Höllenjäger Band 14
Der Seelenacker von Des Romero
Einleitung Preis der Ewigkeit Virroc blieb Virroc. Egal, wie lan...
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Höllenjäger Band 14
Der Seelenacker von Des Romero
Einleitung Preis der Ewigkeit Virroc blieb Virroc. Egal, wie lange er noch inkarnieren würde. Er hatte sich an den Namen gewöhnt, an die Person ebenso. Gon'O'locc-uur konnte eine Unzahl an Klonen herstellen und Virroc Tausende Genera tionen überleben lassen. Weitere Tausende von Generationen. Denn was bereits hinter ihm lag, war die Ewigkeit selbst. Das Universum war ein anderes geworden, seit der Sterntetraeder Col'Shan-duur von der Galaxis Gho'onh aus aufgebrochen war; vielleicht war die einstige Heimat der Evolutionäre längst untergegangen. Nach der großen Expansion und dem sinnlosen Jagen nach einer verborgenen, dunklen Macht hatte sich das Volk der Evolutionäre zwei ter Potenz gespalten. In jene, die den Weg der Vergeistigung gingen und somit der Forderung der Gänger des dreizehnten Weges entspra chen und in andere, die ihrem Wirken in der materiellen Welt neue Impulse zu geben gedachten, indem sie mit einer gigantischen Mahn flotte in alle Richtungen des Kosmos aufbrachen, um vor der umfas senden Negativität aus Te-Che'Lo-Ka-deh zu warnen. Wie viel Zeit war seither verstrichen? Es mussten Äonen sein, Mil liarden Jahre, in denen das Feuer des Wissens um die eigene Existenz zu einem müden Glimmen geschrumpft war, um in nicht allzu weiter Zukunft für immer zu verlöschen. Der Evolutionär ‹Morgengruß› war ein fader Gedanke, nicht mehr als ein Traum. Und mehr würde von ihm nicht bleiben. Noch tausend Inkarnationen und der Traum selbst würde sich in ein graues, irreales Nichts verwandeln. Für Jongo, Vandan, Belcheq und Suk-Suk war dieser Fall bereits eingetreten. Sie hatten ihn während des Fluges bis Gh'Ea und einige Zeit darüber hinaus begleitet. Sie hatten mit ihm gemeinsam die Unru hen an Bord zwischen den vielen Völkern geschlichtet, hatten die Ent wicklung Gh'Eas, der Erde, mit angesehen und waren schließlich müde geworden. Müde des Wartens auf die Vollendung des Plans. Müde ihrer eigenen Physis gegenüber. Sie hatten nicht mehr inkarnieren wollen, hatten aber auch nicht zum Kollektiv dritter Potenz vorstoßen können. Ihr weiterer Weg würde sie über die Astralebenen langsam aber sicher zum Zentrum zurückführen. Etliche neue Leben in Unwis 4
senheit ihres vergangenen Schaffens mussten dabei bewältigt werden. Das Rad der Wiedergeburt machte vor niemandem Halt und musste bis in alle Ewigkeit durchlaufen werden. »Du fühlst dich einsam?«, fragte Gon'O'locc-uur in die Stille des Kuppeldoms hinein. »Ich bin einsam«, gab Virroc zurück. »Du hast viel geleistet. Doch es gibt immer noch genug zu tun.« »Darum geht es nicht. Die Einsamkeit tut mir bei der Arbeit gut.« Das Schweigen des biologisch-psionischen Bordgehirns war wie eine Aufforderung zur Erklärung. »Mir fehlt die Nähe zu Personen«, konkretisierte Virroc. »Ich bin immer für dich da. Ich schätze die Unterhaltungen mit dir sehr.« »Mir fehlt die Nähe zu physischen Personen, so wie ich eine bin.« »Du gehst oft durch die Decks, triffst dich mit allerlei Wesen. Man sollte meinen, dass du genug Gesellschaft findest.« »Gesellschaft - ja. Doch nicht die, die ich suche. Ich möchte mit meinesgleichen reden, denn nur eine solche Person könnte mich ver stehen. Einer solchen Person könnte dann auch ich Respekt und Ver ständnis entgegenbringen. Es ist ein Geben und Nehmen. Bei dir kann ich weder das eine noch das andere, da du nicht Fleisch und nicht Blut bist. Und so geht es mir auf den Decks unterhalb des Kommando stands. Man lässt mich spüren, über den Dingen zu stehen. Man bringt mir nicht den Respekt entgegen, den man einem Freund schenken würde, sondern eher einem Superwesen, einem...« »... Gott?«, sprach Gon'O'locc-uur das Wort aus, bei dem Virroc ins Stocken geraten war. »So ähnlich.« »Sei beruhigt. Du bist weit davon entfernt, ein Gott zu sein.« »Ja, um Himmels willen, begreifst du denn nicht?« Virroc hatte die Arme erhoben und die Hände und Finger zu Klauen gekrümmt, die irgendetwas zu greifen versuchten, was nicht vorhanden oder meta physischen Ursprungs war. »Ich werde niemals mehr die Möglichkeit haben, mit Wesen meiner Entwicklungsstufe sprechen zu können! Mit Wesen, die das mitgemacht haben, was mir widerfahren ist! Mit wem 5
soll ich die Ewigkeit teilen, wenn niemand diese Ewigkeit kennt und haben will?« »Teile sie mit mir, Virroc.« »Du weißt nicht, was du sagst! Du bist wie sie. Sie nicken und heucheln, um mir gefällig zu sein, mein Wohlwollen zu erringen. Sie würden sich gegenseitig zerfleischen, wenn es mir Freude bereiten und ich sie dafür in mein Herz schließen würde. Sie sind dumme Kinder und es ist ein Wunder, dass nicht schon sämtliche Völker auf Col'Shan duur ausgestorben sind. Es ist keine Entwicklung festzustellen. Und Stagnation ist der Tod jeder Zivilisation.« »Sie entwickeln sich schon. Nur geht es dir zu langsam. Du hast sie damals nach den ersten Ausschreitungen sich selbst überlassen. Du hast dich zurückgezogen von deinen Kindern und sie mit ihren Spiel zeugen alleine gelassen.« »Es sind nicht meine Kinder! Sie alle sind freiwillig an Bord ge kommen. Die Stammväter aller Völker auf dem Schiff haben aus freien Stücken gehandelt.« »Was dich nicht der Verantwortung für sie enthebt.« »Ich bin nicht der Hüter eines Flohzirkus!«, wurde Virroc laut. »Wir wollten die Vielfalt der Schöpfung schützen. Deshalb haben wir sie aufgenommen.« »Sie haben sich nicht wie erwartet verhalten. Damit musstest du rechnen.« »Mein Ziel hieß Gh'Ea. Von Anfang an. Alles andere ist schmü ckendes Beiwerk.« »Wie sehr die Zeit die Erinnerung verzerrt.« »Was willst du damit sagen?« »Gh'Ea hat dich gefunden. Nicht umgekehrt. Du wusstest nicht, wo deine Reise dich hinführen würde.« »Doch ich wusste, mit wem ich sie unternahm: mit einem ober klugen Schlauberger wie dir!« »Ich werte das als Kompliment.« »Dir ist nicht beizukommen, oder?« Virroc sprach in mildem Ton fall und lächelte. »Ach, weißt du, ich fühle mich oft einfach leer und zur Untätigkeit verbannt. Ich sehe die Erde, sehe die kleinen Geschöp 6
fe namens Mensch, wie sie heranwachsen, sich selbst begreifen ler nen. Sich und die Welt und alles darum. Aber sie stecken noch in den Kinderschuhen. Und dann kommen diese Kreaturen aus dem Nirgend wo, meinen sich gottgleich aufspielen zu müssen und zerstören, was die Menschen sich aufgebaut haben, machen sie sogar zu ihren Skla ven. Und ich darf nicht eingreifen! Was für ein Plan ist das von den großen, unfehlbaren Mächten weit jenseits unseres Begriffsvermö gens? Verstehst du, mein Freund, es sind auch Brüder und Schwestern meines eigenen Volkes, die nun von oben herab die Fäden ziehen. Auch jene, an denen ich hänge.« »Du hättest so sein können wie sie.« »Ja, ja, ja! Das hatten wir schon. Hundert Millionen Mal. Ich war ein Evolutionär zweiter Potenz...« Urplötzlich zeichnete sich in Virrocs Gesichtszügen Entsetzen ab. »Gott Allmächtiger! Es liegt so weit zu rück! So unendlich weit! Oftmals glaube ich, dass es nie wahrhaftig war und ich mir meine Vergangenheit nur eingebildet habe. Sie wird zu dem, was mein jetziges Dasein aus Sicht meiner früheren Existenz sein muss: befremdend und surreal.« »Dein Leben in der materiellen Welt hat deine spirituellen Wurzeln verkümmern lassen. Für das Kollektiv dritter Potenz fehlt dir die Rein heit des Geistes. Wie nun Jongo und die anderen musstest du dir in zahllosen Leben diese innere Reinheit wieder aneignen. Statt aufzu steigen bist du in einen tiefen Abgrund gefallen, der dein physisches Leben ist. Dir stünde ein schwerer Marsch zurück bevor.« »Und davor habe ich Angst. Nicht nur vor dem Marsch zurück, sondern auch davor, möglicherweise alles falsch gemacht zu haben.« »Falsch und richtig. Gut und schlecht. Nur Worte. Nur Facetten ei ner festgefahrenen Blickrichtung. Weder objektiv noch allgemeingültig. Und daher ohne Wert.« »Manchmal möchte ich meine Entscheidung rückgängig machen. Manchmal fühle ich das Universum über mir zusammenbrechen. Und diese Last kann kein Einzelner tragen.« »Eine Entscheidung ist eine Entscheidung. Es sind immer diejeni gen außerhalb dieser Entscheidung, die sie bewerten. Doch sie selbst 7
ist neutral. Wie die Erde. Weder gut noch schlecht. Sie ist da. Und sie ist wie sie ist.« »Ich habe das alles noch nicht richtig verarbeitet...« »Dann solltest du dich mit etwas beschäftigen, das dir leichter fällt.« Virroc ahnte nicht, er wusste, worauf Gon'O'locc-uur anspielte. »Die Mutation in deinem Gewebe, in Col'Shan-duur richtigerwei se.« Mehrmals hatten sie es zum Thema in ihren Unterredungen ge macht. »Sie ist Bestandteil einer Tiefensequenz zur strukturellen Regu lierung der transgenetischen Matrix.« »Das ist der exakte Wortlaut«, bestätigte das Bordgehirn. »Der Sterntetraeder ist krank und sein Organismus wehrt sich ge gen bestimmte Einflüsse. Es ist wie das Fieber im menschlichen Körper bei einer Infektion.« »Es ist wie Krebs im menschlichen Körper. Er wird ihn zerstören.« Virroc biss sich auf die Lippe. Das war keine Untertreibung. Das Ende Col'Shan-duurs war sicher, wenn es auch noch unermesslich weit entfernt lag. Die ›Infektion‹ weitete sich stetig in dem Schiff aus. Der Schiffsorganismus konnte sie schon nicht mehr ausmerzen, sondern lediglich eindämmen. Es war ein Sterben auf Raten. Neuer Eifer beflügelte Virrocs Handeln. Er sah seine dringlichste Aufgabe im Aufspüren der Ursachen für den Verfall der riesigen Raum arche. Natürlich hatte er vorher bereits schier endlose Möglichkeiten überprüft, angefangen bei Raumsporen, Asteroideneinschlägen, hy perphysikalischen Energiefeldern und dunklen Materiewolken bis hin zu Schwingungsinterferenzen der Ober- und Halbtöne, die auf irgendeine unerforschte Art und Weise schädlichen Einfluss ausübten. Die Ergeb nisse indes waren allesamt negativ gewesen. Auch Abnutzungs- und Alterungserscheinungen hatten mit der unerklärlichen Infektion des Schiffskörpers nichts zu tun. Col'Shan-duur unterlag nicht den Gesetz mäßigkeiten zellulärer Zersetzung nach Überschreiten eines fest datier ten Existenzzeitraums. Die Analysen hatten auch nie Hinweise in diese Richtung gegeben; Virroc hatte den experimentellen Nachweis aus eigenem Antrieb angeregt, um auch wirklich alle Eventualitäten mit absoluter Sicherheit ausschließen zu können. 8
Die Prozedur begann von neuem. Wochen und Monate widmete sich Virroc nur diesem einen Problem, ließ sich nicht entmutigen, trat oftmals auf der Stelle, wollte aufgeben und spornte sich doch jedes Mal wieder an. »Du bist dem Problem auf der Spur«, meldete sich Gon'O'locc-uur, als der Kommandant erneut im Kuppeldom verweilte und schweigend in unergründliche Fernen starrte. »Deine Ergebnisse weisen sichtbare Abweichungen zu denen aus früherer Zeit auf.« »Ich habe meine Sichtweise verlagert«, sagte Virroc ein klein we nig abwesend, konzentrierte sich dann aber auf seinen Gesprächspart ner. »Wir haben größtenteils außen nach den Gründen gesucht, nach etwas, das eingedrungen ist. Doch das Problem kommt von innen. Und es ist ernst.« »Du weißt bereits, worum es sich handelt?« Virroc wartete einige Augenblicke, bevor er antwortete. Dann sag te er: »Das tue ich. Doch ich bezweifle, dass uns dieses Wissen noch etwas nützt...«
1. Kapitel Fesseln des Verrats Die Sonne brannte heiß auf das wuchernde Blätterdach der Urwaldrie sen. Hier und da schlüpften die Sonnenstrahlen durch das dichte Laub und erschufen kleine Lichtinseln am Boden, tanzten umher, wenn leichter Wind die Äste und Zweige auseinander trieb. Die Tempelan lage Bal-Shidomh - bestehend aus vier Gebäuden, die den vier Ele menten zugeordnet waren - war an einer Lichtung gelegen, im Schat ten dunkler Baumkronen, die wie eine schützende Hand über dem Bauwerk lagen. Es war um die Mittagszeit, der Dschungel war erfüllt von Leben, das sich in den unterschiedlichsten Lauten und Tonlagen bemerkbar machte. Rascheln, Knistern und Knacken waren allgegen wärtig und wiesen auf die vielen Bewohner des Urwaldes hin, die sich nicht dem Auge des Betrachters zur Schau stellten, sondern lieber im Verborgenen blieben. 9
Im Wassertempel gab es kleine, gebogene Brücken, die über schmale Wasserläufe führten. Die asymmetrische Anordnung ließ auf den ersten Blick nur eine Gemeinsamkeit erkennen: sie mündeten alle samt in ein rechteckiges Becken im Zentrum des Tempels, an dessen Rand einige junge, in weiße Tücher gehüllte Mädchen saßen. »Ich bin ziemlich aufgeregt«, sagte eine und sah neugierig und in Erwartung einer Reaktion reihum in die Gesichter ihrer Freundinnen, die links und rechts von ihr saßen. »Mir geht's nicht anders, Andromeda«, stimmte eine Schwarzhaa rige zu. Sie tauchte einen Fuß in das kristallklare Wasser und wedelte damit hin und her. Sie lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ell bogen ab, eine Haltung, die eher Gelassenheit als Nervosität ausdrück te. »Sieht man dir nicht an«, folgte prompt eine Bemerkung von ei nem dritten Mädchen, ebenfalls mit schwarzen Haaren, in leicht ver krümmter Haltung dasitzend, die Beine an die Brust gezogen und die Fersen der nackten Füße an den äußersten Rand des Beckens aufge setzt. »Ich versuche meine innere Unruhe mit äußerer Beherrschtheit zu bezwingen«, meinte Andromeda. »Scheint mir gut zu gelingen, Auri ga.« Auriga entspannte sich ein wenig, klimperte mit den Zehen über der glitzernden Wasseroberfläche und zog dann doch die Knie wieder fester an. »Ich kann wohl kaum verheimlichen, dass ich mir große Sorgen mache.« Das Mädchen schaute nicht zur Seite, sondern starr geradeaus. »Die Prüfung wird kein Zuckerschlecken. Wenn wir versa gen, verlieren wir ein volles Jahr.« Cassiopeia, die sich lang gelegt hatte, stupste Delphia an. »Die Probleme möchte ich haben. Wenn das alles ist, was uns passiert...« Delphia lächelte knapp, war jedoch nicht ganz bei der Sache. »Jaja«, sagte sie nur und strich sich das Haar hinter das rechte Ohr. »Was meinst du, wenn du sagst, dass das alles wäre, was uns passierte...?« Auriga drehte den Kopf zu Cassiopeia, die nichts von 10
ihrer Lässigkeit verloren hatte. Sie lag nun auf der Seite wie eine ge langweilte Göttin, die abschätzig, aber nicht sonderlich interessiert, den Harem ihrer Lustsklaven inspizierte. »Du hast noch nichts davon gehört?« Sie machte es spannend und weidete sich an der Unwissenheit und steigenden Verunsicherung ihrer Freundin. Auriga wandte sich Cassiopeia zu, hockte sich auf die Knie und saß dabei auf ihren Unterschenkeln. »Mach mir bitte keine Angst. Bei mir dauert's ziemlich lange, bis ich Angstzustände verarbeitet habe.« Andromeda machte Cassiopeia gegenüber eine verneinende Ges te, um das Spiel zu beenden. »Also gut«, sagte die Schwarzhaarige und reckte sich. Dabei legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zum Tempeldach hoch, das sich über zwölf steinernen Säulen spannte. »Ich dachte, man hätte es dir erzählt.« Andromeda verdrehte - ohne dass Auriga es sehen konnte - die Augen, als wollte sie sagen: ›Prima, jetzt wird sie so lange löchern, bis sie die Wahrheit erfährt.‹ »Jetzt sag schon, was los ist«, drängte Auriga noch in derselben Sekunde. »Nicht meine Schuld«, flüsterte Cassiopeia Andromeda zu. »Sie will's unbedingt wissen.« »Dann mach's wenigstens kurz«, zischte ihre Freundin ebenso lei se zurück. »Ihr heckt doch da was aus«, argwöhnte Auriga und zog Andro meda am Arm. »Ach nein«, lächelte diese aufgesetzt. »Ich wollte nur das Thema wechseln.« »Ist schnell erzählt, Auriga. Und nicht besonders gruselig. Na ja, ich hab's auch nur aus zweiter Hand und kenne nicht alle Details.« »Jetzt rede doch schon!« »Reg dich ab! Geht ja schon los. Also, es ging natürlich auch um eine Prüfung, zur zweiten Stufe glaube ich.« Delphia außen rechts gähnte. »Eine Einzelprüfung, irgendwo dort draußen im Wald, mitten in der Nacht. Stockdunkel war's.« 11
»Von wegen: Ich kenne nicht alle Details.« Andromeda kicherte hinter vorgehaltener Hand. Auriga quittierte es mit einem zurechtwei senden Seitenblick. »Konfrontation mit versteckten Ängsten hieß die Aufgabe. Gerade fällt's mir wieder ein. Dieses Mädchen hatte wohl eine Phobie vor der Dunkelheit. Genau der musste sie sich stellen. Wirklich ganz alleine und verlassen, weit weg vom Tempel.« Cassiopeia sah Auriga tief in die Augen. »Du weißt selbst, welche unheimlichen Geräusche die Nacht mit sich bringt. Da wird alles um dich herum plötzlich zur Bedro hung.« »Was... was hat sie gesehen?« »Gesehen?« Cassiopeia hob die Brauen und verengte die Augen. »Was sie gesehen hat? Nichts selbstverständlich! Es war Nacht! Sagte ich das nicht?« »Ja, schon. Aber...« Auriga war verwirrt. »Frag lieber, was sie gefühlt hat. Denn das war die stärkste Wahrnehmung, zu der sie fähig war.« »Was hat sie... gefühlt...?« Cassiopeia machte eine dramatische Pause. Die Erklärung folgte erst nach tiefem Luftholen. »Als man sie am nächsten Morgen fand, waren ihre Züge schre ckensstarr und von unfassbarem Grauen gezeichnet.« »Man hat sie gefunden?« Auriga schluckte hart, war sich aber un eins, ob sie die richtigen Schlüsse daraus zog. »War sie denn...« »Tot!«, vollendete Cassiopeia schonungslos. »Niemand weiß, wor an sie gestorben ist. Vermutlich waren es ihre eigenen Ängste, die sie nicht überwunden hat und die sie schließlich umgebracht haben...« Cassiopeia senkte den Blick, als sie eine der Erhabenen heran schreiten sah. Die in eine strahlendweiße Toga gehüllte Frau klatschte mehrmals hintereinander in die Hände. »Die Damen finden sich bitte bei den anderen Novizinnen zum Gebet ein. Es wäre erfreulich, wenn das Engagement bei der Huldi gung der Götter ähnlich groß wäre wie beim Erfinden von Schauerge schichten.« Auriga schoss einen zornigen Blick auf Cassiopeia ab. 12
»Ich habe dir die Wahrheit gesagt!«, verteidigte sie sich mit ener gischem Flüstern. »Genau so ist es geschehen!« Die vier Mädchen reihten sich auf und gingen gemessenen Schrit tes mit respektvoll gesenktem Haupt an der Erhabenen vorüber in Richtung des Gebetsraumes. * Nach der halbstündigen Andacht gab es im Tempel der Erde eine Mahlzeit. Sie bestand aus Früchten, Wurzel- und Knollengemüse, dar unter Yam und Arakacha. Die Schülerinnen saßen nicht an Tischen, sondern konnten sich frei im Raum verteilen, saßen am Boden, auf Treppenstufen oder Mauervorsprüngen. Alle vier Tempel waren nach einer Seite hin offen, sodass helles, aber nicht blendendes Licht vom Innenhof hereinfiel. Die Schlaf- und Gebetsräume lagen an den Au ßenmauern der Tempel und nur dort, wo die Novizinnen und die Erha benen nächtigten, gab es kleine Fensteröffnungen zwei Ellen unterhalb des Daches; die Gebetsräume waren fensterlos und wurden nur durch kleine Öllichter und die Auren der Erhabenen beziehungsweise ihrer Schülerinnen erhellt. Es waren zwanzig Mädchen zugegen, die auf die Einweihung zur ersten Stufe der Erleuchtung warteten. Schülerinnen der ersten, zweiten oder dritten Stufe wohnten und beteten jeweils in dem ihrem Einweihungsgrad entsprechenden Tempel. Lediglich zum Essen konnte es vorkommen, dass Mädchen und Frauen unterschied licher Einweihung sich begegneten. Selten kam es auch vor, dass ge meinsame Gebetsveranstaltungen einberufen wurden. Meistens diente dies dem Zweck, den Novizinnen die Fortschritte der anderen Schüle rinnen zu zeigen und einen Ansporn zu größerer Anstrengung zu lie fern. Delphia und Cassiopeia saßen im Schneidersitz auf dem Steinbo den. »Hast du keinen Hunger?«, erkundigte Cassiopeia sich bei ihrer Freundin, die lustlos einige kleine Melonenstücke auf ihrem Teller hin und her schob, eins aufnahm und eine winzige Ecke abbiss. 13
