebte Gauri, hat es jemals einen indischen Ehemann gegeben, der etwas Ähnliches getan hätte?« Chundra Bala stieg auf den Holzstapel und saß eine Weile neben seiner toten Frau, ehe er das Streichholz anzündete.
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46 George Buchan zwinkerte in die helle Morgensonne, die in seiner Windschutzscheibe aufblitzte. Er fuhr über die Cambridge-Brücke und schaute zum Massachusetts Technologischen Institut hinüber. »Ich möchte mal wissen, wie sie das erklären, was wir jetzt durchgemacht haben«, sagte er. »Mensch, glaube mir, die können es nicht erklären«, entgegnete Nirmal, der neben ihm saß. »Astralkörper oder Astralprojektion wären da keine hinreichende Erklärung«, meinte Hanuman. »Wir brauchten eine moderne thaumaturgische Definition. Es genügt auch schon zu sagen, daß Kali sich an zwei Orten zugleich zeigen kann.« Wrench wandte sich an Shastri: »So was Ähnliches hast du schon anfangs gesagt, Ram.« O ja, dachte Shastri. Ich war mit der unmittelbaren Antwort schnell parat. Dennoch brauchte ich lange genug, um es überhaupt zu begreifen. Wäre ich etwas weniger zynisch gewesen, vielleicht hätte ich von Anfang an den Unterschied erfaßt, der zwischen diesem und anderen Fällen zu machen ist. Damals schon, in meiner Dienststelle, als Das versuchte, mich zu warnen. Vielleicht lebte er dann heute noch. Vielleicht läge Santha dann sicher mit George im Bett und schliefe, müde von einer Liebesnacht. Sie waren auf dem Weg zum Thug-Ashram. Shastri hatte ihnen die Adresse gegeben, die er von Terranova am Telefon durchgesagt bekam, kurz bevor die Kali-Erscheinung in Georges Wohnung die Treppe hinunterstieg. »Gib Gas, George«, sagte Wrench nervös. »Wenn wir nicht vor der Polizei eintreffen, gerät mit Sicherheit alles wieder 574
durcheinander. Die machen doch nur Blödsinn.« »Diesmals werden sie vorsichtig sein«, beschwichtigte Hanuman. »Mittlerweile weiß die Polizei ja, daß die Thugs vier kleine Mädchen in ihrer Gewalt haben. Und Ihre Tochter ist auch da«, fügte er, zu Wrench gewandt, hinzu. »Woher wollen Sie das so genau wissen?« »Kunkalis Anhänger haben sie entführt. Sonst würde die Göttin sich nicht vor kurzem so dreist gezeigt haben. Sie hat ja jetzt, was sie will.« Wrench stöhnte. Hanuman versicherte ihm: »Kunkalis Reflexionen, ihre Fähigkeit und ihre Art zu denken, haben damit zu tun, Mr. Wrench.« Wrench starrte ungläubig auf die Gestalt zwischen sich und Shastri. Der Swami erwiderte den Blick, ohne ihm auszuweichen. Seine Augen waren wie Kristalle. Und dann schwieg der Swami eine Weile. Gewiß, die beiden Inder waren diejenigen, welche am ehesten verstanden, was geschehen war. Während seiner Meditation hatte der Swami Dinge erfahren, die ihn zu höherer Einsicht führten. Darum versank Hanuman jetzt auch in Meditation, während der Wagen in eine Seitenstraße einbog und fast mit einem Öltransporter zusammengestoßen wäre. Jemand fluchte, doch Hanuman blieb unbeweglich. Und nun, dachte er, werden wir ja sehen, wer mehr Macht hat, du oder Vishnu. Vishnu in seinen vielen Verkörperungen; Matsya, der Fisch; Kurma, die Schildkröte; Väraha, der Eber; Parasurama Rama mit der Axt und gleichfalls der Prinz von Ayoda. Hanuman dachte auch an seinen Meister, den gleichen Vishnara, der ihm zur Seite stand, als er meditierend an den Seilen hing. Während des Trancezustands hatte Vishnara Hanumans Astralleib in den Garten von Kunkali der Schläferin geführt. Dort befand sich stets der Astral-Träumer und Schläfer, der nur
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selten erwacht, die geistige Essenz eines Gottes oder einer Göttin, die von zahllosen Realitäten, von dem, was ist, träumen muß. Sie hatten vor der Schattenmauer gestanden, die den Garten umgab, und sein Meister hatte ihm bedeutet, dort hinaufzusteigen, hatte ihm blaue Handschuhe gegeben und die Sandalen Vishnus aus seiner Haut gefertigt, etwas, womit Kunkali auf keinen Fall berührt werden durfte. »Suche und finde einen Baum im Garten«, hatte Vishnara ihn angewiesen, »der dem Kadamba ähnelt und der Blüten aus geronnenem Blut trägt. Pflücke drei und streue deren Blätter in ihren Mund und ihre Ohren und dann streiche mit der Blütendolde über ihre Augen. Habe keine Angst vor ihren Dämonenwächtern. Berühre sie mit deinen geschützten Händen, und sie werden schrumpfen und zugrunde gehen. Aber mach schnell, denn wenn du zuviel Geräusch verursachst, während du dich dort aufhältst, wird sie erwachen.« Hanuman hatte schnell getan, wie ihm geheißen wurde. Es war ein schwieriges Unterfangen, denn die Mauer war weich und gab nach. Oben auf der Mauer hatte er eine Weile gestanden und in den Garten hinuntergeschaut, um den besagten Baum von dort aus schon zu finden. Als er ihn schließlich entdeckt hatte, ließ er sich lautlos zu Boden gleiten. Es war sehr dunkel um ihn herum. Überall hörte er Raunen, Wispern und Seufzen. Eine Eidechse huschte über den Weg und lief einen Baumstamm hinauf. Ein paar Schritte weiter stand der Baum, den er suchte. Er streckte sich, um eine der Blüten zu pflücken, doch als er sich umwandte, um nach der schlafenden Göttin zu suchen, fand er sich von fünf Dämonen umringt, einem Lämmergeier mit weiblichen Brüsten und den Schenkeln und Beinen einer Frau, einem dunklen, gesichtslosen, geschrumpften Wesen, das von einem unsichtbaren Wind geschüttelt wurde, zwei sich
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stetig verändernden schwarzen Skeletten mit roten Umrissen, die Böses ausstrahlten, und schließlich etwas, was ständig seine Form veränderte. Im Augenblick ähnelte es seinem Meister, doch seine Augen schauten ihn feindselig an. Hanuman ging, eine Hand ausgestreckt, auf sie zu. Vier der Dämonen wichen vor seinen blauumhüllten und gespreizten Fingern zurück. Doch der fünfte stürzte sich mit weitausgestreckten Armen auf ihn, als ob er ihn umarmen wolle. Hanuman berührte ihn nur mit den Fingerspitzen. Da fiel der Dämon auch schon in sich zusammen. Ein winziges Häufchen Asche blieb zurück. Hanuman ging einen Pfad an der Mauer entlang, welcher mit kleinen, grauen, verkrusteten Blättern bedeckt war, die ihm dann und wann, von einer unsichtbaren Kraft aufgewirbelt, ins Gesicht flogen. Während Hanuman mit einem Arm sein Gesicht zu verdecken versuchte, verlor er kostbare Blütenblätter von der Dolde, die er gepflückt hatte. Schließlich fand Hanuman die schlafende Göttin und näherte sich ihr auf Zehenspitzen. Wie aufzuckende Blitze tanzten Energieströme ihre Glieder auf und ab und beleuchteten den ebenholzfarbenen Körper. Ihre goldenen Augen standen, wie immer, offen, doch ihre tiefen Atemzüge und das Knirschen ihrer Fangzähne verrieten, daß sie träumte. Ab und zu bewegte sie sich im Schlaf. Als Hanuman auf allen vieren zu ihr hinüberkroch, stieß er an etwas, was lärmend zusammenschlug, und als er aufblickte, sah er den aus Schädeln bestehenden Gürtel der Göttin, der an einem Ast über ihr hing. Hanuman sah erschrocken auf die hingestreckte, schlanke Gestalt mit den zur Seite gesunkenen Brüsten. Doch, obwohl unruhig geworden, schlief die Göttin in tiefen Atemzügen weiter. Schnell nahm er die Blütendolde und ließ die verbliebenen Blätter in ihre Ohren und ihren Mund fallen. Schmatzend sog sie daran und genoß sie. Dann strich er mit der Dolde über ihre
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Augen und warf sie anschließend fort. Doch als er sich erhob, um schleunigst davonzugehen, stießen die Schädel des Gürtels wieder klappernd aneinander und bewegten ihre knöchernen Kiefer. »Lauf, so schnell du kannst!« rief die befehlende Stimme Vishnaras, und Hanuman gehorchte sofort. Er folgte einem Pfad und gelangte wieder an die Mauer. Dort stand ein Baum, dessen Stamm sich seitlich gesenkt hatte, so daß er fast auf der Mauer auflag. Hanuman kletterte mit einer Schnelligkeit seinen Stamm entlang, die seinem Beinamen alle Ehre machte. Hinter ihm ertönte ein wildes Gekreische, und eine dunkle Nebelwand rollte heran und auf ihn zu. Hanuman sprang von der Mauerzinne direkt in die Arme seines Meisters. Die dunkle Wand hatte nun gleichfalls die Mauer erreicht, vermochte aber nicht, sich darüber hinwegzuwälzen. Statt dessen zuckten wütende Blitze aus ihr hervor. »Nun hast du eine Ahnung von Kalis furchterregenden Kräften«, sagte Vishnara zu ihm. »Die Blütenblätter, die du an sie verstreut hast, werden eine Weile ihr Handeln beeinflussen. Sie wird das Wichtige nicht beachten und nur danach trachten, ihren Appetit zu stillen. Dieses Stadium wird jedoch nicht lange anhalten. Wenn du handeln willst, um sie unschädlich zu machen, so mußt du das schnell tun, mein Sohn!« »Schnell!« wiederholte Hanuman zustimmend. Im gleichen Augenblick brachte George Buchan seinen Wagen vor der Polizeimannschaft zum Stehen.
