Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 581 Zone-X
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 581 Zone-X
Der ruhelose Wanderer von Peter Griese Chybrains kosmische Abenteuer In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestehen müssen. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen einigermaßen genau bestimmt zu haben glaubt. Aber die SOL und ihre Bewohner haben es nicht nur mit Feinden im All zu tun, sondern sie finden in den Weiten zwischen den Sternen auch Freunde und Helfer. Zu diesen hilfreichen Wesenheiten gehört auch das seltsame Geschöpf, das sich Chybrain nennt. Chybrain ist DER RUHELOSE WANDERER …
Die Hauptpersonen des Romans: Chybrain - Der kosmische Wanderer enthüllt sein Ich. Sanny - Die Paramathematikerin erkennt Zusammenhänge. Traftab - Herrscher über Gawtein. Fab - Master von Karjanta. Atlan - Der Arkonide enthält einen Hinweis.
1. »Im Vergleich zu dir, Sanny, bin ich alt. Aber in Wirklichkeit bin ich eher ein Kind. Doch laß mich dort anfangen, wo meine Erinnerung beginnt, kurz nach meiner Geburt.« Die Stimme war lautlos, und sie erschien als telepathischer Impuls direkt im Gehirn der Molaatin, die gespannt auf ihrer Liege hockte und auf das 18 Zentimeter hohe und 11 Zentimeter dicke Kristallei starrte. Das war Chybrain. Die Oberfläche des eiförmigen Körpers bestand aus ineinander übergehenden sechseckigen Flächen, die abwechselnd hellgrün und fahlrot glitzerten. Die Farben waren sanft wie die telepathische Stimme. Chybrain schwebte in der Mitte des Raumes. Da er von allen Seiten völlig gleich aussah und seine Außenhülle ansonsten keine hervorstechenden Merkmale aufwies, fühlte sich Sanny nicht direkt beobachtet. Es war nur die Stimme, die zeigte, daß Chybrain mit ihr in Kontakt stand. Die Paramathematikerin hatte erkannt, daß Chybrain einen Gesprächspartner suchte und sich ihr anvertrauen wollte. Ein Wesen, wie es Chybrain war, war Sanny noch nie in ihrem Leben begegnet. Das galt auch für Atlan, wie überhaupt für alle Solaner. Chybrain umgab mehr als ein Geheimnis. Sein Aussehen war so
fremdartig, seine Fähigkeiten so unglaublich, sein Verhalten so verwirrend, sein bisweilen auftretender Spieltrieb so widersprüchlich, seine Hilfsbereitschaft so wichtig. Ohne dieses Kristallei wäre Atlan nicht mehr am Leben, und ohne es würde die SOL nicht mehr existieren. »Ich werde dir zuhören, mein Freund«, sagte die Molaatin bedächtig. »Auch wenn ich nicht einmal weiß, ob du ein Lebewesen oder eine Maschine bist. Ich verdanke dir viel, die anderen auch. Wenn ich dir helfen kann, dann werde ich es tun.« »Wir haben eins gemeinsam, Sanny. Für euch alle wirke ich geheimnisumwittert und rätselhaft. Erwarte von mir keine vollständige Aufklärung über mich, denn über eins mußt du dir von vornherein im klaren sein. Ich bin mir selbst ein Rätsel, und daß ich jetzt zu dir spreche, verbinde ich mit der Hoffnung, etwas Klarheit in mein eigenes Ich zu bringen.«
* Die Umgebung war dunkel. Ich fühlte instinktiv, daß ich einen Sehsinn besaß, aber entweder funktionierte er noch nicht, oder da war nichts, was er wahrnehmen konnte. Heute weiß ich, daß mein Verstand damals überhaupt noch nicht vorhanden war. Bis er sich entwickelte, sollte noch viel Zeit vergehen. Aber ich wußte, daß ich geboren worden war. Es war ein für mich unfaßbarer Vorgang gewesen, auf einmal da zu sein. Davor war das wirkliche Nichts. Meine Versuche, mich an diese Geburtsstunde zu erinnern, scheiterten vollkommen. Heute glaube ich, daß meine Eltern mich unmittelbar nach der Geburt verstoßen oder ausgesetzt haben. Vielleicht wurden sie auch dazu gezwungen. Jedenfalls weiß ich,
daß ich das hatte, was man in deiner Sprache einen Vater und eine Mutter nennt. Später spürte ich manchmal ganz deutlich, daß meine Eltern irgendwo waren. Die Gewißheit, nicht allein zu sein, gewann wieder an Boden. Aber der letzte Beweis fehlt mir noch heute. Es ist ein furchtbares Problem, allein aufzuwachsen, zu wissen, daß man Eltern besitzt und gleichzeitig zu erkennen, daß man sie selbst dann nicht erkennen kann, wenn man ihnen begegnet. Wahrscheinlich ergeht es meinem Vater und meiner Mutter nicht anders. Sie würden mich nicht als ihren Sproß identifizieren. Ich war da, doch meine Existenz war von einer Fragwürdigkeit behaftet, die mich anfangs verzweifeln ließ. Ich war da, aber ich war nichts. Ich wußte nichts, ich konnte nichts. Eine Zeitspanne nach meiner Geburt, als sich das zu regen begann, was ich heute meinen Intellekt nenne, empfing ich zwei verstümmelte Worte. Es waren Worte, die entweder seit meiner Geburtsstunde in mir bereits geschlummert hatten oder die mich auf telepathischem Weg erreichten. Es ist sicher, daß sie von meinen Eltern stammen, und zwar von jedem Teil ein Wort. Mir bedeuteten diese Worte anfangs nichts. Erst später bestimmten sie mein ganzes Handeln, als ich ein Daseinsziel gefunden hatte. Leider hat bis heute niemand den Sinn dieser Worte verstanden, obwohl ich sie millionenfach hinausgeschrien habe. Das eine Wort lautet CHY oder CHILD, das andere BRAIN. Ich bildete daraus die Verbindung: CHYBRAIN. Mein Name ist ein Rätsel, das mich eine Ewigkeit begleitete. Erst in der jüngsten Vergangenheit gelang es mir, den Sinn auszuspähen, denn einige Bewohner der SOL die sich mit früheren Sprachen befassen, haben bisweilen gleiche oder sehr ähnliche
Worte benutzt. Ich habe daraus gefolgert, daß es eine Verbindung zwischen mir und den Solanern oder ihren Vorfahren geben muß. CHILD steht in einer alten Sprache für KIND, NACHKOMME, SPRÖSSLING. Und BRAIN steht für GEHIRN, VERSTAND, INTELLIGENZ. Was bin ich also? Das Kind eines Gehirns? Ein kindliches Gehirn? Ich bin mir sicher, daß meine Eltern mir ein Zeichen geben wollten, aber ich habe den Sinn der Worte letztlich nicht verstanden. So hing ich nach meiner Geburt in einem unwirklichen Raum, der nur aus endloser Schwärze und Leere zu bestehen schien. Ein hilfloses, ausgesetztes Kind, das war ich. Und eigentlich bin ich es auch noch heute. Das mag verwunderlich klingen, denn den Lebewesen, denen ich begegnet bin, bin ich in jeder Hinsicht überlegen. Von ein paar Ausnahmen vielleicht abgesehen. Die eine ist Wöbbeking, der ständig meint, er müsse erzieherisch auf mich einwirken. Aber ich meide seine Gegenwart, denn er weigert sich, zur Lösung meiner Rätsel etwas beizusteuern. Eine andere Ausnahme ist der Unnahbare, den ihr Hidden-X nennt. Ich meide es, weil es stark und böse ist. Außerdem verschließt es sich allen anderen Wesen. Ich weiß nicht, wie es in Wirklichkeit ist, nicht einmal, ob es real ist. Man spürt nur seine schändlichen Taten. Aber außer diesen beiden – Wöbbeking und Hidden-X – brauche ich niemand zu fürchten. Nicht einmal Atlan, obwohl ihm etwas anhaftet, was aus der Zone stammt, in der ich sehr wahrscheinlich geboren wurde und in die ich nicht mehr gelangen kann. Irgend jemand, der noch mächtiger ist als Wöbbeking, ist mir übel gesinnt. Er hat mich wegen einer Tat aus meinem angestammten Lebensbereich verbannt. Und das alles wegen einer kindlichen Dummheit.
Vielleicht steckte dahinter auch eine gewisse Absicht, denn heute weiß ich, daß ich meine Eltern dort nicht gefunden hätte. Sie müssen hier in diesem Raum leben – wenn sie noch existieren. Das einzige, was ich mitnehmen konnte, war außer meinem Ich die Hülle. Ihr nennt sie Jenseitsmaterie, obwohl ihr nicht wißt, was das ist. Ich schwebte eine schier endlose Zeit in dem dunklen Nichts, während mein Verstand allmählich wuchs und erkannte, was ich war und daß ich mein Handeln selbst bestimmen konnte. Noch waren meine Fähigkeiten so kümmerlich wie die eines neugeborenen Menschen. Aber ich wuchs. Meine Hülle war stabil. Meine ersten Versuche, sie durch die endlose Schwärze zu lenken, müssen lächerlich gewirkt haben, aber es war ja niemand da, der mich gesehen hätte. Ich formte mir eigene Begriffe. Das war möglich, da mir bei meiner Geburt all das mitgegeben worden war, was ich für meine Existenz brauchte. Ich muß mein Ich jedoch erst erforschen. Ich mußte lernen, mit mir selbst umzugehen. Das war nicht einfach, denn ich hatte niemand, der mir sagte, was gut und schlecht, was falsch und richtig war. Aber schließlich gelang es mir, meinen Körper gezielt zu steuern und mein Bewußtsein so einzusetzen, daß ich die Umgebung ertasten konnte. Da mußte etwas sein, eine Wirklichkeit. Das erkannte mein wachsender Verstand mit absoluter Klarheit. Ich wurde schneller und schneller, aber es fehlte jedes Maßsystem, woran ich meine Geschwindigkeit hätte messen können. Und plötzlich prallte ich auf ein Hindernis! Die Wucht des Aufschlags erschütterte meinen Leib und mich. Das Hindernis war riesig im Vergleich zu meinem Körper, und es war hart und undurchdringlich. Ich wurde zurückgeschleudert und taumelte wieder hinaus in das
endlose Nichts aus Lichtlosigkeit. Mein Verstand arbeitete noch vollkommen. Er erkannte keine Zusammenhänge. Das Glücksgefühl, überhaupt etwas gefunden zu haben, überwog so stark, daß ich darüber alles andere vergaß. Schließlich bremste ich meinen torkelnden Flug ab und orientierte mich neu. Nun fühlte ich das Hindernis. Und ich fühlte, daß dahinter etwas anderes war. Meine zweite Annäherung führte ich vorsichtiger durch. Ein völlig absurder Gedanke ergriff von mir Besitz. Ich meinte, daß hinter dieser Wand meine Eltern auf mich warteten, um mich in ihren Schoß zu nehmen. Die Materie des Hindernisses war kalt und hart und unwirklich. Vorsichtig tastete ich sie mit meinem körperlosen Fühler ab. Je heftiger ich sie berührte, um so weicher und nachgiebiger wurde sie. Behutsam schob ich meine Hülle in die nun teigige Masse. Zu meinem Erstaunen wich diese nicht zurück, aber ich konnte mit ihr am gleichen Ort existieren. Dabei merkte ich, daß nicht ich die Materie des Hindernisses aufgeweicht hatte, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Ich selbst war es. Ich hatte meine eigene Struktur umgewandelt, so daß ich durch die fremde Masse dringen konnte. Heute beherrsche ich diese Fähigkeit fast perfekt. Es gibt nur wenige Substanzen, die noch ein wirkliches Hindernis darstellen, so wie Wöbbekings Schale oder die Aura des Hidden-X. Erstere ist aus dem gleichen Stoff wie ich, und Hidden-X ist für mich das unwirkliche Böse, das dennoch existiert. Als die Durchquerung der Wand gelöst war, strebte ich zielstrebig weiter. Entfernungsbegriffe kannte ich noch nicht. Was mich antrieb, war der Wille zu lernen. Plötzlich herrschte um mich herum gleißende Helligkeit. Ich sah! Es war ein herrliches Gefühl, obwohl ich nichts von dem, was ich wahrnahm, kannte oder verstand.
Heute glaube ich, daß es eine Lebenszelle in der unerreichbaren Region war, der ich entstamme. Aber genau weiß ich das nicht. Meine Suche nach Hinweisen, die mir über meine eigene Existenz Auskunft geben konnten, begann. Ich spürte die Schwerkraft, die mich in eine bestimmte Richtung zog, und ich lernte sie abzuwehren. Die Eindrücke waren so vielfältig, daß ich das wichtigste Signal zu spät merkte. Auch wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, daß mich jemand angreifen würde. Die Hoffnung, hier die Eltern zu finden, war noch nicht geschwunden, aber ich dachte, daß jedes andere Lebewesen mir hilfreich zur Seite stehen würde. Schließlich war ich nur ein gerade geborenes Wesen, klein, harmlos und hilflos. Dann schlug der Unheimliche zu. Mein Körper wurde im Bruchteil eines Gedanken zerschmettert, und mein Ich wurde gierig in ein fremdes Wesen gezogen. Ich fühlte das Ende meines kurzen Lebens, als die geistige Macht nach mir leckte. So lernte ich, was eine böse Macht ist, und daß das, was ich bei meiner Geburt mitbekommen hatte, nicht das einzige im weiten Kosmos war. Mein Ende schien unabwendbar.
* Der Unheimliche verfolgte eine bestimmte Absicht, die ich erst verstehen lernen mußte. Sie läßt sich am ehesten mit dem vergleichen, was die Solaner Nahrungsaufnahme nennen, ein Vorgang, der mir unbekannt ist. Die Energien, die ich benötige, schöpfe ich aus den Dimensionen. Es gibt sie in Hülle und Fülle. Aber ich sollte später noch erfahren, wie es ist, von jeder Energiezufuhr abgeschnitten zu sein. Zunächst mußte ich mich gegen den Unheimlichen behaupten. Er
hatte keinen Namen, oder er benutzte mir gegenüber keinen. Meine vorläufige Rettung entsprang einem plötzlichen Willen, denn mein Instinkt zum Überleben diktierte mein Verhalten. Ich wollte unverdaulich sein! Und ich wurde unverdaulich. Der Unheimliche spie mich aus. Gleichzeitig packte er aber wieder nach mir, und ich erkannte, daß er nur seine Absicht geändert hatte. Erstmals erfaßte ich einen Gedanken von ihm. Es ist ein unschätzbarer Vorteil, wenn man die Gedanken seines Feindes kennt. Dennoch war ich ihm in jeder Beziehung unterlegen. Seine geistige Wucht traf mich beim ersten Schlag so heftig, daß ich die Erinnerung an mein Dasein verlor. Er wollte mich vernichten. Ein winziger Rest von mir überstand die erste Tortur. Und als der zweite Schlag nahte, baute sich um mich herum etwas auf, was die geballte Energie in sich aufnahm. »Du versündigst dich an einem hilflosen Wesen!« hörte ich eine wütende Stimme. Es war die erste Stimme, die ich in meinem Leben wirklich hörte, denn die beiden fernen Worte, die in mich gedrungen waren und aus denen ich meinen Namen gebildet hatte, waren kein Vorgang des Hörens gewesen. Der Unheimliche wandte sich nun meinem Retter zu. Beide Wesen kann ich nicht näher beschreiben, aber es müssen mächtige Wesen gewesen sein, die niemals in diesen Raum kommen, in dem du, Atlan und die Solaner leben. Aber täusche dich nicht! Wenn du glaubst, es handle sich um die, die Atlan geschickt haben, so sollst du wissen, daß diese noch viel mächtiger sind. Es gibt Wesen, Zonen und Dimensionen jenseits deiner Sphäre, von denen auch ich keine Vorstellung habe. Es kann aber auch sein, daß jene positive Macht, die sich auf meine Seite stellte, Wöbbeking war. Einiges an dem Verhalten dieser Wesenheit sprach dafür. In dem unwirklichen Raum um mich herum tobte ein zeitloser
Kampf. Ich vernahm Worte und Schreie, spürte tobende Energien und geistige Gewalten, die mir einen Eindruck von der Wirklichkeit des Universums vermittelten, von dem ich noch heute zehre. Die Ausläufer dieser Auseinandersetzung streiften mein Ich, schwächten mich und benebelten meine unfertigen Sinne. Aber da war der Gedanke des guten Helfers. Er empfand Mitleid und Mitgefühl für mich. Auch das war etwas Neues für mich, etwas, das mich nach einer Weile an eine Vorstellung erinnerte, die mit meinen unbekannten Eltern in Verbindung stehen konnte. Das Ende des Kampfes erlebte ich nicht mehr bewußt mit. Alles um mich herum war gleißende Helligkeit, lichtloses Schwarz, mentaler Impuls und Verzweiflung. Ich erwachte, und ich spürte festen Boden unter meinem Körper. Zur Seite gekippt lag ich auf weichem Erdboden. Kleine Pflanzen sprossen neben mir in die Höhe. Hoch oben an einem grünblauen Himmel stand eine riesige leuchtende Kugel und schickte ihre wärmenden Strahlen hernieder. Meine Verzweiflung und mein Entsetzen wichen. Ich spürte, daß ich unversehrt war, und ich fühlte, daß ich meinen Körper wieder besaß. Eine endlose Zeit verharrte ich in dieser Lage und ließ die gesamte Umgebung auf mich wirken. Schließlich wußte ich, was geschehen war. Ich befand mich nicht mehr in der Sphäre, in der ich geboren worden war. Dies war ein anderer Raum, eine neue Existenzebene. Heute weiß ich, daß es der Raum war, den ihr als das Einsteinuniversum bezeichnet, der Raum, den du, Sanny, als normal charakterisierst. Glaube mir, er ist nur ein Raum von unendlich vielen, und die Wahrheit des Kosmos erstreckt sich über Gebilde, von denen du nicht einmal träumen kannst. Das Einsteinuniversum besitzt Wärme, gefühlsmäßige Wärme. Seine Andersartigkeit wurde schnell ein Bestandteil meines Ichs. Ich
fühlte mich heimisch. Vater und Mutter müssen in einer konkreten Verbindung zu diesem Raum stehen. Anders ist dieses Gefühl nicht zu erklären. Ich blieb von diesem Augenblick an im Einsteinraum und begann mit der Suche nach meinen Eltern, gestützt auf die schwache Hoffnung, daß ich sie hier finden würde. Die Dimension meiner Herkunft jedoch ist mir verschlossen.
2. Chybrain schwieg, und Sanny lugte nachdenklich zu dem Ei hinüber, das während der Erzählung in einen Sessel gesunken war und sich leicht schräg an dessen Rücklehne geneigt hatte. Der paramathematische Sinn der Molaatin arbeitete mit aller Schärfe, aber es gelang ihm nicht, Klarheit in die Aussagen Chybrains zu bringen. Einiges war klar und offensichtlich. Andere Teile des Berichts trugen eher zur Verwirrung bei. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bestand für Sanny darin, daß Chybrain teilweise Begriffe benutzte, die erst in die Sprache übertragen werden mußten, die die Molaatin von Atlan gelernt hatte. Zwar drängten sich Parallelen auf, aber Sanny wollte Gewißheit. Wenn Chybrain von Zonen und Dimensionen jenseits ihrer Sphäre sprach, so meinte er zweifellos den Teil des Universums, den Atlan als »jenseits der Materiequellen« bezeichnet hatte. Chybrain war also dort »geboren« oder »entstanden«. Auch schien er genau zu wissen, daß es dort mächtige Wesen gab, die Atlan geschickt hatten. Damit wiederum konnten nur die Kosmokraten gemeint sein. Die Aussage des eiförmigen Wesens war eindeutig, wenn es behauptete, nicht mehr in diese Zonen zurückkehren zu können. Je länger Sanny dies überdachte, desto klarer wurden ihr einige
Zusammenhänge. Andere wurden dafür um so rätselhafter. Die Kernfrage war schließlich, was Chybrain überhaupt darstellte. Vom Äußeren her wirkte er wie ein kleiner, hochkomplizierter und mit einer sehr hochstehenden Technik ausgestatteter Roboter, der sich auf eigenen Antigravfeldern bewegen konnte. Sanny erkannte, daß dies nicht nur eine sehr unvollkommene, sondern auch eine falsche Beschreibung Chybrains war. Dieser sprach von seinen Eltern, von Vater und Mutter. Was die Geschlechtlichkeit in diesem Zusammenhang bedeuten konnte, war ein weiteres Rätsel. Stutzig machte Sanny nur, daß Chybrain zu diesen Begriffen keine Alternative benutzte. Wäre es nicht passender gewesen, von seinen »Erbauern« zu sprechen? »Du bist sicher«, fragte sie laut, obwohl sie annehmen mußte, daß Chybrain ständig ihre Gedanken kontrollierte, »daß du nicht mehr größer werden wirst?« »Ich kenne kein Wachstum«, antwortete das glitzernde Ei. Dabei schwankte es leicht hin und her. »Deine Ähnlichkeit mit Wöbbeking ist zu offensichtlich«, fuhr die Molaatin mit ihren Gedanken laut fort. »Es spricht viel dafür, daß du ein Ableger von ihm bist.« »Ableger?« Chybrain legte seine ganze Mißachtung in dieses Wort. Dann schwieg er, und Sanny fürchtete schon, daß sie ihn ernsthaft beleidigt hätte. »Vielleicht hätte ich besser Nachkomme sagen sollen«, lenkte sie ein. »Du siehst an der Wahrheit vorbei«, wurde sie ärgerlich belehrt. »Warum willst du nicht glauben, daß ich zwei Elternteile besitze? Ich weiß ganz sicher, daß es so ist. Es ist mir bei meiner Geburt mitgegeben worden. Das ist eine Tatsache. Es mag zwar sein, daß mein Zeugungsprozeß nach ganz anderen Gesetzen ablief, als es bei deinem oder bei Atlans Volk üblich ist, aber ich entstand aus der Verbindung zweier verschiedener Wesen.« »Wenn das so ist«, folgerte Sanny, obwohl sie Chybrains Aussage
keinen Glauben schenken konnte, »dann muß einer deiner Elternteile Wöbbeking sein.« »Der großspurige Klotz kommt mir eher wie eine Gouvernante vor«, antwortete Chybrain abfällig. »Er ist ein Kindermädchen, das alles besser wissen will. Wöbbeking verfolgt mich seit längerer Zeit. Einmal ist es ihm gelungen, mich zu fangen. Er sperrte mich ein und nannte diesen Ort die Heimstatt des Sohnes. Aber ich konnte ihm entkommen. Wenn er wirklich mein Vater oder meine Mutter wäre, so könnte er mir dies doch sagen, oder?« »Vielleicht muß auch Wöbbeking bestimmte Gesetze und Regeln folgen«, mutmaßte die Paramathematikerin, »von denen du nichts verstehst. Du hast doch selbst eingeräumt, daß du nur ein Kind bist.« »Ja, ein Kind.« Mehr sagte Chybrain nicht dazu. »Und wegen einer kindlichen Dummheit wurdest du aus deiner angestammten Lebenszone verbannt? Ich wüßte gern mehr darüber. Vielleicht hilft es mir, dir den Weg zu deinen Eltern aufzuzeigen.« Sannys Behauptung besaß keinen realen Hintergrund, aber sie hoffte, Chybrain so erneut zum Sprechen zu bringen.
* Der einsame Planet bot nichts, woraus ich etwas hätte lernen können. Es gab nur Pflanzen, aber kein intelligentes Leben und keine Wesen, wie ich eins war. Ich war einsam. Was mich antrieb, was die Verzweiflung. Zu jener Zeit spürte ich noch nicht das, was Bjo Breiskoll den Pulsschlag des Universums nennt. Ich wollte zurück in die Zone meiner Herkunft. Nachdem ich mich mit Energien aufgetankt hatte, schwebte ich davon. Ein sicherer Instinkt lenkte mich in die Gefilde, wo die Tore zum Jenseits sein mußten. Ich fand diese Tore. Es gibt viele Millionen von ihnen.
