Christian Montillon & Oliver Fröhlich
Der Schattenfresser Professor Zamorra Hardcover Band 32
ZAUBERMOND VERLAG
Man...
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Christian Montillon & Oliver Fröhlich
Der Schattenfresser Professor Zamorra Hardcover Band 32
ZAUBERMOND VERLAG
Man schreibt das 13. Jahrhundert. Die Hexe Hella und ihr dämonischer Diener tyrannisieren eine Bauernsiedlung in Deutschland. In ihrer Not wenden sich die Bewohner an Dythmar, einen Wissenden, dessen Kenntnis magischer Rituale sie von ihrem Joch befreien soll. Doch der Versuch, die Macht der Hexe zu brechen, nimmt einen unerwarteten Verlauf … 800 Jahre später ist aus der Bauernsiedlung eine Stadt geworden – und wieder steht diese im Zentrum geheimnisvoller Ereignisse: Findet Professor Zamorra eine Erklärung für die Gewaltausbrüche scheinbar unbescholtener Bürger? Welche Rolle spielt die kleine Sara, über der sich unbemerkt eine unheilvolle Wolke zusammenbraut …?
Prolog »Wenn es Nacht wird«, sagte das Mädchen, »wo gehen dann all die Schatten hin, Mami?« Manuela Vogt verharrte in der Bewegung, als sie Saras Frage hörte. Für einige Sekunden schwebte ihre Hand über der Klinke der Kinderzimmertür, dann sank sie herab. Tränen stahlen sich in Manuelas Augen und legten einen Schleier des Schmerzes über die Welt. Nemo, der Clownfisch, schien plötzlich über die Tapete zu schwimmen und lächelte ihr nicht mehr nur in vielfacher Ausfertigung als aufgedruckte Figur entgegen. Sie blinzelte die Tränen weg; der Schmerz aber blieb. Egal. Sie durfte sich keine Schwäche anmerken lassen, nicht in Anwesenheit ihrer Tochter! Mit einem ebenso strahlenden wie erzwungenen Lächeln drehte sie sich um und ging zu Saras Bett. »Ich dachte, du schläfst schon lange, mein Schatz.« Sara rutschte ein Stück nach oben und setzte sich auf. Die Hände nestelten am Rand der Zudecke. »Nö, kann nicht einschlafen.« Sie rieb sich die Augen und gähnte. »Ich bin auch gar nicht müde.« »Das glaube ich sofort!« Manuela ließ sich auf die Bettkante sinken. Auch hier tummelten sich unzählige Fische in einer Unterwasserlandschaft auf blauer Baumwolle. Sie alle suchten Nemo, der in diesem Motiv fehlte. Dabei müssten sie nur mal einen Blick hoch zum Kopfkissen werfen und schon hätten sie ihn gefunden. Dort strahlte er einem nämlich in Übergröße entgegen. Sara liebte diese Bettwäsche, ein Geschenk ihres Großvaters. Wenn es nach Manuelas Tochter ginge, könnten alle anderen Motive im Schrank verrotten oder von den Motten gefressen werden. Donald Duck in seinem Matrosenanzug? Ich kann Donald Duck nicht leiden, Mami! Dann vielleicht den kuscheligen Pokemon-Bezug? Nein, ich mag im Meer schlafen! Mit Nemo! Da war nichts zu ändern! Sie liebte diesen drolligen Kerl mit der
zu kleinen Flosse einfach. Und sie liebte ihren Großvater. Immer noch. Ein Kloß wollte sich in Manuelas Kehle breit machen, doch sie würgte ihn hinunter, bevor er ihr die Luft abschnüren konnte. Sie griff nach einer Stoffpuppe mit flachem Gesicht und vielen lustigen Zöpfen, die neben dem Kopfkissen lag – das einzige nicht fischähnliche Wesen, das mit Nemo konkurrieren konnte. »Du bist vielleicht nicht müde! Aber schau nur, Fanny hat schon ganz kleine Augen und will unbedingt schlafen.« »Mami!« Die Kleine klang aufrichtig empört und verdrehte theatralisch die Augen. »Fanny ist doch nur eine Puppe. Die müssen nicht schlafen.« Richtig, dachte Manuela. Und du bist nur ein Mädchen, das mit seinen fünf Jahren viel zu jung ist, um zu solchen Erkenntnissen zu gelangen. Noch vor zwei Wochen hätte Sara die Puppe genommen, liebevoll zugedeckt, wie es sich für eine Puppenmutter gehörte, und sie in den Schlaf gesungen. Da hatte sie aber auch noch nicht mehrere Stunden alleine mit der Leiche ihres Großvaters verbringen müssen. Der Kloß kehrte zurück und diesmal versuchte Manuela vergeblich, ihn aus Kehle und Bewusstsein zu verbannen. Sie spürte die kleinen Finger ihrer Tochter auf dem Handrücken, eine Berührung, so sanft wie ein Windhauch in der Mittagshitze. »Bist du traurig?«, fragte Sara. Manuela schluckte. Eine Träne quoll aus ihrem Auge, blieb für einen Moment an den Wimpern hängen und stürzte dann auf die Bettdecke. Genau in das Maul eines Haifischs. So viel zum Vorsatz, sich vor der Kleinen keine Schwäche anmerken zu lassen. Sie nickte und lächelte mit zusammengepressten Lippen. Saras Finger schlossen sich um Manuelas Daumen und drückten fester zu. »Wegen Opa?« Wieder nickte Manuela. Was geschah hier? Versuchte Sara, ihre Mutter zu trösten? Sollte es nicht eigentlich genau anders herum sein? »War Opa mit dir auch verwandt?« Dieser kleine, unschuldige Satz vollbrachte das, was Manuela bisher nicht geschafft hatte. Er löste den Kloß aus ihrer Kehle und ver
jagte die Tränen aus den Augen. Sie konnte es selbst nicht glauben, aber sie musste lachen. »Natürlich, du Dummchen! Er war mein Vater.« »Oh!« Saras Blick saugte sich an einer Seeanemone auf der Bettdecke fest. Für eine Sekunde wirkte sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine erwachsene, erfahrene Frau, die in einem viel zu kleinen Körper gefangen saß. Doch schon im nächsten Moment war sie wieder das Mädchen mit den großen blauen neugierigen Kulleraugen. »Du musst nicht traurig sein. Opa ist doch jetzt im Himmel.« Manuela lächelte. Erstaunlich! Ihre Tochter schien den Tod des Großvaters wesentlich besser zu verarbeiten, als sie selbst es konnte. Dabei hätte doch gerade Sara nach den schrecklichen Erlebnissen jedes Recht gehabt, traumatisiert zu sein. Aber vielleicht war sie es ja auch und zeigte es nur nicht. Tapferes kleines Mädchen! »Stimmt. Von dort oben schaut er zu uns herunter und passt auf, dass uns nichts passiert. Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?« Das Mädchen nickte eifrig. »Au ja, bitte!« »Ich weiß zwar, dass es Opa da oben gut geht. Trotzdem vermisse ich ihn hier unten manchmal ganz schön dolle!« Sara nahm ihrer Mutter die Zopfpuppe aus der Hand und drückte sie an sich. »Ich auch.« Sie legte sich wieder hin. Ihr Kopf ruhte genau auf Nemos breitem Lächeln. »So, jetzt musst du aber schlafen, meine Süße.« »Wohin gehen sie denn jetzt, Mami?« »Wer?« »Die Schatten meine ich. Wenn es Nacht wird. Wo gehen sie da hin?« Manuela deckte ihre Tochter bis zum Kinn zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Sie gehen nirgendwo hin. Schatten sind nur dunkle Stellen, an die das Licht nicht so gut hinkommt. Wenn es Nacht wird, sind einfach überall Schatten. Verstehst du?« Obwohl Sara nickte, überführten ihre Augen sie der Lüge. »Gibt's im Himmel auch Schatten?« Gute Frage. Manuela zögerte. »Das weiß ich nicht«, sagte sie gedehnt. »Das können dir nur die Engel verraten. Ich glaube es aber nicht, denn im Himmel ist so viel Licht, dass es bestimmt überallhin
strahlt.« Für einige Sekunden beschäftigte sich Sara mit Fannys Zöpfen, zog an ihnen, sortierte sie und richtete sie neu aus – bis sie schließlich genauso aussahen wie vorher. So wie immer. »Hat Opa mir deshalb seinen Schatten geschenkt?« »Wie meinst du das?« Sara zuckte mit den Schultern. »Weiß auch nicht. Ich glaub, jetzt bin ich doch müde.« »Dann mach jetzt schnell die Augen zu und träum von einer goldnen Kuh.« Das Mädchen lächelte, und seine Augen schienen zu strahlen. »Mach ich. Singst du mir noch ein Lied?« »Natürlich, mein Schatz.« Während Manuelas Stimme den Raum erfüllte, ging ihr ein Satz immer wieder durch den Kopf wie der Refrain eines Ohrwurms. Ein Satz, dessen Bedeutung ihr nicht klar wurde, egal wie sehr sie darüber nachgrübelte. Hat Opa mir deshalb seinen Schatten geschenkt?
1. Ein Vogel wollte Hochzeit halten Professor Zamorras Schritte hallten in mehrfachem Echo wider, als er langsam den rot-weiß gefliesten Gang entlangschlenderte. In der Luft hing der leichte Geruch nach Bohnerwachs. Hin und wieder huschte ein Uniformierter von einem Zimmer zu einem anderen oder stöckelte eine Frau in hohen Hacken mit einer Akte im Arm an ihm vorbei. Der Flur war also nicht gerade ausgestorben – gemessen an der Geschäftigkeit, die der Parapsychologe aus dem Polizeipräsidium von Lyon kannte, herrschte aber eher bedächtige Ruhe. Vor jeder Tür hielt er an und las das Namensschild. Er hätte unten bei der Auskunft vielleicht doch noch einmal nachfragen sollen, welche Zimmernummer Kommissar Saals Büro besaß. Genau genommen hatte er sogar gefragt, von der Antwort aber leider nur einen Bruchteil verstanden. »Zweiter Stock, Zimmer zwaaaanerferzich.« Oder so ähnlich. Obwohl der Meister des Übersinnlichen perfekt Deutsch konnte und auch sehr viele andere Sprachen instinktiv verstand, streckte der kleine Dolmetscher in seinem Hirn vor dieser Lautansammlung die Waffen. Also hatte er sich lächelnd bedankt und war mit dem Aufzug in den zweiten Stock gefahren, in der Hoffnung, dennoch fündig zu werden. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Kommissar Saal ein weniger dialektgefärbtes Deutsch sprach. Da war es! Das Schild trug die Aufschrift: »Saal, Frank Ulrich«. Dahinter stand ein Kürzel aus einigen Buchstaben, die dem Eingeweihten vermutlich Auskunft über den Dienstrang erteilten. Zimmer 241. Aha. Zamorra machte eine geistige Notiz, die seinem Dolmetscher künftig dabei helfen sollte, den hiesigen Dialekt besser zu entschlüsseln: Aanerferzich = 41. Er klopfte, wartete, bis er ein gut verständliches »Herein« vernahm, und betrat das Büro. Der Geruch nach Bohnerwachs wich dem nach frischem Kaffee. Wesentlich angenehmer, dachte der Dämonenjäger.
Hinter einem Schreibtisch, auf dem sich dicke, rote Akten und einzelne grüne Blätter stapelten, saß ein Mann in einem karierten Hemd und sah den Professor durch runde Brillengläser an. Zamorra schätzte ihn auf etwa vierzig. Ferzich, korrigierte er sich nur einen Moment später und grinste still in sich hinein. »Ja, bitte?« »Mein Name ist Professor Zamorra. Sind Sie Herr Saal?« Der Kommissar stand auf, stieß dabei seinen Drehstuhl an, dass dieser ein Stück zurückrollte und gegen einen bis auf den letzten Millimeter gefüllten Aktenschrank knallte. »Freut mich, dass Sie es so schnell geschafft haben. Herzlich willkommen in Hof.« Er stürzte seinem Besucher entgegen, schnappte dessen Hand und schüttelte sie mit so viel Elan, dass der Parapsychologe um sein Schultergelenk bangte. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug.« Saal sprach kein lupenreines Hochdeutsch, bemühte sich aber, seinen Dialekt so gut es ging zu unterdrücken. »Ja, vielen Dank.« »Ich hätte Sie gerne abholen lassen.« Der Kommissar verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Miene. »Allerdings hätte ich meinen Vorgesetzten dann erklären müssen, warum ich einen französischen Parapsychologen zu oberfränkischen Polizeiermittlungen hinzugezogen habe. Na ja, ich habe meine Zweifel, dass ich damit auf große Gegenliebe gestoßen wäre.« »Ich verstehe.« »Deshalb habe ich Pierre Robin gebeten, Sie zu einem ganz privaten Besuch zu überreden.« »Was ihm auch gelungen ist.« Chefinspektor Robin war der Leiter der Lyoner Mordkommission. Anfangs hatte er von magischen oder okkulten Phänomenen nicht viel gehalten, was sich durch die enge Zusammenarbeit mit Zamorra aber rasch geändert hatte. Inzwischen war sein größtes Problem eher, wie er diese Dinge seinen Vorgesetzten erklären konnte. Insofern wusste Zamorra genau, welche Bedenken Kommissar Saal plagten. Endlich ließ der Polizist Zamorras Hand los, der sofort seine Finger auf ihre Funktionstüchtigkeit prüfte.
»Woher kennen Sie Pierre Robin eigentlich, Herr Saal?« »Ach, vergessen Sie den Herrn Saal. Der ist daheim bei Frau Saal, meiner Mutter. Sagen Sie Frank zu mir.« »Gerne, danke. Sie können mich Zamorra nennen.« Der Meister des Übersinnlichen musste lachen, als er Saals verdutztes Gesicht sah. »Das ist bei mir so üblich. Wer es förmlicher möchte, sagt Professor zu mir. Die ganz Steifen vielleicht sogar Herr Professor. Alle anderen nennen mich Zamorra.« »Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich. Pierre hat so etwas angedeutet.« Er setzte sich wieder auf seinen Bürostuhl und deutete Zamorra mit einer Handbewegung, auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz zu nehmen. Er murmelte etwas, aus dem Zamorra mit viel Phantasie die Worte Der Mann ohne Vornamen heraushörte. »Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte er dann. Der Dämonenjäger bejahte und Saal rollte mit seinem Stuhl zu einem kleinen Aktenregal, auf dem sich zwischen Ordnern und Papierstapeln eine Kaffeemaschine versteckte. Der Kommissar kramte eine Tasse hervor, in die er hinein pustete und sie so vom Staub befreite. Sie trug die Aufschrift: Legales Aufputschmittel. Dann antwortete er auf Zamorras Frage. »Pierre und ich haben uns vor fünf Jahren bei einem Seminar in Brüssel kennengelernt. Der Stand der Polizeiethik in internationaler Perspektive und aktuelle Problemstellungen im länderübergreifenden Einsatzmanagement. Sehr spannend. Milch und Zucker?« »Nein, danke. Schwarz wie die Dämonenseele.« Saal stellte die Tasse vor dem Professor auf den Schreibtisch und Zamorra untersuchte die Kaffeeoberfläche auf schwimmende Flusen. Als er keine entdeckte, nahm er einen Schluck von dem Gebräu und war überrascht, wie gut es schmeckte. Fast so stark, wie er es mochte. Ein Hufeisen würde zwar nicht darauf schwimmen, aber vielleicht immerhin ein Nagel. »Das Interessanteste war, abends die Kollegen bei einem Wein oder einem Bier intensiver zu beschnuppern und ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern«, fuhr Saal fort. »Pierre war mir von Anfang an sympathisch. Während all die anderen ihr Geld häufiger in irgendwelchen Edelrestaurants ausgegeben haben, saßen wir lie-
ber in einer gemütlichen Kneipe. Wissen Sie, Zamorra, ich mag diese Läden nicht, in denen die Preise von der Größe der Teller abhängen und nicht von der Größe der Portionen darauf. Wie auch immer, an einem besonders feuchtfröhlichen Abend berichtete Pierre mir davon, dass sich nicht all seine Fälle … wie soll ich sagen? Dass sich nicht all seine Fälle mit herkömmlichen Polizeimethoden lösen lassen. Seine Schilderungen waren sehr bunt, spannend und interessant.« Er zuckte mit den Schultern. »Geglaubt habe ich ihm trotzdem nicht.« Er stieß sich vom Schreibtisch ab, rollte zurück zum Aktenschrank und zog eine dicke Mappe daraus hervor. »Doch dann ist das hier passiert. Auch wenn es schon einige Jahre her ist, dass ich zuletzt mit Pierre gesprochen habe, schossen mir seine Geschichten sofort wieder durch den Kopf. Also hab ich ihn angerufen, er empfahl mir Sie – und hier sind Sie!« »Ja, hier bin ich. Allerdings habe ich keine Ahnung, worum es geht. Der gute alte Pierre Robin hat sich da sehr bedeckt gehalten.« Saal nickte. »Weil ich ihn darum gebeten habe. Ich wollte, dass Sie sich ganz unvoreingenommen ein Bild von der Sache machen können.« »Versprochen. Und welche Sache wäre das?« Der Kommissar stand auf und klemmte sich die Akte unter den Arm. »Ich gehe davon aus, dass Ihnen der Name Hubertus Finck nichts sagt.« Er nickte Zamorra zu. »Kommen Sie mit.« Auch der Professor stand auf und folgte Saal aus dem Büro in ein Nebenzimmer. Den Kaffee nahm er mit. »Sie haben Recht. Der Name sagt mir nichts.« Das Mobiliar des Nebenraums bestand aus einem Fernseher samt Video- und DVD-Player, einer riesigen Regalwand voller Hartplastikhüllen und drei ungemütlich aussehenden Stühlen. »Dann wollen wir mal schauen.« Saal warf die Akte neben das Fernsehgerät und blätterte darin. Nach einigen Sekunden wurde er fündig und murmelte etwas vor sich hin, dessen Verständlichkeit stark durch den Dialekt litt. Dennoch glaubte Zamorra, etwas wie 87 D herauszuhören. Frank Saal ging zur Regalwand. »Fünfundachtzig, sechsundacht-
zig, siebenundachtzig. P, Q, R, S. Hier haben wir es: 87 T.« Nicht schlecht, dachte Zamorra. Zwar knapp daneben, aber langsam beginne ich die Sprache zu verstehen. »Hubertus Finck. Ein Schriftsteller aus Hof. Hat einige Romane veröffentlicht, die auch über die Region hinaus erfolgreich waren. Vor allem die letzten beiden haben sich sehr gut verkauft.« Saal zog eine DVD aus dem Regal und kam zurück zu dem Tisch mit dem TV-Gerät. »Ich hab keine Ahnung, wie sie heißen. Bin kein allzu großer Leser. Steht aber irgendwo hier drin.« Er patschte mit der flachen Hand auf die Akte. »Der vorletzte Roman ist inzwischen fürs Fernsehen verfilmt worden, aus dem letzten wird gerade ein Kinofilm gemacht. Eine lokale Berühmtheit eben. Aber nicht die einzige in unserer Stadt. Es gibt da noch einen, der Schundromane schreibt. Solchen Grusel-Kram. Lustig, so heißt er, glaub ich.« Zamorra meinte sich dunkel an etwas zu erinnern. »Peter Lustig?« »Nee, glaub ich nicht. Aber so ähnlich.« Der Kommissar zog einen der Stühle heran und setzte sich. Zamorra tat es ihm gleich. »Dass es eine Akte über ihn gibt, deutet daraufhin, dass dieser Fink noch eine andere Art der Berühmtheit erlangt hat. Was hat er getan?« Sekundenlang sagte Saal nichts. Dann verzog er das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. »Er hat geheiratet.« Der Polizist legte die DVD in den Player und knipste den Fernseher ein. »Und weil er zumindest in unserer Gegend von öffentlichem Interesse war, wollte OFF – das ist die Abkürzung für Oberfranken-Fernsehen – von diesem glücklichen Moment berichten.« »Er war von öffentlichem Interesse? Was ist passiert?« »Sehen Sie selbst.« Saal startete die Wiedergabe. Der Parapsychologe, der für einen Augenblick befürchtet hatte, er müsse sich nun die Verfilmung eines Finck-Romans ansehen, wurde eines Besseren belehrt. Auf dem Bildschirm erschien in Großaufnahme der Kopf einer hübschen Blondine mit modisch zerzauster Kurzhaarfrisur. Ihr Lächeln wirkte aufrichtig. Eine Einblendung wies sie als Susanne Thurisch aus. »Herzlich willkommen, meine Damen und Herren.« Ihre Stimme klang angenehm sanft. »Wir melden uns heute vom Theresi-
enstein in Hof, wo Hubertus Finck seiner langjährigen Verlobten Christina das Ja-Wort gegeben hat. Für Hubertus Finck ist es die erste Ehe, für Christina bereits die zweite.« Die Kamera zog das Bild etwas auf und Zamorra entdeckte hinter der Reporterin eine große, weiße Jugendstilvilla. Hohe Bäume umgaben sie auf drei Seiten. Zamorra vermutete, dass es sich bei diesem Theresienstein um einen Park handelte. Vor dem etwas erhöht liegenden Gebäude befand sich eine steinerne Terrasse, die man von der rechten Seite über eine Treppe erreichen konnte. Ein ebenfalls steinernes Geländer säumte die Terrasse. An ihm standen ein Mann in dunkelblauem Anzug und eine Frau in einem wallenden Brautkleid, einem Wasserfall aus blendend weißer Seide. Als die Kamera auf das Paar zoomte, bemerkte Zamorra, dass die Braut einen kleinen Strauß aus roten Rosen gegen die Brust drückte und mit der anderen Hand über das Geländer hinweg winkte. Von einem makellosen Himmel schaute die Sonne auf das Brautpaar herab, doch ihr Strahlen verblasste neben dem, das auf dem Gesicht von Christina Finck lag. Der Bildausschnitt wurde wieder größer. Unterhalb der Terrasse stand eine Menschenmenge und jubelte den beiden zu. Zamorra schätzte, dass mindestens tausend Leute die Hochzeit sehen wollten. »Was ist das für ein Gebäude?« Zamorra zeigte auf den Turm an der rechten Seite des Hauses. »Eine Art Kirche?« Saal schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Seit seiner Eröffnung hat es ausschließlich den … sagen wir: schönen Dingen des Lebens gedient. Geselligkeit, Tanz, Unterhaltung, solche Sachen. Die Stadt stellt es während der Hälfte des Jahres als außergewöhnlichen Rahmen für Hochzeiten zur Verfügung. Eine Zweigstelle des Standesamts, wenn man so will. Ein Promi-Paar lässt sich so etwas natürlich nicht entgehen.« Da erklang wieder die Stimme von Susanne Thurisch, der Reporterin, aus dem Fernsehgerät. »Ein wirklich fantastischer Tag. Traumhaftes Wetter für ein traumhaftes Paar. Wir erleben eine Szene, wie sie in einem Liebesroman nicht bewegender dargestellt werden könnte. In einem Interview mit dem Frankenanzeiger hat Hubertus Finck bereits angedeutet, er werde die Hochzeit in seinem nächsten
Roman verarbeiten. Da dürfte es dann allerdings etwas weniger romantisch zugehen, da Finck eher für actiongeladene Thriller bekannt ist.« »Von wegen romantisch«, murmelte Saal. Zamorra sah zu dem Kommissar, doch der schüttelte nur den Kopf und deutete auf den Bildschirm. »Passen Sie auf! Gleich!« Dort ging, nein: schwebte das frisch vermählte Paar gerade die breite Steintreppe hinunter. Aus dem Off erzählte Susanne Thurisch von Fincks Büchern und seinen weiteren Plänen. Zamorra versuchte, ihre Stimme aus der Wahrnehmung zu verdrängen und seine Aufmerksamkeit ganz den Bildern zu widmen. Die Menschenmenge teilte sich, als Hubertus und Christina Finck den Fuß der Treppe erreichten. Moses hätte seine helle Freude daran gehabt. Das Meer aus Leuten konnte sicher genauso mörderisch sein wie das Rote Meer, wenn es zurückschwappte. Tatsächlich rechnete Zamorra auch mit etwas Ähnlichem – einem wahnsinnigen Fan etwa, der sich auf den Bräutigam stürzte. Mit Christinas erstem Ehemann, der sich für irgendetwas in der Vergangenheit rächen wollte. Er hätte sich nicht einmal gewundert, wenn der Turm der Jugendstilvilla eingestürzt wäre und alle unter sich begraben hätte. Mit allem rechnete Zamorra, aber nicht mit dem, was wirklich geschah. Hände reckten sich den beiden aus der Menge entgegen. Sie gratulierten, klopften Schultern oder zeigten den nach oben gereckten Daumen. Gemessenen Schrittes wandelte das Ehepaar durch den Korridor aus Leibern. Fotografen gaben ihr Bestes, um die Atmosphäre der Szene anzufangen. Plötzlich fiel Zamorra auf, dass Susanne Thurischs Stimme aus dem Hintergrund verstummt war. Stattdessen machte eine neue Stimme auf sich aufmerksam: die der Masse! Es begann mit drei oder vier Rufern. Nur wenige Sekunden später fielen alle mit ein. »Küss die Braut! Küss die Braut! Küss die Braut!« Eine Kamerafahrt über die Besucher zeigte unzählige Menschen, deren Lippen sich wie auf einen geheimen Befehl hin völlig synchron bewegten. »Küss die Braut!« Die Fincks blieben stehen und lachten in die Menge. Hubertus
drehte sich zu seiner Frau, lächelte sie an und sagte etwas zu ihr. Zamorra glaubte von seinen Lippen »Sollen sie ihren Willen bekommen?« lesen zu können. Christinas Augen strahlten. Sie nickte leicht. Augenblicke später versanken sie in einem tiefen, innigen Kuss. Der Kameramann von Oberfranken-Fernsehen fuhr so nahe an die beiden heran, dass Zamorra befürchtete, die Scheibe des Bildschirms würde vom Atem der Küssenden gleich von innen beschlagen. Das geschah nicht. Dafür etwas anderes. Plötzlich glänzte Blut auf dem Ohrläppchen, das Christina Finck der Kamera zuwandte. Woher war das denn gekommen? Zamorra setzte sich aufrecht hin und umklammerte seine Kaffeetasse. »Halten Sie mal an und spulen etwas zurück.« Saal drückte auf eine Taste der Fernbedienung, die das Bild einfror, und reichte sie dem Parapsychologen. »Hier, fühlen Sie sich wie daheim auf der Fernsehcouch.« Der Meister des Übersinnlichen nahm noch einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Tisch und schnappte sich die Fernbedienung. Er spulte ein paar Sekunden zurück und ließ die Szene erneut ablaufen. Hubertus küsst Christina, Christina küsst Hubertus, alles ist bestens. Das Ohr ist ganz normal und plötzlich – Plopp! – läuft Blut am Läppchen herab. »Ist ihr das von oben ins Gesicht getropft?« Noch einmal hielt Zamorra die DVD an und spulte zurück. Diesmal sah er sich die nächsten Sekunden in Einzelbildschaltung an. Und er entdeckte, woher das Blut kam. Wie bei der Eruption eines Geysirs schoss eine kleine Fontäne aus Christinas Ohrmuschel. So als wäre eine Ader unter großem Druck geplatzt. »Das war noch nicht alles«, hörte Zamorra die Stimme des Kommissars. Er bemerkte, dass sich Saal auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und den Parapsychologen musterte. Offenbar hatte er größeres Interesse an Zamorras Reaktion als an den Bildern auf dem Monitor. Was Zamorra aber nicht wunderte, schließlich kannte der Polizist den Film vermutlich in- und auswendig. »Lassen Sie weiterlaufen. Und machen Sie sich auf etwas gefasst.« Zamorra drückte den Knopf auf der Fernbedienung und fühlte
Schweiß in der Handfläche. Die DVD lief weiter. Einen Moment lang gab sich der Professor der unsinnigen Hoffnung hin, dass Saal übertrieben hatte. Dass das Ohrenbluten schon alles war, was es zu sehen gab. Aber es war natürlich nicht alles. Christina Finck schien von ihrer Blutung nichts zu bemerken, doch plötzlich riss Hubertus die bis eben noch genussvoll geschlossenen Augen auf. In seiner Miene lag eine Mischung aus Schmerz, Fassungslosigkeit und Enttäuschung. Finck versuchte, seine Frau von sich weg zu stemmen, doch er scheiterte. Etwas hielt ihn zurück. Nein, nicht etwas. Jemand! Christina! Sie hatte Hubertus' Lippe, vielleicht auch seine Zunge zwischen die Zähne geklemmt. Und sie biss zu! Endlich konnte sich der Autor losreißen. Zu spät! Er stieß einen infernalischen Schrei aus. Sein Gesicht war eine blutige Grimasse, der Mund verzogen zu einem lippenlosen obszönen Grinsen. Nun wurde der Bildausschnitt wieder größer. Der Kameramann zoomte weg – aber er richtete sein elektronisches Auge unverdrossen auf die schrecklichen Ereignisse, anstatt zu helfen. Aus Christinas einstmals schönem Gesicht war jede Emotion, jedes Leben verschwunden. Sie öffnete den Mund und die Unterlippe ihres Mannes fiel heraus. Sie purzelte über das Brautkleid, hinterließen rote Schmierer und kullerten zu Boden. Nur ein länglicher Hautlappen verfing sich in der aufgeplusterten Seide. Jetzt erst reagierte das Menschenmeer. Doch statt auf die anscheinend wahnsinnig gewordene Braut loszugehen, wichen sie kollektiv noch weiter zurück. Sie schrien, kreischten, gestikulierten. Das Entsetzen war ihnen anzusehen. Aber in ihren Gesichtern lagen auch Ekel und Panik. Hubertus Finck taumelte zwei Schritte auf die Kamera zu, dann wieder drei zurück. Er wirkte völlig desorientiert und tastete mit der Hand immer wieder nach seinem Gesicht. Auf der Suche nach etwas, das er dort nicht mehr fand. Sein Leiden sollte nicht mehr lange anhalten. Begleitet von einem weiteren Aufschrei der Menge sprang Christina ihren Mann an und warf ihn zu Boden. Lag es daran, dass er mit
dem Hinterkopf auf das Pflaster knallte? Oder daran, dass ihm Christina mit der Lippe auch den Lebenswillen genommen hatte? Zamorra wusste es nicht, aber ihm fiel auf, dass von Hubertus keinerlei Gegenwehr kam. Christina kauerte auf dem Körper, hob den Arm mit dem Blumenstrauß und rammte die mit einer Kunststoffummantelung verstärkten Rosenstiele in Hubertus' Auge. Finck schlug noch zwei-, dreimal mit Armen und Beinen auf den Boden, dann lag er still. Die frisch gebackene Witwe stand auf und blieb für einen Moment mit hängenden Schultern stehen. Plötzlich fiel ihr Blick auf die Kamera. Zamorra kam es so vor, als sehe sie ihn direkt an, und ein leichter Schauder huschte ihm über den Rücken. Und dann rannte sie auf ihn zu. Mit absolut ausdrucksloser Miene. Eine Stimme erklang. Vermutlich die des Kameramanns. »Scheiße! Die Irre …« Da war Christina heran. Zamorra sah noch ihr Gesicht in einer monströsen Großaufnahme. Blutunterlaufene Augen. Ein Blutfaden, der ihr aus der Nase lief. Der blutverschmierte Mund. Dann raste das Bild der Kamera in die Höhe, vollführte unter den Schreien des Kameramanns und denen von Susanne Thurisch eine wilde Fahrt vorbei am Himmel, Bäumen und der Jugendstil-Villa. Schließlich fiel die Kamera zu Boden. Das Letzte, was sie zeigte, bevor das Bild abbrach und einem rauschenden Schneegestöber Platz machte, war der Brautstrauß aus Rosen in seiner skurrilen menschlichen Vase. Zamorra atmete tief durch. Er nahm die Kaffeetasse, führte sie halb zum Mund, verharrte und starrte eine Zeitlang auf die schwarze Flüssigkeit. Ohne davon getrunken zu haben, setzte er die Tasse wieder ab. »Was sagen Sie, Zamorra?« Der Professor drehte sich zu Kommissar Saal um. »Das ist … grauenhaft! Was ist danach geschehen?« »Nicht mehr allzu viel. Die Leute haben endlich ihren Schrecken überwunden und die Frau überwältigt, bevor sie noch jemand anderem etwas antun konnte. Sie hat sich später widerstandslos abführen lassen.« »Wann war das?«
»Vorgestern. Wir haben dafür gesorgt, dass diese Aufnahmen nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Aber es gab natürlich genug Zeugen und Fotografen. Inzwischen kursieren die wildesten Varianten der Ereignisse.« »Viel wilder als die Wahrheit geht ja kaum noch.« Zamorra verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Miene. »Wo ist die Braut jetzt?« »Im Klinikum. Unter polizeilicher Bewachung, versteht sich.« »Konnte sie schon befragt werden?« Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht ansprechbar.« »Gibt es schon Anhaltspunkte, was mit ihr los war? Warum sie geblutet und so plötzlich den Verstand verloren hat?« Wieder bestand die Antwort nur aus einem Kopfschütteln. »Absolut nichts!« Zamorra verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete das Flimmern auf dem Bildschirm. »Seien Sie mir nicht böse, Frank. Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist. Aber ich verstehe nicht ganz, warum Sie mich dazu brauchen? Sie haben Ihre Mörderin doch schon. Für ihr Verhalten gibt es sicherlich irgendeine medizinische Erklärung.« Saal seufzte und sah Zamorra über den Rand seiner Brille hinweg an. »Also ist es Ihnen nicht aufgefallen?« »Aufgefallen? Ich habe nur auf das Offensichtliche geachtet. Das war schon auffällig genug. Gab es etwas, was ich übersehen habe?« »Im Gegenteil. Geben Sie mir mal die Fernbedienung, bitte.« Der Polizist startete die Wiedergabe der DVD noch einmal, während Zamorra über dessen letzte Worte nachdachte. Im Gegenteil? Was sollte das bedeuten? Als das Brautpaar die Treppe herunterkam, sagte Saal: »Achten Sie auf ihre Füße.« Auf die Füße? Der Meister des Übersinnlichen hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Er sah dem Paar zu, wie es durch die Menschenmenge schritt und stehen blieb – und konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Das Bild der Kamera zoomte auf den Kuss, der gleich in die Bluttat ausarten würde. Widerwillig beobachtete er den Mord ein zweites Mal. Aber er entdeckte nichts, was er vorhin nicht auch schon gesehen hätte. Als Christina Finck schließlich auf die Kamera zurannte, woll-
te er Saal schon fragen, warum er ihm nicht einfach sagte, worauf er ihn hinweisen wollte. Und plötzlich sah er es. Oder besser: Er sah es eben nicht! Er setzte sich kerzengerade hin, nahm Saal die Fernbedienung aus der Hand und drückte auf Standbild. »Sie haben es!« Saals Stimme war nur ein Flüstern. Zamorra antwortete nicht darauf. Er spulte noch einmal zurück und ließ Hubertus Finck mit seiner Frau noch einmal durch die Menschenmenge gehen. Zu ihren Füßen eilten ihnen ihre Schatten voraus. Nicht sehr groß, weil die Sonne hoch stand, aber dennoch deutlich zu erkennen. Der Professor spulte vor und sah nun zum dritten Mal, wie Christina ihm entgegen rannte. Er fror das Bild ein und berührte auf dem Monitor die Stelle vor ihren Füßen. »Warum hat sie keinen Schatten mehr?« Saal klatschte in die Hände. »Genau das ist die Frage, nicht wahr?«
Ich habe Schuld auf mich geladen. Und nun, da sich mein Leben dem Ende entgegen neigt, werde ich sie mit ins Grab nehmen. Vielleicht sogar mit in die Hölle. Wie sehr hatte ich gehofft, den finsteren Mächten noch einmal gegenübertreten zu können, doch es blieb mir verwehrt. In den zwanzig Jahren, die seit jenem verhängnisvollen Tag im Sommer 1225 vergangen sind, haben sie sich mir nicht mehr gezeigt. Es steht zu befürchten, dass sie dies erst nach meinem Tod tun werden. In einem Jahr, in zehn, in hundert, vielleicht auch erst in tausend Jahren. Wann auch immer es geschieht, ich werde dann nicht mehr hier sein, um ihnen Einhalt zu gebieten. Nächtelang habe ich wach gelegen und mich gefragt, ob es unter Gottes Himmel jemanden gibt, dem ich mein Vertrauen schenken kann, dem ich von den Ereignissen in der Bauernsiedlung Rekkenze berichten soll. Doch ich bringe es nicht über das Herz. Ich habe sogar darüber nachgedacht, mich an die Kirche zu wenden, konnte mich aber nicht dazu durchringen. Hätte man mich nicht selbst der Nutzung schwarzer Kräfte oder gar eines Paktes mit dem Teufel beschuldigt? Nein, ich kann mein Wissen nicht teilen, wie ich auch meine Schuld nicht teilen kann. Stattdessen schreibe ich nun diese Zeilen, auch wenn sie
niemals jemand zu Gesicht bekommen wird. Womöglich kann ich dieserart dennoch meine geplagte Seele ein wenig erleichtern. Die braven Bauern von Rekkenze haben mir nie erzählt, wie lange sie ihr Leid schon ertragen mussten. Erste Vorboten der späteren Ereignisse zeigten sich im Frühjahr 1224, beim ersten … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… beim ersten der drei jährlich abgehaltenen Märkte. Wie immer waren die Bauern von den umliegenden, aber auch von den weiter entfernten Höfen angereist, um ihre Waren zu verkaufen oder ihre Vorräte aufzufüllen. Arnulf grinste in sich hinein. Wie immer! Das klang beinahe so, als käme er schon seit Jahren zum Markt von Rekkenze(Rekkenze ist der alte Name der Stadt Hof, der sich vom Flüsschen Regnitz ableitet. Der Kern der Stadt – die Lorenzkirche – stand jedoch (bzw. steht immer noch) auf einem Felssporn oberhalb des Saaleufers.), um seine Hühner und Eier zu verkaufen. Dabei hatte ihn sein Vater nicht ein einziges Mal mitgenommen. »Die Arbeiten auf dem Hof sind wichtiger«, hatte er ständig gesagt. »Ich brauche dich dort und nicht auf dem Markt.« Im letzten Winter war er dann gestorben. Beim Holzfällen hatte er sich ins Bein gehackt. Als Arnulf ihn fünf Stunden später im Wald gefunden hatte, war er schon steifgefroren gewesen. Drei Wochen später war auch seine Mutter tot. Ob sie der Kummer oder eine Krankheit umgebracht hatte, wusste Arnulf nicht. Es spielte auch keine Rolle für ihn. Er war jetzt das Familienoberhaupt. Mit sechzehn. Das war das Einzige, was zählte. Es war eine kleine Familie, die nur aus ihm und seiner Yrmingard bestand. Doch er war für sie verantwortlich und er würde sich um sie kümmern und sie beschützen. Auch wenn er im Augenblick nicht wusste, wie er das machen sollte. Ganz zu schweigen davon, wenn in ein paar Wochen Yrmingard ihr Kind bekam! Seine Eltern hatten sich wirklich den dümmsten Moment ausgesucht, um zu sterben und ihn mit dem Hof und seinem Leben alleine zu lassen.
Der junge Bauer vertrieb die trüben Gedanken und setzte wieder sein jugendliches – und wie er hoffte verkaufsförderndes – Lächeln auf. Es hatte seit Tagen nicht geregnet; der Lehmboden am Saaleufer war trocken und fest. Und so herrschte reges Treiben am Fuße des Hügels, von dem aus eine kleine Kirche – der ganze Stolz der Rekkenzer – auf den Markt herab blickte. Arnulf hoffte, zwei oder drei Hühner an den Mann zu bekommen. Yrmingard war zwar strikt dagegen, die Tiere selbst zu verkaufen, aber nur mit den Eiern nahm er nicht genug ein. Und sie brauchten auf dem Hof dringend Rüben, Kohl, Bohnen und Nüsse. Die Lage war ernst. Letztes Jahr hatte ein Fuchs mehr als die Hälfte ihrer Hühner gerissen, die Ernte war schlecht ausgefallen und der Winter war streng gewesen. Auch wenn es ihn schmerzte, blieb ihm gar keine andere Wahl, als die Hühner zu verkaufen. Und dann würde er schon sehen, wie es weiterging. Schließlich lag der Großteil des Jahres noch vor ihm. Im Gegensatz zum Markt war es im Hühnerverschlag still. Die Vögel saßen darin und glotzten durch die Streben heraus, als wären sie selbst neugierig, was auf sie zukam. Doch plötzlich änderte sich die Stimmung – im und außerhalb des Verschlags. Von einem Augenblick auf den anderen begannen die Tiere aufgeregt zu gackern, schlugen mit den Flügeln und hackten wahllos mit den Schnäbeln um sich. Dafür kehrte unter den Menschen eine merkwürdige Stille ein. Das Stimmengewirr flaute ab und verstummte schließlich ganz. Nur gelegentlich wurde die Stille von vereinzeltem Murmeln und Flüstern durchbrochen. Und immer wieder war es ein Wort, das Arnulf herauszuhören glaubte: »Hella.« Ihm fiel auf, dass die Augen aller Marktbesucher in eine Richtung gewandt waren. In ihren Gesichtern lag … Ja, was? Furcht? Auch Arnulf sah in diese Richtung und entdeckte eine Frau, die gerade über die Saalebrücke kam. Sie schien älter als die meisten Menschen auf dem Markt zu sein. Fünfzig Jahre, vielleicht sogar sechzig. Womöglich lag er aber auch völlig daneben. Er war noch nie besonders gut darin gewesen, das Alter von Leuten zu schätzen.
An einem Strick führte sie einen Esel zum Markt, der einen kleinen Wagen zog. Um die Füße der Frau strich fortwährend eine fette, gelbe Katze. Auf dem Gesicht der Frau lag ein freundliches Lächeln. Sie trug eine dunkelblaue Tunika, die in Hüfthöhe von einem schmalen Ledergürtel eingeschnürt war. Ihre grauen, aber noch vollen Haare flossen ihr über die Schultern. War das Hella? Vermutlich. Für ihr Alter war sie eine wahre Augenweide und Arnulf musste sich eingestehen, dass diese Frau ihn auf eine Weise reizte, wie er es bisher nur von Yrmingard gekannt hatte. Sie hatte eine Ausstrahlung, die seine Lenden in Wallung versetzte. Sollte tatsächlich sie es sein, vor der sich die Bauern fürchteten? Aber wieso? Sie sah nicht so aus, als könnte sie jemandem etwas tun. Oder gab es da noch etwas anderes? Als Hella den Markt samt Esel und Katze betrat, bemerkte Arnulf, dass einige der Marktbesucher noch immer in die Richtung starrten, aus der sie gekommen war. Zum Waldrand jenseits der Saale? War da etwas? Noch einmal warf Arnulf einen Blick auf die schöne Hella, dann löste er ihn widerwillig von ihr und schaute ebenfalls zum Waldrand. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen. Und doch fühlte er etwas. Da, hinter der ersten Baumreihe, gerade nicht mehr sichtbar, aber dennoch deutlich spürbar, lauerte jemand. Eine dunkle, bedrohliche, böse Präsenz. Schlagartig verschwand das Drängen seiner Lenden. Dafür überkam ihn der dringende Wunsch davonzulaufen. Einfach alles liegen und stehen zu lassen und zu rennen, rennen, rennen, bis er diese widerliche Kreatur jenseits der Bäume, wenn es denn überhaupt ein Lebewesen war, nicht mehr spüren konnte. Er schüttelte sich, als hätte ihn jemand mit kaltem Wasser übergossen. Was für ein Unsinn! Wo kamen nur diese dummen Gedanken her? Natürlich konnte und würde er niemals die Hühner zurücklassen. Und wovor sollte er denn fliehen? Da war nichts! Er hatte sich nur von der plötzlich umgeschlagenen Stimmung der Menschen anstecken lassen. Ja, genau so musste es gewesen sein.