»Ich mache mir Gedanken. Über heute Abend. Über unsere Prü fung.« »Und ich mache mir Gedanken darüber, dass ich nicht hungrig zur Prüfung erscheinen möchte.« »Mein Magen reagiert da wohl etwas anders als deiner.« »Jetzt mach dich nicht verrückt. Wir sind mit zwanzig. Zusammen packen wir das schon. Wenn du dich nur auf deine Angst konzent rierst, verlierst du das eigentliche Ziel aus den Augen. Und dann wirst du es verpatzen.« »Das weiß ich doch«, gab sich Delphia leicht genervt. »Als wenn ich das nicht wüsste.« »Aber meine Worte erreichen deinen Verstand nicht. Da ist nur Emotion in dir, zügellos und unkontrolliert. Besinne dich auf deine Auf gabe, schaffe ein Gleichgewicht zwischen Verstand und Gefühl.« Delphia blickte Cassiopeia in denkwürdiger Weise an. Dann sagte sie frei heraus: »Ich ahne, dass etwas Schlimmes geschehen wird.« Cassiopeia löffelte einige Yambohnen in ihren Mund und kaute darauf herum. »Wie kommt es, dass ich dieses Gefühl nicht habe?«, fragte sie und kaute munter weiter. »Bin ich zu unsensibel? Fehlen mir gewisse Fähigkeiten, die bei dir besonders ausgeprägt sind?« Ein provo zierender Ton lag in ihrer Stimme. Delphia gewann den Eindruck, ihre Freundin machte sich über sie lustig. »Es ist nun mal eine Ahnung. Ich kann es nicht beschreiben. Sie ist da und du wirst sie mir nicht ausreden!« Delphia war lauter geworden und stopfte sich zwei Melonenstücke gleichzeitig in den Mund als wollte sie damit zum Ausdruck bringen: ›So, jetzt hab ich's dir aber gegeben!‹ »Schon gut«, wedelte Cassiopeia abwehrend mit der Linken, wäh rend sie einen weiteren Löffel Yambohnen aß. »Ich glaube dir.« Zehn Minuten darauf waren alle Mädchen mit dem Essen fertig. Zwei Erhabene waren anwesend, hatten für eine ausgeglichene spiri tuelle Atmosphäre gesorgt und ihren Schülerinnen beim Verzehren der Nahrungsmittel zugeschaut. Die erhabenen Schwestern verabschiede 14
ten sich voneinander und während die eine die Halle verließ, wandte die andere sich an die Novizinnen. »Bevor ihr euch zur Mittagsruhe begebt, möchte ich noch ein paar Dinge zum weiteren Tagesablauf sagen. Aufgrund des Prüfungszere moniells wird es am Abend keine Mahlzeit geben.« Cassiopeia warf Delphia einen triumphierenden Blick zu. »Meine Schwestern und ich möchten, dass ihr völlig unbelastet an die Aufgaben, die sich euch stellen, heran geht. Ihr werdet zwei Stun den vor Prüfungsbeginn Zeit zur Meditation haben, um euch innerlich zu reinigen und von unnötigem Ballast zu befreien.« Die Erhabene stand in der Mitte der Halle, die Mädchen waren kreisförmig um sie herum verteilt und hatten eine angemessene, auf recht sitzende Haltung angenommen. »Ein Jahr lang seid ihr nun bereits Angehörige von Bal-Shidomh. Ein Jahr haben wir euch auf den heutigen Tag vorbereitet. Das Wis sen, das ihr erlangt habt, reicht weit hinaus über das eines gewöhn lichen Sterblichen. Daher ist es an der Zeit zu prüfen, ob dieses Wissen von euch verinnerlicht wurde. Wie schwierig und vielleicht auch unlös bar euch die eine oder andere Aufgabe auch erscheinen mag, der Schlüssel zu ihrer Bewältigung liegt stets in euch selbst.« Sie ließ die Worte vorerst unkommentiert im Raum stehen und ih re Wirkung entfalten. »Stellt euch die Prüfung nicht in einer Weise vor, wie ihr sie von den Schulen eurer Dörfer gewohnt seid. Die Aufgaben werden nicht für alle gleich sein, obwohl ihr alle gemeinsam sie angehen werdet. Der Test ist kein Blatt mit Aufgaben, die ihr lösen müsst. Im Gegenteil werdet ihr gar nicht richtig bemerken, wann es losgeht. Eure Intuition wird euch leiten. Jede für sich und alle füreinander. Wenn ihr glaubt, die Prüfung beginne, dann seid ihr schon mittendrin.« Die Erhabene sah jede ihrer Schülerinnen einmal intensiv an, drehte sich dabei langsam im Kreis. »Habt ihr dazu noch irgendwelche Fragen?« »In welchem Tempel wird die Prüfung abgehalten?«, klang eine leise Frage auf. 15
»Euer Klassenraum wird nicht Bal-Shidomh sein. Er liegt dort draußen im Dschungel. Ein mehrstündiger Fußmarsch steht euch be vor. Es wird annähernd Nacht sein, bis ihr den von uns vorgegebenen Punkt erreicht. Keine von uns Schwestern wird euch begleiten. Ihr werdet euch den Herausforderungen ganz alleine stellen müssen.« Nun war es Delphia, die Cassiopeia einen Blick zuwarf. Doch es war kein Triumph darin zu lesen, dass ihre Ahnungen doch nicht so ganz unbegründet waren. Es war ein neuer Schub instinktiver Furcht, die ihre Augen füllte. * Die Älteste der Novizinnen hieß Hennea. Sie war zur Anführerin der zwanzigköpfigen Gruppe junger Mädchen auserkoren worden und empfing die Anweisungen der Erhabenen, die durch ihren Kopf sprach. Anfangs in reger Ausflugsstimmung war der Mut der Schülerinnen mit jedem zurückgelegten Kilometer und jedem Fingerbreit, den die Sonne sich dem Horizont näherte, gesunken. Mittlerweile herrschten Murren und Unfrieden vor. Jede gab der nächsten an irgendetwas die Schuld, beschwerte sich über zu langsames oder zu schnelles Marschtempo und Ähnliches. Die Gruppe verlor den Zusammenhalt und sehnte sich nach den schützenden Tempelmauern zurück, einer stärkenden und erfrischenden Mahlzeit und den weichen Betten des Schlafsaals. »Wie weit ist es noch?«, hörte Hennea eine barsche Stimme in ih rem Rücken. »Ich weiß es nicht. Die Erhabene führt mich nur immer weiter voran.« »Das hast du vor einer Stunde schon gesagt! Und eine weitere davor ebenfalls!« »Wenn ich aber doch nicht mehr weiß...!«, antwortete Hennea zu rückhaltend. »Wenn ich aber doch nicht mehr weiß«, äffte die Stimme der No vizin sie nach. Andromeda ging gleich neben ihr und versetzte ihr ei nen Stoß in die Rippen. Beleidigt und zu einer forschen Erwiderung 16
ausholend wollte sie stehen bleiben, besann sich jedoch und ließ sich von Andromedas finsterer Miene einschüchtern. »Mir tun die Füße weh!« »Ich habe Hunger!« »Meine Waden brennen!« »Ich habe Rückenschmerzen!« Der Choral der Unzufriedenen wurde lauter und drängender. Auch Hennea wurde zusehends missgelaunter, doch wollte sie das in sie gesetzte Vertrauen der Erhabenen nicht enttäuschen und hielt die Un mutsäußerungen, die sie auf der Zunge liegen hatte, geflissentlich zu rück. Viel weiter aber würde es die Gruppe nicht schaffen, wenn nicht bald die Erlösung in Form einer konkreten Aufgabenstellung erfolgte. »Habt ihr schon mal daran gedacht, dass dies bereits der Test sein könnte?« Auriga hatte einen stillen Moment abgewartet und ihre Stimme nicht erheben müssen. »Ach, hör mit dem Unsinn auf! Was soll denn das für eine Aufgabe sein, bei der man hungern und schuften muss?« »Punkt für dich, Cassiopeia«, sagte eine der Priesteranwärterinnen aus der Mitte des Pulks. »Ich schlaf auch gleich beim Gehen ein und krieg sowieso nichts mehr mit.« »Nein, im Ernst«, fuhr Auriga fort und wartete einige Sekunden, bis das aufbrandende Murren sich gelegt hatte. »Das könnte eine cha rakterliche Prüfung sein. Möglich, dass die Erhabenen unseren Ge meinschaftssinn auf die Probe stellen. Wenn unsere Gruppe zerfällt, haben wir eventuell schon verloren...« Entweder waren die Mädchen - auch die bockigen - bereits zu ausgelaugt, um zu antworten oder sie machten sich tatsächlich ihre Gedanken, denn eine halbe Minute lang war es erstaunlich ruhig. Selbst der Dschungel schien den Atem anzuhalten, als stünde er unter unerträglicher Spannung. »Ich will nicht unbedingt sagen, dass du recht hast«, meinte schließlich Andromeda, blies sich selbst den warmen Atem zur Kühlung ihrer erhitzten Haut ins Gesicht und wich einer Schlingpflanze aus. »Aber die Taktik der erhabenen Schwesternschaft könnte meines Er achtens wirklich in diese Richtung tendieren.« 17
»Stärke ihr nur den Rücken!«, frotzelte das Mädchen, das Hennea eben nach dem Weg gefragt hatte. »Wenn die Gruppe auseinander fällt, dann nur, weil ihr so einen Stuss verbreitet!« »Halt die Klappe, Lioleva!«, wurde Cassiopeia jetzt rabiat. »Deine Sticheleien machen mich krank!« Sie rannte außen an den Mädchen vorbei zu Hennea, drehte sich ihren Kameradinnen zu und rief: »Wer ist dafür, dass wir Lioleva anbinden und zurücklassen?« Die Mädchen kreischten vor Vergnügen. Alle Hände gingen hoch. »He!«, sagte Lioleva stockend, dann lauter: »HE! Das könnt ihr nicht machen! Ich bin eine von euch!« »Anbinden! Anbinden! Anbinden!«, jubelten die Novizinnen ohne Unterlass. Sie waren alle stehen geblieben und richteten ihr Augen merk auf die kleinere, wie verdattert dastehende Schülerin. »Lasst mich auch mal was sagen!«, hob sie beide Hände besch wichtigend und um Gehör heischend in die Luft. »Mir ist das so raus gerutscht! Ehrlich! Ich hatte schlechte Laune. Mein Magen rumort und ich habe Blasen an den Zehen.« Sie stand da wie ein Häufchen Elend. Die Befürchtung, von den Freundinnen im Stich gelassen zu werden, hatte die Strapazen der vergangenen Stunden null und nichtig werden lassen. Die Züge der Mädchen wirkten ausdruckslos. In ihren Augen blitz te etwas, das Lioleva nicht zu deuten vermochte. Dann lachten sie alle laut auf, prusteten drauflos und klatschten sich auf die Schenkel. Im Nu war die Wehleidigkeit wie wegge schwemmt. Lioleva senkte den Kopf und starrte auf ihre Füße, kam sich unglaublich dumm vor und schämte sich andererseits für ihre Be merkungen. Sie nahm sich vor, in Zukunft mehr auf ihre Gedanken und Worte zu achten. Sie hatte nun am eigenen Leib erfahren, was unbedachtes Tun anzurichten in der Lage war. Die zwanzig Mädchen drängten sich zusammen, umarmten sich, gaben einander Entschuldigungen ab, sahen sich dabei gegenseitig in die Augen - und fanden nur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit im Blick ihres Gegenübers. Zum Abschluss wurde die kleinere Lioleva von jeder Ein zelnen innig geherzt. Eine äußerst positive Stimmung lag über der Gruppe, die einen nahezu undurchdringlichen Schutzwall aufbaute. 18
Die Einigkeit war wieder hergestellt. »Die Erhabenen ließen mir ein wohlwollendes Signal zukommen«, berichtete Hennea plötzlich. »Heißt das, wir haben bestanden?« Bange Erwartung, die sich mit der Hochstimmung die Waage hielt. »Ich denke, das heißt ja«, nickte Hennea. »Ja, wir haben bestan den!« Jubeln, drücken und küssen. Gleich darauf der Vorschlag: »Ab geht's nach Bal-Shidomh! Im Morgengrauen können wir dort sein!« »Bin ich froh, nach Hause zu kommen!« »Dafür der lange Weg.« »Hat sich doch gelohnt. Schwierig war's schließlich nicht.« »Ähm«, räusperte sich Hennea verlegen. »Könnt ihr mir kurz zu hören?« Sie wusste, dass die Überbringerin einer schlechten Nachricht immer vor der Verfasserin gelyncht wurde. »Wir sind... ähm... noch nicht fertig...« »Bitte?!« Der Ausruf war mindestens aus fünf Kehlen gleichzeitig gekommen. »Das ist nicht dein Ernst...!« »Wir haben eine Aufgabe gelöst. Die Prüfung hingegen besteht aus mehreren Teilen.« Es wurde laut. Es wurde geflucht. Es wurde obszön. Hennea hatte ihre Mitteilung jedoch noch nicht beendet. »Die Erhabenen lassen mich wissen, dass wir allerdings sofort zum Tempel heimkehren können, wenn unser Zusammenhalt erneut zer bricht. In diesem Fall würde uns das Bestehen der Teilaufgabe aber kannt. Für ein weiteres Verweilen im Urwald bestünde keine Notwen digkeit mehr.« »Das ist nicht wahr!« »Unfair! Das ist schlicht und ergreifend unfair!« »Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?« »Da können wir ja direkt freiwillig ein Jahr dranhängen.« »Macht doch bitte keinen Aufstand, Schwestern!«, schaltete sich Auriga ein, die sich an der allgemeinen Empörung nicht beteiligt hatte. »Denkt lieber daran, dass das Urteil jeder Einzelnen von euch über das Wohl der gesamten Gruppe entscheidet. Ein fauler Apfel verdirbt die 19
ganze Obstschale. Wer sich querstellt, blockiert die anderen. Ihr trefft jetzt, in diesen Minuten, eine Entscheidung, die für unseren kommen den Werdegang von größter Bedeutung ist. Wenn euer Stolz euch im Weg ist oder die brennenden Füße - das ist morgen schon vergessen! Und morgen kommt dann aber das Bedauern und das Klagen, ein komplettes Ausbildungsjahr verloren zu haben. Wie werden wir uns dann fühlen? Wie werden wir uns fühlen, wenn wir 365-mal aufwa chen und uns über unsere Dummheit ärgern, die Dummheit, einige wenige Stunden gewonnen zu haben und im Gegenzug viele tausend zu verschenken? Die Stiche in eurem Bauch und den Muskeln kommen von der ungewohnten Anstrengung. Die Stiche, die ihr bei eurem Ver sagen tagtäglich spüren werdet, kommen von eurem Verstand, der euch unablässig eure Instinkt- und Gemütsabhängigkeit vor Augen führt. Was also ist euch - ist uns! - lieber: Ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende?« Aurigas leidenschaftliches Plädoyer hatte nicht nur Betroffenheit hervorgerufen, sondern auch das Eingeständnis zur Übernahme von Verantwortung. Für sich selbst und für die Gemeinschaft. »Wir machen weiter.« Eine gesichtslose Stimme aus der Menge, der einhellige Zustimmung folgte. »Ich erhalte ein positives Signal der erhabenen Schwestern schaft«, verkündete Hennea und nahm wieder die Leitposition ein. Die neunzehn Mädchen folgten ihr anstandslos. Weder Hennea, ihre Gefolgschaft noch die Erhabenen waren sich bewusst, dass im tiefen Dschungel eine dunkle Macht im Verborgenen auf den günstigsten Zeitpunkt ihres Eingreifens wartete! * Silberhell stach das Mondlicht durch das unbewegte Geäst der Tropen bäume. Der Wald war erfüllt von Unmengen an Geräuschen, von Zir pen, Surren, Rascheln, Knacken und Keckem. Träge kämpften sich die Mädchen Meter für Meter durchs Unterholz, erreichten bald eine weite Lichtung und verschwanden wieder im dunklen Dschungel. Seine Ge fahren nahmen sie schon nicht mehr zur Kenntnis, so erschöpft und 20
kraft- und lustlos waren sie. Die Müdigkeit wollte sie in ihren Bann ziehen, doch war es ihnen halbwegs möglich, ihr zu entgehen und einen leidlich wachen Verstand zu bewahren. Die Aussicht zu scheitern hielt sie auf Trab. Keine wollte am Unglück der Gruppe schuld sein, keine wollte eine Schwäche zeigen. Unvermittelt verhielt Hennea im Schritt. »Wartet mal! Ich... höre etwas!« »Die Erhabenen etwa?« In der matten Stimme lag so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. »Ja. Ich glaube es zumindest.« Hennea horchte in sich hinein. »Doch. Sie sind es.« Sie lachte. »Natürlich! Wer sonst.« »Dann sind wir bald am Ziel?« Wieder schien Hennea einem inneren Monolog zu lauschen. »Es... kann nicht mehr weit sein«, sagte sie nach kurzem Zögern. Sie schien sich nicht mehr richtig konzentrieren zu können, was in An betracht der Tortur durchaus verständlich war. Trotzdem hatte sie einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Hennea?« Andromeda war an sie herangetreten, wechselte einen Blick mit Cassiopeia und legte ihre Hand auf Henneas Schulter. »Eigenartig«, flüsterte die Anführerin. »Für einen Moment war es mir, als spürte ich eine fremde Präsenz...« »Was soll denn das gewesen sein? Hier gibt's nur die Erhabenen und die Tiere lassen uns in Ruhe.« »Da war nichts Physisches, nichts Greifbares.« Hennea drehte den Kopf und verengte die Augen, als könnte sie auf diese Weise etwas erspüren, was ansonsten unsichtbar war. »Ist schon wieder fort«, zuckte sie mit den Schultern. »Kein Grund zur Sorge.« »Gut«, meinte Andromeda, doch ein ungutes Gefühl blieb zurück. »Zwei Kilometer, schätze ich und wir haben den neuen Zielpunkt erreicht.« Erleichtertes Aufatmen, kurzes Raunen, Schnattern und Gähnen. Auriga hatte dennoch einen Einwand vorzubringen. »Mir kommt es komisch vor, dass die Orte unserer Prüfungen ab gesteckt sein sollen. Ich will sagen, dass die Art der Aufgaben nicht 21
von einem bestimmten Platz abhängig ist. So war es schließlich auch bei der Sache mit dem Gruppenzusammenhalt. Bevor wir uns dessen bewusst geworden sind, hatte der Test schon begonnen. Und er ist noch nicht zu Ende. Versteht ihr?« »Drück dich doch bitte ein klein wenig deutlicher aus«, forderte eine der Novizinnen gereizt. »Wir sind todmüde.« »Ich meine, wenn Hennea etwas Außergewöhnliches bemerkt hat, sollten wir das nicht auf sich beruhen lassen!« Das Unverständnis über den Gleichmut ihrer Schwestern brachte Auriga langsam aber sicher in Rage. »Ich sagte doch, ich habe mich geirrt«, wollte Hennea der Diskus sion einen Schlusspunkt setzen. »Nein!«, polterte Auriga. »Du hast dich nicht geirrt! Die Erhabe nen haben dich zur Führerin ernannt, weil du besonders sensibel und aufnahmefähig bist. Wenn du der Meinung warst, etwas Fremdes wahrgenommen zu haben, dann war da auch etwas! Jede andere Deu tung wäre respektlos gegenüber den Erhabenen und würde ihren Sta tus infrage stellen!« »Du quengelst nur rum! Wenn wir dadurch die Prüfung aberkannt bekommen...!« »Aber ihr seid es, die mit eurem Verhalten alles aufs Spiel setzt! Warum seht ihr das denn nicht ein?« »Geh'n wir jetzt weiter!«, riss Hennea entgegen ihrer Art recht forsch die Kontrolle an sich. »Den Rest schaffen wir auch noch.« * »Bitte, lasst mich ausruhen! Ich kann keinen Fußbreit weiter!« Das junge Mädchen - es gehörte zu den jüngsten innerhalb der Gruppe - sackte zusammen, sank auf die Knie und dann vornüber. Wie ein schlaffer Sack fiel es hin, drehte sich noch behäbig auf den Rücken und atmete schwer. »Steh wieder auf!«, rief Hennea. Als keine Reaktion erfolgte, wandte sie sich an ihre Mitanwärterinnen. »Los! Helft ihr! Denkt an die Gemeinschaft! Denkt daran, sie aufrecht zu erhalten!« 22