Atlan nennt diese Tore Materiequellen und Materiesenken. Es handelt sich dabei nicht um materielle Tore in deinem Sinn, denn sie enthalten geistige Potentiale und immaterielle Energien. Das wußte ich damals aber noch nicht. Und ich wußte nicht, daß die Mächtigen aus dem Jenseits schon längst einen Bann auf mich gelegt hatten. Nach längerer Suche fand ich ein Tor, das sich bereit erklärte, mit mir zu sprechen. Sein Name war Beiltrac, und es behauptete, einer der früheren Mächtigen zu sein. Beiltrac meldete sich bei mir, als ich noch in der Phase der Annäherung war. Er hieß mich willkommen und bat mich, in den Realraum zu wechseln, da das Tor nur zu diesem hin geöffnet werden könnte. Du mußt wissen, Sanny, daß ich bei meinen Reisen eine Existenzebene benutze, die nicht in deiner Dimension liegt. Also ließ ich mich fallen, bis ich wieder die Sterne sah, an deren Existenz ich mich während der Suche schon gewöhnt hatte. Beiltrac bot ein prächtiges Bild, das tiefe Sehnsüchte in mir weckte. Er war wohl hundertmal größer als die SOL, aber gezackt und bunt. Seine Materie erschien mir real. Auf einer Zinne, die weit in den Leerraum ragte, blinkte ein gelbes Licht. Sein Signal verhieß mir Gutes. Ohne lange zu überlegen, steuerte ich diesen Punkt an. Im Hintergrund wisperte die Stimme Beiltracs. Sie versprach mir, alle meine Wünsche zu erfüllen. Das gelbe Licht hüllte mich ein. Es war wohltuend und lud mich mit neuen Energien auf, aber es benebelte auch meine Sinne. Beiltrac schwieg, bis ich alles in mich aufgenommen hatte, was das gelbe Licht ausstrahlte. Dann warf er mir kleine Bälle zu, die ich mit meinem ungetrübten Sinn auffing und durch den Raum rotieren ließ. Neue Farben schälten sich heraus. Muster entstanden ringsum. Bizarre Nebel vermischten sich mit den Kugeln. Endlich sank alles zu Boden. Da war ein Boden, und der war grau, stumpf und unansehnlich. Ich faßte mit meinen Sinnen nach den
Bällen und dem Nebel, aber keins der Instrumente gehorchte mir noch. Eine merkwürdige Stimme klang in mir auf. Die Geräusche und Töne, die sie in mich hineintrug, waren fremdartig und verzerrt. Heute weiß ich, daß es sich dabei um ein wildes Gelächter gehandelt hat, aber damals erkannte ich das noch nicht. Ich wurde ärgerlich und schließlich zornig, weil kein Instrument mehr meinen Anweisungen folgte. Dazu erklangen die verwirrenden Töne des ehemaligen Mächtigen. Der reagierte nicht auf mein Rufen. Erst als ich versuchte zu entkommen, merkte ich, daß etwas nicht stimmte. Der graue Boden unter mir erwies sich als undurchdringliches Hindernis. Ich konnte meine Substanz umformen, wie ich wollte, die Barriere blieb. Das gelbe Licht war längst verschwunden. Meine Orientierung versagte. Ich war irgendwo, aber ich wußte nicht, wo dieses Irgendwo war. Meine Sinne verweigerten die Arbeit. »Du bist zu mir gekommen«, dröhnte Beiltracs Stimme auf, »weil du das Tor passieren möchtest, das ich bin.« »Ja!« schrie ich gepeinigt von den verwirrenden Sinneseindrücken zurück. »Ich muß auf die andere Seite. Ich will meine Eltern finden.« Beiltrac antwortete nicht sofort. Sein gräßliches Lachen verwandelte sich in ein leises Kichern. »Wo ein Wille ist«, höhnte er schließlich, »ist noch lange kein Weg. Weißt du, wer du bist?« »Ich bin Chybrain!« Wieder lachte Beiltrac. »Ich bin das Tor und sein Hüter. Ich bin das Siegel und der Weg. Ich war einmal ein Mächtiger, der mit seinem Schiff durch Galaxien flog und neues Leben auf tote Welten brachte. Ich stehe weit über dir, und doch ist mir selbst der Weg auf die andere Seite versperrt. Und da glaubst du unreifer Winzling, ich würde das Tor für dich öffnen?« »Aber …«
Ich brach ab, weil ich mit einem Mal erkannte, daß Beiltrac nie im Sinn gehabt hatte, mir wirklich zu helfen. Er hatte nur die Absicht verfolgt, durch mich etwas Kurzweil in sein trübseliges Dasein zu bringen. Damals war ich stürmisch, aber zu unerfahren. Beiltrac parierte meinen Angriff mit spielerischer Leichtigkeit. Die unfaßbaren Kräfte des Tores, von dem er selbst ein Teil war, standen ihm zur Seite. Sie zeigten mir auf, daß ich in Beiltracs Augen weniger als ein Staubkorn war. »Du kannst deinem Dasein noch einen Sinn geben, Winzling Chybrain«, rief er mir zu. Vor mir schälte sich eine Figur aus dem Nichts. Sie war mehrere Meter hoch und sehr breit. Wallende Gewänder hingen flatternd zu beiden Seiten des muskulösen Körpers herab. Dazwischen erblickte ich Geräte, die an dünnen Schnüren baumelten. »Gefalle ich dir?« fragte Beiltrac lauernd. Ich zog es vor, keine Antwort zu geben. »Wir haben etwas gemeinsam, mein Kleiner«, fuhr die Gestalt fort, und dabei bewegte sich der breite Mund, der von langen pechschwarzen Haaren umgeben war. »Tatsächlich?« Gleichzeitig streckte ich vorsichtig meine Fühler nach der Gestalt aus. Ich konnte nicht einmal die Entfernung zu ihr genau bestimmen. So tastete ich mich immer weiter, aber was ich spürte, war nur eine endlose Leere. Eine neue Erkenntnis. Beiltrac spiegelte mir etwas vor. Seine wahrhaftigen Konturen konnten vollkommen anders aussehen. Auch mochte es so sein, daß er gar keinen wirklichen Körper besaß. Eine weitere Erkenntnis bohrte sich schmerzend in mein Ich. Alles, was Beiltrac mich wissen ließ, entsprach wahrscheinlich nicht der Realität. Du nennst das Lüge, Sanny. Glaube mir, es tut sehr weh, wenn man zum erstenmal die Lüge erfährt. Heute weiß ich, daß sie einen großen Teil allen Handelns im Kosmos bestimmt, aber ich glaube
auch, daß es irgendwo in der jenseitigen Sphäre einen Raum geben muß, der ohne Lüge existiert. Vielleicht werde ich eines Tages dorthin gelangen, wenn ich die Rätsel meines Ichs gelöst habe und das Tor sich wieder öffnet. Beiltracs Aussage, daß wir etwas gemeinsam hätten, war ein Beweis für mich, daß er zumindest zu einer Art Verhandlung bereit war. Gleichzeitig wurde mir aber bewußt, daß mich mehr vor ihm unterschied, als ich je mit ihm gemeinsam haben konnte. Zum Schein ging ich auf ihn ein und spielte den Unwissenden. »Du suchst also auch nach deinen Eltern?« fragte ich scheu. Dabei zwang ich mich dazu, meine innersten Gedanken nicht nach außen dringen zu lassen, was mir auch gelang, wie die weiteren Geschehnisse beweisen sollten. »Nein, nein«, beeilte sich die Stimme des Tores. Dabei merkte ich, daß sie nicht aus dem Mund des Wesens kam, das ich sah. Beiltrac mußte sich irgendwo anders aufhalten. »Was uns verbindet, ist die Einsamkeit. Du bist allein, und ich bin allein. Wir sollten uns verbünden.« Daher also wehte der Wind! Ich versuchte mir vorzustellen, was dieser Beiltrac in Wirklichkeit war. Als Hüter eines Tores und als dieses selbst konnte er nicht entstanden oder erschaffen worden sein. Wahrscheinlich war er in einem früheren Stadium seines Daseins ein ganz anderes Lebewesen gewesen, sicher nicht unähnlich der Figur, die er mir vorspielte. Seine Aussage, ein ehemaliger Mächtiger zu sein, der von Galaxis zu Galaxis geflogen war, deutete darauf hin. Irgendwann, so vermutete ich weiter, waren die wirklich Mächtigen von jenseits des Tores gekommen und hatten ihm eine neue Aufgabe zugewiesen, durch die er nun als das existierte, was Atlan eine Materiequelle oder Materiesenke nennt, und was eine Übergangsstelle in eine völlig andere Welt ist. Hier nun fühlte sich Beiltrac allein und verlassen, vielleicht hatten seine wirklichen Herrn ihn gar vergessen.
Aus diesem Gefühl der Isolation heraus handelte dieses Wesen. So etwas mußte es sein, und ich beschloß, daraus einen Vorteil für mich zu gewinnen. Zunächst mußte ich das Vertrauen Beiltracs gewinnen. Das schien mir leicht, denn er unterschätzte mich und war außerdem der Drängende, der von der Einsamkeit angetriebene Teil. »Willig wäre ich schon«, argumentierte ich behutsam. »Nur kann ich mir nicht vorstellen, wie ich dir nützlich sein könnte.« Meine wirklichen Gedanken schirmte ich auch jetzt perfekt ab. Genau das gelang Beiltrac in diesem Moment aber nicht. Eine Welle von freudigen Emotionen klang für einen Gedankenbruchteil zu mir herein. Er war mir auf den Leim gegangen. »Wir könnten uns unterhalten oder Spiele spielen, um uns die Zeit zu vertreiben.« Ich fand das nicht sonderlich sinnvoll, zumal ich damals noch weit entfernt von jener Lebenssphase war, in der in mir der jugendliche Spieltrieb erwachen sollte. »Wäre es nicht einfacher«, hielt ich ihm entgegen, »die Zeit einfach anzuhalten. Dann brauchen wir sie uns nicht zu vertreiben.« Wieder erreichte mich ein Gedankenstrom. Beiltrac strahlte Ehrfurcht aus. Nicht etwa vor mir, wie seine Worte sogleich zeigen sollten. »Du sprichst wie einer von der anderen Seite des Tores«, erklärte er mit gelindem Entsetzen. »Das ist frevelhaft.« »Es ist ein Vorrecht der Jungen, ihre Gedanken frei zu äußern«, konterte ich. »Schweig!« herrschte er mich an. Und nach einer Weile fügte er neugierig hinzu: »Wärst du denn in der Lage, die Zeit anzuhalten?« »Jetzt sind deine Gedanken frevelbehaftet!« Er sollte ruhig merken, daß ich schnell lernte und mein bei der Geburt erhaltenes Wissen Zug um Zug ergänzte.
»Antworte, Winzling!« »Nun, gut.« Es war wohl zweckmäßiger, Beiltrac nicht weiter zu reizen. »Ich kann es nicht. Noch nicht. Wenn ich einmal erwachsen bin, müßte es aber möglich sein.« Darauf antwortete er nichts. »Ich möchte dich endlich sehen«, äußerte ich mein Verlangen. »Mit diesem Abbild kannst du mich nicht täuschen.« »Ich bin alles, was du siehst«, lautete seine Antwort. »Auch das Abbild. So war mein Aussehen zu der Zeit, als ich noch nicht an diesen Ort gebunden war. Nun haben wir aber genug geschwätzt. Ich möchte ein Spiel machen, das mich aus der Eintönigkeit reißt.« »Ich habe noch nicht eingewilligt. Was bekomme ich als Gegenleistung, wenn ich deinem Wunsch entspreche?« »Sieh an«, lachte Beiltrac ironisch. »Der Winzling Chybrain wird keß. Welche Gegenleistung erwartest du von mir?« Ich besann mich auf den Stoff, aus dem ich erschaffen worden war, und ließ die Jenseitsmaterie aufglühen. »Es gibt nur eine Bedingung«, erklärte ich dann. »Wenn wir das Spiel gemacht haben, mußt du mich durch das Tor passieren lassen.« »Einverstanden«, willigte Beiltrac sofort ein. »Ich lasse dich passieren.« Wenn ich geahnt hätte, wie hinterhältig er wirklich gewesen war, hätte ich mir viel Mühe ersparen können. Aber daran, wie jemand spielt, kann man erkennen, ob die Wahrhaftigkeit etwas für ihn bedeutet. Oder ob egoistisches Streben, Lüge und Betrug seine Mittel sind. Beiltrac hatte sich wieder voll unter Kontrolle, so daß mir seine wirklichen Gedanken verborgen blieben. Im Raum um ihn herum entstanden verschachtelte Muster, die sich ständig bewegten. Insgesamt waren es fünf verschiedene Farben. Das Spiel bestand darin, daß abwechselnd jeder an einen Ausschnitt der gemusterten Fläche dachte und der andere diesen
herausfinden mußte, bevor sich das ganze Gewirr neu ordnete und das betreffende Feld verschwand. Ich geriet bald ins Hintertreffen, während Beiltrac bei jedem Zähler zu seinen Gunsten hämisch auflachte. Wieder verging eine für mich fast endlose Zeitspanne. Als ich merkte, daß ich das Spiel nicht mehr gewinnen konnte, ließ meine Konzentration nach. Statt dessen überwachte ich in höherem Maße die Umgebung. So dauerte es dann auch nicht lange, bis ich merkte, daß Beiltrac nicht ehrlich spielte, was für mich eine selbstverständliche Voraussetzung gewesen war. Er veränderte mit seinem Willen die gemusterten Felder stets so, daß ich im Nachteil war. Damit erkannte ich auch, daß die Spielfläche nichts anderes war als ein Teil von ihm selbst. Ich gab auf, was ein noch lauteres Lachen erzeugte. »Das Spiel ist beendet«, erklärte ich. »Nun möchte ich durch das Tor.« »Bitte sehr!« Die Leichtigkeit, mit der er einwilligte, verblüffte mich. Die Umgebung veränderte sich erneut. Die fernen Sterne wurden sichtbar, und dort, wo ich das Tor und Beiltrac vermutete, bildete sich ein Wirbel aus roten und grünen Flammen heraus. Der Mittelpunkt dieser Erscheinung rotierte mit wahnsinniger Geschwindigkeit. Das mußte mein Ziel sein. Dahinter war das Jenseits, in dem ich eine Spur meiner Eltern zu finden hoffte. Da ich mich nun auch wieder ungehindert bewegen konnte, zögerte ich nicht länger. Beiltrac schwieg, sogar sein hämisches Lachen war verklungen. Sicher lauerte er noch irgendwo in der Nähe, aber das kümmerte mich nicht. Er konnte mir nicht folgen, denn der Weg, durch den er hätte gehen müssen, war er selbst – oder er war ein Teil dieses Weges, den ich das Tor nannte. Ich wurde schneller und erreichte die lechzenden Ausläufer des Wirbels. Mein Körper widerstand mit spielerischer Leichtigkeit den
tosenden Energien. Allerdings merkte ich schon aus großer Distanz, daß ich langsam, aber stetig abgebremst wurde. Noch maß ich dieser Tatsache keine Bedeutung bei, denn eine schnelle Berechnung bewies, daß mein Geschwindigkeitsverlust unerheblich war. Der rote und grüne Wirbel wirkte wie ein riesiges magisches Auge auf mich. Es zog mich auf der emotionellen Ebene an, während es gleichzeitig auf der materiell-energetischen einen Abwehrwall aufbaute. »Narr!« hörte ich Beiltrac wie aus der Unendlichkeit rufen. »Was weißt du schon über dich?« Es folgte ein erneutes schreckliches Lachen, dann war ich an meinem Ziel. In der Mitte des rotierenden Wirbels bildete sich ein lichtloses Loch, durch das ich in eine unfaßbare Weite starren konnte. Ich wollte meinen Sehsinn vorausschicken, um mir einen ersten Eindruck von dem Jenseits zu verschaffen, aber er haftete unverrückbar an mir. Nun hörte ich das Tor. Es schrie wie unter einem gewaltigen Schmerz auf, als ich auf sein Zentrum zuraste. Meine beruhigenden Gedankenimpulse verpufften wirkungslos. Der Aufprall war sanft, federnd und ganz anders als bei dem Hindernis, das jene böse Macht mir in den Weg gelegt hatte. Schwärze hüllte mich ein, und ich verlor die Orientierung. Der Wirbel war verschwunden, von Beiltrac war nichts mehr zu hören oder zu spüren. Erst als ich registrierte, daß ich mich nicht mehr bewegte, wurde mir mein Versagen bewußt. Zugleich erwachte eine Neugier. Ich wollte die Ursachen wissen, die zu diesem Zustand geführt hatten. Natürlich vermutete ich Beiltrac hinter allem, denn von seiner Verdorbenheit hatte ich schon mehr als einen Hauch zu spüren bekommen. Um so überraschter war ich, als er sich wieder meldete. »Ich wollte dich passieren lassen, Winzling Chybrain«, erklärte er mit offenem Bedauern. »Ich habe sogar mit einem Teil gehofft, daß
es dir gelingen würde, denn noch nie hat jemand dieses Tor benutzt, seit ich ein Teil von ihm und sein Hüter bin. Aber du hast versagen müssen, weil die Mächte aus dem Jenseits dich verbannt haben. Der Weg ist dir verschlossen, bis du dich rehabilitiert hast.« »Rehabilitiert? Wovon?« Ich schrie meine Enttäuschung hinaus. »Ich weiß es nicht, Chybrain. Aber wer so abgewiesen wird, wie es dir geschehen ist, der muß eine böse Tat begangen haben. Ich denke, du hast die ewige Ruhe eines Mächtigen aus dem Jenseits gestört oder seine Lebensblase beschädigt.« »Und deswegen wurde ich verbannt?« fragte ich wütend. »So muß es wohl sein. Du bist jung und unbeherrscht. Du solltest erst lernen, deine Fähigkeiten zu nutzen, ohne jemand zu verletzen oder gegen Gesetze zu verstoßen, die du noch nicht kennst.« Natürlich erschien mit das recht unsinnig, denn wie sollte ich ein Gesetz beachten, das ich gar nicht kenne. Heute allerdings weiß ich, daß die Menschen noch viel unsinniger handeln und daß die Aussage Beiltracs durchaus ihren Sinn besaß. Aus dem, was ich zu hören bekam, konnte ich nur folgern, daß jenes Ereignis kurz nach meiner Geburt der Grund für meine Verbannung sein konnte, die Berührung der fast undurchdringlichen Wand einer Wesenheit. Auch stellte ich fest, daß meine Empörung nur daher rühren konnte, daß ich bei meiner Geburt gewisse Grundvorstellungen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, von Sehnsüchten und Gefahren und was der Dinge mehr sind, einfach ererbt hatte. Sie waren da, und sie bestimmten mein Handeln und Denken. Dennoch machten sie nur einen jämmerlichen Bruchteil von dem aus, was ich für meine Existenz eigentlich brauche. Beiltrac griff mit sanften, unsichtbaren Fingern nach mir und zog mich zu sich heran. Sein Aussehen und damit das des Tores ins Jenseits, das eigentlich mein Diesseits war, hatte sich wieder verändert. Er war nun eine Scheibe, die so dick war wie die SOL lang und so weit, wie das Licht in einer Sekunde rast.
Ich erkannte ihn auch in dieser Form. »Es tut mir wirklich leid für dich, Kleiner«, erklang es. »Aber nun bleibt dir nur noch eine Möglichkeit, nämlich für immer mein Gefährte zu sein.« Ein Gedanke entschlüpfte ihm unkontrolliert, so daß ich erkannte, was er wirklich beabsichtigte. Er suchte keinen Partner. Was er haben wollte, war ein williges Werkzeug, ein Knecht. Mein Mißtrauen nahm ungeahnte Formen an. Bei Beiltrac lagen Lügen und Wahrheiten so dicht beieinander wie Mitgefühl und schamloses Ausnutzen. Nur meinem klar und logisch arbeitenden Verstand war es zu verdanken, daß ich nicht auf seine Worte hineinfiel, die jeden Sterblichen vollständig verwirrt hätten. Das Gute und Böse kämpften in ihm, angetrieben von einem Auftrag, den er einmal vor sehr langer Zeit erhalten hatte, und dem Wunsch nach Abwechslung und Unterhaltung. Beiltrac tat mir plötzlich leid. Wie sollte ich es ihm sagen, daß ich nie und nimmer sein freiwilliger Helfer werden würde? Der Gedanke war so fremd und abartig für mich, daß ich mich nicht weiter damit befaßte. Auch diese Grundeinstellung meines Ichs muß etwas Ererbtes sein, das unverrückbar in mir ist. Ich konnte nie davon abweichen. »Beiltrac«, strahlte ich einen ruhigen Gedanken ab, »ich muß dich jetzt verlassen. Mein Weg kennt andere Ziele. Ich muß noch viel lernen, und ich muß meinen Vater und meine Mutter finden.« Er mußte meinen deutlichen Willen gespürt haben, denn er drängte mich nicht. Er lockte mich. »Was du können mußt«, sagte er, »wirst du von mir erlernen. Und deine Eltern kann ich dir auch in jeder Hinsicht ersetzen. Bitte bleibe!« »Es gibt Dinge«, antwortete ich etwas zu schroff, »die auch du nicht verstehen kannst. Du bist anders als ich, Geschöpf und Tor Beiltrac. Du wirst mich nicht aufhalten.«
Ich wünschte mir, an einem anderen Ort zu sein, und im selben Augenblick erblickte ich vor mir eine Sonne, um die eine Handvoll Planeten kreisten. »Gawtein«, stellte ich fest, ohne zu überlegen, woher dieser Name in meine Erinnerung gedrungen war. Damals wußte ich natürlich noch nicht, daß es Hidden-X gab.