47 Dan Terranova war infolge der ewigen Auseinandersetzungen mit den Behörden schon ganz heiser. Wieder und wieder 578
hatte er Horace Birch darin unterstützt, sie davon zu überzeugen, nicht gleich einzugreifen, weil das Leben der vier kleinen Mädchen dadurch nur gefährdet würde. Horace Birch hatte bereitwillig Mai Yoginis Hilfe angenommen. Er hatte ihr völlige Straffreiheit versprochen. Sie machte gewaltige Anstrengungen, um andere Leute davon zu überzeugen, daß in diesem Hause Übersinnliches geschähe, etwas, das sich jeder irdischen Erfahrung entzöge. Das Ergebnis war verständnisloses Starren und törichtes Grinsen, bis plötzlich Charlie Adair mit Hughes und dem Bostoner Kriminaloberkommissar eintraf. Was Adair von seiner eigenen Erfahrung im Hafen zum besten gab, die anschwellenden Hände, die Schnelligkeit, mit welcher die Thugs die Bostoner Kriminalbeamten erledigt hatten, ließ die Zuhörer dann doch nachdenklich werden. Ein FBI-Mann zimmerte sofort eine Theorie zurecht, gemäß der sich die Thugs vielleicht eine Substanz injizierten, die zu der gewaltigen Vergrößerung der Hände beitrüge, und dementsprechend auch ihre Körperkräfte steigerte. Wiederum war, wie an der Begräbnisstelle, fast die ganze städtische Polizei anwesend. Auch die anderen Polizeistellen hatten ihren Beitrag geleistet, und so war eine große Truppe zusammengekommen. Glücklicherweise hatte Terranova zuerst mit Horace Birch Kontakt aufgenommen. Gemeinsam hatten sie diese stattliche Ansammlung einsatzbereiter Beamter eine Weile zurückhalten können. Der Thug-Ashram befand sich nicht weit von dieser Polizeiansammlung entfernt. Die nähere Umgebung war zur Sicherheit der Bewohner evakuiert worden. Eines der Häuser wurde von einem Lastwagen angefahren, und die Bewohner wurden in aller Heimlichkeit durch den Hintereingang in den Wagen gebracht. Zu einem weiteren Haus fuhr ein Lieferwagen, der die Hausbewohner aufnahm. Im Haus gegenüber erschien eine in Zivil gekleidete Kriminalbeamtin, die die Bewohner, die ohnehin wegen der
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Vorgänge im Haus gegenüber allmählich besorgt waren, verständigte, so daß sie paarweise und in Grüppchen im Verlauf von zwei Stunden das Haus verließen und sich in verschiedene Himmelsrichtungen aufmachten und das Weite suchten. Birch blickte auf seine Armbanduhr. Wo, zum Teufel, steckte Wrench mit seinen Leuten? Captain Adair, der ihm die Besorgnis ansah, schlug vor, schon einmal mit Terranova loszugehen. »Dan und ich kennen diese Schweinehunde mittlerweile ein wenig, Mr. Birch. Warum sollen wir beide uns nicht erst einmal hereinschleichen, die Kinder befreien, und dann können Sie mit Tränengas kommen.« Birch zeigte auf den Plan des Hauses, den sie in aller Eile von der städtischen Baubehörde im Rathaus des Stadtteils erhalten hatten. »Und wie, Captain, wollen Sie das bewerkstelligen? Es ist ein freistehendes Haus, von einem großen Grundstück umgeben. Selbst die Männer, die speziell ausgebildet sind, würden es verflucht schwer haben, sich ohne jede Deckung am hellichten Tage dem Hause zu nähern.« »Und wie wäre es mit der Garage und dem Holzschuppen?« fragte Adair, auf den Plan deutend. »Menschenskind, ich sagte doch schon, es ist Tag! Man könnte Sie ohne Schwierigkeit bereits vom ersten Stockwerk aus entdecken.« Birch musterte Adair von Kopf bis Fuß: »Und Sie sind auch nicht gerade klein.« Charles Adair grunzte nur: »Okay. Ich hätte nur gerne etwas wiedergutgemacht. Drei meiner Leute als Leichen zu sehen war schrecklich genug. Außerdem bin ich kinderlieb, habe selbst einen Haufen Töchter.« »Vielen Dank für Ihr Angebot, Captain, auch wenn es nicht zu realisieren ist«, sagte Birch teilnahmsvoll, »aber ich fürchte, wir müssen uns was anderes überlegen.« In diesem Augenblick brachte George Buchan seinen Wagen
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vor dem Polizeikordon zum Stehen. »Was habt ihr so lange gemacht?« erkundigte sich Birch und warf seinen Zigarettenstummel in den Rinnstein. »Wir hatten ein paar Schwierigkeiten«, erwiderte Wrench und blickte die Straße hinunter. »Welches Haus ist es?« Horace Birch sah, wie Wrenchs Mund zuckte. »Das vorletzte Haus vor der Querstraße auf der linken Seite.« »Brauchen Sie denn gleich eine ganze Armee von Leuten? Sagen Sie denen, sie sollen zumindest ihre Funkgeräte abstellen. Es wäre ein Wunder, wenn wir nicht abgehört würden. Die wissen doch längst, daß wir hier sind.« Birch nickte. »Leider nicht zu ändern.« »Und meine Santha ist da drin«, murmelte Wrench. Terranova trat hinzu: »Sir«, sagte er, »darf ich Ihnen Swami Hanuman vorstellen? Wenn überhaupt einer, dann ist nur er in der Lage, dort hinein zu gelangen.« Birch spürte Parkers Augen, die herausfordernd auf ihn gerichtet waren. Der FBI-Mann hatte seine eigenen Vorstellungen von dem, was jetzt zu geschehen hatte, und war darauf erpicht, sich und seine Leute in Szene zu setzen. Aber hier handelte es sich, verdammt, nicht um irgendwelche Terroristen. Nebenbei hatte er von den Kletterkünsten des Swamis gehört. Er wandte sich dem kleinen Inder zu: »Sagen Sie mir bitte die Wahrheit. Glauben Sie, daß wir schon zu spät dran sind?« »Nein«, erwiderte Hanuman einfach, »aber wir müssen jetzt anfangen.« Birch blinzelte ihm zu. »Gut, dann überlasse ich alles Notwendige Ihnen.« Er warf Parker einen stummen, aber beredten Blick zu, der besagte: Und wage nicht, dazwischenzufunken! Hanuman ging zu Shastri und Wrench hinüber und sprach eine Weile mit ihnen. Dann nahm er seinen Turban ab, übergab ihn den beiden und ging, immer unter dem Schutz der Ulmenalleebäume, langsam die Straße hinab.
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Dan Terranova sagte: »Mai Yogini hat mir erzählt, sein Name wäre Kurt Leinster. Er soll der Anführer sein.« Rama Shastri schüttelte den Kopf: »Ich sah den Anführer in dem Höhlentempel der Göttin Sati. Es war ein bärtiger Riese mit einer Stimme, die wie Donner grollte. Ich wäre nicht überrascht, wenn Leinster mit ihnen in Verbindung stünde. Aber ihr Anführer kann er unmöglich sein.« Shastri ging zu Terranovas Wagen, in dem Yogini wartend saß. Er lehnte sich in das offene Wagenfenster und sprach eine Weile leise mit ihr. »He, wohin geht denn der Kleine?« erkundigte sich jemand. »Hughes, schicken Sie einen Ihrer Leute aufs Dach, damit er feststellt, ob sie ihn sehen können.« Und eine Weile darauf: »Er kriecht durchs Gras, es steht da ziemlich hoch.« »Wer ist das überhaupt?« fragte Parker aggressiv. »Neulich abend war er noch nicht bei Ihnen.« Wrench zündete seine Pfeife an, die geröteten Augen ausschließlich auf den Pfeifenkopf gerichtet, so als wäre dies der einzig beachtenswerte Gegenstand weit und breit. In Wirklichkeit war er sich der Gegenwart des FBI-Mannes wohl bewußt, hatte auch bemerkt, daß er wie alle anderen auch an Schlafmangel litt und ihm seine Frustration ins Gesicht geschrieben stand. Wrench, der den FBI-Beamten beeindrucken wollte, wählte seine Worte äußerst vorsichtig: »Er heißt Swami Hanuman. Vor Jahren war er der einzige, dem es mehrmals gelang, hinter die japanischen Linien in Burma vorzudringen. Er ist der beste Mann, den die Inder für derartige Unternehmungen haben.« »Das stimmt«, bestätigte Birch, der diesen Wortwechsel genoß. »Bei uns liegen vom Staatssicherheitsdienst Berichte über ihn vor. Der geborene Killer. Hätte man Prämien auf das Leben von Japanern gesetzt, so wäre er ein reicher Mann.« »Kaum zu glauben –« »Glauben Sie es ruhig, Parker«, donnerte Birch. »Wir brau-
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chen Leute wie Hanuman, die was von diesen ThugismusScheußlichkeiten verstehen, mehr, als wir alle miteinander jemals kapieren werden. Sie haben ja aus erster Hand gesehen, wie sie sind. Da sitzt ja ein gefangener Thug, den Sie verhören wollten. Ja, und was ist? Der sitzt da, gibt keine Auskunft, wiederholt seine Mantras wieder und wieder und grinst bloß.« »Kein Grund, sich so aufzuregen, Horace. Ich –« »Ach, plötzlich bin ich Horace für Sie. Hören Sie, Parker, Sie haben den ganzen Morgen hier herumgestanden und mich gemustert, als sei ich ein hoffnungsloser Idiot. Das genügt, um mir Vertraulichkeiten Ihrerseits zu verbitten. Für Sie bin und bleibe ich Mr. Birch! Wenn Sie nicht akzeptieren können, wie ich vorgehe, dann würde ich vorschlagen, Sie machen erst mal einen kleinen Spaziergang. Aber nehmen Sie bitte Ihre Leute mit. Die brauche ich nicht, falls Sie immer noch darauf bestehen, ohne Rücksicht auf das Leben der kleinen Mädchen in das Haus einzudringen.« Parker öffnete den Mund, schloß ihn jedoch gleich wieder und ging zu seinem Wagen. Er rief seine Leute herbei, die sich zu ihm gesellten. Aber sie fuhren nicht ab. Horace Birch holte tief Luft. »Verdammter Blödsinn«, sagte er. »Zu viele Kommandeure auf dem Schlachtfeld vermasseln die Strategie.« Wrench ließ die Pfeife im Mundwinkel baumeln. Und den Frieden, dachte er. Hanuman hatte das Haus erreicht und preßte sich dagegen. Gleich neben ihm gab es eine Regentraufe. Die könnte er hinaufklettern und zu einem Balkon gelangen. Von da aus mußte man weitersehen, dachte er. Er ergriff die Traufe, prüfte ihre Haltbarkeit und stellte fest, daß sie sein Gewicht tragen würde. Dann kletterte er hinauf und reckte sich bereits, um den Balkon zu erreichen, als er Stimmen aus einem der Fenster links vom Balkon hörte. Er lugte hinein.