Echter Enthusiasmus wollte nicht aufkommen. Die meisten Novi zinnen hätten sich liebend gerne dazugelegt; sie hatten inzwischen die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Noch nie war Derartiges von ihnen verlangt worden. Noch nie hatten sie sich so weit von der Tempelanla ge entfernt. Weder bei Tag noch bei Nacht. »Vertraut mir, wenn ich euch sage, dass wir keine halbe Stunde mehr unterwegs sind.« Auriga bemerkte den abwesenden, irritierten Blick Henneas. »Geht's dir gut?« Hennea tat, als müsste sie über eine Antwort nachdenken. »Sicher. Danke, ja«, antwortete sie entrückt und gleich darauf aufmerksamer. »Ein Anruf der Erhabenen. Ein Ansporn. Das Ziel ist nah. Sie loben unseren Einsatz.« »Hast du das auch ganz sicher richtig verstanden?« Auriga zwei felte am Wahrheitsgehalt des Gesagten. Ganz außergewöhnlich wäre es gewesen, wenn die zwölf obersten Frauen der Schwesternschaft Motivationsparolen ausriefen. Außerdem war es für Anfeuerungsrufe Aurigas Einschätzung nach lange zu spät. »Anfangs gab es eine... Störung, glaube ich, eine Überlagerung. Aber ich hatte schnell wieder klaren Empfang.« Cassiopeia und Andromeda steckten die Köpfe zusammen, tu schelten leise, während wieder Bewegung in den fahlweißen Zug aus zwanzig Mädchen kam. Delphia gesellte sich hinzu und gemeinsam holten sie zu Auriga auf, die gleich hinter Hennea stakste. Die Vier ließen sich ein Stück zurückfallen. »Stimmt deiner Meinung nach etwas nicht?« Andromeda sah Auri ga fordernd an. »Ist nur ein Bauchgefühl«, wisperte diese. »Ihr kennt das doch.« »Ich habe immer schon auf meine innere Stimme gehört. Ein Wink des Höheren Selbst sozusagen.« Gerade als Auriga sich näher auslassen wollte, wurde ihr Gesicht deutlich blasser. Beginnender Schrecken zeichnete sich darauf ab. »Ich fühle den mentalen Leitimpuls!«, überschlug sich die unter drückte Stimme Aurigas. »Doch er kommt nicht von den Erhabenen!« 23
»Alle sofort stehen bleiben!«, reagierten Andromeda und Cassio peia gleichzeitig. »Man versucht uns zu täuschen! Nicht die Stimme der Erhabenen führt uns!« Hennea wirbelte herum. In ihren Augen funkelte es. »Wage nicht, das Wort der Schwesternschaft anzuzweifeln! Willst du denn, dass unsere Bemühungen umsonst waren? Du hast ihre Dro hung doch vernommen!« »Du hast keine Verbindung mehr zu Bal-Shidomh!«, unterstellte Auriga mit hartem Ton. »Stell dich uns nicht in den Weg und kehre um!« Auriga, Andromeda, Cassiopeia und Delphia blickten in die Runde. Alle waren hellwach. Alle Augen richteten sich auf sie. Die Stimmung war uneinschätzbar. Das emotionale Tief, die physische Belastung und die Aussicht zu scheitern nagten an den Mädchen, während die Ret tung aus diesen dunklen Abgründen nur einige Steinwürfe weit ent fernt im Dschungel lag. »Folgt mir endlich!«, wiegelte Hennea wie mit einem Schlachtruf die Menge der Unentschlossenen auf. »Das Heil liegt in greifbarer Nä he! Unser Martyrium wird sich für jede von uns auszahlen! Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den Lohn der Mühen einzustreichen!« Ein kurzer, heftiger Energieschub beseelte die ausgemergelten Leiber der Novizinnen, puschte sie hoch und verlieh ihnen die Kraft, die letzten hundert, vielleicht zweihundert Meter im Laufschritt hinter sich zu bringen. »Närrinnen!«, keifte Auriga. Doch es war keine Verachtung, die sie zum Ausdruck brachte. Eher war es Resignation ob der Uneinsichtig keit ihrer Gefährtinnen. »Sieh, wie weit sie schon gerannt sind«, deutete Andromeda hin ter den sechzehn Mädchen her. »Wir werden sie verlieren!« »Was redest du denn da?«, zeigte sich Auriga ungehalten. Sollten die anderen doch in ihr Unglück rennen. »Du bist ja wirklich begriffsstutzig!«, hieb Cassiopeia in dieselbe Bresche. »Die werden uns die Schuld geben, wenn die Prüfung als ungültig erklärt wird!« 24
»Seid ihr denn vollkommen übergeschnappt? Ich würde am liebs ten ein paar dicke Steine hinterherwerfen, damit sie wieder zur Besin nung kommen!« Kaum hatte Auriga die Worte ausgesprochen, löschte ein harter Schlag auf den Hinterkopf ihr Bewusstsein aus. »Nehmen wir sie mit«, wies Andromeda die Schwestern an. Zu dritt schleiften sie den schlaffen Körper hinter sich her, versuchten so gut es ging den Abstand zwischen der Gruppe und ihnen nicht weiter zu vergrößern. »Ihr habt es auch in eurem Kopf gehört, stimmt's?«, vergewisser te sich Andromeda bei ihren beiden Begleiterinnen. »Die Erhabenen, meine ich.« »Sie haben zu uns allen gesprochen. Nicht nur zu Hennea. Ein gu tes Zeichen, wie ich finde.« Ein Schrei hallte durch den finsteren Urwald, sofort ein zweiter, drei, vier. Es hörte nicht mehr auf. Die drei Mädchen mit ihrer besin nungslosen Pracht hechteten durch lichtes Gestrüpp, über Steine, Wurzeln, Äste und trockenes Laub, hasteten auf einen Punkt in der Schwärze vor ihnen zu, der noch finsterer war als die Nacht. In diesem Augenblick schlug Auriga die Augen auf. Es war der Moment, da der letzte der sechzehn Schreie in bodenloser Tiefe verhallte. Es war je doch auch jener Moment, da Cassiopeia, Andromeda und Delphia zum Sprung ansetzten und ihren Schwestern in eine unbeschreibliche Welt folgen wollten. »Neeeiiinn!!!«, kreischte Auriga hysterisch und riss sich aus dem lockeren Griff der Mädchen, die freudig erregt ins Nichts sprangen. Angstvoll presste Auriga die Hände auf die Ohren, doch die Schreie ihrer Freundinnen fraßen sich bis tief in ihr Gehirn. Sie ertön ten dort noch in voller Lautstärke, als in den Dschungel bereits wieder nächtliche Stille eingekehrt war. Die verkrampften Finger Aurigas glitten ohne ihr Zutun herab. Sie atmete schwer, streckte Arme und Beine aus und wünschte sich in die Obhut des Tempels zurück. Ihr Geist war leer, füllte sich nur langsam mit Eindrücken und Erinnerungen. Und dann lief unvermutet eine furchtbare Erschütterung durch ihren Leib, ließ die Gliedmaßen wie 25
abgestorbene Anhängsel herumschlenkern. Auriga war nicht fähig zu schreien. Sie war willenlos, hatte zu viel erduldet und einfach keine Kraft mehr, sich gegen was auch immer zur Wehr zu setzen. Mehr geschah allerdings auch nicht. Etwa eine Stunde lag die No vizin regungslos auf der Erde. Ihre Gedanken kreisten um viele Dinge und Ereignisse, beschäftigten sich jedoch nicht mit dem Schicksal ihrer Gefährtinnen. Sie waren in einen Abgrund gestürzt. Viele Hundert Me ter tief. Das war nicht mehr zu ändern. Auriga spürte unter wohligem Seufzen die aufbauenden Einflüsterungen eines Wesens, das ihre Schwestern zu sich geholt hatte. Sie waren tot, das wurde ihr nun klar. Aber sie waren keinesfalls umsonst gestorben. Sie hatten einem höhe ren Zweck gedient. Als Auriga sich aufrichtete und die Augen öffnete, da waren sie wie zwei Tore in eine grausame Welt ewigen Schmerzes! * Die Erhabenen waren fassungslos, schockiert. Auriga war als Einzige der Prüfungsgruppe in den Tempel zurückgekehrt, befand sich in ei nem höchst bedenklichen geistigen Zustand und keine der Priesterin nen der Schwesternschaft konnte einen Sinn in ihrer Erzählung ent decken. Trotz des verwirrenden Gestammels Aurigas kristallisierte sich heraus, dass die Mädchen einem fremden Einfluss erlegen gewesen waren. Diese Erkenntnis galt als gesichert und löste größte Unruhe unter den Erhabenen aus. Einmal, da sie diesen Einfluss in der besag ten Nacht nicht wahrgenommen hatten, obwohl er ihren direkten Wir kungsbereich tangiert hatte. Zum anderen, dass er ihnen im Allgemei nen entgangen war und vollkommen unbehelligt, wann immer es ihm gefiel, eingreifen konnte. Die Schwesternschaft hatte sich unangreifbar gefühlt, hatte sich in einem Status - wie ihr Name es bereits ausdrück te - der Erhabenheit gesonnt. Dieser Irrglauben zerbröckelte nun; die Fassade selbstverliebter Eitelkeit bekam sichtbare Risse. Rasch hatten sich die Neuigkeiten auch unter den Schülerinnen der höheren Einweihungsstufen herumgesprochen. Die Erhabenen hatten alle Hände voll zu tun, die Gemüter zu beschwichtigen und das 26
Klima der Angst abzubauen. Sie verwiesen auf die Sicherheit, die die Tempelanlage bot, unterstrichen in aller Deutlichkeit, dass nichts und niemand sie innerhalb der Mauern anzugreifen imstande war. Neben her beschäftigten sie sich mit Auriga, die allerdings in ihrem Zustand der Geistesverwirrung immer noch keine klaren Aussagen machen konnte. Das Bemühen der Schwesternschaft erreichte ihre Grenzen, ebenso wie die Möglichkeiten, positiv auf Auriga einzuwirken und ihren Verstand einzurenken. Erschwerend kam hinzu, dass die Erhabenen selbst mit vielen Zweifeln und Unwägbarkeiten fertig werden mussten. Ihre spirituelle Konditionierung war zwar wesentlich ausgeprägter als bei den Novizinnen, was jedoch nicht hieß, dass sie über den Dingen standen und jeder Herausforderung angemessen begegnen konnten. Allzu deutlich zeigte sich in diesen Tagen das eigentliche Unvermögen der Erhabenen, auf eine Bedrohung zu reagieren, die es in ihrer abge schirmten Welt nicht gab - nicht geben durfte! Hatten sie und die Ge nerationen Priesterinnen vor ihnen die Wahrheit lediglich negiert und ausgeklammert, sich einen überschaubaren aber irrealen Kosmos ge schaffen, der nicht im Einklang mit der sie umgebenden Welt stand? Fast sah es so aus. Etwas Unheimliches hatte die Schwelle zu Bal-Shidomh übertreten. Die Schwesternschaft bemerkte es erst, als es bereits in vollem Gange war. Eine Schülerin der ersten Stufe war erkrankt. Ein fiebriger Infekt. So jedenfalls diagnostizierten es die Erhabenen und versuchten, den Heilvorgang mental zu beschleunigen. Nach sechs Tagen war das Fie ber zwar verschwunden, doch ging mit dem Mädchen eine unerklärli che Veränderung vor sich. Ihre Haut wurde faltig, spröde und bekam Risse. Durch die Nahrungsverweigerung magerte die Schülerin viel zu schnell ab. Ihr Gesicht fiel ein, die Augen lagen in dunkel geränderten Höhlen. Ihr Blick war ohne Glanz; das entweichende Leben spiegelte sich in der verächtlichen Fratze des Todes. Als das tote Mädchen auf dem Tempelhof dem Feuer übergeben wurde, waren es nicht allein Trauer und Unverständnis, die über der Zeremonie schwebten. Vielmehr herrschte das bedrückende Gefühl vor, einer übel wollenden, nicht fassbaren Macht ausgeliefert zu sein, 27
die mit ihnen spielte, ihre Trümpfe hin und her schob, um sie zum vernichtenden Schlag gegen die Bal-Shidomh-Schwesternschaft plötz lich und unerwartet in einem Zug aufzudecken. Dieser Tag würde kommen. Instinktiv wusste es jede. Es blieb nur die Frage nach dem genauen Zeitpunkt. Das Ausharren bis zu dieser unausweichlichen Stunde, in der der Gegner sein Gesicht zeigen wür de, sowie die Verdammnis zur Untätigkeit zermürbten Erhabene wie Schülerinnen bis auf die Knochen. Die Zeichen des Niedergangs mehrten sich. Ein Mädchen ver schwand von heute auf morgen und wurde niemals mehr gesehen. Zwei weitere unterschiedlicher Einweihungsstufen wurden am Morgen desselben Tages erstochen in ihren Betten aufgefunden. Die Erhabe nen hielten ihre Panik im Zaum. In ihren Köpfen pochte Verständnislo sigkeit und gelindes Entsetzen über die Vorgänge, die sich unmittelbar unter ihren Augen zutrugen. In beispielloser Offenheit demonstrierte die negative Kraft, die unzweifelhaft in den Tempelhallen wirkte, ihre Überlegenheit, weidete sich an dem Dilettantismus der Schwestern schaft, die sich lange für elitär gehalten hatte und doch nicht mehr zustande brachte als ein Neugeborenes im Kampf mit einem hungrigen Geparden. Auriga wurde kaum mehr Beachtung geschenkt. Der Tagesablauf ging wie gewohnt weiter. Es wurde gebetet, gemeinsam gegessen und studiert. Doch die Atmosphäre war nicht mehr entspannt wie früher. Jede Tätigkeit gestaltete sich auf schwer zu beschreibende Weise um ständlicher, als es in den unbeschwerten Zeiten der Fall gewesen war. Dann, viele Wochen nach dem Tod der neunzehn Novizinnen, stand Auriga plötzlich im Beratungsraum der Erhabenen, zu dem ge wöhnlich die Mädchen keinen Zugang erhielten. Die zwölf erhabenen Frauen reagierten nicht schroff und abweisend, wie es in einem sol chen Fall aus ihrer Sicht geboten gewesen wäre. Innerlich erhofften sie sich sogar endlich Aufschlüsse über die Ereignisse in der Nacht der Prüfung, um auf die akute Gefahr adäquat eingehen und diese abweh ren zu können. »Komm näher, Auriga und berichte, was dich zu uns führt.« 28
In dem Beratungsraum gab es wie in den Gebetssälen keine Fens ter. Einzig das Auralicht der Erhabenen spendete gedämpfte Helligkeit und schälte andeutungsweise die mächtigen Quader, aus denen der Tempel errichtet war, aus der Dunkelheit. Aurigas Züge waren wie eingefroren. In ihren Augen, die zwei Lichtern glichen, glomm kaltes Feuer. Sie hatte nicht viel zu sagen. Doch das Wenige war mehr als ausreichend. »Ihr alle - bereitet euch auf den Tod vor!« * Ein Donnern erfüllte den Besprechungsraum. Der Effekt wäre unter anderen Umständen grotesk erschienen, doch die Erhabenen blieben alarmiert. Ihre auf mehrere Ebenen ausgerichteten Sinne erfassten das fremde Etwas, das ihre Schülerin Auriga vorausgeschickt hatte, um mit den Säbeln zu rasseln. »Sag uns, was du mit deiner Drohung bezweckst.« Den Worten fehlte die Entschlossenheit; auf dem Fundament der Verschüchterung wankten sie unschlüssig über die Lippen der Sprecherin. »Keine Drohung, Schwestern. Eine Ankündigung.« Erneut donnerte es. Der Tempel wurde bis in die Grundfesten er schüttert. Kein heraufziehendes Gewitter trug daran die Schuld, son dern ein Beben der Erde. »Was... tust du, Kind?« »Nicht ich bin es, die die Natur zum Erzittern bringt. Ich bin nur die Botin des Untergangs.« Die zwölf Erhabenen erspürten die machtvolle Aura um Auriga, konnten jedoch nicht den wahren Drahtzieher erspähen, jene Entität, die dabei war, die Glaubensgemeinschaft von Bal-Shidomh aus den Angeln zu heben. »Egal, was auch immer du - ihr vorhabt, bedenkt die Konsequen zen. Bal-Shidomh steht für den kulturellen und religiösen Erhalt der Region. Er repräsentiert das spirituelle Zentrum dieses Kontinents. Das dürft ihr nicht in Gefahr bringen! Ihr und wir tragen große Verantwor 29
tung für die Menschen in unserem Umfeld und für die Schülerinnen im Tempel!« Auriga sagte nichts. Nur ihre leuchtenden Augen ließen etwas von dem Unheil ahnen, das in der Luft lag. Das Grollen verstärkte sich, wurde zu stoßartigem Krachen, das in den Ohren schmerzte. Ein Rau schen erfüllte plötzlich den Raum, steigerte sich zu einem Sturm, der nicht fühlbar war und nur den Körper vibrieren ließ. An der Decke be gann es zu knistern. Zuckende blaue Lichtadern verästelten sich tau sendfach, sprangen stellenweise aus dem Geflecht hervor, tanzten Bruchteile eines Lidschlages über die Wände und schossen sogar ver einzelt bis zum Boden vor. »Tut das nicht«, bat eine der Schwestern die junge Novizin. »Denkt an die Folgen. Denkt an das Wohl der Menschen.« Noch in derselben Sekunde wurden die zwölf Frauen von Lichtkas kaden eingehüllt und zu Asche verbrannt. Sand und Steinstaub riesel ten durch die Erschütterungen herab und mischten sich mit den un kenntlichen sterblichen Überresten der Schwesternschaft von BalShidomh. Das Strahlen von Aurigas Augen reduzierte sich. Das Mädchen wandte sich der Tür zu, ging festen Schrittes durch den in Bewegung geratenen Tempel nach draußen und machte sich ein erstes Bild von der Zerstörung. Die Tempelanlage bebte, wackelte und brach stellenweise ausein ander. Kreischende Mädchen rannten kopflos durcheinander, hatten alles vergessen, was die Erhabenen sie gelehrt hatten und gaben sich einfach ihrer Panik hin. Sie haben es nicht besser verdient, dachte Auriga. Sie legte nicht allzu viel Emotion in den Gedanken, versuchte sich als neutraler Beob achter, der lediglich eine Bestandsaufnahme machte. Ein fahrender Händler, der in ein Schlagloch geraten war und inspizierte, wie viel von seiner Ware zu Bruch gegangen war. Drei der vier Tempel lagen wenig später in Trümmern, sackten ein, als das Erdreich unter ihnen wegbrach. Unter den Steinen sah man weiße Gewänder, ragten Beine und Oberkörper erschlagener 30
Mädchen heraus. Der Großteil der Schülerinnen war allerdings mit dem Schrecken davongekommen. Auriga erhielt neue Anweisungen. Der, der in ihr war und der auch sonst überall zu sein schien, sprach über eine Art verzerrter Melodie zu ihr. In Ermangelung eines geeigneten Begriffs war Melodie die einzige Bezeichnung, die die Art und Weise der Kommunikation halbwegs nachvollziehbar machte. Das Umherschwirren und Durcheinanderhuschen der Schülerinnen war zu Ende. Nun standen sie ratlos und verängstigt da, hielten sich in den Armen, schluchzten und zitterten.
Jungfräulicher Boden für die Saat des Allergrößten. Auriga trat hervor und verkündete die neue Ordnung.
2. Kapitel Ein Sturm zieht auf Die Ruhe und Stille innerhalb des Kuppeldoms, der Steuerzentrale von Col'Shan-duur, war nicht auch gleichzeitig bezeichnend für Frieden und Ausgeglichenheit. Der bärtige Mann, der auf einem Quader saß und den Blick in die Tiefen unter dem gläsernen Boden schweifen ließ, wirkte unruhig. Seine Füße wippten im Takt einer Melodie, die einzig auf gereizte Nerven zurückzuführen war. Seine Konzentration war ein zerfasertes Gebilde, durch das tausend Fragen und undurchdachte Pläne huschten. Immer, wenn er einen Gedanken fassen wollte, wurde dieser aus allen Richtungen von neuen überrollt. Es gab keinen ver nünftigen Ansatzpunkt und in seinem Verstand verhedderten sich die Dinge stetig mehr, bildeten ein unüberschaubares Knäuel, das sich irgendwann einmal nicht mehr aufknoten lassen würde. »Ich fühle mich unnütz«, brummte er in die weite Leere. Ob er auf eine Reaktion gehofft hatte, war nicht unbedingt ersichtlich. Doch er erhielt sie. »Du langweilst dich, Saghai-Tan?« »So kann man es auch nennen.« 31
»Ich habe dir die Möglichkeit eröffnet, mit den großen Geistern großer Epochen der unterschiedlichsten Planeten in Kontakt zu treten. Durch die Quanten-Zeit treten sie alle ein in deine Wirklichkeit.« »Ich unterhalte mich auch gerne mit ihnen.« Saghai-Tan stand auf. »Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Auch nicht, dass sie real sind und doch wieder nicht. Ich verstehe es zwar nicht ganz, habe es aber akzeptiert.« »Dir stehen die Depotkapseln zur Verfügung, mit denen du die vielen Ebenen und Decks Col'Shan-duurs aufsuchen kannst.« »Eine tolle Sache. Ehrlich. Zeitweise nutze ich dieses Unterhal tungsangebot.« »Was bedrückt dich dann?« »In mir pocht das Herz eines Reformators. Ich fühle die große Aufgabe, zu der ich erwählt wurde. Doch die Aufgabe selbst kann ich nicht finden.« »Sie ist vorhanden. Dessen sei gewiss.« »Und du bist für mich ein ebenso großes Rätsel!«, platzte es aus dem Menschen heraus. »Wer du bist und was du bist und was deine Funktion ist scheint mir derart abstrakt, dass ich mir nicht vorstellen kann, das alles jemals zu begreifen. Und wenn ich tausend Jahre alt werde.« »Die letzte Option ist durchaus im Bereich des Möglichen und so gar vorgesehen. Was mich betrifft, bin ich dir vielleicht nicht mensch lich genug. Kann das sein?« »Du bist kein wirklicher Ersatz für einen leibhaftigen, lebenden Menschen.« »Soll ich einen schaffen?« Saghai-Tan lachte geringschätzig auf. »Sicher, das könntest du. Aber es wäre nicht dasselbe. Ich wüsste ständig, dass du es bist.« »Die Einsamkeit hat auch deinen Vorgängern zugesetzt. Die Größe der Verantwortung ließ keinen anderen Zustand zu.« »Und was taten sie dagegen? Gibt es überhaupt eine Lösung die ses Dilemmas?« 32
»Beschäftige dich mit Gh'Ea. Beobachte die Entwicklung der Men schen. Du bist nicht so weit gekommen, um sie nun sich selbst zu ü berlassen.« Wie weit bin ich denn gekommen?, fragte sich Saghai-Tan, der die Äußerung Gon'O'locc-uurs nicht recht zu deuten wüsste. Ich bin auf
der Erde aufgewachsen und vor zwei Jahren auserwählt worden. Seit dem hat sich nichts Einschneidendes ereignet.