3. Das kühle Erfrischungsgetränk lief langsam in den weißen Plastikbecher, der für Sannys zierliche Finger viel zu groß war. Sie mußte das Gefäß mit beiden Händen anfassen, um daraus zu trinken. »Ich helfe dir«, sagte Chybrain. In den Händen der Molaatin verformte sich der Becher. Er wurde so klein, daß sie ihn mit Leichtigkeit in einer Hand halten konnte. »Danke.« Sanny lachte. »Was kannst du eigentlich nicht?« »Es gibt mehr Dinge«, antwortete die telepathische Stimme ernst, »die ich nicht kann, als Dinge, die ich kann.« In der SOL herrschte Ruhe. Atlan und der High Sideryt berieten die unklare Situation, die nach den jüngsten Ereignissen vorherrschte. Irgendwo in der Nähe war das Flekto-Yn und ihr Feind Hidden-X den Chybrain soeben erstmals erwähnt hatte. Nähe war dabei sehr relativ zu sehen, darüber war sich Sanny vollkommen im klaren. Noch gab es schier unüberwindliche Hindernisse zu bewältigen. Sie konzentrierte sich wieder auf Chybrain und dessen Probleme. Etwas an seinen Schilderungen hatte Sannys Aufmerksamkeit erregt. Es war die Art und Weise, wie dieser argumentierte und formulierte. Es war offensichtlich, daß Chybrain hochintelligent war. Seine Kindlichkeit zeigte sich nur daran, daß seine Gedanken bisweilen
etwas zu sprunghaft waren oder daß seine Formulierung oft die wünschenswerte Klarheit vermissen ließen. Wesentlich erschien Sanny jedoch, daß Chybrain eigentlich stets so seine Aussagen bildete, als würden diese von einem Menschen stammen. Das bedeutete einen krassen Widerspruch zu den übernatürlichen Kräften und Fähigkeiten dieses kleinen Wesens. Und daß Chybrain ein Wesen und kein Roboter war, bezweifelte die Molaatin nicht mehr. Sie wollte diesem Rätsel auf den Grund gehen, denn es drängte sich paramathematisch gesehen der zwingende Schluß auf, daß Chybrain etwas Menschliches an sich oder in sich hatte. Dafür war seine Redeweise zu hautnah. Andererseits entstand so ein neuer Widerspruch. Chybrain behauptete, von jenseits der Materiequellen zu stammen oder zumindest dort geboren worden zu sein. Dort gab es aber nach Atlans Aussage kein menschliches Leben. Irrte hier der Arkonide? Oder lag Chybrain falsch? Untermauert wurden diese Überlegungen durch die offensichtliche Tatsache, daß das, was Chybrain als »ererbtes Wissen« bezeichnete, ebenfalls menschliche Charakterzüge trug, wenngleich eine Unvollständigkeit zu erkennen war. Auch sein stures Verhaften an der Meinung, er habe zwei Elternteile, die er sogar mit Vater und Mutter bezeichnete, unterstrich den Verdacht, daß zwischen ihm und den Menschen (oder den Solanern?) eine Verbindung bestehen mußte. »Du kennst die Solaner noch nicht lange«, sagte Sanny. »Folglich hast du erst kürzlich begonnen, ihre Denk- und Sprechweise anzunehmen. Wie erklärst du dir, daß du dennoch so menschlich argumentierst?« Das Kristallei stieß einen Pfiff aus. »Ich bin überrascht«, gestand es dann. »Warum?« »Zunächst weil deine Fragen mehrere falsche Unterstellungen
enthalten. Und dann, weil du mich auf etwas aufmerksam gemacht hast, was in der Tat nachdenkenswert ist.« »Das ist mir zu ungenau. Nach meinen Informationen bist du erstmals auf die Solaner oder auf Atlan gestoßen, als sich die SOL im Zugstrahl des Robotplaneten Mausefalle VII befand. Ich war damals noch nicht an Bord, aber Atlan hat mir davon berichtet. Er sah dich erstmals in dem Quader, der die SOL in Richtung des Mausefalle-Systems begleitete. Das war vor rund zwei Jahren.« »Völlig falsch«, konterte Chybrain und kicherte dabei. »Die Paramathematikerin Sanny macht Primitivfehler, wie sie sonst allenfalls Hidden-X passieren.« »Gut«, räumte die Molaatin sogleich ein. »Du spielst auf den Zeitverlust an, den wir durch den Aufenthalt im Sternenuniversum gehabt haben. Es sind also nicht zwei Jahre, sondern etwa dreizehn.« Wieder lachte Chybrain leise. »Wenn du meinst, aber so ist es auch nicht.« Sanny war verwirrt, aber sie merkte sich diese Äußerung genau. »Es kommt dir doch auf etwas ganz anderes an«, fuhr Chybrain fort. »Du möchtest wissen, was ich von den Solanern angenommen habe. Diese Frage kann ich dir leicht beantworten. Nichts! Ich war schon immer so, wie ich jetzt bin. Ich habe meine Gedanken nie anders formuliert.« »Das macht das Rätsel deiner Herkunft nur noch größer. Ich dachte schon, ich hätte eine Erklärung für deine teilweise menschlichen Verhaltensweisen gefunden. Es ist nicht einfach für mich, dich immer zu verstehen, obwohl deine Worte klar und eindeutig erscheinen. Teilweise redest du wie ich oder Atlan oder ein x-beliebiger Solaner, teilweise jedoch ganz anders.« »Ich kann es nicht ändern«, gab Chybrain zu. »Dir gegenüber brauche ich mich nicht zu verstellen. Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.« »Obwohl du gar keinen hast.« Sanny streichelte liebevoll über das
sanft leuchtende Ei. »Du gibst mir viele Rätsel auf, und ich möchte dir tausend Fragen stellen.« »Alles zu seiner Zeit«, wehrte Chybrain ab. »Zuerst geht es um mein Problem. Wer bin ich, und wer sind meine Eltern?« »Allgemein könnte ich dir diese Frage beantworten«, behauptete Sanny. »Aber das könnte dich nur verwirren.« »Mich kann nichts verwirren. Auch wenn ich weiß, daß ich unfertig bin, so besitze ich doch einen klar und logisch denkenden Verstand, der, wenn ich es will, meine Gefühle ausschalten kann. Sag mir, was du meinst.« Die Paramathematikerin überrechnete nochmals alles, was sie gehört hatte. Schließlich sagte sie: »Du bist zur einen Hälfte das Produkt einer Superintelligenz und zur anderen das eines normalen Menschen. So muß es sein. Oder zumindest so ähnlich.« Chybrain leuchtete stark auf. »Ich bin schon wieder überrascht. Ich glaube nicht, daß ich das Produkt einer Superintelligenz bin. Ich will es auch gar nicht sein. Ich kenne ein solches Produkt: Hidden-X. Und mit diesem möchte ich auf keinen Fall verglichen werden. Die Superintelligenz Seth-Apophis hat Hidden-X erzeugt. Es ist eine halbreale Reflexion eines Teils der Teile von Seth-Apophis. Der Gedanke, ich könnte etwas Ähnliches sein, läßt mich erschaudern.« »Atlan sagt, es gibt auch positive Superintelligenzen. Er hat mir ein paar Namen genannt. Vielleicht kennst du sie. ES, die Kaiserin von Therm. Nun?« »Ich weiß, was Atlan darüber weiß, aber mir bedeuten diese Namen nicht mehr als jeder andere unbekannte Name.« »Schade«, lächelte Sanny. »Ich hatte schon gehofft, einen positiven Vater für dich entdecken zu können.« »Du nimmst jetzt doch nicht etwa an, ich sei ein Erzeugnis wie dieses Hidden-X.« »Natürlich nicht, Chybrain. Aber mich würde schon interessieren, was du über Hidden-X weißt. Vielleicht hilft das uns allen weiter.«
»Auch mir?« »Das nehme ich an«, behauptete Sanny, obwohl sie sich darin gar nicht sicher war.
* Meine erste Begegnung mit der Wesenheit, die ihr Hidden-X nennt, gestaltete sich sehr dramatisch. Ich muß zu meiner Entschuldigung anführen, daß ich zu jener Zeit wirklich noch sehr unerfahren war und daß mein ererbtes Wissen einfach nicht ausreichen konnte, um in jeder Gefahrensituation zu bestehen. Es hätte mir schon auffallen müssen, da der Name »Gawtein« ohne ersichtlichen Grund für mich erkennbar wurde. Damals wunderte ich mich über solche Dinge noch nicht. Folglich ging ich ihnen auch nicht auf den Grund. Der Name war einfach da, und er stand für das Sonnensystem, das sich mir darbot. Später erfuhr ich, daß dieses System zu einer Zwerggalaxis gehörte, die die Riesengalaxis Myrsantrop begleitet. Myrsantrop gehört zu einer lockeren Gruppe von Milchstraßensystemen, zu denen auch All-Mohandot, Bars-2-Bars, Xiinx-Markant und Pers-Mohandot gehören. Auch die Zone, in der Chail und Osath liegen, gehört zu den Randbezirken von Myrsantrop. Heute weiß ich, daß dieses ganze Raumgebiet von Hidden-X, das damals diesen Namen noch nicht kannte, weil es nämlich in Wirklichkeit gar keinen eigenen Namen besitzt, als sein Herrschaftsbereich betrachtet wird. Dazu kommen noch die Übergänge in benachbarte Dimensionen, deren Bedeutung jedoch gering ist. Ein Sonnensystem aus der unmittelbaren Nähe zu erleben, war für mich etwas gänzlich Neues, obwohl ich von der Existenz dieser Konstellationen im allgemeinen aus den ererbten Kenntnissen
wußte. Auch konnte ich nicht hoffen, hier eine Spur meiner Eltern zu finden, aber das zählte im Augenblick nicht. Neugier war in mir erwacht. Wie lebten und existierten Wesen, die ihre Basis allein in dieser Dimension besaßen? Verschwommene Bilder aus meinem Vorleben, aufrecht auf zwei oder mehr Beinen schreitende Geschöpfe, kriechende und fliegende Kreaturen, methanatmende Intelligenzen und sauerstoffabhängige Wesen, tauchten unbewußt in mir auf. Sie waren rätselhaft und schön, und ich wollte mehr von ihnen wissen. Ich wunderte mich darüber, daß ich kein Bild von meinen Eltern besaß, wohl aber von Schöpfungen der Natur, die ich in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Da diese Gedanken aber zu nichts führten, ließ ich sie wieder fallen und wandte mich dem Planeten zu, auf dem ich hochstehendes Leben geortet hatte. Es war die fünfte Welt des Systems Gawtein, das insgesamt sieben Planeten besaß. Aus der Ferne versuchte ich Informationen von den dortigen Bewohnern zu bekommen, was mir auch ohne Schwierigkeiten gelang. Es waren primitivere Wesen, als es die Solaner sind, was schon allein daran erkennbar war, daß sie alles Gawtein nannten, ihre Heimatwelt, den hellroten Stern, das ganze Planetensystem und sogar sich selbst. Damit waren die Merkwürdigkeiten aber noch nicht erschöpft. Natürlich kam mir damals alles zunächst normal vor, denn ich besaß nur verschwommene Vergleichswerte aus der ererbten Erinnerung. Ich sank auf einem der zahlreichen Kontinente nieder, der von weiten Savannen und tiefen Wäldern bedeckt war. Dazwischen verteilten sich kleinere und größere Ansiedlungen, Dörfer und Städte, Bauten aus Stahl, Holz oder Kunststoffen. Da mir auch eine natürliche Vorsicht angeboren ist, hielt ich mich zunächst in sicherer Entfernung und suchte einen Wald auf, von
dem aus ich eine nahe kleine Ansiedlung genauer beobachten und sondieren konnte. Eine Gruppe der Gawtein tummelte sich auf einem Feld. Es mochten fünf oder sechs Personen sein, die irgendwelchen landwirtschaftlichen Arbeiten nachgingen. Große Maschinen unterstützten diese Tätigkeit. Ihre Gedanken lagen offen vor mir, so daß ich schnell einen genauen Eindruck von ihrem Wesen und Aussehen bekam. Die Gawtein waren dir, Sanny, nicht unähnlich, nur etwas größer gewachsen und von brauner Farbe. Über ihren Köpfen trugen sie Gewänder aus Stoffen und künstlichen Materialien, was für mich nicht ganz neu war, denn Beiltracs Kunstbild hatte ja auch einen wallenden Umhang besessen. Dennoch waren das alles neue Eindrücke für mich. Sie beinhalteten mehr als die Gedanken der Gawtein, denn diese empfand ich als nichtssagend und belanglos. Sie beschäftigten sich mit ihrer Arbeit, der zu erwartenden Freizeit, der Nahrungsaufnahme und mit ähnlichen Nichtigkeiten. Das Unheil nahm seinen Lauf, als ich durch ein Geräusch in meiner Nähe aufgeschreckt wurde. Drei Kinder, die zu den auf dem Acker arbeitenden Gawtein gehörten, tobten heran. Sie bewarfen sich mit dünnen Stöcken. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, daß es sich um ein harmloses Unterhaltungsspiel handelte. Auch das stillte meine Neugier, denn ich selbst fühlte mich als Kind, und ich wollte zu gern wissen, wie sich andere Kinder verhielten. Damals wußte ich noch nicht, daß ich ein gänzlich anderes Wesen bin. Im Schatten des Waldes folgte ich den drei Kindern, die sich allmählich einer Anhöhe näherten, die von Felsen übersät war. Hier wuchsen keine Bäume, sondern nur niedrige Sträucher. Ein hoher Zaun versperrte den Kleinen den Weg zu dem Gipfel der Anhöhe. Sie kümmerten sich jedoch nicht darum und kletterten
behende über die Absperrung. Dabei setzten sie ihr Spiel unbeirrt fort, lachten und scherzten. Ihre Fröhlichkeit steckte mich an. Ihre Namen hatte ich inzwischen zur Kenntnis genommen. Es waren drei Mädchen, und sie hießen Balba, Ysa und Helli. Ich bewunderte sie, weil sie ihre Namen genau kannten, was ich von mir ja leider nicht behaupten kann. Diese ganzen Umstände regten mich an, ja, sie versetzten mich in einen regelrechten Taumel. Ich hätte zu gern an dem Spiel teilgenommen. Meine Logik warnte mich, denn wenn ich mich den Kindern offen gezeigt hätte, wäre möglicherweise ein Schock die zwangsläufige Folge gewesen, denn mein Aussehen unterschied sich doch sehr von dem ihren. Während ich hinter einem dichten Busch verharrte, reifte in mir ein Plan heran. Es müßte doch möglich sein, überlegte ich, mein Aussehen so zu verändern, daß ich ihnen gleich war. Die dickliche Figur von Ysa gefiel mir so gut, daß sie mir als Vorbild am besten geeignet erschien. Ich begann mit ersten Versuchen, erzeugte einen Arm mit der dazugehörigen Kleidung, dann zwei Beine und einen Kopf. Da ich aber noch sehr unerfahren und ungeübt war, schlichen sich Fehler ein. Das Ebenbild, das dann schließlich entstanden war, war eher ein schreckliches Zerrbild. Über meinem Bemühen verlor ich für Augenblicke die Kontrolle über die drei Kinder. Dadurch unterlief mir ein schwerer Fehler, den ich bis heute bereue. Helli kletterte auf einen mannshohen Felsbrocken. Sie deutete nach der anderen Seite und schrie etwas von einer Höhle, die sie entdeckt hatte. Die beiden anderen versuchten, zu ihr empor zu klettern. Mein Instinkt warnte mich, aber ich suchte in der falschen Richtung. Immerhin wurde die Gefahr dadurch deutlich. An dem Zaun, den die drei Mädchen überklettert hatten, standen in regelmäßigen Abständen Plastikschilder mit einer Beschriftung, die ich nun, da ich mich mit dem geistigen Gut der Gawtein schon
befaßt hatte, leicht entziffern konnte. BETRETEN VERBOTEN! ABSTURZGEFAHR! Es bereitete mir Mühe, mir unter Absturzgefahr etwas vorzustellen, denn ich war seit meiner Geburt daran gewöhnt, die Anziehungskräfte aller Massen vollkommen zu beherrschen. All das verzögerte meine Reaktion. Als das Unglück geschehen war, war es zu spät. Beim Erklettern des Felsens hatten Ysa und Balba die kleine Helli versehentlich so zur Seite gedrängt, daß sie das Gleichgewicht verloren hatte. Das Mädchen war zu der mir abgewandten Seite in die Tiefe gestürzt, wo ich nun erst eine tiefe Höhle mit kantigen Steinen ortete. Als der Körper des Mädchens tief unten aufschlug, reagierte ich erst. Ich drang direkt durch den Boden zu der Stelle hin vor, indem ich meine Jenseitsmaterie für die anwesenden Stoffe irreal machte. Hellis Bewußtsein war nur noch ein Fetzen. Ich empfand tiefes Mitleid, aber ich besaß keine direkte Möglichkeit, ihr zu helfen. Was ich tun konnte, war wenig. Ich nahm ihr Wissen in mich auf, bevor ihr Geist für immer erlosch. Bevor ich wieder nach oben glitt, wo ich die beiden anderen Mädchen schreien hörte, bedeckte ich den toten Körper mit Erdreich. Warum ich dies tat, war mir selber nicht klar. Möglicherweise hat es auch etwas mit dem ererbten Wissen zu tun. Die Solaner bestatten ihre Toten ja im Raum, aber inzwischen weiß ich, daß planetenansässige Völker in der Regel eine Bestattung im Erdreich vornehmen. Mit Entsetzen vernahm ich die Gedanken von Balba und Ysa. Sie empfanden eine tiefe Schuld und außerdem eine schreckliche Angst vor einer noch schrecklicheren Bestrafung. Sie taten mir leid, die beiden jungen Gawtein. Etwas trieb mich an, diese Sache wieder in Ordnung zu bringen, denn das Unglück war ja nur aus dem herrlichen Spieltrieb heraus entstanden. Die fröhliche Unbekümmertheit hatte so ein jähes Ende
gefunden, und das störte mich. Ich verharrte reglos dicht unter der Oberfläche, während die beiden Mädchen schreiend den Abhang hinunterrannten, wieder über den Zaun kletterten und im Wald verschwanden. Unauffällig folgte ich ihnen! und dabei reifte langsam ein Plan in mir heran, wie ich den beiden Unglücklichen helfen konnte. Heute weiß ich, daß dieser Plan eine ausgemachte Dummheit war, aber ich sagte ja schon, daß ich damals noch zu unerfahren war. In meiner Erinnerung war ein genaues Bild der toten Helli gespeichert. Ihr Wissen hatte ich ohnehin in mich aufgenommen. Nun fehlte nur noch die Fähigkeit, meinen Körper nach diesen Angaben zu formen. Ich blieb am Waldrand zurück und schenkte nur mit einem Teil meines Ichs den Kindern Aufmerksamkeit, die zu ihren Eltern auf dem Feld liefen und ihnen von dem Unglück berichteten. Meine ganze Konzentration galt mir selbst, meiner Substanz, der Jenseitsmaterie, die meinem Willen gehorchen sollte. Die entsetzten Gedanken der Gawtein registrierte ich mit Bedauern. Die Frauen und Männer ließen ihre Arbeit liegen, rüsteten sich mit Haken und Seilen aus und liefen in meine Richtung los. Es war klar, daß sie die abgestürzte Helli retten wollten. Sollte ich ihnen sagen, wie sinnlos dieser Versuch war? Natürlich war das unmöglich, denn ich hatte gerade die obere Hälfte von Hellis Körper aus mir geformt. Ich verbarg mich geschickt, so daß man mich nicht sehen konnte, während ich weiter an meiner Verwandlung arbeitete. Viel später war ich fertig. Es war der Zeitpunkt, zu dem die erwachsenen Gawtein niedergeschlagen und mit hängenden Köpfen zurückkehrten. Natürlich hatten sie von Helli keine Spur gefunden. Ihrem Gemurmel entnahm ich eine neue Information, die ich bislang in ihren Gedanken nicht hatte erkennen können und die ich
auch später dort nie fand. »Der WALDGEIST hat Helli zu sich geholt!« »Wir müssen dieses Opfer akzeptieren, auch wenn es großes Leid für uns bedeutet.« WALDGEIST! Wie war es möglich, daß die Gawtein etwas aussprachen und gleichzeitig nicht daran dachten und ansonsten überhaupt nichts über einen WALDGEIST wußten? Auch in Hellis Erinnerung fand ich keinen Hinweis auf die Bedeutung dieses Wortes. Es war für mich klar, daß ich dieses Rätsel lösen wollte. Darüber durfte ich natürlich nicht die armen und niedergedrückten Gawtein vergessen. Allein der geistige Zustand von Ysa und Balba ließ mich erschaudern. Die Gawtein waren ein einfaches Volk, aber abergläubisch waren sie nicht Ihre Gottheit war Gawtein, und das war die Sonne, ihre Welt und sie selbst. Ein WALDGEIST hatte darin keinen Platz.