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Im Raum befanden sich vier kleine Mädchen. Das eine lag weinend auf einer Decke, ein anderes saß neben ihr und streichelte ihr beruhigend übers Haar. Ein etwas kleineres Mädchen hatte sich gleich neben dem Fenster in eine Ecke gekauert. Die siebenjährige Kleine, die Gauri Bala Hexe genannt hatte, saß neben ihr und hatte den Arm um sie gelegt. Hanuman tippte leise an die Fensterscheibe. Die Älteste blickte auf und sah in Hanumans lächelndes Gesicht. Er machte ihr Zeichen, sie möge das Fenster öffnen. Das tat sie, aber nur einen Spalt weit. »Die Polizei hat mich geschickt«, sagte Hanuman und fügte für die Kinder verständlich hinzu: »Ich bin ein guter Inder.« »Und wenn du das nur sagst?« erwiderte die Kleine mißtrauisch. »Würde ich dann hier draußen vor dem Fenster sein, wenn ich zu denen da drinnen gehörte und genauso wäre wie die?« Das überzeugte Christine Ark, die zu der Älteren sagte: »Laß ihn reinkommen, Jenny.« Sobald er im Zimmer war, ging Hanuman zur Tür und horchte. Dann versuchte er, die Tür zu öffnen. Sie war jedoch verschlossen. Daraufhin ging er zum Wandschrank, nahm einen der Drahtkleiderbügel heraus, bog und drehte an dem Draht herum und steckte ihn ins Türschloß. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Hanuman legte einen Finger auf den Mund und sagte, zu den Kindern gewandt: »Wir müssen jetzt ganz leise und ganz tapfer sein.« Die Mädchen nickten stumm. Dann öffnete der Swami die Tür einen Spalt weit und horchte auf den Flur hinaus. Kein Mensch war zu sehen, doch in der Nähe hörte er jemanden sprechen, zwar gedämpft, aber nicht allzuweit entfernt. Hanuman flüsterte den Mädchen zu, daß er gleich wieder da wäre, und schlich bis zu der Tür, aus der die Stimmen drangen, hinaus. Er legte sein Ohr daran, konnte jedoch nichts verstehen und schlich weiter. Am Ende
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des Korridors drang Gesang aus einem verschlossenen Raum. Vorsichtig drückte er die Klinke der gegenüberliegenden Tür herab, stellte fest, daß sich vor dem Raum, der leer war, ein Balkon befand und von dort eine Treppe in den Hof hinunterführte, wo sich das Podium und viele Bankreihen befanden. Vorsichtig blickte er über das Geländer hinunter. Unten, nur einige Meter von seinem Standort entfernt, stand Kurt Leinster und sprach zu seinen Anhängern. Santha saß auf einem Kissen, Gauri Bala ihr gegenüber. Hanuman wich vorsichtig zurück und eilte in das Zimmer, in dem die Kinder schon auf ihn warteten. »Wir müssen jetzt einen Ausgang finden, meine Kleinen, und ganz still dabei sein.« Die Kinder lächelten, was ihm bewies, daß sie Vertrauen zu ihm gefaßt hatten. Von Hanuman angeführt, schlichen die Mädchen, eines hinter dem anderen, im Gänsemarsch über den Flur. Immer wieder lauschend und von Zeit zu Zeit stehenbleibend, durchmaß Hanuman den Flur in seiner ganzen Länge, bis er an dessen Ende vor einer Tür stand, die nicht verschlossen war und die sich als Ausgangstür erwies, von der man über ein paar Stufen auf das Garagendach gelangen konnte, das, mit einem Geländer umgeben, die Funktion einer Terrasse hatte. Ringsum standen Blumenkästen. Vorsichtig trat er hinaus und erkundete die Möglichkeit, von hier aus nach unten zu gelangen. Dann erklärte er den Kindern, daß er als erster über das Geländer steigen, sich an den Dachrand hängen und von da aus auf das Stückchen Rasen springen würde, und daß sie, alle nacheinander, gleichfalls über das Geländer klettern sollten und er sie unten auffangen würde. Die Kinder, obwohl sehr aufgeregt, waren viel zu froh, ihrer Gefangenschaft entrinnen zu können, als daß sie ängstlich gezögert hätten. Als alle sicher in seinen Armen und auf dem Boden gelandet waren, gab es kaum noch Schwierigkeiten. Im Schutz der Garage erreichten sie ein rückwärtiges Nachbargrundstück,
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überwanden auch dort den Zaun, um gedeckt von Buschwerk und einem Gartenhäuschen, auf eine Seitenstraße zu gelangen und von dort aus im Zickzack durch zwei weitere Seitenstraßen wieder auf die Hauptstraße, die nur ein paar Meter von den wartenden Polizeibeamten entfernt war. Sobald die Mädchen sich in sicherem Polizeischutz befanden, bat Hanuman über Funk dem weiter vorne wartenden Polizeikordon auszurichten, daß er Santha Wrench lebend gesehen hätte und Wrench und Rama Shastri bäte, ihn zu begleiten. Als der Funkspruch ankam, meinte der Chef der Cambridgepolizei verdrossen: »Für was, um alles in der Welt, sind wir überhaupt hier?« Rama Shastri ergriff Horace Birch am Arm und zog ihn ein paar Schritte weiter, wo sie nicht belauscht werden konnten. »Unter der Führung des Swami haben wir eine reelle Chance, Santha zu befreien. Falls die Polizei jedoch in voller Stärke in Erscheinung tritt, werden die Thugs noch Gelegenheit finden, zu fliehen, oder …« »… das Mädchen umzubringen«, vollendete Birch. »Ja, und das kann so blitzschnell passieren, daß keiner von den Polizeibeamten es verhindern kann. Darum bitte ich Sie inständig, Sir, sie noch eine Weile zurückzuhalten!« Birch versprach es und bat Shastri ebenso dringend, jede Vorsicht walten zu lassen. Daraufhin gingen Wrench, Shastri und George Buchan durch die Seitenstraßen zu dem angegebenen Punkt, an dem sie Hanuman treffen sollten. Nirmal Kapur sah ihnen nach und bedauerte es, daß er wegen seiner Kopfwunde nicht mitkonnte. Hanuman verlor keine Zeit und erklärte ihnen seinen Plan. Als sie das Garagendach erklommen hatten und durch die Tür ins Hausinnere vorgedrungen waren, hörten sie draußen einen gellenden Schrei. »Heiliger Gott!« rief Wrench unvorsichtig laut aus und brach
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in Schweiß aus. »Ich glaube nicht, daß es Santha war«, beruhigte ihn Shastri, »dafür war es zu unmenschlich.« Sie standen abwartend da. Als Hanuman im Begriff war, sie zu der Tür zu führen, hinter der sich das Balkonzimmer befand, ertönten weitere und diesmal durchaus menschliche Schreie. George und Shastri mußten Wrench mit aller Gewalt zurückhalten, und Hanuman flüsterte eindringlich: »Erinnern Sie sich, Mr. Wrench. Wir haben keine Chance zu siegen, wenn wir nicht die Kontrolle über uns behalten!« Wrench nickte zitternd und schweißgebadet. Gauris Schrei, durch Kalis grausame Attacke ausgelöst, hallte die ganze Straße entlang. Auch die Abgebrühtesten unter den Polizisten bekamen eine Gänsehaut. Die leitenden Beamten bestürmten Birch, endlich zum Angriff überzugehen. Parker und seine FBI-Leute sprangen aus dem Wagen, um gleichfalls ihrem Zorn Luft zu machen. Unschlüssig blickte der Regierungsvertreter zu Nirmal Kapur hinüber, wohl wissend, daß dieser in enger Verbindung mit Hanuman stand. »Was halten Sie davon?« fragte er. »Kein Angriff, bevor der Meister nicht das Zeichen dafür gibt!« »Wer ist dieser junge Bengel überhaupt«, erkundigte sich der Polizeichef der Cambridgetruppe erbost. »Er ist ein Rockstar, Sir«, erklärte ihm einer seiner Leute. »Plakate von ihm sind über den ganzen Harvard-Platz verteilt.« »Ein Rockstar! Seit wann wird meine Dienststelle von einem gottverdammten Rockstar übergangen?« »Ich bin einer von Swami Hanumans Schülern«, versuchte Nirmal den aufgebrachten Polizeibeamten zu beschwichtigen. Parker wurde sichtlich nervös und redete dann wütend auf Horace Birch ein: »Also, hören Sie, mir ist es völlig egal, ob Sie sich anschließend bei einer zuständigen Regierungsstelle
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beschweren, aber ich mache das nicht länger mit! Wir gehen jetzt da rein!« Terranova stellte sich zwischen die beiden und sagte: »Polizeileutnant Terranova von der Bostoner Polizei. Bei allem schuldigen Respekt, Sir, ich glaube, daß Mr. Birch recht hat. Ich habe mit dieser Thug-Bande schon einiges auszufechten gehabt und weiß, wie gefährlich sie sind. Die Thugs haben eine Geisel da drinnen, und die ist tot, noch bevor Sie mit Tränengas anrücken.« »Die Schreie von eben lassen vermuten, daß sie es schon ist.« »Ich weiß, ich weiß, Sir«, versuchte Terranova ihn zu beruhigen. »Aber für den Fall, daß Sie es nicht ist, möchte ich vorschlagen, daß ich zwei Ihrer Leute mitnehme und wir auszukundschaften versuchen, was da soeben passiert ist. Vielleicht können wir uns dann ein Bild über die Vorgänge machen.« »Na schön«, meinte Parker und spitzte verächtlich die Lippen. »Aber beeilen Sie sich. Früher oder später rauscht die Presse hier an und erkundigt sich, warum wir hier alle dumm rumstehen, statt etwas zu unternehmen …« Birch wurde nachdenklich. Die Presse hatte von den Ereignissen in Arlington und dem Lincoln-Begräbnisplatz schon genügend bekanntgegeben. Das war auch für Washington ein gewisser Druck, den man berücksichtigen mußte. Also sagte er rauh: »Gehen Sie schon los, Leutnant Terranova …« Terranova und zwei von Parkers Leuten machten sich unter Ausnutzung des Sichtschutzes, den die Straßenbäume boten, auf den Weg zu dem Ashram und rannten, dort angekommen, in gebückter Haltung durch den Vorgarten, um zu vermeiden, daß man sie durch eines der Vorderfenster entdecken könne. »Ich gehe zuerst«, sagte einer der beiden Männer, »ich habe einen Revolver dabei.« Er klopfte wohlgefällig auf die Waffe in seinem Gürtel.