Gerade ging Hella zu einem dünnen, glatzköpfigen Mann, der gepökeltes Schweinefleisch verkaufte. Er zuckte zusammen, als sie ausgerechnet bei ihm stehen blieb. Das konnte Arnulf selbst von der anderen Seite des Marktplatzes erkennen. Sie zeigte auf drei besonders große Stücke, ohne dass das Lächeln aus ihrem Gesicht wich. Der Glatzkopf nickte und trug das Fleisch zu ihrem Wagen. Hella ging weiter zum nächsten Händler – ohne zu bezahlen, ohne jegliche Gegenleistung. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Vielleicht war es das ja sogar. Als Hella ihm den Rücken zuwandte, sank der Glatzkopf auf einen dreibeinigen Schemel und schlug die Hände vors Gesicht. Unhörbares Schluchzen ließ seinen dürren Körper erbeben. Hella setzte die ihr eigene Art eines Einkaufs fort. Sie erwarb, nein: Sie stahl Schafswolle, Geschirr und Messer, geschlachtete Hasen und Enten, Rüben und Kräuter. Und nicht ein Händler, nicht ein Bauer, nicht ein Dorfbewohner leistete Widerstand. Mehr noch, sie alle schienen begierig darauf zu sein, Hellas Wünsche zu erfüllen. Arnulf hatte den Eindruck, als wollte jeder vermeiden, Hellas Unmut auf sich zu ziehen. Nicht einmal Brunhild begehrte auf. Arnulf hatte sie in den letzten Stunden als resolutes Weib kennengelernt, vor der selbst die stärksten Männer kuschten. Doch als Hella zu ihr kam und ihren fünfzehnjährigen Sohn Winfried von oben bis unten musterte, stand sie nur regungslos da. Hella öffnete Winfrieds Mund und betrachtete seine Zähne. Brunhild schaute nur zu. Hella fühlte Winfrieds Muskeln an den Armen, den Schultern, den Beinen. Brunhilds einzige Bewegung war das Senken des Kopfes. Hella hob Winfrieds graue Tunika und begutachtete den Inhalt der Hose. Brunhild mahlte mit den Kiefern – und lächelte. Hella nickte Brunhild zu. Diese führte ihren Sohn zu Hellas Wagen und sah zu, wie er sich darauf setzte. Arnulf war fassungslos. Was war nur mit all den Menschen los? Warum ließen sie Hella einfach gewähren. Warum? Noch während ihm die Gedanken durch den Kopf jagten, stand Hella plötzlich auch vor ihm. Aus der Nähe wirkte ihr Lächeln allerdings gar nicht
mehr freundlich. Es war abschätzig, hochmütig und selbstsicher. »Sei gegrüßt.« Ihre Stimme war süß und zart wie Honig. »Du musst Arnulf sein, Rainulfs Sohn.« »Du kennst meinen Namen?« Arnulf war entsetzt, als er hörte, wie zittrig er klang. Hella gab ein glockenklares Lachen von sich. »Natürlich kenne ich deinen Namen, Dummkopf. Ich kenne alle hier in Rekkenze. Und in der Umgebung. Mein aufrichtiges Mitgefühl zum Ableben deiner Eltern. Sie waren gute Menschen.« »Danke«, würgte Arnulf hervor. »Obwohl ich es Rainulf durchaus verübeln könnte, dass er mir so ein hübsches Bürschchen wie dich jahrelang vorenthalten hat.« Vorenthalten? Hatte sein Vater ihn deshalb nie auf den Markt mitgenommen? Aus Angst, dass eines Tages Arnulf auf dem Wagen sitzen könnte, wie es jetzt Winfried tat? Sie kniff ihn in die Wange und zwinkerte ihm zu. »Vielleicht werde ich nächstes Mal von dir kosten. Doch jetzt erst einmal zum Geschäft. Ich möchte zwanzig Eier und die rote Henne dort.« Nein, dachte er und fühlte die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens. Dennoch öffnete er den Mund, riss sich zusammen und sprach das eine, alles entscheidende Wort auch aus: »Nein.« Die fette, gelbe Katze zu Hellas Füßen fauchte ihn an. Ein stummer Aufschrei ging durch die restlichen Marktbesucher. Die meisten Augen weiteten sich entsetzt. Manche begannen miteinander zu tuscheln, andere gaben ihm eindeutige Zeichen: Bist du wahnsinnig? Tu, was sie sagt! »Sei still, Johann!«, befahl sie der Katze, die also offenbar ein Kater war. Denn wandte sie sich wieder Arnulf zu. »Nein?« Ihre Stimme hatte nichts von ihrer Süße verloren. Sie wirkte aufrichtig überrascht. »Hat dir dein Vater nie von mir erzählt? Hat er dir nie gesagt, dass es ausgesprochen dumm ist, meine Wünsche nicht zu erfüllen?« »Nein, hat er nicht.« Arnulf schien neben sich zu stehen. Er war nicht mehr Teil des Gesprächs, sondern hörte sich selbst nur dabei zu, ohne eingreifen zu können. Im Hinterkopf schrie die Stimme der Vernunft, er solle sich nicht gegen Hella stellen, er solle ihr gefügig
sein. Es war dieselbe Stimme, die ihm vorhin zur Flucht vor dem geraten hatte, was da im Wald lauerte. Und das sollte die Stimme der Vernunft sein? Nein, niemals! Es war die der Angst, die des Aberglaubens. Nun lächelte auch Arnulf. »Es tut mir schrecklich leid. Ich würde dir gerne die Eier und die Henne geben …« Lügner! »… aber ich kann es nicht tun. Wir wissen so schon nicht, wie wir über die Runden kommen sollen. Unser Überleben hängt davon ab. Bitte hab Verständnis dafür.« »Euer Überleben, soso. Deines, das deiner kleinen Yrmingard und das eures ungeborenen Kindes. Soso. Verstehe.« Sie betrachtete Arnulf einige Sekunden lang, ohne dass das Lächeln auch nur einmal flackerte. »Na, wenn das so ist. Komm, Johann, lass uns nach Hause gehen.« Ein Schauer der Erleichterung rieselte über Arnulfs Rücken. Das ging ja leichter als gedacht. Auch in den Gesichtern der Dörfler lag ungläubiges Staunen. Hella ging zu ihrem Esel und hieb mit der flachen Hand auf sein Hinterteil. Dann griff sie nach der Schnur und führte ihn vom Markt. Noch einmal sah sie über ihre Schulter und warf Winfried auf ihrem Wagen einen strahlenden Blick zu. »Jetzt kümmere ich mich erst mal um den einen. Wenn ich mit dem fertig bin, werde ich mich dem anderen widmen.« Die Erleichterung verpuffte. Arnulf war sich sicher, dass mit dem anderen er gemeint war. Er wusste nicht, was sie damit sagen wollte, aber …
… aber er hatte Angst vor ihren Worten und vor den Taten, die sie ihnen folgen lassen würde. Oh, wie hat er seinen Widerstand bereut, als er bei mir vorsprach. Wie bitterlich hat er geweint! Wie sehr hätte er gewünscht, seinen Fehler ausgleichen oder gar ungeschehen machen zu können. Und wie sehr geht es mir nun genauso! Für heute werde ich schließen. Meine alten Finger schmerzen und meine Schrift wird immer unleserlicher. Doch morgen werde ich fortfahren, denn
es bleibt noch so viel zu berichten und nur so wenig Zeit! (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
Plötzlich wurde es dunkel. Die schwarzen Gewitterwolken fraßen das Licht der Nachmittagssonne und versenkten das Kinderzimmer in schummrigem Dämmer. »Was ist denn jetzt?« Sara Vogt sah von ihrer Barbie auf, mit der sie gerade ausprobieren wollte, wie viele Outfits übereinander sie ihr anziehen konnte. Sie saß im Schneidersitz inmitten der Puppenkleider, die auf dem Boden verstreut lagen. Opa grunzte, legte Ken hin, der Barbies Experiment aufmerksam beobachtet hatte, und rutschte ein paar Zentimeter näher zu seiner Enkelin. »Das ist nichts weiter. Der liebe Gott hat nur das Licht ausgeknipst.« »Echt? Warum macht der denn so was?« Draußen begann es zu heulen und zu rauschen, als ritten wütende Geister ums Haus. Regen trommelte mit spitzen Fingern an die Fensterscheibe. Oder war es etwas anderes, das herein wollte? »Tja, warum macht der so etwas? Das ist nämlich so …« Da überflutete ein Blitz für einen Augenblick wieder den Raum. Beinahe im selben Moment erschütterte ein peitschender Knall das Gebäude und riss Opa die Worte von den Lippen. Sara stieß ein spitzes Kieksen aus und warf sich in Opas Arme. »Schschsch.« Der Großvater strich Sara über die Haare. »Keine Aufregung. Das ist auch nur der liebe Gott. Der hat seine Engel …« »Sag bloß nicht, dass sie gerade Bierfässer in den Keller rollen. Das hat Mama erzählt, aber ich glaub's ihr nicht.« »Warum denn nicht?« »Na, weil's im Himmel keinen Keller gibt.« Sara kuschelte sich noch fester an ihren Opa und schaute ihn altklug an. »Und irgendwie glaub ich nicht, dass man dort Bier trinkt.« »Da hast du Recht, Süße. Natürlich würde ich dir nie so einen Quatsch erzählen. Das sind typische Geschichten von Mamas, die ihre Kinder beruhigen wollen. Weil ich keine Mama bin, kann ich dir die Wahrheit sagen, wenn du willst. Die ist aber echt nicht
schön, und ich weiß nicht, ob du schon alt genug …« »Jetzt sag!« »Na gut. Auf deine Verantwortung. Aber das bleibt unter uns, ja?« Das Mädchen nickte. Ihre großen Augen leuchteten vor Aufregung. »Also, der liebe Gott hat seine Engel gebeten, Bohneneintopf für alle zu kochen. Weil Engel in Wirklichkeit aber keine Bohnen essen, hat der liebe Gott alles alleine aufgefuttert. Na ja, und du weißt ja: Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen.« »Iiieeehhh! Das ist ja eklig.« Sara kicherte und trommelte mit den Händen auf Opas Brust. In einer Unschuldsgeste hob Opa die Hände. »Hey, ich hab dich gewarnt. Du wolltest es wissen.« Dann senkte er die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »Deshalb hat er auch das Licht ausgeknipst. Es wäre ihm nämlich peinlich, wenn seine Engel bemerken, dass er das ist.« Der Regen prasselte immer heftiger gegen die Fensterscheibe. Konnte er eigentlich so stark werden, dass er das Fenster einschlug? Und wenn der Wind doch reitende Geister waren, konnten die dann herein? »Ich hab trotzdem Angst, Opa.« »Was hältst du davon, wenn ich einen großen Dunkelheit-Verschwindibus-Zauber mache, wie ihn nur die besten Opas der Welt können?« »Au ja, bitte.« »Super. Dazu muss ich aber zum Lichtschalter gehen. Wir machen das so: Du bleibst hier und behältst das Fenster im Auge. Ich geh zum Lichtschalter und verscheuche die Dunkelheit mit meiner Magie.« »Das ist doch keine Magie. Das ist Elektrität!« »Dir kann man aber auch gar nichts vormachen.« Der Großvater grinste Sara an, stand auf und ging zur Kinderzimmertür. »Aber eins, meine Kleine: Das Wort heißt Elektizität! Hugh, Opa Oberschlau hat gesprochen.« Sara sah im Halbdunkel, wie er die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte und plötzlich mitten in der Bewegung verharrte. Dann
fuhr er auf der Stelle herum, knallte mit dem Rücken gegen die Tür und griff sich an die Brust. So, wie er es immer tat, wenn er seine Lesebrille suchte. Das Mädchen ahnte, dass es diesmal einen anderen Grund hatte, wenn sie auch nicht wusste, welchen. Irgendwie sah es diesmal anders aus. »Opa? Was ist denn?« Ein erneuter Blitz verjagte für wenige Sekunden das Halbdunkel aus dem Kinderzimmer und tauchte die Szenerie in ein unstetes, zuckendes Licht. Opas Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Er schien noch etwas zu sagen, aber Sara konnte ihn nicht hören, weil der einsetzende Donner alles übertönte. Seine Miene war eine Mischung aus Lachen und Weinen. Er streckte seinen Arm wieder aus, diesmal aber nicht nach dem Lichtschalter, sondern nach Sara. Die Finger öffneten und schlossen sich, wieder und wieder, als wolle er nach seiner Enkelin greifen. In seinem Blick lagen Flehen und Traurigkeit. Sara begann zu weinen. »Hör doch auf! Du machst mir Angst!« Wie in Zeitlupe glitt er an der Tür nach unten. Kaum berührte er den Boden, erlosch die flackernde Blitzbeleuchtung. Nur der Donner grollte noch einige Momente weiter. Dann verstummte auch er. Nun war das Trommeln des Regens, das Klopfen der spitzen Finger das einzige Geräusch im Raum. »Opa?« Sie bekam keine Antwort. Opa saß auf dem Boden, an die Kinderzimmertür gelehnt, und rührte sich nicht. »Opa? Sag doch was? Soll ich meine Barbie weiter anziehen?« Immer noch gab er keine Antwort. War er böse auf sie? Hatte sie etwas falsch gemacht? Der nächste Blitz! Schlagartig schien der Raum in bleichen Flammen zu stehen. Nun konnte Sara ihren Großvater deutlich sehen. Seine Augen waren aufgerissen und starrten ins Leere, ohne zu zwinkern. War das ein neues Spiel? Wer kann am längsten die Augen offen halten, ohne blinzeln zu müssen? Doch Sara wusste genau, dass Opa nicht spielte. Sein Kopf lag schräg auf der Schulter. Die Hand, mit der er nach ihr hatte greifen
wollen, war in Brusthöhe in seine Strickjacke verkrallt. Irgendwie erinnerten sie seine Haltung, sein Gesicht, seine Augen an Benny. Benny war der Hund der Nachbarn gewesen. Ein kleiner, schwarzer mit so einem lustig wackelnden Schwanz. Sara und Conny, die Nachbarstochter, hatten oft mit ihm gespielt. Aber Benny war alt und eines Tages hatten sie ihn im Garten gefunden. Er hatte sich nicht mehr bewegt und auch nur ins Leere geschaut. So wie Opa! Connys Mama hatte ihrer Tochter erklärt, dass Benny an einen Ort gegangen sei, an dem er den ganzen Tag fressen oder Katzen jagen konnte, wenn er wollte. In den Hundehimmel zu den Engeln. War Opa auch im Hundehimmel? Nein, das konnte Sara sich nicht vorstellen. Aber vielleicht bei den Engeln! Da entdeckte Sara noch etwas anderes. Im Licht des Blitzes sah sie vor sich ihren Schatten. Und sie sah den von Opa, der auf sie zuglitt! Hektisch krabbelte sie zu ihrem Bett und kletterte hinauf. Ihr war ganz unheimlich zumute. Als sie wieder auf den Boden schaute, war von dem Schatten nichts mehr zu sehen. Der Blitz erlosch und machte die Bühne frei für seinen Kumpel Donner. Auch der verklang irgendwann. Dann war nur noch das Anklopfen des Regens zu vernehmen. Und das Kratzen an der Fensterscheibe! Saras Herz schlug ihr bis in die Kehle, als sie es hörte. Was war das? Sie rutschte ein Stück zurück und drückte sich gegen die Wand. Mit einer Hand packte sie Fanny, ihre Zopfpuppe, mit der anderen zog sie die Bettdecke bis ans Kinn. Aus tränenüberfluteten Augen linste sie zum Fenster. Ein ersticktes Japsen drang aus ihrem Mund. Dort am Fenster war etwas! Eine große, knochige Hand schabte über die Scheibe. Pochte mit spitzen, toten Fingern gegen das Glas. Tock! Tock! Waren da nicht auch Stimmen im Wind? Stimmen, die nach ihr riefen? Sara! Tock! Tock! Mach das Fenster auf. Tock! Tock!
Lass uns rein. Tock! Das Mädchen zog die Bettdecke noch etwas höher, sodass nur noch die Augen hervor lugten. Langsam ließ der Regen etwas nach und die Lichtlanzen durchbohrten die Gewitterwolken an immer mehr Stellen. Auch im Kinderzimmer wurde es wieder heller. Doch das Kratzen und Klopfen blieb, wurde eher noch drängender. Tock! Tock! Nun mach schon und lass uns rein! »Hilf mir doch, Opa!« Aber Opa half ihr nicht. Stattdessen starrte er sie aus gruseligen Augen an. Grinste er nicht sogar? Nicht das freche Grinsen, das er Sara sonst immer geschenkt hatte, sondern ein böses, hinterhältiges! Solange die Stimmen draußen waren und sie hier drin, war alles gut. Niemand würde ihr etwas tun. Niemand. Und wenn Opa nun plötzlich aufstand, mit seiner verkrümmten Hand nach ihr grapschte und seinen Schatten wiederhaben wollte? Nein! Opa war im Himmel bei den Engeln. Der tat ihr nichts. Außerdem hatte sie seinen Schatten gar nicht. Der war irgendwo anders im Zimmer verschwunden. Aber wie konnte Opa im Himmel sein, wenn er doch an der Tür lehnte und sie angrinste? Sara konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Unter der Bettdecke zog sie die Beine an die Brust und schluchzte. Wenn Mama doch nur zu Hause wäre! Aber sie war in der Arbeit und durfte nur gestört werden, wenn etwas wirklich ganz Dringendes … Oh, wie blöd! Das war doch dringend! Ganz, ganz sehr dringend sogar. Sie brauchte nur hinunter in die Diele zu gehen und auf dem Telefon die beiden Knöpfe zu drücken, die Mama ihr gezeigt hatte. Wieder schielte sie hinüber zu ihrem Großvater, der die Tür blockierte. Sie schniefte und kroch unter der Decke hervor. Dann rutschte sie auf dem Bett nach vorne und streckte den Fuß aus. Doch bevor der den Boden berührte, schoss ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Opas Schatten! Was war, wenn der sich unter dem Bett versteckte? Hastig zog sie den Fuß zurück und verkroch sich wieder unter der
Decke. Was sollte sie denn nur tun? Ihr Blick irrte durch das Zimmer. Stand der Schrank nicht einen Spaltbreit offen? Waren da nicht zwei gelbe Augen, die sie beobachteten? Versteckte sich der Schatten vielleicht dort und nicht unter dem Bett? Hatte er die Augen aufgemacht, weil er nach ihr suchte? Da klopfte es wieder an die Scheibe. Tock! Tock! Lass uns rein. Sara öffnete den Mund und wollte schreien, doch kein Laut kam hervor. Dann endlich nahm sie all ihren Mut zusammen, fegte die Decke zur Seite, sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Zu ihrem toten Großvater. Doch es war zu spät! Die Schranktür flog auf und krachte gegen die Wand. Heraus stürzte der Schatten und ringelte sich um Saras Knöchel. Sie stürzte auf den Teppich. Ihre Hände tasteten hilflos umher, wollten sich irgendwo festklammern, doch sie fanden nichts außer einer eigenwillig angezogenen Barbie. Der Schatten zerrte sie auf den Schrank zu, kroch weiter an ihrem Bein hoch, zerrte und kroch, kroch und zerrte, schlang sich um den Körper, um den Kopf und quoll ihr in den Mund, als sie ihn zu einem weiteren stummen Schrei öffnete. Eine unglaubliche Hitze pulsierte durch ihren Leib. Der Schatten fraß sie, verbrannte sie und zerrte die blutigen Überreste in den Kleiderschrank, wo sie … … um sich schlagend erwachte. Saras Herz raste in der Brust. Sie war nicht im Kleiderschrank, sondern lag im Bett. Das Kopfkissen war klatschnass geschwitzt. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich orientieren konnte und ihr die Erinnerung an den Traum entglitt. Natürlich lehnte Opa nicht mehr an der Tür. Ein netter Arzt hatte ihn abgeholt, vor ein paar Tagen schon, und ihn wahrscheinlich in den Himmel gebracht, wo er mit den Engeln Bohneneintopf kochte. Wahrscheinlich ging es ihm jetzt gut. Hoffentlich stritt er nicht mit Oma. Heiß war Sara aber immer noch! Ganz fest drückte sie Fanny an sich. Dann rief sie nach ihrer
Mama. Am besten war, wenn sie noch mal kam und ihr ein Lied sang.
2. Fuchs, du hast die Gans gestohlen Ganz, wie es dem gängigen Klischee entsprach, saßen vor Christina Fincks Krankenzimmer zwei uniformierte Polizisten und passten auf. Dabei ging es sicherlich ebenso darum, ihre Flucht zu verhindern und die Bevölkerung vor ihr zu schützen, wie auch darum, sie vor dem Zorn der aufgebrachten Bevölkerung zu bewahren. Zamorra hasste Krankenhäuser und dieses bildete dabei keine Ausnahme. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, Krankheit und Tod war allgegenwärtig und stieg ihm nicht nur in die Nase, sondern drang auch in jede Faser seiner Kleidung. Eau d'hôspital! Krankenschwestern und Ärzte wuselten durch die Gänge, umkurvten Patienten in Bademänteln, die mit ihrem fahrbaren Tropf vor sich hin schlurften, kritzelten hektische Krakel in die Kladden mit den Patientenakten, diskutierten in Fachchinesisch über Blinddarmdurchbrüche, Magengeschwüre und Sehnenscheidenentzündungen und erweckten den Eindruck, als wären sie für die Genesung der ganzen Welt verantwortlich und deshalb furchtbar in Eile. Kommissar Saal ging an Zamorras Seite auf die uniformierten Kollegen zu. Er plauderte ein paar Worte mit ihnen, öffnete die Tür und ließ den Professor eintreten. Der ging zwei Schritte in den Raum und blieb stehen. »Hier gibt es ja nicht einmal ein Fenster!« Saal schloss die Tür. »Natürlich nicht. Deshalb eignet sich dieses Zimmer so hervorragend für Polizeizwecke. Gut, die Aussicht ist etwas eingeschränkt, die Fluchtmöglichkeiten dafür aber auch! Außerdem kann kein selbst ernannter Dark Knight im Batman-Stil auftauchen und eine Kugel durchs Fenster jagen.« Na, das würde Batman auch nicht tun, dachte Zamorra, trat neben das Bett und sah auf Christina Finck herab. Um den Kopf trug sie einen Verband, genauso wie um den rechten Arm. Die Schrammen und Blutergüsse in ihrem geschwollenen Gesicht schillerten in den buntesten Farben und verzerrten ihre Züge ins Groteske. Die Son-
den an den Schläfen und auf der Brust, die mit einem gleichmäßig piependen Monitor verbunden waren, und die Arm- und Beinschlaufen, die sie ans Bett fixierten, erweckten in Zamorra eine makabere Assoziation mit einem zu klein geratenen Frankenstein-Labor samt Monster. Das Unheimlichste aber waren Christinas Augen: Geöffnet blickten sie starr an die Decke. Nur gelegentlich zwinkerte sie und dann wirkte es eher wie ein flüchtiges Flattern der Lider. Das Augenweiß war überzogen von einem dichten, feinen Netz geplatzter Äderchen. »Woher stammen ihre Verletzungen?« »Von den Leuten, die sie mit Gewalt von dem Kameramann herunter gezerrt haben.« Ein grauhaariger, hagerer Mann in weißem Kittel betrat den Raum. Das Schildchen an seiner Brust wies ihn als Dr. Folkert aus. Er nickte Saal zu, den er offenbar schon kannte, und sah zu Zamorra. »Das ist Professor Zamorra aus Frankreich«, sagte Saal. »Ein Professor aus Frankreich? Trauen Sie uns hier nichts zu?« Zamorra hob abwehrend die Hände und lächelte. »Nein, nein. Ich bin kein Arzt. Ich bin ein Para…« »Ein Paradebeispiel für internationale Beziehungen«, fiel Saal ihm ins Wort. »So eine Art … äh … Schüleraustausch für Polizisten.« Dr. Folkert nickte. »Ich verstehe.« Seine gerunzelte Stirn behauptete das Gegenteil. »Und was kann ich für Sie tun, Herr Professor?« »Zunächst einmal können Sie mir erzählen, was ihr fehlt.« »Um ganz ehrlich zu sein, kann ich das nicht. Natürlich hat sie oberflächliche Verletzungen, wie Sie sehen, die sind aber nicht tragisch, auch wenn sie recht gefährlich erscheinen. Aber ansonsten sind wir ratlos. Weder für ihren apathischen Zustand noch für die Blutungen aus Ohren, Nase und Augen gibt es bislang eine medizinische Erklärung.« »Hat sich ihr Zustand seit der Einlieferung ins Krankenhaus verschlechtert? War sie zwischendurch ansprechbar?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Absolut nicht. Ihre Reflexe arbeiten einwandfrei, aber ansonsten reagiert sie auf keinerlei Reize. Entschuldigen Sie den unprofessionell klingenden Vergleich, aber sie ist
so leer wie ein verlassenes Haus. Das Licht brennt zwar noch, aber es ist niemand mehr daheim.« Ganz so unprofessionell klingt das nicht, dachte der Dämonenjäger. Eher nach den Worten von jemandem, der versuchte, ein spirituelles Problem zu beschreiben, ohne zu wissen, dass er von einer Realität spricht. Der ein oder andere Bibelvers kam ihm in den Sinn. Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht. Dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er's leer, gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt mit sich sieben andre Geister, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie darin; und es wird mit diesem Menschen hernach ärger, als es vorher war. Er kannte die Verse auswendig. Schon lange. Schon seit seinem ersten Semester, das er als Student der Parapsychologie bei Professor Hans Bender verbracht hatte. Handelte es sich bei Christiana Fink tatsächlich um eine besondere Art der Besessenheit? War ihr eigener Geist, ihr Bewusstsein, von einer dämonischen Macht verdrängt, die wie ein Dybbuk in ihr kauerte? Folkert erklärte Zamorra und Saal minutenlang die Befunde. Er bemühte sich, weitestgehend auf Fachsprache zu verzichten, ab und zu rutschten ihm aber doch ein paar Brocken Ärztelatein heraus. Egal, wie verständlich seine Ausführungen waren, egal wie beeindruckend die vereinzelten Fachbegriffe klangen, am Ende blieb eine nüchterne Aussage: Die Mediziner standen vor einem Rätsel! Wenig später meldete sich Dr. Folkerts Piepser. Der Arzt warf einen flüchtigen Blick auf die Anzeige. »Brauchen Sie mich noch?« »Nein, danke. Wir kommen schon klar. Wenn noch etwas ist, wissen wir ja, wo wir Sie finden können.« Als Dr. Folkert das Krankenzimmer verlassen hatte, grinste Zamorra den Kommissar an. »Es lebe der Erfinder des Piepsers. Ich hatte schon krampfhaft überlegt, wie ich den guten Doktor hinaus komplimentieren könnte.« Saal rückte die Brille zurecht. »Warum? Er ist doch nett.« »Da haben Sie Recht, Frank. Aber wenn Sie schon nicht wollten, dass er erfährt, dass ich Parapsychologe bin, dann wollen Sie ihn bei dem, was ich als Nächstes vorhabe, vermutlich erst recht nicht dabei
haben.« »Und das wäre?« »Hypnose!« Zamorra setzte sich auf den Bettrand neben die Patientin und bewegte den ausgestreckten Zeigefinger langsam vor ihren Augen hin und her. Es machte jedoch nicht den Eindruck, als nehme sie ihn zur Kenntnis. Der Kommissar zog sich den einzigen Stuhl heran, drehte ihn und setzte sich breitbeinig so darauf, dass er sich mit den Armen auf der Rückenlehne abstützen konnte. »Hypnose? Wie soll das funktionieren, wenn sie Sie überhaupt nicht wahrnimmt?« »Dass es klappt, kann ich nicht garantieren. Aber ich werde die Hypnose magisch unterstützen. Vielleicht ist das Haus nicht so verlassen, wie Dr. Folkert glaubt. Um im Bild zu bleiben: Wenn doch jemand daheim ist, versteckt er sich vielleicht nur im Wandschrank.« Zamorra klopfte mit dem Zeigefinger leicht auf Christinas Stirn, dann bewegte er ihn weiter hin und her. »Ich versuche, Christina dort drinnen zu finden.« »Magisch unterstützen, ja?« Saal verzog das Gesicht, als hätte er an Essig genippt. »Mit Zauberspruch aufsagen und so.« »So ungefähr. Warum klingen Sie so skeptisch, Frank? Schließlich haben Sie Pierre doch deshalb gebeten, mich herzuschicken.« Saal gab etwas von sich, das wie ein Laut des Missmutes klang, genauso gut aber ein völlig unverständlicher Dialektbrocken sein konnte. »Ich habe Sie angefordert, weil Robin mir Wunderdinge über sie erzählt hat und ich mir keinen anderen Rat mehr wusste. Meine Hoffnung war, dass Sie als Parapsychologe genug Erfahrung aufweisen, um eine natürliche Erklärung für das zu finden, was passiert ist. Etwas Handfestes, verstehen Sie? Kein Hokuspokus.« Er schnippte mit den Fingern. »Schnickschnack.« Zamorra lächelte. »Magie ist handfester, als Sie glauben. Jetzt wäre ein idealer Zeitpunkt für Sie umzudenken.« »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass in diesem Körper noch etwas von Christina Finck steckt? Glauben Sie, sie wird Ihnen erzählen, warum sie ihren Mann ermordet hat? Die Frau ist wahnsinnig geworden! Was erwarten Sie also?«
»Ich habe auf Ihrer DVD eine Frau gesehen, die ihren Mann liebte. Für die diese Hochzeit der schönste Tag in ihrem Leben war. Die mit der Sonne um die Wette gestrahlt hat. Und die einen Schatten hatte. Doch plötzlich kippte die Situation. Ihr Schatten kam ihr abhanden, sie begann zu bluten und ging auf ihren Mann los. Sind diese drei Ereignisse die Folgen einer gemeinsamen Ursache? Oder ist eines davon selbst die Ursache für die anderen zwei?« Zamorra hielt einen Augenblick inne. »Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass es etwas Schwarzmagisches, etwas Dämonisches ist.« »Sie meinen, sie ist … äh … besessen?« »Zumindest keine normale Besessenheit, sonst läge sie nicht so ruhig da. Aber irgendetwas ist da, eine Art … geistige Vergewaltigung, wenn Sie so wollen. Der Schock darüber ist so groß, dass sich ihr Bewusstsein verkrochen hat.« »Ach so.« Die beiden Worte zeigten überdeutlich, dass Saal nicht die geringste Ahnung hatte, wovon Zamorra sprach – ganz zu schweigen davon, dass der Kommissar ihm ohnehin nicht glauben wollte. »Es muss einen Grund dafür geben. Und den werde ich herausfinden.« Der Meister des Übersinnlichen ließ weiterhin den Finger vor Christina Fincks Augen hin und her gleiten. Zusätzlich murmelte er aber auch einen Zauberspruch, der ihr Bewusstsein aus seinem Versteck locken sollte. Mit der anderen Hand griff er ihr linkes Handgelenk so, dass Zeige- und Mittelfinger auf der Schlagader lagen. Sicher war sicher. Eine Minute verging. Zwei. Zamorra hoffte, dass Christinas Blick in die Bewegung seines ausgestreckten Fingers einrasten und ihr folgen würde. Doch das geschah nicht. Sie starrte weiterhin geradeaus. Drei Minuten. Vier, fünf. Zu Zamorras Erstaunen blieb Saal ganz ruhig auf seinem Stuhl sitzen und rührte sich nicht. Eigentlich hätte er erwartet, dass der Kommissar irgendwann die Lust verlor und einen kritischen Kommentar abgab. Wie Zamorra aus dem Augenwinkel bemerkte, ver-
folgte er jedoch ganz gebannt das Geschehen. Sechs Minuten. Sieben, acht. Erste Zweifel kamen in dem Parapsychologen auf. Lag er mit seiner Theorie daneben? War Christinas Körper wirklich nur noch eine leere Hülle? Zamorra verstärkte den Zauberspruch, sprach ihn lauter und eindringlicher. Besser und wirkungsvoller wäre es natürlich mit dem Amulett gegangen, aber er trug Merlins Stern nicht bei sich. Es war gerade bei Asmodis, der das Amt seines toten Bruders Merlins übernommen hatte und das magische Kleinod einer Art Kundendienst unterzog. Auch nach zehn Minuten folgten Christinas Augen der Bewegung des Zeigerfingers noch nicht. Nach wie vor blickten sie geradeaus und … Zamorras Herz setzte einen Schlag aus. Christina schaute zwar immer noch geradeaus, aber sie blickte nicht mehr ins Leere, sondern fixierte ihn, Zamorra! Er stoppte die Bewegung und legte seine Hand auf ihre. »Können Sie mich hören?« Keine Reaktion. Oder? War da nicht ein kleines Zittern um ihre Lippen gewesen? »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.« Zamorra sprach mit leiser, weicher Stimme, die Christina ein Gefühl des Wohlbefindens vermitteln sollte. »Alles wird wieder in Ordnung kommen.« Was natürlich eine dreiste Lüge war. Sie hatte ihren Mann umgebracht … »Können Sie mich verstehen?« Sie öffnete den Mund und hauchte ein beinahe unhörbares »Ja«. »Mein Name ist Zamorra. Sie sind im Krankenhaus, wo sich alle gut um Sie kümmern.« Er drückte ihre Hand und ließ sie seine Wärme spüren. »Christina, ich möchte bitte nicht, dass Sie sich aufregen, aber es wäre sehr wichtig für uns zu erfahren, was passiert ist. Können Sie sich noch daran erinnern?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sahen dank der unzähligen geplatzten Äderchen aus wie kleine blutige Seen inmitten ihres bleichen Gesichts. Sie nickte leicht und brachte die Augen dadurch zum Überlaufen. »Möchten Sie es mir erzählen, Christina?« »Hat gerufen.« Leise, sehr leise. Und krächzend, als hätte sie mit
Nägeln gegurgelt. »Sie machen das sehr, sehr gut! Wer hat gerufen?« »Hel. la.« »Hella? Wer ist das?« »Ihr Ruf. War plötzlich da. Sie wird … wird … auch die anderen rufen.« Zamorra drückte ihre Hand fester. »Christina, wer ist Hella?« »Die anderen …« Christina bekam einen Hustenanfall. »… alle versammeln. Der Ruf wird … sie erreichen und dann …« Wieder wurde sie vom Husten durchgeschüttelt. »Ich wollte … wollte das nicht!« Ihre Stimme wurde flehentlich. »Das weiß ich!« Christinas Hand erschlaffte. »Nein! Christina, bitte bleiben Sie bei mir. Ich brauche Ihre Hilfe!« Ihre Mundwinkel zuckten und Zamorra glaubte, die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. Es konnte aber auch Einbildung sein. Das Piepen des Monitors wurde schneller. »Bitte gehen Sie nicht wieder weg, Christina. Helfen Sie uns!« Aber es war zu spät. Ihr Blick glitt wieder ins Nichts. Eine letzte Träne kullerte aus dem Augenwinkel und versickerte im Kopfkissen.
Ich habe eine schreckliche Nacht hinter mir. Das Reißen in den Fingern hielt mich stundenlang wach und wenn ich doch einmal für Augenblicke in den Schlaf fand, suchten mich Albträume heim. Wirre Bilder, die mit den tatsächlichen Geschehnissen nur gemein haben, dass sie genauso grausam, genauso unausweichlich sind. Doch waren die Schrecken in Rekkenze wirklich unausweichlich? Hätte sich etwas geändert, wenn sich Arnulf Hella nicht verweigert hätte? Oder wäre ohne seinen Widerstand alles ganz genauso gekommen? Ich vermag es nicht zu beurteilen. Meine Seele jedoch schreit nach Vergebung. Sie sehnt sich danach, Ruhe zu finden in der Erkenntnis, dass meine unrühmliche Rolle nur ein kleines, unbedeutendes Steinchen in der Felslawine war, die über Rekkenze niederging. Doch ich kann meiner Seele diesen Frieden nicht schenken, denn meine Verfehlungen wiegen schwerer als Arnulfs heißsporniger Widerstand.
Wie hätte er auch anders handeln sollen? Nach dem Tod seiner Eltern musste er mit seiner Frau Yrmingard den kleinen Hof alleine bewirtschaften, sich um die Felder, die Hühner und das restliche Vieh kümmern. Die Zeiten waren schlecht, der Verlust eines einzigen Huhnes konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Wie hätte er Hellas Forderung da nachkommen können? Er trug die Verantwortung dafür, dass seiner Familie nichts geschah. Er musste sich um ihr leibliches Wohl kümmern. Nein, ich denke, niemand kann ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er Hella vor den Kopf gestoßen hatte. Außerdem kannte er Hella nicht und ahnte nicht, welche Folgen diese Handlung nach sich ziehen könnte. Dennoch hatte er ihre letzten Worte nicht vergessen und war in tiefer Sorge. Nicht einmal Yrmingard, mit der er am nächsten Abend … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… am nächsten Abend bei einem altbackenen Stück Fladenbrot und einer wässrigen Suppe am Tisch saß, konnte ihm die Sorge nehmen. Es war unangenehm kühl im Raum; ihn fröstelte. »Du hast vollkommen Recht daran getan, sie wegzuschicken.« Arnulf rührte mit dem Holzlöffel lustlos in der Schale herum und ließ die wenigen Rübenstückchen hin und her schwimmen. »Natürlich war es richtig. Aber glaubst du, sie lässt das so einfach auf sich beruhen? Sie hat mir gedroht, als sie den Markt verließ.« Er starrte ins Holzfeuer, das den einzigen Raum des Hauses nur dürftig erhellte. Darüber hing ein schwerer eiserner Kessel, in dem der Rest der Suppe vor sich hin köchelte. Mit besorgtem Blick sah Arnulf einer Rauchschwade nach, die nach oben zog, an den Dachbalken entlang kroch und durch das Loch am Giebel entwich. »Vielleicht wollte sie dir auch nur Angst machen! Bei den Rekkenzern zeigt das offenbar Wirkung. Hast du die Leute gefragt, warum sie sich von dieser Frau so schikanieren lassen?« »Natürlich. Antwort habe ich allerdings keine erhalten. Sie haben mich nur mit einer Mischung aus Bewunderung, Abscheu und Mitleid angesehen.« Yrmingard seufzte und strich sich über den Bauch. Ihre Schwangerschaft war schon weit fortgeschritten und sie war keine große
Hilfe mehr. Zum wiederholten Male fragte sich Arnulf, wie er all die Arbeit alleine schaffen sollte. Der Markt bot eine willkommene Abwechslung, aber schon bald musste er wieder den Acker pflügen. Selbst als sie noch zu viert gewesen waren, hatten sie die anfallenden Aufgaben nur mit Mühe bewältigt. Doch jetzt? Er legte den Löffel hin. Der Appetit war ihm vergangen. »Fertig?« Yrmingard erhob sich unter Stöhnen von ihrem Hocker. Als Arnulf nickte, nahm sie seine Schale vom Tisch und schüttete die Suppe zurück in den Kessel. Bedrückte Stille breitete sich aus. Nur hinter einem Bretterverschlag konnte Arnulf das Vieh kauen und scharren hören. Neben den Hühnern besaßen sie noch zwei Schafe und sogar eine Kuh. Auch Arnulf seufzte und stand auf. »Was soll denn schon passieren?«, sagte Yrmingard. »Rekkenze liegt einen halben Tagesmarsch entfernt. Wahrscheinlich weiß diese Frau nicht einmal, wo wir wohnen.« Arnulf stieß ein humorloses Lachen aus. »Sie weiß, wie ich heiße. Sie kannte Vater. Und sie weiß sogar deinen Namen! Wie sollte sie da nicht wissen, wo unser Haus liegt?« Wie zur Bestätigung seiner Worte pochte es an der Tür. Ein Schauer lief über Arnulfs Arme. Und der lag nicht alleine an der kalten Abendluft, die durch die kleinen Fensteröffnungen blies. Er sah Yrmingard in die Augen und entdeckte darin Angst und Trotz. Draußen war es bereits dunkel und ihm fielen nicht viele Leute ein, die um diese Zeit noch bei ihm anklopfen könnten. Er atmete tief durch, straffte seinen Körper und ging zur Tür. Er öffnete sie und schaute in ein strahlendes Lächeln. Hella! Genau wie er es geahnt, nein: befürchtet hatte! Der widerlich fette, gelbe Kater, der Arnulf schon auf dem Markt aufgefallen war, saß zu ihren Füßen und glotzte ihn an. Obwohl er nur ein hässliches Tier war, jagte das raue Maunzen Arnulf ein unbehagliches Kribbeln über die Haut. »Was willst du hier?« Er klang wesentlich schroffer, als er beabsichtigt hatte. Er fragte sich selbst, ob er auf diese Art unbewusst seine Unsicherheit überspielte?
Das Lächeln in Hellas Gesicht wankte für keinen Wimpernschlag. »Na, na, na. Empfängt man so eine alte Freundin?« Sie sah frischer aus als gestern, war förmlich aufgeblüht. Ihre Augen strahlten über den rosigen Wangen. Trotz der grauen Haare und einiger Falten besaß sie an diesem Tag die Ausstrahlung einer jungen Frau. Hinter ihr stand Winfried, den Hella gestern nach einer Art demütigender Fleischbeschau vom Markt mitgenommen hatte. Nichts erinnerte mehr an den lebenslustigen Fünfzehnjährigen, den Arnulf während der beiden Markttage kennengelernt hatte; er war nur noch ein Häufchen Elend mit tiefen Ringen unter den Augen, eingefallenen Wangen und zerzausten Haaren. Seine Lider waren halb geschlossen und Arnulf fürchtete, Winfried könnte jeden Moment umkippen und zu schnarchen beginnen. Als Hella Arnulfs Blick bemerkte, wurde das Lächeln noch etwas breiter. »Früher haben die jungen Männer länger durchgehalten, wenn sie die Bedürfnisse einer Dame stillen durften. Ich möchte wetten, das wäre dir nicht passiert, mein strammer Bursche!« Arnulf kniff die Augen zusammen. »Was – willst – du – hier?« Er presste jedes einzelne Wort zwischen den Zähnen hindurch. Und nun erlosch Hellas Lächeln doch, als hätte ein Windstoß eine Kerze ausgepustet. »Na schön, du magst dich also nicht mit mir unterhalten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mich nur ganz freundlich danach erkundigen, ob du deine Meinung inzwischen geändert hast. Bist du nun bereit, mir deine rote Henne, ein Schaf und dreißig Eier zu geben?« Der junge Bauer schnappte nach Luft. »Gestern wolltest du nur das Huhn und zwanzig Eier!« »Das war gestern. Bevor du dich mir widersetzt hast.« Sie hob die Nase und schnupperte. »Und bevor ich wusste, dass du auch Schafe besitzt.« »Du weißt also doch nicht alles?«, dachte Arnulf. Lodernde Hitze stieg in ihm auf. Er ballte die Hände zu Fäusten. Was bildete dieses Weibsstück sich eigentlich ein? Tauchte einfach hier auf und stellte unverschämte Forderungen! Was wollte sie denn machen, wenn er sich wieder weigerte? Ihren Kater auf ihn hetzen? Auch wenn sie die Ausstrahlung einer jungen Frau besaß, war sie doch alt! Mit ihr
würde Arnulf selbst im Vollrausch und mit nur einem Arm fertig werden. »Nein! Ich habe meine Meinung nicht geändert. Und ich werde sie auch nicht mehr ändern.« Mit jedem Wort wurde er lauter und brüllte sie am Ende sogar an. »Nun sieh zu, dass du verschwindest. Lass dich bloß nie wieder hier sehen, bevor …« »Ruhig, Büblein, ruhig! Du brauchst nicht so zu schreien. Ich habe dich verstanden. Natürlich werde ich gehen, wenn es dein Wunsch ist.« Mit dem Kinn wies sie über ihre Schulter zu Winfried. »Außerdem muss ich das hier noch nach Hause zu seiner Mutter schaffen. Schade, dass du die falsche Entscheidung getroffen hast. Selbstverständlich schade für dich, nicht für mich. Du solltest im Laufe der nächsten Zeit damit rechnen, noch einmal Besuch zu …« Arnulf knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Als wäre sein Leben nicht schon hart genug! Sollte er sich nun auch noch mit einer offenbar Wahnsinnigen herumschlagen? Nein, dazu hatte er wahrlich keinen Nerv! Die nächsten Stunden vergingen in beklemmtem Schweigen. Schon vor Hellas Besuch war die Stimmung gedrückt gewesen, doch nun konnte man die Spannung förmlich greifen. Es dauerte lange, bis Arnulf innerlich zur Ruhe kam. Als er sich in das Stroh seiner Bettstelle am Herd legte, war das Feuer längst erloschen. Nur die noch verbliebene Glut sorgte für einen rötlichen Schein im Haus und für etwas Wärme. Yrmingard schlief schon und schnarchte leise vor sich hin. Das Baby in ihrem Bauch wölbte die dünne Zudecke. Obwohl er sich überhaupt nicht müde fühlte, versank auch Arnulf irgendwann in einem unruhigen Schlaf. Immer wieder tauchte Hella in seinem Traum auf. Mit ihrem freundlichen, gefährlichen Lächeln und ihrem gelben Kater. Hellas Augen schimmerten in giftigem Gelb. Sie öffnete den Mund, fauchte Arnulf an und hieb mit der Hand nach ihm. Auch ihre Haare waren nun nicht mehr grau, sondern so gelb wie ihre Augen. »Du hast die falsche Entscheidung getroffen«, sagte der Kater mit Hellas Stimme. Hella hockte sich auf den Boden und begann, um die plötzlich riesenhaften Tatzen des Katers zu schleichen. Immer wieder stieß sie mit dem Hinterkopf gegen seine behaarten Beine, rieb sich an seinen Flanken. Wieder öffnete sie den Mund und heraus drang ein aufge-
regtes Gackern und Blöken. »Falsche Entscheidung!« Der Kater grinste ihn hämisch an. Seine Stimme veränderte sich, verwandelte sich in die von Yrmingard. »Du musst mal nachschauen!« Dann richtete sich das Tier auf, wurde größer und größer und legte Arnulf schließlich seine Vorderpfoten auf die Schultern. Es begann, an ihnen zu rütteln und zu zerren. »Da ist etwas! Wach auf!« Nur widerwillig ließ er sich aus dem Schlaf holen. Er schlug die Augen auf, doch das Rütteln an den Schultern blieb. Genauso wie das Gackern und Blöken. Über sich sah er Yrmingard und obwohl es inzwischen fast völlig dunkel in der Stube war, entdeckte er Angst in ihren Zügen, aus der Schwärze gerissen nur durch die rötlichen Schatten der letzten Glut. »Na endlich!«, keuchte sie. »Da ist jemand bei den Tieren!« Die letzten Reste des Schlafs waren wie weggeblasen. Hella! Wer sonst als Hella konnte das sein? Sie wusste, dass sie körperlich gegen ihn nicht ankam, also hatte sie gewartet, bis sie schliefen. Und nun rächte sie sich an ihm, indem sie sich an den wehrlosen Tieren vergriff. So ein Miststück! Er sprang von der Schlafstelle auf. »Du bleibst hier!« Yrmingard nickte und kauerte sich neben einem Fass zusammen. Arnulf durchquerte die Stube und ging zu dem Bretterverschlag. Mit jedem Schritt wich seine Wut. Gleichzeitig schwand sein Selbstbewusstsein. Dafür wuchs etwas anderes in ihm: das gleiche Gefühl kopfloser Panik wie auf dem Markt, als er bei Hellas Ankunft zum Waldrand gesehen hatte. Und so sicher, wie er wusste, dass auf die Nacht der Tag folgte, war ihm auch klar, dass es nicht Hella war, die hinter dem Verschlag bei den Tieren stand, sondern jemand ungleich Gefährlicheres. Etwas Dunkles wartete auf ihn – der wahre Grund, aus dem die Rekkenzer vor der alten Frau kuschten. Bevor er das schwere Leinentuch erreichte, mit dem der Durchgang abgehängt war, ertönte noch ein anderes Geräusch, das er nicht einmal richtig beschreiben konnte: ein schrilles Kreischen, Pfeifen oder Quieken. Nichts davon traf richtig zu und doch war es eine Mischung aus allem. Die Schreie waren mehrstimmig und so hoch,
dass sie beinahe jenseits der Wahrnehmbarkeit lagen. Trotzdem übertönten sie sogar das hektische Flattern, das entsetzte Blöken und Trampeln, das aufgeregte Muhen. Arnulf blieb ratlos stehen. Er drehte sich um zu Yrmingard. Tränen liefen über ihr angstverzerrtes Gesicht. Von der anderen Seite krachte etwas gegen den Bretterverschlag und ließ ihn erbeben. Unwillkürlich fühlte sich der Bauer an letztes Jahr erinnert, als sie viele ihrer Hühner an einen Fuchs verloren hatten. Doch dies hier war noch ungleich schlimmer. Er wurde bleich und sein Herz wummerte bis in den Hals. Eisige Kälte legte sich auf seine Wangen und kroch in seinen Kopf hinein. Dennoch: Er konnte nicht zulassen, dass sie schon wieder Tiere verloren! Auch wenn das, was hinter dem Bretterverschlag tobte, vielleicht seinen Tod bedeutete – der Verlust der Tiere bedeutete ganz sicher sein Ende! Mit zitternder Hand stellte er die Kerze auf den Schemel neben dem Durchgang. Dann drehte er sich um und rannte quer durch die Stube zu Yrmingard. Er packte die Axt, die auf dem Fass lag, hinter dem sich seine schwangere Frau verkroch. Die Axt, mit der sich Arnulfs Vater letzten Winter ins Bein gehackt hatte. Die Finger der rechten Hand verkrampften sich um den Griff. »Jetzt gnade dir Gott!« Er presste die Zähne aufeinander und stapfte auf die Abtrennung zu. Noch bevor er sie erreichte, krachte wieder etwas von der anderen Seite gegen den Bretterverschlag. Diesmal kippte er um, begrub den Hocker mit der Kerze unter sich, ließ Staub und Heu aufwirbeln – und gab den Blick frei auf eine Szenerie, die aus einem Albtraum stammen musste. Arnulf konnte gerade noch zurückspringen, sonst hätte die Wand auch ihn getroffen. Er spürte noch den Luftzug im Gesicht. Mit ihm kam ein fauliger Geruch nach Blut, Exkrementen und Tod, der Arnulf in die Nase schoss und ihm den Magen umdrehte. Doch es blieb keine Zeit, die Eindrücke in sein Bewusstsein vordringen zu lassen, denn er musste der Kuh ausweichen, die auf ihn zugeschlittert kam. Sie war es gewesen, die den Verschlag umgerissen hatte. Allerdings nicht aus eigener Kraft! Jemand, etwas, ein Wesen, wie es
Arnulf noch nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen untergekommen war, hatte die Kuh dagegen geworfen. Aus dem aufgerissenen Bauch des Tiers quoll dampfendes Gedärm. Sein Schädel stand in unmöglichem Winkel vom Körper ab und glotzte Arnulf aus toten Kuhaugen an. Die Rückwand des Stalls war zerfetzt. Silbernes Mondlicht sickerte herein und umschmeichelte das Grauen aus Fleisch, Blut, Innereien und Federn mit sanftem Schein. »Neeeiiin!« Arnulf riss die Axt hoch und rannte auf die Kreatur zu, die das Blutbad angerichtet hatte. Sie war ein grob menschenähnliches … Ding, aber ein gutes Stück größer als Arnulf. Auf dem muskulösen Oberkörper thronte ein klobiger Schädel, dem aus den Schläfen wuchtige, nach unten geneigte Hörner wuchsen, die von dornigen Spitzen übersät waren. Ein Gesicht besaß dieses Monstrum nicht, nur ein riesiges lippenloses Maul. Darüber zog sich eine Knochenwulst senkrecht nach oben, über die Stirn und zwischen den Hörnern hindurch. Eine Nase, Augen oder Ohren fehlten. Aus dem aufgerissenen Maul drangen weiterhin die spitzen, beinahe unhörbaren, mehrstimmigen Schreie, die Arnulf in den Ohren schmerzten. Drei fleischige, gespaltene Zungen peitschten zwischen den speicheltriefenden Hauern hervor, als wollten sie etwas von Arnulfs Angst kosten. Und davon gab es reichlich zu schmecken! Doch all die Angst hielt den Bauern nicht auf. Mit erhobener Axt jagte er auf die Ausgeburt des Schreckens zu und ließ die Klinge mit aller Kraft auf den Schädel des Wesens niedersausen. Der Hieb kappte eine der sechs Zungenspitzen und ein Schwall schwarzen Blutes schoss hervor. Doch dann fing das Wesen Arnulfs Schlag mit spielerischer Leichtigkeit ab, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte. Ein winziger Hieb mit der anderen Klaue des Monsters besiegelte Arnulf Schicksal. Auch wenn er glaubte, die Bewegung mit dem gesamten Arm zu Ende zu führen, war es doch lediglich nur noch ein kleiner Stumpf, der nach unten sauste. Den restlichen Arm mitsamt der Axt hielt das Monster noch für einen Augenblick in den Pranken, dann warf es ihn einfach weg. Ein Bogen aus kleinen roten Blutsprenkeln glitzerte einen ewigen, zeitlosen Moment lang in bizarrer Schönheit im silbrigen Mondlicht.
Mit fassungslosem Staunen starrte Arnulf dorthin, wo sich nun nichts mehr befand außer einer blutigen Erinnerung. Warum spürte er keinen Schmerz? Wie hatte die Kreatur ihn sehen können, wo sie doch gar keine Augen besaß? Wie konnte Hella so ein schreckliches Wesen kontrollieren? Warum kam Vater nicht endlich vom Holzhacken zurück? Fragen über Fragen taumelten durch seinen geschockten Verstand und versanken in schwarzen Wolken, die ihn zunehmend umschwebten. Vater, dachte er. Vater? Der war doch tot. Tot. Schon lange. Arnulf spürte etwas Warmes im Mund. Nein, doch nicht tot. Er hielt ihn auf dem Schoß. Seine Mutter sang. Wie schön. Inmitten von Hühnerblut und Tierkadavern sank er auf die Knie. Wie durch ein dickes Tuch nahm er wahr, dass das Monster durch die Stube stampfte und der schreckensstarren Yrmingard mit einem einzigen Hieb den Leib von oben bis unten aufriss. Doch er war zu gelähmt, um ihr zu helfen. Zu gelähmt, um auch nur Entsetzen zu empfinden. Mein Kind, dachte er. Kind … bin – ich … Während seine Mutter weiter sang, kam der Gehörnte wieder zurück. Sing weiter, Mama, dachte er, damit ich sterben kann. Ein Gedanke, der jeglichen Schrecken verloren hatte. Nach all dem, was gerade passiert war, begrüßte er den Tod, sehnte ihn schon beinahe herbei. Und wurde enttäuscht! Die Kreatur beachtete ihn nicht einmal. Er musste noch ein bisschen weiterleben, und seine Mutter löste sich im Mondlicht auf. Arnulf fiel auf, dass nicht alle Tiere tot waren. Ein Schaf lebte noch, genauso wie die rote Henne. Das Letzte, was Arnulf sah, war, wie das Monster das Schaf schulterte, die Henne an den Krallen packte und durch das Loch in der Rückwand im Mondlicht verschwand. Dann wurde es dunkel um ihn, doch …
… der Tod blieb ihm verwehrt. Ich weiß nicht, warum das Monster ihn am
Leben ließ, vermute aber, dass Hella ihn durch sein Überleben härter bestrafen wollte, als sie es durch seinen Tod gekonnt hätte. Auch ist mir nicht klar, wie er die Strecke nach Rekkenze bewältigen konnte oder warum ihn der Verlust des Armes nicht das Leben kostete. Steckte Magie dahinter? Oder war es reines Glück? Doch konnte man überhaupt von Glück sprechen? War es nicht vielmehr unendliches Pech, mit solchen Erinnerungen weiterleben zu müssen? Die Bewohner von Rekkenze nahmen Arnulf bei sich auf, auch wenn er nur mehr ein Schatten seiner selbst war und mit nur einem Arm keinem von großen Nutzen sein konnte. Aber die Bauern machten sich Vorwürfe, dass sie ihn nicht vor Hella gewarnt hatten, dass sie ihm nicht von ihrem schrecklichen Diener erzählt hatten, als er sie danach gefragt hatte. Aus Schuldgefühlen heraus gaben sie ihm Nahrung und Vergorenes, dem er besonders zusprach. Bereits nach wenigen Wochen gehörte es zum alltäglichen Bild der Siedlung, dass hinter irgendeinem Haus oder unter irgendeinem Wagen die Füße des volltrunkenen Arnulf hervor ragten. (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
»Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen.« Dr. Steudinger sah auf die Anzeige des digitalen Fieberthermometers. »37,8 Grad. Erhöhte Temperatur. Nicht ungewöhnlich bei Kindern in diesem Alter. Das passiert, wenn sich der junge Organismus mit Eindringlingen auseinandersetzt und lernt, mit Krankheitserregern fertig zu werden.« Manuela Vogt nickte und strich ihrer Tochter die Haare aus der Stirn. Saras Augen waren geschlossen, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, wie Dr. Steudinger ihr das Thermometer ins Ohr gehalten hatte, so tief schlief sie. »Danke. Aber Sie wissen ja aus Erfahrung, wie Mütter sind! Sie hätten Sara heute Nacht sehen müssen, als sie nach mir gerufen hat. Völlig verschwitzt und panisch.« Manuela zögerte einige Sekunden. »Ich überlege, ob ich mit ihr zu einem Kinderpsychologen gehen soll. Nach allem, was passiert ist.« Steudinger steckte das Thermometer in seine Arzttasche und zog ein Päckchen mit Fieberzäpfchen heraus. »Die lasse ich Ihnen hier.