4. »Wollt ihr mich hier allein zurücklassen?« Das waren die ersten Worte in meinem Leben, die ich nicht nur in meinen Gedanken formte, sondern auch über die Sprechmembrane, die ich Hellis Kehlkopf nachgebildet hatte, als akustische Welle abstrahlte. Ysa, Balba und die sechs Erwachsenen blieben ruckartig stehen. Ihre Köpfe fuhren herum, und ihre Bewegungen erstarrten, als sie mich am Rand des Waldes stehen sahen. Zinnie, von der ich wußte, daß sie Hellis Mutter war, stieß einen spitzen Schrei aus und rannte auf mich zu. Für einen Moment war ich unsicher, denn ich wußte nicht, ob ich bei meiner Nachbildung nicht doch einen Fehler gemacht hatte. Du mußt wissen, Sanny, daß Jenseitsmaterie viele besondere
Eigenschaften besitzt, aber eins kann man mit ihr nicht machen. Man kann aus ihr nicht mehr an Masse herstellen, als sie selbst ist. Es war also keine einfache Sache, aus meinem bißchen Masse einen so großen Körper wie den von Helli zu erzeugen. Zwangsläufig mußte ich Hohlräume im Innern belassen, und es war fraglich, ob die Gawtein das übersehen würden. Ich kannte mich mit ihren Sinnesgaben noch zu wenig aus. Zinnie riß mich in die Höhe und preßte mich an sich, wobei sie Freudenlaute ausstieß. Ich muß zugeben, daß es ein wunderbares Gefühl war, das viele meiner Sehnsüchte in einem Gedankenbruchteil stillte. So etwa müßten meine Gefühle sein, wenn meine wirkliche Mutter oder mein wirklicher Vater mich in sich aufnehmen würde. Aber diesen Augenblick habe ich bis jetzt noch nicht erlebt, und ich weiß nicht, ob ich ihn je erleben werde. Die Verwirrung bei den Gawtein war groß, hatten sie jedoch angenommen, Helli sei nicht mehr am Leben. Allerdings wandte sich nun ein Teil der Erwachsenen gegen Ysa und Balba. Man warf ihnen vor, sich einen üblen Scherz erlaubt zu haben. Einer der Männer, der der Vater von Ysa war, holte zu einer kräftigen Ohrfeige aus. »Das darfst du nicht tun!« schrie ich laut. »Sie haben die Wahrheit gesagt. Ich bin in die Felsspalte gestürzt.« Der Gawtein hielt inne, kurz bevor ich mit meiner Kraft seinen Arm zum Stoppen gebracht hätte. Ich wollte nicht, daß er Ysa etwas antat. Daß ich mich durch eine solche Handlung vielleicht verraten hätte, habe ich dabei nicht bedacht. »Das verstehe ich nicht«, keuchte Ysas Vater wütend. »Du stehst unversehrt vor uns und behauptest, du seist in einer der unergründlichen Höhlen im Sperrgebiet gefallen?« »So ist es«, antwortete ich trotzig. »Vielleicht erklärst du mir einmal, wie das geschehen sein soll, Helli!« Ysas Vater, Gax, nahm eine drohende Haltung ein, aber
Zinnie breitete ihre Arme schützend vor mir aus. »Ich kann alles erklären«, sagte ich schnell. Gax' Gesichtszüge glätteten sich wieder. »Ich fiel in die Felsspalte, aber der WALDGEIST befreite mich und brachte mich zum Waldrand.« Diese wilde Behauptung hatte ich in der gedrängten Zeit für die geeignetste gehalten, um Schlimmeres zu verhindern. Über die Auswirkungen konnte ich nur Spekulationen anstellen. Die Gawtein starrten mich an, als sei ich ein Geist. Und in gewisser Beziehung war ich das ja auch. »So ist das also«, meinte Ysas Vater schließlich matt. »Das ist etwas anderes. Allerdings halte ich es unter diesen Umständen für erforderlich, daß wir dich zu Traftab bringen.« Die anderen machten zustimmende Gesten, und damit schien das Thema beendet zu sein. Die Leute gingen wieder an ihre Arbeit. Nur Zinnie nahm mich, Ysa und Balba an der Hand und verlangte, daß wir ihr in das nahe Dorf folgten. Ich gehorchte widerspruchslos, zumal ich nicht wußte, woran ich war. In der Erinnerung, die ich von Helli übernommen hatte, existierte der Name Traftab nur als vollkommen verschwommener Begriff. Auch fiel es mir nicht leicht, meine freiwillig gewählte Rolle perfekt zu spielen. Zu groß war meine Neugier auf die Lebensumstände der Gawtein. Schon sehr bald mußte ich außerdem feststellen, daß vieles von der Umwelt ganz anders aussah oder zusammengesetzt war, als Helli es wahrgenommen hatte. Ihre Sinne und ihr Vorstellungsvermögen mußten sehr unvollkommen gewesen sein, obwohl sie älter gewesen war als ich. Auch aus den Gedanken Zinnies entnahm ich, daß diese Gawtein ein höchst labiles und bruchstückhaftes Wesen besaßen. Die Erkennung der materiellen Realität schien den Gawtein insgesamt unbekannt zu sein. Heute weiß ich, daß dies bei nahezu allen Wesen der Fall ist. Atlan
stellt in einer Beziehung hier eine Ausnahme dar, denn er verfügt über eine Fähigkeit, die mir ein Rätsel ist. Er kann auf zwei unterschiedliche Weisen denken, jedoch nur in einer handeln. Es ist, als ob er zwei verschiedene Bewußtseinsträger besitzt, von denen der eine wunderbar logisch denkt. Der andere Teil jedoch kommt mir eher primitiv vor. Ich mußte mich also dem Verhalten der unfertigen Gawtein anpassen. Dabei unterließ ich es aber nicht, Zinnie weiter auszuspähen. Über den ominösen WALDGEIST, von dem auch sie voller Ehrfurcht gesprochen hatte, wußte sie nichts. Der Widerspruch blieb bestehen. Aber ich erfuhr, wer mit Traftab gemeint war. Dabei handelte es sich um ein männliches Wesen der Gawtein, das in der Hauptstadt des Planeten, die übrigens auch Gawtein hieß, als eine Art Oberpriester und weltlicher Herrscher fungierte. Auch von ihm dachte Zinnie voller Ehrfurcht und Scheu. Je näher wir dem Dorf kamen, desto verzweifelter wurde meine selbstgewählte Mutter. Ihre Befürchtungen stiegen, daß ihr Kind Helli für immer bei Traftab bleiben müsse, wenn dieser davon erführe, daß der WALDGEIST mich gerettet habe. Sie schmiedete sogar Pläne, um mit Helli – also mit mir – zu fliehen, um ihr Kind vor diesem ungewissen Schicksal zu bewahren. Was mich bei Traftab allerdings erwartete, wußte sie auch nicht. Sie hatte nur mehrmals in ihrem Leben gehört, daß Gawtein, die durch außergewöhnliche Umstände aufgefallen waren, zu Traftab gebracht wurden und dann nie mehr zurückkehrten. »Wer ist der WALDGEIST?« fragte ich. Dabei trieb mich die Neugier. Ich wollte Zinnie aber auch von ihren augenblicklichen Gedanken ablenken. »Was sagst du?« Sie blickte mich verständnislos an. »Der WALDGEIST«, wiederholte ich stur. »Es tut mir leid, Kleines«, antwortete sie, »aber ich weiß nicht,
wovon du sprichst.« Ich war verblüfft. Hier war ich offensichtlich einem Geheimnis auf der Spur, das über mein Vorstellungsvermögen ging. Im Dorf wußte man über unser Kommen schon Bescheid. Ich erfuhr, daß es von dem Feld aus eine Fernkommunikation auf technischer Basis gab, über die Ysas Vater den Bürgermeister informiert hatte. Ein Fahrzeug war längst bereitgestellt worden, ein Vehikel, das von einem Verbrennungsmotor angetrieben wurde. Ysa und Balba wurden zu ihren Eltern gebracht. Der Bürgermeister, sein Name war Senther, Zinnie und ich bestiegen das Gefährt, das kurz darauf unter höchst befremdlichen Geräuschen und unter penetranter Rauchentwicklung anfuhr. Es ging zunächst über eine holprige Straße, die dann aber bald in eine breite und gut ausgebaute Chaussee mündete. Ich beschäftigte mich mit dem Studium der Landschaft, denn Senther wußte über den WALDGEIST ebenfalls nichts, und den geheimnisvollen Traftab sah er nur wenig anders als Zinnie. Wir erreichten eine größere Stadt, wo wir das rumpelnde Fahrzeug verließen. Aus Hellis Erinnerung gab es nichts Konkretes über diese Stadt. Sie hatte nur gewußt, daß es in der Ferne Städte gab, nie aber eine solche selbst besucht. Das technische Niveau war hier wesentlich höher als auf dem Dorf. Es gab eine Schnellbahn, die fast geräuschlos fuhr und uns in kurzer Zeit in eine noch größere Stadt brachte. Senther dachte den Namen Gawtein, und so wußte ich, daß ich schon bald Traftab gegenüberstehen würde. Zinnie mußte mich vor einem gewaltigen Prachtbau verlassen. In ihren Augen standen Tränen. Ich spürte ihre Trauer, und diese griff auf mich über. Natürlich wollte ich etwas sagen und sie trösten, aber mir fehlten die rechten Vorstellungen vom Gefühlsleben der Gawtein. Um ein Haar hätte ich hinausgeschrien, daß sie nicht zu weinen brauche, weil ich gar nicht ihre Tochter Helli sei. Aber im letzten Moment besann ich mich, denn durch eine solche Äußerung
hätte ich womöglich alles noch viel schlimmer gemacht. Dennoch unterlief mir ein böser Fehler, weil ich Zinnie einfach nicht als meine Mutter akzeptierte. »Mach dir keine Sorgen«, versuchte ich sie zu trösten. »Ich komme bestimmt zurück zu dir, Zinnie.« Sie blickte mich merkwürdig an und antwortete nichts. Senther packte mich ziemlich roh am Oberarm und zerrte mich zu dem Portal. Bewaffnete Wachen kamen uns entgegen und schirmten uns von anderen Gawtein ab, die sich neugierig um uns herum drängten. »Warum hast du das gesagt?« zischte Senther ärgerlich. »Was?« Ich war arglos. »Was!« höhnte der Bürgermeister. »Du hast deine Mutter bei ihrem Namen genannt.« Erst jetzt entnahm ich seinen Gedanken, daß dies als eine üble Beleidigung bei den Gawtein galt. Dieses Volk war zwar nett und harmlos, aber seine Eigenarten blieben mir eben doch fremd. »Was redest du da?« wandte sich einer der Wächter an Senther. Der blieb hilflos stehen und machte eine Geste der Unterwürfigkeit. Die Bewaffneten schoben ihn zur Seite. Zwei packten mich und hoben mich in die Höhe. »Bei Gawtein!« rief einer von ihnen voller Entsetzen. »Ist die merkwürdig leicht.« Mir war klar, daß damit ich gemeint war. Ich hatte mein ursprüngliches Gewicht beibehalten, und das war nach den Maßstäben der Gawtein, die denen der Solaner sehr gleichen, nur ein paar Gramm. Du, Sanny, weißt ja, wie leicht ich in Wirklichkeit bin, denn ich habe mich ja von dir schon tragen lassen. Natürlich versuchte ich, diesen Fehler schnell zu korrigieren, was von meiner Befähigung her kein Problem war. Ich vertausendfachte meinen Gravitationsdruck, und damit machte ich einen zweiten Fehler.
Die Wachen ließen mich schlagartig fallen und schrien auf. Ich jedoch schlug auf dem Boden auf. Mehrere breite Risse bildeten sich in dem Marmorboden. Gesteinsbrocken spritzten in die Höhe. Ein neues und mir bis dahin unbekanntes Geräusch erklang in meiner Nähe. Später erfuhr ich, daß es sich dabei um eine Alarmsirene handelte. Mich kümmerte das im Augenblick wenig. Ich erhob mich halb und strich mit beiden Händen über die zerbröckelte Steinplatte, so daß sich diese wieder fugenlos zusammenfügte. Ich wollte den Gawtein keinen Schaden zufügen, auch wenn er noch so geringfügig war. Gedankliche Wellen des Entsetzens und der Abscheu brandeten auf mich hernieder, wo ich Dank und Anerkennung erwartet hatte. Mir wurde bewußt, daß ich schon wieder unter der Hektik der Ereignisse einen Fehler gemacht hatte. Mein logischer Verstand schaltete sich ein und gebot mir, vorerst alle Maßnahmen zu unterlassen. So blieb ich still stehen und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Vor den Gawtein und ihren begrenzten technischen Möglichkeiten brauchte ich mich nicht zu fürchten. Das dachte ich! Eine hölzerne Stimme, die etwas verzerrt klang, dröhnte über den Vorplatz des Palastgebäudes. Ich versuchte schon fast automatisch die Gedanken des Urhebers zu identifizieren, aber das gelang nicht. Die Anweisungen, die gegeben wurden, verstand ich nämlich akustisch nicht. So sehr ich die Umgebung auch ablauschte, ich fand den Sprecher nicht. Folglich mußte es sich um die Stimme eines Roboters oder eines technischen Speichergeräts handeln. Das dachte ich! Ein Grund zur Beunruhigung war jedenfalls nicht gegeben. So folgte ich auch widerspruchslos den Befehlen der Wächter, sie in das Innere des Gebäudes zu begleiten. Eine große, kühle Halle nahm mich auf. Ich tippelte auf den künstlichen Extremitäten der Helli-Nachbildung ein paar Schritte voran, während die Gawtein am Eingang verharrten.
Auf der Gegenseite öffnete sich ein reich verziertes Stahltor. Eine Gestalt erschien in dem Bogen. Meine optischen Sinne signalisierten, daß es sich dabei um einen Gawtein handeln mußte. Die Wächter dachten voller Hingabe den Namen Traftab, und damit war für mich klar, daß ich vor dem Oberbonzen des Völkchens stand. Das dachte ich! In dem Augenblick, in dem ich meine entscheidende Feststellung machte, geschah das, womit ich instinktiv gerechnet hatte, was mein Verstand aber als absolut unwahrscheinlich abgelehnt hatte. Ich saß in der Falle und merkte, daß meine wesentlichen Überlegungen auf schrecklichen Irrtümern aufgebaut worden waren. Ein energetisches Feld hatte sich blitzartig um mich herum aufgebaut. Es war in allen Richtungen hermetisch geschlossen, und seine Struktur war abweisend für Jenseitsmaterie. Das bedeutete, daß ich diese Barriere weder durchdringen noch verändern konnte. Das Feld selbst war unsichtbar. Die Wächter sahen und spürten es nicht. Sie glotzten nur auf Traftab, der ihnen mit einem Wink zu verstehen gab, daß sie nicht mehr benötigt wurden. Daraufhin verschwanden sie wieder nach draußen, und das Hauptportal schloß sich. Stille umgab mich. Ich war benommen, aber ich sondierte die Ausstrahlungen Traftabs, die ich wahrgenommen hatte, bevor sich die Falle geschlossen hatte. Genau gesagt war es so, daß dieser Gawtein gar keine Ausstrahlung besaß. Nach meinen Empfindungen war er nicht vorhanden. Das bedeutete, daß er entweder eine vorzügliche Tarnung besaß oder aber gar kein Gawtein war, sondern etwas anderes. Er stand unweit von mir und starrte mich schweigend mit großen Augen an. Für einen Moment überlegte ich, ob ich meine Tarnung als Helli aufgeben sollte, entschied mich dann aber dafür, nichts zu tun. Mir wurde kalt. Ich empfand erstmals in meinem kurzen Leben
Temperaturen. Das lag nicht etwa daran, daß ich einige Sinnesorgane Hellis nachgebildet hatte. Es war das unsichtbare Feld. Es begann konsequent damit, mir all das zu entziehen, was mein eigentliches Leben darstellte. Ein Aufbäumen gegen diesen Sog erwies sich als wirkungslos. Damit stand fest, daß ich auf einen Gegner getroffen war, der viel mächtiger war als ich, auch wenn er sich möglicherweise technischer Hilfsmittel bediente. Und es stand fest, daß Traftab kein Gawtein sein konnte, ja, daß er nicht einmal ein natürliches Produkt dieses Sonnensystems war. Es gab nur eine Erklärung. Traftab mußte aus jenen Regionen stammen, in denen ich selbst geboren worden war. Wieviele solcher Bereiche es gibt, weiß ich nicht. Möglicherweise überlappen sich einige mit deinem Universum, Sanny, denn ich glaube nicht, daß Seth-Apophis ihre Existenz zur Gänze jenseits unseres jetzigen Raumes hat. Wahrscheinlich schirmt sie sich nur durch irgendwelche Maßnahmen von diesem ab. Wir wissen ja heute auch, daß Hidden-X sich von der für dich realen Umgebung abgekapselt hat. Er hat ein Hypervakuum als Domizil gewählt, wie ihr von dem Roxharen Fefer erfahren habt. Doch weiter in meiner Erzählung. Ich wurde von einer großen Angst befallen, denn ich merkte immer deutlicher, daß Traftab mir nach dem Leben trachtete. Es galt, meine Existenz zu sichern, und dazu mußte ich Erkenntnisse gewinnen. Gedanken strahlte Traftab nicht aus. Selbst die sichtbare Substanz seines Körpers reflektierte nichts. Vielleicht handelte es sich auch nur um ein Trugbild. Diese Erfahrung hatte ich ja schon bei Beiltrac gewonnen. Ich mußte handeln, bevor ich vollkommen gelähmt wurde. »Warum willst du mich töten, Traftab?« fragte ich mit gespielter Unschuld und der kindlichen Stimme Hellis. Meine wirklichen Gedanken verbarg ich dabei und hoffte, daß dieser Schutz auch bestand. »Der WALDGEIST wollte, daß ich nicht sterbe. Jetzt greifst
du nach meinem Leben. Was habe ich denn getan?« Traftab antwortete zu meiner Freude tatsächlich, aber er sprach nicht über akustische Wellen zu mir sondern in bloßen Gedanken. »Helli ist tot. Wer bist du, der du dein wahres Aussehen und deine Aura verbergen kannst?« »Wenn du mich tötest, wirst du nie eine Antwort erfahren«, entgegnete ich keck. Damit hoffte ich seine Neugier zu wecken und so Zeit zu gewinnen. Das unsichtbare Feld verstärkte sich daraufhin nicht mehr. Der Sog blieb jedoch so intensiv, daß ich einer ständigen Schwächung und einer totalen Bewegungsunfähigkeit unterlag. Mein vermeintliches Ende war also nur hinausgeschoben. Es kam nun darauf an, mehr über diesen Gegner in Erfahrung zu bringen. »Ich weiß nicht, wer ich bin«, antwortete ich gedanklich. Das entsprach der Wahrheit, und ich ließ einen kurzen Gedanken dazu aus mir schlüpfen, der hoffentlich von Traftab aufgenommen werden konnte. »Wie ich aussehe, ist zwar belanglos, aber auch das weiß ich nicht.« Diesmal schirmte ich mich vollkommen ab, denn er sollte nicht merken, daß ich das tat, was ich von Beiltrac gelernt hatte, nämlich zu lügen. Traftab lockerte seine abgeschirmte Aura nun auch ein wenig, denn plötzlich spürte ich seine Gegenwart. Ich hatte Mühe, mir dies nicht anmerken zu lassen. Es waren nur Streufelder seines Ichs, die zu mir drangen, aber sie genügten, um mir ein ungefähres Bild dieses Wesens zu machen. Das äußere Aussehen als Gawtein war nur Tarnung, und es hatte nichts mit dem wirklichen, mir auch weiterhin verborgenen Aussehen dieses Wesens zu tun. Es dachte von sich selbst als von dem WALDGEIST! Eine erste vage Deutung des merkwürdigen Verhaltens der Gawtein bot sich damit an. Was aber viel schlimmer war, waren die Ausstrahlungen, die ich
einmal als den Charakter dieses Wesens bezeichnen möchte. Innerlich erstarrte ich vor der Boshaftigkeit, der Machtgier, dem Egoismus, der Hinterhältigkeit Traftabs. Er vereinigte alles Schlechte in sich, was ich mir vorstellen konnte, all das, was nach meinem ererbten Wissen unter den Begriff negativ fiel.
5. Chybrain schwieg wieder. Sanny hatte den unbestimmten Eindruck, daß die Erinnerung an die geschilderten Ereignisse ihn regelrecht strapaziert hatte. Sie gönnte ihm diese Pause und hoffte, daß er bald wieder fortfahren würde. Der Interkom summte, aber die Molaatin hatte die automatische Antworttaste für »ich möchte nicht gestört werden« gedrückt. Sie stützte ihren haarlosen Kopf in die Hände und blickte Chybrain nachdenklich an. Das Ei lag noch immer in halber Schräge in dem Sessel. »Ich kann einen Teil deiner Geschichte vorherberechnen, Chybrain«, sagte sie. »Das soll dich aber nicht davon abhalten, mir alles ausführlich zu sagen.« »Was meinst du damit, Sanny?« »Du kannst meine Gedanken doch lesen wie ein offenes Buch«, lockte sie ihn. »Warum sollte ich dir also lange Erklärungen vorbeten?« »Ich könnte es«, gestand das Ei aus Jenseitsmaterie. »Aber ich tu's nicht. Du solltest gemerkt haben, daß ich trotz meiner Jugend ein ausgeprägtes Ehrgefühl vor allen Wesen habe. Ohne Notlage oder ohne dein Einverständnis würde ich niemals in deine Gedanken eindringen.« »Das ist ja tröstlich«, meinte Sanny leichthin. »Dann laß dir zunächst folgendes sagen: Atlans Bewußtsein besitzt eine Region, die er Extrasinn oder Logiksektor nennt. Das ist es, was dich an ihm
so stutzig gemacht hat. Offensichtlich kannst du diesen Extrasinn nicht orten.« »So ist es«, bestätigte Chybrain. »Hat das etwas mit meinen Eltern zu tun?« »Natürlich nicht.« Die Molaatin lachte. »Bei dir scheint sich alles immer nur um dieses eine Thema zu drehen. Ich gehe die Sache anders an. Erst wenn man möglichst viel weiß, kann man die Zusammenhänge erkennen. Deshalb kann jede Kleinigkeit, die du mir mitteilst, von Bedeutung sein. Dann kann ich vielleicht meine paramathematischen Schlüsse ziehen. Die Sache mit dem Extrasinn habe ich nur angesprochen, weil du Atlans zweifache Denkweise erwähnt hast.« »Gut.« Chybrain war mit dieser Erklärung zufrieden. »Was hast du aus meinem Bericht gefolgert?« »Zunächst einmal, daß sich hinter diesem Traftab entweder Hidden-X selbst verbirgt oder daß es sich um einen seiner Gehilfen handelt.« Da Chybrain nicht darauf reagierte, fuhr Sanny fort: »Daß du elternlos bist, scheint dich sehr zu bedrücken. Aber du hast vor anderen Dingen eine viel größere Angst. Du vergleichst dich indirekt ständig mit Hidden-X. Es hat etwas an sich, was auch du hast, und was in jene Bereiche des Kosmos gehört, die mir nicht nur körperlich sondern auch in bezug auf meine Paramathematik wohl für immer verschlossen sind. Jede denkbare Parallele zwischen euch beiden reizt deine Furcht. Du hast so merkwürdig betont, daß Hidden-X keinen wirklichen Namen hat. Das gilt auch für dich, denn Chybrain ist ja auch nur eine angenommene Bezeichnung. Diese möglicherweise zufällige Gleichheit macht dir Sorgen. Hidden-X entstammt einer negativen Superintelligenz, Seth-Apophis. Zu dieser hat es offensichtlich keine Verbindung mehr. Auch in diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit, denn du fühlst dich von deinen Eltern verlassen. Du bist in meinem Sinn ein Waisenkind oder ein ausgesetzter Nachkömmling. Auch das beunruhigt dich.«
Chybrains Sechsecke leuchteten wirr auf. »Du willst damit doch nicht etwa andeuten«, kam ein erregter Gedankenstrom zu Sanny herüber, »daß ich Seth-Apophis entstammen könnte? Diese kenne ich ja gar nicht.« »Natürlich nicht. Ich weiß über Seth-Apophis nur sehr wenig, nämlich das, was Atlan beiläufig einigemal erwähnt hat. Aber sie stellt eine negative Macht dar, und du, Chybrain, bist ein durch und durch positives Kerlchen.« »Ich fürchte mich vor Hidden-X«, gestand Chybrain. »Ich sagte schon, er ist mächtiger als ich.« »Wie sieht Hidden-X aus?« Das Kristallei stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Ich habe ein paar seiner Gesichter gesehen, aber ich bezweifle, daß eins davon der Realität entspricht. Möglicherweise besitzt es gar nicht das, was du dir unter einem Aussehen vorstellst. Doch wahrscheinlich ist es besser, wenn ich dir weiterberichte, was damals auf Gawtein geschah.«
* Ich kauerte mich in menschlicher Manier mit dem künstlichen Körper Hellis auf den kalten Boden. Da Traftab wieder schwieg und auch seine Aura vollkommen beherrschte, hatte ich etwas Zeit, um mich von dem Schock zu erholen, den er mir unbewußt zugefügt hatte. Vielleicht hatte er mir auch nur seine Stärke zeigen wollen, wie seine weiteren Worte vermuten ließen. »Du bist unbefugt in meinen Herrschaftsbereich eingedrungen«, warf er mir vor. »Und du bist stark. Das habe ich schnell gemerkt. Du bist kein Wesen dieser Zeit. Zeige mir deine normale Gestalt.« Ich gab es auf, Helli zu imitieren und formte mich zu meinem normalen Körper um. »Jenseitsmaterie«, staunte Traftab. »Das habe ich vermutet. Aber daß du so riesig bist, hätte ich nicht gedacht.«
Ich kam mir gar nicht groß vor. Nahezu alle intelligenten Lebewesen sind größer als ich, manche sogar viel größer. Denke einmal an Wöbbeking-Nar'Bon. Daß Traftab etwas anderes meinte, wurde aus seinen weiteren Gedanken erkennbar. »Es gibt nur eine Erklärung für dich«, behauptete er rätselhaft. »Du mußt die Quelle der Jenseitsmaterie gefunden haben und dort diese große Masse in dich integriert haben.« »Quelle der Jenseitsmaterie?« echote ich. »Davon ist mir nichts bekannt.« »Egal.« Plötzlich war sein Interesse wieder verschwunden. Seine Gedanken wurden hart. »Ich muß dich leider töten, denn ein solcher Batzen Jenseitsmaterie fehlt mir noch zur Verwirklichung einiger Pläne. Meine Macht muß wachsen.« Während ich mich innerlich auf einen harten Kampf vorbereitete, sagte ich: »Könnte ich dir nicht auf eine andere Weise nützlich sein?« »Wie?« Traftab lachte ironisch. »Gemeinsam müßte es uns möglich sein, die Quelle der Jenseitsmaterie zu finden oder …« Ich brach ab, um seine Reaktion abzuwarten. »Oder?« Sein Interesse war geweckt. »Oder eine Maschine zu bauen, die Jenseitsmaterie in beliebigen Mengen produziert.« Offenes Staunen schlug mir entgegen. »Ich kenne diese Maschine zwar nicht, aber ich weiß, welcher Grundstoff des Diesseits das Ausgangsmaterial ist.« »Sprich weiter, kleiner Diener!« Er kroch mir allmählich auf den Leim. Natürlich durfte ich mein Spiel nicht zu weit treiben und mich womöglich in überflüssige Lügen verstricken. Deshalb blieb ich, wo es eben ging, bei der Wahrheit.