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Vorsichtig schlichen sie über den kleinen Rasenstreifen des Vorgartens, als einer der Männer zu fluchen begann: »Verdammt, ich bin über was gestolpert.« Terranova sah den Draht erst, als die dünne Grasnarbe einstürzte und eine Grube von mindestens drei Metern Tiefe, dick mit scharfkantigen Felsbrocken ausgelegt, freigab. Er hörte einen seiner Begleiter hart unten aufschlagen und baumelte selbst, sich noch so gerade an dem Stolperdraht festhaltend, über ihm. Der Schwung reichte aus, um ihn an die Grubenwand anschlagen zu lassen, doch die Wände dieses Erdloches waren nicht fest genug, um sich darin einzukrallen. Sie waren mit einem Spaten lose und glatt geschlagen worden. Er glaubte, seine Muskeln rissen. Der zweite Begleiter hielt ihn jetzt an seinem Handgelenk und Unterarm fest, mußte sich jedoch mit beiden Hacken seiner Stiefel in das lockere Erdreich stemmen, um nicht selbst mit seiner Last in die Tiefe abzugleiten. Terranova spürte, daß er ganz allmählich tiefer sank und der Helfer sich rutschend dem Grubenrand immer mehr näherte. Genau in diesem Augenblick hörte er Zweige brechen und das Geräusch eiliger stampfender Schritte. Noch eine Hand griff nach seinem Arm und zog ihn nach oben. Er blickte seinem Retter ins Gesicht. Du lieber Himmel! Es war Charlie Adair, der schwer atmend dastand und grinste: »Hallo, Sie Klugscheißer«, sagte er freundlich. »Oje!« rief der zweite Polizeibeamte und schaute in die Grube. »Smith hat sich offenbar den Schädel eingeschlagen.« Er räusperte sich und fügte hinzu. »Vermutlich machen die in Indien solche Fallgruben, um wilde Tiere zu fangen.« »Hat Birch Sie hierhergeschickt, Captain?« erkundigte sich Dan. Adair wischte sich die Stirn, spuckte aus und sagte: »Ich habe mich heimlich davongemacht, als ich sah, daß er Sie wegschickte.«
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»Danke, Sir. Wenn Sie nicht gekommen wären, wäre ich jetzt genauso erledigt wie Smith da unten.« »Oh, ich wollte bloß sichergehen, daß Sie keinen Scheiß bauen.« Adair warf einen Blick auf den Stolperdraht. »Aber das haben Sie ja jetzt doch geschafft. Sie haben bei denen die Alarmanlage ausgelöst. Hören Sie’s?« »Was machen wir mit dem armen Smith?« fragte der FBIMann. »Am besten, Sie melden es Ihrem Vorgesetzten, was anderes ist nicht mehr drin«, murmelte Adair und verschwand hinter den Büschen des Vorgartens. »Ich habe meine Waffe fallenlassen, geben Sie mir bitte Ihre, wenn Sie doch zurückgehen«, bat Terranova eilig, denn ihm ging es darum, Adair am Eindringen ins Haus zu hindern. »Meinen Sie wirklich, Leutnant, ich soll jetzt schon gehen, um Meldung zu machen?« Terranova blickte in die Grube auf den verkrümmten, leblosen Körper. »Ja«, sagte er, »ich glaube, das sollten Sie.«
48 Innen im Hause prüfte Hanuman das Balkonzimmer. Abgesehen von einem alten Büfett, das dort stand, war es leer. Vorsichtig öffnete er die Balkontür, und alle krochen so weit vor, um durch das Gitter einen Blick nach unten werfen zu können. Hanuman war der erste, der den Hof übersehen konnte. Er flüsterte über die Schulter zurück: »Santha lebt noch.« Die anderen atmeten auf. Dann war George neben dem Swami und warf einen Blick auf das Podium. Santha machte die letzten Erschütterungen 590
durch. Sie lag auf dem Rücken, stieß mal das eine, mal das andere Bein vor. Schaum stand in ihren Mundwinkeln. Dann entspannte sich ihr Körper völlig, und sie lag still da, ohne sich weiter zu rühren. Ein heller Schein, der sie umgab, verglühte allmählich. George Buchan hielt die Waffe, die ihm Terranova gegeben hatte, bevor sie sich aufmachten, in der linken Hand. Sein Blick war auf Kurt Leinster gerichtet, der nach wie vor auf seinem Thron saß. George stöhnte leise, und die Hand, die den Revolver hielt, begann zu zittern. »Vorsicht, mein Sohn«, sagte Wrench leise und ergriff sein Handgelenk. »Die ganze Zeit war es Leinster«, flüsterte Shastri mehr zu sich selbst, und dann sagte er zu den anderen: »Seht mal, er hat noch Schminkreste im Gesicht. Vielleicht wußten im Tempel von Sati nur ein paar Vertraute, wer er wirklich war, jedenfalls kein Inder.« Hanuman nickte. »Ja, Kali hat sich einen Amerikaner ausgesucht. Nur ein Amerikaner konnte auf die Idee kommen, sie hierherzuführen, wo sie sich besser verstecken konnten.« Hoch an der nördlichen Hauswand schrillte eine Klingel. Kurt Leinster sprang auf. Mit ehrfurchtsvoller Bewunderung hatte er für nichts anderes mehr als für Santha und ihren Tanz Augen und Ohren gehabt. So tragisch Gauris Tod auch war, hatte er doch die Weisheit erkannt, die in ihrer Vernichtung lag. Santha war ein weit wertvolleres Gefäß. Von nun an sollte sie die Befehlsgewalt über die Frauen haben. Sie würden sich miteinander vermählen und Kinder der gleichen Mutter sein. Zusammen würden sie ein neues Geschlecht gründen. Das Leben würde von nun an ein Epos sein, so wie er es schon immer hatte schreiben wollen, eine Heldensaga, in der Götter und Menschen wieder Verbindung zueinander aufnehmen würden. Und dann ertönte die Alarmanlage.
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»Ein Überfall«, hatte Makunda gesagt. »Warum hat uns die Göttin nicht gewarnt?« Sein Anführer wußte keine Antwort. Makunda war mit Widerwillen und ironischem Gesicht gegangen. Elvira, die in den Zügen des Thugs zu lesen wußte, war ihm gefolgt, um sicherzugehen, daß er ihren Herrn nicht verriet. Nun kam auch ein Akolyter angerannt und stand vor dem Podest. Er hatte soeben einen Blick aus einem der Vorderfenster geworfen: »Polizei, o Herr!« rief er. »Zwei von ihnen sind gerade in die Grube gefallen!« Leinster trat einen Schritt vorwärts. Er hatte seine Fassung wiedergefunden und befahl: »Bringt die Kinder. Wir werden Geiseln brauchen.« Sahib Khan und drei Frauen eilten zur Treppe. »Schnell, Steve«, flüsterte Shastri und bemerkte erst da, daß Wrench und George plötzlich verschwunden waren. Hanuman lief den Balkon entlang, dort, wo die Vorhänge zum Thron herabhingen. Wo konnte Steve nur sein? Shastri hörte das Knarren der Holztreppe. Da erschien auch schon Sahib Khan auf dem Balkon. »Rama Shastri!« rief er verblüfft, und die drei Frauen, die ihm gefolgt waren, erstarrten vor Schreck. Unten sammelten die Thug-Gurus ihre Schüler um sich und stürmten die Treppe hinauf, voller Haß Shastris Namen ausrufend. Sie schäumten vor Wut darüber, daß er ihnen wieder einmal Angst einjagte. Leinster, noch unten auf dem Podium stehend, brüllte, daß sie zurückkommen sollten, aber sie hörten ihn nicht. Ihr Haß trieb sie nur noch schneller die Treppe hinauf. Shastri zog die 32er Walther. Dennoch näherte sich ihm Sahib mit einem bösen Lächeln im Gesicht, in der Rechten die wurfbereite Schlinge.