»Du bist erst kurze Zeit in deinem Amt. Du solltest nicht gleich mit allzu großen Veränderungen rechnen. Du solltest nur wissen, dass sie kommen werden.« »Darüber können Jahre vergehen.« »Sogar Jahrhunderte.« »Vielleicht erreiche ich nie, wofür ich auserkoren wurde.« »Das wird nicht passieren, denn es wurde vorausgesehen und be stimmt. Im Grunde verdankst du deinen jetzigen Posten dieser Vor aussicht und einer gewissen - ich sage mal: existenziellen Krise deines Vorgängers.« Saghai-Tan nahm die Information kommentarlos zur Kenntnis, wie er es mit allem machte, was er sich nicht vorstellen konnte. »Auf alles weißt du eine Antwort. Nichts ist dir unbekannt. Alles hast du bereits gesehen, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft. Fast scheint es, als wären die Antworten auf einem Sims aufgereiht und man brauchte sie sich bloß herunterzunehmen. Du wirkst auf mich wie ein gewaltiger Schrein, den man staunend und mit Melancholie betrachtet, um in verflossenen Erinnerungen zu schwelgen und daraus die richtigen Entscheidungen der Gegenwart zu treffen.« »Du möchtest eine emotionale Bindung zu mir schaffen. Das ist gut. Und wenn du willst, kannst du mich ›Schrein‹ nennen.« Diesmal stieß Saghai-Tan ein freudiges Lachen aus. »Schrein. Warum nicht. Gon'O'locc-uur klinkt so hölzern. Ich ver binde nichts damit.« Er zupfte an seinem Bart. »Trotzdem fehlt noch etwas an dir. Du wirkst mechanisch, irgendwie statisch. Versteh das bitte nicht falsch! Ich will nur sagen, dass mir das gewisse Etwas an dir abgeht. Ich vermisse Herzlichkeit, Wärme in deiner Stimme.« »Ich denke darüber nach.« 33
»Prima. Und bevor du das tust, kannst du mir noch sagen, was ich machen soll.« »Beobachte und sammle Informationen. Alle technischen Hilfsmit tel stehen dir zur Verfügung.« »Woher wüsste ich, dass du das sagen würdest?« »Weil es die einzige Möglichkeit einer sinnvollen Beantwortung war?« »Ist das eine Frage, Schrein?« »Ja. Auch ich möchte dich verstehen können. Dazu stelle ich Fra gen.« »Dann denke über eine Antwort nach. Ich werde sie dir nämlich nicht geben. Betrachte es als meinen persönlichen Beitrag, das Wesen Mensch besser kennen zu lernen.« * Die nachfolgenden Jahre waren nicht einfach für Saghai-Tan. Er litt zunehmend unter der Trennung von seinem Stamm, denn diese war der Preis der Auslese. Natürlich versuchte er seiner Aufgabe gerecht zu werden, beobachtete die Entwicklung auf den Hauptkontinenten, sah das Wachsen der Zivilisationen und das Abscheiden der Kulturen. Oft mals suchte er das Zwiegespräch mit dem Schrein, dann die Gesellig keit der Völker auf den Decks von Col'Shan-duur. Bei einigen war er gerne gesehen, andere hielten Distanz und die Besuche Saghai-Tans bei diesen Rassen wurden immer weniger, bis sie ganz aufhörten. »Du wirkst nachdenklich, Saghai-Tan.« Gon'O'locc-uur bemühte sich um Anteilnahme, da er wusste, wie wichtig sie dem Menschen war. »Das liegt daran, weil ich nachdenke.« »Habe ich etwas Falsches gesagt?« Der Zynismus in Saghai-Tans Worten war nicht zu überhören gewesen. »Wie könntest du? Du sagst doch immer das Richtige.« »Wenn du mir nicht sagst, wo der Schuh drückt, kann ich dir nicht helfen.« 34
Aus einem spontanen Gedanken heraus formte Saghai-Tan eine quaderförmige Liege und legte sich lang. Für seine Begriffe hatte er recht schnell herausgefunden, wie die Uhren auf Col'Shan-duur tickten und welche Möglichkeiten sich seinem Geist eröffneten, wenn er ihn fokussierte und sich nicht ablenken ließ. Alles war immens viel einfa cher als auf der Erde, da dem Gedanken ohne Verzögerung die Aus führung folgte. »Die Depotkapseln diffundieren nicht mehr präzise, wie du weißt.« »Ich hoffte, die Störung beheben zu können. Die Gewebemutation ist schuld.« »Völlig gleichgültig, wer die Schuld hat. Die Kapseln sind unzuver lässig. Das letzte Mal musste ich mich durch eine organische Schicht brennen, um überhaupt herauszukommen. Dieses Risiko kann und werde ich nicht mehr eingehen. Wahrscheinlich werde ich beim nächs ten Transport zerquetscht.« »Das würde ich niemals zulassen! Die Kontrolle obliegt immer noch mir! Nichts geschieht ohne mein Wissen!« »Wie dem auch sei. Meine Abstecher auf die unteren Decks muss ich wohl einstellen. Damit geht mir ein wichtiger Kontakt zur Außen welt verloren.« »Möchtest du deine Verwandten auf der Erde besuchen...?« »Die sind doch schon alle tot, Schrein!«, brach es aus Saghai-Tan heraus. »Seit über hundertfünfzig Sonnenumkreisungen. Ich bin mehr als zweihundert Jahre bei dir auf diesem Schiff!« Gon'O'locc-uur machte eine denkwürdige Pause. Anscheinend war ihm dieses bedeutende Detail entgangen. »Es tut mir Leid, Saghai-Tan. Glaube mir. Zweihundert Jahre dieser Zeitraum ist ein Nichts im Vergleich zu dem, was hinter mir liegt. Verzeih meine Unbedachtheit. Für dich muss es eine kleine Ewig keit gewesen sein.« »Das war es, Schrein, das war es auf jeden Fall.« Er beruhigte seinen Atem und den Herzschlag. »Aber mach dir keine Vorwürfe. Ich stehe das schon durch.« »Deine Körperstruktur wurde genetisch modifiziert. Du hast noch viele Jahrhunderte vor dir.« 35
»Ich werde halt die Quanten-Zeit bemühen. Es gab einige außer ordentliche Gespräche mit den Hova. Sie bestärken mich in meinem Tun. Sie machen mir Mut. Und sie wissen von Dingen, die für mich noch in der Zukunft liegen. Dinge, über die sie nicht reden wollen. Oder nicht reden dürfen...« Saghai-Tan ließ den Satz lang auslaufen und lauerte auf eine Reaktion Gon'O'locc-uurs. »Die Hova sind sehr weit entwickelt. Ihre Raumschiffe überwinden den Abgrund zwischen den Galaxien in einer Sekunde.« »Wovon wissen sie und sagen es nicht?« »Bei mir bist du an der falschen Adresse mit derartigen Fragen. Die Hova werden ihre Gründe haben. Ihre Rede ist mit Bedacht ge wählt, doch sie mischen sich nie in die Belange anderer ein. Dieses Gebot ist universell. Eine Übertretung würde das kosmische Gleichge wicht stören.« »Verstehe ich. Außerdem bin ich der Meinung, dass ich noch ein wenig in den Archiven stöbern sollte. Ich bin da auf eine interessante Sache gestoßen. Ein Zwischenfall in - wie hieß es noch? - Te-Che'LoKadeh. Ich denke, das war der Name.« »Ausgezeichnet. Mach da weiter und lass mich von deinen Fort schritten wissen. Eine wichtige Epoche ist angebrochen.« Der Schrein unterbrach sich selbst, ließ ein halblautes »Hm« hören und fuhr fort: »Ist dir aufgefallen, dass ich mich sprachlich verändert habe?« »Nein«, sagte Saghai-Tan wie aus der Pistole geschossen. »Ist mir nicht aufgefallen.« »Hast du nicht Verständnis und Wärme vermisst? Ich dachte, ich hätte mich in diese Richtung verbessert.« Saghai-Tan wollte nicht ungerecht sein. »Wenn ich es mir genau überlege, hast du Recht. Ja, da ist ein Unterschied. Ein kleiner zumindest. Aber du bist, nun ja, du bist auf dem richtigen Weg.« »Danke. Vielleicht hast du eine Idee, wie ich mich weiter verbes sern könnte.« »So spontan?« Saghai-Tan blieb weiter liegen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihm fiel etwas ein. »Meinen Großvater mochte ich sehr. Er war immer gut zu mir, ein echter Freund, immer auf mei 36
ner Seite, ganz egal, was ich angestellt habe. Er hatte eine Art an sich...« Der Bärtige lachte dumpf. »Sicher nicht jedermanns Sache, aber mir hat's gefallen. Er war wie ein... wie soll ich sagen... ein Über vater! Ja, das trifft es wohl ganz gut. Alle haben stets seinen Rat ge sucht und allen hat er Hilfe und Zuversicht gegeben. Ich höre noch deutlich seine Stimme... sonor und durchdrungen von Verständnis und Freundlichkeit.« »Ich kann sein Wesen aus der morphogenetischen Matrix der Erde extrahieren, wenn dies dein Wunsch ist.« »Das könntest du?« Noch in derselben Sekunde fuhr Saghai-Tan in die Höhe und sah in alter Gewohnheit zum Kuppeldom hoch. »Du könntest sein wie... er?« »Darin sehe ich kein Problem.« »Also gut. Machen wir es so. Und wo ich gerade beim Wünschen bin: Die Depotkapseln erfüllen ihren Zweck nicht mehr. Es wäre mir lieb, wenn du sie auflösen würdest, damit nicht noch jemand in Schwierigkeiten gerät. Bestimmt gibt es noch andere Wege auf die Ebenen.« »Mein lieber junger Freund, es ist schon geschehen...« * »Als Col'Shan-duur die Erde erreichte, mein lieber Junge, wurden die Länder und Meere bevölkert von riesigen Echsen; der Mensch war noch nicht geschaffen. Ja, so ist das damals gewesen. Ganz genau so.« Erneut waren einige Jahrzehnte verstrichen. Der Schrein gab sich immer noch als das charakterliche Ebenbild von Saghai-Tans irdischem Großvater. Saghai-Tan selbst war kein bisschen gealtert und zeigte sich in physischer Blüte - schon seit etlichen Dekaden. Doch auf Gh'Ea, der Erde, waren Veränderungen im Gange. »Die Entwicklung auf Exon beunruhigt mich, Schrein. Bei der Schwesternschaft von Bal-Shidomh gab es einen Führungswechsel. Seitdem herrscht ein Regime von Terror und Gewalt.« 37
»Ja, so sind die Menschen. Erst machen sie Fehler, dann bereuen und wiederholen sie sie. Der Lauf der Dinge, mein Junge. Früher oder später wird Vernunft einkehren.« Der Schrein vermittelte den An schein, damit alles gesagt und erschöpfende Auskunft gegeben zu ha ben. Fast unverfänglich setzte er hinzu: »Ist dir sonst noch irgendet was aufgefallen...?« »Eine machtvolle Präsenz ist aufgetreten. Sie ist auch der Auslöser für meine Unruhe. Ich weiß genau, dass sie vorher nicht da war.« »Berichte mir, mein Freund, was du herausgefunden hast.« Saghai-Tan konnte nicht ahnen, dass Gon'O'locc-uur das drohende Unheil seit langem erwartet hatte und diese Erwartungshaltung nun eine emotionale Spitze in ihm auslöste. »Ich habe eine Kolonne Vergleichsparameter eingespeist und ei nen Abgleich mit dem Archiv vorgenommen.« Ungläubig schüttelte Saghai-Tan den Kopf, als könnte er immer noch nicht fassen, was ihn seit Tagen beschäftigte und für das er bereits zum wiederholten Male ein und dieselbe Bestätigung erhalten hatte. »Die Daten stimmen in den Vergleichspunkten mit jenen aus Te-Che'Lo-Kadeh überein, jener Sterneninsel am anderen Ende des Universums!« »Milliarden Jahre liegt es zurück, seit wir von dort aufgebrochen sind...« »Was, bei allen Göttern, ist das für eine Kraft, die aus den Tiefen des Alls ihren Weg ausgerechnet bis zur Erde findet? Wie kann das sein? Und warum? Wie konnte sie diese unbegreiflich lange Zeit über dauern?« »Das Universum ist gigantisch. Doch selbst der Raum, der sich über Milliarden von Lichtjahren erstreckt, ist nur Teil eines weitaus größeren Gebildes. Kannst du das verstehen, mein Sohn?« »Nein. Wie sollte ich? Meine jetzige Lebenszeit stellt für einen Menschen bereits eine halbe Ewigkeit dar. Die Entfernung zwischen Col'Shan-duur und der Erde ist mit normalen Mitteln nicht zu überbrü cken. Und obwohl ich weiß, dass es geht, kann ich mir selbst eine sol che Banalität kaum vorstellen. Da wirst du wohl kaum Verständnis für das Universum erwarten.« »Ich war voreilig, junger Freund. Es tut mir leid. Ja, das tut es.« 38
»Schon gut. Schon gut. Sag mir lieber, wie dieser Einfluss, der die Menschen einnebelt, abgewendet werden kann. Das Schiff hat doch sicher Waffen.« »Es wurde nicht für den Kampf konstruiert. Außerdem ist uns eine Einmischung in die Belange der Menschen nicht erlaubt. Nicht auf die ser Ebene. Einzig die geistige Führung gestattet uns das Gesetz.« »Aber wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie die Erde von einer außerirdischen Macht unterjocht wird!« »Alles wird sich von selber richten. Ein Eingriff unsererseits wäre unverantwortlich, da wir nicht sämtliche Konsequenzen abwägen kön nen. Dies obliegt den Evolutionären, den Aufgestiegenen Meistern.« »Damit will ich mich nicht abfinden!« Saghai-Tans Züge verhärte ten sich. Seine Augen brannten sich in die Anzeigen auf dem Tachyo nenschirm, der vor ihm in der Luft schwebte. Die Bilder wiederholten sich in einer Endlosschleife; die erklärenden Worte eines Sprechers begannen immer wieder von vorne. »Du kennst die Legende vom Erscheinen des T'ott'amh-anuq, nicht wahr, mein Junge? Die kennst du doch, oder?« »Ich kenne sie. Aber wie du schon sagtest: es ist eine Legende. Wenn man sich auf Legenden verlässt, bringen sie die Eigeninitiative zum Erlahmen.« »Verstecke deine Ablehnung nicht hinter einem achtlos daherge sagten Begriff, mein Freund. Gerade diese Legende beinhaltet mehr Wahrheit, als du dir vorzustellen vermagst. Glaube es nur, Sohn. Glau be es mir nur.« »Was denn noch? Ich habe dir doch geglaubt, als du mir nahe leg test, mit dem Gen-Baukasten zu experimentieren. Was ist dabei he rauskommen? Komische dreibeinige Kreaturen, mit denen nichts an zufangen ist.« »Aber mein junger Freund, warum die harten Worte? Warum denn bloß? Für diese Kreaturen habe ich außerhalb des Zentraledoms eine praktikable Umgebung geschaffen, in der sie sich sehr gut entwickeln. Große Fortschritte sind bei dieser Spezies zu verzeichnen. Bedenke nur ihr unglaubliches mentales Potenzial.« »Ich mag sie nicht und ich werde nicht zu ihnen gehen.« 39
»Sie könnten dich effizient unterstützen, dir neue Wege zeigen.« »Verbrüdern will ich mich schon gar nicht mit ihnen.« Saghai-Tan schnitt waagerecht mit der Hand durch die Luft, um anzudeuten, dass das Thema für ihn erledigt war. »Bal-Shidomh bildet sich zu etwas heran, das eine unberechenbare Bedrohung für die ganze Menschheit bedeuten mag.« »Ich würde gerne hören, wie du dieses Problem angehst, ohne kosmische Gesetzmäßigkeiten zu verletzen. Du erinnerst dich, was ich dir in diesem Zusammenhang sagte, ist es nicht so?« Auf den Zügen des Bärtigen zeigte sich ein leises Schmunzeln. »Ich übernehme die vollen Konsequenzen. Aber vorher unterhalte ich mich mit den Evolutionären. Es sollte mich wundern, wenn sie sich meinem Plan verschließen...«
3. Kapitel Erbin des Unheils
Die Zeit von Bal-Shidomh ist vorbei, sein Glanz verblasst. So hat uns der Unaussprechliche einen neuen Weg gezeigt und den Tempel, der in deutlichem Widerspruch stand zu dem, was er ist, dem Erdboden gleichgemacht. Was noch steht dient der Opferung, seiner Huldigung und der Mehrung seiner Macht auf Erden. Nur ihm ist zu gehorchen, nur er ist zu ehren. Das Zusammenleben der Menschen wird von nun an nach geregelten Grundsätzen erfolgen, auf der Basis seiner Lehren. Wir, die Ersten Prioren, entstanden aus der Asche der Schwestern schaft von Bal-Shidomh, sind die Vollstrecker des Willens des Unaus sprechlichen. Wir fördern das Wachstum der Menschen und prägen deren gesellschaftliche Ordnung. Fortan werdet ihr in Kasten leben, die einer strengen Unterteilung unterliegen. Uns untergeordnet ist die Mit telschicht, zuständig für Ackerbau und Viehzucht. Was sie besitzen, versteht sich als Lehen. Die untere Kaste wird besitzlos sein und nur zur Unterstützung der Mittelschicht leben. Jede Form von Bereicherung wird bestraft und mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet. Jede Form des Aufbegehrens, der Lästerung oder der Volksverhetzung 40
endet mit der Opferung in Bal-Shidomh. Die Auswahlkriterien der Kas tenzugehörigkeit obliegen nur uns, den Ersten Prioren. Nach Einfüh rung des Systems wird es gewisse Aufstiegsmöglichkeiten Einseiner in die nächst höhere Einstufung geben. Dadurch werden ein gesundes Miteinander, Leistungswillen und Motivation gefördert.
(Auszug aus den Direktiven der Priesterschwestern von Exon)
Ohne Vorwarnung sprengten die Vermummten auf ihren Pferden in die kleine Siedlung und gebärdeten sich wie die Schlächter. Männer und Frauen standen anfangs wie erstarrt bei ihrer Arbeit, dem Sortieren von Obst und Gemüse, der Reinigung von Karren und Maultieren. Blit zende Klingen brachten singenden, stählernen Tod, zerteilten Glied maßen, Köpfe und Körper im Vorbeiritt. Die schwarzen Roben der Vermummten wurden mit Blut bespritzt und auch der Erdboden färbte sich rot, zog eine lange und breite Spur quer durch das Dorf. Das Schreien der Sterbenden mischte sich mit dem Kreischen und Weinen der Kinder. Nicht wenige der Jungen und Mädchen - ja, auch einige Säuglinge - fielen dem Stahlgewitter der Berittenen zum Opfer. Vor dem Haupthaus der Siedlung zügelten sie schließlich ihre Rosse, streif ten das Blut von ihren Krummsäbeln und Langmessern und bezogen drohende Stellung. »Ihr Herren! Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten?« Ein hoch gewachsener Mann der Mittelkaste war auf der Veranda seines Hauses erschienen, hob die Hände in die Luft und lief auf die Reiter zu. »Keinen Schritt weiter!«, zerschnitt ein dunkler Bass die Luft. Ein Säbel wurde vorgereckt und ließ den Heranstürmenden fast augen blicklich zum Stillstand kommen. »Gib Acht, wen du unter deinem Dach beherbergst, Sololas! Nicht alle Unteren wissen das Geschenk des selbstlosen Dienens zu schätzen!« Mit den ›Unteren‹ meinte er die Angehörigen der Unterkaste, die auf den Höfen der Mittelschicht Dienst taten, nichts besaßen und einzig mit Nahrung und Unterkunft entlohnt wurden. »Aber so sprecht doch, ihr Adepten! Was hat euch zu dieser Tat veranlasst?« 41
»Zornige und Unzufriedene sind unter euch, Menschen, die die Ordnung der Ersten Prioren anzweifeln und darangehen, sie zu unter graben. Ein Hinweis aus der Bevölkerung hat uns hierher zu dir ge schickt. Und die Unteren haben blutigen Zoll gezahlt.« »Oh Gott! Seht euch das nur an! Ein Massaker! Hingeschlachtet habt ihr sie! Wie soll ich denn meine Äcker bewirtschaften, wenn ich keine Leute habe?« »Du wirst andere finden!« Der Vermummte gab sich gelassen, beugte sich ein wenig vor und zog seinen Mundschutz herunter. Dann zischte er Sololas zu: »Du solltest dich nun mäßigen, Bürger. Sonst könnte der nächste Hinweis vielleicht direkt in dein Haus führen...« »Was... was soll das heißen...?« Noch im selben Moment schlug er sich die Hand vor den Mund. Hatte der Adept gerade mehr von den Praktiken der Priesterinnen verraten, als er wollte oder hatte er nur eine kraftvolle Drohung ausgesprochen? Sololas sah ein, dass es in seinem Fall keine Rolle spielte. Er würde in Zukunft gut auf seine Un tergebenen aufpassen müssen, um jegliche Form der Rebellion im Keim ersticken zu können. Ein weiterer Vorfall wie dieser und es moch te ihm selbst an den Kragen gehen. Schuldig oder nicht. Das hatte der Vermummte ihm klarmachen wollen. »Ich verstehe, was ihr sagen wollt«, flüsterte Sololas, dem die Un terwürfigkeit ob seiner Körpergröße nicht recht auf den Leib geschnei dert war. »Dann halte dich daran!« Der Adept zog seinen Mundschutz hoch, gab das Kommando zur Kehrtwende und galoppierte mit seinen Män nern davon. Entsetzt schlug Sololas die Hände vors Gesicht. Als er sie herun ternahm, war sein Herz immer noch verkrampft, drehte sich ihm beim Anblick der Verstümmelten, der Toten und Waisen der Magen um. Ein Meer aus Blut und Tränen hatte sich mitten auf seinem Grund und Boden aufgetan. Die Priesterschwestern hatten wieder einmal ihre Macht demonstriert und würden das dreistufige Kastensystem mitsamt ihrer monotheistischen Anbetung des Unaussprechlichen gegen alle Widerstände durchsetzen. 42
Ich habe keine Kraft, mich zu erheben, redete Sololas sich zu. Und ich trage Verantwortung für so viele Leben... Einige Arbeiter der Unterkaste rannten an ihm vorbei zu den Toten und Verletzten. Sie hefteten ihre Blicke auf Sololas, lange und intensiv und es war nicht mehr nur das Leid der Unterdrückten darin zu lesen, nicht nur Unverständnis und Trauer, sondern beginnender Hass und offene Feindschaft! * Unverhohlen stolz hatte sich Mater Auriga vor die ihren gestellt, hohe Schwestern, die sie nach dem Tod der zwölf Erhabenen auf ihre Seite hatte ziehen können und zwei Dutzend Novizinnen, die die Anbetung des Unaussprechlichen dem schnellen Tode vorgezogen hatten. Der Erdtempel von Bal-Shidomh - einzig verblieben nach der Machtbekun dung des Allergrößten - war der Aufenthaltsort der neuen Priester schwesternschaft, der Ersten Prioren. Er fungierte als Übergangslö sung, bis die wahre Heimstatt errichtet war, an deren Bau bereits Hun derte Unterprivilegierte arbeiteten. Zentral gelegen an der Spitze eines Dreiecks, das den Bal-Shidomh-Tempel mit den unheimlichen Urwald schächten verband, aus denen sich der Allergrößte, der Unaussprechli che, erhoben hatte, sollte der Prunkbau nicht lediglich die Präsenz der Priesterinnen kraftvoll unterstreichen, nein, er sollte auch Sinnbild der neuen Ordnung und Verkündigung des neuen Gottes sein. Vorgesehen war eine dreistufige Pyramide, die den Charakter des Kastensystems herausstellte. Doch es gab ein weiteres bedeutsames Projekt, das sich bereits in der Entstehungsphase befand und von dem bisher nur Mater Auriga und die an der Erstellung Beteiligten wussten. Geräuschlosigkeit breitete sich aus im Erdtempel. Aller Augen wa ren auf Mater Auriga gerichtet, der trotz ihrer Jugend und des ehema ligen Status einer Novizin vollster Respekt galt und höchste Aner kennung, so, wie der Unaussprechliche aus den Tiefen des Regenwal des es gewünscht hatte. »Ein Jahr ist es her, dass der Allergrößte mich zu sich rief, dass ich überlebte, als alle anderen starben. Seither hat sich das Angesicht 43
der Welt gewandelt, hat sich nach seinem Ideal umgestaltet. Wir ha ben vieles erreicht, doch große Aufgaben sehen noch ihrer Erfüllung entgegen. Vergessen wir nicht, dass wir am Anfang einer Epoche ste hen, die Tausende von Jahren strahlen soll. Die Grundpfeiler dieser Epoche zu setzen wurden wir auserwählt. Während ich zu euch spre che wächst im Urwald die Pyramide unserer Schwesternschaft heran. Künftig wird sie das Zentrum unseres Herrschaftsbereichs markieren. Ebenso wird Bal-Shidomh als Opferungsstätte einen wichtigen Punkt markieren. Hinzu kommen die beiden Schächte mitten im Dschungel, von denen einer das Leben meiner neunzehn Mitprüflinge gefordert hat. Da sie sich im Landstrich Cor'Shan befinden, sollen sie auch des sen Namen erhalten. Wie Augenhöhlen im Gesicht der Erde sehen sie aus, betrachtet man sie aus größter Höhe. Dies ließ mich der Aller höchste wissen. Und daher sei ihr Name ›Augen von Cor'Shan‹. Ihr fragt nun zu Recht, was es auf sich hat mit diesen ›Augen‹. Ich will euch die Antwort nicht vorenthalten.« Sie machte eine Pause und ver sicherte sich durch einen gemessenen Rundblick der Aufmerksamkeit der Anwesenden. »Einst wurden sie geschaffen als unergründlich tiefe Schächte, aus denen sich Energiespiralen drehten, die ein metaphysi sches Gitternetz schufen, das heute noch diese Welt umgibt. Über die Jahrtausende veränderten sich die Spiralen, verkehrten ihre Wirkung und zogen den Allergrößten, den Unaussprechlichen, an, damit er sich am Grund der ›Augen von Cor'Shan‹ einnisten konnte. Aber er war nicht so wie jetzt. Nur sehr langsam gewann er Einfluss in der physi schen Welt, welcher wuchs, als die ersten Menschen entstanden, sich vermehrten und mehr und mehr wurden, bis zu der Masse, die in der Gegenwart den Planeten bevölkert. Jedes Leben, das in seinem Namen dahinscheidet, stärkt ihn, lässt ihn Gestalt annehmen, bis er hinab kommen kann auf diese Welt als das, was er derzeit in der anderen Welt ist. Wenn dies geschieht, haben sich die ›Augen von Cor'Shan‹ endgültig geöffnet, dann werden der neue Gott, die Manschen und die Welt eins sein. Darauf wollen wir hinarbeiten. Dahin zielen unsere Be mühungen. Und treffen wir auf Widerstand, so werden die Adepten in unserem Namen diesen bekämpfen und ein für allemal ausmerzen!« 44
Mater Auriga hatte die letzten Worte in tiefer Leidenschaft mit an schwellender Stimme ausgesprochen. Die Mädchen und Frauen stießen einen Schrei der Zustimmung aus und reckten die Arme in die Luft. Ihr Beifall war diszipliniert, ihre Emotionen kontrolliert. Nie siegte das Ge fühl über den Verstand und nie war es umgekehrt. Linke und rechte Gehirnhälfte hielten sich die Waage; ein idealer Ausgangspunkt zur Entscheidungsfindung. »So groß die Unterstützung des neuen Gottes auch ist, müssen wir doch wachsam und auf der Hut sein. Er hat sich offen zuerkennen gegeben, was auch seinen Gegnern ermöglicht, ihn nun wahr zunehmen. Rechnet daher nicht nur mit Aufständischen und Rebellen unter den Menschen, rechnet auch mit Feinden von außerhalb.« Mater Auriga ließ offen, was sie damit meinte. Die Warnung hingegen war angekommen. In den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten, die Mater Auriga das Priestermatriarchat zu enormer Blüte führte und das Kastensystem fest im Bewusstsein der Menschen verankerte, wurde auch die Stufen pyramide vollendet. Ebenso jene Kathedrale, die am Grunde des rech ten Auges von Cor'Shan errichtet wurde und deren Erbauer - Besitz lose der Unterschicht - niemals mehr das Licht des Tages sahen! * »Wie viel Zeit bleibt ihr noch?« Mater Velinorenja schloss für einen Moment die Augen, als müsste sie über eine schwere Entscheidung nachsinnen. Mater Aurigas Zu stand verschlechterte sich schleichend, doch er verschlechterte sich. Sie war eine alte Frau geworden, älter vielleicht, als alle vor ihr, doch nun ließ sich der Tod nicht mehr vertrösten. Die Lebensuhr der physi schen Existenz tat die letzten Takte. »Zwei Monate. Drei Monate. Ich kann es nicht sagen.« Die Priesterschwester mit den heilenden Fähigkeiten schaute die Fragerin durchdringend an. »Deine Sorge gilt der Nachfolge von Mater Auriga.« 45
»So ist es. Noch ist niemand gefunden. Und niemand will, dass der Orden zerbricht.« »Unsere Schwester wird uns nicht alleine lassen. Sie wird die ge eignete Nachfolgerin selbst bestimmen.« »Mir fällt keine passende Wahl ein. Sieh dich um. Wem willst du die Bürde des Amtes auflasten?« »Ich vertraue auf die Weitsicht Mater Aurigas, Phetia. Sie hat uns gut und sicher geführt durch eine lange Zeit des Umbruchs. Nichts zerbricht einfach, an dem derart ausgiebig geschliffen wurde. Die Py ramide ist die Versinnbildlichung unseres Durchsetzungsvermögens. Die Opferungen in Bal-Shidomh machen das Volk gefügig; Verräter werden ohne Mitleid hingerichtet. Das ist die Art, wie wir herrschen. Das ist das Matriarchat von Exon.« »Du hast Ambitionen«, meinte Phetia nachdenklich. »Ob du wohl Mater Auriga ablösen...?« »Nein!«, erwiderte Velinorenja scharf. »Wie jeder anderen graust mir vor dem Kontakt mit dem Allergrößten!« Die Priesterin zog Phetia zu sich heran, schürzte die Lippen und flüsterte: »Hast du nicht gese hen, wie Mater Auriga aussieht? Und ist dir nicht aufgefallen, dass sie ihr ganzes Leben über gestorben ist? Der Unaussprechliche vom Grun de der Augen Cor'Shans hat sie ausgehöhlt, ihr Leben vereinnahmt und nur so viel zurückgelassen, dass sie nicht sterben konnte. Willst du, dass das mit mir geschieht? Oder mit dir? Oder mit irgendeiner anderen Schwester?« Mater Phetia zeigte sich selbstsicher und lächelte überlegen. »Deine Furcht entbehrt jeglicher Grundlage. Sie war eine starke Ordensschwester, nicht die belebte Hülle, die du in ihr zu sehen glaub test. Wenn sie mich als Erbin der Macht einsetzte, ich würde nicht nein sagen.« »Ich bin sicher, du wärest eine würdige Nachfolgerin.« Mater Veli norenja verschleierte ihren Spott nicht erst. »Die Gesänge waren doch auch schon in deinem Kopf, wenn die Oberste Schwester uns an ihren Einflüsterungen teilhaben ließ. Verspürtest du denn nicht diesen zwin genden Bann, diese unsichtbare Macht, die deinen Geist umklam merte?« 46
»Es sind die Schwingungsunterschiede, die den Eindruck einer Me lodie vermitteln. Der Allergrößte spricht zu uns durch unzählige astrale Sphären, senkt sich zu uns herab. Der Frequenzwechsel bringt die Laute mit sich, Laute wie von einem...« »... Totenchor!«, vollendete die Heilerin. »Gesänge, die direkt aus dem Jenseits stammen...« Das Gespräch der Schwestern wurde durch laute Schritte und ra schelnde Gewänder gestört. Mehrere Matern kamen den Pyramiden gang hinauf auf sie zu. Zwischen ihnen erkannten Phetia und Velino renja eine junge Schülerin. »Tiphara...?«, murmelte Mater Phetia. »Was um alles in der Welt...« »Ich hoffe, es ist nicht das, was ich gerade denke«, gestand Mater Velinorenja. Beide grüßten sie die schnellen Schrittes daherkommenden Schwestern. »Kommt mit«, folgte nach der Erwiderung des Grußes die Auffor derung. »Folgt uns in die Gemächer Mater Aurigas. Sie hat eine Mittei lung zu machen. Je mehr davon hören, umso besser. Wer weiß, ob sie eine öffentliche Ansprache durchsteht.« Phetia und Velinorenja schlossen sich an. Respektvoll betrat die Gruppe den Raum, in dem sich Mater Aurigas Schlafstätte befand. Sie war wach und gab ein schwaches Zeichen mit der Linken, an sie he ranzutreten. Im Halbkreis versammelten sich die Priesterschwestern um das Bett, wobei die Novizin Tiphara gleich am Fußende stand. Ein sanfter Blick der Sterbenden streifte das junge Mädchen. Mater Auriga hielt sich nicht mit Vorreden auf, sondern kam unverzüglich zur Sache. Ihre Lebenskraft versiegte und so war jede Sekunde kostbar. »Vor mir steht die neue Führerin des Matriarchats, die kleine Tiphara. Ihr unterliegt von nun an das Geschick des Ordens.« Aurigas Stimme glich einem leisen Windhauch. Doch in der Stille war er deut lich zu vernehmen. »Solange sie noch nicht über die Fähigkeiten einer Mater verfügt, werdet ihr alle sie in ihren Entscheidungen unterstüt zen. Ihr werdet ihr zur Hand gehen, sie beraten und ihr Rückgrat ver leihen.« Die alte Frau auf dem Sterbebett verhielt, machte einige tiefe 47
Atemzüge und sprach weiter. »Verfallt nicht der Versuchung, eure ei genen Wünsche und Ziele über diese Schülerin verwirklichen zu wol len. Ihr werdet anfangs zwar überwältigende Resultate erzielen, doch solltet ihr stets im Hinterkopf behalten, dass die Macht des Un aussprechlichen in ihr wirksam ist. Sie wächst von Tag zu Tag. Jeder Verrat an Tiphara ist ein Verrat an dem neuen Gott. Ihr kennt sein Wirken, seinen Zorn. Beschwört ihn nicht herauf...« »Wir hören und respektieren deine Anordnungen. Es wird gesche hen, wie du es wünschtest.« Mater Kyophenopta hatte im Namen aller gesprochen. »Ich danke euch«, hauchte Auriga. »Wir haben geringfügige Probleme mit Aufständischen«, warf Ma ter Phetia ein. »Hauptsächlich Unterprivilegierte aus dem Osten. Wir sind unschlüssig, ob eine Gewaltaktion den erwarteten Segen bringt...« Mater Auriga erhob den knöchernen Zeigefinger, krümmte ihn und winkte die Ordensschwester nah zu sich her. Phetia beugte sich über das Bett und brachte ihr Ohr über an Mund der im Sterben Liegenden. »Befördert ein paar von ihnen zu Novizen, opfert einen Adepten und nehmt einen Lehnsherrn in Haft. Stellt es dar, als hätte er sich unrechtmäßig bereichert.« Mater Auriga keuchte. Die Anstrengung des Sprechens setzte ihr zu, aber auch die Emotionen, die in ihr hoch wall ten. »Aber vorher metzelt einige Hundert von ihnen nieder, auf das sie sich nie mehr erheben wollen!« Die alte Mater legte den Kopf zur Seite und machte eine zurück weisende Bewegung mit der Hand. »Geht jetzt. Ich möchte schlafen.« Die Priesterschwestern verließen gemeinsam mit Tiphara das Ge mach. Als sie die Türen verschlossen hatten und schon einige Schritte den Gang entlanggelaufen waren, tat Mater Auriga ihren letzten Atem zug.