Das mit dem Psychologen halte ich übrigens für eine ausgezeichnete Idee.« Als Saras Kinderarzt wusste er natürlich davon, dass ihr Großvater an einem Herzinfarkt verstorben war. Und das ausgerechnet in ihrem Zimmer, als niemand anders zu Hause gewesen war. Er hatte die Tür blockiert und Sara hatte es nicht gewagt, ihn wegzuziehen. So war sie stundenlang alleine mit der Leiche ihres Opas gewesen. Mit den Rückseiten der Finger streichelte Manuela Saras Wangen. »Gestern hat sie gesagt, ihr Großvater hätte ihr seinen Schatten geschenkt, als er tot war. Dann kamen die nächtlichen Albträume und das Fieber.« Sie sah Dr. Steudinger an und lächelte. »Auch wenn es gegen Ihren ärztlichen Rat ist: Ich mache mir sehr wohl Sorgen!« »Brauchst du nicht, Mama.« Manuela sah wieder zu ihrer Tochter. Die hatte plötzlich die Augen geöffnet und wirkte kein bisschen verschlafen, gerade so, als wäre sie schon die ganze Zeit wach gewesen. »Hallo, Schatz! Na, wie geht's dir?« »Ich hab Durst.« Saras Mutter reichte ihr ein Glas Apfelsaft, das auf dem Nachttischchen stand. »Danke, Mama.« Sie trank einen großen Schluck und gab das Glas zurück. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen. Opa hat mir seinen Schatten nämlich gar nicht geschenkt.« »Nein?« Im ersten Augenblick war Manuela erleichtert, das aus Saras Mund zu hören. Es klang so vernünftig, so als wäre ihr klar, dass diese Behauptung unsinnig gewesen war, vielleicht das Produkt einer Fieberphantasie. Doch die Erleichterung währte nicht lange. »Da hab ich mich getäuscht. In Wirklichkeit hat er ihn aus Versehen verloren.« Manuela verzog das Gesicht zu einem unsicheren Lächeln. »Man kann seinen Schatten nicht verlieren, Süße.« »Kann man wohl! Das hat er mir nämlich erzählt!« »Wer? Opa?« Manuela wusste, dass ihr Vater Sara häufiger mit den verrücktesten Geschichten begeistert hatte. Bohnensuppe im Himmel, dachte sie plötzlich. Davon hatte er ihr, Manuela, schon als
Kind erzählt. »Nein, nicht Opa. Der ist doch bei den Engeln und kann mir nichts mehr erzählen. Sein Schatten hat es mir gesagt!« Was sollte sie jetzt tun? Darauf eingehen? Oder mit erwachsenem Starrsinn darauf bestehen, dass ihre Tochter sich das nur ausdachte? Vielleicht war der Psychologe wirklich eine gute Idee. Sie warf Dr. Steudinger einen vielsagenden Blick zu. »Du brauchst nicht so traurig drein zu schauen, Mama. Ich weiß nämlich auch schon, wie ich Opa den Schatten zurückgeben kann.« »Hat er dir das auch gesagt?« Sara nickte mit leuchtenden Augen. »Ich soll ihn beim nächsten Vollmond zum Friedhof bringen!«
3. Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann »Ich möchte die Aufnahme von der Hochzeit noch einmal sehen«, sagte Zamorra, als er am nächsten Tag Saals Büro betrat. Der Kommissar nahm einen Schluck Kaffee und sah zu Zamorra, der noch die Türklinke in der Hand hielt. »Ihnen auch einen guten Morgen. Wollen Sie Kaffee?« »Nein, danke. Ich habe schon gefrühstückt.« Zamorra schloss die Tür. »Sind Sie zufrieden mit dem Zentral-Hotel? Es ist vermutlich das beste Haus in Hof.« »Ja, hervorragend. Danke der Nachfrage. Kann ich nun bitte noch einmal die Aufnahme sehen?« »Vorher muss ich Ihnen aber etwas sagen: Christina Finck hat heute Nacht das Zeitliche gesegnet.« Zamorra zuckte zusammen. »Was? Warum?« »Weiß ich nicht. Ich hab gerade mit Dr. Folkert telefoniert. Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Oder, um es mit Folkerts ebenso unsterblichen wie unsensiblen Worten zu sagen: Zu Hause war sowieso schon niemand mehr und jetzt wurde auch noch das Licht ausgeknipst.« »Das hat er gesagt?« Der Professor knirschte mit den Zähnen. »Bekommt man als Arzt immer Hornhaut auf der Seele oder ist Folkert ein besonderes Exemplar?« »Ich vermute Letzeres.« Saal stand auf. »Kommen Sie mit nach drüben. Warum wollen Sie die DVD noch einmal anschauen?« Zamorra setzte sich im Nebenzimmer auf einen der ungemütlichen Stühle, während Saal die DVD aus dem Regal suchte, sie in den Player legte und startete. »Ich habe gestern Abend noch recherchiert.« Tatsächlich hatte er sich mit seinem Handy, einem wahren Alleskönner der Marke TI-Alpha von der Tendyke-Industries-Tochterfirma Satronics, in den Datenbanken im Château Montagne eingeloggt. Außerdem hatte er Butler William gebeten, nach dem Na-
men Hella zu recherchieren. Auch Pascal Lafitte hatte er eingespannt, der seit Jahren Zamorras journalistischer Vorkoster war und die Medien nach Vorfällen durchstöberte, die in Zamorras Interessensbereich fallen könnten. Lafitte war sofort an die Arbeit gegangen und hatte nach Ereignissen gesucht, die sich mit Christina Fincks Bluttat vergleichen ließen. »Die Suche nach dieser Hella, von der Christina Finck gesprochen hatte, war ergebnislos. Wir wissen einfach noch zu wenig über sie. Allerdings hat einer meiner Mitarbeiter sehr interessante Details ans Licht gebracht. Er hat für mich die internationale Presse der letzten Wochen durchforstet und tatsächlich einige Fälle gefunden, in denen unbescholtene Bürger von einer Sekunde auf die andere durchdrehten. Ob sie alle etwas mit unserem Fall zu tun haben, weiß ich nicht. Von fehlenden Schatten war natürlich bei keinem einzigen Bericht die Rede.« Der Meister des Übersinnlichen schaltete die DVD auf Standbild, als die Kamera gerade einen Schwenk über die Besucher der Hochzeit machte. Es war der Augenblick kurz vor dem verheerenden Kuss. »Was nichts heißen muss«, fuhr Zamorra fort. »Schließlich war nirgends das Fernsehen dabei. Mit einer Ausnahme! Einen Tag vor Hubertus Fincks Hochzeit fand nicht weit entfernt von hier ein Fußballspiel statt.« Zamorra kramte einen Zettel aus der Jackentasche. »Warten Sie, ich habe es mir aufgeschrieben. SpVgg Gelb-Schwarz Altdorf gegen FC Britannia.« Saal versteifte sich. »Was? Sie meinen jetzt nicht etwa den ausgerasteten Linienrichter?« »Sie wissen davon?« »Natürlich weiß ich davon! Der FC Britannia ist ein hiesiger Fußballverein. Am Freitag hatten sie ein Pokalspiel beim Lokalrivalen in Altdorf. Wenn die beiden Mannschaften aufeinander treffen, geht es traditionsgemäß heiß her.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein ausgesprochener Fußballfan, deshalb ist das etwas an mir vorbei gegangen. Aber in der Zeitung stand, dass ein Spieler dem Linienrichter versehentlich den Ball ins Gesicht geschossen hat, woraufhin dieser durchgedreht und auf die Sportler losgegangen ist.«
»So steht es in der Zeitung, richtig. Ich habe die Artikel auch gelesen.« »Und Sie glauben, dass ein Zusammenhang mit Christina Fincks Tat besteht? Sie sagen, es war das Fernsehen dabei?« Zamorra grinste. »Nun ja, nicht gerade der größte Sender. Aber einer der Fans hat die Ereignisse mit dem Handy gefilmt – und ins Internet gestellt. Die Aufnahmen sind ziemlich wackelig, aber es gab ein paar Sachen, die gut genug zu erkennen sind: Der Linienrichter hat aus der Nase geblutet …« »Was auch auf den Treffer im Gesicht zurückzuführen sein könnte.« »… und er hatte trotz Flutlicht keinen sichtbaren Schatten. Zumindest soweit man das auf dem Video bei YouTube erkennen kann.« Saal rümpfte die Nase. »Was mit dem Treffer schwieriger zu erklären sein dürfte. Trotzdem: Auf so ein Handy-Filmchen würde ich mich da nicht verlassen.« »Ganz bestimmt nicht!« Der Meister des Übersinnlichen fischte ein zusammengefaltetes Blatt aus einer anderen Jackentasche. »Ich habe noch etwas gefunden. Eine nette Angestellte des Hotels hat mir einen größeren Bildschirm zur Verfügung gestellt, mit dem ich mir das Video besser ansehen konnte. Hier, schauen Sie mal. Das habe ich ausgedruckt.« Der Professor faltete das Papier auseinander und legte es auf den Tisch. Saal beugte sich darüber und studierte das Bild. Es zeigte den Linienrichter in Nahaufnahme. Unter der Nase trug er einen schmierigen Bart aus Blut, das Gesicht war beängstigend ausdruckslos. »Eine gewisse Ähnlichkeit zum Fall Christina Finck ist sicher vorhanden, aber …« »Nein, nein, Frank. Es geht nicht um den Linienrichter. Sehen Sie, da hinter ihm.« Zamorra tippte auf die Zuschauermenge, die sich hinter der Werbebande drängte. Da der Kameramann so nah an den Verletzten herangezoomt hatte, konnte man auch die Fußballfans gut sehen. Auf einen in der ersten Reihe zeigte Zamorra. »Es geht mir um den hier!« Er klopfte mit der Fingerspitze gegen das Glas des Fernsehschirms, auf dem noch immer das Standbild der DVD zu sehen
war. »Oder um den hier, ganz wie Sie wollen. Für mich sieht das aus, als wäre das der Gleiche!« Auf beiden Bildern war ein kleiner, dicklicher Mann mit rundem Gesicht und schütterem Haar zu sehen. Seine Äuglein wirkten hinter den dicken Brillengläsern winzig und verquollen. Die Gläser sahen dick und schwer aus, und Zamorra fragte sich, ob der Kerl eine stahlverstärkte Nase hatte, die das Gewicht trug. Die erkennbar zu vielen Pfunde hatte der Mann in einen skurril gemusterten und zu engen Pullover gezwängt. Am linken Handgelenk baumelte ein Herrenhandtäschchen. Saal runzelte die Stirn. »Du kriegst die Tür nicht zu! Sie haben Recht!« »Dieser Mann war bei beiden Veranstaltungen anwesend und zwar immer in der Nähe der plötzlich gewalttätigen Menschen ohne Schatten. Das kann kein Zufall sein! Wir müssen herauskriegen, wer das ist und wo wir ihn finden können?« Dem Professor fiel auf, dass Saal plötzlich merkwürdig blass um die Nase war. »Wie er heißt, weiß ich nicht. Aber finden können Sie ihn in einer unserer Zellen.«
Ist es die Strafe für meine Verfehlungen, dass ich so alt werden musste? Ist es ein Teil meiner Buße, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was ich gestern gegessen habe, aber dennoch an jedem einzelnen Tag die schrecklichen Bilder aus Rekkenze vor mir sehe, obwohl das schon zwanzig Jahre zurückliegt? Warum kann ich mich dann kaum noch der Zaubersprüche entsinnen, die ich damals anwandte, ohne auch nur über sie nachdenken zu müssen? Nach welchem Maßstab bestimmt mein Gedächtnis, was es vergisst und was nicht? Das Alter kann ein wahrer Segen sein, bei mir jedoch ist es ein Fluch. Schmerzen pflügen durch meinen Körper und werden täglich, beinahe schon stündlich schlimmer. Ich kann kaum die Feder halten, mit der ich diese Worte schreibe, so steif sind meine Finger. Ach, wie fürchterlich ist die Erkenntnis: Es gibt Augenblicke, in denen ich Hella verstehen kann. Nie würde ich ihren Weg gehen, nie würde ich ihre Mittel wählen, nie. Und dennoch verstehe ich, was in ihr vorging. Wie lange muss sie die alten
Pergamente, die alten Rituale studiert haben? Wie verzweifelt muss sie im alten Wissen nach einer Antwort gesucht haben? Wie oft saß sie in ihrer Hütte … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… in ihrer Hütte und blätterte in einem dicken Buch. Ihr gelber Kater sprang auf den Tisch, setzte sich ausgerechnet auf den Folianten und stupste Hella mit dem Kopf gegen die Stirn. »Johann! Du ungezogenes Vieh!« Auch wenn sie schimpfte, klang Hella eher amüsiert als verärgert. »Du sollst unten bleiben, wenn ich ein Ritual vorbereite!« Sie hob ihn hoch, was er mit einem unkätzischen Grunzen quittierte, und ließ ihn neben dem Tisch wieder fallen. Vor über einem Jahr hatte Hella den Zauber erneuern wollen, der ihre Hütte vor neugierigen Blicken verbarg, als just in diesem Augenblick Johann in den magischen Kreis auf dem Tisch sprang und eine der schwarzen Kerzen umwarf. Sie fiel genau in die dürren Zweige im Zentrum des Kreises und setzte sie in Brand. Dadurch kehrte sich die Wirkung des Rituals um und die Hütte leuchtete wie ein Frühlingsfeuer, statt sich vor den Augen der Bauern zu verstecken. Es hatte Tage gedauert, diesen Schaden mit dem ursprünglich geplanten Zauber zu übertünchen. Seitdem sperrte sie den Kater aus, wenn sie ein Ritual durchführte. So weit war es aber noch nicht. Erst brauchte sie die rote Henne, die dieser sturköpfige Arnulf ihr verweigert hatte. Deshalb hatte sie Vehean ausgesandt, alles Nötige zu holen und dem Bauern eine Lektion zu erteilen. Die Zeit, bis er zurückkam, wollte sie nutzen, jede Einzelheit des Zaubers zu studieren, damit ihr kein Fehler unterlief, und schon einige Vorbereitungen zu treffen. Die Schüssel mit der Mischung aus Haseninnereien und getrockneten Kamillenblüten stand schon in dem aus Hasenknochen gelegten Pentagramm und verströmte einen strengen Geruch. Hella sah aus dem Fenster ihrer Holzhütte. Wo blieb Vehean nur? Noch war es zwar dunkel, doch allzu viel Zeit blieb nicht mehr bis zum Sonnenaufgang. Und das Ritual musste unbedingt durchge-
führt werden, während der junge Morgen erwachte, wie es das Buch ausdrückte. Es vergingen noch etliche Minuten, während denen sich Hella die Betonung des Zauberspruch einprägte, Johann immer wieder vom Tisch scheuchte, das Knochenpentagramm korrigierte, wenn der Kater es mit dem Schwanz verschoben hatte, und aus dem Fenster sah. Dann endlich, gerade als die Sonne aufging, öffnete sich die Tür und ließ neben einem Schwall kalter Luft auch ein gehörntes Monster ein, das sich ein Schaf über die Schultern gelegt hatte und in einer Klaue ein wild flatterndes Huhn hielt. »Na endlich, Vehean! Wo bleibst du denn so lange?« Hella sprang von ihrem Stuhl auf und lief der Kreatur entgegen. Seine Antwort bestand darin, dass er das Maul aufriss und eine Reihe schriller, kreischender Töne ausstieß. Seit sich Hella das Wesen unterworfen und mit ihm eine magische Verbindung eingegangen war, konnten sie die Sprache des jeweils anderen verstehen, wenn sie sie auch nicht selbst sprechen konnten. Und so erfuhr sie, dass ein neugieriger Bauer auf der Suche nach ihrer Hütte durch den Wald geschlichen war. Natürlich hatte er sie nicht gefunden, weil der Zauber jedem undurchdringliches Dickicht vorgaukelte, sodass er schon hätte dagegen laufen müssen, um die Illusion zu durchschauen. Aber alleine die Tatsache, dass es immer wieder mal ein Rekkenzer überhaupt versuchte, schürte ihren Zorn. »Wo ist er?« Vehean setzte das Huhn auf die Lehne eines Stuhls und stellte das Schaf mitten in die Stube. Hella strich ihnen über den Kopf, woraufhin sie in eine magische Starre fielen. Wieder ertönte Veheans Schrillen. Es bedeutete: Vor der Tür. Hella machte zwei Schritte nach draußen und sah auf den bewusstlosen Mann hinab, der im Gras vor der Hütte lag. In der Morgendämmerung konnte sie sein Gesicht gut genug erkennen. Es war der Vater des Jungen, den sie zu ihrem Vergnügen vom Markt mitgenommen und vor ein paar Stunden in leicht beschädigtem Zustand zurückgebracht hatte. Wie hatte er doch gleich wieder geheißen? Winfried? Könnte sein. Doch was scherten sie die Namen dieser dummen Bauern? Sie kannte sie zwar alle, aber das Einzige, was sie
wirklich interessierte, war, dass sie ihr gehorchten. Offenbar regte sich momentan etwas Widerstand gegen sie! Zuerst der Dickschädel Arnulf und nun Winfrieds armseliger Vater. War sie etwa zu nachgiebig gewesen? Sie sollte diesem Pack besser noch einmal verdeutlichen, was geschah, wenn es nicht spurte! »War er alleine?« Ja, ich habe ihn beobachtet und verfolgt, bevor ich ihn überwältigte. »Sehr gut! Er gehört dir!« Danke, Herrin. »Aber lass genug übrig, dass man ihn noch erkennen kann. Still erst mal deinen Hunger. Nächste Nacht bringst du ihn ins Dorf und wirfst ihn vor ihre Kirche. Wollen wir doch mal sehen, ob sie das nicht wieder etwas gefügiger macht.« Sehr wohl, Herrin. Die Hexe ging zurück in die Hütte und nahm Johann auf den Arm, der bereits mit großen Augen um das Huhn schlich. »Das ist nichts für dich! Du musst dir dein Essen schon selbst suchen!« Sie warf ihn aus der Hütte und schloss die Tür. Endlich konnte sie mit dem Ritual beginnen! Keinen Augenblick zu früh, denn die Morgendämmerung würde nicht mehr lange anhalten. Draußen begrüßten die Vögel den neuen Tag bereits mit lautstarkem Zwitschern. Hella packte das Huhn, riss ihm mit den Zähnen den Kopf ab und spuckte ihn zu Boden. Den konnte Johann nachher haben, wenn er wollte. Die ersten Spritzer Blut aus dem Rumpf ließ sie über die Mischung aus Innerei und Kamille fließen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und hob den Vogelkörper übers Gesicht. Sie schloss die Augen, dass ihr das Hühnerblut nicht hinein geriet, doch sie spürte jeden neuen Schwall, der ihre Stirn traf, die Nase, den Mund. Unablässig murmelte sie den Zauberspruch und wurde dabei lauter und lauter. Aus dem Murmeln wurde ein Flüstern, dann ein Sprechen und schließlich sogar ein Schrei. Als der letzte Tropfen aus dem Hals des Huhns geflossen war, riss Hella noch eine Handvoll Federn heraus, stopfte sie sich in den Mund und schleuderte die Henne ins Kaminfeuer. Ein Kribbeln wie von unzähligen Ameisenfüßen huschte über ihre
Haut – die Magie, die sie freigesetzt hatte! Es funktionierte! Das Ritual zeigte Wirkung! Sie breitete die Arme aus und drehte sich dreimal im Kreis. »Ja! Es wirkt! Ich spüre, wie es wirkt!« Bei jedem Wort stoben einige Hühnerfedern aus ihrem Mund. Mit zwei schnellen Schritten erreichte sie das Holzregal neben dem Fenster und schnappte sich einen Spiegel. »Endlich zahlen sich all die Jahre des Forschens aus!« Sie sah in den Spiegel. Mit zusammengekniffenen Augen ging sie so nahe heran, dass ihre Nasenspitze beinahe die glatte Fläche berührte. Sie tastete die Wangen ab, die Stirn, zögerte einen Augenblick, wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht, so gut es ging, und blickte wieder in den Spiegel. Unvermittelt schleuderte sie ihn gegen die Holzwand, was er dank seiner magischen Präparierung mit nur einem einzigen Sprung überstand. »Nein!« Hellas Kreischen und die Todesschreie des Bauern vor dem Haus vermischten sich zu einem Chor des Schreckens. Mit beiden Händen griff sie sich ins graue Haar und riss sich einige Strähne aus. »Warum? Warum ist es schon wieder nicht gelungen?« Unter stetigem Fluchen stapfte sie zu dem dicken Buch und studierte noch einmal das Ritual. Hatte sie zu wenig Kamillenblüten genommen? War die Henne zu alt? War das Pentagramm nicht sorgfältig genug gelegt gewesen? »Aber ich gebe nicht auf! Niemals!« Sie würde das Ritual verfeinern und wiederholen. So lange, bis es die gewünschte Wirkung zeigte. Vielleicht sollte sie doch anderes Blut verwenden. Von Anfang an hatte sie vermutet, dass Hühnerblut nicht geeignet war, auch wenn das Buch das behauptete. Oh, gewiss! Sie würde weiter forschen. Doch zuerst …
… zuerst ließ sie ihren Unmut an den Bauern von Rekkenze aus. Am Tag, nachdem der einarmige Arnulf ins Dorf gestolpert kam, fand man die zerfleischte Leiche von Winfrieds Vater vor der Kirche. Nur sein Gesicht war völlig unverletzt. Es war verzerrt vom Grauen und ließ erahnen, was er in den letzten Minuten seines Lebens durchgemacht haben musste. Bereits vorher mussten die armen Menschen unter der Hexe leiden, doch ab diesem
Tag wurde alles schlimmer. Viel schlimmer. Denn nun begnügte sich Hella nicht mehr damit, an den Markttagen die Waren der Bauern zu stehlen. Von nun an wollte sie mehr. (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
»Mama?« »Ja, mein Schatz?« Saras Augen waren klein wie Knöpfe und fielen immer wieder zu. »Irgendwie hab ich Angst.« Ich auch, dachte Manuela Vogt. Ich auch. Sie strich über Saras Wange und tippte auf die Nasenspitze. »Zum Angsthaben ist es schon viel zu spät. Hör dir doch mal meine Stimme an.« Sie räusperte sich und sprach rau und tief weiter, so übertrieben, dass es in ihrer Kehle kitzelte. »Ich hab mich schon ganz heiser gesungen. Noch ein einziges Lied und ich …« Sie unterbrach sich und hüstelte gekünstelt. Und ich fall tot um, hatte sie sagen wollen. Eine dumme Redewendung und genau das, was Sara nicht hören sollte. »Und du – was?« Sara setzte sich im Bett auf, knautschte das Kissen hinter ihrem Rücken. »Und ich bin für ein halbes Jahr leergesungen.« »Gibt's das?« »Ich glaube, nur in Geschichten. Aber manchmal werden Geschichten auch wahr.« Das Kind nickte. »Jaja, so ist das«, sagte es altklug. »Ich bin froh, dass ich Opa seinen Schatten zurückbringen kann.« Nur mit Mühe unterdrückte Manuela den Reflex, sich die Ohren zuzuhalten. Ich will das nicht hören, Sara – ich will so etwas Verrücktes nicht hören! »Mama?« »Hm?« »Bist du traurig?« Sag irgendwas, Manuela, lenk sie von diesem Thema ab. Na los, irgendetwas! Sie zog das Kissen hinter Saras Rücken hervor und schüttelte es aus. »Dein Opa war ein lustiger Kerl. Weißt du noch, was du ihn mal gefragt hast?«
Saras Miene war eine Mixtur zwischen Langeweile und Belustigung. »Och nö! Nicht schon wieder die Geschichte.« Sie breitete die Arme aus wie ein Angler, der von einem großen Fang berichtete. »Die ist doch schon sooo alt!« »Na und? Ich denke gerne dran. Du nicht?« Sara rückte sich im Bett zurecht, straffte den Oberkörper und nahm die Schultern nach hinten, als wolle sie auf einer Bühne einen möglichst guten Eindruck machen. »Gell, Opa«, intonierte sie mit ihrer Kinderstimme, die piepsender war als sie jemals in Wirklichkeit gesprochen hatte, »als du jung warst, haben noch die Dinosaurier gelebt?« Beide lachten und kicherten. Wie gut das tat, nach all dem Gerede von Schatten und Friedhöfen, nach all den Gedanken an kranke, fiebernde Kinder und die Ängste vor Albträumen, die überdeutlich in Saras großen Kulleraugen geschrieben standen. »Und jetzt schlaf«, forderte Manuela. Sara legte sich hin, strich das Kopfkissen glatt, grinste und sagte: »Mach du auch die Augen zu, Nemo Clownfisch. Bist doch bestimmt müde.« Ihre Finger strichen über Nemos Augen auf dem Bettbezug, als wollten sie sie zuhalten. Manuela ging leise nach draußen und lehnte die Tür nur an. Sie schloss sie nicht. Seit Opas Tod hatte sie das nicht mehr getan. Sara hatte sie nicht etwa darum gebeten, wäre wahrscheinlich nicht einmal auf die Idee gekommen – aber Manuela ertrug den Gedanken daran nicht, dass ihr kleines Mädchen im Zimmer eingeschlossen sein könnte. Wie damals, mit meinem Vater. Am liebsten wäre sie schon längst ausgezogen, aber das sagte sich leichter, als man es in die Tat umsetzen konnte. Es gab eine Menge Gründe, die dagegen sprachen, und die trugen alle den gleichen Namen: Euro. Sie spazierte unruhig durch die Wohnung und hoffte, dass ihr Mann bald zurückkam. Warum musste er auch gerade jetzt bis nachts im Büro sitzen, um diese Auftragsarbeit fertigzustellen? In der Küche schnappte sie sich den Wasserkocher und drehte den Hahn über dem Spülbecken auf. Keine Minute später erklang das Brausen, das ankündigte, dass das Wasser zu sieden begann. Sie
schloss die Augen, wollte nichts anderes mehr hören. Warum nur ging ihr diese verrückte Ankündigung ihrer Tochter nicht mehr aus dem Kopf? Opa den Schatten zurückbringen … das war doch Irrsinn! Spinnerei! Und viel zu ernst und gruselig, als dass es sich ihre kleine, unschuldige Tochter ausgedacht haben könnte. Sie öffnete das Fenster und zupfte einige Pfefferminz-Blätter aus dem Topf, von deren Rändern dicke Tropfen auf die Fensterbank und den Bürgersteig fielen. Es hatte also geregnet. Sie hatte es nicht einmal mitbekommen. Vielleicht war sie einfach urlaubsreif. Ja, das würde uns allen gut tun, ganz bestimmt. Zwei Wochen irgendwo ausspannen. Langsam knipste sie mit den Fingernägeln die einzelnen Blätter ab und gab sie in die breite Glaskanne. Gerade als sie das Wasser darauf kippte, schrie Sara. Manuela zuckte zusammen, als ein Schwall kochenden Wassers ihr die Finger verbrühte. Sie schüttelte in beißendem Schmerz die linke Hand und ließ den Wasserkocher ins Spülbecken fallen. Dampfschwaden stiegen auf und überzogen die Kacheln hinter der Spüle mit einem Film feiner Tröpfchen. Sara schrie immer noch. Die Finger schmerzten furchtbar, doch Manuela achtete nicht darauf. Ihr Verstand schien sich in einer anderen Welt zu befinden als ihr Körper. Schon war sie an der Kinderzimmertür, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Sie riss sie auf und stürzte in den Raum. Endlich hörte Sara auf zu schreien und weinte stattdessen. Im Halbdunkel rollten ihre Augen. »Opa«, sagte sie. »Hab – hab schon geschlafen. Monster.« »Alles in Ordnung, Liebes!« Manuela setzte sich neben sie und tastete unter der Decke nach den kleinen Händen. Sie zitterten. In der aufgestauten fiebrigen Hitze fühlte es sich an, als tauche sie die verbrühten Finger in geschmolzenes Metall. Außerdem rieb der Stoff darüber; Manuela glaubte, es wolle ihr die Haut abschälen und nur das rohe Fleisch zurücklassen. Ob die Haut aufgeplatzt war und blutete? Musste wohl, so sehr, wie es schmerzte. Wahrscheinlich verschmierte sie das gesamte Bettzeug.
Sara war verschwitzt, und ihre Augen glänzten. »Da waren Monster, Mama.« Das arme Kind, dachte Manuela. Was sollte sie nur tun? Es humorvoll versuchen, so wie es ihr Vater ganz bestimmt getan hätte? »Solche mit roten Augen und langen Zähnen?« Aber Sara lachte nicht. Was sie stattdessen tat, erschreckte ihre Mutter bis ins Mark und presste ihr Herz zusammen: Sie nickte. »Unsinn, Sara«, sagte Manuela. »Es gibt doch gar keine Monster. Du hast nur geträumt.« »Aber unter dem Bett – und im Schrank! Überall … und weißt du was? Sie hatten doch keine roten Augen. Irgendwie hatten die gar keine Augen. Gar kein richtiges Gesicht. Nur ein großes Maul, mit Zähnen, glaub ich. Und drei Zungen! Die Enden waren gespalten. Wie bei Schlangen, weißt du? Das war so eklig! Eine der Zungen wollte sich gerade um meinen Fuß wickeln oder …« Sie konnte nicht mehr weiter sprechen, weil ihre Stimme endgültig brach. Manuela zog die Hand zurück und hielt sie gegen das Licht, das vom Flur durch die offen stehende Tür hereinfiel. Dicke Blasen bedeckten die Finger. Verdammt, das wird Tage dauern. »Oder was? Dich kitzeln?« Schon immer hatte Sara davon gesprochen, dass sie den Fuß auch in der größten Sommerhitze nicht unter der Zudecke hervorspitzeln lassen durfte, weil sonst der Teufel käme und sie kitzeln würde. Doch diesmal war es anders. Saras Mund stand halb offen, als sie den Kopf schüttelte. »Oder den Fuß abbeißen. Ich glaub, das Monster wollte mir Opas Schatten klauen!« Manuela lief ein Schauer über den Rücken. Nicht schon wieder! »Monster gibt es nicht«, sagte sie noch einmal, aber in diesem Moment glaubte sie selbst nicht an ihre Worte. In diesem Moment schien einfach alles möglich zu sein. Sie tastete nach der Stirn ihrer Tochter. Mindestens 39 Grad, dachte sie. Eher 40. Ich muss ihr ein Zäpfchen holen. »Versprochen?« »Ganz fest versprochen.« »Na gut.« Sara legte sich wieder hin. »Mama?«
»Was denn?« »Wenn es keine Monster gibt, gibt es dann – Hexen?«
4. Zeigt her eure Füße In natura bot der Mann einen noch eigentümlicheren Anblick als Zamorra ihn durch die Videoaufzeichnungen gewonnen hatte. Die dicken Brillengläser ließen seine Augen wie riesige Monde wirken; die gedrungene, dickfleischige Nase und die Strähnen grauschwarzen Haares auf der fahlweißen Kopfhaut erweckten eine absonderliche Assoziation. Wie ein Maulwurf, dachte Zamorra. Er sieht aus wie ein Maulwurf. Es fehlte nur noch, dass er eine kleine verrostete Schaufel aus dem Ärmel des knallbunten Strickpullovers zog und versuchte, sich damit ins Freie zu graben. Kommissar Saal hatte den Dämonenjäger zur Zelle geführt, in der der Gefangene unruhig umherlief, wieder und wieder, angeblich ununterbrochen, seit er unter Arrest gestellt worden war. Zamorra blickte durch die gepanzerte Sichtscheibe ins Innere des kahlen Raums, der außer einer Pritsche nur eine nackte Toilette und ein rostiges Waschbecken aufwies. Normalerweise diente diese Zelle lediglich als Übergang, bis die darin unter Arrest gestellten Säufer ihren Rausch ausgeschlafen hatten. Ganz selten warteten hier auch richtige Verbrecher darauf, in ein richtiges Gefängnis überführt zu werden, wie der Kommissar betont hatte. Was immer er sich unter einem richtigen Gefängnis auch vorstellte. Für den Parapsychologen sah dieses nicht allzu falsch aus. »Wir haben nichts aus ihm herausgebracht«, sagte Saal. »Weder seinen Namen noch warum er auf der mörderischen Hochzeit nach der Bluttat der Braut plötzlich zu toben begann.« »Mörderische Hochzeit«, murmelte Zamorra. »Sie hätten das Zeug, als Ideengeber für irgendeinen Trash-Film zu dienen. Am besten in 3D heruntergekurbelt.« »Wenn's nicht so ernst wäre, würde ich drüber lachen.« »Verlieren Sie bloß nicht Ihren Humor, Frank. Ist ein guter Tipp von mir. Wenn Sie wüssten, was ich schon alles gesehen habe …« »Hat mir Pierre Robin damals auf dem Seminar auch gesagt. Des-
wegen versuche ich auch meine Frau mit Humor zu nehmen.« Zamorra schaute ihn vielsagend an und grinste. Saal verdrehte die Augen. »Das ist ein anderes Thema. Aber dabei würde wohl sogar Ihnen das Lachen vergehen.« »Ehe wir reingehen, sagen Sie mir bitte noch mal genau, was dieser Maulwurf getan hat.« »Maulwurf? Wie kommen Sie darauf? Glauben Sie, er ist ein verdeckter Spion?« Der Meister des Übersinnlichen benötigte einige Sekunden, bis er verstand, worauf Saal anspielte. »Ich meine nicht diesen Agentenkram. Schauen Sie ihn sich doch einfach mal an. Kommt Ihnen da nicht automatisch diese alte Comicfigur in den Sinn?« »Hans Maulwurf von den Simpsons?« »Habe ich nie gesehen. Nein, nein … Moleman von den Fantastischen Vier.« »Ich lese keine Comics.« Ich ja eigentlich auch nicht, dachte Zamorra. Viel zu wenig Zeit. Es war schon lange her, aber an diese skurrile Gestalt konnte er sich trotzdem erinnern. Nicht dass die Wirklichkeit weniger Skurrilitäten aufweisen konnte. »Egal.« »Wir haben ihn vorläufig verhaftet«, sagte der Kommissar, »weil er nach dem Mord mitten in der entsetzten Zuschauermenge zu randalieren begann. Er wollte die Kamera zerstören, die den grausamen Mord gefilmt hat.« »Warum?« »Wenn wir das nur wüssten. Er hat auf keine unserer Fragen geantwortet, sondern nur um sich geschlagen und zu fliehen versucht. Später hat er angefangen zu lamentieren, dass er versagt hat.« Saal schüttelte den Kopf und gab einen seltsamen Laut von sich, der wohl ein spöttisches Lachen hätte werden sollen, aber in einem trockenen Husten endete. »Eine komische Type, wenn Sie mich fragen. Ich wollte mich längst intensiver mit ihm befassen, aber es kamen zu viele andere Dinge dazwischen, nicht zuletzt Ihre Ankunft, Zamorra.« Der Parapsychologe tippte gegen das Schloss der Tür. »Öffnen Sie für mich? Ich werde mich um ihn kümmern. Vielleicht war es ganz
gut so, dass er einige Zeit geschmort hat. Möglicherweise macht ihn das gesprächiger.« »Um ihn … kümmern? Mit Magie wie bei Christina Finck im Krankenhaus?« »Warten wir es ab. Ein wenig Improvisation tut manchmal Not.« In dieser Hinsicht gab sich Zamorra längst keinen Illusionen mehr hin. Ein Plan konnte noch so gut und detailreich geschmiedet sein – wenn man sich mit den Höllenmächten einließ, sorgte so manche Überraschung dafür, dass sich alles wieder und wieder auf den Kopf stellte. Insofern war er äußerst gespannt, was die Befragung des kleinen, dicklichen Mannes mit dem rundlichen Gesicht einbringen würde. »Öffnen Sie bitte«, bat er den Kommissar. »Und halten Sie sich bitte hier draußen bereit, falls ich … hm, in Bedrängnis gerate. Wenn Sie mir im Notfall die Tür öffnen, könnte mir das den Hintern retten.« »Oder den Schatten?« »He, Sie haben ja doch Humor!« Zamorra konnte trotz der lockeren Worte nicht verhindern, dass ihm etwas mulmig zumute wurde. Lieber hätte er sich mit einem Zombie oder Vampir herumgeschlagen oder sich wieder einmal ein Duell mit Stygia geliefert, als dass er sich mit verschwindenden Schatten auseinandersetzen musste, deren ehemalige Träger daraufhin wahnsinnig wurden. Öfter mal was Neues, dachte er, als Saal die Tür zur Seite zog. Der Maulwurf beendete seine unruhige Wanderung noch immer nicht. Er wandte dem Besucher zwar den Kopf zu, lief aber weiter immer hin und her. Er hob seine Füße ungewöhnlich weit, stakste wie ein Storch durch den Salat. »Mein Name ist Zamorra. Professor Zamorra.« Ein Blick aus halb zusammengepetzten Schweinsäuglein über gerümpfter Nase. »Warum besuchen Sie mich? Was wollen Sie?« »Was wissen Sie über Schatten?« Der Gefangene blieb abrupt stehen. Beide Hände ballten sich zu Fäusten, ehe die Finger nervös zu nesteln begannen. Der Bauch, der den Strickpullover ohnehin gewaltig spannte, dehnte sich noch weiter aus, als der Maulwurf tief einatmete und sich – Zamorra glaubte
es kaum – affektiert halb verneigte. »Kaufmann. Daniel Kaufmann.« Zamorra konnte förmlich hören, wie Kommissar Saal draußen ein Das-darf-nicht-wahr-sein murmelte. Manchmal wirkte die richtige Frage oder das richtige Stichwort eben Wunder und brachten die Schweigsamen besser zum Reden als Horden von Verhörspezialisten. »Nun, Herr Kaufmann, warum haben Sie nach den traurigen Ereignissen auf der Finck-Hochzeit …« »Ich habe versagt!« »Worin?« »Der Schatten! Sie haben es doch selbst gesagt.« »Sie wollten ihn …« »Einfangen! Das wollte ich! Ihn einfangen! Aber es hat nicht …« »Einfangen und damit das verhindern, was mit dem Ehepaar Finck geschehen ist?« Das Brummen bedeutete wohl Zustimmung. »Sie … Sie halten mich also nicht für verrückt?«, fragte Kaufmann vorsichtig. Zamorra ließ sich ungefragt auf die Pritsche nieder, der einzigen Sitzmöglichkeit in der Zelle. Sie war so unbequem, wie sie aussah. Die Federn quietschten unter seinem Gewicht und eine bohrte sich in seinen Allerwertesten. »Sollte ich?« Kaufmann nestelte an der Brille, drückte sie an der fleischigen Nase nach unten und legte das Kinn fast auf die Brust. Über den Rand der Brille musterte er seinen Besucher. Die Pupillen in den eisengrauen Iriden waren winzige Punkte. »Es gibt keinen Grund dafür.« »Dachte ich mir. Das macht die Sache allerdings nicht viel einfacher. Wenn ich Ihnen helfen soll …« »Helfen?« »Gefällt es Ihnen hier etwa? Wäre es nicht hilfreich, wenn man Sie entlassen würde?« Der Maulwurf schob die Brille zurück und strich sich bei dieser Gelegenheit mit der flachen Hand durch die strähnigen Haare. Mit der zweiten Hand führte er dieselbe Bewegung durch, wie es ein Teenagermädchen in einem billigen Film vor dem Spiegel machen würde.
Du bist schön genug, dachte Zamorra. »Also – noch einmal zu der Kamera.« »Ich wollte sie zerstören, weil der Vorgang gefilmt worden ist. Ich wollte nicht, dass jemand darauf aufmerksam wird, was mit den Schatten geschieht.« Tja, wenn dir das gelungen wäre, wäre ich jetzt nicht hier, dachte Zamorra. »Was wissen Sie über die Schatten?« »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstehen würden …« »Ich verstehe ganz sicher, darauf können Sie sich verlassen.« »Bringen Sie mich hier heraus, dann sage ich alles.« »So läuft das nicht. Ich bin kein Polizist und habe hier nichts zu sagen.« »Warum sind Sie dann hier?« »Hm, Interesse. Verschwindende Schatten und wahnsinnige, aus den Ohren blutende Menschen interessieren Parapsychologen nun einmal.« Die Wanderung des Gefangenen begann erneut, wie ein unruhiges Raubtier im Zoo, das wieder und wieder vor den Gitterstäben patrouilliert und von den Besuchern angestarrt wird. Nur dass in seinem Fall keine hundert Kinder und fünfzig Erwachsene die Zuschauer bildeten, sondern nur Zamorra. »Parapsychologe.« Daniel Kaufmann zupfte den Strickpullover über den Schultern zurecht. »Das ist so was wie ein Magier, oder?« Obwohl das ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach, nickte Zamorra. »Könnte man in etwa sagen.« »Sie kümmern sich also um irgendwelche Maskierten, die Ziegen schlachten und dann in Kellergewölben nackt Orgien feiern? Hokuspokus, Sex und Satanismus, ja?« »Das wäre vielleicht ein guter Untertitel für irgendeinen Zeitungsartikel oder eine Romanheft-Serie, geht aber ziemlich an der Wahrheit vorbei. Wenn Sie mich denn unbedingt einen Magier nennen wollen, dann bitte einen Weißmagier. Verstehen Sie den feinen Unterschied? Satanismus ist nicht drin. Im Gegenteil. Schicken Sie mir den Teufel über den Weg, und ich mache ihm Feuer unter dem Hintern.« Er dachte an Sid Amos, dessen diverse Nachfolger – und schon wieder an Stygia. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Hatte sie
ihre verderbten Schwingen im Spiel? Andererseits sah das alles so gar nicht nach gewöhnlichen Höllenmächten aus. Kaufmann kam näher, musterte Zamorra und setzte sich schließlich auf der Pritsche neben ihn. »Soso, ein Weißmagier. Deshalb auch der weiße Anzug, was?« »Gemusterte Strickpullover sind eben nicht jedermanns Sache. Wo ist übrigens Ihr Handtäschchen, das Sie sonst immer bei sich tragen?« »Sie sind gut informiert, was?« »Gehört zum Job.« »Wenn Sie es genau wissen wollen: Man hat es mir abgenommen, ehe man mich in dieses Loch steckte.« »Das ist die normale Vorgehensweise. Sie werden es zurückerhalten, wenn Sie hier wieder rauskommen.« »Woher wissen Sie überhaupt davon?« »Ich bin nicht zufällig hier. Sie haben nicht nur die Hochzeit besucht, sondern auch ein gewisses Fußballspiel. Und einige andere Orte, kapiert?« Das Letzte war eine reine Vermutung, doch sie schien ins Schwarze zu treffen. Vielleicht war es auch der mit einem Mal nicht mehr jovial-freundliche, sondern scharfe Tonfall, der seine Wirkung nicht verfehlte. Der Maulwurf jedenfalls verließ seine unterirdische Höhle und kam ins Freie – Kaufmann offenbarte sich. »Leider habe ich oft versagt. Manchmal jedoch konnte ich es verhindern. Und Sie, Zamorra, können mir wohl weit mehr helfen, als nur, mir meine Freiheit zurückzugeben.« Die Schweinsäuglein hinter den dicken Brillengläsern funkelten; den Mann hatte ein Eifer gepackt, wie, er Zamorras Erfahrung nach nur vom Bewusstsein einer Art heiligen Mission ausging. »Gemeinsam können wir meine große Aufgabe erfüllen und mein Lebenswerk vollenden! Was sagen Sie dazu?« Obwohl noch tausend Fragen blieben, entschied sich Zamorra für vier knappe Worte. »Holen wir ihr Handtäschchen.«
Am Tag, nach dem Hella die zerfleischte Leiche von Winfrieds Vater vor die Kirche hatte legen lassen, begab sie sich höchstselbst nach Rekkenze.
Diesmal ließ sie Vehean nicht als unsichtbare Drohung im Wald zurück. Das Monster begleitete die Hexe, als sie kam, um die neuen Regeln zu verkünden. Auf seiner Schulter saß Johann, Hellas fetter, gelber Kater – ein groteskes Bild, an das sich die Dorfbewohner nach und nach gewöhnten, denn ab diesem Tag bot es sich ihnen mindestens einmal in der Woche. Jeden Sonntag nach der Kirche. Manchmal sogar zusätzlich auch noch unter der Woche. In einem Anflug von resigniertem Humor sagten die Bauern der Siedlung dann, dass die Hexe sie »behelligte«. Und so verging über ein Jahr mit immer dem gleichen Rhythmus. Wenn der Sonntag kam, kam auch Hella. Nach dem Gottesdienst ließ sie alle Rekkenzer vor ihrer Kirche antreten und zeigte ihnen, … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… zeigte ihnen, dass sie sich auch nicht vor einem Pfaffen oder sonstigen Vertretern des Guten fürchtete. Mit maliziösem Lächeln schritt sie die Reihen der Dorfbewohner ab und musterte sie von oben bis unten. Die Männer stellten sich schützend vor ihre Frauen, die Kinder klammerten sich an die Beine ihrer Mütter. Jeder starrte zu Boden und hoffte, er könne dem Schicksal aus dem Weg gehen, indem er einfach nur Hellas Blick aus dem Weg ging. »Da sind sie also, all meine hilflosen Bauern. Nur einen vermisse ich: Wo ist Arnulf?« Einer der Männer zeigte in Richtung der Lorenzkirche, neben der ein Handkarren voller Stroh stand. Hinter dem Karren ragten zwei schmutzige Füße hervor. »Oh, sehr gut! Der Gute hat sich offenbar einem anderen Geist hingegeben als der Rest von euch.« Sie klang gut gelaunt und versöhnlich – ein schlechtes Zeichen, wie die Rekkenzer im letzten Jahr hatten lernen müssen. »Nun, dann wollen mein Freund Vehean und ich euch wieder verlassen, dass ihr euch euren Aufgaben widmen könnt.« Sie wandte sich ab, ging einige Schritte und drehte sich wieder um. »Ist das nicht ein herrlicher Tag heute?« Von dem Felssporn, auf dem die Kirche stand, sah sie hinab zur Saale. Die Strahlen der Sonne glitzerten auf dem Fluss wie unzählige
Edelsteine. »Ein Tag wie geschaffen für einen Ausflug.« Sie zeigte auf einen vielleicht sechsjährigen, rothaarigen Jungen, der das Gesicht in die Schürze seiner Mutter vergrub. »Du da! Du kommst mit.« »Nein!« Der Aufschrei der Mutter endete in einem verzweifelten Schluchzen. »Nicht meinen Sohn! Nimm mir nicht meinen Sohn.« »Schick ihn her, Weib!« Die Mutter legte den Arm um die Schulter des Jungen und drückte ihn an sich. »Bitte nicht. Bitte, bitte nicht!« Hella verdrehte die Augen und seufzte. Ohne den Blick von dem Kind zu nehmen, sagte sie: »Vehean!« Mehr war nicht nötig. Das Monster quittierte den Befehl mit einem schrillen Laut. Es ging auf die Menschenmenge zu, die vor ihm zurückwich und den Weg zu Mutter und Kind freigab. Alles Schreien, Weinen und Betteln nützte nichts. Vehean entriss der Frau ihren Sohn. »Gib mir … meinen Kleinen wieder.« Die Worte gingen in Schluchzern unter und waren kaum zu verstehen. »Gib ihn mir zurück.« Das Einzige, was sie bekam, war jedoch ein Tritt der gehörnten Kreatur, der sie zurückschleuderte. Auf der Kirchentreppe blieb sie liegen. Brabbelnd und jammernd, ein Bild des Elends. Als Vehean mit dem Kind neben Hella stand, lächelte sie die Dorfbewohner noch einmal an. »Bis demnächst, ihr Lieben. Nutzt diesen wunderschönen Tag, um zu tun, was immer euch beliebt!« Keiner wagte ein Wort zu sagen oder sich auch nur zu rühren. Minutenlang standen die Rekkenzer regungslos da. Erst als Hella mit ihrem dämonischen Diener, ihrem Kater und dem Jungen über die Brücke und im Wald verschwunden war, kam Bewegung in die Menschen. Mit gesenktem Blick wollten sie zu ihren Häusern schlurfen, so wie sie es immer taten. »So geht es nicht mehr weiter!« Die Leute blieben stehen und sahen zum Sprecher dieser Worte. »Was willst du damit sagen, Endres?« Sofort bildete sich ein Ring aus Menschen um den Bauern. Mit schmutzigen Fingern strich er sich durch das dünne Haar. »Seht mich an! Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und habe graue Haare!