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Fanatischer armer Irrer, dachte Shastri, bereit, den Abzug zu ziehen. Du wirst dran glauben müssen. Aber ein Rumpeln hinter ihm lenkte ihn ab. »Geh zur Seite, Ram«, schrie Wrench. Shastri trat zurück, und das Büfett wurde dicht an ihm vorbeigeschoben. Wrench und George drückten es mit aller Kraft auf den Balkon hinaus. Eine Tür des Möbels öffnete sich, und einige Kanister aromatischen Öls fielen heraus. Sahib Khan schwang sich über das Geländer und sprang in den Hof hinunter. Die übrigen Thugs waren nicht so schnell. Einige drehten sich um, konnten aber nicht verhindern, am Treppenabsatz von dem schweren Möbel nach unten und die Treppe hinuntergestoßen zu werden. Die beiden Männer gaben dem Möbel einen endgültigen Stoß, und es stürzte, die Thugs unter sich begrabend, schließlich über die Stufen hinunter in den Hof. »Das war ein Schlag, der saß, Steve!« rief George begeistert aus. Shastri schaute um sich, um festzustellen, was Hanuman jetzt wohl tat. Der Swami hatte sich an den Draperien hinuntergleiten lassen. Kurt Leinster, der ihn nicht bemerkte, stand gebückt unter ihm. Shastri beugte sich über das Balkongeländer und beobachtete, wie Leinster sich an einer Öffnung im Sockel der Statue zu schaffen machte. »Steve, die Schriftrollen!« schrie er, als Leinster die Dokumente auch schon herauszog und mit beiden Armen fest umschlang. Wrench und Shastri standen mit gezückter Waffe auf dem Balkon, um Hanuman notfalls Feuerschutz zu geben, als im rückwärtigen Teil des Geländes eine Feuersäule aus dem Holzschuppen emporschoß und einen Funkenregen über die Limousine schüttete. Der Benzintank explodierte, und gleichzeitig ging die ganze Garage in die Luft. Das Haus wurde durch die Explosion bis in seine Grundfesten erschüttert, und die Südwand begann in sich
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zusammenzufallen. Wrench ergriff Shastri und zerrte ihn noch rechtzeitig, bevor der Balkon in der Mitte auseinanderbrach, auf die Treppe und hinunter in den Hof. Taumelnd konnten sie gerade noch ihr Gleichgewicht halten, während Holzteile und sogar Ziegelsteine vom Kamin um sie herum zu Boden fielen. Rama Shastri wurde von einer Holzplanke getroffen und fiel. Wrench konnte, nur von einem fallenden Balken an der Schulter leicht verletzt, noch rechtzeitig zur Seite springen. George, der den Revolver verloren hatte, befand sich im Augenblick der Explosion noch auf dem Balkon. Fallend konnte er den Rest baumelnden Geländers erreichen und versuchte, den Blick nur auf die bewußtlose Santha gerichtet, nach unten zu gelangen. Sie war, wie er bemerken konnte, immer noch unverletzt. Neben ihr rotteten sich ein paar Thugs zusammen, so daß er nicht wagte, hinunter und mitten unter sie zu springen. Da begann, gerade zur rechten Zeit, der Rest des Balkons herunterzukrachen. Die Thugs sprangen in alle Richtungen zur Seite. George ließ zwangsläufig das Geländer los, dessen Reste jetzt gleichfalls abbrachen, und landete sicher zwischen zwei Bankreihen. Er lag bäuchlings da, die Hände über den Hinterkopf verschränkt, bis das Herniederprasseln von Staub, Holzteilen und Mörtel aufhörte. Als er sich erhob, sah er überall Wolken von Staub, durch die er jedoch Wrench erkennen konnte, der aufrecht dazwischen stand, seinen 38er Browning fest in der Hand haltend. Zwei-, dreimal schoß er in den Staubwirbel. Jemand schrie auf. »Bist du unverletzt, Ram?« erkundigte sich Wrench in die Richtung, wo er seinen Freund vermutete. »Fast«, kam die Antwort. George hatte nur einen Gedanken. Er mußte zu Santha. So kletterte er, so schnell er konnte, über die Bänke hinweg, geriet in den Gang dazwischen und erblickte den Swami, den die Explosion fortgeschleudert hatte, auf den Knien liegend. Hanu-
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man war gerade im Begriff, sich wieder aufzurappeln, als in dem Durcheinander eine Gestalt von hinten heranschlich, die Schlinge wurfbereit in der Hand. George stieß einen Warnschrei aus, ergriff eine herumliegende Holzlatte und schlug zu. Der Thug wich zurück, George schlug abermals zu und traf ihn diesmal mitten ins Gesicht. Dem Thug schoß das Blut aus der Nase. George stieß ihn vor die Brust, und der Mann taumelte nach hinten und verlor endgültig das Gleichgewicht. »Die Schriftrollen«, schrie Hanuman, immer noch schwindlig und nicht fest auf den Beinen stehend. »Ohne die Schriftrollen kann der Anführer nichts mehr ausrichten.« Der Anführer, dachte George. Er konnte sich immer noch nicht Kurt Leinster als diesen vorstellen. Dennoch war es Kurt Leinster, dieser Schweinehund, der Santha entführt und ihr womöglich irreparablen Schaden zugefügt hatte. Wie von Sinnen stürzte er nach vorne zum Podium. Auch Wrench hatte ihn entdeckt, bevor er jedoch zu ihm eilte, wandte er sich noch einmal um und schoß mit einem Wutschrei auf einen sich nähernden Thug. Ein Stöhnen, ein Fall. Dann sah er die anderen, sah ihre Umrisse in dem Staubwirbel, konnte aber nicht genau erkennen, wie viele Thugs es waren. Wrench zog den Abzug, aber die Schußblitze ließen ihn nichts deutlich erkennen. Außerdem hatte er offenbar danebengeschossen. Niemand schien getroffen. Wrench starrte in den allmählich herabsinkenden Staub und schwor sich, daß die nächsten Schüsse Treffer sein sollten, als er von hinten gestoßen und auf das Gesicht geworfen wurde. Die Gesichtshaut schürfte ab, der Kopf wurde ihm zurückgerissen. Über ihm kniete Sahib Khan, im Begriff, ihm die Schlinge überzustreifen und sie zuzuziehen. Schwere, geradezu donnernde Fußtritte waren plötzlich ganz nahe. Ein Knall, hinter Wrenchs rechtem Ohr, drohte ihm das
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Trommelfell zu sprengen. Eine Weile hörte er gar nichts mehr. Aber er konnte wieder atmen. Dafür stach ihm der Gestank von Schießpulver in die Nase. Wrench schob den schweren Körper, der auf ihm lag, zur Seite und starrte voll Bewunderung auf das Riesenloch in Sahib Khans Schläfe. Über ihn gebeugt, sprach ein Mann mit schwerer Stimme, von der er vorerst kein Wort verstand. Dann funktionierte das Gehör plötzlich wieder, und er verstand, was Charles Adair sagte: »Einen zumindest sind Sie mir schuldig!« »Weiß Gott, das stimmt«, erwiderte donnernd Wrench und wollte sich erheben, um Adair die Hand zu schütteln. Aber der war schon damit beschäftigt, Shastri wieder auf die Füße zu helfen. In der Zwischenzeit war Terranova hinzugetreten, eine blutige Schramme im Gesicht, und half seinem Vorgesetzten. Sobald das geglückt war, ging Terranova in Richtung der dicken schwarzen Rauchwolke davon. Dahinter mußte, seiner Meinung nach, auch der Thug-Führer stecken. Er mußte den Mann sehen, der so viele Menschen dem Tod preisgegeben hatte, der für das Massengrab bei Lincoln verantwortlich war. Die Dienstwaffe in seiner Hand spornte ihn an. Ihm war, als sei er der berufene Rächer, der nur deshalb verschont geblieben war, um diesem ganz besonderen Verbrecher, diesem Thug aller Thugs, das Handwerk zu legen. Hatte er sich nicht schon dreimal am Rande des Todes befunden und war doch jedesmal wieder davongekommen? Wrench suchte unter den übriggebliebenen Thugs nach seiner Tochter. Dieser klägliche Rest hatte sich aneinandergedrängt und an der Nordwand des Gebäudes Schutz gesucht. Man konnte genau erkennen, wie verängstigt sie waren. Draußen auf der Straße hörte man das Heulen von Polizei- und Feuerwehrsirenen. Es gab einigen Lärm auf der Straße. »Santha!« schrie Wrench gequält auf. »Santha!« In George Buchans Kopf hallte das Echo ihres Namens wi-
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der. Das Podium vor ihnen war jetzt ganz von schwarzem Rauch eingehüllt. Die Draperien brannten lichterloh. George schwang sich durch das brennende Chaos, und ein Streifen brennenden Tuches strich um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbei. Er fiel hin. Der Holzboden unter ihm war glühend heiß. Vor Schmerz schrie er auf, rollte sich zur Seite und erkannte Bidhan, der sich ihm näherte. Doch im gleichen Augenblick ließ ein zischender Laut Bidhan verharren, und schon sauste ihm ein Kohlebecken über Kopf und Schulter. Bidhan versuchte, sich von dem Metallgerät zu befreien, indem er an einem der Griffe zerrte. Als er bei dieser anstrengenden Prozedur entdecken mußte, daß Hanuman geworfen hatte, vergaß er George und wollte sich auf den Swami stürzen. Rama Shastri kam gerade zur rechten Zeit, als Bidhan versuchte, seine riesigen Hände um den Hals des kleinen Inders zu schließen. Als Bidhan jedoch den Erzfeind der Thugs in Reichweite vor sich entdeckte, griff er Shastri an den Schultern. Rama Shastri ließ sich näher heranziehen und stieß dem Mann die 32er Walther direkt ins Gesicht. Im gleichen Moment schrie George auf: »Seht!« Bespritzt mit Bidhans Blut und Gehirnresten, war Shastri dennoch in der Lage, in Georges Richtung zu blicken. Vor ihnen stand Leinster mit erhobenen Armen und schrie schrill: »Kunkali, Mutter, rette mich! Kunkali, komm mir zu Hilfe!« Der Rauch wurde dichter, und Leinster verschwand aus dem Gesichtsfeld. Hanuman und Shastri wichen hustend zurück, doch George sprang mitten in den Rauch hinein. Und plötzlich befand er sich in einem Kreis aus klarem Licht, ohne Glühen und Brennen. Vier gewaltige schwarze Arme streckten sich aus einer feuchten, weißen Wolkensäule, die vor Leinster niedergefahren war. Helle Funken sprühten durch den milchigweißen Dunst. Leinster legte gerade die Rol-