4. Kapitel 48
Macht und Mythos Saghai-Tan hatte sich in seine Wohnräume zurückgezogen, nachdem er von einer langen Exkursion auf den unteren Ebenen und Decks zu rückgekehrt war. Er fühlte sich scheußlich, seine Muskeln und sein Fleisch schmerzten. In seinem Gesicht gab es dunkelrote Flecken; die Lippen waren aufgeplatzt. So lag er im Dunkeln auf seinem Bett, einen Arm schützend über die Stirn gelegt, den Kopf ein wenig zur Seite ge wandt. Stunden vergingen. Und als Saghai-Tan erwachte und die bun ten Scherben eines sinnleeren Traumes hinwegwischte, dauerte es nicht lange, dass Gon'O'locc-uur, der Schrein, auf sich aufmerksam machte. »Du warst auf Wanderschaft?«, fragte er scheinheilig. »Deinen Blessuren nach zu urteilen, handelte es sich nicht um einen Anstands besuch.« Der Bärtige reagierte unwirsch. »Hättest du, wie es meine Bitte an dich war, die Depotkapseln aufgelöst, wäre es nicht dazu gekommen.« »Du hättest einen anderen Grund gefunden, dich zu erregen.« »Ich rege mich nicht auf, weil mir danach ist, sondern weil alles um mich herum zum Aufregen ist!« »Dann sind die Wunden nicht nur äußerlich, mein Junge. Möchtest du darüber reden?« »Als wenn du nicht schon die ganze Geschichte wüsstest...« »Ich frage nicht aus Anteilnahme. Ich frage aus Neugier. Ich weiß es wirklich nicht.« Saghai-Tan gab sich einen merklichen Ruck. Auf ein gedankliches Kommando hin flammten Lichter auf. Er kniff die Augen zu, öffnete sie spaltbreit und stand auf. Nur ein paar Sekunden hielt er sich auf den Beinen, dann hockte er sich auf die Kante seines Schlaflagers. »Ich habe Kontakt mit den Evolutionären aufgenommen.« Eine Weile stand der Satz im Raum, gab Gelegenheit zur Stellungnahme und blieb doch unbeachtet. »Ich habe sie um Rat gefragt.« Er stieß freudlos auflachend die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Ein Wun der, dass ich sie überhaupt erreichte!« 49
»Das Meditationslevel ist für einen Menschen nicht einfach zu er reichen. Das weißt du doch, Junge. Ganz sicher sogar weißt du es.« »Ja, schieb nur ruhig mir die Schuld zu. Ich nehm's auf meine Kappe. Doch das ist auch gar nicht der springende Punkt. Irgendwie wollen sie von meinen Sorgen und Befürchtungen nichts wissen, hal ten mich ruhig mit ihrem Lamentieren von ›Gesetz‹ und ›Vorsehung‹. Aber sie sehen nicht, was ich sehe. Sie bemerken nicht, wie die Schwesternschaft von Bal-Shidomh in die Fänge dunkler Wesenheiten gerät. Möglich, dass sie es gar nicht sehen wollen. Wesen wie sie den ken in anderen Kategorien!« »Deine Stimme ertrinkt in Zynismus.« »Und - darf ich nicht zynisch sein? Wozu bin ich auserwählt wor den, wenn ihr mir die Hände bindet und Fußeisen anlegt? Die Entwick lung auf Exon ist bedenklich, nein - bedrohlich. Das gilt für uns alle, besonders für die Stämme der Erde, die vielen Familien, Frauen und Kinder. Bald schon werden sie sich einem Ansturm negativer Kräfte ausgesetzt sehen, gegen den es keine Gegenwehr mehr gibt. Dieses Etwas aus den Urwaldschächten ist nicht greifbar, aber fühlbar. Ich fühle es. Schon rotten sich die Priesterinnen zusammen, fegen mit eisernem Besen und regieren von einem Thron, aus Angst gemeißelt, das Land. Wenn wir nicht eingreifen, werden die höllischen Mächte das Gleichgewicht zu ihren Gunsten verschieben. Ich kann und werde nicht tatenlos zusehen, wie die Menschen dieses wundervollen Planeten, unter denen ich Brüder und Freunde habe, sang- und klanglos vor die Hunde gehen.« »Versündige dich nicht an der Bestimmung und den Gesetzen des Kosmos, mein Sohn. Du bist nicht hier, um Entscheidungen zu treffen, deren Tragweite deinen Horizont um Längen übersteigt. Deine Aufga be liegt im Beobachten. Du bist die Augen und Ohren der Evolutionäre, da sie auf den niederen Ebenen nicht wirken können. Man legt großen Wert auf deine Berichte. Versuche aber, die Angelegenheit nüchtern anzugehen. Unbeherrschtheit und heißer Zorn waren noch niemals weise Ratgeber.« »Wie oft ich diese Leier bereits gehört habe, Schrein.« Er legte ei ne sonderbare Betonung auf das Wort, als wollte er herausstellen, 50
dass er den Schwindel durchschaut hatte und sich diesmal nicht auf die Imitation seines Großvaters einließ. »Manchmal frage ich mich, woher du nur so viel über diese jenseitigen Wesen weißt. Du, der du doch nicht viel mehr bist als eine - Maschine.« Keine Verachtung lag in dem Wort, so wie er es aussprach. Vielmehr war es eine tiefgründige, allerdings sehr späte Erkenntnis. »Zwischen Geistern und Automaten bilde ich den nächsten Pol dieser konstruierten Dreifaltigkeit.« »Ich stamme aus einer Zeit kurz nach der Vergeistigung der Evo lutionäre. Vieles, was dir fremd scheint, ist mir geläufig. Du darfst des halb nicht annehmen, man habe Geheimnisse vor dir und würde dich als Individuum nicht ernst nehmen.« »Kein Mensch der Erde könnte das Maß an Geduld aufbringen, das ich an den Tag gelegt habe.« »Dein Leben ist bedeutend länger als das der anderen...« »Aber mein Verstand ist derselbe! Meine Gefühle! Meine Erwar tungen an das Leben! Drei Mal schon wäre ich in der Zeit meiner un natürlichen Existenz eines natürlichen Todes gestorben! Drei Mal! Der Krug meiner Leidensfähigkeit ist bis zum Rand gefüllt!« »Geh und sprich mit deinen Geschöpfen. Sie können helfen.« »Die Dreibeine...?« Einen Moment schien es, als würde SaghaiTan diese Möglichkeit tatsächlich in sein Kalkül einbeziehen, doch er verwarf den Gedanken. »Ich werde neue Berechnungen machen müssen, die Planeten bahnen neu vermessen. Ich räume ein, mich irren zu können. Wenn die Legende erwacht...« »Der T'ott'amh-anuq.« »... waren alle meine Befürchtungen unbegründet. Aber ich muss den Zeitpunkt bestimmen. Auch jenen, an dem das unaussprechlich Böse Gestalt annehmen wird.« »Das ist wieder mein guter Junge«, gab sich der Schrein heiter. »Aufgeweckt und mit frischer Entschlusskraft.« Saghai-Tan verließ wortlos den Raum und suchte den Wissen schaftstrakt auf. Die Zeit schien ihm plötzlich zwischen den Fingern hindurch zu rinnen. 51
*
Ein neuer Tag. Zu Beginn nicht ungewöhnlich oder garniert mit Her ausragendem, im weiteren Verlauf hingegen wegweisend für Strömun gen, die die kommenden Jahrtausende verändern sollten. Saghai-Tan machte aufs Neue einen verärgerten Eindruck, als er den Kuppeldom betrat, sein ungefähres Zentrum aufsuchte, die Fäuste in die Hüften stemmte und trotzig zu der Wölbung hoch über ihm blickte. »Du kommst dir verdammt schlau vor, Gon'O'locc-uur, ist das nicht so?« Der Schrein antwortete ohne Umwege. »Übellaunigkeit hättest du mir an jedem Ort Col'Shan-duurs zu kommen lassen können, mein junger Freund.« »Aber nur dieser Ort ist groß genug, dass er meinen Unmut auf nehmen kann!«, giftete Saghai-Tan. »Anscheinend hast du dir vorge nommen, meine Arbeit an jeder denkbaren Stelle zu sabotieren. Wie sonst sollte ich die Zugriffsverweigerung auf das Archiv interpretie ren?!« »Eine reine Sicherheitsvorkehrung. Die Biomutation ist nicht aus reichend analysiert. Ich musste die Archivbereiche schützen.« Nicht die Stimme des Großvaters hatte zu dem Menschen gesprochen, der in drohender Haltung in der Zentrale stand, sondern die psionische Kom ponente. »Meine Berechnungen stützen sich auf astronomische Eckdaten der Basisprogrammierung. Ohne sie kann ich nicht weitermachen!« »Momentan kann ich die Sicherungen nicht aufheben; sie sind selbst steuernd und handeln eigenverantwortlich ohne meine Kontrol le.« »Das wird ja immer besser. Du sperrst dich selber vom Zugriff auf deine eigenen Wissensbereiche aus?« »Sie sind nicht alle in mir. Aufgrund ihrer enormen Größe wurden sie damals auf verschiedene Frequenzen ausgelagert. Die Abriegelung hat keinerlei Konsequenzen auf meine Überwachungs- und Steuerfunk tionalität.« 52
»Es hat Auswirkungen auf meine astrologischen Berechnungen, Schrein! Ich kann sie nicht beenden! Ich sehe einzig eine logarithmi sche Zunahme des negativen Potenzials. Es kommt wie eine Flut über uns und wird die Erde in eine tote Welt verwandeln! Erinnere dich an diese ausgestorbene Galaxis Te-Che'Lo-Ka-deh. Uns steht dasselbe Schicksal bevor! Vom T'ott'amh-anuq fehlt jede Spur! Wie kann ich das Leben auf diesem Planeten einem Mythos anvertrauen?« »Das brauchst du nicht. Vertraue auf die Voraussicht des Kollek tivs der Evolutionäre. Vertraue ihnen und ihren Herren.« »Das kann ich nicht!«, drehte Saghai-Tan den Kopf ruckartig zur Seite und schaute in imaginäre Fernen. Die Gefühle überschlugen sich in seinem Innern, brachten sein Herz zum Rasen und stachen in sei nen Organen. Er zwang sich zur Ruhe, baute die Aufregung Stück für Stück ab und ließ seinen Verstand das Karussell seiner Gedanken ab bremsen. »Wie es aussieht, bin ich der Einzige, der in dieser Situation Verantwortung übernehmen will.« »Eine Situation nicht der eigenen subjektiven Sichtweise unterzu ordnen wäre ein Zeichen größeren Verantwortungsbewusstseins...« »Ich sehe die Fakten klar und deutlich vor mir«, hielt Saghai-Tan an seiner Argumentation fest. »Daher wird mir auch nichts anderes übrig bleiben, als meine Vorurteile zu vergessen und den Priestern meine Aufwartung zu machen.« »Was möchtest du damit erreichen? Inwiefern können sie dich un terstützen bei dem, was du dir vorgenommen hast?« »Lass dich überraschen, denn ich verrate es dir nicht. Vielleicht kann ich auf diese Weise meine Ziele durchsetzen, ohne dass du sie vereitelst. Du und die Evolutionäre.« »Deine Einschätzung entbehrt jeglicher Logik«, trug Gon'O'locc uur kühl vor. »Jemanden in eine Position wie die deine zu setzen und permanent bei der Verrichtung seiner Arbeit zu behindern ist nicht nur in keinster Weise förderlich, sondern deutet auf Schizophrenie hin.« »Punkt für dich, Schrein. Die Gewebemutation ist anscheinend weit mehr fortgeschritten, als...« »Ihre Ausweitung liegt innerhalb eines vertretbaren Rahmens und zeigt absolut keine Auswirkungen auf mein Verhalten. Demgegenüber 53
liegen die Entscheidungen des Kollektivs auf einer physisch un erreichbaren Ebene. Das eine hat mit dem anderen rein gar nichts zu tun.« »Ganz bestimmt nicht«, meinte Saghai-Tan ironisch. »Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig.« Seine Schritte verhallten in der Weite des Kuppeldoms. * Außerhalb der Steuerzentrale herrschte ein gelbliches Licht vor. Diese Bezirke waren keinem Tag-Nacht-Rhythmus unterworfen, da hier nie mand lebte, dessen biologische Uhr nach solchen Grundsätzen tickte. Viele Jahrzehnte waren vergangen, seit Saghai-Tan die Außenbezirke dazu gehörte alles, was sich außerhalb des Zentraledoms befand - auf gesucht hatte. Was hätte er auch hier gewollt? Sein genetisches Expe riment begutachten, aus dem eine kleine Population grotesker, drei beiniger Kreaturen hervorgegangen war, die nicht einmal einen Kopf besaßen und deren Sinnesorgane aus einem feinen Haarkranz be standen? Er hatte herumgepfuscht, sich aus einem komplexen Genpool bedient und ohne Verstand Komponenten zusammengefügt. Was hätte schon Großartiges dabei herauskommen sollen? Man konnte es ver gleichen mit der Zeugung eines Kindes: Beide Elternteile stellten Gen material zur Verfügung, mischten es, ohne die Bestandteile oder Wechselwirkungen zu kennen und hofften auf ein vernünftiges Ergeb nis. So nahe der Göttlichkeit, sinnierte Saghai-Tan und fing die Eindrü cke seiner Umgebung ein. Und doch so weit von ihr entfernt. Du bist zu uns gekommen, klang eine Stimme auf, die er nicht ü ber seine Ohren wahrnahm. Du bist gekommen, dein Werk zu begut
achten.
Saghai-Tan reagierte, indem er sich nach allen Seiten drehte und den vermeintlichen Sprecher ausfindig zu machen versuchte. Der bär tige Mann hatte sich ein gutes Stück von der Zentrale entfernt und ein Gebiet mit gewölbten Vertiefungen erreicht. Darüber spannten sich flirrende, halbkugelförmige Energieschirme. 54
»So könnte man es ausdrücken«, schwindelte Saghai-Tan. Er rief sich die außerordentlichen Geistesfähigkeiten der Dreibeine in Erinne rung, von denen der Schrein gesprochen hatte. Ohne Schwierigkeiten konnten sie seine wahre Motivation überprüfen und deshalb schränkte er auch sofort ein: »Allerdings ist dies nur die halbe Wahrheit.« Immer noch war niemand zu sehen. Saghai-Tan fühlte sich unwohl, nicht zu sehen, mit wem er sich unterhielt, wohingegen er selbst überaus deut lich für den Unsichtbaren wahrzunehmen war. »Ich habe ein Anliegen, das ich mit euch besprechen möchte.« Er ging auf eine Senke zu, deren Durchmesser weitaus größer war als der der anderen. Kurz vor einer Berührung erlosch der Energie schirm. Neugierig trat Saghai-Tan zum Rand vor, blickte hinab in die Vertiefung und sah eine Reihe Geschöpfe, weit über zwei Meter groß, die in den unmöglichsten Winkeln entlang der Ausbuchtung wie in Stein gemeißelt dastanden. In eine Gestalt kehrte Leben zurück. Sie kam auf den Menschen zu, der immer noch am Rand der Senke stand und baute sich neben ihm auf. Die rumpfstarken Tentakel stemmten sich wie stählerne Pfeiler in den Grund. Mein Name ist Nukk-Ar F'att-Enoq, signalisierte das Wesen, das Saghai-Tan gut drei Köpfe überragte, mit einem mentalen Impuls. »Du darfst ruhig normal mit mir reden. Ich hoffe, du bist nicht der Meinung, mich damit zu beleidigen.«
Auch wenn wir Sprechmembranen haben, reden wir nie unterein ander. Diese Form der Kommunikation erscheint uns recht primitiv. Gut, das zu wissen, meinte Saghai-Tan zu sich selbst. Natürlich werden wir mit Rücksicht auf dich gerne unsere Ge wohnheiten anpassen. Wir wissen, dass wer ständig nur redet, sich schwer tut, seine Gedanken zu kanalisieren. »Danke, es wird...«, antwortete Saghai-Tan, unterbrach sich dann jedoch selbst, weil er erneut seine Stimme benutzte. Danke, wieder holte er die Worte in seinem Kopf. Es wird schon gehen. Du brauchst uns nichts zu beweisen, kam ihm F'att-Enoq weiter entgegen. Wir wissen sehr wohl um die menschlichen Unzulänglichkei
ten.
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Dann bin ich bei euch ja wohl in den besten Händen, spöttelte
Saghai-Tan und grinste das Wesen an, dessen Haarkranz sich zu ihm herabgesenkt hatte und sich in gleichförmiger Wellenbewegung be fand. Eine Weile schien der dreibeinige Koloss, dessen Gattung SaghaiTan in Anlehnung an die Schwesternschaft von Bal-Shidomh mehr scherzhaft als Priester bezeichnete, sein kleineres Gegenüber zu stu dieren, bis sich eine weitere Kreatur bemerkbar machte.
Sag an, Saghai-Tan. Bei welchem Unterfangen können wir dir mit unseren bescheidenen Fähigkeiten dienlich sein? Nukk-Ar F'att-Enoq enthob den Menschen vorerst einer Antwort und zeigte mit einem seiner Tentakel hinab in die runde Höhlung. Es
ist der Erstgeborene, der dich zu sprechen wünscht.