Vor einem Jahr waren sie noch schwarz und voll. Und ihr? Was ist mit euch? Wann habt ihr das letzte Mal jemanden in unserem Dorf lachen hören? Wann seid ihr das letzte Mal zu Bett gegangen, ohne Angst vor dem nächsten Tag zu haben? Ohne zu befürchten, dass die Hexe vorbeikommt? Ohne euch zu fragen, ob sie morgen vielleicht euer Kind mitnimmt? So geht es nicht mehr weiter! Wir müssen uns endlich zur Wehr setzen.« Ein anderer Bauer löste sich aus der Menge und trat auf Endres zu. »Zur Wehr setzen? Bist du von allen guten Geistern verlassen, Bruderherz? Sollen wir dadurch unser aller Leben aufs Spiel setzen?« »Und wenn schon! Was ist unser Leben denn noch wert, Bertold? Sind wir nicht längst tot, solange wir unter Hellas Knute stehen? Sie raubt unsere Kinder! Das können wir uns nicht gefallen lassen!« Bertold lachte auf. »Oh ja, aufrührerische Reden schwingen kannst du! Das konntest du schon als kleiner Junge. Und wer durfte es immer mit dir ausbaden, wenn du gegen Vater rebelliert hast? Ich! Soll das jetzt so weitergehen?« »Das hat nichts mit früher oder irgendwelchen Jungenstreichen zu tun.« »Nein! Und es geht auch nicht um einen strengen Vater, sondern um eine noch strengere Hexe! Hast du vielleicht Vorschläge, wie wir uns wehren sollen? Darf ich dich an all die tapferen Männer erinnern, die es versucht haben? Clemens, der ihre Hütte suchen wollte, um sie zu töten. Was ist mit ihm geschehen? Hellas Diener hat ihn uns zerfleischt vor die Kirche gelegt und zur Strafe einem weiteren Unschuldigen den Kopf abgerissen. Oder Tilo, der sich an einem Markttag auf sie stürzte. Ebenfalls zerfleischt, genauso wie der arme Vicencz, der das Pech hatte, in der Nähe zu stehen. Lena? Salmey? Gyseler? Hast du alle vergessen, die gestorben sind, weil sie sich wehren wollten? Also sag uns, Endres, welchen glorreichen Plan du hast, der um so viel erfolgversprechender ist als die Pläne all der toten Toren, die gegen Hella aufbegehrt haben?« Endres schaute in die Runde. Er sah Menschen, die sich in ihr Schicksal gefügt hatten, egal wie schwer es sein mochte. Doch er sah auch Menschen, in deren Augen der Widerstandswille glomm. »Du hast vollkommen Recht. Jeder Einzelne von uns ist zu schwach.
Wahrscheinlich sind wir auch alle gemeinsam zu schwach.« Mit ausgebreiteten Armen drehte sich Bertold einmal langsam um sich selbst, sah in die Menge der Rekkenzer und nickte dabei. Da hast du es!, sollte diese Geste wohl bedeuten, aber Endres ließ sich nicht beirren. »Hella unterdrückt uns, weil sie einen Dämon an ihrer Seite hat, dem wir nicht gewachsen sind, gegen den wir uns nicht wehren können. Also müssen wir jemanden finden, der das kann!« Ein Raunen ging durch die Menge und Bertold sprach aus, was wohl viele dachten. »Du willst auch einen Dämon beschwören? Bist du des Wahnsinns? Wie kannst du es wagen, so etwas vor dem Haus unseres Herrn auszusprechen?« »Keinen Dämon! Einen Magier!« »Oh, natürlich. Einen Magier. Und du kennst sicher einige Vertreter dieses Standes, von denen wir uns einen aussuchen können.« Wieder breitete Bertold die Arme aus, diesmal wirkte es allerdings eher, als würde er bei den Anwesenden um Beifall heischen. Offenbar gefiel er sich in seiner Rolle. Allerdings jubelte ihm niemand zu. Stattdessen ruhten alle Blicke auf Endres, der sich von Bertold nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Ich selbst kenne keinen, aber beim letzten Markt habe ich von einem gehört. Er nennt sich selbst Wissender. Sein Name ist Dythmar. Er ist sicher nicht billig, aber …« »Nicht billig?« Bertold lachte auf. »Du willst jemanden dafür bezahlen, uns zu helfen?« »Im Gegensatz zu Hella pflege ich nicht, mir einfach zu nehmen, was ich will. Ja, ich möchte ihn bezahlen und wenn es alles kostet, was wir haben! Danach können wir immer noch von vorne anfangen. Doch wenigstens gibt es einen Neuanfang! Der ist unmöglich, solange Hella …« Wieder unterbrach Bertold und machte eine abfällige Handbewegung. »Und wie soll dieser Dythmar von seinem Auftrag erfahren? Du weißt sicher auch, wo er zu finden ist.« »Er lebt in Norenberc. Wenn wir jemanden hinschicken …« Bertold schlug die Hände zusammen und spuckte zu Boden. Dann sah er kurz zur Kirche und – als würde er sich seiner Verfehlung bewusst – bekreuzigte sich. »Das ist Irrsinn, Endres. Du bist mein Bru-
der und weißt, ich liebe dich.« Über Endres' Nasenwurzel bildete sich eine tiefe senkrechte Falte. »Das wäre mir neu.« »Dann weißt du es jetzt. Ich liebe dich. Aber bei diesem Plan kann ich dich nicht unterstützen.« »Das wiederum ist gar nichts Neues.« »Es ist absoluter Irrsinn. Wir müssten einen Boten schicken, der wann frühestens zurückkäme? In sechs Tagen? In sieben? Er müsste reiten wie der Blitz, um rechtzeitig wieder hier zu sein, wenn Hella uns das nächste Mal versammelt. Und selbst dann würde es knapp werden. Du weißt, was geschieht, wenn einer fehlt! Dann kostet es zwei andere das Leben. Willst du es sein, den der Dämon zur Strafe zerfetzt?« »Natürlich nicht. Wir müssten jemanden schicken, dessen Fehlen Hella nicht bemerkt.« »Und wer sollte das wohl sein?« Endres sah zu dem Strohkarren vor der Kirche und den beiden schmutzigen Füßen. »Arnulf? Das kann nicht dein Ernst sein!« Bertold runzelte missbilligend die Stirn. »Ein betrunkener Einarmiger soll schnell genug reiten, um Hilfe zu holen? Wie kommst du darauf, dass Hella sein Fehlen nicht bemerkt? Vorhin hat sie auch nach ihm gefragt.« »Ja, und sie war zufrieden, als sie seine Füße sah. Wären es nur ein paar Stiefel gewesen, hätte sie es vermutlich auch geglaubt.« »Unfug! Außerdem sorgt sich Arnulf nur um eins – dass sein Rausch nicht nachlässt. Glaubst du, er ließe sich auf so eine Aufgabe ein und wäre ihr auch noch gewachsen?« »Arnulf wäre der geeignetste Bote, den ich mir vorstellen kann. Er hat mehr verloren als jeder andere von uns. Seine Frau, sein ungeborenes Kind, seinen Hof, seinen Arm. Wenn er sich nicht an Hella rächen will, wer dann?« Die Diskussion ging noch einige Stunden weiter und auch die anderen Rekkenzer mischten sich nach und nach ein. Endres gelang es schließlich tatsächlich, den Großteil der Menschen für seine Idee zu begeistern. Sie alle ließen sich von der Hoffnung tragen, die Endres geschürt hatte. Als Bertold klar wurde, dass er verloren hatte, stapf-
te er mit grimmigem Blick davon und schimpfte leise vor sich hin. Auch Arnulf musste nicht erst überredet werden. Das Schwierigste daran, ihn für die Aufgabe zu gewinnen, war, ihn erst einmal aufzuwecken. Danach war er sofort Feuer und Flamme. »Ich werde dafür sorgen, dass dieses elende Weib mehr verliert als nur einen Arm!« Endres stellte sein bestes Pferd zu Verfügung. Mit Ausnahme von Bertold, der sich standhaft weigerte, sammelten die Dörfler all ihr Geld in einem Ledersäckchen. Mit ihm machte sich Arnulf auf den Weg nach Norenberc. Auf den Weg zu Dythmar und damit zu ihrer Rettung. Oder zu ihrem endgültigen Untergang. Die Männer des Dorfes stellten einige Fässer neben einer Scheune auf und platzierten zwei alte Stiefel so, dass es von der Kirche so aussah, als schlafe dahinter ein Betrunkener. Sie hofften, Hella würde sich davon täuschen lassen. Noch mehr hofften sie aber, dass es gar nicht so weit kommen musste, weil Arnulf rechtzeitig mit Dythmar zurückkehrte. Dann begannen das Warten und das Bangen. Späher postierten sich vor der Lorenzkirche, von der aus sie ins Tal auf die Saale, die Brücke und den Wald schauen konnten. Weitere Beobachter behielten die andere Hügelseite im Auge. Bereits nach drei Tagen war die getuschelte Frage »Ist Arnulf schon wieder da?« überall präsent, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch keinen Sinn ergab; der Weg hin und zurück war in dieser Zeit unmöglich zu bewältigen. Und so verging Stunde um Stunde, Tag um Tag. Mit jedem Nein auf die Frage nach Arnulf wuchs die Anspannung. Wer würde zuerst kommen? Arnulf mit dem Wissenden Dythmar? Hella mit dem Dämon Vehean? Oder gar Vehean mit dem zerfetzten Arnulf? Auch am Sonntag nach Arnulfs Aufbruch war von ihm noch nichts zu sehen. Dafür erklang ein anderer Ruf des Spähers. Der, den alle so sehr gefürchtet hatten. »Hella kommt!« In aller Eile überprüfte Endres noch einmal die Stiefel hinter den Fässern, dann versammelte er sich mit den anderen Rekkenzern vor der der Kirche. Die letzten Minuten, bis Hella mit ihrem Kater und
ihrem Monster den Platz betrat, vergingen wie im Fieber. Endres' Blick irrlichterte von der Scheune zum Wald, vom Brunnen zum nächstgelegenen Haus, von der Kirche zu Bertolds Schafkoppel – immer in der wahnwitzigen Hoffnung, Arnulf könnte im letzten Augenblick doch noch auftauchen. »Einen wunderschönen Sonntag wünsche ich euch lieben Leuten«, flötete Hella. Ihre zur Schau gestellte gute Laune trieb Endres mehr als alles andere zur Weißglut. Sie stahl, tötete, raubte Kinder – und tat doch immer so, als wäre das Leben ein einziger Hochgenuss. Sie schritt die Reihen ab und plauderte mit den Menschen – nein: plauderte zu den Menschen, denn Antwort bekam sie nur, wenn sie ausdrücklich danach verlangte. In Wirklichkeit war es Hella egal, was die Leute sagten. Ihr ging es nur darum, sie auf Vollständigkeit zu prüfen. Endres spürte, dass jedem Einzelnen fürchterliche Angst im Nacken saß, dass ihr Plan scheitern könnte, bevor er überhaupt begonnen hatte. Weil bei Hellas Volkszählungen jedoch immer eine Atmosphäre der Furcht herrschte, war Endres zuversichtlich, dass die Hexe keinen Unterschied merkte. Plötzlich sprang Johann, Hellas hässlicher fetter Kater, von der Schulter des Monsters und jagte einer Maus hinterher – genau in Richtung der Fassreihe. Oh nein! Alles, nur das nicht! So schnell, wie der Kater zur Scheune raste, wummerte Endres auch das Herz in der Brust. Die Maus schlug Haken und verschwand schließlich genau zwischen den Stiefeln. Die Katze hinterher! Endres hielt die Luft an, als könne er dadurch etwas ändern. Der linke Stiefel kippte zur Seite, den rechten schleuderte Johann mit seinem Schwung hinter die Fässer und aus dem Blickfeld. Verdammt! Die Illusion eines schlafenden Betrunkenen war dahin. Stattdessen sah der umgekippte Schuh aus … nun ja, eben wie ein umgekippter Schuh. Wie ein deutliches Signal dafür, dass man versuchte, die Hexe zu täuschen. Der Bauer zwang sich, den Blick von dem Stiefel zu lösen. Nicht, dass er Hella durch sein Starren noch darauf aufmerksam machte!
Er sah in die Gesichter der anderen und entdeckte darin helles Entsetzen. Offenbar war auch ihnen das Unheil nicht entgangen. Bertold funkelte ihn mit boshaftem Grinsen an und Endres wusste genau, was er dachte. Habe ich es dir nicht gleich gesagt? Wann lernst du endlich, auf deinen großen Bruder zu hören? Vielleicht könnte er versuchen, unter einem Vorwand zur Scheune zu gehen und die Schuhe unauffällig wieder aufzurichten. Nein, Hella hatte noch nie erlaubt, dass jemand die Zählung verließ. Und falls sie es diesmal täte, würde sie ihn aufmerksam beobachten. Aber was sonst könnte er unternehmen, dass der Plan nicht aufflog? Gab es noch … »… mit dir, Bauer!« Endres schreckte aus seinen Gedanken hoch. Vor ihm stand die Hexe und lächelte ihn an. Daneben lauerte das gehörnte Monstrum. Seine drei Zungen peitschten durch die Luft. Endres öffnete den Mund, doch er brachte keinen Laut hervor. »Ich sagte, ich rede mit dir, Bauer! Sind dir deine guten Manieren in der letzten Woche abhanden gekommen?« Hella lachte, als hätte sie einen besonders gelungenen Scherz gemacht. »Hat dir womöglich die Katze die Zunge gestohlen? Johann war es aber sicher nicht. Oder, Johann?« Die Hexe wollte sich nach ihrem Kater umsehen. »Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Endres zu sagen. Sein Herz vollführte einen erleichterten Sprung, als Hella wieder ihn ansah. »Entschuldige bitte.« Er schlug den Blick zu Boden. »So ist es schon besser, mein Lieber. Wie ich gerade feststellte, sind all meine Lieblingsbauern wieder einmal vollständig versammelt. Sehr löblich, sehr löblich.« Endres wollte schon aufatmen, doch dann fuhr Hella fort. »Lediglich Arnulf vermisse ich wieder einmal. Wo ist er?« Das Herz des Bauern legte noch an Geschwindigkeit zu. Es hämmerte und rüttelte an den Rippen wie ein Gefangener an den Gitterstäben eines Kerkers. Die Luft wurde ihm knapp. Er sah wieder auf und blickte Hella an. Dann schaute er zu den anderen Dorfbewohnern. Die glotzten zu Boden, als hätten sie mit all dem nichts zu tun. Nur einer erwiderte seinen Blick: Bertold. Er sagte nichts, doch seine Miene sprach Bände. Ihr wolltet ja nicht auf mich hören!
»Keine Antwort? Ach, das ist betrüblich. Wusstest du übrigens, dass Vehean aus Innereien die Zukunft lesen kann?« Ihr lockerer Plauderton gefror und jedes ihrer Worte klirrte vor Kälte. »Soll er aus deinem Gedärm deine Zukunft lesen? Viel wird er dort nicht entdecken können, wenn du mir nicht antwortest! Also, mach den Mund auf.« Es ging nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Johann kam von der Scheune zurück – und im Maul zerrte er einen Stiefel hinter sich her. Hella bückte sich zu ihrem Kater und streichelte ihm über den massigen Schädel. »Na, was hast du denn da Schönes mitgebracht?« Sie klang gut gelaunt wie eh und je. Aus dem Augenwinkel sah Endres, wie Bertold vortrat. »Hella, auf ein Wort.« In diesem Augenblick schloss Endres mit dem Leben ab. Bertold würde alles verraten und ihn, Endres, seinen eigenen Bruder, als Urheber des Plans offenbaren. Die Hexe stand wieder auf und wandte sich Bertold zu. »Was gibt es, mein Guter? Hast du vielleicht eine Antwort auf meine Frage?« Bertold nickte. »Die habe ich.« »Dann sprich!« Doch dann sagte Bertold etwas, mit dem Endres niemals gerechnet hätte. »Dort kommt er!« Was? Endres' Blick ruckte hoch und starrte in die Richtung, in die Bertold zeigte. Tatsächlich! Hinter der Scheune torkelte Arnulf hervor. In seinem Gesicht lag ein verwirrter, dümmlicher Ausdruck. »Dabinch«, lallte er. »Enschulligella.« Er stürzte auf Hella zu und brabbelte dabei noch schlimmeres Kauderwelsch vor sich hin. Kurz bevor er die Hexe erreichte, stolperte er über den Kater, der mit einem lauten Fauchen beiseite stob. Er geriet ins Straucheln, versuchte noch, das Gleichgewicht zurückzuerlangen, scheiterte mit nur einem Arm jedoch kläglich und fiel auf Hella zu. Die war viel zu überrascht, um etwas anderes zu tun, als ihn aufzufangen. Arnulf wollte an Hella Halt finden, aber er war zu betrunken für planvolle Bewegungen. Seine Hand schlenkerte in Hellas Gesicht und hinterließ drei blutige Striemen, ehe sie genau auf der rechten Brust der Hexe zu liegen kam.
Hella stieß einen Schmerzensschrei aus, ließ den Einarmigen fallen und sprang zurück. »Bist du wahnsinnig, Bauer?« Jegliche Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden. »Dafür sollte ich dir den anderen Arm auch noch abreißen und in den Rachen stopfen!« »Schulligung.« Im nächsten Moment schloss Arnulf die Augen und begann zu schnarchen. Die Hexe glotzte den Schlafenden einige Sekunden an, dann kroch wieder das Lächeln in ihr Gesicht. »Ist er nicht ein drolliger Geselle?« Sie tastete die verletzte Wange ab und betrachtete die blutigen Fingerspitzen. »Ich denke, dafür werde ich ihn bei meinem nächsten Besuch zur Rechenschaft ziehen. So lange darf er vor Angst bibbern. Kündigt es ihm an, verstanden? Johann, Vehean, lasst uns gehen.« Als sie den Weg erreichten, der hinab zur Brücke führte, drehte sie sich noch einmal um. »Ach ja, sollte ich ihn beim nächsten Mal nicht mehr hier vorfinden, werde ich zehn von euch zu einer kleinen Rangelei mit Vehean bitten. Es wäre also besser, ihr passt gut auf ihn auf!« Endres seufzte. Seine Knie wurden weich und er hätte vor Erleichterung heulen können. Doch er verkniff sich jede weitere Regung, bis Hella im Wald verschwunden war. Erst als jemand »Sie ist weg!« rief, erlaubte er sich ein befreites Lachen. Zu ihrer aller Überraschung stand Arnulf plötzlich auf und reckte die Hand in die Luft. »Ich habe ihr Blut!« Bei diesen Worten trat ein Mann hinter der Scheune hervor. Seine Glatze schimmerte im Sonnenschein. Zum Ausgleich für die fehlenden Haare auf dem Kopf trug er einen dichten, grauen Bart. Endres schätzte, dass er die Fünfzig schon vor einigen Jahren überschritten hatte. Die Kapuze seines braunen Umhangs hing im Nacken. Um die Taille schnürte sich ein grobes Seil. Sein ganzes Erscheinungsbild deutete eher auf einen Mönch und nicht auf einen Magier hin. Arnulf ging zu dem Glatzkopf. Seine Schritte waren fest und zielstrebig, das Torkeln war verschwunden. »Darf ich euch Dythmar vorstellen?«, rief er in die Runde. Sofort umringten die Dorfbewohner den Wissenden und …
… überschütteten mich mit Fragen. Warum ich nicht gleich etwas gegen die Hexe unternommen hätte, was meine Pläne wären, wie ich Hella zu finden gedächte. Sie hatten doch tatsächlich gedacht, ich brauchte nur mit den Fingern schnipsen und die Hexe würde tot umfallen. Törichtes Volk! Wenn es so einfach ginge, das Weib zu besiegen, hätten sie es längst selbst schaffen können. Ich zeigte ihnen den Blutkompass. Dank Arnulfs hervorragender schauspielerischer Leistung stand mir etwas Blut der Hexe zur Verfügung, mit dem ich das magische Instrument auf Hella eichen konnte, sodass ich ihr Versteck im Wald aufspüren konnte. Auf dem Weg nach Rekkenze hatte mir Arnulf bereits das Wichtigste über Hella und ihren monströsen Gefährten berichtet. Bereits während des Ritts entwarf ich einen Plan, dessen Ausführung keine Schwierigkeiten bereiten sollte. Daher nahm ich den Auftrag an, obschon die Bezahlung eher dürftig ausfiel. Selten lag ich in der Einschätzung einer Aufgabe so falsch wie damals. (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
Sie zitterte ein wenig. Doch das lag nicht an den Schmerzen der verbrühten Hand, die unter dem Verband dank der ebenso tollen wie sündhaft teuren Salbe langsam heilte und dabei furchtbar kribbelte. Vielmehr rührte Manuela Vogts Aufregung daher, dass sie ein Thema anschneiden musste, das ihr überhaupt nicht behagte. Sie saß neben ihrem Mann auf der Couch. Von der dämlichen Show, die seit etwa einer halben Stunde im Fernsehen lief, hatte sie nichts mitbekommen. In der ersten Werbepause hatte Andreas zwei Radler für sie aus dem Kühlschrank geholt. Obwohl sie dieses Getränk am Abend normalerweise liebte, vor allem wenn es eiskalt war, fehlte aus ihrer Flasche noch kein einziger Schluck. »Schatz?« Ein Brummen antwortete ihr, dann drehte sich Andreas um. »Bescheuert, gell? Dass sich die Leute so einen Müll anschauen. Da stecken sie abgehalfterte Ex-Moderatoren in die Antarktis und schicken sie angeblich in einen Überlebenskampf. So, wie die sich verhalten,
wären sie wohl schon längst tot. Wahrscheinlich schmeißen die Kameraleute abends den Generator an und alle wärmen sich vor einem Dutzend Heizstrahlern, während sie in der Mikrowelle Fertiggerichte heiß machen. Aber wir sind ja auch so doof, es anzuschalten. Wir sollten lieber mal wieder ins Kino gehen. Dafür werden Filme schließlich gemacht.« Manuela lächelte matt. Kino – dafür werden Filme gemacht. Andreas war während der Testphase einer der Befürworter dieses Werbespruchs gewesen, den die Werbefirma, in der er als freier Mitarbeiter angestellt war, in alle Kinos gebracht hatte. In der Ursprungsversion des dazugehörigen Spots war er sogar für eine Sekunde zu sehen gewesen, doch diese kleine Bildsequenz war letztlich der Schere zum Opfer gefallen. Manuela atmete tief durch, griff nach der Fernbedienung und schaltete aus. Mit einem leisen Knistern erlosch der Fernseher; der letzte Bildpunkt glühte noch einen Augenblick lang nach. Jetzt gab es wohl kein Zurück mehr. »Was ist mit dir?«, fragte er, sanft wie immer, wenn er bemerkte, dass sie sich um etwas sorgte. »Sara. Ich … ich mache mir Sorgen um sie.« Es ärgerte sie, dass sie die Tränen in ihren Augenwinkeln nicht verhindern konnte. Mit einem Mal schwamm die Welt unter einem Wasserschleier. »Du meinst ihre …« Er brach ab, dachte nach. Er suchte wohl das richtige Wort; eine Angewohnheit, die immer extremer wurde, seit er als Werbetexter arbeitete. »Ihre Angst wegen dem Tod deines Vaters?« »Es ist mehr als das. Viel mehr! Dieses Gerede von Monstern, die Art, wie sie ihren Schrank anschaut. Das ist so ganz anders als früher.« Er legte einen Arm um sie, strich mit dem Zeigefinger ihre Tränen weg. Das führte dazu, dass sie erst recht weinen musste. Warum nur war sie, was Sara anging, immer noch so furchtbar verletzlich? Alle anderen Bereiche ihres Lebens hatte sie doch auch im Griff. Manchmal fühlte sie sich richtig schwach. So als sei sie selbst ein Mädchen, wie Sara – die im Gegenteil immer so stark gewirkt hatte. »Sie hat mich gestern nach einer Hexe gefragt«, sagte Andreas,
und Manuela verkrampfte sich. Sie hob den Kopf so abrupt, um ihrem Mann in die Augen zu schauen, dass es in ihrem Nacken schmerzte. Der Muskel zwischen Hals und Schulterblatt schien in Flammen zu stehen. »Mich auch! Gestern Abend, und das war so ernsthaft, mit einer solchen Bestimmtheit, dass ich wie vor den Kopf gestoßen war. Wenn es keine Monster gibt, gibt es dann Hexen? So hat sie gesagt. Das war richtig schaurig. Mir ist es kalt den Rücken hinunter gelaufen.« »Wahrscheinlich verarbeitet sie das Todeserlebnis so. Ich muss dir ja nicht erzählen, dass sie stundenlang mit ihrem Opa im Zimmer eingesperrt war.« Er hob die Hand, legte die Stirn hinein und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Verdammter Mist, ich rede schon wie irgend so ein Psychofritze.« Psychofritze. Das machte es Manuela nicht gerade leichter. Dennoch würde sie zur Sprache bringen, was ihr auf dem Herzen lag. Sie kniff die Lippen zusammen, kaute auf der Innenseite. Dann schloss sie die Augen. »Ich weiß, dass du davon nicht begeistert sein wirst, aber wir sollten unbedingt mit ihr zum Psychologen gehen. Dr. Steudinger meinte das ja auch, als er sie untersucht hat.« »Und wir hatten danach entschieden, dass es keine gute Idee ist.« »Sagen wir es so«, meinte Manuela leise, »ich habe mich deiner Auffassung angeschlossen, weil wir nicht einig wurden.« Andreas nickte. »Vielleicht war es ein Fehler von mir«, gab er zögerlich zu. »Ich – na ja, du weißt doch, dass meine Eltern mich immer zu diesem Spinner schleppten, weil …« Er winkte ab. »Egal. Du hast Recht. Versuch so schnell es geht einen Termin zu machen.« »Danke.« »Bedank dich nicht bei mir. Wenn ich auf dich gehört hätte, könnte sie schon längst in Behandlung sein.« Manuela erhob sich und wischte noch einmal mit den Handrücken die Tränen aus den Augen. »Wo willst du hin?« »Ich schaue nach ihr«, sagte sie. »Sie ist bestimmt eingeschlafen.« Er blickte auf die Uhr. »Schon fast zehn. Sie liegt schon über eine Stunde im Bett.« »Aber sie ist oft so unruhig. Meistens schwitzt sie furchtbar. Ich
gebe ihr eine dünne Decke, wenn's nötig ist.« »Ohne ihren geliebten Nemo?« Manuela lächelte matt. »Im Notfall öffne ich eben nur das Fenster und lasse frische Luft rein.« Sie ging nach draußen und stieg leise die Treppe nach oben. Dabei versuchte sie, die knarrenden Stellen auf der dritten und sechsten Stufe zu vermeiden; das tat sie unwillkürlich, ohne darüber nachdenken zu müssen. Es war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Saras Kinderzimmertür war geschlossen. Seltsam. Manuela wusste genau, dass sie sie offen gelassen hatte. Seit … damals achtete sie peinlich genau darauf. Sie legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nach unten. Vorsichtig öffnete sie. Licht fiel vom Flur ins dunkle Zimmer. Und ein Wind wehte Manuela ins Gesicht. Durchzug, dachte sie. Das Fenster stand weit offen, der Rollladen war nach oben gezogen. »Das gibt's doch nicht«, murmelte sie. Normalerweise schwitzte sich Sara eher halb zu Tode, ehe sie aufstand und etwas dagegen unternahm. Aber diesmal hatte sie ganz offensichtlich das Fenster geöffnet und – Manuela fühlte eine eisige Hand, die durch ihre Brust wühlte, das Herz ergriff und es erbarmungslos abdrückte. Fassungslos starrte sie auf Saras Bett. Mit einem Mal gaben die kleinen Details einen völlig anderen Sinn. Die geschlossene Tür. Das sperrangelweit offen stehende Fenster. Der hochgezogene Rollladen. Sie wirbelte herum. Das durfte doch nicht wahr sein! Das Kletterseil, das der Ergotherapeut ihnen empfohlen hatte, hing nicht mehr in dem stahlverstärkten Haken, den Andreas mit tausend Mühen in der Gipskarton-Decke befestigt hatte. Sara lag nicht in ihrem Bett. Die Zudecke war unordentlich zusammengeknautscht. Das NemoKissen hing halb über die Matratze. Mit aufkeimender Panik hetzte Manuela zum Fenster und blickte hinaus. Es ging drei Meter nach unten, und dort lag das Kletterseil am Boden, kaum erkennbar in dem düsteren Zwielicht der Nacht –
der Mond stand fast voll am Himmel. Das Seil musste heruntergefallen sein; hoffentlich erst, nachdem Sara schon bis auf den Boden geklettert war. Neben dem Seil entdeckte sie Fanny, die heißgeliebte Stoffpuppe, mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Ihre Hände klammerten sich um die Fensterbank. Schwindel drohte sie zu überwältigen. Sara hatte sich aus dem Zimmer gestohlen und irrte irgendwo draußen durch die Nacht. Ich bin so froh, dass ich Opa seinen Schatten zurückbringen kann, dachte sie. »Andreas!«, wollte sie schreien, doch es kam nur ein heiseres Krächzen.
5. Ein Männlein steht im Walde »Gut, nicht wahr?«, fragte Zamorra süffisant lächelnd. »Ich hab ihn zum Reden gebracht.« Frank Ulrich Saal konnte sich ein breites Grinsen offenbar nicht verkneifen. »So machen das die Parapsychologen also. Seien Sie mir nicht böse, aber besonders magisch schien mir das alles nicht zu sein. Und wenn Sie mich fragen, hat dieser Kaufmann einen Knall.« »Er ist … exzentrisch. Mehr wage ich momentan noch nicht zu sagen.« Der Meister des Übersinnlichen folgte dem Kommissar in dessen Büro; es galt noch einigen Verwaltungsaufwand zu erledigen, ehe der Gefangene freigelassen werden konnte. Diese Arbeit hatte Saal allerdings an irgendwelche Kollegen abgedrückt, denen er zusätzlich den Befehl erteilt hatte, Kaufmann zu ihm ins Büro zu führen, sobald alles erledigt war. Mit einem war sich Zamorra sicher – Kaufmann wusste etwas. Ob diese Informationen ihnen weiterhelfen würden oder nicht, stand auf einem anderen Blatt. »Lassen Sie mich meine E-Mails checken.« Saal bückte sich und drückte den blauen Knopf am Tower, der den Computer zu knackendem Leben erweckte. »Wer weiß, ob irgendetwas Wichtiges dabei ist.« »Ein weiterer schattenloser Amokläufer?« »Keine allzu angenehme Vorstellung.« Das Schwarz des Bildschirms wich der Anzeige des Startprogramms. Im Computer pfiff und knisterte es, als würde er jeden Augenblick in seine Einzelteile zerfallen. »Was ist das?«, fragte Zamorra. »Das verkappte Raumschiff einer Alien-Rasse, das seine Startsequenz eingeleitet hat?« »Sind Ihnen Besessenheit und irgendwelche Spinner nicht genug? Brauchen Sie auch noch Außerirdische?« Der Meister des Übersinnlichen grinste. »Es macht das Leben bunt, finden Sie nicht, Frank?«
»Wenn Sie meinen.« Saal zog die Tastatur zu sich heran, die teilweise schwarz verfleckt war. Getrocknete Kaffeereste, erkannte Zamorra. Er zog sein Handy und wollte gerade die Kurzwahl drücken, die ihn mit Château Montagne verband, als ihn ein erstaunter Ausruf seines Gegenübers innehalten ließ. »Das gibt's nicht!« Er steckte das Handy wieder ein; der Anruf konnte warten. »Was ist los?« »Ein weiterer Fall, der genau ins Schema passt.« Der Kommissar hantierte mit einer Funkmaus, woraufhin ein Drucker auf einem Beistelltischchen zu rattern begann. »In einer Studenten-WG. Zwei Tote. Der dritte Bewohner, ein gewisser …« Ein rascher Blick zum Bildschirm. »Ein gewisser Horst Banglein, ist unzweifelhaft der Täter. Und er hat den Verstand verloren.« Zamorra nickte. Es konnte Zufall sein, konnte sich aber um einen weiteren Fall von Schattenlosigkeit handeln. »Wann ist es passiert?« »Das wird Ihnen nicht gefallen. Die Leichen wurden gerade erst entdeckt … aber ihrem Zustand nach ist es mindestens anderthalb Wochen her. Eher zwei.« »Und der Täter?« »War bis vor drei Stunden immer noch in der WG. Dann haben Polizisten die Tür aufgebrochen, weil Nachbarn auf einen üblen Geruch aufmerksam geworden sind.« »Kann ich mir vorstellen«, meinte Zamorra. »Die Leichen waren also die ganze Zeit bei ihm in …« »Exakt. Dieser Banglein hockte bei den Toten in der Wohnung. Seine beiden Beine sind gebrochen. Die Kollegen fanden ihn in der Küche. Er lag vor dem offenen Kühlschrank, umgeben von verschimmelten Sachen, die er in sich reingestopft hat. Kein angenehmer Anblick. Zumal er sich mehrfach … wie soll ich sagen … also er hat die Toilette während der ganzen Zeit nicht aufgesucht.« Zamorra erhob sich. »Keine weiteren Details nötig. Ich kann's mir vorstellen. Brechen wir auf.« »Und Daniel Kaufmann?« »Der Maulwurf wird warten müssen. Wo finden wir Banglein
jetzt?« »Im Klinikum.« »Dort, wo auch Christina Finck lag?« »Exakt.« Nicht schon wieder ein Krankenhaus, dachte der Meister des Übersinnlichen. Als er weniger als dreißig Minuten später durch die steril und sauber – oder krank, je nachdem – riechenden Flure ging, fand er es so schlimm jedoch nicht. Offenbar gewöhnte man sich an alles. Er hatte ohnehin schon Schlimmeres gesehen; für jemanden, der die Schwefelklüfte selbst schon mehrfach aufgesucht hatte, musste alles andere ohnehin ein Klacks sein. Es kostete den Kommissar einige Fragen und das Zücken seines Dienstausweises, um zu Bangleins Krankenzimmer geführt zu werden. Er lag in einer speziell abgeschotteten Intensivstation, zu der sie eine junge Ärztin geleitete – so jung, so blond und so gut gebaut, dass Zamorra unwillkürlich zugeben musste, dass es sogar in Krankenhäusern Gutes gab. Vor der Tür des Krankenzimmers lungerte ein Polizist auf einem gepolsterten Stuhl und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. Als sie sich näherten, begrüßte er den Kommissar. »Frank, schön dich zu sehen. Ist 'n langweiliger Job hier. Der Typ da drin is so fertig, wenn der fliehen wollte, könnt ich noch in aller Ruhe den Artikel zu Ende les'n und mir 'nen Kaffee holen, ehe ich an die Verfolgung geh.« Angenehmer Dialekt, dachte Zamorra. Und direkt verständlich. Offenbar stammt er nicht aus dieser Gegend. »Du weißt ja, wie es ist«, meinte Saal. »Einer muss die Arbeit machen, die sonst keiner haben will.« Ein leises Lachen antwortete ihm. »Das ist wohl das, was wir mit Finanzbeamten gemeinsam haben, was?« Die Ärztin räusperte sich gekünstelt. Angesichts der kaum gebändigten Haarflut und des engen Shirts, hatte Zamorra ihren Namen vergessen. »Meine Herren, können wir? Sie erinnern sich vielleicht, dass meine Schicht zu Ende ist und ich Ihnen freiwillig einen Gefallen tue?« Zamorra folgte ihr ins Zimmer, Frank Saal ging direkt hinter ihm.