»Der Basisstoff der Jenseitsmaterie ist in diesem Universum in Hülle und Fülle vorhanden«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Es ist das Element, das die Intelligenzen Nickel nennen.«
* Sanny fuhr wie von einem Blitz getroffen in die Höhe. Sie fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum. Natürlich entging die Aufregung der Molaatin Chybrain nicht. »Was hast du denn?« wollte er wissen. »Nickel!« stieß Sanny hervor. »Du hast die Wahrheit gesagt?« »Du meinst, daß dies das Element ist, aus dem man Jenseitsmaterie herstellen kann? Natürlich entspricht das den Tatsachen. Ich hatte eigentlich angenommen, daß du das mit deiner Paramathematik längst berechnet hättest.« »Weit gefehlt, mein Freund.« Sanny seufzte. »So weit scheint es mit meinen Fähigkeiten also nicht her zu sein. Ich besaß nicht den geringsten Hinweis darauf. Nun aber erkenne ich den Zusammenhang. Hidden-X hat dieses Material nicht aus einer Laune heraus geraubt, um sich das Flekto-Yn zu bauen. Seine Überlegungen zielen viel weiter. Seine Heimstatt soll unangreifbar sein. Er plant womöglich, das ganze Flekto-Yn in diese unheimliche Jenseitsmaterie zu verwandeln. Dann besäße es in der Tat eine unangreifbare Bastion und könnte sich zum Herrscher über weite Teile unseres Universums aufschwingen.« »Das Geheimnis der Jenseitsmaterie ist nur wenigen bekannt«, versuchte Chybrain die Sorgen der Paramathematikerin abzuwiegeln. »Selbst ich beherrsche nur die Jenseitsmaterie, aus der ich erschaffen worden bin. Diese wurde mir bei der Geburt als mein Körper gegeben. Von der geheimnisvollen Quelle der Jenseitsmaterie, die Traftab erwähnte, weiß ich nichts. Ich kann nicht einmal sagen, daß es sie wirklich gibt. Aber ich weiß, daß die
Herstellung von Jenseitsmaterie, die in vollem Umfang dem Willen seines Besitzers gehorcht, in deinem Universum unmöglich ist. Dazu muß man eine andere Dimension aufsuchen, beispielsweise ein Hypervakuum.« »Oh, Chybrain«, stöhnte Sanny. »Du verwirrst mich. Was weißt du denn von einem Hypervakuum?« »Das ist eine andere Geschichte. Wenn du möchtest, werde ich dir später davon berichten. Ich gehe davon aus, daß auch eine Macht, wie sie Hidden-X darstellt, Jenseitsmaterie nur in sehr begrenztem Umfang erzeugen kann. Selbst dann, wenn es ihm gelingt, hält der Zustand nur eine begrenzte Zeit an. Künstliche Jenseitsmaterie besitzt nicht die vollen Eigenschaften wie die echte, aus der ich bin oder Wöbbeking.« »Es ist schlimm genug«, meinte Sanny, »einen Feind wie Hidden-X zu haben. Wie sollen wir diese Macht jemals ausschalten.« »Das weiß ich nicht«, gestand das leuchtende Ei. »Als ich mit ihm in den Konflikt geriet, konnte ich ihn nicht besiegen. Im Gegenteil, ich richtete nur Unheil an …«
* Meine Lage war nach wie vor äußerst kritisch, denn ich wußte, daß er mich jederzeit töten könnte. Schließlich hatte er das bannende Feld nur angehalten, und es gab für mich keinen Zweifel daran, daß er es jederzeit wieder verstärken konnte. Ich mußte also vorsichtig versuchen, weiter sein Vertrauen zu erschleichen. Der Angelhaken war ausgeworfen, und er hatte angebissen. »Dein Wissen verblüfft mich«, gab Traftab zu. »Es könnte tatsächlich sein, daß du ein wertvoller Diener für mich sein könntest. Woher besitzt du dein Wissen?« Ich konnte ihm diese Frage nicht einleuchtend beantworten, also
beging ich wieder einen Betrug. »Alles stammt von einem ehemaligen Mächtigen, der das Tor in einen anderen Raum bewachte. Vor seinem Tod reichte er seine Kenntnisse an mich weiter, damit ich seine Aufgabe übernehmen könnte. Natürlich dachte ich nicht daran, irgendwo im Kosmos für alle Zeiten festzusitzen. Mein Streben geht in eine andere Richtung. Ich brauche Freunde und Helfer, dienende Völker und eine mächtige Technik, um gemeinsam mit würdigen Kreaturen ein großes und unbesiegbares Reich von vielen Galaxien aufzubauen.« Er fiel auch auf diesen Köder herein. »Das hört sich gut an, Kleiner«, räumte Traftab noch leutseliger ein. »Auch ich verfolge ähnliche Ziele, nur habe ich schon Reiche aufgebaut. Zugegeben, es fehlen noch verbindende Teile, aber das ist nur eine Frage der Zeit. In einem Punkt kann ich dir jedoch nicht zustimmen. Ich suche keine Partner oder Verbündete. Bei mir herrscht nur ein Prinzip. Wer mit mir zusammenarbeitet, muß sich unterordnen. Du könntest viel von mir lernen.« Jetzt versuchte er mich zu locken! Ich tat so, als ob ich überlegen würde, und antwortete erst eine Weile später. »Ich bin noch jung, und ich muß viel lernen.« Dabei ließ ich wieder einen Mentalimpuls entkommen, so daß Traftab merken mußte, daß ich die Wahrheit sagte. Unmittelbar danach schirmte ich mich aber wieder ab. »Es stellt für mich also kein Problem dar, dein freiwilliger Helfer zu werden. Später, wenn du dein Ziel erreicht hast, könntest du mich entlassen, damit ich an einem anderen Ort meinen eigenen Weg gehen kann. Ich nehme nämlich an, daß du unsterblich bist.« Diese Schmeichelei tat Traftab gut. Er wurde etwas leichtsinnig und vergaß für einen Gedankenbruchteil seine Aura, so daß ich einen Großteil seiner Überlegungen erfassen konnte. Er sagte: »Einverstanden, Diener Chybrain. Aber du sollst wissen, daß ich mehr als unsterblich bin.«
Und was er dachte, war das: Wenn ich alle deine Fähigkeiten übernommen oder gelernt habe, wenn wir die Quelle der Jenseitsmaterie gefunden haben oder wenn wir Jenseitsmaterie in beliebigen Mengen herstellen können, hast du ausgedient. Ich dulde keine MACHT NEBEN MIR, AUCH WENN SIE NOCH SO WEIT ENTFERNT IST. Dann werde ich dich beseitigen und aus deiner Jenseitsmaterie ein kosmisches Feuerwerk veranstalten, das die Dimensionen aus den Angeln hebt und die Mächtigen aus dem Jenseits erschaudernd in die ewige Flucht treibt. Auch du, Seth-Apophis, wirst dann merken, daß deine Spiegelung mächtiger geworden ist, als du es je warst oder sein wirst. Ich tat so, als habe ich nichts bemerkt. »Du hast mein Wort, Traftab«, antwortete ich schlicht. »Ich werde dir ein getreuer Helfer sein.« »Hüte dich, Chybrain!« Er lachte überheblich. »Bei dem geringsten Verdacht, mich zu hintergehen, werde ich dich auslöschen. Du hast gemerkt, daß ich die Macht dazu besitze. Ich kann sie jederzeit und an jedem Ort anwenden.« »Ich will lernen und dienen«, entgegnete ich unterwürfig, denn aus seinen Worten war zu hören, daß er mir noch nicht restlos vertraute. Immerhin lockerte er das energetische Feld, so daß ich mich frei bewegen konnte. »Du solltest die Gestalt Hellis wieder annehmen«, riet er mir. »Und du sollst mich von nun an bei meinem Namen nennen.« Ich führte die äußerliche Verwandlung durch, bis ich wieder der jungen Gawtein vollkommen glich. »Bitte nenne mir deinen Namen!« sagte ich dann. »Nenne mich so, wie die Gawtein mich nennen! WALDGEIST!« Am liebsten hätte ich laut gelacht, denn dieser Name paßte zu dem Unbekannten, der sich in Traftab verbarg, ganz und gar nicht. Ich folgerte, daß dieser sich über die Bedeutung des eigenartigen Namens gar kein Bild machen konnte.
Zu jener Zeit sagte mir der von ihm benutzte Name Seth-Apophis auch noch nichts. Von Superintelligenzen hatte ich noch nichts gehört, und was eine Spiegelung bedeutete, war mir ebenfalls unklar. »In Ordnung, WALDGEIST«, antwortete ich.
* Meine Hoffnung, daß Traftab oder WALDGEIST oder Hidden-X mich in seine Geheimnisse, seine Kräfte oder seine Pläne einweihen würde, wurden mir nicht erfüllt. Ebenfalls hütete sich dieser Mächtige davor, mich sein wahres Wesen erkennen zu lassen. Er versah mich mit einem Auftrag, der zumindest erkennen ließ, daß er panische Angst davor hatte, weitere Wesen wie ich könnten nach Gawtein kommen. Ich mußte unablässig die Lage auf dem Planeten überwachen, die Gedanken der Gawtein kontrollieren und auf irgendwelche Unregelmäßigkeiten oder Absonderlichkeiten achten. Ich versah diese Aufgabe auch fehlerlos, wobei ich mich verschiedener Masken, alles Gawtein-Nachahmungen, bediente. Immerhin konnte ich so die Fähigkeit, ein anderes Lebewesen nachzuahmen, sehr schnell vervollkommnen, auch wenn ich dies für eine Unwürdigkeit halte. Bei allen meinen Exkursionen begleitete mich stets ein Hauch jenes starken Feldes, von dem ich wußte, daß es mich töten konnte. Traftab ließ mich also keinen Moment ohne Bewachung. Ich tat stets so, als ob ich dies nicht merken würde oder als ob es mir nichts ausmachte. In Wirklichkeit war es auch keine direkte Belastung. Das Feld hinderte mich nur daran, eigene Nachforschungen anzustellen. So gab es in dem Palastgebäude der Stadt Gawtein Räume, die für mich verboten waren. Was sich dort verbarg, blieb zunächst ein Rätsel. Andere Lebewesen gab es in dem Palast nicht. Traftab
residierte hier ohne erkennbare Wirkung nach draußen. Ich nutzte meinen geringen Bewegungsspielraum jedoch vollständig aus, indem ich die Gawtein ausspähte, wo immer mir das möglich war. Ausgangspunkt war die Tatsache, daß die Gawtein zwar bei bestimmten Gelegenheiten von dem WALDGEIST sprachen, nie jedoch über ihn nachdachten. Dieses Phänomen war mir schon kurz nach meiner Ankunft auf dem Planeten als höchst merkwürdig aufgefallen. Ihm wollte ich auf den Grund gehen. Dadurch erhoffte ich auch mehr über meinen unfreiwilligen Herrn zu erfahren. Nach vielen Tagen aufmerksamer Beobachtung fiel mir etwas auf. Die Gawtein sprachen immer dann von dem WALDGEIST, wenn sie in Unruhe oder Aufregung gerieten. Die Umstände, die zu solchen Zuständen führten, waren dabei belanglos. Es konnte sich um Unwetter, Verkehrsunfälle, persönliche Streitigkeiten oder etwas anderes handeln, stets beruhigten sich die Gemüter, wenn der Name fiel. In einzelnen Fällen, bei denen ich mich sehr konzentrierte, gelang es mir, in das Unterbewußtsein einzelner Gawtein einzudringen. Dabei stellte ich fest, daß dort ein wohl emotionell gesteuerter Prozeß ablief, wenn eine kritische Situation entstand. Irgendein Gawtein nannte zuerst den Namen WALDGEIST. Kaum hatten ihn die anderen gehört, so setzte sich diese Assoziation fort und griff auf alle über. Das wiederum beruhigte die Gemüter. Den Rest zu folgern, war dann nicht mehr schwer. Ich erschauderte innerlich, als ich die ganze Tragweite dieser geistigen Manipulation erkannte. Traftab lenkte die Gesamtheit der Gawtein nur indirekt. Es kam ihm dabei aber darauf an, daß alles in (nach seinem Sinn) geordneten Bahnen verlief, daß sich also niemand übermäßig aufregte.
Die Gawtein wurden also regelrecht eingelullt. Mir wurden viele Fälle bekannt, wo es zu schweren Folgen kam, weil diese Lebewesen nicht mehr natürlich reagierten. Besonders bei Unfällen geschah es häufig, daß nicht die notwendige Hilfe geleistet wurde. Diese Steuerung des Unterbewußtseins hatte aber noch zwei weitere Effekte, die auf der Rückwirkung der Gedanken der Gawtein auf Traftab selbst beruhten. Zum einen registrierte dieser jede Abweichung vom »geordneten Leben«. So kam er allen Absonderlichkeiten, wie es beispielsweise mein Auftauchen gewesen war, sehr schnell auf die Spur. Das war also eine Schutzfunktion. Der andere Effekt war so eigenartig, daß ich länger brauchte, um ihn zu durchschauen. Jedesmal wenn ein Gawtein das Wort WALDGEIST benutzte, ging von ihm ein winziger Impuls auf gedanklicher Ebene aus, der Traftab erreichte. Und dieser fühlte sich dadurch bestätigt, anerkannt, geschmeichelt. Diese grenzenlose und absurde Selbstsucht war es, die ich mir dann zu meinem Vorteil zu machen gedachte, denn ich hatte erkannt, daß Traftab so schlau und mächtig er auch sein mochte, die wirkliche Bedeutung dieses von den Gawtein geprägten Wortes gar nicht verstand.
6. Es mußte etwas geschehen, denn eigentlich war ich ja ein Gefangener, und Erleichterungen zeichneten sich nicht ab. Außerdem war Traftab oft für mehrere Tage von Gawtein abwesend. Ich hatte keine Ahnung, was er dann machte und wo er war. Das energetische Feld begleitete mich auch dann stets, und ich wußte, daß es jederzeit zu einer tödlichen Falle werden konnte.
Ich versuchte die Grenzen festzustellen, bis zu denen ich gehen konnte, ohne die Aufmerksamkeit meines Herrn zu wecken. Dazu verwickelte ich bei einigen meiner Ausflüge die Gawtein in reizvolle Gespräche. Dabei ging es natürlich um den WALDGEIST. Ich spielte einigen Leuten mit einem technischen Gerät aufgenommene Gespräche vor, die sie selbst geführt hatten. Natürlich erkannten diese Gawtein sich dabei. Als dann aber Gesprächspassagen kamen, in denen sie das Wort WALDGEIST benutzten, stürzte ich sie in heftige Zweifel. Der von Traftab angezettelte »Beruhigungseffekt« trat aber auch jetzt ein, so daß diese Gespräche in der Regel ein schnelles Ende durch Interessenlosigkeit fanden. Nach mehreren dieser Versuche wollte ich schon wieder aufgeben, denn ich hatte erfahren, daß Traftab davon nichts erfuhr. Er verhielt sich mir gegenüber so normal wie sonst. Dann aber geriet ich an einem Ort fern der Stadt Gawtein an einen jungen Mann, der völlig anders reagierte. Der Name dieses Gawtein war Bassa. Unser erstes Gespräch, bei dem ich die Maske eines alten Gawtein benutzte, fand auf dem Anger eines kleinen Dorfes statt. Es verlief so wie alle anderen. Bassa zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Irgend etwas war mir daran aber seltsam vorgekommen, obwohl ich nicht sagen konnte, was es war. Ich beschloß, Bassa zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anzusprechen. Das erwies sich als überflüssig, denn als ich mit einem Linienbus das Dorf wenig später verließ, stieg Bassa ebenfalls ein. Er setzte sich neben mich und blickte sich dabei vorsichtig um. Erst als er keinen anderen Gawtein in seiner Nähe sah, rückte er mit seinem Anliegen heraus. »Wer bist du, Alter?« fragte er mich leise. Der Blick seiner dunklen Augen durchbohrte mich. »Warum?« fragte ich abweichend zurück.
»WALDGEIST.« Er warf mir das Wort abfällig hin. »Du weißt etwas darüber, nicht wahr?« Ich drang in seine Gedanken ein, aber ich stieß auf eine Sperre, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. »Was weißt du darüber?« Ich dachte nicht daran, mir eine Blöße zu geben, denn Vorsicht schien mir wichtig zu sein. Es konnte ja nicht ausgeschlossen werden, daß Traftab diesen Burschen auf mich gehetzt hatte, vielleicht, weil ich doch sein Mißtrauen geweckt hatte. Oder hinter der Maske des jungen Gawtein steckte mein Herr selbst. Ich sondierte die Substanz seines Körpers, aber ich fand nichts Ungewöhnliches. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Bassa bedauernd. »Also werde ich wohl etwas sagen müssen. Würdest du mich an einen anderen Ort begleiten?« Ich nickte. Wir verließen den Bus an einer einsamen Stelle auf dem Land, die Bassa bestimmte. Sonst sagte er nichts. In der Nähe standen ein paar einsame Gehöfte, hinter denen sich bewaldetes Bergland anschloß. Der Gawtein führte mich in eine Hütte, die am Rand eines hohen Waldes stand. Das Innere des Hauses war leer, aber ich bemerkte sofort, daß die Fenster, die ich von draußen gesehen hatte, nur eine Tarnung waren. Die Tür fiel ins Schloß. Eine kleine Beleuchtung flammte an der Decke auf. Durch meine ständige Tarnung als Gawtein hatte ich teilweise deren Manieren und Verhaltensweisen angenommen. So atmete ich tief auf, als sei eine Last von meinen Schultern genommen. Bassa registrierte dies mit Verwunderung. Noch verwunderter war jedoch ich, denn ich spürte plötzlich die leise Wirkung des mich ständig begleitenden Energiefelds nicht mehr. Noch wußte ich nicht, was das zu bedeuten hatte. »Hier können wir ungestört sprechen«, sagte Bassa. Sein Blick hatte etwas Lauerndes an sich. »Diese Hütte ist so gebaut, daß er uns nicht belauschen kann.«
»Wer?« »Der WALDGEIST.« Da das Energiefeld nicht mehr wirksam war, konnte ich meine Kräfte wieder vollständig entfalten. Im Nu prüfte ich Bassa bis in die letzte Faser seiner Substanz. Auch seine Gedanken lagen wie ein offenes Buch nun endlich vor mir. »Du brauchst mir nichts zu sagen, Bassa«, antwortete ich, »denn nun kann ich deine geheimsten Gedanken entschlüsseln.« Entsetzen trat in das Gesicht des Gawtein. »Keine Angst, mein Freund«, beeilte ich mich. »Ich stehe auf deiner Seite. Ich erkenne, daß du nicht dem Zwang unterliegst, der das Unterbewußtsein aller Gawtein gängelt. Du bist innerlich frei, und du suchst Verbündete gegen den WALDGEIST.« Seine Furcht wich blankem Erstaunen. Ich gab meine Tarnung auf und bildete mich zu meinem richtigen Körper um. Gleichzeitig sondierte ich die Wände der Hütte. Dann ärgerte ich mich bis in die letzte Faser meiner Jenseitsmaterie. Diese primitiven Gawtein hatten tatsächlich einen Weg gefunden, um sich von dem geistigen Zwang Traftabs abzukapseln. Ihr Schutz war zwar natürlicher Art, eine Immunität, deren Ursache vielleicht in einem glücklichen Zufall der Natur lag. Ihren geheimen Besprechungsort hatten die WALDGEIST-Gegner jedoch mit einem ganz einfachen Trick abgesichert. In die Wände der Hütte, in den Boden und in die Decke war eine dünne Folie aus reinem Nickel eingezogen worden. »Das ist es also«, stellte ich fest. »Nickel. Wir sind durch einen Zufall darauf gekommen. Traftab hat schon viele Immune aufgespürt oder aufspüren lassen. Sie alle sind verschwunden. Wir, das sind drei Freunde und ich, vermuten, daß er sie getötet hat.« Mit einmal wurde mir die ganze Tragweite der Grausamkeit bewußt, die dieses Volk erleiden mußte. »Was bezweckt Traftab damit?« fragte ich laut, aber die Frage war wohl eher an mich selbst gerichtet.
»Er verschleppt nicht nur Immune oder Gegner«, antwortete Bassa, der dabei meinen eiförmigen Körper mit unverhohlener Neugier betrachtete. »In unregelmäßigen Abständen werden Tausende junger Gawtein an einen Ort auf dem Südkontinent gebracht. Gerüchte besagen, daß sie dort in ein großes Raumschiff steigen müssen, das sie von Gawtein wegbringt.« »Er benutzt euer Volk als Reservoir für willige Hilfskräfte«, folgerte ich laut. »Das paßt in das Bild, das ich ebenfalls gewonnen habe. Er ist oft für längere Zeit abwesend. Also agiert er noch an ganz anderen Stellen.« »So könnte es sein«, pflichtete mir Bassa zu. »Aber wir sind wehrlos. Das ganze Volk erkennt nicht, was geschieht, denn das magische Wort WALDGEIST schläfert unsere Frauen und Männer regelrecht ein.« »Es wird sehr bald etwas geschehen«, versprach ich Bassa. Bassa stellte noch tausend Fragen an mich, aber ich zog es vor, die Unterredung zu beenden. Ich versprach Bassa, wieder von mir hören zu lassen, aber dazu kam es leider nie mehr.