Der Erstgeborene oder Älteste löste sich von der Senkenwand und begab sich in die Mitte der Ausbuchtung.
Im Namen unseres kleinen Volkes heiße ich dich willkommen.
Saghai-Tan erwiderte den Gruß. Seine Unsicherheit im Beisein der plumpen, ungestalten Riesen konnte er fast gänzlich ablegen. Nach dem Austausch der üblichen Floskeln kam Saghai-Tan auf sein eigent liches Anliegen zu sprechen. Er holte sehr weit aus und berichtete al les, was in diesem Zusammenhang von Interesse sein mochte. Kein einziges Mal wurde er von den Priestern unterbrochen. Und auch, nachdem er geendet hatte, erfolgte nicht sofort eine Reaktion auf das Erzählte. Beinahe wollte Saghai-Tan sich der Vorstellung hingeben, die Dreibeine besäßen nicht genug Verstand, die richtigen Schlüsse zu ziehen oder seinen Ausführungen folgen zu können. Doch nach zwei Minuten des Schweigens, während dessen die Priester sich unbemerkt von dem Menschen untereinander verständigt und abgesprochen hat ten, wandte sich der Älteste wieder an Saghai-Tan.
Eine bedeutsame Geschichte und eine kühne Hypothese. Die von dir entwickelte Idee ist ausbaufähig. Wir werden oberflächliche Korrek turen vornehmen müssen. Ansonsten, Saghai-Tan, sei unserer bedin gungslosen Unterstützung versichert. * 56
»Das Abstrahlfeld ist zu schwach, Schrein, der Radius wesentlich zu klein.« Saghai-Tan hatte sich nach der Konferenz mit den Priestern in seine Unterkunft zurückgezogen und war erst sehr viel später in den Dom gegangen, wo er Gon'O'locc-uur nun neue Anweisungen gab. »Es ist auf den Transport einer Person ausgerichtet. Deiner Per son. Eine Erhöhung der Leistung ist in meinem Ressourcenplan nicht vorgesehen.« »Ändere den Plan. Berücksichtige einen Transfer von einigen Hundert - nein, besser einigen Tausend - Personen.« »Hat es mit dem Gebilde zu tun, das die Priester für dich errich ten?« »Oh«, tat Saghai-Tan verwundert. »Haben sie schon angefangen, ja?« »Möchtest du nicht mehr, dass ich wie dein Großvater bin?« »Jetzt, wo du es sagst«, überlegte der Angesprochene, »fällt mir auf, dass du seine Charakteristika vernachlässigt hast. Ist aber nicht schlimm...« »Weihst du mich in deine Pläne ein?« »Kommt darauf an, auf wessen Seite du stehst. Auf meiner oder auf der des Kollektivs.« »Ich sehe da keinen Unterschied«, erklärte Gon'O'locc-uur. »Die Evolutionäre setzen höchstes Vertrauen in dich. So wie ich.« »Mir ist wichtig, dass du mir keine Steine in den Weg legst«, wur de Saghai-Tan konkret. »Sieh in mir keine Interessenvertretung irgendeiner Person oder Gruppe. Meine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Schiff und seiner Bewohner. Wenn dein Anliegen also ein größeres Transporttor ist, so sollst du es bekommen.« »Es wird eine Burg«, schloss Saghai-Tan zusammenhanglos an. »Die Priester bauen eine Festung, eine Ausbildungsstätte, einen Ort der Versammlung - nenne es, wie du willst. Ich werde Men schenmassen um mich scharen, das Wissen der Evolutionäre und der Priester verbreiten und dadurch Völker heranbilden, die dem Wirken der negativen Mächte nicht mehr tatenlos gegenüberstehen.« 57
Gon'O'locc-uur sah das Vorhaben nicht ganz so optimistisch. »Du willst friedliche Menschen zu Kriegern formen. Weißt du nicht, welche karmische Belastung damit verbunden ist? Für jeden von euch, besonders für dich.« »Die Erde braucht Menschen, die sich zu wehren verstehen!«, er hob Saghai-Tan leidenschaftlich seine Stimme. »Ackerbauern und Viehzüchter haben dem Unaussprechlichen nichts entgegenzusetzen! Bal-Shidomh ist eine Trutzburg des Bösen geworden! Exon ist nicht viel mehr als eine gewaltige Sklaveninsel! Wenn der Kontinent fällt, dann folgt ihm die Welt! Nur das will ich verhindern! Nur den totalen Untergang!« »Das Feld ist bereitet, Saghai-Tan, doch dieser Spielzug deiner seits ist darauf nicht vorgesehen.« »Die Vorsehung wird einzig in der vollkommenen Auslöschung der Menschheit enden!«, rief Saghai-Tan aufgebracht. »Dann bleibt vom Fanal des Lichts, das Gh'Ea einst sein soll, nur schwarze Schlacke üb rig!« Die biologisch-psionische Komponente, die der Schrein war, schwieg. Als das Herzrasen des Menschen nachgelassen hatte, sagte sie: »Wie sehen deine weiteren Anweisungen aus?« »Du hast sie erhalten!«, entgegnete Saghai-Tan barsch. »Ich gehe hinunter auf die Erde und suche mir Männer und Frauen, die auch in Zukunft in Freiheit leben wollen. Es mögen einige Wochen vergehen, bis ich wieder hier bin. Wenn ich mit den Auserwählten eintreffe, dann legen wir den Grundstein für eine großartige, blühende Zivilisation.« »Frieden willst du schaffen, indem du Gewalt ausübst. Selbst zwei Jahrhunderte scheinen nicht zu reichen, einem Menschen ein höheres Bewusstsein beizubringen.« »Ich gehe jetzt durch den Transmitter«, überging der Bärtige den subtilen Vorwurf. »Das neue Abstrahlfeld sollte am besten im Freien in der Nähe der Festung stehen. Trage Sorge dafür, dass es groß genug ist. Ebenso sein Gegenstück auf der Erde. Möglicherweise bringe ich gleich ein ganzes Heer mit.« Die Luft flimmerte einige Schritte voraus. Die Konturen eines zwei Meter durchmessenden Ovals wurden sichtbar. Saghai-Tan trat hin 58
durch, verschwand von einer Sekunde auf die nächste und das Oval erlosch. * Vier Tage vergingen, bis Saghai-Tan mit knapp zwei Dutzend Anhän gern auf Col'Shan-duur materialisierte. Zutiefst ehrfürchtig drängten die Erdenmenschen sich im Zentraledom zusammen, begutachteten aus ungläubigen Augen die neue Umgebung - die an ein Him melsgewölbe erinnernde Kuppel und das einen bodenlosen Abgrund symbolisierende Fundament - und folgten Saghai-Tan durch ein Schott aus sechs verkapselten Stahltoren, die sternförmig auseinander glitten. Draußen empfing sie nicht nur das sich nie verändernde gelbliche Licht, sondern ein erster Eindruck auf das, worauf sie sich eingelassen hatten. Selbst Saghai-Tan zeigte sich im Innern beeindruckt von der hoch aufragenden Silhouette, die hinter einem gewaltigen Generator turm wie ein kleines Gebirge den Blick auf sich lenkte. Die Priester hatten es innerhalb kürzester Zeit praktisch aus dem Nichts erschaffen, hatten kraft ihrer Gedanken freie Energie in Materie umgewandelt und ein grandioses Bollwerk geschaffen. »Ist es das, wovon du sprachst?«, erkundigte sich ein Mann bei Saghai-Tan. »Unsere neue Heimat?« Er verengte die Augen zu Schlit zen, versuchte dem fast schwarzen Schattenriss Details zu entreißen, was aus dieser Entfernung kaum möglich war. »Eine dunkle Zitadelle.« »Das ist es«, bestätigte der Auserwählte. »Ihr seid die Ersten, der Grundstein einer neuen Zukunft.« Der Tross aus über zwanzig Männern und Frauen setzte sich in Bewegung. Als sie den Generatorturm passierten, flammte ein neues, enorm großes Oval auf und legte einen milchigen Schleier über die Zitadelle, die immer noch einen guten Kilometer entfernt war. Das Transmittertor!, stellte Saghai-Tan fest. Gon'O'locc-uur hat
Wort gehalten!
Hundert Mannslängen an seiner größten horizontalen Ausdehnung und mehr als hundertfünfzig in der Höhe. Die Wanderer schritten ein fach hindurch und setzten den Fußmarsch zur Burg fort. Das Abstrahl 59
feld sendete nur immer in eine Richtung. Von dieser Seite her war es, als ginge man lediglich durch feinen Nebel.
Allein der Anblick der Festung erfüllt mein Herz mit beglückender Raserei, konnte Saghai-Tan seine Gefühle kaum im Zaum halten und
verdrängte die Gedanken an jene Zeiten, in denen er sich von den Priestern, seiner eigenen Schöpfung, abgewandt hatte. Was sie hier vollbracht hatten, war eine Meisterleistung. Wenn die Geometrie der
Burg sowie die energetische Vernetzung auf die des Sterntetraeders abgestimmt sind, haben wir ein grenzenloses Betätigungsfeld. Schon die Atmosphäre im Inneren des Bauwerks wird läuternd auf das Be wusstsein einwirken und die Voraussetzungen für eine lange und effi ziente Ausbildung schaffen.
Durch eine felsige Öffnung, gewaltig in ihren Ausmaßen und wie aus Millionen Jahre andauernder Erosion entstanden, traten sie ein in ihre neue Heimstatt. »Willkommen auf Col'Shan-duur!«, sagte Saghai-Tan feierlich. »Willkommen in der dunklen Zitadelle, Layshi-Pan!« »Layshi-Pan?«, fragte einer. »Was bedeutet das?« »Es ist ein altes Wort einer alten Sprache. Fast vergessen. Bis heute. Seine Bedeutung ist vielfältig, steht in Verbindung mit dem Le ben an sich, der Natur, einem unbeugsamen Willen.« »Geht es nicht um die Vertreibung böser Mächte?« Eine junge Frau hatte die Frage gestellt. »Ja«, meinte ein anderer enthusiastisch. »Es geht den Höllenkräf ten an den Kragen!« »Höllenjäger sind wir!«, schrie ein weiterer und zwei, drei stimm ten ein. »Also gut. Höllenjäger. Wie es euch gefällt. Aber vergesst nie eure Wurzeln. Layshi-Pan ist nicht nur ein sehr altes, sondern auch ein sehr kraftvolles Wort.« Zustimmendes Gemurmel. »Wie geht es von nun an weiter? Was gibt es für uns zu tun?« Saghai-Tan war natürlich darauf vorbereitet. Seine Gespräche mit dem Ältesten und den anderen Priestern waren äußerst fruchtbar ver 60
laufen. Wenn sie alles wie geplant arrangiert hatten, war die Ausbil dung der anwesenden Menschen bereits im Gange. Ein warmer Hauch streifte Körper und Seele der Gruppe. Sie bilden den Anfang, dachte Saghai-Tan. Sind wir erfolgreich,
werden wir den Vormarsch der negativen Mächte ohne Erbarmen stoppen! *
Jahrzehnte zogen ins Land... Saghai-Tan hatte annähernd fünftausend Layshi-Pan in der dunk len Zitadelle versammelt. Einige Hundert nur hatten eine vollständige Ausbildung genossen; die meisten arbeiteten sich durch die unteren Einweihungsgrade nach oben vor. Aus aller Herren Länder hatte man sie rekrutiert. Nicht wenige waren von selbst gekommen und über Kontakte der Unterprivilegierten, mit denen die Höllenjäger eng ver bunden waren, nach Col'Shan-duur geführt worden. Es zeigte sich, dass auch auf anderen Kontinenten hoch zivilisierte Völker lebten, die eine durchaus mit Exon vergleichbare Entwicklungsstufe aufwiesen. Weise Greise und Greisinnen hatten sich eingefunden, ihre Lehren zu teilen und zu ergänzen. Junge Männer und Frauen waren dem Lockruf spiritueller Erleuchtung gefolgt, auf dass sie den Dunkelmächten die Stirn zu bieten fähig sein würden. Menschen jeder Couleur fanden vorurteilsfrei zusammen, um einem gemeinsamen Ziel entgegenzu streben. Allein das war ein Schauspiel, wie es in der Vergangenheit selten stattgefunden hatte und das in naher und ferner Zukunft immer rarer werden sollte. »Sie wissen, dass wir da sind«, ließ der Begründer des Layshi-PanOrdens die Menge wissen. »Das Matriarchat der Priesterinnen von E xon - hervorgegangen aus der Schwesternschaft der zwölf Erhabenen von Bal-Shidomh - hat Kenntnis von den Höllenjägern erlangt. Unsere Verbündeten in der Unterschicht haben Verluste hinnehmen müssen; die Priesterinnen sind nicht zimperlich mit ihnen umgegangen. Doch die Zeit war reif, ans Licht der Öffentlichkeit zu treten. Lange haben wir uns im Verborgenen aufgehalten, haben Schriften studiert und 61
Praktiken erlernt, die unabdingbare Voraussetzung sind für unseren bevorstehenden Kampf. Fast drei Jahrzehnte braucht ein Layshi-Pan, um alle Lehren verinnerlicht und alle Prüfungen absolviert zu haben. Daher ist nur eine elitäre Minderheit unter euch, die den höchsten Einweihungsgrad erreicht hat. Doch das soll die anderen nicht ab schrecken. Im Gegenteil: Nehmt euch ein Beispiel an den vollendeten Layshi-Pan. Lernt zu kämpfen wie sie. Lernt zu meditieren wie sie. Erfahrt ihre Güte und Liebe der Schöpfung gegenüber. Denn dann werdet auch ihr irgendwann leuchtende Vorbilder sein für die nachrü ckenden Generationen.« Saghai-Tan stand auf einem Podest, das gelegentlich für Trai nings- und Schaukämpfe genutzt wurde. Er richtete den Blick in die Reihen der Anwesenden, sah jeden Einzelnen an und doch keinen von ihnen direkt. Sie standen alle hinter ihm, die verdienten Recken eben so wie die Neuen und die Jungen. In der Schlacht war jede Hand wich tig, jeder Arm, der eine Waffe führen und jeder Geist, der einen men talen Angriff auslösen konnte. Saghai-Tan wusste, dass der Tag der Konfrontation nicht mehr weit war, spürte es auf dieselbe Weise, wie der Seemann aus der Meeresbrise vom bevorstehenden Sturm Kennt nis erhielt. Die Zeichen mehrten sich. Die Berechnungen der Priester geschöpfe fixierten den negativen Kulminationspunkt. Noch war Zeit und der heutige Abend sollte vorerst eine Aktion anderer Art einleiten. »Oft schon haben wir die Rituale der Matern von Exon gestört. Vielfach haben wir eingegriffen, wenn Kinder ihren Familien entrissen werden sollten, um ein Gleichgewicht der rivalisierenden Schichten dieses menschenverachtenden Kastensystems herzustellen. Niemals zuvor haben wir uns zuerkennen gegeben. Doch heute soll dies anders werden! Heute werden wir mit Stolz den Namen Layshi-Pan in die Lande tragen und gezielt gegen Bal-Shidomh vorgehen, der zu einer Stätte barbarischer Opferungsrituale entweiht wurde! Unsere Verbün deten haben uns über dieses Vorhaben informiert. Und wir werden diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen! Zeigen wir den Priesterinnen ihre Grenzen auf! Zeigen wir ihnen, dass wir uns nicht weiter knechten und demütigen lassen! Denn wer ein Volk in die Knie zwingen will, der fordert alle Menschheitsstämme heraus! Heute Nacht 62
treten wir den Beweis an, dass wir für unsere Brüder und Schwestern einstehen und ihr Leid nicht weiter hinnehmen! Das ist unsere Aufga be! Dafür haben wir gelernt und gelitten! Denkt jedoch stets daran, dass wir Gleiches nicht mit Gleichem vergelten! Ich will keine Toten unter den Priesterinnen! Ich will nur blankes Entsetzen. Wir setzen einen Markstein, auf dem zu lesen sein wird: ›Bis hierhin und nicht weiter!‹ Und dieser Aussage müssen wir unter allen Umständen Nach druck verleihen!« Die Stimmung war aufgewühlt. Jeder sehnte die Auseinanderset zung herbei, auch wenn das hohe Bewusstsein sich allgemein diszipli niert verhielt. Je nach Einweihungsgrad gab es Unterschiede im Aus bruch des Gemüts. Die jungen Wilden fühlten sich an die Kette gelegt und witterten die Freiheit, wohingegen die Älteren sich in Erwartung des Bevorstehenden in Besonnenheit übten. Von Emotionen jedweder Art hingegen konnte sich kaum eine Person freisprechen. »In wenigen Stunden wird der Erdtempel von Bal-Shidomh erneut Zeuge blutiger Zeremonien sein. Dem werden wir begegnen! Gemein sam mit einer Hundertschaft nur begebe ich mich in den Rachen der Bestie, die - noch nicht ganz erwacht - blutgierig neuer Menschenopfer harrt. Stechen wir der Bestie in die Brust! Nicht als Gefahr für Leib und Leben, doch als deutliches Zeichen des Schmerzes an einer Stelle, die unerreichbar geglaubt wurde!« Noch einmal sah Saghai-Tan sich seine Gefolgschaft an, zogen seine Augen einen weiten Kreis über den Innenhof der Festung und wieder zurück zur Mitte. »Gehen wir durch das Tor, Höllenjäger! Und von dort aus auf ge radem Weg nach Bal-Shidomh!«
5. Kapitel Tugend der Reue Die Nacht legte sich über El'A'Mon-Rhai. Das geschäftige Treiben der Händler und Kaufleute, die Attraktionen und Darbietungen von Gauk lern und Tänzern nahmen ein Ende. Das Drängen auf den Straßen und 63
in den Gassen verlagerte sich in diesen Stunden in die Spelunken und einschlägigen Etablissements. El'A'Mon-Rhai war die größte Stadt auf dem Kontinent und befand sich am äußersten Rand des direkten Ein flussbereichs des Priestermatriarchats. Die Fesseln und Knebel waren hier bei weitem nicht so deutlich spürbar wie im unmittelbaren Umfeld der Pyramide mit ihren Eckpfeilern Bal-Shidomh und Cor'Shan. Das Leben war weitestgehend frei, die Menschen konnten sich neben der Arbeit ihren Vergnügungen hingeben, hatten damit allerdings nicht nur eine bunte, multikulturelle Kulisse geschaffen, sondern ebenso die Maßstäbe für Sitte und Moral entsprechend niedrig angesetzt. So bot die Stadt sicheres Terrain für diejenigen, die weniger lauteren Absich ten nachgingen, das Licht des Tages mieden und erst nach Einbruch der Dunkelheit ihren Beschäftigungen nachgingen. »Du weißt also, wo ich die Layshi-Pan finden kann?«, fragte die Frau, deren Gesicht von einem schwarzen Tuch halb verdeckt war. Sie trug ebenfalls eine schwarze Kutte mit Kapuze und verbarg auf diese Weise ihre wahre Identität. Ihre Augen leuchteten wie Elfenbein, als sie den Mann erwartungsvoll ansah. »Ich weiß eine ganze Menge«, sagte er sachlich und bedeutete seiner Gesprächspartnerin, ein weiteres Stück in die Häusernische zu rückzugehen, um von der Straße aus nicht beobachtet werden zu kön nen. »Aber ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann.« Der Mann hieß Zid-Manjor. Sein Blick verweilte nie lange auf dem Gesicht der verhüllten Frau und wanderte stets zur Straße hinüber. Auch wenn El'A'Mon-Rhai weit vom Zentrum der Macht des Matriar chats entfernt lag, musste man sich doch vor den Adepten der Ersten Prioren hüten. Geriet man in ihre Fänge, machten sie oftmals kurzen Prozess. Neben ihren Waffen, die sie vortrefflich zu handhaben wuss ten, verfügten sie anscheinend über eine transzendente Verbindung zu den Priesterinnen, die ihre Macht auf mentalem Wege fokussieren konnten und einem Delinquenten den sofortigen Tod bescherten. »Für mich ist es wichtig, mit den Layshi-Pan in Kontakt zu treten«, ging die Frau auf den Vorwurf nicht ein. »Wenn ich einen Gedanken austausch anregen könnte, ließen sich die Ketten der Sklaverei viel leicht brechen.« 64
»Wer hat dir von mir erzählt? Und warum? Unsere Verbündeten sind äußerst vorsichtig. Ich habe Verhaftungen gesehen, die die Adep ten durchführten. Die Gefangenen starben noch an Ort und Stelle ei nen scheußlichen Tod. Man hörte ihre Knochen brechen und sah das Fleisch von ihrem Körper wegspritzen, ohne dass sie jemand berührt hätte.« »Ich kenne die Methoden der Matern«, antwortete die Frau, die wusste, dass jedes weitere Wort wohl überlegt sein musste, wenn sie das Vertrauen von Zid-Manjor erringen wollte. Sie erzählte von dem Unterprivilegierten, dessen Familie sie nun schon ein dreiviertel Jahr aufsuchte. Irgendwann war das Gespräch auf die Layshi-Pan gekom men. Und irgendwann war der Name Zid-Manjor gefallen. »Sei es wie du sagst«, blieb Zid-Manjor zurückhaltend. »Gute Um gangsformen und seichtes Gerede bringen dich bei deinem Bemühen nicht weiter. Ich überlege, ob ich dich einfach stehen lasse und gehe.« »Tu, was du tun musst. Was hält dich ab?« Zid-Manjor fixierte die Augen der Frau vor ihm und sie wich sei nem prüfenden Blick nicht aus. »Du strahlst etwas aus«, meinte er schließlich, »was mich zaudern lässt. Du machst mich neugierig und trotzdem befürchte ich, mich dem Leichtsinn zu ergeben.« Unangenehm zogen sich die Sekunden des Schweigens in die Länge. Mit einem unhörbaren Seufzer streifte die Frau die Kapuze ab und nahm das Tuch von ihrem Gesicht. Sie setzte alles auf eine Karte und riskierte, dass ihre monatelangen Bestrebungen zum Aufbau einer Vertrauensbasis völlig umsonst gewesen waren. »Ich bin Mater Druuselis, eine der höchsten Ordensschwestern der Ersten Prioren. Und ich will, dass du mich zu den Layshi-Pan führst!« * Zid-Manjors Entsetzen war echt, doch er fing sich erstaunlich schnell wieder. Sein analytischer Verstand erfasste die Situation und besch wichtigte die emotionalen Wogen. 65
»Wenn das eine Falle wäre«, sagte der Kontaktmann, »hättet ihr mich wahrscheinlich längst festgesetzt und Informationen aus mir her ausgequetscht. Solltest du es tatsächlich ehrlich meinen...?« »Würde ich mich sonst demaskieren? Würde ich ein knappes Jahr Verbindungen aufbauen, wenn mir nicht wirklich an einem aufrichtigen Austausch läge?« »Könnte Teil eines Plans sein. Ich bin die letzte Hürde vor den Layshi-Pan, den Höllenjägern.« »Ich hörte von diesem eigenwilligen Namen.« »Was um alles in der Welt willst du, Mater Druuselis? Wozu die Heimlichtuerei? Und warum ausgerechnet an diesem Ort?« ZidManjors Augenbrauenspitzen hoben sich über der Nasenwurzel. »Bist du im Endeffekt gar eine Überläuferin...?« Die Priesterschwester atmete hörbar ein und aus. »So kannst du es beschreiben.« Zid-Manjor schüttelte fast mitleidig den Kopf. »Ich sehe keinerlei Veranlassung, dir Glauben zu schenken. Und falls du auf die Idee kommen solltest, dir mein Wissen mit Gewalt oder dunklem Zauber anzueignen, werde ich mich auf der Stelle selbst töten.« Mater Druuselis hatte keinen Grund, an dieser Aussage zu zwei feln. »So weit muss es nun wahrhaftig nicht kommen. Ich habe wichti ge Informationen für eure Führer. Ich verlange nichts im Gegenzug, außer, dass ich persönlich vorsprechen darf.« »Warum das?«, erwiderte Zid-Manjor misstrauisch. »Sage mir, was du weißt und ich leite es weiter.« »Die Sache ist leider nicht ganz so einfach«, bekam die Stimme der Ersten Priorin einen unnachgiebigen Tonfall. »Meine Mitteilungen sind von äußerster Brisanz. Mein Leben wäre nichts mehr wert, wenn ich sie unbedacht weitergäbe, ohne Sorge dafür zu tragen, dass sie die richtige Adresse erreichten.« »Was kann so immens wichtig sein...« »Glaube mir! Es ist wichtig! Sehr sogar! Mehr, als du dir vorstellen kannst!« 66