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len in riesige, mindestens einen halben Meter breite Hände, deren Finger sich sofort darum krallten. Kurt Leinster wandte sich um, erblickte George und beugte sich zu Santha nieder. George schrie: »Nein!« Er war fast besinnungslos vor Angst und setzte zu einem Riesensprung an. Leinster ergriff die heilige Spitzhacke. George stieß ihn von hinten in die Kniekehlen, und beide fielen zu Boden. Leinster stieß einen grollenden, bösen Ton aus und hob die Hacke über den Kopf. Hinter ihnen erschien Terranova, geblendet durch den beißenden Rauch, kaum fähig, etwas zu erkennen. Aber die beiden miteinander ringenden Gestalten waren nicht zu übersehen. Er hielt die Waffe in beiden Händen, zielte und schrie: »Polizei!« Er zielte direkt auf das Gesicht, das zu ihm hinaufstarrte. Es war so weiß wie der Dunst, der sich jetzt erhob und davonwirbelte. Es schien in mehrere Teile zu zerfallen und sich wieder zusammenzusetzen. Die aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen blieben jedoch konstant, starr, voller Angst und Schmerz und voller Blutdurst. Kurt Leinsters Vergangenheit mit der Göttin Kali hatte ihre Spuren hinterlassen. »Aufstehen!« schrie Terranova haßerfüllt und voller Abscheu. Während sich Kurt erhob, stieß er George zur Seite. Dieser sprang, auf weitere Angriffe gefaßt, blitzschnell auf die Füße. Leinster hingegen verhielt sich unnatürlich ruhig und stand nur mit seitlich geneigtem Kopf da. »Lassen Sie die Hacke fallen!« befahl Terranova. Leinsters Blick wanderte zu Santha. »Sie gehört mir!« forderte er George heraus. »Schießen Sie, Leutnant, um Gottes willen, schießen Sie!« bat George und blickte sehnsüchtig auf die Waffe in der Hand des anderen. »Lassen Sie die Hacke fallen«, wiederholte Terranova und
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ging einen Schritt auf Leinster zu. Leinster tat, als sähe er durch ihn hindurch. Und plötzlich wußte Terranova, daß er auf irgendwas wartete. JEMAND hörte er dann, ein heiser ausgesprochenes Wort. Es war ein Laut, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Der Lichtkreis wurde heller und greller. Terranova fuhr gegen seinen Willen herum und erblickte die ehrfurchtgebietenden Arme, die nach Leinster griffen. JEMAND wiederholte die Stimme, so daß George von dem Windstoß, der damit einherging, zurückgeworfen wurde. Terranova stemmte sich gegen diese fremde Kraft. Leinster hingegen strebte den geöffneten Armen entgegen. George schrie von irgendwoher: »Dan, geh von ihnen weg!« Dann erzitterte der Platz. Terranova verlor das Gleichgewicht und begann zu schwanken. Aus seinem Revolver lösten sich ein, zwei Schüsse, die in den Boden fuhren. Der schwankende Terranova versuchte, sich wieder aufrecht hinzustellen. Ein Gesicht war über ihn geneigt. Dan Terranova hob abwehrend den Arm über seinen Kopf. Doch Leinsters Spitzhacke fuhr ihm in die Schulter und senkte sich ihm genau hinter dem Schlüsselbein ins Fleisch. Für eine Sekunde blickten sich die beiden Männer an. Terranova fühlte sich plötzlich hochgehoben. Sein Lebensatem ging irgendwo tief in seiner Brust verloren. Leinster, das Bewußtsein seiner selbst, und die sich auflösende Umgebung vermischten sich zu etwas völlig Unbedeutendem und Sinnlosem. Leinster stieß die Spitze der Hacke noch tiefer. Terranova brach zusammen, sein Gewicht zog die Hacke mit sich. Leinster setzte den Fuß auf den leblosen Körper, um die Hacke wieder herauszuziehen. Als er sich umwandte, sah er, wie George die bewußtlose Santha durch den Rauch davontrug. Er hörte Stephen Wrench
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seinen Namen rufen. Alle liefen zusammen, Shastri, Hanuman und die Polizeibeamten. Er zögerte noch. »KOMM!« befahl Sie. Leinster sah die Gesichter seiner Feinde in dem Lichtkreis auftauchen. Er warf sich in die Umarmung zweier von Kunkalis vier Armen. Ganz leicht und geschwind hob sie ihn in die weiße Wolkensäule, die sich in sich selbst auflöste. Leinster und die Göttin waren verschwunden.
49 Der Krankenwagen raste durch die Straßen von Cambridge. Polizeiwagen fuhren mit Sirenengeheul voraus, um den Weg frei zu machen. In einem saß Stephen Wrench und starrte auf seine bewußtlose Tochter. In einem weiteren Wagen fuhr Horace Birch mit George Buchan, Hanuman, Shastri und Nirmal Kapur. Sie saßen schweigend in dem Gedanken an den Leichenwagen hinter ihnen, in welchem der tote Dan Terranova transportiert wurde. Neben ihm saß Captain Adair und wischte das Schweißband seiner Dienstmütze ab. Dann zog er das weiße Tuch zurück und blickte eine Weile in das stille Gesicht. »Dummer Kerl«, sagte er laut und traurig. »Warum mußtest du dich da reinstürzen und dich umbringen lassen? Guter Gott, keiner hat von dir erwartet, daß du der Musterpolizist sein solltest, der sein Leben einsetzt. Du hättest es besser haben können, mein Junge, mit deinem Grips und deinem guten Aussehen. Eines Tages wärst du Departmentchef geworden, hättest am Schreibtisch gesessen und das süße Leben genießen können. Statt dessen stürzt du dich ins Getümmel und stirbst dienstlich.« Er hustete krampfhaft und fuhr fort: »Aber ich 600
werde deine Besserwisserei vermissen.« Er ließ das Tuch sinken. »Na, denn geh dahin. Dein Anblick macht mich elend.« Kurt Leinster blickte um sich und wartete. Er dachte, daß er vielleicht über ihnen sei, aber nein, es war, als befände er sich mit ihnen auf gleicher Ebene. Der Ort, an dem er sich befand, war dunkel und sehr kalt, und nur, wenn eines dieser ewig flatternden Geschöpfe mit den hämischen, fast menschlichen Gesichtern erschien und die lodernde Zunge herausstreckte, konnte er die Höhle etwas besser erkennen. Die Landschaft tat seinen Augen weh. Nichts stand im richtigen Verhältnis zueinander. Die Linien und Schneidepunkte wechselten, lösten sich auf. Das einzig wirklich Konstante war diese wahnsinnige Kälte. Mutter, rief er, jetzt sehe ich sie. Ja, entgegnete sie, und er glaubte, die Andeutung eines Lachens zu vernehmen. Mutter, fragte er, warum sind wir hier? Warum bin ich allein? Warum habe ich dich verloren? Denk nicht über die Welt nach. Meditiere und sei von Herzen froh, daß wir zusammen sind. Kurt Leinster seufzte. Er versuchte zu gehen. Doch die Beine versagten ihm den Dienst. Siehst du, was du getan hast? hörte er eine Stimme fragen. Kurt blickte nach unten und sah Terranova im Leichenwagen unter dem weißen Tuch liegen. Ja, dachte er, das habe ich getan. Aber wir hatten keinen Erfolg, Mutter. Man hat uns vertrieben. Wir müssen fliehen. Was hat das alles zu bedeuten? Er ist tot, mein Sohn. Aber die anderen doch nicht. George Buchan lebt. Santha ist nicht bei mir. Ich bin hier allein, Mutter. Die Dinge bewegten sich in der Dunkelheit. Ein weiteres, fliegendes, hämisches Gesicht mit gespaltener, feuriger Zunge
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glitt vorbei, und diesmal bestand die Landschaft aus schwammigen Hügeln, zwischen denen dünnes Gewebe gespannt war. Kurt Leinster fragte sich, was das war, was da über dieses dünne Gewebe kroch. Es war noch immer kalt. Er wünschte, er könnte gehen, nur einen einzigen Schritt weitergehen. Kurt versuchte, sich auf das über ihm oder unter ihm oder neben ihm, oder wo auch immer, zu konzentrieren. Santha Wrench schlug die Augen auf. »Mein Kleines!« sagte ihr Vater. »Daddy, Daddy«, erwiderte sie und begann zu weinen. Das ist der, den ich hätte umbringen sollen. Ich hätte zuerst die Schlinge auf ihn anstatt auf George richten müssen, oder auf die anderen, dachte Kurt. Daddy! Er haßte dieses Wort und seinen Klang. Und dann sprach die Mutter. Ihre Worte berührten ihn wie arktische Finger. Wir haben die Rishi-Rollen. Sie gehören immer noch uns. Aber warum sind wir dann hier? Warum müssen wir warten? Wir warten doch, oder? Werde ich Santha je wiedersehen, Mutter? Ich sollte hier nicht so allein sein. Die Ambulanz hielt vor dem Krankenhaus. »Wo ist George?« fragte Santha plötzlich. »Es ist ihm doch nichts passiert?« »George geht es gut«, beruhigte sie Wrench. »Ganz sicher?« »Aber natürlich, Santha.«
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Sie streckte ihre Hand aus, und er nahm sie. »George ist völlig in Ordnung«, wiederholte er. Santha hob den Kopf: »Du würdest mich nicht anlügen, nicht wahr?« »Jetzt ist es aber genug«, sagte der Notarzt. »Ich gebe ihr wohl besser eine Spritze.« »Nicht wahr, das würdest du nicht …?« Wrench ergriff ihre Hand: »Natürlich würde ich das nicht tun. Du siehst George bald.« »Armer Kesari.« Santha weinte leise in sich hinein. »Ich habe ihn wegen Kurt verlassen. Er ist der Thug-Anführer, Dad.« »Ich weiß, mein Liebes. Nun ruh dich aus.« Der Arzt beugte sich vor und verabreichte ihr die Spritze. Ich verstehe das nicht, Mutter, sagte Kurt, warum ist Santha nicht bei mir? Ich liebe sie doch. Sie sollte bei mir sein. George ist doch nur dumm. Er kennt keine Visionen. Und er hat keine Bestimmung. Er wartete, aber diesmal kam keine Antwort. Ein geflügeltes Geschöpf huschte vorüber und setzte sich auf die Erhebung seines Knies. Es ließ die Zunge nach links und nach rechts tanzen, und schon war die Höhle erleuchtet. Von den Stalaktiten hingen schuppige Frauen herab. Ihre langen, strähnigen Haare waren blutrot. Warum bleiben wir hier? Was machen die entsetzlichen Frauen dort? Die überwintern, antwortete die Mutter. In der Klinik angekommen, legte Wrench seine Hand auf Hanumans Schulter: »Wird Santha das jemals überwinden?« »Sie lieben Santha sehr«, entgegnete der Swami und nickte