Die Analyse des Beamten vor der Tür war so falsch offenbar nicht gewesen – der Patient bot tatsächlich einen Anblick des Jammers. Beide Beine waren dick eingegipst und mit Bändern fixiert. Geschätzte drei Dutzend Schläuche und Kabel verbanden ihn mit Maschinen, Tropfs und Beuteln. Das Gesicht war eingefallen, hager und grau; die Augen starrten blicklos an die Decke. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang über sie. »Er befindet sich in einem extrem schlechten Allgemeinzustand«, sagte die Ärztin, »doch er wird überleben. Das linke Bein war offen gebrochen – Sie wissen, was das bedeutet?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie sofort eine Erklärung nach. »Der Knochen hat vereinfacht gesagt sämtliches Gewebe und die Haut von innen durchstoßen. Es hat zu extremem Blutverlust geführt. Fast ein Wunder, dass er nicht tot ist, aber wenn wir ihn noch später gefunden hätten … Sie verstehen? Außerdem hat sich die Wunde entzündet, durch Kontakt mit …« Sie gab ein trockenes Hüsteln von sich. »… Exkrementen. Der Patient hat darüber hinaus verdorbene Nahrung zu sich genommen, schlechtes Fleisch, verschimmeltes Brot, was sich eben in dem wohl seit zwei Wochen offen stehenden Kühlschrank fand. Sein Magen wurde ausgepumpt, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis die Giftstoffe ausgespült sind. Er erhält hochdosierte Antibiotika.« »Können Sie uns etwas über seinen psychischen Zustand sagen?«, fragte der Kommissar. »Muss ich das tatsächlich?« Die Ärztin hob den rechten Mundwinkel zu einem völlig humorlosen Grinsen. »Wohl kaum. Wie kam es zu seinen Verletzungen?« »Ein Kampf mit seinen Mitbewohnern, die er getötet hat.« »Wie?« »Genickbruch im einen Fall, Küchenmesser im zweiten. Die Details und anderen Wunden erspare ich Ihnen – glauben Sie mir, es gibt sie reichlich. Offenbar hat er irgendwelche Grillspieße gefunden, die …« Sie brach mit angewidertem Gesichtsausdruck ab. »War er körperlich dazu in der Lage, seine Mitbewohner zu ermorden?«, fragte Zamorra. Die Ärztin sah ihn verwundert an. »Was soll ich dazu sagen? Er
hat es getan. Die Beweise sind eindeutig.« »Aber … konnte er es? Auch noch nach dem Bruch beider Beine?« »Er muss – er …« Sie winkte ab. »Den Ablauf zu rekonstruieren, ist wohl Ihre Sache, nicht meine.« »Ganz recht«, meinte Zamorra. »Das ist meine Sache.« Dabei warf er Saal einen vielsagenden Blick zu; der Kommissar wich nicht aus und nickte kaum merklich. »Lassen Sie uns bitte mit ihm allein«, sagte Saal. Sie zögerte. »Medizinisch gesehen spricht nichts dagegen, dass Sie ihn befragen, aber er wird Ihnen keine Antworten geben können.« »Wir werden es versuchen«, sagte Zamorra mit einem charmanten Lächeln. »Einverstanden?« Sie verabschiedeten sich und die Ärztin verließ das Krankenzimmer. Wie nicht anders erwartet, reagierte Banglein nicht auf die Versuche, ihn anzusprechen. Er starrte nur weiterhin ins Leere. Schläuche verschwanden in seiner Nase. Der Mund stand halb offen. Als sich Zamorra über das Bett beugte, roch es alles andere als angenehm. »Versuchen wir es mit der altbewährten Methode«, sagte er und begann mit einem Versuch, den Patienten zu hypnotisieren. »Das hat doch schon bei der Finck nicht richtig funktioniert«, meinte Saal nach einigen Minuten, in denen Zamorras Zeigefinger vor dem Gesicht des bleichen Mannes umherwanderte. »Gut Ding will Weile haben«, sagte der Meister des Übersinnlichen. Hin und wieder – in genau kalkuliertem Abstand – murmelte er einen Zauberspruch, der ihm helfen sollte, Zugriff auf Bangleins Bewusstsein zu erhalten. Die Szenerie glich in allen relevanten Einzelheiten seinem Versuch, zu der mörderischen Braut vorzudringen. »Außerdem würde ich nicht sagen, dass es nicht funktioniert hatte. Christine Finck hat am Ende mit uns gesprochen.« »Zufall?«, schlug der Kommissar vor. »Korrekte Abfolge von magischen Formeln und psychologischen Hypnoseversuchen«, verbesserte Zamorra. »Wenn mich nicht alles täuscht, wird unser Freund hier …« »Ich wollte es nicht.« Die gehauchten Worte unterbrachen ihn. »Kommt mir bekannt vor«, sagte Saal leise, aber sichtlich beein-
druckt. Doch damit stoppte es dieses Mal nicht. Der Schleier der Abwesenheit über Bangleins Augen verschwand, und von einem Moment auf den anderen schien er völlig klar. Der Körper zuckte, und wohl nur der entkräftete Zustand und die gebrochenen Beine verhinderten, dass er aufsprang. »Ich … was habe ich getan? Wer – sind Sie?« »Herr Banglein«, sprach Zamorra leise. »Versuchen Sie sich zu erinnern. In Ihrer Wohnung. Was ist zuerst geschehen?« »Ich habe sie umgebracht.« Nacktes Entsetzen lag in der Stimme. Banglein würgte, und eines der Überwachungsgeräte begann zu piepsen. Wahrscheinlich wurde soeben im Ärztezimmer Alarm ausgelöst. »Rasch!«, sagte Zamorra. »Ich weiß, dass Sie unschuldig sind! Uns bleibt nicht viel Zeit! Ihr Schatten, Herr Banglein – was ist mit Ihrem Schatten geschehen?« Die Arme unter der Bettdecke zitterten. »Da war … etwas. Im Schatten! Es ist – aus dem Schatten gesprungen, direkt in meinen Kopf und der Schatten war weg und – und ich …« Die Tür wurde aufgerissen. Die Maschine piepte schrill. »Verlassen Sie den Raum«, sagte ein alter Mann, um dessen Hals ein Stethoskop hing. Zamorra nickte. Fürs Erste hatten sie genug gehört. Vor dem Krankenzimmer grüßten sie beiläufig den Wachbeamten, der die Zeitschrift nun auf den Knien liegen hatte und einen Kugelschreiber in der Rechten hielt. Er löste ein Kreuzworträtsel; nur wenige Felder waren bislang ausgefüllt. Zamorra warf einen beiläufigen Blick darauf und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Geisterjäger aus London, Nachname«, las er laut vor. »In Klammern: Literarische Figur.« »Keine Ahnung«, murrte der Polizist. »Was die auch alles fragen.« »Nehmen Sie mal Ihre Hand weg. Ich muss wissen, ob es sieben oder acht Buchstaben sind.« »Acht«, lautete die verblüffte Antwort. »Sinclair«, meinte Zamorra. »Den mit sieben Buchstaben hätte ich
auch gewusst.« »Na, da kennen Sie sich wohl aus.« Saal kündigte an, dass er sich kurz zurückziehen müsse, um die Toilette aufzusuchen. »Wir treffen uns am Hauptausgang«, rief der Parapsychologe ihm hinterher. Er ging zum Aufzug, dessen Tür sich gerade schloss; es gelang ihm gerade noch, hinein zu huschen. Unten angekommen, durchquerte er die Eingangshalle und traute seinen Augen kaum. Die Gestalt, die an der gläsernen Ausgangsfront wartete, war nicht zu übersehen und schon gar nicht zu verwechseln. »Herr Kaufmann«, sagte Zamorra und streckte ihm die Hand entgegen. Die Augen des Maulwurfs blitzten hinter den dicken Brillengläsern. Er wollte die dargebotene Hand ergreifen, doch das Handtäschchen rutschte durch die übertrieben schlenkernde Bewegung über das Gelenk; die Finger schnappten erstaunlich schnell zu und fingen die Halteschlaufe gerade noch rechtzeitig in der Luft. »Sie wundern sich vielleicht, wie ich hierherkomme.« Der Meister des Übersinnlichen dachte an die Hochzeit, das Fußballspiel und wer weiß wie viele andere Gelegenheiten noch. »Sie scheinen über ein Gespür für den richtigen Ort und die richtige Zeit zu verfügen.« Ein seltsam abgehacktes Kichern verzog den breiten Mund in dem dicklichen Gesicht. »Klingt gut, danke für die Blumen, aber es gibt eine viel einfachere Erklärung. Kommissar Saals Kollegen hatten den Auftrag, mich in sein Büro zu bringen. Als wir dort ankamen, hatten Sie es allerdings schon verlassen, und ich hörte mit, als die entsprechenden Fragen gestellt wurden. Man sagte mir zwar, den Aufenthaltsort könne man mir nicht mitteilen, Herr Saal werde sich aber bei mir melden … die Antworten der Kollegen hatte ich aber ebenso gehört und wusste längst Bescheid. Ich bin ja nicht taub.« Er tippte sich ans rechte Ohr und kratzte sich dahinter. »Also dachte ich mir, es wäre besser, keine Zeit zu verlieren.« Das Täschchen wanderte wieder zurück an den angestammten Platz am Unterarm. »Wo ist Kommissar Saal übrigens?« »Toilette«, antwortete Zamorra kurz angebunden. »Er müsste jeden Moment zurückkommen. Sie können sich vorstellen, dass ich ei-
nige Fragen an Sie habe.« »Wie schön – ich an Sie auch. Ich bin immer noch überzeugt, dass unsere Zusammenarbeit wunderbare Früchte tragen wird.« Zamorra fiel auf, wie blumig sich Kaufmann ausdrückte, und so manches Mal unnötig verschraubt und kompliziert. »Ganz sicher.« Durch die auf Hochglanz polierte Halle eilte der Kommissar auf sie zu. Die Ankunft ihres Gastes erstaunte ihn sichtlich. Zamorra gab die Kurzversion der Geschichte zum Besten, und Saal verdrehte die Augen. »Wenn ich jemals einen verdeckten Einsatz absolviere, muss ich meine geschätzten Kollegen wohl davon abhalten, meinen Aufenthaltsort ins Internet zu stellen. Die legen für meine Tarnidentität gleich einen Account bei Wer-kennt-wen an!« »Wo?«, fragte Zamorra. Saal winkte ab. Damit gab sich der Meister des Übersinnlichen zufrieden. Es galt, Wichtigeres in Angriff zu nehmen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Frank, möchte ich mit Herrn Kaufmann allein einige Dinge besprechen.« Der Kommissar verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Blicke bohrten sich in Kaufmanns Augen. »Keine Einwände – sobald mir Herr Kaufmann eine Frage beantwortet hat. Sie wissen, warum wir hier im Krankenhaus sind?« »Sie besuchten einen Patienten. Einen gewissen Horst Banglein.« »Was sagt Ihnen dieser Name?« Der Maulwurf schob seine Brille auf der fleischigen Nase zurecht. »Wollten Sie mir nicht eine Frage stellen? Das wäre schon die zweite.« »Sehr witzig.« Saal sah nicht so aus, als würde er sich amüsieren. »Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich die Mühe machen würden, mir …« »Selbstverständlich. Sie wollen wissen, ob ich bei Horst Banglein war, als er den Verstand verlor. So wie ich auch Christina Finck aufgesucht hatte.« »Ich hätte es nicht besser formulieren können.« »Ich habe im Fall Banglein ebenso versagt wie bei der unglücklichen Braut.«
»Waren Sie dort?«, insistierte der Kommissar. Kaufmann räusperte sich. »Nicht als es geschah. Irgendwann vorher. Wann war es denn in seinem Fall so weit?« »Das sind interne Fakten, die Sie nichts angehen. Mich würde eher interessieren, wieso Sie von Banglein überhaupt etwas wussten. Was sind die Anzeichen dafür, dass jemand … ähm … also …« Der Kommissar atmete tief durch, als koste es ihn unendliche Mühe, das Offensichtliche auszusprechen. »Dass jemand den Schatten verlieren wird?« Als der Maulwurf nicht antwortete, sah Zamorra den Zeitpunkt gekommen, dieses inoffizielle Verhör zu unterbrechen, das in aller Öffentlichkeit stattfand und bereits neugierige Blicke von Passanten in der Krankenhaushalle auf sich zog. »Frank, bitte … ich werde diese Dinge klären. Auf meine Art.« »Sie melden sich bei mir, Professor?« »Ganz sicher.« Der Kommissar zog Zamorra mit sich zur Seite. Kaufmann verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl, ging durch die Glastür ins Freie und schlenderte über den Parkplatz; anders konnte man die schwungvollen, geradezu graziösen Bewegungen wohl kaum nennen. »Sie behalten diesen Kaufmann im Auge, Zamorra, nicht wahr?«, fragte Saal. »Der ist absolut nicht koscher. Was immer mit ihm los ist, er ist gefährlich. Davon bin ich zutiefst überzeugt, auch wenn er nicht so aussieht.« »Ich weiß mich meiner Haut schon zu wehren, keine Sorge.« Zamorra schaute der dicklichen Gestalt nach. »Und ich werde herausfinden, was er weiß.«
Es war zwar nur wenig Blut, das unter Arnulfs Nägeln und an seinen Fingerspitzen klebte, aber es reichte aus, um den Kompass auf Hella zu eichen. Während ihr Lebenssaft noch in die Nadel einsickerte, kredenzten mir die Bewohner der Bauernsiedlung eine herzhafte Mahlzeit, die weitaus reichhaltiger war als das, was sie selbst an einem gewöhnlichen Tag zu essen pflegten. Trotz ihrer stetigen Fragen weigerte ich mich, ihnen meinen
Plan zu offenbaren. Stattdessen speiste ich sie mit einigen geheimnisvoll klingenden Sätzen ab, die sie wohl für Weisheiten eines Magiers hielten, die über ihren Horizont gingen, die in Wirklichkeit aber nichts anderes waren als leere Worthülsen. Nach dem Mahl ruhte ich noch einige Stunden und veranlasste die Rekkenzer, mir in einem Waschzuber ein heißes Bad zu richten, um die Anstrengungen des Ritts aus meinen alten Knochen zu spülen. Wenn ich heute an mein überhebliches Verhalten denke, möchte ich am liebsten vor Scham im Boden versinken. Doch das Schicksal oder eine höhere Macht verweigert mir diese Gefälligkeit. Und so stehen mir Tag für Tag diese letzten Stunden vor Augen, bevor ich die braven Bauern mit meiner Selbstgefälligkeit in eine Katastrophe führte. Ich beendete das Bad und wählte statt der braunen Reisekutte den wertvollen Umhang in dunklem, fast schwarzem Purpur. Nicht etwa, weil ihm besondere Kräfte innewohnten, sondern weil ich mir einbildete, er würde meine Wichtigkeit unterstreichen. Nur zu diesem Zweck hatte ich ihn überhaupt mitgenommen. Ich Narr! So machte ich mich in den frühen Nachmittagsstunden auf den Weg, den der Kompass mir wies. Über den Fluss im Tal und hinein … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… und hinein in den Wald. Dythmar versuchte zwar, die größten Hindernisse zu umgehen, doch manchmal war das nicht möglich, weil er sonst zu weit vom Weg abgewichen wäre, den er dank des Kompasses gehen konnte. Also kämpfte er sich durch dornige Büsche, kletterte steile Hänge hoch und kraxelte sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Natürlich war die Hexe nicht diesen Weg gegangen, aber der magische Blutspürer wies in gerader Linie auf die Gesuchte. Nach nicht einmal einer Stunde bereute Dythmar bereits, seinen guten Umhang zu tragen. Äste zupften mit spitzen Enden am Stoff, Dornen nagten an den Fasern. Wenn er wieder zu Hause war, konnte er den Umhang bestenfalls noch für alchimistische Versuche verwenden. Warum hatte er ihn überhaupt angezogen? Wen wollte er damit beeindrucken? Die Eichhörnchen? Schließlich sah außer ihnen
niemand seinen ganzen Stolz. Nein, er wusste es besser. Er trug den Umhang wegen Hella. In einer der Taschen klimperten die paar Münzen, die seinen kärglichen Lohn darstellten. Er würde sie Hella mitsamt dem Ledersäckchen, in dem die Rekkenzer ihre gesamte Barschaft für ihn gesammelt hatten, als Beweis für die Untreue der Dorfbewohner überreichen. Der Wald öffnete sich zu einer großen Lichtung. Dythmar nutzte die Gelegenheit für eine Verschnaufpause und einen weiteren Blick auf den Kompass. Er schimpfte darüber, dass der Blutspürer nur die Richtung und nicht auch die Entfernung anzeigte. Aber wenn Hella nicht ständig unterwegs war und ihren Aufenthaltsort änderte, musste er sie irgendwann finden. Es kostete nur Geduld und … Ein Knacken riss ihn aus den Gedanken. Eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. Der Wald steckte voller Geräusche und sicher war nur ein Tier auf einen Ast getreten. Trotzdem richteten sich Dythmars Härchen im Nacken auf und eine Horde Käfer kroch ihm mit eisigen Füßen über den Rücken. Er verfügte über keine besonderen eigenen Kräfte, aus denen heraus er Magie wirken konnte. Seine Kunst bestand darin, Zaubersprüche und Rituale zu beherrschen, die jedermann nutzen konnte, wenn er sie nur genauestens ausführte. Deshalb nannte er sich selbst auch Wissender und nicht etwa einen Magier. Und dennoch, auch ohne spezielle Fähigkeiten oder magisch geschärfte Sinne, nahm er etwas wahr, das ihn bis auf die Knochen frösteln ließ. Eine Präsenz, tiefschwarz und von dämonischer Bösartigkeit. Sie belauerte ihn. Beobachtete und witterte. Nur mit Mühe konnte Dythmar den Drang unterdrücken, einfach loszurennen. Das Monster! Das musste Hellas gehörnte Kreatur sein! Niemals hätte er damit gerechnet, dass sie ihren Diener ohne Aufsicht durch den Wald streifen ließ. Dass sie es dennoch tat, zeigte Dythmar, dass der Dämon völlig unter Hellas Kontrolle stand. Und sein momentaner Auftrag lautete vermutlich, mögliche Störenfriede aufzuspüren und vielleicht sogar zu beseitigen. Zugleich bedeutete das, dass der Wissende Hellas Unterkunft bereits sehr nah gekommen war. Das war die gute Nachricht. Die
schlechte lautete, dass der Dämon ihn niedermachen würde, bevor er sie erreichte. Mit klammen, zittrigen Fingern tastete er nach zwei Spiegelscherben, die in einer anderen Tasche steckten. Sie hatte er noch vor seinem Aufbruch aus Norenberc mit einem Zauberspruch versehen. Er hatte sie als Sicherheit mitgenommen, falls Hella auf die Nachricht, dass die Rekkenzer ihren Tod wollten, anders als erwartet reagierte. Die Scherben sollten ihm die in diesem Fall zweifellos notwendige Flucht erleichtern. Nun sah es aber so aus, als bräuchte er sie schon viel früher als erwartet! Dabei wusste er nicht einmal, ob der Dämon auf die Illusion hereinfiel. Doch ihm blieb keine andere Wahl. Gemessenen Schrittes überquerte er die Lichtung. Obwohl er den Atem der Bestie bereits im Nacken zu spüren glaubte, überwand er den Fluchtreflex. Nur keine Angst zeigen! Noch nicht. Irgendwo über ihm sang ein Vogel ein fröhliches Lied. Seltsam, dass das Tier die Gegenwart des Bösen nicht wahrnahm. Oder doch? Plötzlich verstummte das Zirpen. Ein Rascheln folgte – Flügelschlag, der Blätter streift. Der Vogel floh. Kurz bevor Dythmar die Baumlinie erreichte, zog er die Scherben aus dem Umhang und ließ sie fallen. Sofort wallte eine Nebelwolke auf, die sich in Sekundenschnelle teilte und zwei menschliche Körper nachbildete, die dem Original täuschend ähnlich sahen. Plötzlich standen drei Dythmars auf der Lichtung! Sie rannten für einen Augenblick durcheinander – und hasteten dann in den Wald. Jeder an einer anderen Stelle. Der echte Dythmar sah seine beiden Doppelgänger links von sich hinter den Bäumen verschwinden, dann schlugen die Äste hinter ihm zurück und nahmen ihm die Sicht. Und jetzt renn! Nicht umsehen! Immer der Kompassnadel nach! Er hoffte, dass der Dämon zunächst dem mittleren Flüchtenden nachjagte, wie es ein Mensch vermutlich tun würde. Zwar glaubte er, dass die Kreatur die Täuschung schneller durchschaute, als beispielsweise Hella dazu in der Lage gewesen wäre, aber vielleicht gewann er dennoch den nötigen Vorsprung. Wieder spürte er die Äste der Bäume und Dornen der Büsche, die
seinem Umhang zu schaffen machten. Doch diesmal zupften und nagten sie nicht, diesmal rissen und fetzten sie. Er achtete nicht darauf, sondern betete immer wieder den gleichen Gedanken herunter. Es sind nur Äste und Dornen! Nicht die Klauen des Dämons! Mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich selbst zu glauben. Rennen, nur rennen! In seinem Inneren spürte er ein Stechen. Er bekam immer mühsamer Luft. Ruhig! Gleichmäßig atmen! Ein Zweig peitschte ihm ins Gesicht und raubte ihm für einen Augenblick die Orientierung. Scharfer Schmerz explodierte an der Nasenwurzel. Über seine Lippen rann ein Blutstropfen. Wo ging es lang? Wohin zeigte der Kompass? Er blieb kurz stehen und lehnte sich gegen einen Baum. Da hörte er hinter sich das brachiale Krachen zersplitternder Äste. Der Dämon war nicht mehr weit! Noch ein Blick auf den Kompass, dann rannte er wieder los. Er wusste nicht, wie lange. Es mochten Minuten sein, vielleicht auch nur Sekunden. Ihm kam es vor wie Stunden. Seine Beine brannten und er japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Das Krachen hinter ihm näherte sich unaufhaltsam. Plötzlich tauchte vor ihm ein Verhau aus Ästen, umgestürzten Bäumen, Wurzeln und Büschen auf. Ein undurchdringliches Dickicht. Seine Flucht war vorüber! Es gab kein Entkommen mehr vor seinem unheimlichen Verfolger. Oder doch? Vielleicht konnte er sich darin verstecken. Möglicherweise konnte der massige Dämon das Dickicht noch schlechter durchdringen als er. Einen Versuch war es wert. Er rannte zu dem Verhau, versuchte sich seitlich hineinzuschieben, doch in dem Augenblick, als er ihn mit der Schulter berührte, verwandelte sich seine Umgebung plötzlich. Da, wo gerade noch ein Wirrwarr aus wuchernden Pflanzen gewesen war, stand nun eine Hütte. Hellas Hütte! Ob der Dämon ihn bewusst an diesen Ort getrieben hatte? Hinter ihm brach der Dämon aus den Bäumen. Vor Dythmar blieb er stehen. Unter der senkrechten Knochenwulst, die das Monster statt eines Gesichtes aufwies, öffnete sich ein riesiges Maul und drei gespaltene Zungen schossen hervor. Von einer fehlte allerdings eine Spitze. Ein schriller, schmerzhafter, mehrstimmiger Schrei stieg aus
dem Schlund empor, peinigte Dythmars Ohren und verwirrte seine Sinne. Er schlug die Hände vor die Ohren, hörte den schrecklichen Laut aber weiterhin. Orientierungslos taumelte er einige Schritte von der Hütte weg, dann sank er mit einem leisen Ächzen auf die Knie. In schimmernden Fäden rann ihm Speichel über die Lippen. Da flog die Tür der Hütte auf und Hella trat heraus. »Vehean! Still!« Sofort verstummte der qualvolle Ton. »Sieh an, sieh an. Wir haben Besuch. Vehean hat dich mir bereits angekündigt, als er dich jagte. Wer bist du?« Dythmar stand auf, fegte einige Blätter von der Kutte und wischte sich den Mund trocken. »Mein … Mein Name ist Dythmar.« Noch immer spürte er die Gegenwart des Bösen hinter sich. Die Vorstellung, dass Vehean ihm jederzeit mit einem einzigen Schlag den Kopf von den Schultern trennen konnte, verkrampfte sein Inneres zu einem harten Klumpen. Hella lächelte ihn freundlich an. »Herzlich willkommen, mein Freund. Willst du mir auch noch verraten, was dich herführt, bevor ich dich Vehean überlasse? Oder möchtest du gleich sterben?« Der Wissende schluckte. »Ich möchte … möchte gar nicht … sterben. Vielmehr habe ich dich gesucht, weil ich dir – etwas zu sagen habe.« »Tatsächlich? Was könnte das wohl sein?« »Nun …« Dythmar schalt sich selbst einen Narren. Er musste mehr Selbstsicherheit zeigen! Warum sollte sich die Hexe mit einem jämmerlichen Weichling auch nur eine Minute lang unterhalten? Und reden musste sie mit ihm. Sie musste es einfach. »Die Leute aus Rekkenze wollen dich tot sehen.« Die Hexe lachte auf. »Natürlich wollen sie das! Glaubst du, das ist eine Neuigkeit für mich? Nur werden sie es niemals wagen, etwas gegen mich zu unternehmen. Dafür zittern sie viel zu sehr um ihre unbedeutenden Leben.« »Nein, nein. Du verstehst mich falsch. Sie haben … nun ja … sie haben mich beauftragt, dich zu töten.« »Dich, ja? Ein altes Männlein, das sich vor Angst fast in die ehe-
mals edle Kutte macht? Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe!« Dythmar nickte hektisch. »Aber es stimmt!« Für einige Sekunden schwieg Hella und musterte den Wissenden von oben bis unten. »Einmal angenommen, ich glaube dir. Warum solltest du mir davon erzählen?« »Weil … nun … es ist so …« Er warf einen Blick über die Schulter zu Vehean, dessen Zungen vor dem Gesicht hin- und herpeitschten. »Du hast Recht. Ich habe tatsächlich Angst. Kannst du nicht dein … deinen … deinen Diener beruhigen? Wenigstens für ein paar Minuten? Er macht mich nervös.« Hella setzte ihre Musterung fort. Dythmar glaubte zu spüren, wie ihre Blicke ihn durchdrangen und bis auf den Grund seiner Seele prüften. Sagte er die Wahrheit? War er gefährlich? »Na schön, Dythmar.« Den Namen spuckte sie ihm förmlich vor die Füße. »Aber ich warne dich! Ein einziges Wort von mir und Vehean zerreißt dich, bevor du auch nur bereuen kannst, mich hintergehen zu wollen.« Der Wissende fasste neuen Mut. »Ich hintergehe dich nicht. Wieso sollte ich?« Sie antwortete nicht darauf, sondern hob ihre Stimme. »Vehean, verhalte dich ruhig, bis ich dir etwas anderes sage!« Dythmar drehte sich noch einmal um. Das Maul des Monsters war geschlossen, die Zungen darin verschwunden. »Ich danke dir vielmals.« »Also, warum verrätst du die Bauern an mich?« »Sie haben mir Geld gegeben, um dich zu töten. Einen lächerlichen Betrag! Sieh mich an!« Er deutete auf die wertvolle purpurne Kutte. »Sehe ich aus, als wäre ich auf ein paar kärgliche Münzen angewiesen? Ihre Bezahlung ist eine Beleidigung für mich.« »Na und? Wenn du nicht darauf angewiesen bist, warum hast du den Auftrag dann angenommen?« Dythmar trat von einem Fuß auf den anderen und sah zu Boden. »Nun … ich dachte mir, wenn sie so viel Angst vor dir haben, musst du über große Macht verfügen. Und vielleicht würdest du … mich daran teilhaben lassen, wenn ich die Bauern an dich verrate.« Er sah
auf und verzog das Gesicht. »Bitte.« »Du willst, dass ich dir etwas beibringe?« Hella lachte so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Habe ich vorhin gesagt, dass ich noch nie etwas Lächerlicheres gehört habe? Das nehme ich zurück! Das hier ist noch viel lächerlicher! Du bist drollig! Da tut es mir fast leid, dich töten zu müssen.« Die Augen des Wissenden weiteten sich. »Nein, warte! Denk doch mal darüber nach.« Er zerrte aus seiner Kutte das Ledersäckchen mit den Münzen der Bauern. »Hier, das Geld! Du kannst es haben, aber bitte, lehre mich!« Hella schmunzelte. »Nun gut. Wirf es rüber.« »Du wirst es nicht bereuen.« In hohem Bogen warf Dythmar das Säckchen zu Hella. Noch während es in der Luft war, sagte sie: »Ich werde dich trotzdem tö…« Dann fing sie den Beutel auf und verstummte. Ihr Körper wurde plötzlich steif wie ein Brett und sie stürzte ohne ein weiteres Wort nach hinten in die Hütte. Dythmar kreiselte herum, sah zu Vehean, doch der rührte sich nicht. Genau, wie Hella es befohlen hatte. Und diesen Befehl konnte sie nun nicht mehr rückgängig machen. Der Wissende lachte. »Braver Dämon!« Er ging zu Hella, nahm ihr das Ledersäckchen aus der Hand und steckte es wieder ein. »Ein kleiner Lähmungszauber«, erklärte er der regungslosen Hexe. »Schickt den Ersten, der den Beutel außer mir berührt, in einen langen, tiefen Schlaf. Ihr Frauen seid ja so berechenbar!« Aus der Hütte ertönte ein lautes, langgezogenes Fauchen. Die gelbe Katze der Hexe sprang von ihrem Platz beim Fenster, stolzierte zu dem steifen Körper und schnupperte ihm an den Ohren, der Nase und den Augen. Dann stieß sie ein weiteres gereiztes Fauchen in Dythmars Richtung aus, sprang über Hella hinweg und verschwand im Wald. »Ja, such dir ein neues Frauchen. Dein altes wird sich nicht mehr um dich kümmern können.« Hinter der Hütte entdeckte Dythmar einen kleinen Stall, in dem ein Esel, ein Schaf und ein Karren standen. Er spannte den Esel vor
den Karren, warf Hella und den völlig reglosen Dämon hinein – was ihm insbesondere bei dem massigen Vehean enorme Mühe bereitete – und machte sich auf den Weg …
… auf den Weg zurück nach Rekkenze. Auch wenn es einen oder zwei Augenblicke gab, in denen ich Zweifel an meinem Plan hegte, verlief der Auftrag doch sehr reibungslos. Ich hatte die Hexe besiegt und war stolz auf mich. Was für ein überheblicher Tor ich doch war. Erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichte ich das Dorf. Unter dem Jubel der Bauern überquerte ich die Brücke. Sie schlugen mir auf die Schultern, dankten mir, lobten mich in den höchsten Tönen. Natürlich waren auch sie der irrigen Annahme, alles sei ausgestanden. Keiner wusste, dass ich ihnen gerade den Tod in die Siedlung brachte. (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
Ihr war kalt. Kein Wunder bei der dünnen Kleidung. Auch jetzt im Sommer wurde es abends empfindlich kalt. Sara hatte ihren Schlafanzug fein säuberlich im Schrank verstaut und wahllos nach irgendeiner Hose und einem Pullover gegriffen. Sie hatte sogar einen ihrer Lieblingspullis erwischt, den rosafarbenen mit der Prinzessin auf dem Einhorn. Das schöne Bild änderte allerdings nichts daran, dass sie nun fror. Wie dunkel es hier draußen im Park sein konnte. Das hätte Sara nie für möglich gehalten. Und unheimlich war es. Richtig gruselig. Tagsüber hatte Mama sie oft mit an den Theresienstein genommen, schließlich wohnten sie nicht weit davon entfernt. Da kannte sie sich auch echt gut aus! Aber im Dunkeln sah alles so komisch anders aus. Sie zitterte ein bisschen, als sie sich umschaute. Nicht nur wegen der Kälte. Dort vorne, es musste irgendwo am Goldfischteich sein, stand ein riesiges Schattenmonster. Vielleicht ein fleischfressender Dinosaurier. Ein T-Rex. Das waren furchtbare Monstertiere mit gewaltigen Reißzähnen. Sie hatte im Fernsehen gesehen, dass die einen
Menschen mit einem einzigen Happs verschlingen konnten. Papa hatte ganz fürchterlich mit ihr geschimpft, als sie von Pippi Langstrumpf auf einen anderen Film umgeschaltet hatte. Schur-Essig-Park oder so ähnlich hieß der. Dabei hatte sie doch bloß mit der Fernbedienung rumgespielt, als Papa auf dem Klo war. Weiter, sagte Saras Schatten, den sie von Opa geliehen bekommen hatte. Das ist nur ein Baum. Aber die Augen glitzerten doch! Das Mondlicht fällt durch die Zweige und tanzt zwischen den Blättern. Die Pranken bewegen sich! Es sind nur Äste, die im Wind schaukeln. Wie schlau der Schatten war. So schlau wie Opa. Nur dass er mit einer anderen Stimme sprach als ihr geliebter Großvater. Seltsam eigentlich. Überhaupt war die Stimme eigenartig. Sara hörte sie nicht mit den Ohren, sondern irgendwie anders. Und schon gar nicht immer; tagsüber war sie überhaupt nicht da, nur manchmal nachts. Im Dunkeln. Da half es auch nichts, sich die Ohren zuzuhalten. Sara dachte darüber nach, wie es möglich sein konnte, etwas nicht mit den Ohren zu hören, sondern auf andere Weise. Zuerst fiel ihr dazu nichts ein, während sie durch den Park ging – (auf das Schattenmonster zu!) – und tief die kalte Luft einatmete, aber dann hatte sie eine Idee. Ja, klar! Es war doch ganz einfach. Mama hatte ihr davon erzählt. Und wenn Mama ihr davon erzählte, war es bestimmt richtig so. Man konnte nämlich auch mit seinem Herzen hören. Genau so musste es sein, wenn Opas Schatten sprach. Da ging es ihr gleich viel besser. Bisher hatte sie gedacht, das wäre irgendwie seltsam, aber nun war ihr klar, dass es ziemlich normal war, was mit ihr geschah. Kinder wussten eben nicht alles, das war Sara klar. Sie musste noch viel lernen. Erleichtert ging sie weiter und passte auf, dass sie den Kiesweg nicht verließ. In der vom Mond kaum erhellten Dunkelheit konnte sie die Steinchen zwar fast gar nicht sehen, aber sie hörte sie knirschen und spürte sie unter den Füßen. Immerhin hatte sie nur die
leichten Hausschuhe an. Richtige Schuhe hätte sie nicht heimlich holen können; Mama oder Papa hätten es bestimmt gemerkt. Sara kannte den Park gut genug, um zu wissen, dass neben dem Weg ein Stückchen Wiese kam, und dann schon der Goldfischteich. Sie hatte Angst, dass sie im Dunkeln dort hineinfallen könnte. Das wollte sie nicht riskieren. Sie konnte zwar schon schwimmen, aber das Wasser musste furchtbar kalt sein und – Geh endlich weiter!, verlangte Opas Schatten. Ein wenig erschrak sie. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie stehen geblieben war. »Entschuldigung«, murmelte sie. Aber sie wusste nicht, ob der Schatten sie hören konnte. Immerhin hörte sie ihn ja auch nur mit dem Herzen, und der Schatten hatte ja genauso wenig ein Herz wie Ohren. Oder doch? Was wusste sie schon. Darüber hatte sie nie nachgedacht. Wahrscheinlich wusste nicht mal Mama darüber Bescheid. Papa vielleicht. Sie würde ihn morgen mal danach fragen. Geh schon! Wohin eigentlich? Auch das wusste sie nicht. Sie hatte nur gemerkt, dass sie unbedingt aus ihrem Zimmer hinaus musste. Also war sie zuerst einmal in den Park gelaufen, weil es dort so schön war. Zumindest tagsüber. Nachts war es richtig schrecklich. Überall diese komischen Geräusche, dieses Rascheln und Knacken. Dann hörte sie ein Lachen. Es hallte von dem kleinen Pavillon her, der irgendwo rechts von ihr sein musste. Sara glaubte, dass das Männer waren. Sie ging weiter, stolperte über irgendetwas und schrie, als sie fiel. Mit den Händen fing sie sich ab, aber es tat trotzdem weh. Sie setzte sich hin, hielt die Hand dicht vor die Augen. Das war eine richtige Schürfwunde. Sara tastete mit den Fingern danach. Es blutete sogar ein bisschen. Sie presste die Lippen darauf und lutschte darüber. Das war das Beste, damit es sich nicht entzündete. Opa hatte ihr das beigebracht. Manchmal waren Opas Tipps noch besser als die von Mama und Papa, denn die beiden waren oft ein bisschen langweilig. Opa war da cooler gewesen. Was der so alles erlebt hatte. Der war sogar im Krieg gewesen! Davon hatte er vielleicht verrückte Geschichten erzählen können, von
Schokolade und Seife und solchem Zeug. Langsam ging sie weiter. Das Lachen wurde lauter, und ein geisterhaftes Licht tanzte plötzlich vor ihr durch die Nacht. Vielleicht waren es ja doch keine Männer, die da lachten, sondern ein paar gruselige Gespenster. Oder das schreckliche Monster aus ihrem Schrank, das ohne Augen und mit den drei gespaltenen Zungen. Ein ekliges Biest. Es war zwar nicht richtig dort gewesen, das wusste sie, aber irgendwie doch. Zumindest in ihrem Kopf. Das Licht kam näher. Vielleicht hatte das Monster ja doch ein Auge, so ein leuchtendes, bösartiges Ding, mit dem es durch die Nacht glotzte. Saras Herz klopfte schneller und fester, sie spürte es oben im Hals. Im nächsten Moment atmete sie jedoch erleichtert auf. Das war kein Monster, sondern nur eine Taschenlampe in der Hand eines Mannes. Neben ihm lief noch ein anderer. Vielleicht waren es auch nur große Jungs, das konnte sie nicht richtig sagen. Weil sie nicht mit Fremden sprechen durfte, ging Sara einfach weiter. Aber die beiden riefen ihr etwas hinterher, Sara verstand gar nicht, was sie damit sagen wollten: »Hey, Süße, ganz allaa?« Der andere lachte wieder und sagte etwas, das sie schon gar nicht verstand. Da war aber eins der schlimmen Worte dabei, bei dem Mama fuchsteufelswild wurde, wenn Sara es sagte. Sie bekam es nun endgültig mit der Angst zu tun und rannte weg. Doch hinter sich hörte sie schwere, schnelle Schritte auf dem Kies. Die Kerle waren viel schneller als sie. Eine Hand packte sie an der Schulter. Sara stolperte und fiel wieder hin. »Wo is'n der Mama, hä?«, fragte der eine, der mit der Taschenlampe. Er schwenkte den Strahl, hielt ihn Sara genau ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen und begann zu weinen. Ihr Knie tat weh. »Die flennt. Komm, mir haua ab.« »Du Arschloch, des is doch die Gelengheit! Sei doch net bleed!« Mit einem Mal redete Opas Schatten lauter, als Sara ihn jemals gehört hatte. Er schrie geradezu. Vielleicht deshalb, weil Saras Herz so laut klopfte und er sich irgendwie verständlich machen musste. Der
Schatten sagte ganz seltsame Worte. Sie klangen so … böse. Sara schämte sich, als sie sie aussprach. Aber sie konnte nicht anders. Sie glaubte, sonst wäre sie geplatzt. Die beiden jungen Männer blieben stehen, mitten in der Bewegung. Einer stand ganz nah bei Sara. Die linke Hand hatte er nach ihr ausgestreckt, die rechte hielt ulkigerweise den Reißverschluss seiner Hose. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass er offen stand. Doch er zog ihn nicht zu. Stattdessen fiel er einfach um. Weg hier, dachten Sara und der Schatten. Sie rannte los. Und plötzlich wusste sie auch, wohin sie gehen musste. Natürlich! Opa den Schatten zurückbringen! Nur noch am Zoo vorbei, dann könnte sie ihn auch schon sehen. Den Friedhof …
»Das ist doch nicht dein Ernst!« »Da kannst du dir aber sicher sein, Schatz!« Manuel Vogt hätte ihren Mann am liebsten an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt. Wenn sie etwas absolut nicht leiden konnte, dann war es, von ihm Schatz oder Liebling genannt zu werden, wenn er es absolut nicht so meinte. In dieser Situation wäre ein Da kannst du dir aber sicher sein, oder bist du schwer von Begriff? wohl angemessener gewesen. Da sie aber weder Lust hatte zu streiten, noch auch nur eine einzige Sekunde mit unnötigem Geschwätz zu verlieren, senkte sie nur den Blick. »Du glaubst also wirklich, Sara ist mitten in der Nacht unterwegs zum Friedhof?« Andreas schnappte sich seine Jacke und konnte nicht verbergen, dass seine Finger zitterten. »Was denn sonst? Sie hat davon gesprochen, deinem Vater seinen Schatten zurückzubringen. Ob das verrückt ist oder nicht, ist mir ehrlich gesagt völlig egal. Du rufst die Polizei. Ich suche Sara. Wir können nur hoffen, dass sie den direkten Weg zum Friedhof genommen hat und noch nicht allzu lange weg ist.« »Vor … vor einer Stunde war sie noch hier.« »Eine Stunde ist eine Ewigkeit, Manu.« Hätte er das nur nicht gesagt. Sie wollte sich gar nicht vorstellen,
was einem jungen Mädchen in einer Stunde passieren konnte, wenn es mutterseelenallein durch die Dunkelheit lief. Andreas riss die Haustür auf. »Ruf die Polizei an!« Die Tür schlug zu. Manuela ging zum Telefon und wählte. Tränen liefen über ihr Gesicht, und sie war kaum in der Lage, dem zunächst gelangweilt klingenden Beamten die Situation zu erklären. Sie konnte nur hoffen, dass Andreas ihre Kleine fand. Als sie wenig später auflegte, fühlte sie sich, als wäre sie der letzte Mensch der Welt. Sie war völlig allein, und sie hatte versagt. Hätte sie nicht merken müssen, dass es Sara noch viel schlechter ging, als es den Anschein erweckte? Sie war doch ihre Tochter! Musste eine Mutter nicht spüren, was in ihrem Kind vor sich ging? Am liebsten wäre sie Andreas gefolgt und hätte ebenfalls nach Sara gesucht. Aber der Beamte hatte versprochen, zwei Polizisten vorbeizuschicken. Also musste sie hier bleiben und warten. Auch wenn das Nichtstun mehr an ihren Nerven zerrte, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Andreas rannte durch die Dunkelheit des nächtlichen Theresiensteins und verfluchte die Tatsache, dass es keine Laternen gab, die wenigstens für etwas Helligkeit sorgten. Wieder und wieder rief er den Namen seiner Tochter. Ob sie tatsächlich zum Friedhof unterwegs war? Er war sich keineswegs so sicher, wie er es Manuela vorgespielt hatte. Dies alles war doch verrückt! Die Aussicht, Sara zu finden, bot allerdings einen Halt für seine Seele, und mochte diese Hoffnung noch so trügerisch sein. Außerdem – selbst wenn es stimmte, wenn Sara wirklich zum Grab ihres Großvaters ging, aber nicht den direkten Weg nahm … dann würde er sie nicht so leicht finden. Vielleicht fürchtete sie sich im Dunkeln und ging deshalb lieber die Straßen entlang, als durch den Park abzukürzen? Mit einem Mal setzte sich eine Schreckensvision in seinem Kopf fest. Das Bild war erstaunlich deutlich und von einer Klarheit, die ihn zutiefst erschreckte. Der Goldfischteich! Der kleine See inmitten
des Parks. Andreas sah den Leib seiner Tochter darin treiben, die Arme und Beine ausgebreitet, die Haare wie einen Schleier rund um den Kopf ausgebreitet … das Gesicht nach unten … zwei Hände packten sie und hoben sie aus dem Wasser, drehten sie um, und er blickte in weit offen stehende, kugelrunde Augen, in einen reglosen Mund, aus dem Wasser rann. Sein Atem ging schwer. Mühsam verscheuchte er das entsetzliche Bild. »Sara!« Keine Antwort. Natürlich nicht. Sie war nicht im Park. Vielleicht nicht einmal in der Nähe. Wahrscheinlich hatte irgendein perverses Schwein sie – Er stolperte fast über die beiden am Boden liegenden Gestalten. Sein Herz krampfte sich zusammen. Sara? War dies seine Tochter? Unter dem Brustkorb der einen Gestalt – viel zu groß, um Sara zu sein – glomm ein dumpfer Lichtschein. So, als würde der Mann auf einer Taschenlampe liegen. »He!«, rief Andreas. »He, wachen Sie auf!« Keine Reaktion. Natürlich nicht. Kein Betrunkener fiel mitten auf dem Weg einfach so in sich zusammen. Andreas kam sich vor wie in einer anderen Welt. War wirklich er das, der den reglosen Mann – die Leiche, sagte sein Verstand – packte und die Taschenlampe hervorzog? Ließ er den Lichtstrahl über die Gesichter wandern, die wirkten, als wären sie einfach so erstarrt, von einer Sekunde auf die andere? Kein Blut, stellte er nüchtern fest. Keine Verletzungen. Und doch waren die beiden tot, das wusste er mit unerschütterlicher Gewissheit. Es konnte nicht anders sein. Aber was immer geschehen sein mochte, es hatte nichts mit seiner Tochter zu tun, mit Sara, die allein und verloren vielleicht in diesem Moment schon über den Friedhof ging, durch endlose Reihen von Grabsteinen, die im Mondlicht unheimliche Schatten warfen. Als er daran dachte, setzte sein Verstand aus. Nur noch eins war von Bedeutung: Er musste Sara finden. Die Polizei war schon unterwegs, falls Manuela angerufen hatte; er konnte ihnen später noch von den Leichen erzählen, er musste zuerst seine Tochter finden.
Atemlos erreichte er den Ausgang des Parks und riss das Holztürchen im Zaun auf. Dass es geschlossen gewesen war, gefiel ihm gar nicht. Sara ließ es immer offen stehen. Also war sie nicht hier gewesen. Oder doch? Andreas war schon ewig nicht mehr mit ihr im Park gewesen. Seit dem Winter nicht mehr. Vielleicht hatte Sara es inzwischen längst gelernt. Oder der Wind hatte das Türchen zugeworfen. Er rannte weiter. Am Zoo vorbei. Bildete er sich das ein oder waren die Tiere tatsächlich unruhig? Flatterten die Vögel nicht aufgeregt in ihren Freiflugvolieren umher, statt zu schlafen? Nein, Unsinn. Warum sollten sie? Er war unruhig, das war alles. Noch dreihundert Meter bis zur Friedhofsmauer. Ohne nach links oder rechts zu schauen, überquerte er die Plauener Straße und hetzte immer an den alten braungrauen Steinen entlang, bis er zum Eingang kam. Der aber, das fiel ihm plötzlich ein, in der Nacht natürlich verschlossen sein würde. Sara würde vor dem verschlossenen schmiedeeisernen Tor stehen bleiben oder versuchen müssen, darüber zu klettern. Aber das wiederum konnte sie nicht. Sie hatte keinerlei Geschick für so etwas. Andererseits war sie unzweifelhaft aus dem Fenster gestiegen, um diesen verrückten nächtlichen Trip überhaupt erst zu starten. »Sara!«, rief er erneut. Ein Klingeln antwortete ihm. So laut und schrill in der Dunkelheit, dass sein Herz stehen zu bleiben drohte und das Adrenalin einen schmerzhaften Schub durch seinen Leib jagte. Das Handy … es war nur sein Handy, das er noch immer in seiner Jackentasche mit sich trug; nach der Arbeit hatte er es nicht herausgenommen. Ein Zufall. Vor dem überhasteten Aufbruch vor wenigen Minuten hatte er nicht daran gedacht, es mitzunehmen. Andreas klappte es auf, hielt es sich ans Ohr. »Hast du sie?«, fragte Manuela. »Keine Spur. Ich bin …« Er blieb schwer atmend stehen. »Bin gerade an der Friedhofsmauer angekommen.« Er schwenkte den Schein der Taschenlampe und bemerkte erst in diesem Moment, dass er sie mitgenommen hatte. Seine Finger hatten sich wie von selbst die gan-
ze Zeit über um den Griff gekrallt. »Die Polizei ist hier«, sagte seine Frau. »Schick sie zum Goldfischteich in den Park.« »Warum?« Weil der Theresienstein im Augenblick ein gefährlicher Ort zu sein scheint. Letzte Woche Hubertus Finck und jetzt liegen dort schon wieder zwei Leichen. Er hielt die Worte gerade noch zurück – wahrscheinlich hätten sie Manuela an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Oder auch darüber hinaus. »Gib mir einen der Polizisten.« »Andreas, was –« »Bitte! Gib das Telefon weiter.« »Hast du – hast du sie gefunden? Ist ihr etwas passiert?« »Nein, Manu, ich habe sie nicht gefunden. Ich schwöre es dir. Bitte gib mir …« »Warte.« Es raschelte und knackte im Hörer, während Andreas an der Friedhofsmauer entlanglief, immer in Richtung des Eingangstors. Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte über den Boden, riss den asphaltierten Bürgersteig aus der Dunkelheit. Warum funktionierte eigentlich die Straßenbeleuchtung nicht? Für den Bruchteil einer Sekunde fielen ihm wieder die unruhigen Zootiere ein. »Kommissar Berger«, hörte er eine dumpfe Stimme. »Was kann ich für Sie tun, Herr Vogt? Gibt es eine Spur Ihrer Tochter?« »Ich – hören Sie, ich verstehe es selbst nicht. Schicken Sie sofort einen Ihrer Männer in den Park. Manu, also meine Frau, sie wird Ihnen sagen, wie Sie dorthin kommen. Ich … ich habe dort zwei Leichen entdeckt. Mitten auf dem Weg.« »Zwei Leichen?« Berger klang, als zweifle er am Verstand seines Gesprächspartners. »Sind Sie sicher? Wie …« »Natürlich bin ich sicher! Diese Männer sind tot!« »Herr Vogt, Sie werden alles …« »Warten Sie!« Andreas hob den Strahl der Taschenlampe, weil sich etwas durch die Dunkelheit vor ihm bewegte. Einen Augenblick später wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte vor Erleichterung. Sara!
Er rannte auf seine Tochter zu, die mit beiden Händen Stäbe des schmiedeeisernen Friedhofstors umklammerte und daran rüttelte, als wolle sie einen Gefangenen in einer Zelle nachspielen. Andreas rannte die letzten Meter, ließ die Taschenlampe fallen und umarmte seine Tochter. »Hören Sie«, sagte er ins Handy, »ich habe sie … Sara … und es geht ihr gut.« Den kalten Körper in seinen Armen, klappte er ohne ein weiteres Wort das Handy zusammen und ließ es wieder in seiner Jackentasche verschwinden. Die Welt drehte sich um ihn. »Ist dir etwas passiert?« »Es geht mir gut, Papa«, sagte Sara. »Der Schatten hat mich beschützt.« »Er hat … was?« Bei den nächsten Worten seiner Tochter glaubte er, in einen tiefen Schacht zu stürzen: »Ich glaube, die beiden Männer wollten mir wehtun.«
6. Laterne, Laterne Zamorra stöhnte gequält. Sie hatten vor inzwischen genau vierzehn Stunden das Klinikum verlassen; Kaufmann hatte den Meister des Übersinnlichen zu seiner Wohnung geführt und behauptet, er sei inzwischen ganz einfach zu müde, um noch irgendetwas tun zu können, ohne eine Nacht tief und fest zu schlafen. Auf Zamorras Einwände hatte Kaufmann zwar genickt, aber betont, wie müde er sei. Dem Parapsychologen war schließlich nichts anderes übrig geblieben, als sich auf ein Treffen am nächsten Vormittag um sieben Uhr zu einigen, sich ein Hotelzimmer zu suchen und ebenfalls etwas Schlaf zu gönnen. Der Wecker riss ihn um sechs Uhr fünfzehn aus dem Schlaf; jeder einzelne Muskel tat ihm weh. Da er sich bei der Wahl des Hotels davon hatte leiten lassen, dass es möglichst nahe bei Kaufmanns Wohnung lag, war er in einer zwielichtigen Spelunke untergekommen, deren einziger Vorteil darin bestand, dass das Hotelzimmer nur zweiundzwanzig Euro kostete – wenn man das denn als Vorteil werten wollte. Er hätte diese Nacht so wie die letzte doch lieber im Zentral-Hotel verbringen sollen. Doch jetzt war es zu spät, dem kuscheligen Bett nachzutrauern. Die Matratze war hart und bestand offenbar zu achtundneunzig Prozent aus Sprungfedern; das Bad war verfleckt und in der Toilettenschüssel legte ein benutztes Kondom Zeugnis davon ab, wie sich die Vormieter die Zeit totgeschlagen hatten. Da sich das unerwünschte Präservativ auch durch mehrmaliges Spülen nicht entfernen ließ, hatte Zamorra schon am Vorabend beschlossen, lieber auf den Toilettengang zu verzichten. Alles hatte seine Grenzen. Der Gedanke an ein Frühstück in diesem erlesenen Haus reizte ihn überhaupt nicht, also zog er sich an – ihm blieb nichts anderes übrig, als die Kleider vom Vortag erneut zu wählen – und verließ das sogenannte Hotel. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass er Kaufmann wohl
etwas früher als verabredet treffen würde. Damit würde der Maulwurf leben müssen. Der Marsch durch die langsam zum Leben erwachende Stadt nahm nur wenige Minuten in Anspruch. In der Nacht hatte es geregnet, die Straßen und Bürgersteige glänzten noch immer feucht. Am Ziel angekommen, fand der Parapsychologe die Tür zu dem fünfstöckigen Wohnblock offen. Er trat ein und schritt die Treppe nach oben. Alles glänzte tipptopp sauber, die Wände waren offenbar vor kurzem weiß getüncht worden. Kaufmanns kleine Wohnung lag im obersten Stock. Zamorra sah den Weg durch das Treppenhaus als kleinen Frühsport an. Exakt um sechs Uhr zweiunddreißig drückte er den Klingelknopf. Nur achtundzwanzig Minuten zu früh. Das ging ja noch. Kaufmann öffnete kaum drei Sekunden danach. Wie am Vortag trug er einen enganliegenden Strickpullover mit skurrilem Muster – allerdings erinnerten die Linien diesmal nicht an ein verschlungenes Labyrinth, sondern an einen Haufen Dreiecke, die ein Kleinkind in mühevoller Arbeit in seiner Interpretation eines kubistischen Meisterwerks angeordnet hatte. »Ich bin etwas früh«, entschuldigte sich Zamorra. Die kleinen Schweinsäuglein glitzerten hinter den colaflaschenbodendicken Brillengläsern. »Gut so! Wir sollten keine Zeit verlieren!« »Das haben Sie gestern auch gesagt und dann entschlossen, doch lieber ein Nickerchen zu halten.« Statt einer Antwort winkte Kaufmann lässig ab, als sei damit alles gesagt. Für ihn war es das wohl auch. »Ich muss Ihnen unbedingt etwas zeigen. Sie werden begeistert sein.« »Das hoffe ich.« Zamorra trat ein und warf zum ersten Mal einen Blick in die Wohnung. Statt eines Empfangsflurs begann sofort das, was Kaufmann wohl als Wohnzimmer ansah; ein schlichter Holztisch, der schon bessere Zeiten erlebt hatte und aussah, als habe er zweihundert Jahre auf dem Buckel; zwei hässliche Stühle aus mattem Aluminium; eine nackte Glühbirne hing in einer Baufassung an einem baumelnden Kabel von der Decke. Die Wände waren bis auf den letzten Millimeter vollgestopft mit
Bücherregalen, in denen vor allem altertümliche Folianten standen. Zamorra musste nur einen kurzen Blick investieren, um zu erkennen, dass es sich bei sämtlichen Werken entweder um magische Sekundärliteratur oder um Romane des phantastischen Genres handelte. Dem Tisch am nächsten stand eine Reihe von Ausgaben des Necronomicons. Kaufmann bemerkte offenbar Zamorras Interesse und gab ein trockenes Kichern von sich. »Halten Sie mich nicht für naiv – ich weiß, dass das Necronomicon nicht echt ist. Ich vergleiche nur gerne die verschiedenen Ausgaben.« »Dann wissen Sie auch, dass das Buch sehr wohl existiert?« »Nur hat es leider noch keiner gefunden.« »Soso«, sagte Zamorra altklug. »Eine beachtliche magische Bibliothek, Herr Kaufmann.« »Man tut, was man kann, um sich auf dem Laufenden zu halten. Wissen Sie, wir Kaufmanns haben eine lange Geschichte und eine große Aufgabe, die wir seit Jahrhunderten zu erfüllen versuchen. Und jetzt endlich, mit Ihrer Hilfe, sehe ich die Vollendung direkt vor mir.« Der Meister des Übersinnlichen zog sich einen Stuhl heran und setzte sich unaufgefordert. Dabei schaute er sich um und nahm weitere Details der Wohnung in sich auf. Obwohl das einzige Fenster hinter dem zugezogenen blassgelben Vorhang auf Kipp stand, roch es muffig. Im hinteren Eck lag ein Strickpullover am Boden. In einem großen Netz kauerte eine fette schwarze Spinne in der Zimmerecke unter der Decke; am Boden darunter stand eine gespannte Mausefalle, in der ein schimmliges Stück Käse lag. Kaufmann zog ein einstmals sicher prächtig eingebundenes Buch aus einem Regal. Inzwischen war der Ledereinband morsch und verknickt. Winzige Stückchen fielen ab, als Kaufmann es vor Zamorra auf den Tisch legte. »Dieses Buch ist seit langer Zeit in Familienbesitz. Seit sehr, sehr langer Zeit, um genau zu sein.« Interessiert öffnete Zamorra es. »Worum handelt es sich?« »Es sind die Aufzeichnungen eines weißen Magiers – mein Stammbaum lässt sich leicht bis zu ihm nachverfolgen! Diesem Buch und diesem Magier verdankt meine Familie ihre Bestimmung.«
»Der Wissende Dythmar«, las Zamorra. »Haben Sie schon von ihm gehört?« »Nicht dass ich wüsste.« »Hätte mich auch gewundert. Sein Wirken ist im Lauf der Jahrhunderte längst vergessen. Obwohl das nie hätte geschehen dürfen!« Zamorra war die dauernden Andeutungen leid. »Können Sie etwas konkreter werden, Herr Kaufmann?« Der Maulwurf stützte sich auf den Tisch; die feisten Finger trommelten ein Stakkato. »Was sagt Ihnen der Name Hella?« Zamorra pfiff leise durch die Zähne. Sofort dachte er an Christina Finck und die wenigen Momente im Krankenhaus, in denen sie so weit zu sich gekommen war, dass sie mit Kommissar Saal und ihm hatte reden können. Christina hatte etwas von dem Ruf einer gewissen Hella erwähnt, der die anderen versammeln würde. Wer immer diese anderen auch sein sollten. »Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen – was hat Hella mit den verschwindenden Schatten zu tun?« »Sehr viel«, sagte Kaufmann. »Mehr, als Sie sich vorstellen können. Doch vielleicht sollten Sie erst einmal lesen, Herr Professor. Lesen Sie … oder stellt Sie die alte Schrift und das altertümliche Deutsch vor Probleme?« Dafür hatte Zamorra nur ein müdes Lächeln übrig. »Wenn es sonst nichts ist.« Bald vertiefte er sich so in die Seiten, dass er alles um sich herum vergaß.
Der Jubel nach meiner Rückkehr hielt nicht lange an, denn sofort stürzten sich die Menschen von Rekkenze in die Vorbereitungen für den Morgen. Ich konnte ihnen versichern, dass der Lähmungszauber erst mit dem nächsten Sonnenaufgang erlöschen würde, sodass sie noch für mehrere Stunden ohne Angst vor Hella oder ihrem Monster auf das hinarbeiten konnten, was sie als die Befreiung von einem jahrelangen Joch ansahen. Sie alle waren guter Dinge und als an diesem Sommermorgen des Jahres 1225 der Tag die Nacht verdrängte, … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… der Tag die Nacht verdrängte, waren die Gesichter der Bauern müde, aber glücklich. Vor der Kirche, im Angesicht des Herrn, hatten sie einen mächtigen Holzhaufen errichtet, aus dessen Zentrum ein Pfahl in die Höhe ragte – und Hella! Sie steckte bis zu den Knien in Ästen und trockenen Zweigen. Ihre Arme waren mit einer Kette hinter den Stamm gefesselt. Weitere Ketten schlangen sich um Hals und Hüfte. Die Lähmung war inzwischen von ihr gewichen und sie starrte die Menschen aus hasserfüllten Augen an. Sie zerrte an ihren Fesseln, konnte sie aber nicht lockern, geschweige denn sich davon befreien. All ihre Bemühungen gingen still und schweigend vonstatten, dafür hatten Endres und Bertold in trauter Eintracht gesorgt. Man hatte lange diskutiert, ob man Hella nicht einfach töten sollte, solange sie noch von Dythmars Zauber außer Gefecht gesetzt war. Ihr die Kehle durchschneiden, den Kopf abschlagen, sie erwürgen oder in der Saale ertränken. Es gab eine Unzahl von Vorschlägen – der lange aufgestaute Hass sorgte für erstaunliche Kreativität. Letztlich setzte sich aber die Meinung durch, dass man es Hella nicht so leicht machen dürfe. »Sie muss leiden für all das, was sie uns angetan hat!« »Ja, zieht ihr die Haut bei lebendigem Leib ab!« »Übergießt sie mit kochendem Wasser.« »Kettet sie an und lasst sie verdursten.« Der Einfallsreichtum war schier unermesslich und zeigte Abgründe auf, die Dythmar bei den armen Menschen nicht für möglich gehalten hätte. Schließlich kamen sie überein, Hella zu verbrennen. Um zu verhindern, dass die Hexe ihren Dämon aus dem Schlaf erweckte, schnitten ihr Endres und Bertold die Zunge heraus, stopften einen alten, jauchegetränkten Lumpen in Hellas Mund und nähten ihn schließlich zu. Vorsichtshalber banden sie ihr auch noch ein dünnes Seil um den Kopf, sodass sie den Unterkiefer selbst mit Gewalt nicht mehr aufreißen konnte. Das raue Gewebe scheuerte über die Haut, als sie es fixierten, und riss sie blutig.