Der Mann aus den Reihen der Layshi-Pan wiegte den Kopf. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtbar. »Dann bittest du auf diese Weise um... Asyl?«, fragte er vorsichtig und suchte im Gesicht der Frau nach einer Regung, die seine Vermu tung bestätigte. »Falls in euren Statuten etwas Derartiges existiert... - ja!« Zid-Manjor lachte. »Ich kann beim besten Willen nicht sagen, was ich davon halten soll. Auf der einen Seite begibst du dich allein und schutzlos in diese Stadt, in der das Wort des Matriarchats zwar zählt, doch nicht überall anzutreffen ist. Auf der anderen Seite aber würde ich dir Zugang zum Allerheiligsten des Layshi-Pan-Ordens gewähren. Erlaube mir den Vergleich mit einem Tier, das seinem Schlächter frei willig die Halsschlagader anbietet.« »Die Situation ist eine ganz andere«, beharrte Mater Druuselis. »Wenn du das doch nur sehen könntest!« »Du hast dir viel Zeit genommen, in unsere Kreise vorzudringen. Auf ein paar Wochen mehr wird es nun nicht mehr ankommen.« ZidManjor machte eine Geste des Bedauerns. »Verzeih, wenn ich deine redlichen Absichten in Abrede stelle, aber ich kann dich nicht zu den Höllenjägern bringen. Ich habe deine Friedfertigkeit bereits zu Anfang gespürt, sonst wäre ich nicht mehr hier. Trotzdem bin ich mir meiner Sache nicht sicher und weiß um die mannigfaltigen Möglichkeiten der Täuschung. Hier und heute, Mater Druuselis, werden wir nicht zusam menkommen.« »Du weißt nicht, was ich tun könnte, wenn...« Sie ließ die Dro hung offen und presste die Zähne aufeinander, dass ihre Kieferkno chen knackten. »Diese Einstellung ist unserem Gespräch kaum förderlich. Außer dem ist der Tod mein ständiger Begleiter bei diesen Treffen, wenn du dich erinnerst. Dies habe ich als letzte Konsequenz akzeptiert.« »Somit werde ich deine Entscheidung wohl ebenfalls akzeptieren müssen, Layshi-Pan. Das bist du doch, nicht wahr?« Die Priesterin war sich sicher, es nicht nur mit einem Laufburschen zu tun zu haben. Schlussendlich jedoch hatte es keine Bedeutung. Den Bruchteil eines Lidschlages war sie versucht, den Geist des Mannes mit roher Gewalt 67
einzunehmen, das Wissen um den Standort des Layshi-PanStützpunktes aus seinem Bewusstsein heraus zu brechen. Indes, sie gab dem Gefühl nicht nach. Was hätte sie erreicht? Ihr Anliegen war nicht der Kampf. Nahm man es genau, dann kam sie als Bittstellerin, als Abtrünnige, die die Grausamkeiten der eigenen Glaubensvereini gung nicht mehr ertragen konnte und diese ans Messer zu liefern ge dachte. Dass man ihr diesen Wandel nicht abkaufen würde, damit hat te sie gerechnet. Doch es war einen Versuch wert gewesen. Alleine nämlich konnte sie es mit den Schwestern nicht aufnehmen. Alleine würde sie nur ein einsames Grab finden, ohne das Geringste erreicht zu haben. »Ich verlasse die Stadt wieder«, sagte sie bitter. »Es ist ein weiter Ritt bis zur Pyramide. Doch in vier Tagen ist meine Anwesenheit drin gend erforderlich.« »Ja, reite heim, Mater. Ich werde dein Begehr nicht vergessen.« Schon wollten sich die Wege der beiden Menschen trennen, aber die Vorsehung wollte es anders. »Bleib noch, Priorin!«, zerschnitt eine gedämpfte Stimme die Nacht. »Saghai-Tan!«, rief Zid-Manjor erstaunt. »Ich wusste nicht, dass du...« »Große Veränderungen liegen in der Luft. Meine Anwesenheit ist an allen Brennpunkten erforderlich.« Er setzte eine gutmütige Miene auf und sprach Mater Druuselis an. »Du bist nicht wie die anderen deines Schlages, Priesterin. In dir schlägt ein rechtschaffenes Herz. Daher möchte ich mir anhören, was du zu sagen hast.« »Das ist sehr großmütig von dir«, war die Erste Priorin überrascht. Sie hatte sich bereits dem Gedanken gefügt, kein Gehör zu finden. »Warten wir es ab. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnli che Maßnahmen. Versuchst du uns zu betrügen, wird es dein Ende bedeuten.« * 68
Spät in derselben Nacht noch hatte Mater Druuselis den Rückweg an getreten. Ihr Einsatz war nicht verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte: Sie war nicht vorgedrungen zum Sammelpunkt der Layshi-Pan, der von den Unterprivilegierten ›dunkle Zitadelle‹ oder ›Col'Shan-duur‹ genannt wurde. Doch sie hatte den Anführer dieser Bebellenbewegung gesprochen, den Kopf des Ordens. Sie hatte von den Plänen ihrer Mit schwestern berichtet, die genau genommen die Pläne jenes Wesens waren, das vom Grund der Augen Cor'Shans an die Oberfläche dieser Welt aufstieg. Es besaß keinen Namen oder lediglich einen, der von menschlichen Stimmwerkzeugen nicht wiedergegeben werden konnte. Er war ein Gott und hatte seine Macht nicht nur mit der teilweisen Zer störung der Tempelanlage von Bal-Shidomh bewiesen, sondern eben falls beim Bau der Pyramide des Matriarchats, die viel mehr war, als man von außen sehen konnte. Zu Beginn waren die Ziele dieser Entität diffus gewesen, doch mit dem Kennen lernen seiner fremdartigen Denkweise hatte sich der Schleier des Unverständnisses gelichtet. Der Allergrößte war auf der Suche nach Seelen, wollte Menschenleben aussaugen und sich einverleiben. Damit schuf er sich selbst ein unvor stellbares Machtpotenzial, stellte Armeen von Seelenlosen auf, die sich gegenseitig in seinem Namen zerfleischten. War er erst einmal stofflich geworden, also vollkommen in die materielle Welt integriert, würde ein Verpuppungsprozess einsetzen, der die Erde in ein riesiges Leichen tuch hüllte, bis alles Leben - ob Mensch, Tier, Pflanze oder Bakterie von ihr getilgt war. Dann erst wollte er die Erde, diesen toten Ge steinsbrocken, verlassen auf der Suche nach anderen Welten, die er vergiften und des Lebens berauben konnte. Die Opferungen in BalShidomh bereiteten einzig die Bühne für den endgültigen Schlag vor, stärkten die Präsenz des Unaussprechlichen und beschleunigten seine Niederkunft. Die physische Geburt des dunklen Gottes war nah, so hatte Mater Druuselis Saghai-Tan mitgeteilt. Und ein großes Opferungszeremoniell stand bevor, um den Übergang einzuleiten. Der genaue Tag und die Stunde war den Höllenjägern nun bekannt. Einerseits fühlte die Priesterin Erleichterung über ihre Tat. Sie hat te dem Treiben der Ersten Prioren nicht mehr länger tatenlos zusehen 69
können. Was diese Sache betraf, schlugen zwei Herzen in ihrer Brust. Eines für das Matriarchat, das durchaus positive Grundsätze bein haltete und eines für die Menschen des Kastensystems und alle ande ren Menschen der Erde, denen unsagbares Leid bevorstand, wenn sie dieses nicht bereits erfuhren. Demgegenüber nistete sich Be klommenheit in ihrem Innern ein, Ungewissheit darüber, ob der Verrat entdeckt worden war und man sie zur Rechenschaft zog. Der Tod war es nicht, den die Mater fürchtete. Es war die Aussicht, ein sinnloses Opfer dargebracht zu haben. Wurde ihre Untreue aufgedeckt, würde der Angriff der Layshi-Pan ins Leere laufen und sie schlimmstenfalls sogar den Tod finden. Unter Umständen konnte dies das Ende der Rebellion und den endgültigen Sieg des Allergrößten einläuten. Ich muss äußerste Vorsicht bewahren, hielt sich die Frau immer wieder vor, während sie im scharfen Galopp durch die Wälder und über grüne Ebenen jagte. Jedes Wort, das ich sage, muss wohlüber
legt sein. Ich darf keinen Anlass für Zweifel und Misstrauen geben.
Eine Erklärung für ihre lange Abwesenheit würde nicht vonnöten sein; es gab immer wieder den einen oder anderen Landstrich zu mis sionieren oder Aufstände einzudämmen. Die persönliche Anwesenheit einer Priorin bewirkte da oftmals Wunder. Drei Tage und Nächte, in denen sie nur zwei, höchstens drei Stunden geschlafen hatte, vergingen, ehe sie die Pyramide mitten im Urwald erreichte. Sie verbarg die Erinnerung an die vergangenen Tage tief in ihrem Bewusstsein, da der Unaussprechliche sie sonst aufge spürt und die Priesterschwestern informiert hätte. Mater Druuselis rechnete sich gute Chancen aus, die Täuschung aufrechterhalten zu können. Ein Hauch von Ungewissheit allerdings blieb und er drängte sich sogar weit vor, als die Frau von Ylissa, einer jungen Priesterin zweiten Grades, in Empfang genommen wurde. »Ich grüße dich, Mater Druuselis«, freute sich Ylissa. Sie trug ein weites dunkles Gewand und Riemenstiefel, stand vor den Stallungen und deutete eine Demutsbezeugung an. »Du warst lange ohne ersicht lichen Grund fort.« Eine Kontrollfrage?, überlegte Druuselis. Hatte man die junge Priesterin vorgeschickt, um unverfänglich Informationen einzusam 70
meln, sie in Widersprüche zu verstricken und ihr das Ergebnis in einer spontan einberufenen Versammlung an den Kopf zu werfen? »Brauche ich einen Grund, um das Wort des Allergrößten bekannt zu machen?«, entgegnete sie forsch, um sich keine Blöße zu geben. »Nein, entschuldige«, beeilte sich Ylissa zu versichern. »Selbstver ständlich nicht. Aus mir spricht nur die Sorge der Prioren, die keine Kenntnis von einer längeren Reise hatten.« Also doch die älteren Schwestern! »Sei beruhigt. Die Lage ist geklärt.« Die Mater führte ihr Pferd durch das Tor an der Ostseite der Pyramide in den Stall. »Es gab Spannungen in Kuro-Kapella, die ich beseitigen konnte.« Ylissa tat verstehend. Und nachdem Mater Druuselis ihr Pferd ei nem Stallarbeiter übergeben hatte, gingen die Priesterinnen gemein sam durchs Hauptportal. Dabei wusste Druuselis sehr genau, dass ihr die Feuerprobe noch bevorstand. * »Kuro-Kapella also«, sinnierte Mater Tiphara, die seit Jahrzehnten das von der verstorbenen Mater Auriga bestimmte Oberhaupt des Pries termatriarchats war. »Wenn du es sagst, wird es so gewesen sein.« Sie blickte Mater Druuselis gedankenversunken an. »Dein Einsatz zur Befriedung des Areals ist anerkennenswert.«
Durchleuchtet sie mich? Liest sie meine Gedanken?
»Ich danke dir, Mater«, glaubte Druuselis sich in Sicherheit und hielt das Thema für beendet. Und tatsächlich machte Tiphara keine Anstalten, die Abwesenheit ihrer Schwester näher zu ergründen. »Ich brauche dich für ein neues Anliegen. Eine Kleinigkeit.« »Ich höre«, sagte sie. Doch sie hörte nicht nur, sie sah auch. Ei gentümlich fremd kam ihr die große Halle vor mit ihren kupferfarbenen Wänden, in die groteske Bildnisse eingelassen waren und komplexe geometrische Figuren. Von der Decke, die sich mehr als zehn Meter über dem Boden spannte, strahlte diffuses, blaugrünes Licht herab, das sich weit über den Frauen brach, gefiltert wurde und als weißer Schein die Silhouetten der Priesterschwestern säumte. Einträchtig gin 71
gen Mater Tiphara und Mater Druuselis einige Schritte nebeneinander her durch die weitläufigen Räumlichkeiten. »In der Nähe gibt es einen Hof«, nahm die oberste Priorin den Gesprächsfaden wieder auf. »Die Lehnsherrin hat vor kurzem einem Sohn das Leben geschenkt und nun erwarten sie die Aufnahme des Kindes in die Kastengesellschaft durch eine der unsrigen, wie es nun mal Brauch ist.« »Wenn das alles ist, bin ich gerne bereit, den Empfang der Sak ramente zu vollziehen.« »Nun«, spitzte Tiphara die Lippen. »Ganz so simpel ist die Sache dann nun doch nicht.« Die beiden Frauen blieben stehen. »Der Aller höchste hat Anspruch auf das Neugeborene erhoben.« Mater Tiphara neigte den Kopf ganz leicht. Sie betrachtete ihre Glaubensschwester eingehend, versuchte, keine noch so geringfügige Regung in deren Miene zu versäumen. »Er hat einen Anspruch erhoben?«, dehnte Druuselis die Worte. »Will er ein unschuldiges Blutopfer?« »Uns steht es nicht zu, seine Entscheidungen infrage zu stellen. Doch die Opferung des Kindes in Bal-Shidomh scheint beschlossene Sache. Der Unaussprechliche ist nur einen winzigen Schritt von der Schwelle in unsere materielle Wirklichkeit entfernt. Ein derart junges Leben wird mit seinem Verscheiden die Distanz schmelzen lassen, auf das unser Gott leibhaftiges Fleisch wird.« Mater Druuselis hoffte inständig, dass man ihr die Wachsbleiche nicht ansah. Wie sollte sie sich verhalten? Wollte sie sich an der Er mordung eines Säuglings beteiligen und damit ihre eigenen Prinzipien verraten? Doch wenn sie das Kind nicht holte, tat es eine andere. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt ihre Gesinnung preisgab, mochte der Schlag der Layshi-Pan wirkungslos verpuffen, war die Schwes ternschaft vorbereitet. Druuselis würde - wenigstens zum Schein - die Bitte der alten Priesterin erfüllen. Im Nachhinein mochte es noch gute Gelegenheiten geben, das Kind zu retten. Töricht wäre es gewesen, das Gelingen des Plans, dessen Ausführung viel Mühe, Geduld und Wagnisse gekostet hatte, aufs Spiel zu setzen. 72
»Du hast Recht, Tiphara. Die Fleischwerdung des Allerhöchsten sollte die einzige Prämisse sein, der wir uns fügen. Wann soll die Taufe stattfinden?« »Gleich morgen Vormittag. Du wirst in einer Sänfte anreisen. Ein Ehepaar der Unterkaste wird dich begleiten. Du wirst Aria und Esoch das sind die Eltern des Neugeborenen - glaubhaft versichern, ihr Kind müsse aus bevölkerungsstrategischen Gründen an die Unterschicht übergeben werden.« Mater Druuselis nickte. Sie hatte sich bereits den Kopf zerbrochen, wie sie ohne Gewalteinwirkung das Kind von den Eltern hätte trennen können. Schließlich handelte es sich um nicht weniger als eine Entfüh rung. Wie es aber aussah, hatte Mater Tiphara für alle Eventualitäten Sorge getragen. »Das Gesetz fordert homogenes Wachstum«, zitierte Druuselis lehrbuchmäßig. »Geht die Geburtenrate über ein vertretbares Maß hinaus, greift die Umhebungsklausel.« »Genauso wirst du es erläutern. Für alle Erfordernisse werden dir als Sänftenträger Adepten zugeteilt. Diese können zur Not mit ihren Schwertern dem Gesetz zu seinem Recht verhelfen.« »Gut denn«, machte Mater Druuselis eine abschließende Bemer kung. »Ich möchte mich zurückziehen und einige Stunden schlafen. Die letzten Tage waren sehr anstrengend für mich.« »Das sehe ich ein«, nickte Mater Tiphara verständnisvoll. »Vorher jedoch bitte ich um Gelegenheit, dir etwas zeigen zu dürfen.« Sie sah die Unentschlossenheit in der Haltung ihrer Priesterschwester. »Ich werde dich nicht lange aufhalten.« Ihr Weg führte die Frauen aus dem Saal hinaus in einen schmalen, hohen Gang. Abseits gab es eine Tür, die in die Räume unterhalb des Erdniveaus führte. Druuselis konnte sich beim besten Willen nicht vor stellen, was Tiphara ihr zu zeigen gedachte. »Was ist das für ein Wimmern?«, fragte sie plötzlich. Nicht der Wind, den sie wider besseres Wissen für den Verursacher gehalten hatte, machte sich bemerkbar. Eine feine, dünne Stimme gab lange, klagende Laute von sich, verstummte zwischendurch, ließ ein Schluch zen hören und begann erneut ihre traurige Melodie. 73
»Komm mit«, lockte Mater Tiphara. »Sieh es dir an.« Hinter einer Tür aus massivem Tropenholz fand das Wimmern sei nen Ursprung. Tiphara ließ ihrer Ordensschwester den Vortritt und Mater Druuselis näherte sich auf klammen Sohlen, stemmte sich gegen die Tür und schob einen eisernen Verschlag zurück, um ins Innere ei ner zwei an zwei Meter großen Zelle zu blicken. Ungläubig starrte sie auf ein nacktes junges Mädchen, das sich auf dunklem, altem Stroh in eine Ecke ihres Gefängnisses kauerte. Es war schmutzig und fror erbärmlich, was man am Zittern ihres Körpers deutlich erkennen konnte. Der Dreck auf der Haut überdeckte teilweise die scheußlichen Wunden, die man dem Mädchen zugefügt hatte. Sah man genau hin, bestanden viele der dunklen Flecken an ihrem Leib aus geronnenem Blut. Der Geruch fauliger Exkremente, verdorbenen Essens und Erbrochenem betäubte die Nase und ließ Druuselis sich abwenden, um frischen Atem zu schöpfen. Auf einmal begann die Ge folterte ein Lied zu summen, begann mit ihrem Stimmchen Worte zu singen, die von unendlicher Traurigkeit erfüllt waren. Der Anblick der jugendlichen Geschändeten in Verbindung mit ihrem wehmütigen Ge sang hätten einen Stein erweicht. Mater Druuselis führte einen verbis senen Kampf gegen ihre Tränen. Doch sie durfte nicht weich werden. Zu viel hing davon ab, dass sie ihre Rolle als ergebene Dienerin des neuen Gottes glaubwürdig weiterspielte. »Was ist mit ihr geschehen?«, drehte sie sich zu Tiphara herum. Diese genoss die Unwissenheit ihres Gegenübers und kostete sie noch ein wenig aus. »Ein böses, böses Mädchen, unsere Drabia.« Mater Tiphara legte die Fingerspitzen auf ihre Lippen, fuhr über Mund und Kinn hinab zum Hals und ließ ihre Hand dort liegen. »Sie plaudert gerne über die Ge pflogenheiten des Matriarchats. Allerdings tut sie das ausschließlich mit Unterprivilegierten.« Der Tonfall der Ersten Priorin wurde kalt und hart. »Ihre Informationen wurden aus der Unterschicht an diese Höl lenjäger herangetragen. Kein Wunder, dass sie uns so oft in die Quere kamen. Aber wer hätte auch Gedacht, dass sich Verräter in unseren Reihen befinden!« 74
Der Gesang des Mädchens wurde leiser und ging übergangslos in das altbekannte Schluchzen und Wimmern über. »Dann hat die Entführung des Neugeborenen nicht nur politische Gründe«, folgerte Druuselis sofort. »Es ist ein Racheakt.« »Nennen wir es eine kontrollierte Bestrafung«, meinte Mater Tiphara die Angelegenheit mit dieser Formulierung abzuschwächen. »Wir können nicht alle Arbeiter ausrotten und die Lehnsherren dazu. Unsere Macht würden wir uns damit selbst beschneiden. Aber die Strenge des Gesetzes muss spürbar werden. Jene, die sie betrifft, werden zukünftig auf der Hut sein. Aria und Esoch werden das erfah rene Leid an ihre Untergebenen weiterreichen, die vordergründig von der Situation profitieren. Das führt zu gesunden Spannungen und be einträchtigt nicht die Erträge.«
Auch ich werde aufpassen müssen, mich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, wenn ich die Lunte am Pulverfass entzündet habe. »Verrat an der Ordensgemeinschaft ist ein schändliches Verbre chen«, setzte Tiphara ihre Ausführungen fort. »Das junge Ding hat sein Leben verwirkt. In ein paar Tagen werden wir ihre verwesenden Überreste den Waldkäfern zum Fraß lassen.« Mater Druuselis sagte kein Wort darauf. Schweigend ging sie die Stiegen hinauf zum Korridor. Die Melodie der kindlichen Novizin wollte ihr dabei nicht mehr aus dem Sinn gehen. »Halten wir die Augen offen, Druuselis. Keiner kann voraussagen, welche Überraschungen uns noch bevorstehen.« Eine hätte ich schon für dich parat, dachte Mater Druuselis grim mig. »Ich gehe jetzt schlafen«, war hingegen das, was sie sagte. Ohne Eile setzte sie sich in Bewegung. Eine Zeitlang noch spürte sie den Blick der älteren Schwester auf sich ruhen. *
Drei Tage später Die Augen Cor'Shans werden sich öffnen. Heute Nacht. 75
Mater Druuselis warf einen Blick in das Zimmer, in dem ein halbes Dutzend Novizinnen Aufsicht und Pflege des Säuglings übernahmen, den sie den Armen seiner Eltern Aria und Esoch entrissen hatte. Die Qual in den Augen der Mutter krampfte ihr immer noch das Herz zu sammen. Druuselis hatte Aria gut zureden wollen, doch die Verständ nislosigkeit der Frau der Entscheidung der Priesterschaft gegenüber war allumfassend gewesen. Es hatte keine Linderung des Leids geben können. »Komm doch herein, Mater«, sprach eine Novizin die Erste Priorin an, »und schau dir diesen prächtigen Kerl an.« Die Priesterin trat heran. Es tat ihr einen Stich in die Brust, wenn sie daran dachte, dass das helle, unbeschwerte Lachen dieses kleinen Menschen bald verhallen würde. Für immer. Momentan wurde er ver hätschelt, die jungen Priesteranwärterinnen kümmerten sich liebevoll um ihn, fütterten ihn, spielten mit ihm, taten alles, um ihm Freude und Wohlergehen zu bereiten. Sie mästen die Gans und führen sie zum Schlachtblock, dachte die alte Priesterin. Ihr zufriedenes Gurren wird sich in grauenvolle Angst
schreie verwandeln.