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George und Shastri zu. »Ihre Liebe wird sie wieder ganz gesund werden lassen. Sie wird sich bald erholen und ihre Kräfte zurückgewinnen.« Wrench nickte. »Bitte, mach, daß er recht behält!« betete er im stillen. Mutter, fragte Kurt Leinster, warum antwortest du mir nicht? Soll das alles ein Geheimnis bleiben? Werde ich nicht mehr gehen können? Warum nicht? Warum bin ich hier? Warum habe ich Santha Wrench verloren? Er hörte aus der Ferne ein heiseres Lachen, ganz weit weg. Mutter, schrie er auf, warum bin ich gefangen? Was bedeutet das alles? Die Kälte wurde immer schlimmer. Kurt erinnerte sich vage, über jemanden etwas gelesen zu haben, der für alle Ewigkeit in einem Block schwarzen Eises eingeschlossen blieb, gefangen für alle Zeiten. Es war ein Gedicht gewesen, oder nicht? Es hatte von Satan gehandelt, oder wie war das gewesen? Warum konnte er sich nicht erinnern? Mutter, bat Kurt, Mutter … Ganz von ferne kam gehauchtes Gelächter … Was geschieht mit mir? Er fühlte es schwer wie Fels auf der Brust. Flügelflattern. Ein stinkendes, hybrides Wesen mit Menschenantlitz streckte die Zunge heraus, von der breite Streifen Lichts in Kurts Augen fielen. Bitte, sag mir doch, Mutter. Bitte, was geschieht mit mir? Was muß ich tun? Ganz leise kam eine eher neurologische Vibration, keine Stimme: Winterschlaf. Winterschlaf. Winterschlaf. Das geflügelte Geschöpf flog davon. Alles wurde schwarz. Alles war still. Der Felsbrocken reichte ihm nun bis zum Hals herauf. Das geflügelte Geschöpf kehrte wieder, und bevor Kurt
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Leinster alles vergaß, was er je gewußt hatte, erreichte ihn die letzte Vibration: Schlaf, mein Kind, schlaf.
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EPILOG Man konnte sich nichts Schöneres vorstellen als diese Dachterrasse. Stephen Wrench schaute auf die Esplanade und die angrenzenden Wiesenflächen hinunter. Schon kamen die Leute mit Liegestühlen, Sonnenschirmen und Decken. Um drei oder vier Uhr nachmittags würde der ganze Rasen mit Sonnenhungrigen überfüllt sein. Da inmitten der Menge zu sitzen wäre nichts für ihn, überlegte er. Er würde bleiben, wo er war, und von dort aus dem Freiluftkonzert zuhören. Außerdem war heute ein besonderer Tag. In den letzten Monaten waren Freunde, die ihm alles bedeuteten, und Santha immer bei ihm gewesen. Was konnte er sich mehr wünschen. Er schlürfte seinen Drink und lauschte auf die Musik und das Stimmengewirr. Nirmal Kapur zupfte an seiner Sitar. Wrench setzte sich in seinem Stuhl aufrecht hin. Nicht schon wieder, dachte er. Als Wrench Hanuman und Nirmal zum Tee einlud, hatte Santha gebeten, der junge Musiker möge seine Sitar mitbringen, und Wrench, der dieses Instrument nahezu ein Leben lang über sich hatte ergehen lassen, fand, daß die halbe Stunde, während der junge Mann dröhnend immer neue Variationen gespielt hatte, völlig ausreichend war. Alle übrigen tranken Tee und aßen die Plätzchen, die Santha gebacken hatte. Außer Hanuman, der seinen eigenen Süßigkeitsgeschmack hatte. Santha hatte ihm zuerst eine indische Pastete backen wollen, doch dann hatte sie sich dagegen entschieden. Allzuviel Indisches auf einmal verursachte ihr immer noch Unbehagen, und das war in Anbetracht der zeitweilig noch auftretenden Alpträume kein Wunder. Dies, und zeitweilige Depressionen.
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Es könnte wahrhaftig schlimmer sein, sagte sich Wrench. Sie könnte den Kontakt zur Realität völlig verloren haben, wie die Fachleute das nannten, oder gar tot sein. Doch gleich darauf schüttelte er den Kopf. Nein, nicht tot. Leinster, dieses Monster, hätte Santha gerne lebendig gehabt. Für sich, der gottverdammte Schurke. Es gab auch verschiedenes, an das sich Santha nicht mehr erinnern konnte, und das war ja wohl auch besser so. Kurz bevor sie gerettet wurde, mußte ihr etwas zugestoßen sein, das wohl nur jemand begreifen konnte, der mit einem Fuß in dieser und mit dem anderen in der jenseitigen Welt stand, wie beispielsweise Hanuman. Das war ja auch ganz in Ordnung so. Wrench hatte das sichere Empfinden, daß längere Betrachtungen und fortgesetztes Rätselraten darüber gleichbedeutend wären mit einem Blick ins Antlitz der Medusa. Man sollte diese Dinge lieber ruhenlassen. Doch manchmal, das wußte er, überlegten sie, die das alles miterlebt hatten, ob es nun auch wirklich und ein für allemal vorbei war. Nirmal erzählte gerade von einer Rockoper. Er wollte gerne eine komponieren. Irgendwann einmal. Etwas, was Ost und West miteinander verband, Brücken schlug, dahin wie dorthin, und alles durch die Musik. Es war sein Hauptgesprächsthema. Er saß mit dem Swami auf einer Decke. Hanuman hatte Erfrischungen abgelehnt, und nach vielen hartnäckigen Fragen kam Santha schließlich auf die geheimen Schwächen dieses Mannes. Ja, sagte sie zu ihm, sie habe etwas davon im Kühlschrank. Und da hockte er nun und löffelte zerstoßene Walnüsse in Ahornsirup. Wrench hörte George Buchan, der neben Santhas Liegestuhl kauerte, mit leiser, eindringlicher Stimme auf sie einreden, und griff nach seiner Pfeife. Es war ihm, als höre er in naher Zukunft Hochzeitsglocken läuten. Santha versicherte George soeben, daß sie sich wohl fühle,
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einfach gut. Sie trug ein blaßlila Sommerkleid und dazu passende, flache Pumps. Sie dehnte sich behaglich im Liegestuhl, und ihr Haar glänzte in der Sonne. Rama Shastri stand an das Geländer gelehnt und nahm die Brille ab. Hinter ihm floß der Charles River, mit Booten überfüllt, deren weiße, blaue und gelbe Segel sich in der Brise wölbten. »Wo blickst du hin, Onkel Ram?« »Ich schaue mir die Boote an, Santha«, antwortete er. Sie kicherte. »Er schwindelt«, sagte sie leise zu George. »Seit einer halben Stunde schaut er hinter den Mädchen auf der Esplanade her.« Wrench erhob sich. Er bewegte sich ein wenig linkisch in seinen kurzen Sommerhosen, und er dachte, daß es an der Zeit sei, seinen Lebensstil zu ändern. Vielleicht könnten er und Rama einmal damit beginnen zu joggen. Shastri hatte es eigentlich nicht nötig, aber Wrench fand, allein über die Esplanade zu traben wäre doch ein recht einsames Vergnügen. Er stellte sich neben seinen Freund. In letzter Zeit war Rama Shastri sehr still gewesen, und Wrench verstand, daß nun, nachdem das Thug-Abenteuer hinter ihnen lag, die Zeit zum Nachdenken und zum Heimweh angebrochen war. Jetzt vermißte er wohl Indien und diese Frau, die er zurückgelassen hatte, die Ileana hieß. Shastri sprach zuerst: »Sei auf der Hut, mein Freund. Santha wollte Hanuman heute gerne hier haben. Sie wird dieses gewisse Thema bald anschneiden.« Wrench verschluckte sich fast an seinem Pfeifenrauch. Shastri hatte schon früher eine ähnliche Vermutung ausgesprochen. Er schaute zu der kleinen Gruppe hinüber. Santha, George und Nirmal amüsierten sich köstlich über irgend etwas. Er sagte: »Schau doch, sie lächelt. Sie hat Spaß am Leben, Ram.« »Santha hat nicht einmal darüber mit uns gesprochen, Steve. Ich nehme an, sie hat sich den Ärzten gegenüber ein wenig
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darüber ausgelassen. Aber nie uns gegenüber. Dabei sind wir dabeigewesen, als es geschah. Macht dich das nicht stutzig, Steve? Es ist, als hätte sie Angst davor, daß einer von uns beiden eine Meinung äußern könnte, mit der sie nicht einverstanden ist.« »Nicht vor Hanuman. Wenn einer in der Lage ist, ihre Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, dann ist er es.« Genau in diesem Augenblick schlug das Wort »Kurt« an ihr Ohr. Es war, als habe Santha auf ein Stichwort hin zu reden begonnen. Sie schluckte und zögerte noch ein wenig. »Wer war er eigentlich, Swami Hanuman? Er war ein verlorener junger Mann, und dann … in ihrem Ashram war er so …« Sie konnte den Satz nicht beenden. In dem Schweigen, was daraufhin eintrat, sah Wrench, wie George blaß wurde. »Vielleicht war er zwei Personen«, schlug Hanuman vor. »Aber … wie ist so was denn möglich? Konnte er jedesmal so davon überwältigt sein, so wandelbar …? Bin ich, wie er, ein böser Mensch? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit!« Sie begann zu weinen. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. »Santha!« bat George. »Ich muß es wissen. Ich muß das alles verstehen können.« Hanuman stand da. Sein Turban war wie ein bunter Vogel, der sich auf seinem Haupt niedergelassen hatte. »Was suchen Sie? Die Überzeugung, daß Sie ein absolut guter Mensch sind? Glauben Sie, die Frage nach Santhas Bösartigkeit ist eine Garantie für das Gegenteil? Die menschliche Seele hat ein Leben lang zu kämpfen, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Tausend Gurus könnten Ihnen da keine präzise Antwort geben. Warum erwarten Sie das also von mir? Sie sind die alte Santha und vielleicht noch etwas mehr aufgrund dessen, was sie alles an Konflikten durchgemacht haben.