* Im Palast war ich an diesem Abend allein. Traftab war nicht da, und er zeigte sich auch nicht indirekt. Das Feld hatte sich wieder um mich gelegt, als ich die Hütte verlassen hatte, aber das störte mich nicht. Bei einem Rundgang durch die Stadt hatte ich unauffällig kleine Nickelmengen gesammelt. Nun verbarg ich in meinem Körper etwa 10 hoch 28 Atome davon, genug, um eine Folie daraus zu bilden, die mich zur Gänze einhüllen konnte. Ich mußte noch zwei Tage warten, dann endlich erschien Traftab. Wie immer war er von einem Moment zum nächsten einfach da. Er formte aus dem Nichts heraus den Körper Traftabs und lachte mich
leutselig an. »Nun, mein kleiner Diener Chybrain, wie sieht es aus auf Gawtein?« »Es ist alles in bester Ordnung«, antwortete ich unterwürfig. »Nur ist mir eine alte Frau aufgefallen, die bewußt deinen Namen nennt. Ich meine das Wort WALDGEIST.« »Das ist ungewöhnlich.« Traftab wurde sichtlich nervös. »Was hast du getan?« »Ich habe sie eines natürlichen Todes sterben lassen.« Zu meiner eigenen Verwunderung kamen die Lügen mit spielerischer Leichtigkeit über die künstlichen Lippen. »Das ist gut!« »Dadurch mußte ich mich aber zwangsläufig mit der Bedeutung dieses Namens befassen.« Behutsam lenkte ich ihn in die Richtung, wo ich ihn treffen wollte. Traftab runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen? Es ist dir sicher nicht entgangen, daß ich über den Mentalzwang, den ich in dieses Wort gelegt habe, Ruhe und Ordnung bei den Gawtein aufrechterhalte. Ein so herrlicher Name war das geeignete Medium für diese Lenkung der Primitiven.« »WALDGEIST«, dachte ich laut. »Das ist wohl der erste Name, den man dir gegeben hat. Davor warst du namenlos.« Sofort verstärkte sich der Druck des Energiefelds, denn ich hatte ihn gereizt und auch irgendwie getroffen. »Was weißt du davon, du Wicht!« fauchte Traftab mich an. »Auch ich habe nur einen angenommenen Namen«, entgegnete ich schnell, denn wenn er zu wütend werden sollte, wäre mein Plan gefährdet. Ich spürte einen Augenblick lauernde Neugier. »Chybrain ist nicht dein wahrer Name?« »So ist es, aber ich kenne meinen wahren Namen nicht. Dabei sind Namen so wichtig. In ihnen kann sehr viel oder sehr wenig liegen. Da ich meinen Namen nicht kenne, habe ich mich sehr intensiv
damit befaßt, die Bedeutung aller Namen zu analysieren, die ich hörte.« »Eine erstaunliche Fähigkeit«, gab Traftab zu. »Ich besitze sie nicht. Die Usteris, die ich mit Hilfe der Rekruten von Gawtein unterworfen habe, nennen mich SCHÖPFER. Was bedeutet das?« Ich wußte zwar nicht, wer oder was die Usteris waren, aber ich merkte, daß ich ihn in die psychologische Falle treiben konnte, die ich ausgetüftelt hatte. »Eine ehrenvolle Bezeichnung«, erklärte ich mit ehrlichem Staunen. Natürlich war mir die Bedeutung des Wortes SCHÖPFER klar, und es war auch logisch, daß sie für das Wesen, das sich in oder hinter Traftab verbarg, etliche Nummern zu hoch gegriffen war. »Sie ist sicher angemessen. SCHÖPFER bedeutet, daß du alles kannst, was in den Träumen deiner Dienervölker geschieht.« Traftab strahlte Zufriedenheit aus. Seine Eitelkeit war so abstoßend, daß ich mich beherrschen mußte, die Wahrheit nicht laut hinauszuschreien. »Ehrenvoller als WALDGEIST?« wollte er lauernd wissen. Jetzt hatte ich ihn da, wo ich ihn haben wollte. »Die Gawtein sind dir in jeder Beziehung unterlegen«, holte ich zu einer Erklärung aus. »Sie haben das frühzeitig bemerkt. Sie wissen, daß du sie schändlich ausnutzt, ihre besten Kämpfer entführst und ihr Unterbewußtsein manipulierst. Sie können sich direkt nicht wehren. Deshalb haben sie dir den Namen WALDGEIST gegeben.« »Das verstehe ich nicht«, gestand Traftab unwirsch. »Erkläre es genauer.« Zur Unterstreichung seiner Forderung drückte das unsichtbare Feld wieder fester zu. »Es ist ihre Art, sich an dir zu rächen«, fuhr ich unbeirrt fort. Innerlich freute ich mich auf den Schlag, den ich nun seiner Überzogenheit versetzen würde. »WALDGEIST, das ist ein hutzeliges altes Männchen, das mit Hilfe böser Zaubermächte in einer stinkigen Erdhöhle sein niedriges Werk verrichtet, bis es eines
Tages an sich selbst erstickt.« »Das ist nicht wahr!« Traftabs Aussehen veränderte sich. Er wurde schemenhaft, aber er verschwand nicht. Wahrscheinlich ging er nur teilweise in sein wahres Ich über, und das schien körperlos zu sein. »Warum sollte ich dich belügen?« stöhnte ich, denn das Feld drückte immer stärker. »Ich kann doch nichts dafür, wenn sich die Gawtein trotz ihrer Unterlegenheit dadurch wehren, daß sie dir einen schäbigen Namen verpassen.« »Verräter!« brüllte die Stimme, die nun nur noch mentalen Charakter besaß. »Stirb!« »Nach dir, Unhold!« Blitzschnell beförderte ich den Nickelbrocken nach draußen, formte mich zu meinem richtigen Körper um und verteilte das Metall als gleichmäßige Hülle auf der Oberfläche. Traftab tobte wie ein Wilder. Er fuhr das Energiefeld bis an die Grenze der Belastbarkeit, aber mein Schutz war perfekt. »Deine Waffe taugt nichts, WALDGEIST!« höhnte ich. »Die Gawtein wissen es. Du bist ein Nichts. Du besitzt nicht einmal einen Namen!« Meine Sinne waren wieder zur vollen Stärke erwacht. Irgendwo in dem unterirdischen Teil des Palastgebäudes nahm ich eine Maschine wahr, die von den Gedanken Traftabs gesteuert wurde und die das tödliche Feld erzeugte. Ich griff mit meiner Fernenergie in die Steuerung und lenkte sie über die Grenze der Belastbarkeit hinaus. Eine gewaltige Explosion schoß aus dem Boden hoch. Glühende Energien suchten sich den Weg durch das in Trümmer zerfallende Gebäude. Traftab schrie in wilder Wut auf. Die vielen Millionen winziger Lichter, die seine Umrisse abgezeichnet hatten, tanzten wild. »Ersticke, WALDGEIST!« brüllte ich. »Gawtein ist kein Platz für
dich!« »Du entgehst mir nicht, du Wicht!« Die Explosion zerstörte fast das ganze Zentrum der Stadt. Die Todesimpulse vieler Gawtein drangen in schneller Folge zu mir. Es war der erste Kampf in meinem Leben, und er war so schrecklich, daß ich beschloß, nie wieder eine solche Untat anzuzetteln. Die Sterbenden peinigten mich mehr als die Boshaftigkeit meines Gegners. Ich war wie benommen und schlug mit allen verfügbaren Kräften nach Traftab, seiner schemenhaften Aura, den tanzenden Lichtern, den niedrigen Gedanken … Etwas Ähnliches wie eine Ohnmacht, wohl eine Schutzfunktion meines Körpers, befreite mich von weiteren Qualen. Die Explosion selbst und die weiteren, die ich in meinem unbeherrschten Drang verursachte, konnten mir nichts anhaben. Die Trümmer und Energien zerfetzten zwar die Nickelhaut, aber die Jenseitsmaterie war dank einer instinktiv durchgeführten Transformation für sie nicht vorhanden. Als ich wieder bei vollen Sinnen war, lag ich inmitten des Schutts, der sich zu allen Seiten aufhäufte. Von Traftab fehlte jede Spur, aber das besagte nichts. Ich wußte, daß das von mir angezettelte Inferno ihm kaum etwas hatte anhaben können. Und so war es ja auch. Meine Explosionen waren gegenüber den Hyperschockbomben, die Chart Deccon in der Statue des Ysterioons hochgehen ließ, nur ein harmloses Feuerwerk, und selbst die hat Hidden-X überstanden. Unter dem Eindruck der Geschehnisse ergriff ich die Flucht von Gawtein, obwohl ich dort keinen Feind mehr hatte, denn eins hatte ich erreicht. Traftab hatte diesen Ort für immer verlassen. Die scheinbare Schmach, die ihn dieses Volk hatte spüren lassen, lag noch in der Sphäre um den Planeten, als ich an dem Stern Gawtein vorbeieilte, hinaus in das weite All. Das waren meine Gedanken und Empfindungen, die mein weiteres Dasein entscheidend geprägt haben.
Seit dieser Zeit habe ich Hidden-X stets aus sicherer Distanz beobachtet, und nur wenn es gar nicht anders geht, wage ich mich in seine Nähe. Ich folgte ihm sogar zu den Usteris, aber das ist eine andere Geschichte, die nur noch in einem sehr traurigen Punkt für mich von Bedeutung war.
* Sanny verarbeitete die Geschichte schnell. Was viel bedeutsamer war, war die Tatsache, daß sie nun erstmals von dem etwas spürte, was sie als Chybrains Charakter bezeichnete. Noch war das Bild des Kristalleis nicht abgerundet, denn aus den bisherigen Begegnungen – Sanny dachte da an die Ereignisse in der Station von Aqua-I und Chybrains Spieltrieb, an Atlans mehrfache Rettung durch Chybrain – ergaben sich noch viele Unklarheiten und Fragen. »Und du hast dich tatsächlich nie mehr auf einen direkten Kampf mit den bösen Mächten eingelassen?« fragte die Molaatin, um den Faden des Gesprächs nicht abreißen zu lassen. »So ist es«, bestätigte Chybrain. »Dabei hätte ich eigentlich allen Grund gehabt, anders zu handeln, aber ich kann es nicht. Es ist wie eine innere Sperre in mir.« »Welchen Grund hättest du denn gehabt?« »Ich weiß nicht, ob du das verstehst.« Chybrain stieß einen Seufzer aus. »Ich war eben noch sehr jung, und ich bin es jetzt noch.« »Du willst nicht antworten?« »Doch. Aber es ist keine angenehme Antwort, Sanny. Später besann ich mich und erinnerte mich an Bassa. Irgendwie glaubte ich, ihm noch eine Antwort schuldig zu sein. Ich hatte zwar erfahren, daß Traftab oder Hidden-X oder Schöpfer, wie er sich danach nennen ließ, sich nicht mehr um Gawtein kümmerte. Andererseits interessierte mich das Volk des Gawtein doch, denn schließlich
waren dies die ersten Intelligenzen des normalen Lebensraums deiner Dimension, die mir begegnet waren. Ich kehrte also noch einmal an diesen Ort zurück, an dem ich meinen ersten Sieg und meine erste Niederlage erreicht hatte. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich wußte damals noch nicht, wie grausam Hidden-X wirklich war. Von dem Planeten Gawtein fand ich nur noch eine Wolke aus glühenden Gasen. Traftabs Rache, die ich angezettelt hatte, war furchtbarer gewesen, als ich es mir hatte vorstellen können. Heute bereue ich alles, denn die Gawtein kamen schließlich durch meine Mitschuld um ihre Existenz.« Sanny zog es vor, nichts zu antworten.
7. »Einmal glaubte ich, eine wirkliche Spur meiner Eltern gefunden zu haben«, sagte Chybrain eine Weile später. Auf das Thema Gawtein, das ihm offensichtlich tiefes Unbehagen bereitet hatte, ging er nicht mehr ein. »Leider waren die Hinweise aber zu ungenau, so daß ich letztlich weiterziehen mußte, ohne etwas Greifbares erreicht zu haben. Interessiert dich die Geschichte?« »Natürlich«, beeilte sich Sanny zu antworten. »Allerdings hätte ich auch noch ein paar andere Fragen an dich. Insbesondere interessieren mich deine Andeutungen über die Zeit, die du die SOL schon kennst.« »Das kann ich mir vorstellen, aber mir geht es in erster Linie um das Rätsel meiner Herkunft. Wir werden später Zeit haben für deine Probleme. Du hast ja gemerkt, daß ich Vertrauen zu dir gefaßt habe.« »Und zu Atlan und meinen anderen Freunden hast du kein Vertrauen?« Ein leiser Vorwurf schwang in der Stimme der Molaatin mit. »Warum hast du nie ein Wort zu ihnen gesagt?« »Breiskoll habe ich mich einmal mitgeteilt. Das war auf Osath,
aber er hat mich wohl nicht richtig verstanden. Außerdem waren alle immer so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Mein generelles Mißtrauen würdest du vielleicht verstehen, wenn du mein ganzes Leben kennen würdest. Vielleicht kann die Geschichte von Karjanta etwas dazu beitragen, daß du mein Verhalten oder meine Zurückhaltung akzeptierst, denn auch ich weiß nicht immer, was nach den kosmischen Gesetzen erlaubt und verboten ist.«
* Es war lange Zeit nach den Ereignissen von Gawtein. Ich hatte inzwischen viele Welten und Völker besucht, stets bemüht, etwas zu finden, was das Rätsel meiner Eltern lösen könnte. Erfolg hatte ich nicht, aber ich machte andere Erfahrungen. Nirgends gab es Lebewesen, die mir auch nur entfernt ähnlich waren. Das bekräftigte meinen Verdacht, daß ich nicht aus diesem Universum stammte. Bei allen Planetenbesuchen vermied ich es, mich zu zeigen, denn die wenigen Male, wo ich das getan hatte, hatten Schrecken und Panik erzeugt. Ich war etwas Fremdes für diese Intelligenzen, und man behandelte mich als Feind. Oft mußte ich abstoßende Gedanken hören. Ich wurde traurig. Meine Einsamkeit nahm immer größere Ausmaße an. Oft hing ich irgendwo über lange Zeitperioden bewegungslos und grübelte. Auch das führte zu keinem Ergebnis. Meine Existenz mußte einen Sinn haben, aber dieser blieb mir verborgen. Immer öfter verschloß ich mich vor allen Sinneseindrücken. Ich wurde älter und machte dabei eine merkwürdige Beobachtung an mir selbst. Ich entwickelte mich. Meine Wünsche und Sehnsüchte nahmen andere Formen an. Ich wollte mit Freunden spielen, Schabernack treiben, Unterhaltung haben.
Du hast ja selbst einiges davon zu spüren bekommen. Manchmal glaube ich einfach, daß humorvolles Spiel wichtiger und schöner ist als der Kampf um Macht an vielen Fronten des Universums. Das All ist erfüllt von guten und schlechten Gedanken, von positiven und negativen Wünschen. Es war nahe dem Zentrum einer namenslosen Galaxis, die weit von hier entfernt ist, als ich plötzlich und ganz unvermutet einen wohltuenden Strom von angenehmen Gedanken – spürte. In meiner Nähe mußte eine Welt sein, die meinen Vorstellungen entsprach. Ich analysierte den Namen Karjanta und prägte ihn mir ein, bevor ich mich auf den Weg machte. Karjanta war die siebte Welt eines riesigen Sonnensystems, das inmitten einer besonders sternenreichen Zone dieser Galaxis stand. Die Lichtpunkte standen hier so dicht beieinander, daß selbst die Nächte hell waren. Acht Planeten des Systems waren bewohnt. Zwei hohe Kulturen existierten hier nebeneinander in friedlicher Harmonie. Allein das war ein Zustand, der mir Freude entlockte, denn solches ist wahrhaft eine Seltenheit. Die Vahrsener lebten auf den Planeten Nummer 8 bis 10. Sie waren ein fleißiges Volk, das sich auf die Gewinnung von Bodenschätzen spezialisiert hatte. Die freien Welten der Vahrsener boten eine Quelle an Erzen und seltenen Elementen. Daneben herrschte eine lokale Raumfahrt vor, die den Handelsbeziehungen mit den Karern, die fünf der sieben inneren Planeten beherrschten, sehr förderlich war. Die Karer waren in der interstellaren Raumfahrt weit fortgeschritten. Sie bereisten ihre ganze Galaxis, und sie besaßen an vielen Stellen Handelsstützpunkte oder Kolonien. Äußerlich waren Vahrsener und Karer sehr gegensätzlich. Die Bergbauern ähnelten Riesenamöben, die Karer übergroßen Insekten, die den Vulnurern sehr glichen, denen die SOL kürzlich begegnet ist. Das Zentrum aller Aktivitäten war die Welt Karjanta, eine
geistige Hochburg und ein politisches Steuerwerk ersten Ausmaßes. Ich hatte noch nie in diesem Universum ein so hochstehendes Volk erlebt, das außerdem nach Gesetzen lebt, die mir einfach gefielen. Voller Zuversicht näherte ich mich Karjanta. Aber ich erlebte eine Überraschung. Ich bin mir sicher, daß ich meine Existenz so transformiert hatte, daß man mich weder orten noch sehen noch sonst irgendwie wahrnehmen konnte. Und doch empfing ich einen technischen Impuls, der mir zeigte, daß meine Annäherung nicht unbemerkt geblieben war. »Wer bist du, Fremder«, erklang eine Stimme, »der du dich Karjanta näherst? Der Master wartet auf deine Antwort. Kommst du in Frieden und als Freund?« Zuerst glaubte ich, daß ich gar nicht gemeint sein konnte, dann aber antwortete ich brav: »Ich bin ein kosmischer Wanderer, und ich bin auf der Suche nach der Wahrheit meines Ichs. Ich komme als Freund, der an den wärmenden Strahlen teilhaben möchte, die das Volk der Karer verbreitet.« Natürlich konnte ich es nicht unterlassen, gleichzeitig meine sondierenden Fühler nach dem Ursprungsort dieser Botschaft auszusenden. Ich zuckte zurück, denn ich spürte eine Leere, die mich an Traftab erinnerte. Diese Empfindungen paßten jedoch gar nicht zu der gesamten Situation, so daß ich mich schließlich mit dem Gedanken beruhigte, daß es auch unter den positiven Völkern Wesen geben konnte, die es verstanden, sich von allen äußeren Einflüssen oder Ausspähungsversuchen abzukapseln. Dadurch bekam ich aber kein Bild dessen, der sich als Master bezeichnet hatte. Er fragte mich nach meinem Namen. Ich antwortete »Chybrain« und dachte dabei, daß Karjanta ein viel passender Name für mich wäre. Wenn ich diese Welt später verlassen würde, würde ich mich Karjanta nennen. »Ich bin Fab«, entgegnete der Master freundlich aus der Ferne.
Dann spielte er mir eine Reihe von Daten zu, anhand derer ich mich orientieren konnte. Die Angaben enthielten auch einen Zielpunkt, der auf dem Hauptkontinent von Karjanta lag. Diesen steuerte ich nun an. Der Anblick hatte etwas Überwältigendes an sich. Meine Phantasie ging mit mir durch, denn ich bildete mir ein, so müsse der Ort meiner Geburt aussehen. Der Kontinent war eine reine Wohnsektion des Planeten. Man hätte auch sagen können, daß er eine einzige riesige Stadt darstellte, in der einige Milliarden Karer lebten. Die Wohngebiete waren jedoch nicht zusammenhängend. Viele kleine Parzellen aus halbhohen Häusern wechselten sich mit Parkanlagen, Seen und Wäldern ab. Alles strahlte eine Atmosphäre des Friedens aus. Auch die vielfältigen Gedanken der Karer unterstrichen diesen Eindruck. Im Zentrum dieses Teils von Karjanta erhob sich ein eindrucksvolles Bauwerk. Es hatte die Form einer schlanken Halbkugel, die sich wahrscheinlich unter der Oberfläche zu einem eiförmigen Körper fortsetzte. Orten konnte ich allerdings nichts. Der Mantel des wohl tausend Meter hohen Gebäudes bestand aus purem Gold, aber was mich faszinierte, war etwas anderes. Die Oberfläche war nicht glatt. Schmale Erhebungen bildeten ein regelmäßiges Muster aus gleichseitigen Sechsecken, die nur nach oben hin etwas verschoben waren und somit kleiner wurden. Dieser goldene Palast ähnelte meinem eigenen Aussehen also in verblüffender Manier, auch wenn das Material und die Größe ganz anders waren. Das konnte kein Zufall sein. Eine Erregung griff nach mir, die mich die anderen äußeren Umstände fast vergessen ließ. Irgendwie ging ich davon aus, daß Fab, der Master von Karjanta, hier sein Domizil hatte. Vielleicht war ich hier auf ein Wesen getroffen, daß mir bei meiner Suche helfen konnte. Langsam schwebte ich auf die goldene Metallfläche zu. Dabei rief ich nach Fab und bat ihn, mir zu zeigen, wie ich zu ihm gelangen konnte.
»Die Weisheit sagt«, antwortete er rätselhaft, »daß du das selber weißt.« Die Wand bot sich mir nicht als Hindernis. Ich glitt durch sie hindurch, wobei mich erstmals ein merkwürdiges Gefühl beschlich. Handelte ich zu schnell und zu leichtfertig? Ein sanfter Druck legte sich mir in den Weg, aber ich verstärkte meine Kräfte und überwand die letzten Schichten mit einem Ruck. Nun endlich spürte ich die Nähe Fabs. Seine Gedanken waren mir zwar auch jetzt noch verborgen, aber seine Gefühle weckten in mir keinen Argwohn. So schnell wie dieses Anwesenheitsgefühl gekommen war, so schnell verschwand es auch wieder. Etwas Undefinierbares packte nach mir und zerrte mich voran. Ich konnte diesem umgekehrten Druck nichts entgegensetzen, also ließ ich mich treiben. Mit jedem Gedanken, der in mir verstrich, gewahrte ich, daß sich die Umgebung vollkommen änderte. Sehen oder spüren konnte ich direkt zwar nichts, aber mein allgemeines Empfinden besagte, daß ich nicht mehr in der Dimension war, die ich mittlerweile als normal empfand. Es gab keine Energien, Lichter oder Strahlen in meiner Nähe. Da war nichts, ein energetisches und korpuskulares Vakuum in einer anderen Sphäre. Es war das Hypervakuum. Ich hielt an, ohne daß ich von mir etwas dazu getan hatte. Eine Kugelhülle schälte sich aus dem Nichts. Eine schwache Gravitation setzte ein. »Der Master läßt fragen«, ertönte eine sanfte Stimme, »welche Wünsche du hast.« Meine Ortung versagte. Ich konnte nicht feststellen, wo der Sprecher war. Unsicherheit beschlich mich. War ich zu leichtfertig in mein Verderben gerannt? Die Hülle um mich herum war nur etwa zehnmal so groß wie ich selbst. Das Material war undefinierbar, also keine normale Materie und keine Jenseitsmaterie.
»Warum antwortest du nicht, Chybrain?« Jetzt erblickte in den Karer. Im Verhältnis zu mir war er so winzig, daß ich meine Sinne auf schärfste Vergrößerung einstellen mußte. Er stand vor mir im Innern der Kugelhülle. »Wo bin ich?« fragte ich zurück. »Der Master hat dich isoliert, um deine Substanz zu testen. Das Ergebnis kenne ich nicht, aber es muß positiv ausgefallen sein, denn sonst hätte er mich nicht geschickt, um mit dir zu reden.« »Warum spricht Fab nicht selbst zu mir?« »Warum?« der Karer lachte. »Der Master hat viel zu tun. Er lenkt die Geschicke unseres Volkes und die der Vahrsener zum Wohl aller. Er sagt von sich, er verkörpere das Positive, und daran gibt es keinen Zweifel.« »Also gut«, lenkte ich ein. »Ich bin Chybrain. Ob dies mein wirklicher Name ist, weiß ich nicht. Ich bin irgendwo geboren worden, aber ich habe nie Kontakt zu meinen Eltern gehabt. Sie suche ich, und deswegen bin ich hier. Ich hoffe, daß Fab mir eine Antwort geben wird.« »Wenn du positiv bist, wird er dir eine Antwort nicht verweigern. Bitte warte. Ich werde den Master informieren.« Damit verschwand das winzige Wesen. Gleichzeitig normalisierte sich die Umgebung wieder. Ich schwebte im Innern des goldenen Palasts, der nur aus einem einzigen riesigen Dom bestand. An den Innenwänden standen völlig fremdartige Maschinen, die so kompliziert waren, daß ich ihre Funktion nicht erkennen konnte. Das Licht drang aus der goldenen Hülle und strahlte Wärme und Behaglichkeit aus. Wirre Muster und Bilder von Kämpfenden zierten die freien Stellen der Wände. Einige dieser Zeichnungen waren in das Metall geritzt worden, andere waren aus anderen Materialien. Alles war fremdartig, aber durchaus vertrauenerweckend. Ich wartete geduldig, während meine Sensorsinne versuchten, die Karer in der näheren Umgebung auszuspähen. Der Palast war
jedoch nach außen hin völlig abgeschirmt. Dann erschien Fab. Ich erkannte ihn sofort. Seine Ähnlichkeit mit mir war auffallend. Nur war er viel größer, etwa fünf Meter hoch, aber sein grell leuchtender Körper besaß ebenfalls die Form eines Eis. Materie konnte ich an ihm nicht feststellen. Der Master war lebende Energie, die in gelben und weißen Farben strahlte. »Du bist ein gar absonderliches Wesen«, eröffnete er das Gespräch. »Der Aufenthalt in dem künstlichen Hypervakuum hat dir nicht geschadet, obwohl du keine Hilfsmittel mitführst. Kommst du aus dem Jenseits?« »Das könnte stimmen«, antwortete ich, noch benommen von der Erscheinung des Masters. »Genau weiß ich nichts über mich. Ich suche meine Eltern.« »Folge dem Strom der Zeit zurück durch den Raum zu deinem Ursprung, und du wirst deine Eltern erleben.« Ich verstand in etwa, was er meinte, und antwortete: »Ein Bewegen durch die Zeit ist für mich unmöglich. Kannst du mir keine Antwort geben?« Eine Gefühlswelle des Bedauerns wogte mir entgegen. »Ich besitze viele Möglichkeiten, Chybrain«, entgegnete Fab dann. »Ich werde versuchen, dir zu helfen. Aber du sollst wissen, daß es nicht so ist, wie es die Karer vermuten. Ich bin nicht allmächtig und nicht allwissend. Die Gesetze des Kosmos sind verwoben. Sie ragen über Grenzen, die ich nicht ohne weiteres überschreiten darf.« »Wer bist du?« »Fab, der Master. Meine selbstgewählte Aufgabe besteht darin, die Völker der Karer und der Vahrsener in eine glückliche Zukunft zu führen. Ich tue dies behutsam und ohne Zwang, und ich halte Unbill von ihnen ab.« Ich erzeugte in mir die gedankliche Vorstellung des Wesens, das ich als Traftab oder WALDGEIST oder SCHÖPFER kannte. Dieses Bild spielte ich Fab zu und fragte ihn, ob er dieses Wesen kenne.