So stand sie nun an den Pfahl gekettet inmitten eines Bergs aus Holz und Reisig. Etwas abseits der Menschenmenge beobachtete Dythmar von der Scheune aus, wie sich Hella gegen ihr Schicksal auflehnte. Auch wenn ihr Gesicht geschunden und geschwollen war, konnte er in ihm lesen, dass sie genau wusste, was ihr bevorstand. Jeden der Rekkenzer erdolchte sie mit Blicken. Und der Kirchplatz war voll von ihnen! Es gab wohl keinen Dörfler, der sich nicht eingefunden hatte, um die Hexe brennen zu sehen. Dann fühlte Dythmar, wie ihr Blick ihn traf. Plötzlich zerrte sie nicht mehr an ihren Fesseln. Ihr Körper entspannte sich und sie wurde geradezu unnatürlich ruhig. Für einen Augenblick wollte der Wissende instinktiv zurückweichen. Er wusste nicht warum, aber Hella machte ihm Angst. Selbst in ihrem erbärmlichen Zustand strahlte sie eine Gefährlichkeit aus, für die er keine Erklärung fand. Die Genugtuung, ihr das zu zeigen, gönnte er ihr allerdings nicht. Auch nicht, wenn sie nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Also blieb er standhaft und lächelte sie an. Sie lächelte zurück! Ihr Gesicht war eine einzige Grimasse, blutig, verquollen, von dem Seil in eine unmögliche Form gepresst – und doch zeigte sie aus zusammengenähten Lippen ein Lächeln, das nichts von seiner Arroganz verloren hatte! Der Anblick jagte einen Schauer über Dythmars Rücken, und im selben Moment verstand er: Sie hatte sich noch nicht aufgegeben! Sie wusste etwas, das außer ihr niemand wusste. Sie sah einen Ausweg, auch wenn es undenkbar erschien. Hoffte sie auf Vehean? Dythmars Blick ruckte zur Seite, hin zu dem Käfig, in dem der Dämon regungslos auf einer Holzbank lag. Die Rekkenzer hatten ihn so aufgebaut, dass Hella ihn anschauen konnte, während sie verbrannte. Sie wollten ihr vor Augen führen, dass selbst Hellas schreckliches Monster ihr nicht mehr helfen konnte. Es war gefesselt und so platziert, dass sein Kopf zwischen den Gitterstäben herausragte – und auf einem Hackstock ruhte. Niemand wollte ein Risiko eingehen. Neben dem Hackstock stand Bertold mit einer schweren Axt. Sobald Hella das Bewusstsein verlor und ihre Hilflosigkeit sie
nicht mehr quälen konnte, sollte er sie einsetzen. Oder wenn sich der Dämon bereits vorher bewegte. Doch danach sah es nicht aus. Worauf beruhte Hellas zur Schau gestellte Arroganz? Wollte sie im Angesicht des Todes einfach nur keine Schwäche zeigen? Daran konnte Dythmar nicht glauben. Das Kirchenportal öffnete sich und heraus trat Endres. In der rechten Hand hielt er eine brennende Fackel. Da er derjenige gewesen war, auf dessen Betreiben hin die Hexe nun ihre gerechte Strafe erhalten würde, kam ihm die Ehre zuteil, das Holz zu entflammen. Erneut brandete Jubel in der Menschenmenge auf und hämische Kommentare erklangen. »Hättest uns mal besser in Ruhe lassen sollen, Hella, was?« »Wie fühlt man sich, wenn man plötzlich schwach und hilflos ist?« »Freust du dich schon auf die Flammen?« Dythmar presste die Kiefer aufeinander. Wie gerne hätte er die Euphorie der Rekkenzer geteilt, doch er konnte es nicht. Etwas war nicht in Ordnung. Absolut entschieden ganz gewaltig nicht in Ordnung. Er hatte nur keine Ahnung, was. Aber sein schlechtes Gefühl hatte ihn noch nie getrogen. Auch diesmal nicht! Gerade als Endres die Fackel in den Holzhaufen steckte und die ersten Flammen knisternd über Hellas Beine leckten, regte sich Vehean. Das Monster besaß keine Augen, die es aufschlagen konnte, und dennoch spürte Dythmar bereits Sekunden, bevor die Situation außer Kontrolle geriet, dass die Kreatur erwachte. War es diese Ausstrahlung des Bösen, die ihm in jede Körperöffnung kroch und die er schon im Wald gespürt hatte? Er wusste es nicht. Im nächsten Augenblick brach die Hölle über Rekkenze herein! Veheans Zungen schnellten aus dem Maul. Eine schlängelte sich um den Stiel der Axt, entriss sie Bertold, bevor dieser auch nur merkte, was geschah, und schleuderte sie in die Menschenmenge, wo sie einem Bauern den Schädel spaltete. Blut spritzte der Frau, die neben ihm stand, ins Gesicht. Sie öffnete den Mund, stieß einen kurzen hysterischen Schrei aus, doch als ihr das Blut des Bauern über die Lippen rann, schloss sie sie hastig wieder. Die anderen beiden Zungen ringelten sich um Bertolds Unterarm
und zerrten ihn mit einem einzigen Ruck zu Vehean, der im letzten Augenblick den Schädel so drehte, dass das rechte Horn in den Brustkorb des Mannes rammte und am Rücken wieder austrat. Dythmar glaubte, das Krachen und Splittern der Knochen zu hören. Doch das musste seiner Einbildung entspringen, denn in dieser Sekunde kam lautstarke Bewegung in die Bauern. Sie fluchten und schrien, weinten und jammerten. Mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes warf Vehean Bertolds Leiche in den Pulk. Aus seinem Maul drangen wieder die kurzen, schrillen Laute, die Dythmar in den Ohren schmerzten. Sie klangen wütend und schmerzerfüllt. Konnte Vehean etwa Hellas Pein fühlen? War er deshalb aufgewacht? Ohne sichtliche Mühe sprengte er die Fesseln, die ihn an die Holzbank banden. Er bog die Gitterstäbe auseinander, als wären sie Grashalme, und sprang aus dem Käfig. Er war frei! Und er wütete fürchterlich unter den Menschen. Winfried, über dessen Lippen kein Laut mehr gekommen war, seit Hella ihn letztes Jahr vom Markt mitgenommen hatte, kreischte »Nein« – und sprach danach nie wieder etwas, denn Vehean fetzte ihm mit einer raschen Bewegung den Kopf von den Schultern. Endres sprang dem Monster in den Weg und reckte ihm die Fackel entgegen. Seine Augen schwammen im Wahnsinn. »Du hast meinen Bruder getötet! Dafür sollst du brennen!« Er hieb mit der Fackel auf Vehean ein, der sie mit der Zunge abfing und einem Flüchtenden ins Kreuz schleuderte. Dann packte er Endres mit beiden Armen, hob ihn hoch über den Schädel und zerriss ihn in der Mitte. Ein Schauer aus Blut, Innereien und Exkrementen regnete auf die Rekkenzer herab. Dythmar presste sich mit dem Rücken gegen die Scheunenwand und schob sich langsam vom Geschehen weg. Was sollte er tun? Helfen? Aber wie? Den Dorfbewohnern war nicht mehr zu helfen! Er fühlte, dass er seinem Beinamen Wissender überhaupt nicht gerecht wurde. Tränen rannen ihm über die Wangen, als er beschloss, vor Veheans Rache zu fliehen wie ein Feigling. Doch da bemerkte er, dass es Vehean gar nicht um Rache ging.
Der Dämon wollte Hella aus dem Feuer holen! Die Flammen loderten inzwischen hoch. Hellas Kleidung war längst verbrannt, von ihren Haaren war nichts mehr zu sehen und ihre schwarz verkohlte Haut warf Blasen. Trotzdem lebte sie noch! Das Feuer hatte den Strick um ihren Kopf, die Lippen und den Faden, der sie zusammengehalten hatte, zerstört und so hielt sie den Mund weit geöffnet. Der Lumpen in ihrem Mund war noch keine Beute der Flammen geworden und steckte noch immer in ihrem Rachen, weil sie keine Zunge mehr besaß, um ihn wegzuschieben. Der Wissende vermutete, dass Hella schrie, doch wenn es so war, ging es im Tumult unter. Vehean walzte auf den Scheiterhaufen zu und hinterließ dabei eine Spur aus Leichen. Die Menschen wollten fliehen, doch es waren zu viele. Sie behinderten sich, rannten gegeneinander, trampelten über Gestürzte hinweg, stolperten über Leichen oder rutschten im Blut aus. Noch nie in seinem Leben hatte Dythmar solch ein grauenvolles Massaker gesehen! Dann geschah etwas, das sich der Wissende nicht erklären konnte. Hellas Dämon hatte das Feuer beinahe erreicht. Er pflügte durch die Menschenmenge und stand schließlich nur noch vor Brunhild, Winfrieds Mutter. Irgendwo hatte diese eine Axt gefunden, mit der sie zum Schlag ausholte. Die Axt war nicht ganz so groß wie Bertolds – und sie nutzte genauso wenig! Mit einer beinahe schon beiläufigen Bewegung fegte Vehean die Frau aus dem Weg. Mit gebrochenem Genick blieb sie liegen. Jetzt gab es keine Hindernisse mehr zwischen dem Dämon und Hella. Im selben Moment sackte die Hexe im Feuer zusammen, soweit die Ketten es ihrem Körper erlaubten. Dythmar sah auch aus der Entfernung sofort, dass ihre Leiden zu Ende waren. Sie war tot. Im gleichen Augenblick blieb Vehean stehen. Und zerplatzte! Oder verpuffte vielmehr wie eine große Rauchwolke, in die ein heftiger Wind fuhr. Schwarze neblige Fragmente stoben in alle Richtungen und waren plötzlich spurlos verschwunden. Dythmar runzelte die Stirn. Was war da passiert? War Veheans
Schicksal so eng mit Hellas verbunden, dass ihr Ende auch seines bedeutete? Aber war er überhaupt vernichtet? Wo befanden sich seine Überreste? Auf einmal kam Bewegung in die Leichen, die dem lodernden Holzhaufen am nächsten lagen. Brunhild begann wie wild zu zucken. Der kopflose Körper eines Mannes nur fünf Schritte weiter stemmte sich vom Boden hoch. Eine Frau, der Veheans Klaue den Oberkörper von oben bis unten aufgerissen hatte, stand auf und taumelte umher. Insgesamt acht Tote erhoben sich. »Die Hölle öffnet ihre Pforten!« Der Schrei kam von Arnulf. »Schickt sie dorthin zurück!« Er bückte sich nach Bertolds Axt, hob sie mit seinem einen Arm über den Kopf und rannte auf eine der Leichen zu. Doch bevor er zuschlagen konnte, stürzte die Leiche vornüber und blieb liegen. Diesmal für immer. Ein großer, stämmiger Bauer trat zu Arnulf. »Was ist passiert?« Der Einarmige schüttelte nur den Kopf. Er …
… wusste es nicht. Ebenso wenig wie ich. Auch ich konnte mir keinen Reim auf die Vorgänge machen. War Vehean tot? Wohin war er verschwunden? Warum waren die Toten für einen Augenblick wieder aufgestanden? Ich konnte es mir nicht erklären. Aber mir war bewusst, dass das noch nicht das Ende der Geschichte sein konnte. Der Dämon hatte viele Rekkenzer getötet, bevor er sich auflöste. Zu meiner großen Erleichterung machten die Dorfbewohner nicht mich für das Massaker verantwortlich. Vielmehr gaben sie sich selbst die Schuld. Hätten sie Hella in ihrem Rachedurst nicht noch quälen wollen, indem sie sie mit dem gefesselten Monster demütigten, sondern dem Wesen den Schädel abgeschlagen, solange es sich noch in der von Hella befohlenen Untätigkeit befand, wäre ihnen das Blutbad erspart geblieben. Mich sahen sie als ihren Retter an, auch wenn der Preis mehr als hoch war. Zu hoch, nach meinem Empfinden. Das Schlimmste daran ist, dass ich es vielleicht hätte verhindern können, wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, was ich nur kurz danach erfahren habe. Und ich hätte es wissen können!
Wissen müssen! (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
Sara kamen die Tränen, kaum dass sie alleine im Zimmer war. Zwar hatten Mama und Papa gestern in der Nacht schrecklich geschimpft, aber deshalb weinte sie nicht. Schließlich hatten ihre Eltern gleich danach betont, wie sehr sie sie liebten und dass sie sich nur Sorgen gemacht hätten. Sara dürfe das nie, nie wieder tun! Sie weinte, weil es noch jemand anderen gab, der mit ihr sprach. Opas Schatten. Und der wollte, dass sie sehr wohl noch einmal weglief und zum Friedhof ging. Denn in dieser Nacht, das hörte Sara ganz deutlich in ihrem Herzen, würde die letzte Möglichkeit sein, Opa den Schatten zurückzugeben. Denn es war Vollmond, und solche Dinge gingen eben nur bei Vollmond. Allen konnte sie es nicht Recht machen. Was sollte sie also tun? Mama und Papa gehorchen, die gerade mit diesen Polizisten über die beiden Männer im Park sprachen? Die Polizisten waren gleich am Morgen ins Haus gekommen und schon eine halbe Ewigkeit unten im Wohnzimmer. Papa hatte Sara gesagt, dass sie niemandem (nie-man-dem, hörst du, auch nicht Mama) von ihrer Begegnung mit den beiden Männern erzählen durfte. Das war keine Lüge, hatte Papa erklärt, weil er selbst es in ein paar Tagen Mama und auch der Polizei sagen würde, wenn er darüber nachgedacht hatte, wie er es am einfachsten erklären konnte. Sara warf sich aufs Bett und drehte den Kopf hin und her. Sollte sie auf ihre Eltern hören – oder auf Opa? Sie konnte von Opa nichts erzählen, weil Mama und Papa ihr das sowieso nicht glaubten. Aber es war doch der letzte Gefallen, den sie Opa überhaupt noch tun konnte. Richtig, hörte sie den zufriedenen Gedanken aus dem Schatten in ihrem Herzen. Und es wird so schnell gehen, dass du wieder zurück bist, ehe Mama und Papa es auch nur merken. Du bist ein braves Mädchen. Das stimmte. Das war sie. Das sagte Mama auch immer. Wahrscheinlich würde sie später, wenn sie alles verstand, Sara sogar dafür loben, dass sie ihren Opa so lieb hatte und ihm seinen Schatten
brachte. Und wenn Sara erst einmal nichts davon sagte, war das ja keine Lüge – bald würde sie ihren Eltern erzählen können, dass es geklappt hatte! Es war genau dasselbe wie mit Papas Geschichte von den beiden Männern! Sara lächelte zufrieden. Endlich! Das war die beste Lösung. »Problem gelöst«, sagte sie zu Nemo. Der Clownfisch lächelte ebenso zufrieden wie Sara.
7. Teddybär ist müde »Das Schlimmste daran ist, dass ich es vielleicht hätte verhindern können, wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, was ich nur kurz danach erfahren habe.« Zamorra las die Worte halblaut vor. »Und ich hätte es wissen können! Wissen müssen! Dythmars Geschichte steht kurz vor ihrem Ende. Was ist damals beim Tod der Hexe geschehen, Herr Kaufmann? Und was mit Vehean?« Noch immer saß der Meister des Übersinnlichen am alten Holztisch; die Zeit war während seiner Lektüre der uralten Aufzeichnungen wie im Flug vergangen. Kaufmann hatte sich einige Male in ein anschließendes Zimmer zurückgezogen, ohne dass Zamorra darauf geachtet hatte. Vor wenigen Sekunden war er erneut zurückgekehrt. »Ich würde sagen«, meinte Kaufmann, »lesen Sie weiter – aber dort werden Sie es nicht erfahren! Ich habe allerdings eine Theorie, die seit Jahrhunderten in meiner Familie weitervererbt wird. Und mit dieser Theorie lässt sich all das erklären, was in den letzten Wochen geschehen ist. Die unheilvollen Ereignisse, die vor achthundert Jahren begannen, streben unabänderliche ihrem Höhepunkt entgegen! Aber alleine werde ich das schreckliche Geschehen nicht verhindern können. Deshalb brauche ich Sie an meiner Seite – Sie, Professor Zamorra, einen Weißmagier, wie Dythmar es einst auch gewesen ist! Wir Kaufmanns mögen das Geheimnis kennen, wir mögen Wächter sein und bereitstehen … aber wir können keine weiße Magie bewirken. Und genau das wird nötig sein!« Zamorra lehnte sich nachdenklich in dem billigen Aluminiumstuhl zurück; die Lehne knackte bedrohlich, als wolle sie jeden Augenblick abbrechen. Kaufmann begann wieder eine unruhige Wanderung, wie er sie schon in der Gefängniszelle an den Tag gelegt hatte; diesmal patrouillierte er an einer Seite des Tisches hin und her. »Am besten wird sein, wenn Sie erst noch die restlichen Aufzeichnung des alten Dythmar lesen – dort finden Sie einige Details. Viel ist es ohnehin
nicht mehr. Aber vorab sage ich Ihnen eines. Vehean ist nicht vernichtet worden. Und Hella ebenso wenig. Zumindest nicht endgültig. Sie haben eine neue Heimat gefunden … und wissen Sie, wo diese Heimat ist?« »Ich habe zumindest einen Verdacht. Einen ziemlich üblen Verdacht, um genau zu sein.« »Sprechen Sie es ruhig aus!« »Vehean ist zerbrochen. Und die … Splitter dieses Dämons sind in die Schatten der Rekkenzer gefahren.« Begeistert klatschte Daniel Kaufmann in die Hände. »Ich wusste es! Ich wusste, dass Sie der Richtige sind! Genau das ist geschehen! Und die Konsequenzen davon erleben wir bis heute. Stirbt ein Mensch, dessen Schatten einen Dämonensplitter in sich trägt, so huscht dieses Bruchstück Veheans in einen anderen Schatten und überdauert so die Jahrhunderte. Bis heute!« Der kleine dickliche Mann blieb stehen und hämmerte die Faust auf die Tischplatte, dass es knirschte. »Bis heute, verstehen Sie!« »Aber warum werden diese Dämonensplitter gerade jetzt aktiv? Denn genau das geschieht doch, oder? Sie fahren aus den Schatten aus, beeinflussen dabei irgendwie die Menschen, die die Schatten werfen, dass diese zu bluten beginnen und den Verstand verlieren?« »Genau das ist die Frage! Genau das! Meine Theorie ist, dass die Splitter so fest in den Schatten und auch ihren Trägern verwurzelt sind, dass sie sich aus dem Fleisch und auch dem Bewusstsein förmlich herausreißen müssen. Und das geht nun einmal nicht ohne Nebeneffekte ab. Meine Familie wacht schon so lange, aber jetzt, jetzt, ausgerechnet zu meiner Lebenszeit, kommt es zum Finale.« Kaufmann klopfte wieder auf den Tisch. »Frage beantwortet?« »Zumindest ein wenig«, schränkte Zamorra ein. »Mir fallen spontan außerdem noch eine Menge weitere ungeklärte Details ein.« »Manches wird sich klären, wenn Sie die alten Aufzeichnungen zu Ende lesen.« »Manches aber auch nicht. Zum Beispiel, warum Sie, Herr Kaufmann, so oft an Ort und Stelle waren – und was genau Sie eigentlich bewirken wollten.« »Das kann ich Ihnen sagen, Professor. Ich wollte die Dämonen-
splitter vernichten … denn sie sammeln sich, damit Vehean wiedererstehen kann.« Erneut glaubte der Meister des Übersinnlichen, Christina Fincks Stimme zu hören, wie sie vom Ruf der Hexe Hella sprach, der die anderen sammeln würde. Die anderen – handelte es sich dabei um die Splitter des Dämons Vehean? Nach Kaufmanns Worten konnte es nicht anders sein, und es schien logisch zu sein. Hella versuchte, ihren Diener-Dämon Vehean in seine unheilige Existenz zurückzurufen. Eine Aussicht, die alles andere als angenehm war. »Schön und gut«, sagte Zamorra und teilte Kaufmann seine Vermutung mit. »Aber wieso sollte die Hexe gerade jetzt, nach all den Jahrhunderten, dazu in der Lage sein, die Splitter zusammenzurufen?« »Ganz einfach«, meinte der Maulwurf. »Weil auch Hella kurz vor der Wiederkunft steht.« »Wie sollte das möglich sein?« »Lesen Sie weiter, Professor, lesen Sie weiter! Aber zuerst will ich Ihnen etwas zeigen.« Kaufmann eilte erneut aus dem Zimmer, kehrte aber nach wenigen Sekunden zurück. Er hielt sein Herrenhandtäschchen, stellte es auf den Tisch, öffnete den Reißverschluss und brachte ein seltsames Ding zum Vorschein. »Sie wunderten sich, wieso ich so oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein konnte. Das hier hat es mir ermöglicht!« Zamorra erkannte diesen Gegenstand sofort. Es war ein unscheinbares, rundes Etwas mit einem metallischen Körper. Ein stumpfes Glas bedeckte die Oberseite. »Das ist der Blutkompass, den Dythmar erwähnt hat.« »Sehr gut, sehr gut! Ich wusste doch, dass Sie verstehen werden!« »Ich verstehe gar nichts.« Die Kompassnadel lag völlig ruhig; sie war an einer Art winzigem Spieß befestigt, in dem Zamorra ein ausgeblichenes Knochenstückchen zu erkennen glaubte. »Er weist mir den Weg zu Veheans Splittern. Aber er funktioniert nur sehr schlecht. Ich kann nur einen Bruchteil seiner Macht nutzen. Und genau hier kommen Sie ins Spiel.« »Weil ich weiße Magie anwenden kann?« »Genau wie Dythmar! Er nannte sich selbst zwar einen Wissenden,
aber er wandte weiße Magie an, weil er Formeln und Zeichen kannte und nutzte. Dazu bin ich nicht in der Lage, ich habe kein Talent dazu. In Ihren Händen jedoch, Zamorra, davon bin ich überzeugt, wird der Kompass seine wahren Möglichkeiten offenbaren.« Zamorra bemerkte erstaunt, dass Kaufmanns Eifer tatsächlich so weit ging, dass seine Zungenspitze zwischen den Lippen hervorlugte und von einem Mundwinkel zum anderen huschte. In diesem Augenblick erinnerte er an ein angestrengtes Kleinkind. »Nehmen Sie ihn!«, forderte Kaufmann. Nachdenklich folgte der Parapsychologe dem Vorschlag – und wurde selbst überrascht von dem, was geschah. Sofort begann die Nadel zu pendeln, drehte sich wie rasend im Kreis. Der Maulwurf jubelte. »Sie aktivieren ihn! Besser als es mir je gelungen ist. So werden wir die Splitter finden und können verhindern, dass sie sich wieder zusammenfügen.« Doch das Ende dieses unerwarteten magischen Vorgangs war noch lange nicht erreicht. Direkt über dem Kompass flimmerte plötzlich die Luft. Etwas materialisierte aus dem Nichts. Nebel waberte auf, aus dem sich Konturen schälten – blitzendes Metall! Zamorra zog rasch die Hand zurück, und ein winziger Dolch, kaum fingerlang, fiel mit der Spitze nach unten auf die Tischplatte und blieb zitternd darin stecken. »Was ist das?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. Die Überraschung stand Kaufmann ins Gesicht geschrieben. »Damit habe ich nicht gerechnet. Es muss die Waffe sein, die Waffe … ja – die Waffe!« »Welche Waffe?« »Nun lesen Sie schon weiter!«, forderte Kaufmann. »Sie sind fast am Ende angelangt.«
Nach dem Blutbad in Rekkenze half ich den armen Bauern bei den Aufräumarbeiten. Das war ich ihnen einfach schuldig. Doch bereits am Morgen des nächsten Tages machte ich mich auf den Weg. Nicht zurück nach Norenberc. Das konnte warten. Zunächst musste ich versuchen herauszu-
finden, was tatsächlich mit Hella und Vehean geschehen war. Es gab nur einen Ort, an dem ich Antworten auf meine Fragen zu finden hoffen durfte: Hellas Hütte. Den Dorfbewohnern sagte ich nichts davon und ließ sie in dem Glauben, alles sei vorüber. Wie treulos von mir! Zum Dank für meine Hilfe schenkte Arnulf mir sogar die Axt, mit der er Veheans Zungenspitze abgetrennt hatte. »Die Flecken auf dem Blatt sind das Blut des Monsters! Möge dich diese Waffe immer an uns erinnern.« Braver, tapferer Arnulf! Ich habe ihn nie wiedergesehen. Ebenso wenig wie die anderen Menschen von Rekkenze. Es war nicht leicht, die Hütte zu finden. Bei meinem ersten Marsch durch den Wald hatte mir der Blutkompass den Weg zu Hella gewiesen. Dieses Hilfsmittel stand mir nun nicht mehr zur Verfügung. Dennoch gelang es mir schließlich. Glücklicherweise war der Illusionszauber, der die Hütte geschützt hatte, mit Hellas Tod erloschen. Im Inneren fand ich ein großes Regal, das vollgestopft war mit Pergamenten und Büchern, die ich sofort durchwühlte. In dieser Sekunde wurde mir klar, dass ich dies schon viel früher hätte tun müssen! Nämlich sofort nachdem ich Hella mit dem Lähmungszauber belegt hatte. Doch ich war viel zu geblendet von meinem Sieg, um überhaupt auf die Idee zu kommen. Was für ein Hochmut! Die meisten Pergamente … (aus den Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar)
… meisten Pergamente waren unwichtig. Zumindest für Dythmar. Rezepte für obskure Hexensalben, Tränke oder Tinkturen. Haarfärbemittel, Faltenwässerchen, Mixturen zur Stärkung der Manneskraft. Nichts, was dem Wissenden weiterhelfen würde. Mit Ausnahme der Mixturen vielleicht, aber sein Interesse an derlei Sinnesfreuden war ohnehin nicht mehr allzu groß. Dann stieß Dythmar auf eine Reihe von Pergamenten, die sich deutlich von den anderen unterschieden: In ihnen hatte Hella eigene Vermerke hinterlassen, kurze, an den Rand gekritzelte Notizen. Streichungen und Ergänzungen. Manche Stellen hatte sie auch vollständig durchgestrichen. Beigabe Brennnessel erhöhen. Kastanien statt Eicheln verwenden? Wirkungslos!
Hühnerblut durch Menschenblut ersetzen. All diese Pergamente beschäftigten sich mit demselben Thema. Hellas größtes Interesse galt offensichtlich der ewigen Jugend, der Unsterblichkeit. Oder zumindest der Möglichkeit einer Wiedergeburt nach dem Tod. Davon war sie besessen gewesen. Doch ebenso offensichtlich hatte sie noch kein wirksames Ritual gefunden, wie all ihre Anmerkungen zeigten. Dythmar stieß auf eine dünne Kladde, in der Hella ihre Experimente, Erfolge, Misserfolge und weitere Gedanken niedergelegt hatte. Das Tagebuch der Hexe! Er ging zu dem großen Tisch in der Mitte des Raums, wischte einige Krümel und Knöchelchen weg, legte die Kladde darauf, setzte sich und begann zu lesen. Es war das Geschwafel einer Verrückten, die sich nicht damit abfinden konnte, dass sie alterte wie jeder andere auch. Da die Rituale kaum Wirkung zeigen, werde ich versuchen, sie auf anderem Weg zu verstärken. Es sollte gelingen, Kindern die Jugend, Frische und Unschuld zu entreißen und in einem Trank zu konservieren. Was für ein Unfug! Das Tagebuch war voll mit ähnlichem Irrsinn. Doch eine Passage erregte Dythmars besondere Aufmerksamkeit. Der Zauber der geraubten Reinheit hat ebenfalls versagt. Nun bleibt mir wohl keine andere Wahl mehr. Ich werde die Seelenbindung mit Vehean durchführen müssen. Auch wenn deren Wirkung voller Unsicherheiten steckt, scheint sie mir doch der einzig gangbare Weg. Sollte sich später ein anderes Ritual als geeigneter erweisen, kann ich sie wieder lösen. Doch bis es so weit ist, bleibt mir nur diese Möglichkeit. Ich muss an meine Sicherheit denken. Der Tod kann schneller kommen, als man glaubt. Nanu? Hatte Hella tatsächlich geahnt, dass die Rekkenzer ihr nach dem Leben trachteten? Seelenbindung! Was war das? Davon hatte Dythmar noch nie etwas gehört. Auch der nächste Satz gab keinen Aufschluss darüber. Ihn hatte sie wohl einige Zeit später geschrieben. Die Seelenbindung ist vollbracht. Veheans dämonische Kraft wird mir ein Weiterleben ermöglichen. Gebe Satan, dass es nie dazu kommen muss und ich vorher einen anderen Weg finde. War dies die richtige Spur? Dythmar stand auf und durchsuchte
das Regal weiter. Aus einem dicken Wälzer sah er ein Stück Leinen herausragen. Ein Lesezeichen? Er legte auch das Buch auf den Tisch und schlug es an der Stelle auf, die der Stoff markierte. Volltreffer! Der Wissende las, was der Text über die Seelenbindung verriet. Die ersten Zeilen beschäftigten sich damit, wie das Ritual durchzuführen war – ein widerlicher, schwarzmagischer Zauber voller Blut und Gewalt, der selbst Dythmar den Magen umdrehte, der schon von vielen abscheulichen Ritualen gehört, sie beobachtet oder gar selbst durchgeführt hatte. Die weiteren drei Seiten beschrieben seine Wirkung. Dythmar spürte, wie ihm heiß wurde! Hella war nicht tot! Ihr Körper war zerstört, aber ihre Seele lebte weiter … Es war nicht die Angst vor der Wut der Rekkenzer, die Hella zu dem Zauber getrieben hatte. Es war die Angst vor dem Tod schlechthin, der früher oder später auf sie gewartet hatte. Die Seelenbindung konnte ihn zwar nicht verhindern, aber sie ermöglichte eine Wiederkehr. Die Hexe verband sich mit der Seele eines Dämons, sodass dieser sie mittels seiner höllischen Kräfte nach ihrem Tod wiedererwecken konnte. Sie musste lediglich dafür sorgen – und das war der Haken an der Sache! –, dass im Augenblick ihres Todes ein junges, unschuldiges Mädchen unmittelbar neben ihr stand. Die Hexenseele wechselte auf das Kind über, um es zu übernehmen und in ihm weiterzuleben. Dies ging jedoch nicht leicht, denn die Seele des Mädchens wehrte sich gegen die Übernahme des Körpers. Deshalb lauerte die Essenz der Hexe, wie das Buch es nannte, im Schatten des Kindes, bis die Wiedererweckung schließlich stattfinden konnte. An dieser Stelle wiederum kam der gebundene Dämon ins Spiel! Er musste mit einem nicht näher beschriebenen Ritual die Seele des Mädchens brechen. Er vollführe den Zauber, wenn die Mächte des Bösen am stärksten sind. Um die Unschuld der Lebenden zu beschmutzen, geschehe dies an einem Ort der Toten. »Also um Mitternacht bei Vollmond auf einem Friedhof«, murmelte Dythmar. Aber sei gewahr: Die Essenz der Zauberkundigen dringe in den Körper,
der ihr am nächsten stehe. Sei dies keine Maid, jung und rein, so sei eine Wiedererweckung nicht zu vollbringen. Der Dämon zerbreche in Splitter schwarzen Dunstes und fahre ein in die Schatten der nahen fleischlichen Hüllen. Dort warte er, bis er dereinst befreit werde. Das also war mit Vehean geschehen! Der Mensch, der Hella bei ihrem Tod am nächsten stand, war kein Mädchen gewesen, und deshalb existierten die Splitter des Dämons nun in den Schatten einiger Dörfler. Und auch Hellas Seele lauerte im Körper eines Rekkenzers ohne die Möglichkeit, wiedererweckt zu werden. War also doch alles gut, weil es niemals zur Wiedererweckung kommen konnte? Dythmar las weiter. Und sei gewahr: Vollführe der Dämon das Ritual der Erweckung nicht zur rechten Zeit, so zerbreche er desgleichen in Splitter schwarzen Dunstes. Langsam wurde Dythmar klar, warum Hella von der Seelenbindung so wenig angetan war. Stürbe nun die fleischliche Hülle, in dessen Schatten ein Splitter schwarzen Dunstes seiner Befreiung harre, so wandere sie weiter in den nächsten Schatten. Desgleichen geschehe, wenn der Essenzträger dahinscheide. Sei der neue Essenzträger aber nun eine Maid, jung und rein, so sei dies der Augenblick, in dem sich die Splitter schwarzen Dunstes ihrer selbst bewusst werden und von einem Vertrauten der Zauberkundigen aus den Schatten befreit werden können. Seien genügend Splitter befreit, entstehe daraus der Dämon aufs Neue und vollbringe das Erweckungsritual. Doch gelinge dies nicht zur rechten Zeit, zerbreche der Dämon abermals. Wenn Dythmar das richtig verstand, konnte Hella also erst wieder auferstehen, wenn ihre Seele irgendwann einmal im Schatten eines Mädchens landete. Und dann mussten vorher auch erst noch Veheans Fragmente aus den Schatten der Menschen befreit werden, die sie unwissend mit sich trugen. Dazu bedurfte es der Hilfe eines Vertrauten. Der Dämon, wenn er denn überhaupt rechtzeitig neu erstand, musste dann wieder beim nächsten Vollmond das Ritual durchführen, sonst zersprang er wieder und das Ganze begann von vorne. Der Wissende lehnte sich zurück und atmete tief durch. Hellas einziger Vertrauter war Vehean gewesen. Wer sollte also, wenn es je-
mals so weit sein sollte, den Dämon aus den Schatten befreien? Fand Hellas Seele überhaupt jemals einen Mädchenkörper? Wie sollte dieser ohnehin nicht vorhandene Vertraute die »Splitter schwarzen Dunstes« finden? Nein, es war wirklich mehr als unwahrscheinlich, dass Hella jemals wieder zurückkam. Für einen Augenblick dachte er darüber nach, ob er den Rekkenzern davon erzählen sollte, doch er entschied sich dagegen. Zum einen hätte er ungern das Geld zurückgegeben, weil sein Auftrag streng genommen noch nicht erfüllt war. Zum anderen hatte er einen Ruf zu verlieren. Außerdem hätten sie ohnehin nichts unternehmen können. Also konnte er auch gleich …
… konnte ich auch gleich schweigen – und zwar bis heute. Bis zu diesem Moment, in dem ich meine Erinnerungen niederschreibe. Ich habe darauf gehofft, darin eine Erleichterung meines Gewissens zu finden. Die Hoffnung war vergebens. Stattdessen schmerzen nun meine Finger mehr als je zuvor! Anfangs war ich in der Tat der Überzeugung, Hella könne nicht zurückkehren. Doch mit jedem Tag, der seither vergangen ist, werde ich unsicherer. Ich bin beinahe am Ende angelangt. Den Rest werde ich dennoch erst morgen zu Pergament bringen könnten. Zu sehr schmerzen meine Knochen – und mein Herz! Ich muss einen Tag pausieren. Die Schmerzen in den Fingern haben immer noch nicht nachgelassen, obwohl ich nicht nur einen, sondern sogar zwei Tage nichts geschrieben habe. Im Gegenteil. Ich fürchte beinahe, ich habe mich überanstrengt! Hätte ich doch nur schon eher damit begonnen, Hellas Geschichte zu erzählen. Bestimmt hätte ich mich dann an mehr Einzelheiten erinnert. Heute wusste ich nicht einmal mehr, was ich gestern geschrieben habe. Was ist nur mit meinem Gedächtnis los? Ich musste alles erst noch einmal nachlesen, bevor ich nun an den letzten Teil meiner Niederschrift gehe, trotz des Reißens in meinen Händen. Anfangs war ich also in der Tat der Überzeugung, Hella könne nicht zu-
rückkehren. Doch mit jedem Tag, der verging, stiegen meine Zweifel. Ich kannte keinen Vertrauten, der Veheans Splitter aus den Schatten befreien könnte. Hieß das aber zugleich, dass es wirklich keinen gab? Keineswegs! Obwohl ich erst vor kurzem auf Hella getroffen bin, glaube ich, sie gut genug einschätzen zu können, um zu wissen, dass sie kein Ritual wie die Seelenbindung vollzogen hätte, ohne tatsächlich einen Vertrauten zu besitzen. Hinzu kommt ihre Arroganz und Selbstsicherheit im Angesicht des Todes! Sie wusste, dass das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen für sie nicht das Ende bedeuten musste! So wuchsen meine Zweifel im Laufe der Zeit immer mehr heran zur Gewissheit: Eines Tages würde Hella zurückkehren! Und ich trage daran die Schuld! Ich hatte den Rekkenzern vorgegaukelt, mein Auftrag sei erfüllt, das Böse sei zur Strecke gebracht. Aus Angst um meinen Ruf, aus Angst, das Geld zurückgeben zu müssen, habe ich sehenden Auges zugelassen, dass die Seelen der Hexe und des Dämons noch immer irgendwo unerkannt unter uns weilen. Wer konnte schon sagen, ob nicht sogar ich einen Dämonensplitter in meinem Schatten trage? Oh, wie dumm ich war! Damals hätte ich vielleicht noch etwas unternehmen können, doch als mein Gewissen anfing, mich zu plagen, war es bereits zu spät. Die Fragmente der Dämonenseele waren vermutlich bereits in alle Winde verstreut und unauffindbar. Und in wem lauerte die Hexenseele? Wie sollte man sie vernichten? Auch wenn es aussichtslos war, beschloss ich, mein Versäumnis wiedergutzumachen. Rasch fasste ich einen Plan. Um die Wiedergeburt der Hexe zu verhindern, durfte Vehean nicht neu erstehen. Folglich musste ich Hellas Vertrauten finden und ihn beseitigen, bevor er die Teile des Dämons zusammensetzte. Und wo konnte ich ihn finden? Bei den Menschen, in deren Schatten Veheans Splitter ihrer Befreiung harrten. Also eichte ich meinen Blutkompass auf den Dämon! Dank der verkrusteten Reste auf dem Blatt der Axt, die Arnulf mir geschenkt hatte, gelang mir das ohne Probleme. Wie groß war meine Enttäuschung, als der Kompass nichts anzeigte! War das Blut bereits zu alt? Reichte es nicht aus? Waren die Dämonensplitter zu klein, als dass der Blutspürer auf sie ansprechen konnte? Nein, ich glaube, der Grund ist ein anderer: Solange Hellas Seele nicht
im Schatten eines Mädchens auf ihre Wiedergeburt lauert, existiert Vehean nicht. Wie steht es in Hellas Buch? Sei der neue Essenzträger aber nun eine Maid, jung und rein, so sei dies der Augenblick, in dem sich die Splitter schwarzen Dunstes ihrer selbst bewusst werden und von einem Vertrauten der Zauberkundigen aus den Splittern befreit werden können. Ich denke, der Kompass wird mir erst dann den Weg weisen, wenn die Seele der Hexe in den Schatten eines Mädchens einfährt, weil sich erst dann der Dämon seiner selbst bewusst wird! Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag! Seien genügend Splitter befreit, entstehe daraus der Dämon aufs Neue und vollbringe das Erweckungsritual. So stand es in dem Buch geschrieben! Der Vertraute brauchte nicht alle Splitter, um Vehean neu erstehen zu lassen. Er brauchte nur »genügend«, wie viele auch immer das sein mochten. Was, wenn ich ihn nicht daran hindern konnte, weil mich der Kompass zu einem Menschen leitete, den der Vertraute gar nicht aufsuchte? Weil ich ständig an der falschen Stelle auf ihn wartete? Es gab für mich nur eine Lösung. Ich durfte mich nicht gedulden, bis ich wusste, wer der Vertraute war. Ich musste Vehean bereits vorher vernichten! Dazu musste ich ihn allerdings selbst erst einmal aus den Schatten befreien. Die nächsten Jahre verbrachte ich mit Studien und Forschungen. Es gelang mir, Veheans Sigill herauszufinden. Mit ihm sollte es möglich sein, eine Waffe zu erschaffen, die dem Dämon endgültig den Garaus machte. Es kostete Mühe, einen kleinen Dolch zu besorgen und ihn magisch zu weihen. Mit meinem eigenen Blut zeichnete ich Veheans Sigill darauf und sorgte dafür, dass es für immer dort blieb, unsichtbar für Menschenaugen, doch sichtbar für den Dämon – sollte er es jemals zu Gesicht bekommen. Den Dolch versteckte ich magisch über dem Blutkompass; erst wenn der Richtige ihn in die Hand nimmt, wird er sich offenbaren. Ich glaube nicht mehr daran, dass ich es sein werde. Ich bin zu alt, zu viel Zeit ist vergangen. Aber irgendwann wird es so weit sein. Gnade den Menschen, die dann leben werden. Täglich prüfte ich den Kompass in der Angst, er könne bereits etwas anzeigen und ich wäre noch nicht vorbereitet! Doch er schlug nicht aus. Hella hatte noch keinen Mädchenkörper gefunden. Vehean existierte noch
nicht und konnte folglich noch nicht aus den Schatten gerufen werden. Bis heute nicht! Es fällt mir immer schwerer, meine eigene Schrift zu lesen! Nicht nur, dass die Schmerzen in den Fingern ständig schlimmer werden, jetzt kommt auch noch ein lästiger Husten hinzu, der mich durchschüttelt und die Schreibfeder erbeben lässt. Doch sei's drum. Meine Geschichte ist erzählt. Ich habe mein Herz geöffnet und ein … (Hier enden die Aufzeichnungen des Wissenden Dythmar.)
Ein Mann trat in das Zimmer der kleinen Stube. Ein schneller Rundumblick zeigte ihm, was er wissen musste: links stand ein deckenhohes Regal, das überquoll vor Büchern, Pergamenten, gerollt, gefaltet oder offen, Skizzen auf Leinenstückchen, ein rundes Metallding, das an einen Kompass erinnerte – nichts, was als Waffe verwendet werden könnte; rechts befand sich ein schäbiger Holzkasten voller muffigem Stroh, vermutlich die Schlafstatt; daneben ein Tischchen mit einem Tonkrug und einer Schüssel; ein Fenster mit geschlossenen Läden; und in der Mitte der Stube stand ein etwas größerer Tisch, an dem der Alte im Schein einer Kerze saß und mit einer Feder Worte auf ein Pergament kratzte. Seine Glatze war übersät von dunklen Flecken, der Bart erinnerte eher an das verfilzte Fell eines Schafs als an die Haare eines Menschen. Aber ansonsten hatte er sich überhaupt nicht verändert, außer dass er älter geworden war. »Du lebst in ärmlichen Verhältnissen, Dythmar! Ein kärgliches Zimmer über einer Schänke! Welch ein Abstieg.« Der Alte zuckte zusammen, ließ die Feder fallen und schaute auf. Er kniff die Augen zusammen. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?« Dann lauter: »Helene?« »Helene? Ist das die blonde Wirtin mit den großen Zitzen? Ich fürchte, sie wird dir nicht helfen. Ihre Schänke bleibt heute geschlossen. Oder für immer, falls sie keine Erben hat!« Dythmars Unterkiefer sank herab und die Augen wurden groß. »Ihr habt … habt sie …?« »Ja, habe ich.« Der Eindringling zuckte mit den Schultern. »Was
sollte ich tun? Sie wollte mir nicht den Weg zu deinem Zimmer zeigen. Wie dem auch sei … ich habe es auch so gefunden.« »Was wollt Ihr?« »Nur mal sehen, wie du die letzten Minuten deines Lebens so verbringst.« »Die letzten Minuten?« Dythmar setzte sich aufrecht hin. Er zeigte keine Angst. »Wollt ihr mir drohen? Mir? Einem Wissenden, der Euch mit einem Zauberspruch in eine Maus verwandeln könnte?« Der Eindringling lachte. »In eine Maus? Eine wirklich erheiternde Vorstellung. Sehr schön, sehr schön.« Er wischte sich Lachtränen aus den Augen und wurde ansatzlos ernst. »Das kannst du nicht! Als wir uns zuletzt gesehen haben, warst du noch mächtig. Jetzt bist du nur noch ein alter, alter Mann, der seit Jahren keinen Zauber mehr gewirkt hat, weil ihm die Sprüche dazu entfallen sind. Wo ist es hin, dein Gedächtnis? In welche Gefilde hat sich dein Verstand verabschiedet?« Dythmar runzelte die ohnehin schon faltige Stirn. »Kennen wir uns?« »Kennen ist zu viel gesagt. Wir hatten eine gemeinsame Bekannte.« »Hella.« »Richtig.« »Und wir sind uns schon begegnet?« »Sind wir. Aber ich bin nicht gekommen, um mir dir in alten Erinnerungen zu schwelgen.« »Ihr seid Hellas Vertrauter!« Dythmars Stimme war ein verwehender Hauch. »Ihr sollt den Dämon zurückholen!« »So alt und doch noch so weise.« Der Spott troff aus den Worten des Eindringlings. »Ist sie … kehrt sie zurück?« Ein Ausdruck des Bedauerns legte sich in die Miene von Hellas Vertrautem. »Nein, leider noch nicht. Ich werde noch warten müssen. Aber ich habe Zeit!« »Zeit? Was ist, wenn Ihr sterbt, bevor sie in einem Mädchenschatten ist.« »Das wird nicht geschehen! Dafür hat Hella gesorgt. Was für eine
Ironie, nicht wahr? Mit ihrer Magie konnte sie verhindern, dass ich altere. Etwas, das sie bei sich selbst nie geschafft hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Mensch bin.« »Wer seid ihr?«, fragte Dythmar noch einmal. Er bekam keine Antwort. »Ich habe dich in den letzten zwanzig Jahren beobachtet, weißt du? Deine Forschungen, die Eichung des Kompasses, dein körperlicher und geistiger Verfall. Und du warst so beschäftigt mit allem, so versessen darauf, mich zu finden, dass du mich gar nicht bemerkt hast. Ist das nicht spaßig? Nun, ich wäre schon eher gekommen, um die letzten Minuten deines Lebens zu beobachten. Aber erst wollte ich sicher sein, dass du tatsächlich nicht mehr über Magie verfügen kannst. Jetzt bin ich sicher!« Mit einer Schnelligkeit, die Dythmars müde Augen nicht einmal nachvollziehen konnten, huschte der Eindringling hinter den Wissenden und drückte ihn mit beiden Armen auf die Tischplatte. Dann biss er ihm in den Nacken. Ein trockenes Knirschen erklang, als sich die Eckzähne wie Keile zwischen Dythmars Halswirbel drängten und sie auseinandersprengten. Das Halsmark zerriss und der Wissende war auf der Stelle tot. Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ging der Eindringling zu dem Regal und nahm den kompassähnlichen Gegenstand heraus. Er musterte ihn für einige Sekunden. »Ich hätte die Dämonensplitter auch so gefunden. Aber du wirst es mir erheblich erleichtern, wenn es einst so weit sein wird!« Er steckte den Blutspürer ein, raffte noch Dythmars Aufzeichnungen zusammen und verließ die Schänke der blonden, leider viel zu früh verstorbenen Helene.
Manuela Vogt verabschiedete sich von den Polizisten, schloss die Haustür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie atmete tief ein und ging zurück ins Wohnzimmer, wo Andreas auf sie wartete. »Passiert das alles wirklich?«, fragte sie. »Leichen in unserem Park, genau zu der Zeit, in der Sara nachts draußen herumstreift? Meine Güte, ich stelle mir immer wieder vor, was geschehen wäre, wenn sie dem Killer in die Hände gefallen wäre.« Als sie es aussprach,
schossen ihr Tränen in die Augen. »Aber das ist sie nicht.« Wahrscheinlich wollte Andreas sie mit diesen Worten beruhigen, aber das würde ihm so einfach nicht gelingen. Nicht bei dieser Art von Unruhe, die sie plagte. Es war genau wie damals, während der Schwangerschaft, als sie der Nervenzusammenbruch für einen ganzen Monat außer Gefecht gesetzt hatte. Sie hatte geglaubt, dieses Gefühl nie wieder erleben zu müssen, und die ganze Zeit über hatte es auch so ausgesehen. Diesen Erfolg werde ich mir nicht kaputt machen lassen! »Außerdem gibt es keinen Killer«, fuhr Andreas fort. »Dann eben den Mörder. Meine Güte, bist du pingelig! Darauf kommt es doch jetzt wirklich nicht an!« Andreas kam auf sie zu und schloss sie in die Arme. »Das meine ich doch gar nicht. Ich habe die Leichen gesehen, und der Kommissar hat es uns bestätigt – eigentlich spricht nichts dafür, dass sie ermordet worden sind. Es gibt keine Schussverletzungen oder Stichwunden oder sonst etwas.« Na wunderbar! »Ach, die zwei Typen sind rein zufällig einfach so umgekippt und waren tot, ja?« »Es waren junge Kerle! Vielleicht haben sie sich mit irgendwelchen Drogen vollgepumpt oder gepanschtes Zeug gesoffen.« »Das ist also deine Meinung über junge Kerle?« »Ich war selbst mal einer. Beweisführung abgeschlossen, Frau Richterin.« Sie musste lächeln und stellte fest, wie gut es tat. Es vertrieb ein wenig die düsteren Gedanken. Sie brauchte dringend eine Auszeit. Vielleicht sollte sie mit Sara ein paar Tage zu ihrer Freundin fahren. »Ich gehe hoch zu Sara, okay?« »Sie wird nicht wieder aus ihrem Zimmer verschwinden, darauf kannst du dich verlassen.« »Ich will einfach nur nach ihr schauen. Es ist schon nach elf Uhr, sie ist schon seit drei Stunden allein – vielleicht langweilt sie sich oder hat Hunger. Immerhin ist fast Zeit zum Mittagessen.« »Du musst dich nicht rechtfertigen.« Sie löste sich aus seiner Umarmung, heftiger als notwendig gewe-
sen wäre. »Was machst du in der Zwischenzeit?« »Hunger war ein gutes Stichwort. Ein zweites Frühstück ist angesagt. Du hast wahrscheinlich genauso wenig Lust wie ich, etwas zu kochen.« Manuela lächelte ihn an, schniefte noch einmal und ging dann die Treppe nach oben. Natürlich glaubte sie genauso wenig wie ihr Mann, dass Sara noch einmal ausreißen würde – aber das änderte nichts an der Unruhe, die in ihr wühlte. Unruhe? War es tatsächlich nur Unruhe? Oder war das Wort viel zu schwach? Angst traf es wohl eher. Sie musste unbedingt mit Sara reden, musste ihr klarmachen, dass diese Idee mit Opas Schatten verrückt war. Vielleicht sollte Sara die nächsten Tage bei ihr im Bett schlafen, so wie früher, wenn sie nachts Albträume gehabt oder geweint hatte, weil die Erlebnisse des Tages sie bis in den Schlaf verfolgten. Ja, sicher, das war noch besser als wegzufahren. Sara brauchte gerade jetzt ihre gewohnte Umgebung. Sie hätten sie schon längst zu sich nehmen sollen, dann wäre es erst gar nicht so weit gekommen. Das Elternbett hatte schließlich immer geholfen. Warum nicht auch in dieser vertrackten Situation? Weil sie kein Baby mehr ist, gab sie sich selbst die Antwort. So gerne sie das manchmal auch noch hätte; ihr kleines Mädchen wurde groß, und nichts konnte daran etwas ändern. Sie ging durch den Flur und lauschte. Aus dem Kinderzimmer drang kein Geräusch. Ihr war noch nie aufgefallen, wie still es während dieser wenigen Schritte sein konnte, und wie viele Gedanken ihr in so kurzer Zeit durch den Kopf schießen konnten. Einer davon drängte sich an die Oberfläche und brüllte alle anderen einfach nieder: WAS, WENN ES NUR DESHALB SO STILL IST, WEIL SARA WIEDER VERSCHWUNDEN IST? »Unsinn«, murmelte sie. »Manuela Vogt, reiß dich zusammen, das ist absoluter Unsinn!« Sie klopfte und drückte in derselben Bewegung die Klinke nach unten. Da kannst du dir das Klopfen auch sparen, sagte Sara oft, wenn sie dies tat. Die Tür schwang auf. Sara war nicht nur verschwunden, sondern sie lag tot in ihrem
Bett. Der Oberkörper war über die Kante gerutscht, der Kopf baumelte in die Tiefe, die langen Haare breiteten sich über dem Boden aus, und die weit aufgerissenen Augen (nicht blau, sondern grün, sie sind grün!) glotzten leer in Richtung Tür, und der eigentlich tote Mund öffnete sich und die Lippen formten Worte, die fremd waren, so fremd, dass sie klangen wie aus dem Totenreich, so als ob ein Monster sie aussprach, das Monster, von dem Sara schon seit Tagen sprach – »Mama«, sagte Sara, rannte auf sie zu und schlang die Arme um sie. »Wir müssen leise sein! Meine Puppe ist ganz arg müde. Fanny muss unbedingt schlafen. Un-be-dingt! Das war alles zu viel für sie!« Manuela schluckte und brachte nur ein gequältes Räuspern heraus. Das entsetzliche Bild war so lebensecht gewesen, dass sie Sekunden brauchte, um in die Realität zurückzukehren. Die makabren Eindrücke hatten ihren Geist überflutet und sie mitgerissen. Traurigkeit und eiskalter Schrecken lähmten ihr Herz noch immer, obwohl sie genau wusste, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Nur Einbildung … Oder eine Vision?, fragte sie sich tief in einem verborgenen Winkel ihres Gehirns, dort, wo sie immer noch wie ein kleines Kind wusste, dass es das Monster im Schrank wirklich gab. »Wie geht's dir, Mama?« »Gut«, log sie und fragte sich, wieso Saras Augen in der Vision grün gewesen waren. »Ich bin so froh, dass wir dich wiederhaben.« »Hm-mh«, brummte Sara. »Weißt du, das mit Opas Schatten …« »Wir müssen nicht drüber reden. Ich verstehe schon.« Wie altklug sie wieder klang. So abgeklärt und nüchtern. Auf keinen Fall wie eine Fünfjährige. »Es ist schlimm, dass Opa tot ist«, sagte Manuela. »Ich bin auch traurig.« »Sind wir doch alle.« Ein schmerzlich-süßes Lächeln stahl sich auf Manuelas Lippen. »Aber der Tod ist nicht das Ende, weißt du?« Sara hob den Kopf, schaute ihrer Mutter genau in die Augen. »Das
weiß ich, Mama.« Sie klang so viel überzeugter, als Manuela selbst es war. Aber warum nur kam es ihr so vor, als würde in den Worten ihrer Tochter nicht nur freudige Gewissheit liegen, sondern auch etwas anderes – etwas Dunkles, Bösartiges? Etwas mit kalten, grünen Augen!