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Das alles spricht für Santha Wrench. Auf diesen Augenblick bezogen.« Nirmal fügte hinzu, was ihm durch den Kopf ging: »Es ist wie ein Rhythmus in der Musik, Santha. Es bewegt dich, regt dich an, aber man muß nicht ewig nur bei diesem Rhythmus bleiben. Immer wechselt die gleiche Musik. Die spielte er, dazu tanzte er, und es war alles schlimm und disharmonisch. Aber das bist doch nicht du, Mädchen. Man sieht dich an und hört sogleich viele verschiedene Klänge. Man sieht dich an und denkt an Tempeltänze zum Klang der Tablatrommeln, oder ein anderes Mal ist es ein Tenorsaxophon, das beschreibt, wie hübsch und anmutig du bist.« Santha strahlte. »Dafür könnte ich dich küssen, Nirmal«, sagte sie, nahm seine Hand, zog ihn zu sich heran und tat es. »Na also«, sagte Hanuman lächelnd, »wieder einmal hat der Schüler seinen Meister ausgestochen.« Später, als Hanuman und Nirmal die Gesellschaft verließen, um noch anderen Verpflichtungen nachzukommen, gab ihnen Wrench das Geleit bis zur Haustür. Draußen dankte er Nirmal dafür, daß er den Tag gerettet hatte. Er schüttelte beiden die Hand und blickte ihnen nach, bis sie in der Charles Street verschwanden. In der Diele blieb er stehen und holte tief Luft. Santha würde Nirmals Worte nie vergessen, dessen war er sicher. Es war genau die richtige Art, eine einfache Erklärung, wie eine junge Frau sie brauchte. Santha Wrench wurde von jeher von guten, gesunden Gefühlen, von romantischen Ideen und von Musik getragen. Wieder auf der Dachterrasse angekommen, sah er Santha in ein angeregtes Gespräch mit George und Rama Shastri vertieft. »Santha will etwas bekanntgeben«, sagte George. Sie lächelte herzlich: »Ich habe mich entschieden, wieder zur Arbeit zu gehen, Daddy. Bald. Ich weiß nun, daß ich es wieder
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leisten kann.« Sie erhob sich. »Swami Hanuman hat recht. In diesem Augenblick spricht alles für mich.« Sie streckte die Hand aus, die George ergriff. Unten begann die Promenadenmusik. »Ich möchte tanzen, Kesari«, sagte sie. Das Paar tanzte über die Dachterrasse, an Stephen Wrench und Rama Shastri vorbei. Santha winkte beiden zu. »Noch einmal rundum«, sagte sie lachend zu George. Es war Kamalas Lachen. Wrench blickte zu Shastri hinüber und wußte, daß auch sein Freund in diesem Augenblick an Kamala dachte.
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GLOSSAR Achkan Männermantel, einer Tunika ähnlich Akali politische, oftmals militante Organisation Akshara geheiligte Silbe Arjuna Held des Epos Mahabharata Arun Suryas Wagenlenker, welcher keine Beine hat; das Symbol der Dämmerung Asabas Positionen, die man während der Yoga-Meditation einnimmt. Ashram mönchische Unterkunft Asrave geistige Vergiftung Attar Parfüm aus Rosenblättern
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Avatar Ein Gott, der in Menschengestalt auf die Erde herabsteigt. Avidya Weltillusion Baba alter Mann Babu Sekretär Bajadere Tänzerin Bhakti Ein Mensch, der sein Leben im Dienste Gottes und im Dienst der Menschen verbringt. Bharata Natyam Einer der vier klassischen Tanzstile. In Südindien geübter Tempeltanz Bhowani anderer Name für Kali Brahma oberster Gott der Hindu-Dreieinigkeit Charpoy Bett mit Seilen an der Seite
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Chela Schüler Chudders Tücher Dacoit Räuber Danda aus Bambus gefertigte Gegenstände Dassis Prostituierte; einer, der die Straße entlang geht Deva guter Geist Devi anderer Name für Kali Dharma Heiliges Gesetz, der Pfad, den ein Mensch, entsprechend seiner Natur und seiner jeweiligen Lebensphase zu gehen hat. Dhai Hebamme Dhoti in besonderer Weise drapierte Männerkleidung
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Fatima Tochter Mohammeds; für die Moslem Thugs der Name für Kali Ganesha der Elefantengott Ghat Ein Erdwall, von dem aus man zum Baden geht, auf dem Bestattungsfeuer entzündet und auf dem den Göttern Opfergaben dargebracht werden. Ghee von allen Nebenbestandteilen gereinigte Butter Gita oder Bhagavad in Versen geschriebenes Buch der Weisheit Gita Goor Zucker grober Zucker Gurkha Angehöriger einer in Nepal ansässigen Bevölkerungsgruppe Guru spiritueller Lehrer, Meister Huzoor Herr, Fürst Kali Göttin der Vernichtung
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Kali Mahila Mandai Frauengruppe Kali Yuga das gegenwärtige Zeitalter der vier in der Hinduzeitrechnung verankerten Urzeitalter, eine dunkle Zeit Karma Die Bestimmung, der man durch eigenes Verhalten unterworfen ist. Kaula eine Form des Tantra-Buddhismus Kesari Löwe Kotwal Polizeiverwaltungsstelle Kotwalee Polizeiwache Kunkali Name für Kali; die Menschenfresserin Mantra Gesang, Zauber oder Gebet Maya Illusion
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Mudra Geste von religiöser Bedeutung Mûri getrockneter Reis Namaskar Begrüßung Nautch ein indischer Tanz Mautch girl tanzendes Mädchen Panjika astrologischer Almanach der Hindus Raj Regel, Gesetz Raktavija Dämon, der Kali bekämpfte. Ramasi Geheimsprache des Thugismus Rishi Uralt-Seher, die seit Zeitanbruch anwesend sind. Rumel Schal oder Kordel, mit denen die Thugs ihre Opfer strangulieren.
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Sadhu heiliger Mann Sadvi heilige Frau Samadhi das Stadium reinen Bewußtseins Saptak Musikalische Einheit in der indischen Musik, entspricht in etwa der westlichen Oktave. San weibliches Bekleidungsstück, auf besondere Weise drapiert Shani Saturn Shruti Erleuchtung Sikh Anhänger einer religiösen Bewegung Somosas gewürztes, mit einer Paste angerichtetes Gemüse Sona Goldschmied Surya der Sonnengott
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Suttee die Sitte der Witwenverbrennung bei lebendigem Leibe anläßlich des Todes des Ehemannes Tantra esoterische, erotische Yogalehre Der Todesruf der Thugs in Ramasi: Tamakhu Kha-lo! Rauche Tabak Sanp Schlange Rikka-Zeichen ein kosmetischer Punkt auf der Stirn Veden die frühesten indischen Schriften Vishnu der zweite Gott in der Hindu-Dreieinigkeit Yoni weibliches Genital
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