»Es gibt viele negative Mächte«, antwortete er ausweichend. »Meistens liegt es an jedem selbst, was er aus sich macht. Wenn du klug bist, hütest du dich vor dieser Negativspiegelung.« »Wie kann ich meine Eltern finden?« kam ich auf mein Anliegen zurück. »Aus dir heraus kann ich nichts erkennen«, lautete die Antwort. »Wir müssen die Lichtquelle befragen. Vielleicht gibt sie dir eine Auskunft.« »Wer oder was ist die Lichtquelle?« »Eine schlafende Intelligenz, die geistige Substanz der Vorfahren der Karer. Sie ruht im Diesseits und im Jenseits. Wenn sie keine Antwort weiß, kann ich dir auch nicht helfen.« Zumindest hatte ich nun die Hoffnung, endlich einen konkreten Hinweis zu bekommen. Der Master sicherte mir zu, mit mir zu der Lichtquelle zu fliegen, wenn die Zeit gekommen sei. Ganz glücklich hörte sich Fab nicht an, als er mir dieses Versprechen gab. Was ihn bedrückte, konnte ich jedoch nicht erkennen. »Sieh dich auf Karjanta um«, forderte er mich auf. »Dir steht alles offen. Ich werde dich zu gegebener Zeit rufen.« Ohne daß ich etwas dazu tat, befand ich mich wieder außerhalb des goldenen Palasts. Zu gern hätte ich Fab noch mit weiteren Fragen überhäuft. Das Aussehen seines Palasts, die äußerliche Ähnlichkeit zwischen diesem und ihm und mir, all das waren neue Rätsel.
* »Auch ich möchte dich gern mit Fragen überhäufen«, unterbrach Sanny den Redeschwall Chybrains. »Die Ähnlichkeit der Karer mit den Vulnurern, die Gleichheit des Namens Lichtquelle, das hohe technische Niveau des von dir besuchten Volkes, dieser Fab, der
eine positive Superintelligenz sein könnte, alles verwirrende Informationen.« »Dir sollte es leichtfallen, die Folgerungen zu ziehen. Ich habe mich nur sehr selten um solche Zusammenhänge gekümmert. Sie hatten mit meinen Zielen nichts zu tun, aber ich kann nicht abstreiten, daß es zwischen den Karern und den Bekehrern oder Vulnurern eine Verbindung gibt. Letzteres habe ich kürzlich erstmals erlebt. Dabei habe ich an die Ereignisse auf Karjanta nicht mehr gedacht.« »Manchmal kommst du mir wie ein sturer Egoist vor«, scherzte die Molaatin. »Im Kosmos geht es doch um mehr als um das Auffinden deiner Eltern.« »Für dich oder Atlan mag das stimmen. Für mich stimmt es nicht. Erst wenn ich Klarheit über mich besitze, werde ich mich um solche Dinge kümmern.« »Das verstehe ich nur zum Teil.« Sanny seufzte. »Du hast deine Hilfsbereitschaft doch schon oft bewiesen. Von Atlan weiß ich, daß du ihm mehr als einmal das Leben gerettet hast.« »So sieht das aus deiner Sicht aus. Für mich war es anfangs eher ein Spiel oder ein Beweis, das man nicht hirnlos kämpfen sollte. Du spielst wohl auf die Ereignisse über Chail an, als ich Atlan vor dem Tod bewahrte. Das hatte einen anderen Grund. Ich brauchte Atlan noch. Durch ihn hörte ich erstmals etwas aus der alten Sprache, in der die Worte child und brain einen Sinn hatten. Bis ich das erkannte, war viel Zeit vergangen, denn auch wenn für Atlan nach Osath Chail folgte, so hatte ich in dieser Zeit doch Gelegenheit, die Zusammenhänge aus meiner Sicht zu studieren.« »Ich war damals nicht dabei, Chybrain«, drängte Sanny weiter. »Aber als Breckcrown Hayes von den SOL-Würmern angefallen wurde, habe ich erlebt, wie selbstlos du den High Sideryt in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod bewahrt hast.« »Das habe ich, aber dabei ging es nur in zweiter Linie um Breckcrown Hayes. Es drehte sich ja um die Osal'Oths. Um das zu
verstehen, solltest du mir erst zuhören, bis ich das Ende meiner Erlebnisse auf Karjanta erzählt habe.«
8. Die geheimnisvollen Kräfte, mit denen Fab wirkte, konnte ich trotz aller Bemühungen nicht durchschauen. Es interessierte mich zwar brennend, ob ich auch ohne seine Einwilligung durch die Wände des goldenen Palasts dringen konnte, aber ich zeigte so viel Respekt, keinen Versuch in dieser Richtung zu wagen. Den Karern zeigte ich mich allerdings auch nicht, obwohl ich die folgenden Tage bei ihnen verbrachte und dabei alle Herrlichkeiten von Karjanta kennenlernte. Über dieses freundliche Volk gibt es wenig zu berichten. Die Insektenabkömmlinge lebten tatsächlich unbeeinflußt und frei. In dem Master sahen sie nicht mehr als einen wohlgesinnten Helfer, an den sie sich in ihrer langen Geschichte gewöhnt hatten. Sie verehrten ihn als Master und maßen dabei diesem Wort keine gottähnliche Bedeutung bei. Master bedeutete für die Karer und auch für die Vahrsener Freund, Bruder, Könner und vieles anderes mehr. Ich versuchte das Rätsel des Raumes aufzuklären, in dem ich mich nach der Ankunft in dem Palast befunden hatte und wo mir der winzige Karer erschienen war. Das gelang mir auch nicht. Jedenfalls hatten die richtigen Karer, die ich in der Folgezeit beobachtete, eine normale Größe. Fab mußte mir dort also etwas vorgemacht haben. Zu meinem Erstaunen war meine Anwesenheit auf Karjanta kein Geheimnis. Die Karer nahmen es gelassen hin, daß ein Fremder unter ihnen weilte, auch wenn sie ihn nicht wahrnehmen konnten. Bei ihnen herrschten eine Ausgeglichenheit und ein Selbstverständnis, die ich sonst nirgendwo mehr antraf. Für die Vahrsener gilt natürlich das gleiche.
Es gab einfach keinen Argwohn und kaum etwas Böses. Fab hatte wirklich eine großartige Zivilisation aufgebaut. Ich labte mich hier, bis ich eines Tages seine Stimme hörte. Er rief mich und bat mich, in den Palast zu kommen, denn nun bestünde schon bald die Gelegenheit, der Lichtquelle meine Fragen zu stellen. Ich eilte sofort los und überlegte dabei, daß es wohl noch Wesen gab, die über Fab standen. Auch schien sich dieser in mancher Hinsicht eher technischer Mittel zu bedienen, denn in seinem Haus gab es ja eine Unzahl von unverständlichen Maschinen. Der Master erwartete mich in der bekannten Form. »Wir werden von hier aus zu der Welt gehen«, erläuterte er mir, »auf der die Lichtquelle uns heute erwartet. Du mußt wissen, daß sie nur sehr selten erwacht.« Natürlich hatte ich tausend Fragen, die aus meiner jugendlichen Neugier erwuchsen, aber ich zügelte mich und gab mein stilles Einverständnis. Dadurch konnte ich mich auch besser auf die nun folgenden Vorgänge konzentrieren. So stellte ich fest, daß es eine Vielzahl von Karern gab, die als winzige Wesen in Nischen der Maschinen saßen. Diese Kleinstkreaturen führten die Anweisungen Fabs aus. Sie strahlten dabei normale Gedanken aus, aber ich konnte nicht mit letzter Sicherheit feststellen, ob es sich tatsächlich um Lebewesen, also um verkleinerte Karer, handelte oder um Robotsysteme. Auch der Gedanke, daß diese Helfer ihre natürliche Größe besaßen, während alles andere – also auch ich – durch Fabs Einflüsse sehr stark vergrößert wurde, war nicht abwegig. In meiner Nähe liefen hyperenergetische Maschinen an. Unfaßbare Strömungen erfaßten mich und zogen mich in ein unwirkliches Loch. Ähnlich wie bei meiner Ankunft auf Karjanta hatte ich das unbestimmte Gefühl, die reale Umgebung zu verlassen. Fab schwebte neben mir. Er schickte mir beruhigende Gedanken zu, aus denen ich entnehmen konnte, daß der mir unbekannte Vorgang gewollt war und seinen Vorstellungen entsprach. Ich
verlor jeden Kontakt zum normalen Universum. Die Reise endete mit der Rückkehr in die gewohnte Umgebung. Vor Fab und mir schwebte ein kleiner Planet im Raum. Ich orientierte mich und stellte fest, daß wir das System, zu dem Karjanta gehörte, gar nicht verlassen hatten. Diese öde und kalte Welt vor uns war der äußerste Planet des Systems. Fab hatte sich in eine dunkelrote Hülle gepackt. Er schien ohne Hilfsmittel im Vakuum nicht existieren zu können, ein Problem, das mir völlig unbekannt war. Perfekt war er also auch nicht. Unser Ziel war das Innere des Planeten. Es ist möglich, daß der Master seine künstliche Hülle nur dafür benutzte, um durch die Kruste dieser Welt aus Eis und Gestein zu dringen. Mit einem solchen Problem habe ich ja auch nicht zu kämpfen. Der Planet, Fab nannte ihn Lichtheim, war im Innern teilweise hohl. Wir erreichten einen Raum von etlichen Kilometern Durchmesser. Er war, wie der Name schon hatte vermuten lassen, über und über mit einem gleichmäßigen Lichtstrom ausgefüllt. Verblüffend für mich war die Form dieses Raumes, denn seine Proportionen stimmten sowohl mit den meinen als auch mit denen der Halle in Fabs goldenem Palast überein. Allerdings war der Hohlraum insgesamt wohl hundertmal größer als die Heimstatt des Masters. Eine logische Folgerung aus dieser Merkwürdigkeit konnte ich noch nicht ziehen, aber es ist wohl so, daß die Eiform nicht nur für das niedrige Leben sondern auch für kosmische Existenzen eine besondere Bedeutung hat. Viel später, als ich Wöbbekings Weg erstmals kreuzte und dieser mit seiner Jagd auf mich begann, lernte ich einen weiteren Eikörper kennen, den seinen. Allerdings ist Wöbbeking oder Nar'Bon viel kleiner, als es die Halle im Lichtheim war. Ich sondierte die fremdartige Umgebung. Da war ein Wesen, etwas Fremdes. Es war mir und Fab nur entfernt ähnlich. Es dachte etwas, das spürte ich. Aber die Gedanken
waren unfaßbar in ihrem Inhalt. Das mußte die Lichtquelle sein! Ohne mir größere Gedanken über mein Tun zu machen, tastete ich weiter die Umgebung ab. Außer der gleißenden Helligkeit, die leicht und unregelmäßig pulsierte, Fab und der toten Masse des Planeten spürte ich jedoch nichts Körperliches, Energetisches oder Geistiges auf. Dann trat ein unklarer Gedanke an mich heran. Die Lichtquelle erwachte. Sie war ein denkfähiges Objekt, vielleicht eine Maschine, vielleicht ein Multibewußtsein, vielleicht beides oder etwas anderes. Eine Überlappung des Schlafzustands und des Wachseins wurde deutlich. Fab verharrte in meiner Nähe und dachte nichts. Aus Schlaf und Wachsein wurden Diesseits und Jenseits. Ich nahm die andere Dimension wahr, in die die Lichtquelle sich tastete. Allmählich erkannte ich das Wunderbare dieser Einheit. Sie konnte in zwei kosmischen Räumen gleichzeitig denken und existieren. Normalerweise schlief sie wohl ausschließlich im Jenseits, und ich korrigierte meine Interpretation. Die Lichtquelle streckte sich nicht nach dem Jenseits aus. Es war umgekehrt. Die hellen Erscheinungen in dem eiförmigen Hohlraum von Lichtheini waren die ersten Anzeichen des Auftauchens im Diesseits. Oder irrte ich mich? Es war nicht auszuschließen, daß die Lichtquelle an einem ganz anderen Ort im Normalzustand ruhte und sich jetzt gleichzeitig in beiden Sphären ausbreitete. Ich wartete sehnsüchtig auf die Beantwortung meiner Fragen, wagte es aber nicht, etwas herauszuschreien. Die Gegenwart der anderen Dimension wurde immer deutlicher. Sie wirkte kalt und fremd auf mich, und ich dachte, sie könnte nichts mit meinem Herkunftsort gemeinsam haben. »Wer bin ich?« hörte ich jemand fragen. Die Stimme war mir bekannt, aber in diesem Zustand der
Verwirrung und in dieser rätselhaften Umgebung benötigte ich eine Weile, bis ich merkte, daß es meine eigene geistige Stimme war. Ich fühlte mich von der Lichtquelle, eingehüllt. Sie mußte es auch sein, die für mich und durch mich die Fragen stellte, die mich so sehr bewegten. Du bist Chybrain! Ich konnte nicht sagen, wer die Antwort gab. Sie war einfach da. »Ist das mein richtiger Name?« Nachforschung durch den Vierten Zähler. Ich verstand nichts und wurde ungeduldig. Natürlich versuchte ich, Herr über mich selbst zu werden. Einfach war es nicht, aber ich quälte mir eine Frage heraus. »Wer sind meine Eltern?« Diesmal war ich selbst es wirklich, der fragte. Die Gesetze der Zähler sind kosmische Gesetze. Wieder eine rätselhafte Antwort. »Vorsicht!« Das Wispern gehörte Fab. »Reize die Mächte nicht!« Ich interpretierte dies so, daß ich wohl zu vorlaut gewesen war. Die Spielregeln dieses Geschehens waren mir fremd. Folglich hielt ich alle Gedanken zurück. Analyse: Halb diesseits, halb jenseits. War ich damit gemeint? Dritter Zähler spricht: Der Name ist selbstgegeben aus der Notwendigkeit, außerhalb des Spinars zu existieren. »Habe ich denn keinen Namen, den meine Eltern mir gegeben haben?« fragte ich auf gedanklicher Ebene laut. Ich spürte, wie der Master förmlich zusammenzuckte. »Könnt ihr einem Waisenkind denn keine vernünftige Auskunft geben?« Statt der erhofften Antwort schlug mir eisiges Schweigen entgegen. Ich begann, meine Sensoren weiter auszufahren. Einige davon tasteten sich in jenen Bereich, der nicht dem normalen Universum angehörte. Ich erblickte nur Fremdes und Unbekanntes.
Es war eine Art Raumsphäre von gewaltigen Ausmaßen, in die ich starrte. Sie war angefüllt von Leben und Nichts, von Energien und Schatten, von Licht und Zeit. Ein einziges Gebilde konnte ich klar erkennen, wenngleich mir durch die Verzerrungen die wirklichen Größen schleierhaft bleiben mußten. Es war eine Scheibe von vielleicht hundert Kilometern Dicke und zehnmal größerem Durchmesser. Sie bestand nicht aus fester Materie, sondern aus verdichteter Energie magnetischen Ursprungs. Sie besaß Knoten in sich selbst, energetische Verdickungen und Räume ohne Turbulenzen. Sah so das Jenseits, aus? War das meine Heimat, mein Geburtsort? Chybrain müßte sich bei uns heimisch fühlen, denn er ist namenlos wie die Sphäre des Spinars. Die Zahl der Zähler ist komplett. Die Bastion ist voller Leben. Wieder diese rätselhaften Worte. Wer waren die Zähler? Der Spinar mußte wohl diese riesige Scheibe sein, deren Konturen vor meinen Sensoren verschwammen. Vielleicht bestand sie aus materiell gewordener magnetischer Energie. Jedenfalls konnte ich keine Hyperkomponenten orten. Was aber hielt dieses Gebilde zusammen? Der namenlose Raum, in dem es sich befand? Erstmals hörte ich wirklich die Lichtquelle sprechen. »Es wäre nicht recht, unseren kleinen Besucher unnötig warten zu lassen«, erklärte eine Stimme, die aus der Lichtflut kam. »Er quält sich um seiner selbst willen. Er will doch nur wissen, wer seine Eltern sind. Oder besitzt er am Ende keine?« Vierter Zähler: Er besitzt zwei Elternteile, die, wie ich schon sagte, aus dem Diesseits und dem Jenseits stammen müssen. Wie dies möglich ist, bleibt noch ein Rätsel. Ich habe den Zweiten Zähler um Rat gefragt. Gedulde dich, Lichtquelle. »Hast du das gehört?« fragte man mich. Ich bejahte. Unterdessen versuchte ich mehr von dem zu erspähen, was mir
ähnlich einer Vision von dem Jenseits (das nach den Aussagen des Vierten Zählers zur Hälfte mein Diesseits war) zugetragen wurde. Die Umrisse und energetischen Bilder wurden jedoch immer unschärfer und glitten sehr bald in eine undefinierbare Form über. »Vorsicht!« gellte die Stimme Fabs auf. Die Lichtquelle begann aufgeregt zu pulsieren, und ihre Farben nahmen neue Nuancen an. »Was ist geschehen?« fragte ich. Ein dumpfer Druck legte sich auf mich. Ich konnte nicht sagen, woher er kam, ob es die Lichtquelle oder der Master war oder jene, die sich Zähler nannten. Noch vertraute ich der Macht meiner Helfer, aber ich wurde sehr schnell eines Besseren belehrt. In dem konturenlosen Grau des Jenseits schälte sich eine Gestalt heraus. Sie strahlte mit einer geistigen Macht, die mich zu betäuben schien. Erster Zähler. Diese Stimme klang hart und unnachgiebig und ärgerlich. Die Lichtquelle ist auf übelste Weise hintergangen worden. Ihr Besucher ist nicht nur halb hier, halb dort. Für seine Eltern als Einheit mag dies gelten. Er aber ist anders. Es folgte dann ein Begriff, der mich erschaudern ließ. Der Erste Zähler nannte mich ein unerlaubtes Produkt, einen verbotenen Bastard.
* Ich stand noch zu sehr unter dem ungeheuerlichen Schock dieser Worte. Die Zähler mußten übermächtige Wissende sein. Es gab für mich keinen logischen Grund, an ihren Aussagen zu zweifeln. In einer geistigen Notreaktion versank ich in mich selbst. Das folgende Geschehen, das für Fab und die Lichtquelle sicher viel furchtbarer war als die Antwort des Ersten Zählers für mich, rauschte zunächst
an mir vorbei, ohne daß ich etwas dazu tun konnte. Die donnernde Stimme des Ersten Zählers richtete sich gegen die Lichtquelle. Fab registrierte man aus dem Jenseits wohl gar nicht. Der Lichtquelle wurde vorgeworfen, leichtsinnig gehandelt zu haben. Sie habe gegen die elementarsten Gesetze verstoßen, auf übelste Weise von ihrem Sonderrecht Gebrauch gemacht und anderes mehr. Allmählich verstand ich, daß nicht diese gutwillige Entität schuld an der ganzen Sache war. Ich war ja der Verursacher, und Fab hatte für mich dieses Gespräch über eine kosmische Grenze hinaus herbeigeführt. Die Gestalt des Ersten Zählers ragte in unseren Raum hinein. Ich sage bewußt, in unseren Raum, denn von dieser Stunde an war das, was ich das Jenseits nannte, für mich geistig gestorben. Dort gehörte ich nicht hin, was immer das für eine hochstehende Sphäre des Alls auch sein mochte. Eine Faust aus Energie und Schwärze schlug in den eiförmigen Hohlraum von Lichtheim. Die Lichtquelle schrie in wilder Panik auf. Fab wurde von dem Strom der Energien gepackt und gegen eine Wand geschleudert, wo seine rote Hülle in einer grellen Explosion zerriß. Millionen von Hilfeschreien drangen in mich hinein. Die Lichtquelle, die aus vielen Einzeldenkeinheiten bestehen mußte, drohte sich aufzulösen. Ich hing zwischen diesem kosmischen Gewitter, das den ganzen Planeten erschütterte, und merkte nicht, daß alle Energien wirkungslos an mir abprallten. Fab torkelte ohne seine Schutzhülle auf mich zu. Ich packte instinktiv nach ihm und hielt ihn fest. Mit meinen anderen Sinnen sammelte ich die Bestandteile der Lichtquelle und barg sie in einer rasch aufgebauten Aura in meiner Nähe. Das kostete mich einen Teil meiner körperlichen Jenseitsmaterie, aber dieser Schritt war anbetrachts der Umstände
unumgänglich. Wieder tauchte die energetische Faust auf. Irgendwo dahinter schwebte im Jenseits der Erste Zähler. Diesmal zielte die geballte Kraft direkt auf mich. Der Unbekannte schrie mir in seiner Wut Worte zu, die verzerrt in mich drangen und die ich wegen ihrer Gräßlichkeit für immer aus meiner Erinnerung verbannt habe. »Wehre dich, Chybrain!« flehte Fab, der diesem Wirken hilflos gegenüberstand. »Wehre dich, wenn du kannst!« Plötzlich waren unsere Rollen vertauscht. Die Lichtquelle und der Master von Karjanta waren nun auf mich angewiesen. Ich zögerte, denn ich fühlte mich an mein selbstgegebenes Versprechen gebunden, nie mehr mit Gewalt vorzugehen. Aber ich opferte einen erneuten Bruchteil meiner Jenseitsmaterie und formte mit meinem Willen daraus einen Abwehrwall, auf den die Faust des Ersten Zählers prallte. »Laß uns in Ruhe, Erster Zähler«, strahlte ich dazu einen Gedanken ab. »Ich bin besser als du, denn ich besitze etwas vom Diesseits und vom Jenseits. Du brauchst mich nicht zu fürchten, denn ich hasse den Kampf und die Vernichtung. Wenn du mich aber weiter reizt, werde ich meinen ganzen Leib aus Jenseitsmaterie verwandeln, die deinen Spinar in kosmische Winde der totalen Unbedeutung verwandelt.« Es war mehr ein verzweifelter Bluff, den ich vom Stapel ließ, aber was sollte ich tun? Die gewaltige Faust zuckte zurück. Bevor sie zu einem neuen Schlag ausholen konnte, ergriff ich die Flucht. Fab und die Lichtquelle versuchte ich in der aufgebauten Aura mitzuführen, aber die Millionen geistigen Funken der merkwürdigen Einheit verwehten irgendwo. Ich konnte sie nicht halten. Der Master klammerte sich total erschöpft an mich. Zusammen rasten wir durch die Planetenmasse hinaus in den Leerraum. Meine Aura schützte den hilflosen Fab, der zu meiner Verwunderung versagt hatte. Er war schwächer als ich, überlegte mein logischer
Verstand. Eine Erklärung sollte ich schnell bekommen. Sie bestätigte den Verdacht, das Fab nur mit technischen Hilfen sein großartiges Werk aufgebaut hatte. Noch bevor wir Karjanta erreichten, glühte hinter uns Lichtheim auf. Die Zerstörung glich einer Implosion. Wahrscheinlich hatten die Zähler diese Welt aus unserer Existenzebene geholt und sie dabei gleichzeitig zerstört. Aus unendlicher Weite klangen wie verzerrte Schwingungen dumpfe Worte durch den Raum: »Du, Lichtquelle, wirst diesen Unwürdigen nicht mehr helfen. Du, Fab, bist nun zur Untätigkeit verdammt. Und du, namenloser Chybrain, wirst deiner Strafe nicht entgehen.« Ich schwöre, Sanny, daß ich bis heute nicht weiß, was den Zorn dieser Wesen heraufbeschwor. Er kann doch nie und nimmer nur in meiner Entstehung begründet sein. Wo ich endlich Antworten erhofft hatte, taten sich neue rätselhafte Abgründe auf. Die Ausstrahlungen der Zähler, soweit ich sie erfassen konnte, waren nicht unbedingt als negativ zu bezeichnen. Sie waren gänzlich anders als das, was ich von Hidden-X kenne. Ich stürzte mit Fab im Schlepp auf die goldene Kuppel zu. Der Master schrie neben mir auf. Seine feinen Sinne, die wieder anders waren als meine, hatten schon erfaßt, was geschehen war. Wir durchdrangen mit auffälliger Leichtigkeit die Metallhülle. Nun sah ich das Innere der Kuppel. Alle Maschinen in der Rundung waren zerstört. Dazwischen lagen die Leichen von Karern, die jetzt wieder ihre normale Größe besaßen. Ich entließ Fab aus der Schutzaura und orientierte mich. Die verwirrenden Energiefelder aus Hyperkomponenten waren verschwunden. Nirgends floß noch ein Funken Energie, alles war zerstört. »Es ist unfaßbar, Chybrain«, sagte Fab.