8. Hänschen klein »Ich habe mein Herz geöffnet und ein …«, las Zamorra nachdenklich die letzten geschriebenen Worte in dem alten Buch. Dythmars Aufzeichnungen brachen mitten im Fluss ab. »Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, warum der Wissende den Satz nicht beendet hat«, sagte Daniel Kaufmann. »Es scheint nur eine logische Erklärung zu geben.« »Er starb.« Der Maulwurf nahm die Brille ab und kaute auf dem Bügel. »Genauso sehe ich das auch.« »Fragt sich nur, wieso.« »Altersschwäche. Herzschlag.« »So plötzlich? Das glaube ich nicht.« »Die Alternative ist, dass ihn jemand getötet hat. Aber wer? Vehean und Hella sind damals nicht wiedererstanden. Diese Katastrophe steht uns erst noch bevor.« Je länger Zamorra darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm eine naheliegende Antwort. »Die Hexe hatte einen Helfer.« »Aber woher sollte er gekommen sein? In den Aufzeichnungen war nie die Rede davon. Kann es denn sein, dass Dythmar nichts von ihm gewusst hat? Gut, Dythmar hat selbst einmal darüber nachgedacht, aber …« Er setzte die Brille wieder auf und ließ sich erstmals, seit Zamorra vor mittlerweile vier Stunden den Raum betreten hatte, ebenfalls auf einen Stuhl sinken. »Wieso bin ich nie darauf gekommen? Das – das ist ja – meine Güte!« »Nun reden Sie schon, Kaufmann! Was ist Ihnen aufgefallen?« »Es hängt mit der alten Legende zusammen, wie meine Vorfahren einst in den Besitz des Kompasses gelangt waren! Bislang bin ich immer davon ausgegangen, es wäre reine Erfindung, weil es keine Beweise dafür gibt.« Kaufmann griff nach dem Handtäschchen und nestelte mit den Fingern an der Trageschlaufe. »Dabei liegt es doch auf der Hand! Meine Güte, es liegt auf der Hand! Ich war blind, die
ganze Zeit!« Der Blick unter den Brillengläsern bohrte sich in Zamorras Augen. »Und wissen Sie auch, warum es mir nie aufgefallen ist? Weil ich nie mit jemandem darüber habe reden können! Mein Vater starb, als ich noch ein Junge war, meine Mutter habe ich nie kennen gelernt … vom Erbe und dem Auftrag meiner Familie habe ich als Kind erfahren und aus langen Briefen, die mein Vater vor seinem Tod geschrieben hat.« Wann sonst?, dachte Zamorra. »Immer schön der Reihe nach, Herr Kaufmann! Was ist Ihnen aufgefallen, und worin besteht diese, hm, Legende?« »Es heißt, mein Vorfahr habe den Blutkompass erst nach einem mörderischen Kampf erhalten. Bislang habe ich das für eine Übertreibung gehalten.« »Aber jetzt steht wohl fest, dass es tatsächlich so war.« In der Tat konnte der Meister des Übersinnlichen der Schlussfolgerung nur zustimmen, die Kaufmann offenbar gezogen hatte. »Ein Helfer der Hexe hat damals den Wissenden Dythmar getötet und den Kompass an sich genommen. Hier kam einer Ihrer Vorfahren ins Spiel – vielleicht hat er diesen Helfer überrascht, oder es war irgendwann später. Jedenfalls hat er den Kompass an sich gebracht, ebenso das Buch, und beides jeweils an seine Nachkommen weitervererbt.« »Bis heute.« »Und es steht wohl auch fest, warum Hella gerade jetzt aktiv wird. Die Aufzeichnungen machen es deutlich. Erst vor kurzem ist offenbar das geschehen, was sie sich schon viel früher erhofft hatte.« Zamorra blätterte nachdenklich in den Aufzeichnungen und fand rasch die Stelle, die er suchte. Aber sei gewahr: Die Essenz der Zauberkundigen dringe in den Körper, der ihr am nächsten stehe. Sei dies keine Maid, jung und rein, so sei eine Wiedererweckung nicht zu vollbringen. Der Dämon zerbreche in Splitter schwarzen Dunstes und fahre ein in die Schatten der nahen fleischlichen Hüllen. Dort warte er, bis er dereinst befreit werde. »Das heißt wohl«, sagte der Parapsychologe, »dass Hellas Geist über die Jahrhunderte von Schatten zu Schatten weitervererbt wurde – und dass sie erst jetzt zufällig in den Schatten einer jungen und reinen Maid gefahren ist … in ein Mädchen.«
Zamorra suchte eine weitere Stelle. Er vollführe den Zauber, wenn die Mächte des Bösen am stärksten sind. Um die Unschuld der Lebenden zu beschmutzen, geschehe dies an einem Ort der Toten. Also um Mitternacht bei Vollmond auf einem Friedhof. Er musste nicht lange nachdenken, in welcher Phase sich der Mond gerade befand; in all seinen Jahren als Dämonenjäger hatte er sich angewöhnt, stets genau darüber Bescheid zu wissen. Viele Kreaturen der Finsternis waren in ihrem Lebenszyklus an die Mondphasen gebunden. Die nächste Nacht würde eine Vollmondnacht sein. Es blieben also exakt – er blickte auf die Uhr – dreizehn Stunden und vierzehn Minuten. Wenig Zeit. Die Uhr tickte unbarmherzig. »Hella ruft Veheans Splitter«, sagte Zamorra nachdenklich. »Deshalb sammeln sie sich aus den Schatten und der Dämon kann wieder erstehen. Mit ihm ist sie eine Seelenbindung eingegangen – er wird sie aus dem Schattendasein zurückholen, und ihr wahrer Körper wird wiedererstehen.« »Das darf nicht geschehen!«, rief Kaufmann. »Wir müssen Veheans Wiedergeburt verhindern. Genau das habe ich versucht, auf der Hochzeit … bei dem Fußballspiel … als ich Banglein aufsuchte – aber ich habe immer wieder versagt. Splitter des Dämons haben sich gelöst und sammeln sich. Ich weiß nicht wo, ich weiß nicht wie – aber eins weiß ich.« Er deutete auf den Blutkompass, der vor Zamorra auf dem Tisch lag. »Der Kompass führte mich zwar zu den Splittern, letztlich konnte ich ihn aber nur schlecht bedienen – doch in Ihren Händen, Zamorra, in den Händen eines Weißmagiers wie Dythmar, zeigt er, wozu er fähig ist. Dythmar hat ihn vor achthundert Jahren auf Vehean geeicht, und er funktioniert noch immer. Suchen wir den nächsten Menschen, der einen Dämonensplitter in seinem Schatten trägt! Vernichten wir den Splitter, ohne dass dieser Mensch zu Schaden kommt. Verhindern wir, dass Vehean entsteht und Hella zurückrufen kann!« »Es wird heute um Mitternacht geschehen, wenn wir dem keinen Riegel vorschieben«, sagte Zamorra. »Auf einem Friedhof, und ein unschuldiges Mädchen, das Hellas Essenz in seinem Schatten trägt,
wird der Katalysator sein.« »Worauf warten wir?« Zamorra dachte nach. »Welche Friedhöfe kommen in Frage?« »Hunderte. Tausende! Dieses Mädchen könnte überall auf der Welt leben. Stellen Sie sich nur vor, wie oft im Laufe der Jahrhunderte Hella den Schatten gewechselt hat. Zum ersten Mal, in jener entsetzlichen Nacht, geschah es hier in Hof – in Rekkenze, wie die Stadt damals hieß. Schon das zweite Mal kann es hundert Kilometer von hier entfernt gewesen sein, vom dritten Mal gar nicht mehr zu reden! In den letzten hundert Jahren reisen wir doch durch die ganze Welt. Hellas Schattenträger kann in Afrika gestorben sein oder in Grönland … niemand weiß es! So kommen wir nicht weiter. Aber wenn wir Veheans Wiedererweckung verhindern, wird der Dämon seine Rolle innerhalb der Seelenbindung nicht erfüllen können. Das heißt, Hella wird nicht wiederauferstehen.« »Sie haben Recht«, gab Zamorra zu. Der Friedhof konnte zwar ebensogut in Hof liegen, weil Hella dafür gesorgt hatte, dass die Schattenträger am Ort ihrer einstigen Niederlage starben – aber auch überall sonst auf der Welt. Diese Spur führte tatsächlich ins Leere. Der Meister des Übersinnlichen zog den kleinen magischen Dolch aus der Tischplatte, die Waffe, die Dythmar einst geschaffen hatte, um Vehean sofort nach seiner Wiedererstehung zu zerstören. »Wie wollten Sie die Dämonensplitter vernichten, Kaufmann?« Der kleine, dickliche Mann sah niedergeschlagen aus. »Das ist es ja. Deshalb habe ich immer wieder versagt. Ich wusste nur, wo ich sie finden kann – nicht, wie ich sie zerstören soll. Ich habe immer mein Bestes gegeben, aber das war nicht genug.« Im nächsten Moment strahlte er. »Aber jetzt haben Sie ja die geheimnisvolle Waffe gefunden. Damit muss es möglich sein!« Der Maulwurf schnappte sein Handtäschchen und eilte zur Tür. »Kommen Sie, Zamorra! Nehmen Sie den Kompass! Er wird uns den Weg weisen. Ich bin sicher, dass es noch Schattenträger hier in der Stadt gibt. Denn während Hella nur in einem Schatten fortlebt, hat es Vehean in Dutzende, Hunderte oder vielleicht sogar Tausende verschlagen. Einige müssen noch hier in Hof sein. Wie Christiane
Finck. Wie der Linienrichter. Wie Banglein.« Eine Minute später hasteten sie gemeinsam die Treppe hinunter und verließen das Haus. Zamorra hielt den Blutkompass – oder Schattenkompass, dachte er, das ist wohl die passende Bezeichnung – in der Rechten. Im Haus hatte sich die Nadel noch wie rasend im Kreis gedreht, nun pendelte sie sich ein. Sie zeigte die Straße entlang, grob in Richtung Osten. Kaufmann warf einen begeisterten Blick darauf und lief los. »Bis ich eine derart klare Anweisung erhalten habe, hat es oft Stunden in Anspruch genommen. Es ist erstaunlich! Ich wusste, dass Sie der Richtige sind, Professor. Ich wusste es!« Zamorra hingegen wusste nicht, wie oft er diesen Satz in den letzten Stunden gehört hatte. Kaufmann musste seiner Begeisterung offensichtlich immer wieder Luft machen. Er eilte dem Maulwurf hinterher, den magischen Kompass in der Hand. Immer wieder warf er einen Blick darauf. Als sie eine Hauptstraße erreichten, auf der starker Verkehr herrschte, zitterte die Nadel plötzlich und richtete sich neu aus. Sie zeigte auf einen vorüberfahrenden Wagen. Der Meister des Übersinnlichen machte seinen Begleiter darauf aufmerksam. »Der Kompass weist uns den Weg zu dem Dämonensplitter, der uns am nächsten ist«, gab sich dieser überzeugt. Er verknotete die Hände ineinander, offenbar, um seiner inneren Aufregung Herr zu werden. »Wahrscheinlich sitzt in diesem Auto ein Schattenträger.« Im stockenden Verkehr kam der Wagen nicht schnell voran; außerdem standen auf dieser Straße etliche Ampeln. Zamorra rannte los. Er hatte sich den Wagen gemerkt; ein weißer Opel, ein Kombi, bei weitem nicht im Bestzustand. Kaufmann fiel zurück, doch darauf durfte er keine Rücksicht nehmen. Der Wagen konnte jederzeit wieder losfahren und sich damit aus ihrer Reichweite entfernen. Die Ampel etwa zweihundert Meter voraus schaltete auf Grün. In die Blechlawine kam Bewegung. Im nächsten Moment pfiff Zamorra leise durch die Zähne. Keine zwanzig Meter vor ihm stand ein Taxi.
Es wollte gerade wieder anrollen, als er heran war und die Vordertür aufriss. Der Fahrer stieg auf die Bremse und schnauzte Zamorra an. »Schau bluß, dassd die Dier zumachst. Siehst du ned, dass ich an Fohrgast hob?« Zamorra verstand zwar kaum ein Wort, konnte sich aber ungefähr ausmalen, was der Fahrer gesagt hatte. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und zog sein Portemonnaie. Dem Fahrer patschte er einen Fünfig-Euro-Schein aufs Lenkrad, zu der jungen Frau, die auf der Rückbank saß, sagte er: »Ich zahle Ihnen Hundert, wenn Sie aussteigen und meinen Freund und mich fahren lassen.« Die Blondine rückte den Kragen ihres blütenweißen Hemdes zurecht. Die wohlgeformten Beine, die von den Knien an abwärts aus einem schwarzen Lederröckchen herausragten, bewegten sich bereits in Richtung Tür. »Bar auf die Hand«, forderte sie. Zamorra zückte zwei weitere Fünfziger und reichte sie nach hinten. Sie lächelte. »Ich hätt's auch für Fünfzig gemacht.« Ein rasches »Ich komme darauf zurück« konnte sich Zamorra nicht verkneifen. Von einer Sekunde auf die andere schoss dem weiblichen Fahrgast die Schamesröte ins Gesicht, dann öffnete die junge Frau die Tür in Richtung Fahrbahnrand und stieg aus. Kaufmann kam keuchend angerannt, ließ sich auf die Rückbank fallen und zog die Tür zu. Offenbar verstand er genau, was Zamorra beabsichtigte. »Fahren Sie los«, forderte der Meister des Übersinnlichen. »Wir dürfen den weißen Opel nicht aus den Augen verlieren.« »Ich seh kann«, murrte der Fahrer. »Und ich werr mir doch mein Karrn ned zu Schrodd fohrn, wall Sie zu vill Actionfilme gsäing ham und …« Was redet den Kerl da? »Noch Fünfzig, wenn Sie den Mund halten und endlich fahren!« Der Mann klappte den Mund zu, sperrte seine unverständlichen Worte weg, setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehr ein. Weit vor ihnen sah Zamorra, dass der Opel rechts abbog. Ein verstohlener Blick auf den Schattenkompass zeigte ihm, dass die Nadel
die Bewegung nachvollzog. Sie hatten sich also nicht getäuscht. In den nächsten zehn Minuten dirigierte Zamorra den Fahrer scheinbar kreuz und quer durch die ganze Stadt, bis sie endlich ein Wohngebiet erreichten, in dem der Opel auf einem grob geschotterten Parkplatz vor einem leuchtend rot angestrichenen Haus parkte. »Die Farb dudd am ja in die Aang weh«, sagte der Fahrer. Dann besann er sich offenbar eines Besseren und bemühte sich um ein dialektfreieres Deutsch. Vielleicht war ihm Zamorras ratloser Blick aufgefallen. »Die Farbe tut einem ja in den Augen weh. Soll ich …« »Fahren Sie noch zwanzig Meter weiter.« »Macht viererdreißichachtzich … äh … vierunddreißig-achtzig.« »Ich habe Ihnen doch schon insgesamt hundert Euro …« »Das war Ihre Sache, Mann. Die Fahrt kostet vierunddreißig-achtzig.« Auf Diskussionen verspürte Zamorra nicht die geringste Lust. Und Geld war noch nie ein Problem für ihn gewesen. Eine Taxifahrt für knapp zweihundertfünfzig Euro war immer noch günstiger, als mit Nicole eine Stunde in Paris shoppen zu gehen. Andererseits wäre Zamorra seit ihrer Trennung froh, wenn er überhaupt mal wieder mit ihr einkaufen gehen könnte. »Schon gut.« Er zückte also noch zwei Zwanziger und stieg aus. Kaufmann folgte. Gemeinsam gingen sie zu dem roten Haus zurück, wo aus dem Auto ein Mann Mitte Fünfzig stieg. Die Jeans sah billig aus, der Pullover alt. Wenige graue Haare umringten eine prächtige Halbglatze. »Hallo!«, rief Zamorra ihm zu. Der Mann drehte sich um. Hinter ihm öffnete sich die Haustür, und eine junge Frau trat ins Freie. Offenbar handelte es sich um seine Tochter; die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. »Bitte?«, fragte der Mann. Kaufmann und Zamorra blieben wenige Meter von ihm entfernt stehen. »Es wird Ihnen ein wenig seltsam vorkommen«, begann Zamorra, »aber ich ermittle im Mordfall Hubertus Finck – Sie haben vielleicht in der Presse davon gelesen. Ich habe einige Fragen an Sie.«
»Was soll ich denn damit zu tun haben?« Ein misstrauischer Blick folgte diesen Worten. »Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis.« »Gerne.« Zamorra verfügte über eine ganze Latte von höchst beeindruckenden Dokumenten für solche Gelegenheiten. Er griff in die Tasche seines weißen Anzugs. »Ich bin international tätig. Dies ist ein Sonderausweis des …« Weiter kam er nicht. »Vehean«, sagte der Maulwurf, und der Schatten des Mannes, den sie verfolgt hatten, setzte sich in Bewegung. Er schien auf dem Boden Wellen zu werfen und schob sich in die Höhe. Kroch in den Mann hinein. »Was …«, gab dieser erstickt von sich, dann ein Gurgeln. Der Schatten war verschwunden. Mit einem Mal schoss eine Blutfontäne aus dem Ohr des Mannes. Er taumelte, wankte zurück. Dann war der Schatten wieder da, aber er löste sich von seinem Träger und raste auf Kaufmann zu. Zamorra wusste nicht, was er zuerst tun sollte. Sich um den Mann kümmern, der noch immer aus den Ohren und nun auch in einem dünnen Rinnsal aus dem Auge blutete? Seine Tochter beschützen, die schreiend auf ihn zu rannte, während er die Arme hob und die Finger zu Klauen bog? Oder Kaufmann vor der Attacke des Schattens retten? »Rufen Sie einen Arzt!«, rief Zamorra der Tochter zu. »Rasch, ins Haus! Ich kümmere mich um Ihren Vater!« Er packte ihn, vor allem, um den Schattenlosen davon abzuhalten, sich auf seine Tochter zu stürzen – denn warum er die gekrümmten Hände ausstreckte, stand aus bitterer Erfahrung fest. Zamorra zweifelte nicht daran, dass auch er den Verstand verloren hatte … Der Parapsychologe drückte ihn zu Boden und erhielt einen Tritt gegen die Beine. Beide verloren den Halt und stürzten. Der Meister des Übersinnlichen landete mit vollem Gewicht auf dem Schattenlosen. Ein Knie rammte in seinen Magen. Er krümmte sich und blickte in blutende, leere Augen. Ihm blieb keine andere Wahl, als mit einem kurzen Hieb seiner Handkante den Mann in eine tiefe Ohnmacht zu schicken.
Im Hintergrund schrie die Tochter immer noch und stand zitternd im Türrahmen. »Rufen Sie einen Arzt«, wiederholte Zamorra. »Schnell! Nun machen Sie schon!« Er wirbelte herum, blickte zu Kaufmann, bereit ihm beizustehen – doch es war bereits zu spät. Der Dämonensplitter hatte den Maulwurf längst erreicht … und verschmolz mit dessen Schatten zu einer Einheit. Es sah aus, als würde Kaufmann den fremden Schatten geradezu fressen. »Kaufmann!«, rief Zamorra. »Was ist mit Ihnen geschehen?« Der dickliche Mann wankte unter der Gewalt dessen, was in den letzten Sekunden geschehen war. Der Strickpullover dehnte sich über der Brust, als er tief einatmete. »Ich … ich weiß es nicht …« Ein Auto hielt mit quietschenden Reifen, direkt vor dem Grundstück. Eine Frau öffnete die Tür, wollte aussteigen, schwang noch die Beine ins Freie, stockte dann – und schrie, während ihr Schatten verschwand. Zamorra konnte nicht ins Innere des Wagens sehen, doch er wusste, was darin geschah. Dann raste ein Schatten von dem Auto aus auf Kaufmann zu. »Fliehen Sie!«, rief Zamorra seinem Begleiter zu. Er riss den kleinen Dolch heraus, der aus dem Nichts über dem Blutkompass erschienen war. Diesen stichbereit, warf er sich zu Boden und hieb in den Schatten, der über den Boden heranraste. Oder wollte es zumindest. Es war zu spät. Zamorra war zu langsam gewesen. Auch dieser Dämonensplitter wurde von Kaufmanns Schatten gefressen. Da war Zamorra heran und hieb den Dolch in den Schatten des Maulwurfs. Nichts geschah. »Sie sammeln sich in Ihrem Schatten! Noch kann die Magie des Dolches nichts erreichen – wahrscheinlich muss erst Veheans eigentlicher Körper wiedererstehen. Genau das muss Dythmar mit Kompass und Dolch beabsichtigt haben … den Dämon zurück in die Existenz rufen und ihn sofort zu vernichten.« Sofort kam ihm eine Idee, wie er die Splitter wieder aus ihrem Versteck herauszwingen konnte. Er zog seinen Dhyarra-Kristall aus der Tasche – natürlich war er nicht unbewaffnet nach Deutschland gefahren, wenn er bislang auch noch keine magische Waffe benötigt
hatte. In einem Holster trug er zudem einen Energiestrahler; die Magnetplatte am Gürtel hatte er mit einem etwas üblicheren Aufbewahrungsort für die Waffe vertauscht, um nicht wie ein Trottel angestarrt zu werden, wenn er durch die Stadt ging. Außerdem vermisste er in diesem Augenblick wieder einmal schmerzlich sein Amulett. Merlins Stern hätte in dieser Situation wohl Wunder gewirkt – zumindest falls sich die Silberscheibe bequemt hätte zu reagieren. Er aktivierte den Kristall und stellte sich vor, wie die Dämonensplitter in ihren Schattenvehikeln das Versteck in Kaufmann wieder verließen. Wenn die Vorstellung nur konkret genug war, würde die geheimnisvolle Dhyarra-Magie sie in die Tat umsetzen. Auf der Straße raste ein Mann mit einem Fahrrad herbei, schlingerte und stürzte. Das Fahrrad krachte auf und schlitterte samt dem Fahrer einige Meter über den Asphalt. Blutend stand der Mann auf, ließ das Fahrrad achtlos liegen und rannte weiter zum Ort des geheimnisvollen Geschehens. Der Anblick riss Zamorra aus der notwendigen Konzentration – das Gedankenbild verpuffte. Schon löste sich auch dieser dritte Schatten. »Der Kompass ist aktiv«, schrie Kaufmann. »Er zieht die Splitter an! Die kritische Masse ist erreicht!« »Was soll das heißen?« Blutend wankte der Fahrradfahrer näher, knickte dann ein und schlug auf den Boden. Offenbar waren seine Verletzungen durch den Sturz doch so stark, dass er zumindest das Bewusstsein verlor. Nun erwachte die Tochter aus ihrer Starrte, verschwand schreiend im Haus und schmetterte die Tür zu. »Vehean entsteht!«, rief Kaufmann. »Endlich!« Da erkannte Zamorra seinen schrecklichen Fehler. Kaufmanns Schatten löste sich von dessen Körper – ohne dass der Maulwurf irgendwelche Symptome zeigte. Stattdessen sprang Kaufmann in die Luft. »Danke, dass du den Kompass für mich aktiviert hast! Ohne dich hätte ich es nie rechtzeitig geschafft!« Das waren die letzten verständlichen Worte, die Zamorra hörte. Kaufmanns Körper kippte in der Luft nach vorne – und verwandelte sich blitzschnell. Der Leib schrumpfte zu einem kleinen Etwas,
krümmte sich dabei. Gelbes Fell spross aus der Haut. Der Rücken bog sich durch. Die Hände wurden zu Tatzen. Die Brille purzelte zu Boden und zerbrach. Der Strickpullover und die Hose flatterten auf den geschotterten Parkplatz. Ein fetter, gelber Kater landete zielgenau auf Zamorras Brust. Pfoten wirbelten und zerkratzten ihm das Gesicht. Sofort schoss Blut aus tiefen Schnitten. Der Meister des Übersinnlichen packte den kleinen Leib und schleuderte ihn von sich. Der Kater fauchte in der Luft, landete auf allen vieren und rannte davon. Johann, dachte Zamorra entsetzt. Daniel Kaufmann war niemand anderes als Johann, der fette Kater der Hexe Hella … der ominöse Gehilfe der Hexe, der einst Dythmar getötet und den Schattenkompass an sich gebracht hatte. Alles war eine Lüge gewesen, und Zamorra hatte sich wie ein Narr an der Nase herumführen lassen. Tatsächlich hatte Kaufmann seine Hilfe benötigt – aber nicht, um die Dämonensplitter zu finden und sie unschädlich zu machen, sondern um den Kompass weißmagisch zu aktivieren und damit den Wiedererweckungsprozess des Dämons Vehean erst richtig in Gang zu setzen! Kaufmann alias Johann hatte zwar auch ohne Zamorras Hilfe bereits Fragmente gesammelt, aber zu langsam. Zamorra hatte seinen Lügen geglaubt und sich zu einem Werkzeug machen lassen – und nun war laut Kaufmanns letzten Worten offenbar ein point of no return erreicht. Genau dieser Eindruck bestätigte sich, als Zamorra sah, was um ihn herum geschah. Ihm stockte der Atem.
Dämonensplitter: Johannesburg, Südafrika Cariba Coertse hatte schon vor einer Stunde einen inneren Zwang gespürt, ihr Büro zu verlassen. Zuerst war sie ziellos durch die Stadt gerannt, bis ihr der Schweiß in Strömen über den ganzen Körper lief. Dann verstand sie endlich: Deutschland. Sie musste nach Deutschland. Oder zumindest so nahe daran, wie es auf die Schnelle möglich war. In einem Taxi raste sie zum Flughafen O R Tambo International.
Klamath Mountains, Kalifornien Mitten im Hochgebirge schrie Andrew Derring auf. Er musste weg von hier, weit weg, aber er würde Stunden benötigen, um zurück zur Zivilisation zu gelangen. Zu lange! Er war zu weit weg vom Ort, den er erreichen musste. Es gibt eine Möglichkeit, sagte sein Schatten. Wenn du stirbst, wandere ich zu dem Menschen, der dir am nächsten steht, auch wenn dies weit entfernt sein sollte. Und inmitten einer völlig menschenleeren Gegend löste Andrew seine Bergsteigersicherung und ließ sich nach hinten fallen. Sein Körper zerschmetterte mehr als hundert Meter tiefer auf einem Abhang. Und sein Schatten löste sich.
Edwinstowe, England Im behaglichen Sherwood Forest kam es nicht oft zu Verbrechen.
Doch an diesem Tag wurde direkt vor der St. Marys Church ein Auto gestohlen. Die Einwohner des Dorfes glaubten die alte Annie erkannt zu haben. Aber das war verrückt! Wieso sollte sie so etwas tun? Sie hatte Edwinstowe seit Jahren nicht mehr verlassen. Man wunderte sich darüber, dass sie in ihrem Alter überhaupt noch Auto fahren konnte. Später trat der kleine Jules auf den Dorfpolizisten zu und sagte, er habe Annie getroffen, und sie habe gesagt, sie müsse näher nach Deutschland, so schnell es nur ging.
Sara konnte fühlen, wie aufgeregt Opas Schatten plötzlich wurde. Sie fühlte, wie er lachte, doch es war nicht Opas ruhiges, freundliches Lachen, sondern eher ein böses Kichern, so wie von einer Hexe in einem Märchen. Und in ihren Gedanken tauchte immer wieder das hässliche Monstrum auf. Das mit den drei Zungen und mit ohne Gesicht. Mama war wieder aus dem Zimmer gegangen, Sara hatte gesagt, sie würde noch ein bisschen spielen und später zum Essen nach unten kommen. Darauf hatte sie aber gar keine Lust. Sie wollte nicht aus ihrem Bett raus. Die Decke hatte sie über sich geschlungen. Die Füße waren zugedeckt; darauf achtete sie genau. »Hockt das Monster im Schrank?«, fragte sie. »Und warum lachst du so eklig?« Zuerst hatte sie noch die Anrede Opa hinten anhängen wollen, aber irgendwie glaubte sie gar nicht mehr, dass es sich wirklich um Opa handelte. Im Schrank?, fragte der Schatten. Aber ganz bestimmt nicht. »Das glaube ich nicht.« Mach ihn doch auf. Aber Sara blieb sitzen, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Decke über sich. Mach ihn gefälligst auf, dummes Ding! Dummes Ding? So etwas würde Opa nie zu ihr sagen! Der hatte sie doch immer lieb gehabt. Obwohl sie es gar nicht wollte, schwang sie die Decke zur Seite, streckte die Beine über die Kante des Betts und stand auf. Sie presste
die Hände auf ihr Herz, als könnte sie die Schattenstimme damit vertreiben. Doch da verstand sie, dass sie den Schatten gar nicht mit dem Herzen hörte, sondern irgendwie in ihrem Kopf. Nur in ihren Gedanken. So wie ein Traum. Du hast nur geschlafen, hatte Mama manchmal gesagt. Das ist gar nicht wirklich passiert. Ob es nun auch so war? Passierte das alles gar nicht wirklich? Bildete sie es sich vielleicht nur ein, so wie sie manchmal Geschichten erfand und ihren Freundinnen erzählte? Das konnte sie richtig gut. Im Kindergarten hatte sie manchmal schon mitten in einem Kreis gesessen, und alle hatten ihr zugehört. Sogar die Erzieherinnen. Sie schaute zu, wie ihre Hand sich der Schranktür näherte und öffnete. »Nein«, sagte sie. »Nein, das will ich nicht!« Was, wenn das Monster heraus sprang und seine Zungen um ihr Bein wickelte? Wenn es sie danach in den Schrank zerrte, um sie dort zu fressen? Aber nicht doch. Dich doch nicht. Du bist doch mein größter Schatz, mein Glück, auf das ich schon so lange gewartet habe! Im Schrank saß ihre alte Puppe und starrte sie an. Daneben lag ein Haufen Spielsachen und sogar der zerbrochene Hula-Hup-Reifen, den sie nicht hatte wegwerfen wollen. Richtig Streit hatte sie deswegen mit Mama bekommen. Siehst du, kein Monster. Und jetzt wird es Zeit, dass wir deinen neuen Ausflug vorbereiten. »Aber ich will nicht mehr nach draußen. Ich hab's Mama versprochen.« Du musst zum Friedhof! Das wusste sie selbst. Vor ein paar Stunden hatte sie auch noch geglaubt, es wäre eine gute Idee, den Schatten zurückzubringen. Inzwischen sah sie das anders. All das machte ihr nur noch Angst, auch dass der Schatten immer deutlicher mit ihr sprach. Es war fast, als wäre er eine zweite Person neben ihr. Das war am Anfang ganz anders gewesen. Das ist, weil ich erwache. Endlich. »Aber du willst doch zu Opa, und der ist tot. Warum willst du
dann erwachen?« Ihr antwortete nur ein hämisches Lachen. Dann ging sie aus dem Zimmer und tappte die Treppe nach unten. Sie hörte Mama und Papa reden. Ziemlich laut. Sara wusste, was das hieß: Die beiden stritten sich. Das kam nicht oft vor, aber wenn, ließ man sie besser in Ruhe. Sie wollte wieder umdrehen, aber es gelang ihr nicht. Geh rein!, verlangte der Schatten. Wir müssen die beiden ausschalten. Diese Worte jagten Sara einen kalten Schauer über den Rücken. Ausschalten? Was sollte das bedeuten? Wenn sie merken, dass du wieder weg bist, werden sie dich wieder suchen. Diesmal dürfen sie uns aber nicht stören. »Was willst du tun?«, flüsterte Sara. Der Schatten gab keine Antwort, aber plötzlich dachte Sara an die beiden Männer im Park, die auf einmal erstarrt und einfach tot umgefallen waren. Der Schatten hatte vorher diese komischen Worte gedacht, die Sara dann ausgesprochen hatte. Aber nein! Das durfte nicht noch mal passieren! Das waren doch Mama und Papa! Den beiden durften sie doch nicht weh tun. Geh rein, drängte der Schatten. Sie dürfen uns nicht noch einmal stören! Sara weinte, als sie die Hand auf die Klinke legte.
9. Der Mond ist aufgegangen Inmitten der Straße bäumte sich ein gewaltiges, bizarres Etwas auf wie ein Loch in der Wirklichkeit. Der Schatten, der einst Daniel Kaufmann – dem Kater Johann, dachte Zamorra frustriert – gehört hatte, wuchs von Sekunde zu Sekunde weiter an. Aus allen Richtungen, über den Boden wie auch durch die Luft, zuckten kleine schwarze Schattengebilde heran und vereinigten sich mit diesem bizarren Hauptfragment des Dämons Vehean. Irgendwo erklangen ein Schrei und das Geräusch eines Rollladens, der nach unten ratschte. Obwohl der Meister des Übersinnlichen alles andere als ein Freund der Parole Wegschauen war, wenn irgendwo Not am Mann war, konnte er es in diesem Fall niemandem verübeln. Im Gegenteil – jeder, der sich einmischte, würde vermutlich sein Leben verlieren. Alles ging rasend schnell. Zamorra musste sofort handeln, wenn er diesen magischen Prozess noch stoppen wollte. Er hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt, konnte auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen; aber er besaß immer noch Dythmars magischen Dolch. Dank des integrierten Sigills hatte der Wissende diesen in eine für Vehean tödliche Waffe verwandelt – zumindest war dies Dythmars Absicht gewesen. Ob es tatsächlich gelungen war, würde Zamorra wahrscheinlich bald am eigenen Leib erfahren. Wenn der weiße Magier vor achthundert Jahren versagt hatte, musste der Meister des Übersinnlichen den Preis dafür bezahlen. Mit entschlossenem Blick setzte er sich in Bewegung, auf das schwarz wirbelnde Etwas zu. Kaum setzte er den ersten Fuß auf die Straße, veränderte sich die Situation erneut. Ein gedanklicher Impuls raste von dem Proto-Dämon aus, so intensiv und durchdringend, dass Zamorra trotz seiner mentalen Abschirmung unter der telepathischen Gewalt wankte. Für einen Augenblick war er mit Vehean derart stark verbunden, dass er sah und
fühlte wie diese finstere Kreatur. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ihm ein verzweifelter Gedanke durch den Sinn. Wie kann das sein? Wird der mentale Block seit Merlins Tod brüchig? Doch schon verwehte die Überlegung unter dem Ansturm der psychischen Attacke. Der Dämonenjäger fühlte, dachte, ja er lebte auf genau dieselbe dunkle Art wie das teuflische Monster. Diesen Effekt beabsichtigte Vehean nicht bewusst, davon war Zamorra überzeugt. Es handelte sich um eine Nebenerscheinung der Wiedergeburt, die eine neue Phase erreichte. Die kurze Zeit war vorüber, in der der aktivierte Schattenkompass die Bruchstücke des Dämons an diesen Ort geführt hatte. Je mehr sich das Monster wieder zusammenfügte, umso stärker wurde seine Anziehungskraft. Nun riss Vehean seine Splitter auch aus großer Entfernung an sich. Zamorra verschmolz telepathisch mit Vehean und den vielen Splittern auf dem ganzen Erdball.
Dämonensplitter: In der Nähe von Edwinstowe, England, schrie die alte Annie am Steuer eines Wagens auf. Wie kam sie in dieses Auto? Nacktes Entsetzen durchfuhr sie bis in den letzten Winkel ihrer Seele. Sie besaß seit mehr als zwölf Jahren keinen Führerschein mehr, seit ihrem ersten Schlaganfall! Annie bremste, fand instinktiv immerhin noch das richtige Pedal, doch sie trat zu hart zu. Der Wagen geriet ins Schleudern, drehte sich, und als er endlich stand, kippte er langsam auf die Seite und krachte um. Die Scheibe vor ihr zersplitterte und Annie fühlte einen scharfen Schmerz am Arm. Dann wurde es geradezu unnatürlich ruhig, und die alte Frau wunderte sich, dass sie noch am Leben war. Abgesehen von dem Blut, das über ihren Ellenbogen tropfte, schien es ihr gut zu gehen. Was sie allerdings ängstigte, war der schwarze Dampf, der aus der Motorhaube quoll. Brannte der Motor? Würde das Auto bald explodieren? Doch dann sah sie, dass es sich um alles andere als Qualm handelte. Das schwarze Ding besaß eine feste Kontur, einen klaren, unveränderlichen Umriss. Es war ein Schatten. Ihr Schatten. Für einen Augenblick stand er deutlich über der Motorhaube, dann schoss er in die Höhe und jagte davon. In die Richtung, in die Annie auch gefahren war. Die Autodiebin wider Willen konnte sich das nicht erklären, aber sie war unendlich erleichtert, als sie eine Stimme rufen hörte. »Hallo! Ist Ihnen etwas passiert?« Rettung nahte! Das Abenteuer war vorüber.
Zamorra wankte unter der Wucht der Gedanken, aber er ging weiter, stapfte wie durch Melasse seinem dämonischen Feind entgegen.
Dämonensplitter: In Kalifornien, am Rande der Klamath Mountains, blieb ein junger Mann schwer atmend stehen und stützte sich am Stamm eines knorrigen Baumes ab. Sein Atem ging schwer, in seiner Brust stach es, und seine Lunge schien zu explodieren. Er war gerannt, so lange und so schnell wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Beine bestanden nur noch aus feurigen Schmerzen; die Kniegelenke waren weißglühende Holzkohle, durch seine Adern quoll flüssige Lava. Er hatte das Letzte aus sich herausgeholt, und einiges mehr, seit ihn dieser verrückte Drang überfallen hatte. Aber jetzt schien es vorüber zu sein. Er ließ sich einfach sinken, setzte sich auf das Luftwurzelgeflecht und bemerkte gar nicht, dass er keinen Schatten mehr besaß. Erst Sekunden später kam die Physik wieder zu ihrem Recht, als das Licht, das auf seinen Körper fiel, ganz automatisch einen neuen Schatten hervorbrachte. Einen, in dem kein dämonisches Leben mehr lauerte.
Zamorra zog den Dolch, und ein weiteres der tausend Bilder, die seinen Geist überschwemmten, schob sich in den Vordergrund.
Dämonensplitter: Cariba Coertse saß im Flugzeug. Der Platz in der Ersten Klasse des interkontinentalen Fluges hatte eine Unsumme gekostet, doch Cariba hatte ihre Kreditkarte belastet, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Allerdings war ihr seit dem Start übel, und daran änderten auch die Beinfreiheit und die gepolsterten Armlehnen nichts. Fliegen war ihr noch nie bekommen. Im Grunde genommen hasste sie es, und in diesem Moment fragte sie sich, wieso sie überhaupt diesen Flug nach Frankfurt/Main, Deutschland gebucht hatte. Eine neue Welle der Übelkeit durchflutete sie, sie beugte sich nach vorne, um nach der Spucktüte zu greifen. Dabei sah sie auf den Boden. Sie hatte keinen Schatten. Sie kniff die Augen zusammen, und als sie sie wieder öffnete, war er wieder da. Sie musste sich getäuscht haben. Verrückt! Da saß sie in einem Flugzeug und reiste durch die halbe Welt … und wusste nicht wieso. Nicht einmal ihrem Mann hatte sie Bescheid gegeben! Er würde sie für irrsinnig halten, und dabei fühlte sie sich völlig klar. Zumindest jetzt wieder. Das einzig Seltsame war, dass sie sich an die letzten Stunden nur noch verschwommen erinnern konnte.
Der Meister des Übersinnlichen wusste genau, was das alles bedeutete. Vehean sammelte alle seine Schattenfragmente. Ein wenig erleichterte ihn die Erkenntnis, dass sich die Splitter nun von ihren Trägern lösten, ohne die furchtbaren Nebeneffekte zu hinterlassen; offenbar zog der Schattenkompass – oder auch Veheans Teilstruktur selbst – die Bruchstücke mit derartiger Gewalt aus der ganzen Welt an, dass sie sich leichter von ihren Trägern lösten und sich nicht mehr mit Gewalt losreißen mussten. Doch das änderte nichts daran, was in diesen Augenblicken auf der Straße dieses bis vor wenigen Minuten beschaulichen und un-
auffälligen Wohngebiets geschah. Zamorra empfing noch immer die Gedanken des Monstrums. Der geheimnisvolle Vorgang war fast beendet. Schattenfragment um Schattenfragment raste in das dunkle Etwas und machte es vollkommener als zuvor. Der unsagbare Triumph der Höllenkreatur schwappte in Zamorras Seele und ließ sie gefrieren. Er fühlte sich innerlich beschmutzt, von Veheans Bösartigkeit besudelt. Das Wissen, dass er selbst der auslösende Faktor dieses makabren Geschehens gewesen war, drehte ihm zusätzlich den Magen um. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem schwarzen, noch immer immateriellen Monster. Aus der Lichtlosigkeit schälte sich allerdings bereits eine Gestalt. Ein massiger Leib, glänzend und muskulös. Ein Schädel ohne Gesicht. Farbe und Materie wuchsen aus dem Nichts. Ein Fauchen. Neben ihm! Dann der Aufprall eines feisten Tierkörpers. Ein scharfer Schmerz am Hals, ein kleines Gebiss, das vor Zamorras Nase zusammenschnappte. Zitternde Schnurrhaare. Endlich löste sich der mentale Druck, und die kaleidoskopartigen Bilder fügten sich zu einem Ganzen zusammen. Vehean fraß nicht mehr seine Schattenteile. Der Dämon schüttelte die letzten Fetzen aus schwarzem Nichts von sich ab. Sie verpufften in der Luft. Der Prozess fand ein Ende. Vehean kehrte in sein unheiliges Leben zurück, der Körper des Dämons war wiedererstanden. Zamorras Arme zischten durch die Luft, hämmerten gegen den kleinen Tierleib. Fauchend und mit wirbelnden Gliedmaßen flog das Dämonentier zur Seite, ging aber sofort wieder zum Angriff über und verbiss sich in Zamorras Hosenbeinen. Der Meister des Übersinnlichen trat zu, doch Johann alias Kaufmann war schon wieder verschwunden. Eine Sekunde später: Ein Stoß in seinem Rücken, das Geräusch von reißendem Stoff. Dann ein scharfer Schmerz im Nacken. Zamorras Hände griffen ins Leere. Um das Biest loszuwerden, ließ er sich fallen und wälzte sich auf den Rücken. Ein hohes, tierisches Kreischen folgte, dann flutschte ein fetter gel-
ber Pelzleib unter ihm hervor. Zamorra warf sich zur Seite, die Spitze des magischen Dolches bohrte sich in den Körper des Katers; mitten in den Bauch. Haut und Fleisch klafften auf, und ein Strom schwarzen Blutes schwappte über Zamorras Hand, gefolgt von etwas Glitschigem, Schleimigem. Übelkeitserregender Gestank schlug ihm entgegen und raubte ihm für einen Augenblick die Sinne. »Ich habe Katzen schon immer gehasst«, sagte er angewidert. »Ihr seid hinterhältige, heimtückische Biester.« Ihm fiel ein, wie Kaufmann ihn am letzten Abend auf den heutigen Morgen vertröstet hatte – angeblich, weil er müde sei und schlafen müsse. Zamorra hatte es ihm als skurrile Eigenart durchgehen lassen … nun stand wohl fest, dass es ganz andere Gründe dafür gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht seine Katzengestalt annehmen müssen. Der Kadaver zerfiel binnen Sekunden zu Staub; das Blut auf Zamorras Anzug und Händen tat ihm diesen Gefallen leider nicht. Vehean!, zuckte es ihm durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte ihn Kaufmann in seiner Katzengestalt nur angegriffen, um von dem neu erstandenen Dämon abzulenken und diesem die Flucht zu ermöglichen. Denn die tödliche Waffe in Zamorras Besitz hätte ihm allzu leicht den Garaus machen können. Später jedoch konnte es ganz anders aussehen; wer wusste, ob der Meister des Übersinnlichen den Dämon jemals wieder aufspüren konnte. Er sah sich um, zuerst dahin, wo das gesichtslose Monstrum eben noch gestanden war. Es war verschwunden. Natürlich … es würde sich als Erstes um die Wiedererweckung der Hexe Hella kümmern. Und im Gegensatz zu Zamorra wusste der Dämon ganz sicher, auf welchem Friedhof diese stattfinden sollte. Zamorra fluchte. Bis auf ein Detail war Kaufmanns Plan voll aufgegangen. Das dämonische Katzentier hatte Dythmars Vorbereitungen zunichte gemacht; der Plan des alten Wissenden, mit dem Schattenkompass die Dämonensplitter zu sammeln und den Dämon sofort danach mithilfe des Dolchs endgültig zu vernichten, war ge-
scheitert. Noch nicht einmal dieses eine misslungene Detail in Kaufmanns Plänen vermochte Zamorra zu erleichtern – denn seinen Tod hatte Daniel Kaufmann alias Johann ganz bestimmt nicht einkalkuliert. Was nun? Wie sollte Zamorra die Spur des Dämons wieder aufnehmen? Wie Hellas Wiederauferstehung verhindern? Wie etwas dagegen tun, dass eine unbekannte reine, junge Maid auf dämonische Weise missbraucht wurde, um der Hexe neues Leben zu schenken? Alles war so schnell gegangen, dass der Meister des Übersinnlichen kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Er wusste nur eins: Er hatte versagt. Erst als er sich umdrehte, fiel ihm das Offensichtliche ein. Der Schattenkompass! Er musste auf dem Grundstück des ersten neuen Opfers liegen, des Mannes, den sie durch die halbe Stadt bis hierher verfolgt hatten. Beide Wagen standen nach wie vor an ihren Plätzen, beide Männer lagen ohnmächtig da. Die Fahrerin des zweiten Wagens hatte ihr Auto nicht verlassen. Wahrscheinlich würden sie alle in Apathie verfallen, sobald sie erwachten, wie zuvor schon Christiane Finck und Horst Banglein. Zamorra würde sich um sie kümmern, sobald es ging – irgendwann nach Mitternacht. Bis dahin musste er alle Energie darauf verwenden, Hella ausfindig zu machen. In der Ferne heulten Sirenen. Die Polizei näherte sich, vielleicht auch ein Krankenwagen. Der Meister des Übersinnlichen suchte rasch alles ab. Er rief sich ins Gedächtnis, wann und wo er den Kompass zuletzt in Händen gehalten hatte. Irgendwann während der dramatischen Ereignisse der letzten Minuten war er ihm entglitten; er konnte sich nicht daran erinnern. Eins jedoch wusste er genau – das magische Hilfsmittel war verschwunden. Er würde das Grundstück noch so genau absuchen können. Es gab nur eine Erklärung: Der Kater Johann hatte es mit sich genommen und irgendwohin verschleppt. Und es gab keine Gelegenheit mehr, das dämonische Tier in seiner Gestalt als Daniel Kaufmann zu befragen. An den skurrilen Mann in seinem Strickpullover erinnerten nur mehr ein Häufchen Asche und ein paar wi-
derliche Flecken auf Zamorras Anzug. Weil er keine Zeit mit unnötigen Fragen der Polizei verschwenden wollte, sah der Professor zu, dass er verschwand.