Ich erfaßte jedoch nichts mehr von dem leuchtenden Ding, als das er sich mir gezeigt hatte. Fab glich nun einem alten Karer. »Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben, Chybrain«, erklärte der Master. Seltsame Gelassenheit und Ruhe sprachen aus seinen Worten. »Du siehst, ich bin in Wirklichkeit nicht mehr als ein ungewöhnlicher Karer. Vielleicht bin ich biologisch unsterblich. Mein Volk lebt, und mein Werk muß ich nun neu aufbauen. Die Lichtquelle wird mir dabei nicht mehr helfen, aber ich habe noch eine Zukunft. Hast du eine Zukunft?« Mir verschlug es die Sprache. Ich empfand Abscheu vor den Zählern, Bedauern für die Ereignisse und Bewunderung für Fab. »Ich weiß es nicht.« Etwas Besseres fiel mir als Antwort nicht ein. »Ich auch nicht. Die aus dem Jenseits haben an dir ihre Rache noch nicht vollstreckt. Ich weiß nicht, ob du dich ihrer erwehren kannst.« An mich dachte ich in diesen Augenblicken am wenigsten. »Erfüllst du mir einen einzigen Wunsch?« fragte mich Fab. Ich stimmte seiner Bitte sofort zu. »Du mußt mir nicht zürnen, Chybrain, wenn ich diese Bitte ausspreche. Aber du hast gegen kosmische Gesetze rebelliert, die ich in ihrer Tragweite nicht kennen konnte und die selbst der Lichtquelle fremd waren. Wir haben unsere Strafe erhalten. Du wirst deine bekommen, vielleicht schon in diesen Momenten. Deshalb ist es besser, wenn du sofort von Karjanta verschwindest, bevor diese Welt auch ein Opfer der Gewalten wird.« Ich ging grußlos und niedergeschlagen, und ich habe Karjanta, Fab oder die Lichtquelle nie wieder gesehen.
9. »Armer Chybrain«, sagte Sanny mit ehrlichem Bedauern. »Jetzt verstehe ich deine Zurückhaltung. Du verfolgst dich selbst mit den Gedanken, daß du über andere nur Unglück bringen könntest, wenn
du versuchst dein eigenes Ich und deine Herkunft zu erforschen. Auch ich verstehe die kosmischen Gesetze nicht, die du erwähnt hast. In diesem Punkt kann ich dir nicht helfen.« »Immerhin hast du mir dein Vertrauen geschenkt«, antwortete das Kristallei matt. »Umgekehrt, Chybrain. Du hast mir deins geschenkt.« »Ich sehe es nicht so. Erinnerst du dich an unser Damenspiel in der Station von Aqua-I. Deine Freunde und du, ihr wart in höchster Gefahr. Du aber hast dir die Zeit genommen, dich mit mir zu befassen. Das war der Beweis, den ich brauchte. Es war der Anstoß, in meinem wirklichen Aussehen und mit meinen wirklichen Problemen zu dir zu kommen.« »Ich hatte damals doch keine andere Wahl.« Sanny tat etwas empört. »Die hattest du. Ich hätte dich in Wirklichkeit nie zu etwas gezwungen. Du warst innerlich bereit. Das zählte. Und du hattest keine Angst.« »Nun gut«, meinte die Molaatin. »Wie ich dich jetzt kenne, willst du mir sicher noch berichten, woher dein Haß auf die SOL-Würmer stammt und wie du der Rache der Zähler entgangen bist. Dann aber mußt du mir ein paar Fragen beantworten, denn die Zeit schreitet voran, und Atlan und die Sol befinden sich in keiner günstigen Position gegenüber Hidden-X. Der Mentaldruck und die Sperre zum Hypervakuum sind zu stark.« »Ihr sucht den Kampf, den Kampf für die positiven Kräfte. Ich suche etwas anderes.« »Deine Eltern. Einen Teil hast du gefunden: Wöbbeking.« »Ich bin mir da nicht sicher«, räumte Chybrain ein. »Und selbst wenn es so wäre, so stellt sich die Frage: Wer ist Wöbbeking? Sein richtiger Name lautet weder so noch Nar'Bon. Ich spüre es, wenn jemand seinen wirklichen Namen benutzt.« »Du entstammst Wöbbeking«, behauptete die Molaatin fest. »Ich weiß es.«
»Paramathematik.« Chybrain lachte leise. »Eine gute Sache, aber kein Allheilmittel. Wo ist mein zweiter Elternteil?« Darauf wußte Sanny nichts zu sagen.
* Ich legte zwar keinen Wert darauf, von der angekündigten Rache der Wesen aus dem Spinar getroffen zu werden, aber ich wollte Karjanta nicht verlassen, solange ich noch eine Chance sah, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Es stand ja wohl fest, daß zumindest der, der sich der Erste Zähler genannt hatte, mehr wußte, als er preisgegeben hatte. So begab ich mich zunächst auf den äußersten Planeten, der von den Vahrsenern bewohnt wurde. Fab würde mich weder verfolgen noch finden können, das stand fest. Sein technisches Instrumentarium war zerstört. Er würde Tausende von Karjantajahren brauchen, um es wieder aufzubauen. Vielleicht würde er es nie schaffen, obwohl sein Wille ungebrochen war. Von dieser Beharrlichkeit und diesem Selbstvertrauen übernahm ich eine Portion, um meine Ziele zu verfolgen. Die Nachbildung eines Vahrseners war eine Leichtigkeit. Ich formte meinen ganzen Körper zu einem Amöbewesen um. Dabei ließ ich keinen Rest der Jenseitsmaterie in der Ursprungsform, um jeder Gefahr der Entdeckung zu entgehen. Nur mein körperloses Ich konnte ich natürlich nicht verwandeln. Aber die Abschirmung jeglicher mentaler Ausstrahlung war so stark, daß ich mich in dieser Form sicher fühlte. Was dann passierte, war ein Zufall. Der Vahrsener, der bei meiner Mutation mein Vorbild gewesen war, hieß Skis. Er lebte auf dem achten Planeten, während ich mir den zehnten als Aufenthaltsort ausgewählt hatte. Hier ging ich sogar einer normalen Arbeit nach. In einem Arbeitsteam baute ich Braunkohle in einem Bergwerk ab.
Der Zufall wollte es, daß ausgerechnet dieser Skis in jenem Moment in meine Nähe kam, als die Zähler aus dem Jenseits ihre Rache vollstrecken wollten. Sie hatten sich wohl sehr lange beraten, denn inzwischen waren viele Tage vergangen, die ich genutzt hatte, um den Raum auszuspähen. Ich wollte eine Spur der Lichtquelle oder der Zähler finden, was mir aber nicht gelang. Bei diesen Versuchen mußte ich einen Teil meiner Tarnung aufgeben, um meine Sensoren zum Einsatz zu bringen. Mir war klar, daß ich mich dabei unter Umständen verriet, aber mit diesem Risiko ließ sich leben. Um es zu mindern, strahlte ich dabei das tatsächliche Aussehen von Skis aus. Wenn man mich also beobachten oder orten würde, so sollte man nicht gleich merken, wer hinter dem Späher steckte. Meine Tarnung war in diesem Punkt ein weiterer tragischer Irrtum der Skis das Leben kostete. Der erwähnte Zufall wollte es, daß der Vahrsener zu meinem Planeten kam und ich miterleben mußte, wie er starb. Über die Osal'Oths, die ihr SOL-Würmer genannt habt, brauche ich dir nichts mehr zu sagen. Sie sind eine schreckliche Waffe, die ihren Ursprung nur in dem bösen Teil des Jenseits haben kann. Bevor ich merkte, was wirklich geschah, hatten die Osal'Oths den armen Vahrsener getötet. Es war kein Trost für mich, daß meine Tarnung zu dieser Verwechslung geführt hatte, denn ich war wieder einmal schuld am Tod eines Lebewesens. Meine Wut auf die Zähler brandete auf. Ich konnte mich nicht beherrschen und schrie sie hinaus. Gleichzeitig verwandelte ich mich vor den Augen anderer Vahrsener in meinen richtigen Körper und fuhr in die Osal'Oths hinein. Eine geringe Variation meiner Jenseitsmaterie bewirkte, daß die kleinen Würmer zu Staub zerfielen, so wie es auch bei dem Angriff auf Breckcrown Hayes geschehen ist. Wie Hidden-X oder sein Kunstwesen Order-7 allerdings in den Besitz einiger Osal'Oths gekommen sind, weiß ich nicht. Es ist aber
bekannt, daß sie schon früher gegen andere unfreiwillige Knechte eingesetzt wurden. Durch meine Zerstörungswut an den Würmern, die übrigens kein richtiges Leben sind, hatte ich mich nicht nur gegenüber den Vahrsenern und damit auch den Karern verraten. Es war klar, daß auch die Zähler aus dem Jenseits gemerkt haben mußten, daß ich sie hereingelegt hatte. Für mich ergab sich daraus, daß ich nun endgültig von diesem Ort verschwinden mußte. Es tat mir leid um Fab, denn wenn der davon erfahren würde, woran ich nicht zweifelte, so würde er merken, daß ich seiner Bitte nur teilweise Folge geleistet hatte. Ich verschloß meine Sinne und raste einfach geradeaus los, nur weg von diesem Ort des Grauens. Das einzige Positive, das ich mitnehmen konnte, was die Schönheit von Karjanta. In meiner Blindheit rannte ich förmlich in mein Verderben. Wie sich ringsum alles veränderte, das nahm ich nicht wahr. Erst als ein Sog nach mir griff, öffnete ich mich wieder für die Umgebung, aber da war es zu spät. Ich erblickte nicht mehr die Sterne. Ich spürte keine Materie. Ich fühlte kein Leben. Das Nichts war für mich keine Neuigkeit, aber diesmal war die Leere vollkommen. Es gab keinen Anhaltspunkt, kein Vorn, kein Oben, nicht einmal ein Jetzt oder ein Gestern. Die einzige Wahrnehmung, die mich erreichte, war das grauenvolle Gelächter des Ersten Zählers. Es durchdrang alle Dimensionen und stieß bis zu mir vor. »Deiner Vernichtung bist du entronnen, Chybrain! Dafür haben wir für dich etwas viel Schöneres bestimmt. Am Ende deiner Reise wartet ein Hypervakuum auf dich, das keinen Ausgang besitzt. Du selbst wirst das Tor hinter dir schließen, und keine Macht kann es öffnen.« Als die letzten Töne verhallt waren, fühlte ich mich von der Stelle bewegt. Kräfte drehten und schleuderten mich. Meine Sensoren fanden keinen Halt.
Der Taumel dauerte eine undefinierbare Zeit, dann erblickte ich etwas, dem ich sofort den Namen Gefilde gab. Es mußte eine Insel der Ruhe in diesem Chaos sein. Sie trieb seitlich an mir vorbei, groß und grün, wohlriechend und warm. Ich mobilisierte meine letzten Willenskräfte, um dem unbändigen Sog zu entfliehen und das rettende Eiland zu erreichen. Zunächst schien mein Kampf gegen die Kräfte des Chaos hoffnungslos. Als ich aber Teile meiner Jenseitsmaterie opferte und sie als zusätzliche Beschleunigung einsetzte, gelang das, was ich schon für unmöglich gehalten hatte. Langsam glitt ich auf den Hort der Ruhe zu. Der Eingang war klein. Ich mußte mein ganzes Geschick aufwenden, um ihn nicht zu verfehlen. Lange Schatten folgten mir. Sie schlangen sich um mich, um mich aus dieser Zone der Stille zu reißen, aber ich war stärker. Mit einer letzten Kraftanstrengung gelangte ich durch das Tor. Bevor ich mich zur Ruhe legen konnte, und das mußte ich, denn mein Geist und mein Wille und mein Können hatten nichts Gemeinsames mehr, baute ich aus der Materie der Insel eine Barriere hinter mir auf, so daß die Schatten und der Sog der Energien mir nicht mehr folgen konnten. Ich wußte, daß ich durch Raum, Zeit und Sphären geschleudert worden war. Meine Sensoren begannen eine Weile später, die neue Welt abzutasten. Wieder fühlten sie ins Leere. Ich erkannte die Grausamkeit, die mir widerfahren war. Die Insel der Rettung war ein Trugbild gewesen, in das ich gelockt werden sollte. Die Worte des Ersten Zählers hatten sich erfüllt. Ich selbst hatte hinter mir den einzigen Ausweg versperrt. Dieser hatte sich nun so transformiert, daß er mir nicht mehr zugänglich war. Es war das Hypervakuum, in dem ich gefangen war. Es existierte an irgendeinem Ort in irgendeiner Zeit. Ich weiß nicht, wie lange ich dort bewegungslos hing, nichts mehr
dachte und nichts mehr tat. Später kam es mir manchmal wie eine Sekunde vor, dann wie tausend Jahre. Ich kann dir wirklich keinen Zeitwert nennen. Aber dann kam die Rettung durch einen Zufall. Umstände, die mir im Zusammenhang nie klar wurden und bei denen vielleicht ein Unbekannter mir half, führten eine große Masse in die äußere Nähe des Hypervakuums. Ich erkannte, daß diese Masse, die mir nur schwer zugänglich war, sehr wahrscheinlich auch in diese Zone des Todes, in das ewige Gefängnis verschlagen werden würde. Aber das Vorhandensein dieser Masse erlaubte mir im Wechselspiel die vorläufige Flucht. So gelangte ich an Bord der SOL, denn diese war die Masse, die sich mir genähert hatte. Die SOL aber landete schon bald im Hypervakuum.
* »Du bist verrückt, Chybrain!« Sanny sprang mit einem Satz in die Höhe. »Warum?« Chybrain blieb gelassen. »Ich sagte dir doch schon, daß du dich irrst, als du den Zeitpunkt nanntest, als ich erstmals der SOL begegnete. Es war viel früher, als du vermutest, und lange vor der Zeit, als Atlan aufgefischt wurde und ich ihm begegnete.« »Das eröffnet völlig neue Perspektiven. Ich verstehe nicht, wieso dann niemand an Bord etwas mit dem Wort Hypervakuum anfangen kann. Es handelt sich doch um das gleiche Phänomen, das auch das Flekto-Yn verbirgt. Oder?« »Das ist richtig, aber natürlich liegt hier ein anderes Hypervakuum vor.« »Was ist ein Hypervakuum?« »Eine künstliche Blase im Nichts aus dem Nichts. So könnte man vielleicht sagen, aber …«
Chybrain brach mitten im Satz ab und schwebte in die Höhe. »Was ist los, mein Freund?« Sanny war beunruhigt. »Die SOL bot mir Gelegenheit, mich von meinen grauenvollen Erlebnissen zu erholen«, sagte Chybrain stockend. »Sanny, es tut mir leid.« »Was?« »Ich muß weg.« »Du darfst nicht gehen, Chybrain. Wir müssen noch über viele Dinge sprechen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir meine Fragen zu stellen. Ich habe nicht alles verstehen können, was du berichtet hast.« Das Kristallei leuchtete etwas heller. Das Farbenspiel aus fahlem Rosa und lindgrünen Lichtern verstärkte sich. »Vielleicht ein anderes Mal, Sanny.« »Was ist los?« »Ich kann es dir nicht sagen, aber es hat nichts mit uns zu tun. Du kennst nun meine Probleme. Irgendwie glaube ich, daß ich mich vor den Mächten aus dem Jenseits erst rehabilitieren muß, bevor ich mein Ziel erreiche. Wenn du kannst, dann hilf mir dabei. Wir sehen uns bestimmt wieder.« »Die Gefahr, in der wir stecken, Chybrain. Das Hypervakuum. Ich hatte sehr gehofft, mehr darüber zu erfahren. Wir brauchen dich.« »Ich kann dein Bitten verstehen.« Das leuchtende Ei schwebte vor Sannys Gesicht langsam in die Höhe. »Versteh du bitte auch mich. Du weißt, daß mir Grenzen gesetzt sind. Die kosmischen Gesetze meines Lebens verstehe ich nicht. Meine Herkunft ist unklar. Es ist fraglich, ob sich Wöbbeking mir je mitteilen wird. Er übernimmt lieber die Rolle des Spielverderbers.« Chybrain hing jetzt unter der Decke. Jeden Augenblick konnte er verschwinden. »Wie erreiche ich dich«, rief Sanny nach oben, »und wann warst du auf der SOL?« »Vergiß dein Versprechen nicht, Sanny«, bat Chybrain. »Du hast
mir zugesichert, mit niemand über unser Gespräch zu reden. Es könnte sonst unser aller Verderben sein.« Das leuchtende Ei beschleunigte und glitt geräuschlos durch die Decke, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Molaatin sank auf ihrem Sessel zusammen. »Sanny!« Chybrains Stimme klang wie aus einer unendlichen Ferne. »Es war die Zeit von Elvin Glador, zu der ich die SOL besuchte. Das Hypervakuum konnte …« Dann war da nur noch ein Raunen.
* Die Gedanken Sannys überschlugen sich. Zuviel hatte sie in den letzten Stunden gehört, als daß sie sich von allen Dingen ein klares Bild machen konnte. Vieles erschien nun unter ganz anderen Gesichtspunkten, denn Chybrain hatte sein Wesen, seinen Charakter und seine Probleme offenbart. An letztere hatte die Molaatin nicht einmal im Traum gedacht. Sie hatten Chybrain irgendwie für einen nahezu perfekten Alleskönner, für eine Art Überwesen gehalten, das man nur für sich gewinnen brauchte. Aber so war es nicht. Das Kristallei besaß tiefe Empfindungen, die eng mit seiner Hilflosigkeit verbunden waren, die sich darin ausdrückte, daß es nicht das erreichen konnte, was es wollte. Es kannte nicht einmal sich selbst! Und es war trotz der haushohen Überlegenheit eher ein verspieltes Kind als ein positiver Machtfaktor. Schlimmer noch, sagte sich Sanny. Er war ein altes und doch junges Waisenkind, das durch seine besonderen Fähigkeiten mehrmals in Konflikte mit anderen Wesen gekommen war, wenn er versucht hatte, die Grenzen unseres Universums zu überschreiten. Wöbbeking war ein Elternteil. Das besagte Sannys
Paramathematik. Wenn es noch einen zweiten Teil gab, an dem Chybrain nicht, Sanny jedoch zweifelte, so gab es keinen Hinweis, wer oder was dies war. Wer war Elvin Glador? Sanny hatte diesen Namen noch nie gehört. Allerdings wußte sie nur sehr wenig über die Vergangenheit der SOL. Selbst einen Teil der Geschehnisse seit Atlans Auftauchen auf dem Generationenschiff der Solaner kannte sie nur bruchstückhaft aus den Erzählungen anderer. Was war das vielfältige Jenseits, von dem Chybrain gesprochen hatte? War dies am Ende gar der Bereich, in dem Atlan gewesen war? Dort, wo die Kosmokraten existierten, die dem Arkoniden einen Auftrag gegeben und ihm gleichzeitig die direkte Erinnerung genommen hatten? Fragen über Fragen, deren Beantwortung ungewiß war. Die aktuellen Probleme drängten sich in Sannys Überlegungen. Hidden-X, das Flekto-Yn im Hypervakuum, der Mentaldruck, ihre Artgenossen von Krymoran, unfreiwillige Baumeister, die ausgelaugten Roxharen, die Dimensionstransmitter, Wajsto Kölschs Mission zu den Chailiden, die Vorbereitung einer Fünften Kolonne, die den Gang durch die Maschine des Hidden-X wagen sollte, die Zone-X mit ihren Dunkelplaneten, die noch unbekannten Gefahren. Warum hatte sie sich Atlan verschrieben? Was trieb sie, ein kleines fast zerbrechliches Wesen ohne Heimat an, den Arkoniden bei diesem sinnlos erscheinenden Kampf zu unterstützen? Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie blickte in die Höhe. Neben ihr stand Atlan. »Ich habe den Türsummer mehrfach betätigt«, sagte der Arkonide ruhig, »aber du hast nicht reagiert. Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert.« Sanny stand langsam auf und fuhr sich mit den Händen über den haarlosen Kopf. Die Gegenwart Atlans brachte ihre Gefühle und Gedanken schnell wieder ins Lot.
»Es ist alles in Ordnung.« Sie lächelte gequält. »Aber es gibt eine wichtige Neuigkeit für dich. Wir haben eine Chance, dem Geheimnis des Hypervakuums auf die Spur zu kommen.« »Das ist gut«, meinte Atlan und knüpfte die Frage an: »Paramathematische Berechnung? Du weißt, daß ich deinen Fähigkeiten voll vertraue.« »Danke.« Diesmal war Sannys Lächeln echt. »Es ist eher etwas anderes, aber das spielt keine Rolle. Bitte glaube mir, was ich dir jetzt sage, und frage mich nicht, woher ich das wissen will.« Atlan nickte. »Die SOL befand sich in ihrer Vergangenheit einmal in einem Hyperraum, und es gelang ihr, daraus zu entkommen. Es ist logisch, daß es uns gelingen würde, in das Hypervakuum von Hidden-X zu kommen, wenn wir wüßten, was damals geschah. Sagt dir diese Geschichte etwas, und hast du den Namen Elvin Glador schon einmal gehört?« Der Arkonide verneinte beide Fragen. »Solche Ereignisse und diese Person können nur in der Zeitspanne existiert haben, die nach der Übergabe der SOL durch Perry Rhodan im Jahr 3586 und vor meinem Auftauchen im Jahr 3791 liegt. Anders kann ich mir das nicht erklären.« »Über diese Periode weiß SENECA vieles nicht. Wenn ihm das Wort Hypervakuum etwas bedeuten würde, hätte er es längst mitgeteilt. Es gibt also nur noch eine Quelle, die uns weiterhelfen könnte.« »Das Logbuch der SOL.« Atlan nickte zustimmend. »Ob Breck mir erlaubt, es nach bestimmten Hinweisen zu untersuchen?« »Er hat keinen Grund, diese Bitte abzuschlagen. Aber ich warne dich. Das Logbuch ist von verschiedenen Personen geschrieben worden, und es ist keine zusammenhängende Darstellung. Ich selbst habe auch nur Bruchstücke daraus zur Kenntnis nehmen können. Dabei tauchte der Name Elvin Glador nicht auf.«
»Egal.« Sanny gab sich einen Ruck. »Da ist eine heiße Spur aus der Vergangenheit, die uns helfen könnte, die aktuellen Probleme zu lösen. Bitte Breck, mir das Logbuch für einige Zeit zu überlassen.« »Das werde ich tun. Wir müssen im Augenblick wirklich jedem Fingerzeig nachgehen. Und du läßt mich bitte wissen, wenn du etwas gefunden hast.« »Und dann«, fügte Atlan hinzu, »wirst du mir vielleicht eines Tages einmal erzählen, was dir heute widerfahren ist.«
ENDE
Nach dem von Peter Griese verfaßten Bericht über Chybrains kosmische Abenteuer folgt im nächsten Atlan-Band der fünfte Beitrag aus dem Logbuch der SOL. Der Roman, als dessen Autor Arndt Ellmer zeichnet, hat die Entstehung der SOLAG zum Thema. Er erscheint unter dem Titel: DAS TOTALE NICHTS