Sara öffnete die Tür ins Wohnzimmer. Das Herz klopfte ihr im Hals. Sie hatte die Klinke gar nicht drücken wollen, wehrte sich gegen die Schritte, die ihre Beine und Füße machten. Wieso gehorchte ihr eigener Körper ihr denn nicht mehr? Was war denn los? Der Schatten – nicht Opas Schatten, nein, das ist nicht Opa! – lenkte sie weiter. Mama und Papa hatten noch nicht gemerkt, dass sie nicht mehr alleine waren. »Sie hat – was?«, fragte Mama gerade. Ihr Gesicht war weiß wie Kalk, und die Hände strichen fahrig durch die Haare. »Wieso hast du mir nichts davon gesagt? Wenn Sara diese beiden Toten …« »Beruhig dich«, forderte Papa. Sara hörte genau, wie gereizt er war. Genau so klang er auch, wenn sie mal wieder etwas zu viel angestellt hatte und gar nicht auf ihn hörte. »Beruhigen? Wenn Sara einem Mörder nur …« »Es gibt keinen Mör-« »Ach ja? Und was wollten diese Kerle mit Sara tun? Sie vergewaltigen? Oder …« Papa musste sie erspäht haben, denn er drehte sich um und rief laut ihren Namen. »Sara! Liebes, komm her. Seit wann bist du denn schon da?« Sie gab keine Antwort. Stattdessen presste sie ihre Lippen aufeinander, so fest es nur ging. Denn da waren wieder diese bösen Worte in ihrem Kopf, die der Schatten sie schon einmal hatte sagen lassen, im Park, als die beiden Männer tot umgefallen waren. Und diese Worte durfte sie nicht aussprechen! Das durfte sie einfach nicht! Denn dann würden Mama und Papa vielleicht auch … umfallen. Sara wollte sich umdrehen, wollte wegrennen, aber sie konnte nicht. Der Schatten erlaubte es ihr nicht. Sag es! Sag es!
Sie wehrte sich mit aller Kraft, so gut es nur ging. »Was ist denn los?«, fragte Mama. »Was hast du denn? Sara, Liebes …« Mama kam auf sie zu. Sag es! Die Stimme war jetzt böser als je zuvor, so richtig fies. Gehässig. Sara weinte. Nein, dachte sie. Und ich geh auch nicht auf den Friedhof. Und ob du gehen wirst! Ich befehle es dir! »Mama«, quetschte Sara heraus. Komische Worte wollten nachquellen, aber sie schluckte sie runter. Ich mach das nicht! Na gut, sagte der Schatten plötzlich. Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Mama kniete nun neben ihr. »Aber Sara, was ist denn los? Du … du weinst ja. Und du –« Sie hob die Hand und wedelte vor Saras Gesicht. Papa kam ebenfalls, hob sie hoch, auf seine Arme. »Sara! Hey, Sara!«, sagte er scharf. Und ebenso besorgt, das hörte sie genau. Weiterhin presste sie die Lippen zusammen. Was denn für einen Vorschlag!, dachte sie. Ich bringe deine Eltern nicht um. Ich schicke sie nur schlafen. Nichts Schlimmes. Morgen werden sie wieder aufwachen und alles ist gut. Dafür schuldest du mir aber etwas. Du wirst freiwillig zum Friedhof mitgehen. Sara dachte nach. Das klang gut. Oder zumindest besser als alles andere. Also stimmte sie zu. Einen Augenblick später, kaum dass sie sich nicht mehr dagegen sträubte, sagten ihre Lippen wieder seltsame Worte. Sie klangen aber anders als diejenigen im Park. Mama und Papa fielen um wie Puppen. Es gab einen hässlichen dumpfen Schlag, als Mamas Kopf irgendwo aufschlug. Papa hielt Sara noch immer auf dem Arm, also stürzte sie mit ihm. Sie landete jedoch auf ihm, ziemlich weich. Gut so, sagte der Schatten. Sara hörte nicht hin. Sie ging schnell zu Mama, um zu schauen, ob sie sich arg wehgetan hatte, als ihr Kopf aufgeschlagen war. Sie fand zwar eine kleine Beule, aber immerhin blutete es nicht. Das war gut. Sie schob und drückte, bis Mama bequemer lag. Papa half sie genauso und kam dabei ins Schwitzen.
»Sollen wir jetzt gehen?«, fragte sie den Schatten. Es ist noch ein bisschen Zeit. Am besten wartest du hier im Haus, dann wird dich auch niemand sehen und neugierig werden. Es war unheimlich, wie ihre Eltern da auf dem Boden lagen. Der Schatten beruhigte sie jedoch und versicherte, dass sie am nächsten Tag einfach wieder aufwachen würden. Sara ging in die Küche und aß ein paar Cornflakes. Sie fühlte sich ganz schön traurig. Ab und zu platschte eine Träne in die Milch. Als der Schatten später sagte, nun könne sie gehen, verließ sie das Haus und blickte zum Himmel. Die Dämmerung setzte gerade erst ein, aber der Vollmond war schon aufgegangen.
10. Nun wollen wir singen das Abendlied Vehean eilte durch die seltsamste Gegend, die er sich nur vorstellen konnte. Riesige Häuser aus seltsamem Material, hunderte, tausende von Sterblichen. Die magischen Sinne des Dämons nahmen sie auf, witterten die ungewöhnlichsten Dinge. Er ließ seine drei Zungen vor dem Maul pendeln und saugte damit eine Unzahl fremdartiger Gerüche auf. Er musste lange zersplittert gewesen sein, wenn sich die Welt so sehr verändert hatte. Ob wohl wenigstens in der Hölle noch alles beim Alten war? Vielleicht würde er Kontakt mit Asmodis suchen, wenn das alles vorbei war und Hella wieder lebte. Ein Gutes hatte das alles wenigstens – wenn die Hexe wiederauferstanden war, konnte Vehean die Seelenbindung lösen und sich wieder um anderes kümmern. Doch wie auch immer – er zollte Hella Respekt. Dafür, dass sie nur ein Mensch war, der sich aus eigener Kraft tief in die magischen Geheimnisse hineingearbeitet hatte, war sie erstaunlich weit gekommen. Sie hatte viel erreicht; und wenn diese Nacht erst einmal vorüber war, würde sie unvergängliches Leben in sich tragen. Der Schatten, in dem sich ihre Seele verankert hatte, lag gar nicht weit entfernt, das spürte Vehean genau. Das vereinfachte die ganze Angelegenheit erheblich. Sie mussten nur noch einen geeigneten Ort der Toten finden, um das Ritual zu vollenden. Vehean wich den größten Ansammlungen der Sterblichen aus und schlich durch einen leer stehenden Bereich dieser Siedlung. Dennoch konnte er ein Zusammentreffen mit einigen Menschen nicht verhindern. Zwei Männer und zwei Frauen kamen auf ihn zu. Er roch und fühlte sie genau. Eine der Frauen schrie, ein Mann jedoch lachte überheblich und rief in Veheans Richtung, was das denn solle. »Hast du sie nicht
mehr alle? Was soll denn diese scheiß Verkleidung?« Es blieb keine Zeit für solchen Unsinn. Vehean stürmte vor und wütete unter den Sterblichen. Der Frau, die immer noch schrie, riss er zuerst den Kopf ab. Gleichzeitig wickelte er einem Mann die Zungen um den Hals und brach ihm das Genick. Die zweite Frau rannte weg und stolperte; der letzte Sterbliche hielt plötzlich ein seltsames kleines Ding in der Hand. Es knallte laut, einmal, zweimal, dreimal. Irgendwas schlug gegen Veheans Körper. Es war lästig. Unwillig sprang der Dämon vor und tötete den Mann. Der Frau zerschmetterte er beiläufig den Brustkorb, ehe sie mit dem neuerlich einsetzenden Gekreische noch andere herbeirief. Endlich herrschte Stille. Nein, doch nicht. In dem abnorm hohen Haus öffneten sich einige Fenster, und weitere Sterbliche schauten heraus. Lästig! Wieder kam ihm dieses Wort in den Sinn. So viele Zeugen konnte er nicht gebrauchen. Sie würden noch für Aufregung sorgen, ehe Hellas Wiedergeburt erledigt war. Als er nach einem Ausweg suchte, erkannte der Dämon mit Erstaunen eine neue Fähigkeit an sich. Sie musste durch die lange Zeit entstanden sein, die er in den Schatten verbracht hatte. Vehean schmolz zu einem dunklen, flachen Fleck und kroch, selbst nur noch ein Schatten, über den Boden davon. So würde ihn niemand mehr sehen, wenn er sich geschickt anstellte und helle Sonnenflächen mied. Mit Grauen dachte er an den verhängnisvollen Tag zurück, als es zur Katastrophe gekommen war. Der Schmerz, als ihn der Zauber in tausend Teile zerriss, war nahezu unerträglich gewesen. Es hatte in ganz Rekkenze nicht genug Schatten von Sterblichen gegeben, um all seine Teile aufzunehmen. Die Splitter hatten also unwillkürlich nach anderen Gefäßen gesucht, doch die vielen Toten, die überall lagen, waren nicht geeignet gewesen. Für kurze Zeit hatten sich Veheans Teile ihrer als Hüllen bedient und sie belebt, doch bald hatten sie wieder ausfahren müssen. So hatten sich die Splitter andere Schatten gesucht, in der Siedlung Baierrute, etwa fünfzig Kilometer von Rekkenze entfernt. Danach waren das Bewusstsein und die
Wahrnehmung des Dämons erloschen, bis vor kurzem die ersten Rufe aus Hellas Richtung erschollen waren. Der räudige Johann hatte seine Aufgabe anfangs sehr langsam erfüllt, am Ende jedoch das große Werk doch noch vollbracht. Dass es ihn danach das Leben gekostet hatte, war kaum bedauerlich; er hatte seinen Zweck erfüllt. Schon damals hatte Vehean den Kater, der ständig um Hellas Füße strich, als unnötigen Ballast empfunden. Vehean würde seine Verpflichtung erfüllen, die durch die Seelenbindung entstand. Die Bedingungen waren ideal; eine Vollmondnacht stand bevor. Hella würde wiedererstehen, und Vehean konnte in die Hölle zurückkehren. Zufrieden wanderte er als Schatten über den Boden und die Hauswände weiter, immer dem Ort entgegen, an dem er Hellas Bewusstsein erspürte.
Der Kaffee duftete zugegebenermaßen herrlich und er war, wie Kommissar Saal sich ausdrückte, schwarz wie eine Beamtenseele. »Das habe ich von Ihnen gelernt, Professor. Sie haben es zwar Dämonenseele genannt, aber das kann ich meinen Kollegen nun wirklich nicht zumuten.« Nach dem Fiasko von Veheans Wiedererstehung hatte sich Zamorra gerade noch rechtzeitig zurückgezogen, um der eintreffenden Polizei nicht in die Hände zu fallen. Natürlich hätte er sich mit dem Verweis auf Saal elegant aus der Affäre ziehen können, aber so war es ihm einfacher erschienen. Wer wusste schon, an welchen sturen Kommisskopf er möglicherweise geraten wäre. Ein Anruf hatte ergeben, dass sich Saal in seinem Büro aufhielt. Kaum eine halbe Stunde später war Zamorra dort gewesen; seitdem erzählte er dem Kommissar eine Geschichte, an der dieser schwer kauen musste. Der Meister des Übersinnlichen nahm einen Schluck, und es rann heiß seine Kehle hinunter. Der bittere Geschmack des Koffeins tat sein Übriges, die leichte Müdigkeit zu vertreiben. »Es gibt einige Leute, um die wir uns kümmern müssen. Horst Banglein, der Mann, den wir verfolgt haben, die Frau im Wagen, außerdem der Fahrradfahrer – wahrscheinlich werden sie die bekannten Symptome zei-
gen, wenn sie erwachen.« Saal schüttelte heftig den Kopf. »Ich denke, es wird ihnen ganz passabel gehen, Professor! Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, Ihnen die gute Nachricht mitzuteilen.« Eine gute Nachricht konnte er allerdings gebrauchen. »Ich höre.« »Banglein ist wach und bei klarem Verstand. Und wollen Sie wissen, wann man das festgestellt hat?« »Lassen Sie mich raten. Etwa zu der Zeit, als Vehean wiedererstand?« Der Kommissar hieb auf den Tisch, sodass ein Blatt, das auf der Kante gelegen hatte, darüber kippte und in die Tiefe trudelte. »Exakt! Zumindest wenn man akzeptiert, dass ein … ein – Dämon, ähm …« »Sich aus Schattenfragmenten wieder zusammensetzt?«, schlug Zamorra vor. »Hm.« »Sie werden es akzeptieren müssen. Eine andere Wahl bleibt Ihnen kaum. Wenn es aber stimmt, dass alle, die im Zuge dieser Geschichte den Verstand verloren haben, um diese Uhrzeit wieder zu Sinnen gekommen sind, können wir die Fälle genau eingrenzen. Vielleicht haben diese Leute Morde begangen oder andere Gräueltaten, aber sie sind unschuldig und dürfen dafür von der Justiz nicht bestraft werden.« »Das sagen Sie so einfach.« »Einfach?«, fragte der Parapsychologe. »Einfach ist das überhaupt nicht. Und schon gar nicht für die Betroffenen. Wahrscheinlich werden sie die Bilder ihrer Taten nie wieder los.« Saal schenkte sich ebenfalls einen Kaffee ein. »Das ändert aber nichts daran, dass ich nicht so einfach die komplette Strafverfolgung unterbrechen kann. Schon gar nicht außerhalb von Hof, und wir müssen im Extremfall wohl weltweit mit solchen Fällen rechnen.« »Ich werde Ihnen Unterstützung zukommen lassen«, sagte Zamorra und dachte an seinen Sonderausweis der britischen Regierung. Vielleicht würde er auch in diesem Fall zumindest bei eventuellen englischen Opfern Wunder wirken. »Wir dürfen jedenfalls nichts unversucht lassen. Hella hat schon genug Leben zerstört. Wenigs-
tens in den Fällen, die uns bekannt werden, müssen wir helfen.« Dem Meister des Übersinnlichen kam die deBlaussec-Stiftung in den Sinn, die er vor Jahren gegründet hatte, um den Opfern von Dämonenangriffen unter die Arme zu greifen. Er würde sich mit Professor Landru, dem Stiftungsvorstand, in Verbindung setzen. Sollte sein Sonderausweis nichts helfen, konnte er wenigstens gewährleisten, dass die Schattengeschädigten die besten nur denkbaren Anwälte bekamen. Landru beklagte zwar immer, dass ihm nicht genügend gute Mitarbeiter zur Verfügung standen, aber da konnte ihm Zamorra auch nicht helfen. Außerdem hatte er erst vor kurzem eine Dame eingestellt, auf die er große Stücke hielt. Sollte die sich darum kümmern. »Diese Geschichte dieser achthundert Jahre alten Hexe, ihrem Dämon und dem Kater in Menschengestalt macht mir ehrlich gesagt immer noch zu schaffen«, gab der Kommissar zu. Zamorra nickte bedächtig. »Mir auch. Vor allem, weil ich keine Ahnung habe, wie wir den Friedhof ausfindig machen sollen, auf dem die Wiedererweckung stattfinden wird.« Es machte in halb wahnsinnig, untätig im Büro des Kommissars herumzusitzen. Dieser Ort war ihm jedoch ebenso gut wie jeder andere erschienen, da es momentan keine Spur gab, der er folgen konnte. Außerdem hatte er sich von Saal neue Informationen erhofft. Der Kommissar trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, griff dann einen Kugelschreiber und begann auf einem Papier zu kritzeln. »Vielleicht sollten wir mit Banglein sprechen oder einem der anderen Opfer.« »Was erhoffen Sie sich davon?« »Könnte es nicht sein, dass es immer noch eine Art … Verbindung zwischen ihnen und diesem Dämon gibt?« »Keinesfalls«, gab sich Zamorra überzeugt. »Diese Verbindung ist gekappt.« Saal tackerte mit seinem Kugelschreiber auf der Tischplatte herum. Dann kratzte er sich damit an der Stirn und hinterließ einen kleinen blauen Schmierer. »Was spricht eigentlich dagegen, sich auf dem Hofer Friedhof auf die Lauer zu legen?« »Wie viele Friedhöfe hat Ihre Stadt denn?«
»Nur einen. Na ja, in Wölbattendorf – das ist ein Stadtteil – ist noch ein kleiner Friedhof der jüdischen Gemeinde.« »Sehen Sie? Das verringert unsere Chancen, den richtigen zu treffen, schon auf nur noch fünfzig Prozent. Und wie viele Ortschaften oder Dörfer mit eigenem Friedhof gibt es um Umkreis von … sagen wir mal: dreißig Kilometern? Wie viele im Umkreis von hundert Kilometern?« Der Kommissar warf den Kugelschreiber auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Keine Ahnung.« »Nein, es bringt nichts, wenn wir auf gut Glück irgendwo auf Vehean warten! Uns muss etwas anderes einfallen! Untersuchen Sie alle aktuellen Fälle, die Ihre Kollegen bearbeiten, Frank. Vielleicht ist Hellas Bewusstsein ja doch stets hier in der Nähe geblieben, am Ort ihrer damaligen Niederlage.« »Hat sich nicht schon Kaufmann gegen diese Theorie ausgesprochen?« Der Meister des Übersinnlichen grinste völlig humorlos. »Das spricht wohl eher dafür, dass doch etwas dran sein könnte, nicht wahr? Kaufmann hat uns von vorne bis hinten belogen.« Und ich bin wie ein Trottel auf ihn hereingefallen, als ob ich noch nie mit dämonischer Täuschung zu tun gehabt hätte. Während der Computer zu knackendem Leben erwachte, fragte Saal: »Wonach soll ich unser Intranet durchsuchen? Wir legen dort Notizen über alle Fälle an, damit sie den Kollegen zugänglich sind.« »Nach einem Friedhof. Oder einer jungen und reinen Maid, also einem Mädchen. Erst einmal nur in Hof und Umgebung. Danach können wir die Suche immer noch ausweiten.« Saal begann zu tippen. »Das kann etwas dauern.« Zamorra widmete sich dem Kaffee und seinen eher schwermütigen Gedanken, aus denen er jedoch schon wenige Sekunden später gerissen wurde. »Das glauben Sie nicht, Zamorra! Warum in aller Welt erfährt man hier nichts?« Der Parapsychologe erhob sich und umrundete den Schreibtisch, um ebenfalls auf den Bildschirm schauen zu können. »Vier Tote«, sagte Saal. »Die Spurensicherung ist noch draußen,
aber das Ganze ist offenbar mehr als unappetitlich.« Davon konnte sich Zamorra mit eigenen Augen überzeugen. Die knappe Eintragung sprach von einer Enthauptung, einem gebrochenen Genick und grauenhaften Verstümmelungen. »Wo ist das passiert?« Saal fuhr mit der Maus über den Bildschirm und öffnete einige weitere Fenster. »Max-Reger-Straße. Und wie es aussieht, nur wenige Minuten nachdem Vehean vor Ihnen geflohen ist.« »Wie weit liegt das entfernt von …« »Es passt zeitlich genau.« Der Kommissar drehte den Stuhl, stieß sich ab und rollte zu dem Aktenschrank hinter seinem Schreibtisch. Er zog einen gefalteten Stadtplan und breitete ihn auf der Tischplatte aus. Mit einem Kreuzchen markierte er den Ort der schrecklichen Morde, dann die Straße, in der Veheans Wiedergeburt stattgefunden hatte. Zamorra nahm ebenfalls einen Stift in die Hand und verband beide Punkte mit einer Linie. »Der Dämon war in dieser Richtung unterwegs. Angenommen, er ging schnurstracks zu Hella …« Mit einem Lineal verlängerte er die bisher eingezeichnete Linie – und stockte. »Dann käme er genau hier heraus.« Der Meister des Übersinnlichen tippte mit dem Stift auf die grüne Fläche mit dem kleinen Symbol des christlichen Kreuzes. »Dem Friedhof! Sie hatten Recht, Frank! Wenn auf der Verlängerung dieser Linie nicht noch ein Friedhof außerhalb von Hof liegt, wissen wir nun, wohin er will.« Er stutzte, als er nicht weit östlich eine noch größere grüne Fläche entdeckte. Sie war mit Theresienstein bezeichnet. »Ist das nicht der Ort der Bluthochzeit?« »Das ist er.« Saal schaute noch für einige Sekunden auf die Karte, dann tippte er etwas in die Suchmaske des Intranets, was Zamorra nicht erkennen konnte. »Bingo!« Er klang aufrichtig fassungslos. »Das werden Sie nicht glauben, Professor.«
Sara wanderte durch die Reihen aus Grabsteinen. Vorne war alles noch wunderbar ordentlich gewesen, hier wucherte Unkraut seitlich
an den Wegen, und Schlingpflanzen bedeckten manche der Gräber. Hohe Bäume schufen am Boden ein schattiges Zwielicht. Niemand außer ihr hielt sich in der Nähe auf. Es war ganz schön kalt, aber daran hatte sie sich schon gewöhnt. Wenn sie sich immer ein bisschen bewegte, fror sie nicht allzu sehr. Sie las einige der Inschriften, um die Zeit totzuschlagen – das war alles andere als einfach, aber im Kindergarten hatte sie die meisten Buchstaben schon gelernt. »J … a … m … e … s«, entzifferte sie auf einem Grabstein aus weißem Marmor. Das war ein englischer Name, das wusste sie genau. Es wohnten einige Engländer in der Nähe. »James und L … i … l … y.« Über dem Nachnamen wuchs irgendein Unkraut und machte ihn unkenntlich. Aber das Todesdatum der beiden war wieder zu lesen: der 31. Oktober 1981. Was damals wohl passiert war? Es musste schrecklich gewesen sein, wenn zwei Leute gleichzeitig gestorben waren. Wahrscheinlich ein Unfall. Etwas lenkte sie ab. Eine Bewegung! Hinter der breiten Tanne trat eine Gestalt hervor. Im ersten Moment erschrak Sara furchtbar, und ihr Herz krampfte sich in der Brust zusammen. Das war das Monster aus ihrem Schrank! Das, das sie seit Opas Tod immer wieder sah. Keine Angst, zischte der Schatten in ihrem Kopf. Vehean tut dir nichts. Das sagten die Leute mit den großen Hunden auch immer, und trotzdem war Papa einmal gebissen worden. Er ist mein Freund. Im nächsten Moment sagte Sara, ohne es zu wollen: »Sei mir willkommen, Vehean! Die Stunde unseres Triumphes ist nahe.« Sie stand starr, während das Monster auf sie zukam und um sie schlich wie ein Raubtier. Das schreckliche augenlose Gesicht blieb völlig starr, als sich das Maul öffnete und die drei Zungen wie Lappen herausfielen. Sie rollten sich mindestens einen halben Meter lang auf. Die geteilten Enden zitterten in der Luft. Bereite alles vor, mein Seelenpartner, dachte der Schatten, und offenbar hörte es nicht nur Sara, sondern auch das Monster. Der Friedhof ist nun geschlossen. Niemand wird uns mehr stören.
Dicke Arme packten Sara und hoben sie hoch. Ein horniges Etwas rieb über ihren Rücken. Nimm das frischeste Grab! Der Dämon stapfte mit seiner menschlichen Last davon; er trug das Mädchen, als wäre es eine Feder. Als Sara schreien wollte, wickelte sich eine der Zungen um ihren Kopf und verschloss den Mund. Sie konnte nur noch durch die Nase atmen. Das frischeste Grab, dachte sie. Das war bestimmt das von Opa.
»Es geht niemand ran.« Zamorra unterbrach die Verbindung und ließ das Handy wieder in der Tasche seiner Anzugsjacke verschwinden. Er saß neben dem Kommissar in dessen Dienstwagen. Saal raste in halsbrecherischem Tempo durch den Verkehr der Hofer Innenstadt. »Probieren Sie's noch mal!« »Sinnlos. Der Anrufbeantworter ist schon dreimal angesprungen. Bei den Vogts ist niemand zu Hause.« Zumindest behauptete das die aufgezeichnete Stimme: Andreas, Manuela und Sara sind ausgeflogen. Wenn ihr uns nicht einfangen könnt, sprecht uns eben eine Nachricht aufs Band. Gesprochen wurden diese Worte von einer Jungmädchenstimme. Oder, um es mit Dythmars Worten zu sagen – von einer reinen, jungen Maid. Davon war Zamorra felsenfest überzeugt. Alles sprach dafür. Was Saal aus dem Intranet der Hofer Polizei gezogen hatte, passte haargenau ins Gesamtbild. Ein Mädchen, das nachts aus seinem Zimmer geflohen war, weil es seinem toten Opa dessen Schatten zurückbringen wollte … auf den Friedhof, den Zamorras einfache Zeichnung auf dem Stadtplan ebenfalls ermittelt hatte. Deutlicher könnte es wohl kaum sein. Da hätte es der beiden Toten, die am Goldfischteich des Theresiensteins – ganz in der Nähe des Hauses der Vogts – in derselben Nacht gefunden worden waren, gar nicht bedurft. »Wann sind wir dort?«, fragte er ungeduldig. »Höchstens noch fünf Minuten.« Er trat in die Eisen, dass die Bremsen quietschend protestierten. Dann riss er das Steuer nach rechts.
Zamorra wurde in den Sitz gedrückt. »Woah – bei dem Tempo kommen wir vielleicht nie an, vergessen Sie das nicht.« Der Kommissar grinste grimmig. »Als Parapsychologe glauben Sie doch bestimmt an ein Leben nach dem Tod, oder?« »Ich habe nicht vor, diese Theorie heute noch in Praxis zu verwandeln.« »Haben wir es eilig oder nicht?« Mit siebzig Sachen und heulender Sirene jagte Saal über eine Ampel, die auch mit bestem Wohlwollen nicht mehr als dunkelorange interpretiert werden konnte. Kurz danach schoss er über eine Brücke, die einem Schild zufolge die Saale überspannte. War an dieser Stelle vor achthundert Jahren auch immer Hella in den Ort gekommen? Vier Minuten später hielten sie vor einem schmucken zweistöckigen Wohnhaus, an dessen Eingangstür ein selbstgetöpfertes Schild den Namen VOGT verkündete. Zamorra war vor seinem Begleiter an der Tür und klingelte. Niemand öffnete, auch auf ein zweites, ungeduldiges Schrillen hin nicht. »Wir müssen rein.« Saal verdrehte die Augen. »So läuft das nicht. Das ist kein Agententhriller, in dem James Bond mal eben …« »Schon klar.« Zamorra umrundete das Haus. Wie erhofft, gab es auf der Rückseite eine Terrassentür, die den Blick ins Wohnzimmer ermöglichte. Was die beiden dort entdeckten, ließ auch Saal alle Einwände vergessen. »Familie Vogt wird es uns verzeihen.« Zamorra sah sich auf der Terrasse um, entdeckte einen größeren Stein und winkte dem Kommissar, beiseite zu gehen. Eine Sekunde später zerbrach die Scheibe klirrend und hinterließ ein gezacktes Loch nahe am Türgriff. Zamorra fasste hindurch und öffnete. Innen kniete er sofort neben den beiden stocksteifen Menschen nieder, bei denen es sich offenbar um Andreas und Manuela Vogt handelte, Saras Eltern. Er fühlte beiden den Puls, der langsam aber regelmäßig schlug. Vorsichtig hob er Manuelas rechtes Augenlid. Die Pupille glotzte ihn an wie ein winziges Loch, das sich weder erweiterte noch be-
wegte. »Ein magischer Schlaf«, diagnostizierte er. Wieder verfluchte er die Tatsache, dass Merlins Stern beim Amulett-TÜV in Asmodis' Händen war. Also musste er sich anders helfen. Saal ließ nur ein lautes Atmen hören, während Zamorra aufstand und nach einem Stift suchte. Bald wurde er fündig und zeichnete mit einem Faserschreiber einen Kreis um die beiden Ohnmächtigen. »Wasserlöslich«, sagte er grinsend. »Dürfte sich also mit einem guten Putzmittel wieder entfernen lassen.« Er zeichnete verschiedene magische Symbole rund um den Kreis und verstärkte deren Wirkung mit weißen Hieroglyphen. Dabei warf er einen Blick auf die Uhr – es blieben noch drei Stunden bis Mitternacht. Kein Problem also, rechtzeitig auf dem nahe liegenden Friedhof zu sein. Wenn er aber vorher von Saras Eltern noch Informationen erhalten konnte, würden ihm diese auf jeden Fall weiterhelfen. Leise murmelte er einige Zaubersprüche und beobachtete genau die Reaktion der beiden Schläfer. Manuela regte sich als Erste; ihre Hand fuhr zum Hinterkopf, und sie riss die Augen auf. »Sara, was …«, schrie sie, brach aber mitten im Satz ab. Auch Andreas erwachte. Beide starrten die Eindringlinge an und verstanden offensichtlich die Welt nicht mehr.
Sara saß am Rand des Grabs und starrte einfach vor sich hin. Alles war schlimm. Das gesichtslose Monster namens Vehean grub Opas Sarg aus. Ein ganzer Berg Erde lag schon auf dem Nachbargrab und auf dem Weg. Die großen Pranken des Monsters schaufelten und kratzen sich in die Tiefe, bis plötzlich ein dumpfes, kratzendes Geräusch ertönte. Sara schaute in das Loch hinab. Veheans Krallen hatten eine Furche durch verschmutztes Holz gezogen. Alles war so furchtbar dolle schlimm.
»Sie müssen mir alles sagen«, bat Zamorra. Das Ehepaar Vogt saß neben ihm auf der Wohnzimmercouch wie ein Häufchen Elend. Die ersten Erklärungen hatten sie ausgetauscht, doch nun erst drangen sie zum Kern der Sache vor. »Haben Sie außer Sara noch etwas gesehen?« Der Meister des Übersinnlichen hob vorsorglich in einer beschwichtigenden Geste die Hände. »Ein … Monster?« Andreas schüttelte matt den Kopf; ein geschlagener Mann. Seine Frau hingegen sagte leise: »Sara hat von einem Monster gesprochen. Aber sie ist total durcheinander. Sie hat mich auch nach Hexen gefragt.« Das konnte sich der Parapsychologe allerdings nur zu gut vorstellen. »Sie selbst haben nichts gesehen? Sie können ganz offen mit uns sprechen.« Manuela schlug die Hände vors Gesicht. »Ich glaube, die ganze Welt ist verrückt geworden«, sagte Andreas. Einige weitere Fragen zeigten, dass die Vogts ihm nicht weiterhelfen konnten. Weder wussten sie etwas über Vehean und Hella, noch konnten sie sagen, wo sich ihre Tochter aufhielt. Das stand für Zamorra allerdings fest; also würde er aufbrechen. Allerdings alleine – der Kommissar würde ohnehin nicht helfen können. Nicht bei dem, was bevorstand. Er musste es Saal nur noch beibringen. »Beschreiben Sie mir den Weg zum Friedhof.«
Alles wird gut, sagte der Schatten. Das glaubte Sara nicht. Gar nichts würde wieder gut werden. Nie mehr. Im geöffneten Sarg lag die Leiche ihres Opas. Allerdings sah er nicht mehr so gut aus wie am Tag, als sie ihn beerdigt hatten. Das Gesicht war viel grauer und eingefallener. Es wurde immer dunkler, und bald konnte Sara im Sarg gar nichts mehr erkennen. Vehean hockte bewegungslos neben dem Erdhaufen und wartete. Gar nichts mehr geschah. Bis Sara eine Bewegung hörte und etwas durch die Luft flirrte.
Vielleicht ein wenig unspektakulär, dachte Zamorra, aber das ist mir völlig egal. Der magische Dolch sauste sich überschlagend durch die Luft. Der Meister des Übersinnlichen hatte sich anschleichen können und eine perfekte Wurfposition eingenommen. Er konnte sein Ziel gar nicht verfehlen. Die Klinge schmetterte bis zum Heft in den hässlichen Dämonenleib. Vehean brüllte. Sein Kopf flog herum, eine der drei Zungen packte den Griff der Waffe, schlang sich um ihn und riss die Waffe heraus. Dampf wölkte auf. Wo die Zunge die Waffe berührte, verschmorte das Fleisch in Sekundenschnelle. Ein grollender Schmerzenslaut entrang sich dem Maul des Dämons. Als die Klinge zu Boden fiel, besaß Vehean nur noch zwei Zungen. Die dritte endete in einem verkohlten Stumpf. Von der Verletzung am Rücken ausgehend färbte sich der Dämonenleib stumpfgrau. Staub rieselte hinab, doch Vehean fiel nicht. Plötzlich bewegte sich das blonde Mädchen, das neben dem Grab gesessen hatte. Sara stand auf. »Halt ein!« Zamorra achtete nicht darauf, riss den E-Blaster aus dem Holster und feuerte einen hochkonzentrierten Energiestrahl auf Veheans Schädel. Doch der Treffer zeigte nicht die geringste Wirkung. Zamorra musste den Dolch zurückbekommen und einen weiteren Angriff starten. Dazu musste er allerdings erst an dem Dämon vorbeikommen. Das würde alles andere als einfach werden. Vehean stampfte heran, mit wirbelnden Klauen, die darauf warteten, sein Opfer zu zerfetzten. Zamorra zögerte keine Sekunde. Er musste seinen Gegner überraschen! Geduckt spurtete er los, dem Monster entgegen. In letzter Sekunde warf er sich zur Seite. Ein Hechtsprung brachte ihn über einen hoch aufragenden Grabstein, der im nächsten Moment unter einem gewaltigen Hieb zerbrach. Veheans Kraft zerbröselte den Marmor; Gesteinsfetzen spritzten zur Seite. Da war der Meister des Übersinnlichen schon zurück auf dem
Weg, hinter dem Dämon, und sah die Waffe vor sich. Doch Sara war schneller. Das Mädchen packte den Griff des Dolches. »Gib ihn mir!«, rief Zamorra. »Niemals«, brüllte Sara, derart hasserfüllt, dass es außer Frage stand, wer da wirklich sprach. Sara rannte los. Zamorra hinterher. Er würde das Mädchen bald einholen, ihre Beine waren viel zu klein, um ihm entkommen zu können. Doch das plante Sara auch gar nicht. Sie hetzte über alte Gräber und überwucherte Platten, bis sie an eine vollkommen von Unkraut überwucherte Stelle kam. Dorthinein schleuderte sie die Klinge, drehte sich um und lachte hässlich. »Such nur!« Dazu blieb keine Zeit. Vehean raste heran, geifernd und vor Wut brüllend. Was er nun tun musste, widerstrebte Zamorra zutiefst. Er packte Sara und hielt sie wie einen Schild vor sich, die Hand an ihrem Hals. »Bleib stehen, oder sie stirbt!«, schrie er dem wütenden Dämon entgegen. »Dann wird Hellas Seele aus ihrem Schatten fahren und in meinen wechseln!« Mehr musste er nicht sagen. Vehean stoppte, seine Klauen zogen Furchen in den Kiesweg. Zamorra hätte unter keinen Umständen Saras Tod zugelassen, solange er ihn irgendwie verhindern konnte – aber das brauchte sein Gegner ja nicht zu wissen. Wenn das Bewusstsein der Hexe tatsächlich in seinen Schatten wechseln würde, hätte dies das Ende der dämonischen Pläne bedeutet; er war kein Mädchen und somit nicht das Vehikel, das Hella zur Wiedergeburt benötigte. Außerdem war er relativ unsterblich, seit er von der Quelle des Lebens getrunken hatte. Solange er nicht durch Gewalteinwirkung ums Leben kam, wäre die Seele der Hexe in seinem Schatten gefangen. Zamorra wich zurück in das Unkrautfeld. Er konnte Veheans fauligen Atem bis hierher riechen. Und er sah das stumpfe Grau, das über die Schulter des Dämons kroch. Die weißmagische Vergiftung, oder worum immer es sich handeln mochte, breitete sich über den Leib des Höllischen aus. Erneut hob der Meister des Übersinnlichen den Blaster der Ewigen und feuerte. Diesmal jedoch auf die grau verfärbte Schulter, wo Ve-
hean offensichtlich geschwächt war. Dieser Treffer zeigte Wirkung. Der Dämon brüllte vor Schmerz. Obwohl Zamorra überzeugt war, Vehean auf diese Weise nicht töten zu können, konnte er so zumindest für Ablenkung sorgen. Das Monster krümmte sich. Dadurch wurde ein Schusswinkel auf den Rücken frei, auf den Ursprung der Verletzung, um die das Fleisch in erstaunlichem Tempo gräulich-weiß wucherte. Zamorra zielte und traf genau. Vehean brüllte in Agonie. Zamorra stieß Sara zur Seite und warf sich zu Boden. Seine Hände fuhren durch das Unkraut, ungefähr dort, wo der Dolch gelandet war. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn, als er sich in den Handballen schnitt. Doch das nahm er gern in Kauf. Seine Finger schlossen sich um den Griff der magischen Waffe. Er wirbelte herum und sprang auf die Füße. Sara stand weinend vor ihm. »Tun Sie es nicht.« Die Hexe, sagte sich Zamorra. Hella spricht durch sie. Doch sie wird ihr Ziel nicht erreichen! Er rannte an Sara vorüber, hin zu dem Dämon, dessen Zungen vor dem Maul peitschten. Brüllend raste das Monster auf ihn zu. Zamorra wartete eiskalt ab. Vehean war geschwächt und wütend, blind durch den rasenden Schmerz in seinem Leib. Eine Pranke raste heran. Zamorra wich aus, wurde dennoch gestreift und zur Seite gestoßen. Er riss die Klinge hoch, fühlte, wie sie durch schwarzes Fleisch schnitt. Der Meister des Übersinnlichen warf sich zu Boden, sah die stampfenden Beine des Dämons über sich, rollte sich ab und stand hinter seinem Feind. Mit einem gewagten Sprung landete er auf dem Rücken des Dämons, fühlte die schleimige Wunde, das platzende Fleisch – und stieß zu, seitlich in den Hals des Monsters. Mit einem Ruck zog er die Klinge durch. Ein furchtbarer, toter Laut – dann brach Vehean mit durchschnittener Kehle zusammen. Seine Gliedmaßen zuckten. »Tu es«, sagte Sara, die direkt vor dem verendenden Dämon stand. »Es ist mehr als eine Stunde zu früh, aber tu, was die Seelenbindung von dir verlangt! Es ist meinen letzte Chance.« Wie auch immer der Dämon es noch vermochte, aus seinem Maul entrangen sich einige dumpfe Laute.
Sara schrie. Ihr Schatten bäumte sich auf, hob sich und löste sich von ihr. Er raste zu dem offen stehenden Grab und verschwand darin. Während Vehean zu Staub zerfiel, erhob sich Saras toter Großvater. Der Zombie kletterte aus seinem Grab. Zamorra ahnte, was geschehen war. Hella selbst hatte es durch Saras Mund erklärt. Es war noch zu früh, um die Wiedergeburt einzuleiten. Noch herrschten nicht die speziellen magischen Bedingungen der Mitternacht. Dennoch hatte sich durch Veheans Worte die Seele der Hexe aus Saras Schatten gelöst und sich das nächstmögliche Gefäß gesucht, ähnlich wie es damals in Rekkenze geschehen war – die Leiche. Die Augen des Untoten glommen in düsterem Licht. Doch etwas stimmte bei dieser Rechnung nicht, die der Meister des Übersinnlichen aufgemacht hatte. Die Leiche musste von vorneherein eine Rolle in dem makabren Ritual der Wiedererweckung gespielt haben; nicht umsonst hatte Vehean sie ausgegraben. Was also spielte sich vor seinen Augen wirklich ab? Die Wahrheit erkannte der Meister des Übersinnlichen erst, als die Verwandlung begann. »Sie ist es«, flüsterte Sara an seiner Seite. »Die böse Hexe.« »Was weißt du von ihr?« »Alles. Sie hat in meinem Kopf gewohnt.« Der Zombieleib veränderte sich. Die Gesichtszüge glätteten sich. Die wenigen Haare zogen sich erst in den fast kahlen Schädel zurück, dann sprossen neue, längere. Der dürre Leib nahm vollere, runde Formen an … weibliche Formen. Unter dem Totenhemd wölbten sich die Rundungen zweier Frauenbrüste. Die Augenfarbe verwandelte sich in ein sattes, geradezu leuchtendes Grün. Sara sagte mit schniefender Stimme: »Sie braucht meinen Opa, um einen neuen Körper zu bekommen, weil es ihren nicht mehr gibt.« Zamorra hob den Strahler, doch noch konnte er nicht schießen. Zuerst musste er sich vergewissern, dass es diesmal für die Hexe kein Entkommen mehr gab. Es war logisch – im Unterschied zu Vehean war Hella ein Mensch, kein Dämon; während sich Veheans
Leib aus dem Nichts neu hatte bilden können, benötigte Hella eine materielle Grundlage. »Mich konnte sie nicht nehmen«, sagte Sara, »obwohl sie das gewollt hat. Es muss aber jemand sein, der auf dem Ort der Toten wohnt und von dort kommt, wo Hella längst sein müsste. Ich kapier das selbst nicht so richtig.« Zamorra hingegen konnte es sich sehr gut vorstellen. Entweder hatte Hella das komplizierte Ritual schon damals nicht richtig verstanden und einen Fehler begangen, oder die magischen Rahmenbedingungen hatten sich durch die zahlreichen unvorhergesehenen Zwischenfälle geändert. Die vom Alter gekrümmten Hände streckten sich, die verschrumpelte Haut wurde jung und frisch. Zamorra legte den linken Arm um Sara. Mit der Rechten hielt er den Blaster schussbereit. Wenn die Seele der Hexe vollständig in diesem untoten Körper verankert war und nicht mehr fliehen konnte, würde er schießen. Der Zombie – oder war es schon Hella? – warf sich herum und wollte flüchten. Doch er konnte kaum zwei Schritte machen, als er schreiend zusammenbrach. Er schrie. Sie schrie. Zamorra schaute Hella genau ins Gesicht, in den weit aufgerissenen Mund, als die Zunge plötzlich abfiel und als fahler Fleischlappen zu Boden stürzte. Hella gab einen grauenhaft gurgelnden Laut von sich. Der verstummte erst, als sich die Lippen zusammenpressten und stark zu bluten begannen. Aus dem Nichts formten sich Nähte, die den Mund für immer verschlossen. Genau wie damals auf dem Scheiterhaufen, dachte Zamorra. Er hatte schon viel gesehen, aber bei diesem Anblick lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Hellas Kopf ruckte in die Höhe, bog sich weit nach hinten. Die Kette, die sie an den Pfahl gefesselt hatte. Zamorra fasste Saras Kopf und drückte ihn sanft an seine Brust. Das Mädchen sollte nicht zusehen müssen.
Hella ächzte und gurgelte. Ihr Körper bäumte sich auf. Das war also die Folge davon, dass das Ritual der Wiedererstehung nach all den Jahrhunderten nicht korrekt durchgeführt worden war. Vehean hatte es zu früh starten müssen und damit die magischen Voraussetzungen nicht erfüllt. Die Strafe dafür war wahrhaft satanisch: Hella erhielt ihren Leib zurück, genau wie erhofft – aber es war der Leib, wie er in den Minuten ihres Todes existiert hatte. Plötzlich knisterten Flammen auf der Haut der Hexe. Im nächsten Moment brannte sie lichterloh.
Epilog »Jetzt weiß ich, wohin die Schatten gehen«, sagte Sara zu ihrer Mutter. Sie sah sich staunend um. Es war eine wunderschöne Umgebung, das fand sie immer wieder. Ein Schloss! Welches Mädchen träumte nicht davon? Es gab sogar einen richtigen Butler hier! Er nannte sie Prinzessin. Mama reckte den Kopf aus dem Pool. »Wohin denn, mein Liebes?« »Sie verschwinden einfach. So wie meine bösen Träume.« Professor Zamorra, der Mann, der sie in der schlimmen Nacht auf dem Friedhof gerettet hatte, war gerade nicht in diesem herrlichen gläsernen Schwimmbad-Anbau, in dem Mama und sie schwammen. Tausend Lichter glitzerten überall, obwohl es draußen schon dunkel war. Zamorra – Sara fand es lustig, dass er keinen Vornamen hatte – war echt nett. Er hatte sie auf sein Schloss eingeladen, und so kam es, dass sie schon seit vierzehn Tagen Williams Prinzessin war. Auch Mama weinte nicht mehr so viel. Das machte Sara froh. »Schön, dass es wieder Tag wird, gell, Mama?«
Nachwort der Verfasser Hallo, Sie da! Ja, genau Sie! Schön, dass sie uns nach dem Ende des Romans noch ein wenig Ihrer Zeit schenken. Vielleicht interessiert Sie ja, wie es überhaupt zum Schattenfresser kam. Was meine, Olivers, Rolle angeht, war es so, dass ich im Februar Christian zu einem Schreibseminar besucht habe (schöne Grüße an Andrea, Carlos, Harald und Oli). Es schneite in Hof zwar gewaltig – nicht zuletzt deshalb wird diese Region häufig auch das Sibirien Deutschlands genannt – und auch der Rest von Franken blieb nicht verschont. Dennoch machte ich mich auf den Weg quer durch die Republik. In erster Linie tat ich das natürlich, um etwas von Christian zu lernen. Allerdings hat seine vorherige Andeutung per E-Mail, man könne ja mal ein Zamorra-Hardcover zusammen schreiben, nicht unwesentlich zu dem dümmlichen Grinsen beigetragen, das während der Fahrt auf meinem Gesicht lag. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie gebauchpinselt ich mich fühlte. Schließlich waren zu diesem Zeitpunkt gerade mal zwei Romane in der Heftserie von mir erschienen. Wenn man von meinen zuweilen recht sinnentleerten Mails absieht, konnte Christian also noch nicht so sehr viel von mir gelesen haben. In einer ruhigen Minute während des Seminars präsentierte er mir dann seine Idee: Das Buch solle »Der Schattenfresser« heißen. Der erste und der letzte Satz stünden schon fest. Ach ja, und die Kapitel sollten nach Kinderliedern benannt sein; eine Vorschlagsliste druckte er mir aus. Mit großen Augen sah ich ihn an, wartete auf nähere Ausführungen. Was hatte es mit dem Schattenfresser auf sich? Warum Kinderlieder? Aber Christian war mit seinen Darlegungen bereits am Ende. Das mit der ruhigen Minute ist also durchaus wörtlich zu verstehen. Mit süffisantem Lächeln sagte er nur: »Mehr hab ich noch nicht. Vielleicht fällt dir ja was dazu ein.« Mir fiel! Schon während der Heimfahrt wirbelten mir die Gedan-
ken durch den Kopf. Ich hatte mich auf Anhieb in den Einstiegssatz verliebt und überlegte, wohin die Schatten den nun gehen könnten. Blöde Ideen mussten noch blöderen Ideen weichen. Aber als ich zu Hause ankam, existierte in meiner Vorstellung tatsächlich so etwas wie ein Handlungsrahmen, den ich Christian sofort mailte. Am nächsten Tag bekam er gleich noch eine Mail mit einer neuen, besseren Idee. Wir telefonierten danach noch einmal eine Stunde und der Rest ist (eben diese) Geschichte. Na gut, mein Vorschlag von der alten Legende der HopplopopplIndianer hat es leider (oder zum Glück) nicht bis in die endgültige Version geschafft. Dafür spielt die Vergangenheitsebene nun in Rekkenze, zu dem ich natürlich auch einen größeren Bezug habe als zu den Hopplpoppl-Indianern. Auch den Gegenwartsteil habe ich ohne zu fragen in Hof angesiedelt. Den Sibirien-Aspekt haben wir allerdings weggelassen. Was? Sie wollen wissen, ob das Schreibseminar etwas gebracht hat? Am besten entscheiden Sie das nach der Lektüre des Romans selbst. Vielleicht wollen Sie ja auch raten, welche Passagen von wem stammen. Aber ich sag's Ihnen gleich: Es ist nicht so einfach, wie man vielleicht denkt!
Dem kann ich mich nur anschließen – das sage ich, Christian. Der geneigte Leser wird nicht allzu leicht herausfinden, welcher der beiden Autoren welche Romanteile verfasst hat. Zumal wir gegenseitig in unseren Teilen herumgewurstelt und sie verbessert (hoffentlich nicht verbösert) haben. Der eine oder andere Absatz in Olis Teil stammt von mir, und ein reiner Christian-Montillon-Text wäre sicher nicht in der Lage, die Stadt Hof derart treffend zu schildern, wie Sie es eben gelesen haben – dank Oliver, der das eine oder andere Detail ergänzte. Allerdings habe ich bei manchem lokalen Detail einfach mal geraten … und erhielt dann eine verblüffte Mail, dass aufgrund meiner Schilderungen Saras Haus dort – und – dort liegen müsse. Das war schon fast unheimlich. Aber nur fast. Und wenn doch noch Fehler in der Schilderung der schönen Stadt Hof geblieben sind, dann sind sie
mir anzulasten. Oder wahlweise auch jenem Gespenst, das man dichterische Freiheit nennt. Alles in allem bleibt mir noch zu sagen, dass es eine Menge Spaß gemacht hat, dieses Buch zu schreiben, und dass es immer schön war, mit Oliver über Textdetails zu streiten, bis eine Endversion entstand. Olis Wortwitz im Roman und sein treffsicheres Exposé auf meine kleinen Andeutungen hin waren einfach super – auch wenn ich seine Handlungsdetails mir dann wieder zurechtbog, wie es mir eben passte. Er hat es zähneknirschend hingenommen. Nun hoffen wir beide, dass Ihnen, dem Leser, das Buch Freude macht. Und dass Sie vielleicht (ein wenig) mit der armen Sara leiden. Gerade die Szenen aus ihrer Sicht haben uns Autoren einen Menge Spaß bereitet – und wenn sie sich vor einem Monster »mit ohne Gesicht« fürchtet, dann ist das keineswegs Olis und meiner Schlampigkeit zuzurechnen … In diesem Sinne: Achten Sie auf Ihren Schatten! Hof und Wattenheim, im Oktober 2009