»Wie wundervoll doch die Schöpfung ist«, sagte eine andere Novi zin. Sie strahlte das Neugeborene an. »Der Allerhöchste wird jubilieren ob des Opfers.« Druuselis verschlug es den Atem, doch sie ließ sich nichts anmer ken. Sie stellte lediglich fest, wie effektiv die Ausbildung des Matriar chats war - die sie selbst genossen hatte und die doch nie wirklich ihr Herz hatte vereinnahmen können - dass es jegliche Gedanken an Recht und Unrecht erstickte und nur einen Weg zur Auswahl anbot. Einen einzigen. Den Weg des finsteren Gottes, dessen Name un aussprechlich war. Mit einem Mal bekam die Priorin einen flüchtigen Eindruck, was es bedeutete, wenn dieses unbeschreiblich fremdartige Etwas in die Niederungen der stofflichen Welt hinabsteigen würde. In nur einer Sekunde rasten Tausende von Fragmenten einer düsteren Zukunft an ihrem inneren Auge vorbei. Zu schnell, um die grässlichen Einzelheiten erkennen zu können, aber zu langsam, um die Gesamtheit der Bilderscherben zu ignorieren. 76
»Ist dir nicht gut, Mater?« Sprach die Sorge aus der Stimme des Mädchens oder war es schlichte Anbiederung? »Es geht mir gut, Kind«, antwortete Druuselis stockend. »Es geht mir gut.« Angewidert wandte die Priesterin sich ab und verließ den Raum. Sie wollte die letzten Stunden vor der Prozession nach BalShidomh in stiller Einkehr verbringen und beim Erschaffer von Himmel und Erde um Vergebung bitten. * Es war ein gespenstischer Zug, der sich von der Dschungelpyramide aus in Richtung des Tempels von Bal-Shidomh in Marsch setzte. Dumpfe Gesänge wurden angestimmt, die bis in das dunkelste Dickicht vordrangen und alles Leben in furchtsamer Erwartung erstarren ließen. Kilometer um Kilometer bahnte sich die Prozession ihren Weg durch die hereinbrechende Nacht und als sie schließlich ihr Ziel erreichte, da war es der bleiche Mond, der das Geschehen beleuchtete und in stumpfen, fahlen Glanz hüllte. Die Novizinnen bereiteten den Säugling vor, sangen unmelodische, unheimliche Gesänge und malten mit den Fingern unsichtbare Zeichen auf seinen Körper, vollführten unver ständliche Gesten. Die Adepten, die sich aus Mitgliedern von Mittelund Unterschicht zusammenstellten, pferchten die Gefangenen ein, arme Hunde, die bei ihren Lehnsherren in Ungnade gefallen oder in anderer Weise auffällig geworden waren. Auch sie würden ihr Leben für den Allergrößten und zur Öffnung der Augen von Cor'Shan lassen. Die Ersten Prioren waren damit beschäftigt, dem Festakt einen würdevollen Rahmen zu verleihen. Viele Menschen der Mittelschicht mit einigen ihrer Untergebenen waren anwesend, durften dem Zere moniell beiwohnen, welches somit zweierlei Funktionen erfüllte: Ers tens befriedigte es die Sensationsgier der Bevölkerung und machte sie zum aktiven Teil des Priesterregimes. Zweitens stellte es eine Macht demonstration dar und eine Warnung zugleich, was mit denjenigen geschah, die sich gegen die herrschende Ordnung stellten. Zuckerbrot und Peitsche par excellence! 77
Mater Druuselis hielt sich bei den Vorbereitungen ihrer Mitschwes tern abseits. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, obwohl sie sich zur Ruhe zwang und den Dingen ihren Lauf lassen wollte. Doch je näher der Zeitpunkt des Angriffs der Layshi-Pan rückte, desto mehr stieg ihre Nervosität. »Bedrückt dich etwas, Schwester?«, holte Mater Tiphara sie aus ihrer Versunkenheit zurück. »Deine Beteiligung lässt zu wünschen üb rig.« Weiß sie etwas? Ahnt sie den Verrat? Druuselis wurde von Minute zu Minute unsicherer. »Gehen wir hinaus, um die Blutopferungen zu vollziehen. Das Volk erwartet Unterhaltung.« »Ich komme gleich nach. Nur einen Moment, bitte.« »Bleib nur, Druuselis, wenn es dir beliebt. Deine Anwesenheit draußen ist keine Pflicht.«
Was ist es, was ich zwischen ihren Worten höre? Da ist mehr, als sie offen legt. Kaum waren Mater Tiphara und ihre Begleiterinnen ins Freie ge treten, da brach auch schon der Tumult los! Unmutsschreie und Flüche drangen in den Tempel vor, das Schnauben und Wiehern von Pferden, Waffenklirren und gebellte Kommandos. Die Layshi-Pan greifen an!, war Mater Druuselis überzeugt. Genau
zur vorgegebenen Stunde!
Die Priesterin wollte hinauseilen, die Farce auf die Spitze treiben und ihren Schwestern in gespieltem Zorn zur Seite stehen. Jeden fal lenden Adepten wollte sie im Herzen bejubeln und im Angesicht der Priesterinnen gleichzeitig fürchterliche Sühne für die Toten schwören. Aber dazu kam es nicht mehr. Die Pforte des Tempelraums, durch die vor nicht einer Minute die obersten Frauen des Ordens geschritten waren, schloss sich wie von Geisterhand. Druuselis wirbelte zur Seite äußerst geschmeidig für eine Frau ihres Alters - und sah und hörte auch die fünf weiteren Portale seitlich und in ihrem Rücken zufallen. Eine Falle!, dachte sie alarmiert. Mater Tiphara hat mich durch
schaut! Es gibt keinen Ausweg mehr! 78
Zeitgleich mit dem Auftauchen der Höllenjäger hatte Tiphara über das Leben ihrer Ordensschwester entschieden. Eine Entscheidung, die im Bruchteil einer Sekunde gefällt worden sein musste; es hatte ledig lich des letzten entscheidenden Hinweises bedurft. In den Tempelmauern öffneten sich schmale Luken, die etwas mehr als anderthalb Meter hoch sein mochten. Fugenlos hatten sie sich in die Wandstruktur eingepasst und nun, da sie aufgezogen wur den, entließen sie eine Rotte junger Mädchen, allesamt Novizinnen. Acht Stück von ihnen befanden sich nunmehr in dem großen Raum, hatten sich aus ihrer anfänglich gebückten Haltung aufgerichtet und umkreisten bedächtig die hochrangige Priesterin. Ihren Gesichtern war nichts Gutes zu entnehmen. Als sie unter ihren schwarzen Gewändern unterarmlange Dolche hervorholten, war auch der letzte Zweifel hin weggewischt, zu welchem Anlass sie sich eingefunden hatten. »Ich beschwöre und bitte euch eindringlich, von eurem Vorhaben abzulassen«, sagte Mater Druuselis. Ihre Stimme hatte nichts von ihrer Festigkeit eingebüßt und es war keine Furcht vor dem Tod, der aus ihr sprach. Es war ehrliches Mitleid mit den blutjungen Anwärterinnen, die sich für ein schmutziges Geschäft vor den Karren des Matriarchats hat ten spannen lassen. Diese Kinder mit ihren blitzenden Spielzeugen konnten der geistigen Macht einer Priorin nichts entgegensetzen. Sie würden tot sein, bevor sie den ersten Dolchstoß ausgeführt hatten. »Du dort«, zeigte Druuselis auf eines der Mädchen. »Dich kenne ich. Du warst im Zimmer dieses Säuglings, der heute geopfert werden soll.« Die Angesprochene ging auf die Worte nicht ein, bewegte sich mit ihren Kameradinnen weiter ganz langsam im Kreis, die Augen ohne Unterlass auf ihre menschliche Trophäe gerichtet, sie fixierend und den günstigsten Moment der Attacke auskundschaftend. »Ihr habt keine Chance, Mädchen. Wenn ich euch das doch nur begreiflich machen könnte.« Erneut reagierte keine der Novizinnen. Steif und stumm setzten sie ihren schaurigen Ringelreihen fort.
Ich will sie nicht verletzen! Sie wissen nicht, auf was sie sich ein gelassen haben!
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Das Schreien und Kreischen von außerhalb des Tempels nahm an Intensität zu. Irgendwo splitterte Glas und dumpfes Poltern brandete auf. »Niemand von uns braucht in dieser Nacht zu sterben«, machte die Priesterin einen neuen Versuch, die Mädchen zur Vernunft zu brin gen. »Sagt einfach, ich wäre euch entwischt. Lasst mich gehen und ihr werdet mich nie wieder...« Mitten im Satz brach Mater Druuselis ab. Ein stechender, unwahr scheinlich intensiver Schmerz gebot ihr Einhalt. Sie bog den Rücken nach hinten durch, ächzte vernehmlich und geriet in Atemnot. Vor ih ren Augen entstand ein wässriger Film, der die acht Schülerinnen zu verwaschenen Schemen verzerrte. Ihr Verstand wollte nicht mehr ih ren Befehlen gehorchen; die Möglichkeit zur mentalen Abwehr war ihr entzogen worden. Der Unaussprechliche greift nach mir!, gellten ihre Gedanken, als sie die Sphärenklänge der astralen Ebenen vernahm, die einzig Sinfo nien aus grausigen Dissonanzen waren, die das Bewusstsein lahmten und das Fleisch zerstörten. »Tiphara!« Der Ruf verging im Gurgeln verklebter Stimmbänder.
Du hast mich dem dunklen Gott geweiht! Und wenn ich sterbe, dann in tiefer Befriedigung, dass du und das gesamte Matriarchat mir in ab sehbarer Zeit folgen werdet!
Acht Messerklingen bohrten sich gleichzeitig in den Leib der Pries terin, die zu keiner Gegenwehr mehr fähig war, der man gerade noch genug Kraft und Energie gelassen hatte, dass sie Zeuge ihrer eigenen Ermordung wurde. Mechanisch holten die Novizinnen immer und im mer wieder aus und trieben den blutbesudelten Stahl in das warme Fleisch. Nachdem sie ihre Mordlust gestillt hatten, ließen sie die Dolche in dem ausgeweideten Körper stecken und verschwanden in den Wandöffnungen, die hinter ihnen zu glitten. Die Lage auf dem Tempelareal schien ebenfalls unter Kontrolle zu sein. Die Layshi-Pan hatten lediglich Verwirrung stiften und keine Mor de begehen wollen. Sie hatten mit viel Getöse die gaffende Menge auseinandergetrieben, waren durch die Reihen der Adepten geprescht und hatten mit Holzstöcken ein wenig um sich geschlagen. Einige Höl 80
lenjäger waren ins Tempelinnere eingedrungen, hatten die Adepten genötigt, ihnen die Gefangenen auszuhändigen und waren bereits wieder verschwunden, bevor die Ersten Prioren, die obersten Priester schwestern, magische Hilfsmittel gegen sie einsetzen konnten. Nur wenige Minuten hatte das ganze Spektakel gedauert, doch hatte es ein wenig am öffentlichen Ansehen des Matriarchats gekratzt, an seiner Unfehlbarkeit und überwältigenden Machtposition. »Lasst das feige Gesindel laufen!«, hielt Mater Tiphara ihre Schwestern zurück, die ihre Mentalenergien in Form schwarz magischer Manifestationen hinterher schleudern wollten. Sie mussten einlenken und sich überlegen geben, wollten sie nicht den Rückhalt des Volkes verlieren. »Die Augen von Cor'Shan werden sich, öffnen! Heute noch!« Ma ter Tiphara hatte sich nicht nur an ihre Priesterschwestern gewandt, sondern auch an die Menschen der Mittel- und Unterschicht, die sich nach dem heillosen Durcheinander wieder einfanden. »Das Kind ist uns geblieben! Und der Allergrößte wird es an sich nehmen, um uns end lich leibhaftig zu erscheinen!« Ein Ausruf höchster Not unterbrach den Beginn der Zeremonie. »Mater Tiphara! Ihr Schwestern! Hört!« Ylissa, Mater zweiten Gra des, kam mit wehenden Haaren daher gerannt. »Furchtbares ist ge schehen! Die Layshi-Pan sind in den Tempel eingedrungen!« Die Stimme der jungen Priesterin überschlug sich. »Und sie haben Mater Druuselis niedergestochen!« »Unsere Schwester - tot?« Unglauben schwang in den Stimmen der Matern um Tiphara mit. »Tot«, bestätigte Ylissa betroffen. »Entsetzlich zugerichtet und entstellt.« Mater Tiphara, höchste Priesterin der Ersten Prioren, strahlte Ruhe und Umsicht aus. »Wir sehen nach ihrer Leiche - nach dem Ritual.« Auf einen Fin gerzeig hin näherten sich zwei Anwärterinnen mit einem Korb. Sie stellten ihn vor Tiphara auf einem Steinblock ab. Die Priesterin muster te den sich bewegenden Inhalt aus von Faltenkränzen umsäumten Augen. Sie lächelte freundlich und erntete ein helles, fröhliches La 81
chen, das einherging mit dem Strampeln von Babybeinchen und dem Rudern kleiner Arme. Die alte Priesterin hob das Kind aus dem Korb heraus, hielt es in die Höhe und drehte sich nach links und nach rechts, dass jeder es sehen konnte. Der Korb wurde fort getragen und das Kind auf den Steinblock gelegt. Es spürte die Kälte und sein heite res Gemüt kühlte sich ein wenig ab. Schon fanden sich die Priesterin nen zu einem Halbkreis um Mater Tiphara zusammen, um einen düste ren Choral anzustimmen, der eine bedrohliche Atmosphäre in der nur von Fackeln erhellten Nacht schuf. Die Anbetung des Unaussprechli chen, der hinab kommen wollte in die Welt der Sterblichen, fand ihren Höhepunkt, als man der obersten Ordensschwester das Kurzschwert zum Vollzug der Opferung reichte. Einige Momente schwebte die beidseitig geschliffene Klinge fun kelnd über dem Neugeborenen, das seinen Blick nicht von dem Glit zern des Stahls abwenden konnte. Leidenschaftslos schickte Mater Tiphara dem Menschenkind einen letzten Gedanken.
Im Gegensatz zu Druuselis wirst du dein Leben freiwillig geben...
6. Kapitel Götterdämmerung
Sechs Tage nach dem Angriff auf Bal-Shidomh Von schweren Gedanken bedrängt stand Saghai-Tan alleine ein wenig außerhalb der Siedlung seiner dreibeinigen Geschöpfe, abseits von der dunklen Zitadelle und abseits von seinen Ordensbrüdern und schwestern. Rückblickend beurteilte er die Bal-Shidomh-Situation und gestand sich ein, der Layshi-Pan-Bewegung keinen Gefallen getan zu haben. Viel zu rücksichtsvoll waren sie vorgegangen, hatten diejenigen verschonen und nur erschrecken wollen, die ihnen nach dem Leben trachteten. Anfangs hatte er seinen Männern die Schuld am Tod Mater Druuselis' gegeben, hatte angenommen, sie hätten die Priesterin, die ein wichtiges Bindeglied zwischen den konträren Parteien darstellte, in ihrem Übereifer getötet. Doch wie Informanten der Unterschicht ihm 82
zugetragen hatten, verhielt es sich so, dass die Ersten Prioren ihre eigene Schwester ermordet hatten. Die Matriarchatspropaganda stellte den Überfall als sinnlosen Akt der Grausamkeit dar, schob dabei den Layshi-Pan die Ermordung von Druuselis zu und befleckte ihr Ansehen, wollte ihre Sympathien, die allgemein vorhanden waren, deutlich schmälern. Auf diese Weise konnte es über kurz oder lang durchaus gelingen, den Höllenjäger-Orden völlig kampflos seiner Grundlagen zu berauben, ihn handlungsunfähig zu machen, wenn ihm die Unterstüt zung der breiten Öffentlichkeit fehlte. Die Menschen überall im Land besaßen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und begrüßten daher die rebellischen Aktionen gegen das oftmals menschenverach tende Priesterinnenregime. Jedoch konnte sich ihr Wohlwollen sehr schnell ins Gegenteil verkehren, wenn die Handlungsweise der LayshiPan von jener des Matriarchats nicht mehr zu unterscheiden war. Der bärtige Mann ging die paar Schritte zurück zur Siedlung. Seine Priester hatten sich in seinen inneren Monolog nicht eingemischt, mel deten sich jedoch unverzüglich, als er sich ihnen näherte. Die Zeichen sind nicht misszuverstehen, Saghai-Tan, war es NukkAr F'att-Enoq, der als Erster in seinem Kopf anklopfte. Die astrologi
schen Berechnungen haben den Punkt der höchsten negativen Entfal tung erneut bestätigt. Das, was die Priesterschwestern als den Un aussprechlichen oder Allerhöchsten bezeichnen, hat sich in unbegreifli cher Form physisch manifestiert und ist nun in der Lage, auf stofflicher Ebene ohne Beschränkungen zu agieren.
»Mit anderen Worten«, fasste Saghai-Tan zusammen und wusste, dass die gesprochene Sprache für den dreibeinigen Koloss ebenso ver ständlich war wie die mentale Kommunikation. »Wenn wir jetzt nicht handeln, wird die Menschheit sang- und klanglos untergehen.«
Die Wesenheit wird selbst vor den Priesterinnen nicht Halt ma chen. Ihre Anstrengungen dienten lediglich als Sprungbrett ihrer Fleischwerdung. Nun kann sie völlig autark handeln. Eine gefährliche Situation. Saghai-Tan stieg die gelbe Höhlung im Zentrum der Siedlung hin ab, wo sich bereits mehrere Angehörige des Priestervolkes versammelt hatten. Der Erstgeborene war auch unter ihnen. Er übernahm die Kon 83
versation. Der Anführer der Höllenjäger bemerkte dies nur an einem minimalen Schwingungswechsel in seinem Bewusstsein.
Unsere Vorarbeit ist geleistet, auch wenn die Zeit knapp bemessen war. Wärest du früher zu uns gekommen...
»Ich konnte nicht ahnen, dass die Evolutionäre so wenig Interesse am Fortbestehen der menschlichen Rasse zeigen.« Es klang verbittert und die Kritik war zynisch.
Sie gehen den Weg karmischer Gesetzmäßigkeiten. Eine Aktion bedingt unweigerlich eine Reaktion. Nichts Böses geschieht, ohne da bei auch positive Auswirkungen hervorzurufen. Die negativen Kräfte wollen dieses Gesetz aushebeln. Im Grunde genommen sind unsere Bestrebungen nichts anderes, als jene der finsteren Seite. Auch wir trachten danach, die kosmischen Fügungen zu umgehen. Die Sicht der Dinge ist einzig abhängig von unseren Zielen. Und diese steckt uns das Gemüt, unser fleißiger, allerdings extrem subjektiver Ratgeber. »Wenn das Missachten kosmischer Fügungen den Bestand der Menschheit gewährleistet, bin ich gerne bereit, diesen Beitrag zu leis ten.«
Auch wir sind sehr angetan von der Möglichkeit der Interaktion mit der Schöpfung. Sie führt unser Dasein einem höheren Zweck zu und stellt es in den Dienst einer - einseitig betrachtet - guten Sache. »Was ratet ihr mir? Welche Maßnahmen gilt es zu treffen?«
Wer wüsste das besser als du selbst? Du hast alle nötigen Schritte der Konfrontation auf materieller Ebene eingeleitet. Die Heimtücke der negativen Kraft vom Grunde der Augen Cor'Shans besteht nun einmal darin, euch Menschen auf eurer ureigenen Existenzebene anzugreifen. Dadurch werdet ihr automatisch auf ewig im Kreislauf der Wiederge burt gehalten, belastet euch durch Mord und Totschlag bergeweise mit karmischer Schuld und könnt dem Rad des Lebens erst entkommen, wenn diese abgezahlt ist. Durch die immer wieder neue Versuchung zur Versündigung wird dieser Zeitpunkt allerdings niemals kommen. Überlege: Jeder Kampf gegen das, was ihr als böse bezeichnet, stärkt seine Macht über euch. Wir sind zunehmend fasziniert von dieser Vor stellung und der - du würdest sagen: teuflischen - Raffinesse dahinter. »Höre ich da Bewunderung aus deinen Worten?«
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In gewisser Weise kann ich es nicht leugnen. Doch solltest du die ser Aussage nicht allzu viel Gewicht beimessen. Der finstere Gott und ihr seid nur zwei Seiten derselben Münze. Wer will schon sagen, wel che die bessere ist, welche größeres Anrecht auf Überleben hat? Bei genauer Betrachtung kann der eine ohne den anderen nicht existieren.
Saghai-Tan nahm sich nicht die Zeit, diese philosophische Ausdeu tung zu kommentieren. »Ich will Fakten. Die Augen Cor'Shans sind also offen. So viel weiß ich. Diese Entität aus den astralen Ebenen hat ihren Wirkungskreis auf unsere Schwingungsebene, unsere Dimensionalität, erweitert. Was haben eure Berechnungen und Beobachtungen noch ergeben? Womit müssen wir rechnen?« Der Älteste holte die entsprechenden Informationen bei den Um stehenden ein. Davon bekam Saghai-Tan kaum etwas mit, außer ei nem verwirrenden Wispern in seinem Verstand. Die zweieinhalb Meter großen Denker mit den drei Vielzweckextremitäten standen völlig be wegungslos in teils absurder Haltung in der Senke. Nichts wies auf einen regen Gedankenaustausch hin, bis dieser anscheinend abge schlossen war, als der Erstgeborene zu sprechen begann.
Die Verstrickungen mit den Astralsphären sind nicht zu übersehen. Die Grenzen zwischen den Realitäten werden durchlässig für Wesen, die nicht in diese Welt gehören. Verlorene Seelen, Gefangene ewiger Pein, Wanderer zwischen Gestern und Morgen, Sendboten des Grau ens vom anderen Ende des Seins - das sind eure Gegner. Sie beherr schen das Licht und den Klang jenseits der dritten Dimension, spielen souverän auf den Saiten kosmischer Evolution und haben lange verin nerlicht, wovon ihr nicht einmal zu träumen wagt.
»Dann ist alles umsonst? Wir sind hoffnungslos unterlegen? Willst du das damit sagen?«
Ich sehe keinen Sinn darin, dich zu belügen. Ja, deine Mission ist aussichtslos. »Damit finde ich mich nicht ab!«, stieß Saghai-Tan zornig hervor. »Es gibt immer eine Lösung!« Er dachte einige Sekunden nach, atmete heftig dabei. »Warum habt ihr mir geholfen, wenn die Schlacht bereits vor ihrem Ausbruch verloren war?« 85
Wir suchten eine reizvolle Abwechslung. Nicht zur Unterhaltung, nein, sondern zur Erweiterung unseres bewussten Selbst. Wir wissen sicher schon eine ganze Menge, doch liegen noch unzählige Erfahrun gen vor uns, die gemacht werden wollen. Du hast viel Wert auf den logisch-mathematischen Verstand gelegt bei unserer Schaffung. »Ich habe experimentiert, hin und her probiert.«
Mittlerweile wissen wir, dass der Verstand ohne das Gefühl nicht vollständig ist. Beide gehen Hand in Hand und keiner dieser Zustände darf den anderen ausgrenzen. Saghai-Tan formte mit den Händen ein Dreieck und führte die Fingerspitzen an seine Lippen. »Nun gut, mein weiser Kamerad. Wie also beurteilt dein Verstand die jetzige Lage?«
Dein Heer besteht aus einigen Tausend Männern und Frauen. Nur ein Bruchteil davon verfügt über ein höheres Wissen und eine fundier te Kampfausbildung. Rechnet man nicht die Mannstärke des Gegners, sondern seine geschätzte Kampfkraft, steht das Verhältnis etwa tau send zu eins zu Ungunsten der Layshi-Pan. »Was sagt die emotionale Seite?«
Ein motivierter Gegner ist schlecht einzuschätzen. Das Missver hältnis könnte durch uneigennützigen, selbstlosen Einsatz zu einem nicht unbeträchtlichen Teil wettgemacht werden. Das Fleisch kann viel erdulden, wenn der Geist willig ist. »Das Fazit aus beidem?«
Es gibt kein abschließendes Resümee. Nur ein Ja oder ein Nein. Wäge selbst ab. Saghai-Tan ließ die Arme herabbaumeln, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, um sich zu sammeln. »Meine Entscheidung ist bereits gefallen...« * Schnell und entschlossen ging der Anführer der Layshi-Pan durch den Zentraledom. 86
»Schrein!«, blaffte er. »Ich brauche eine Auflistung aller an Bord des Sterntetraeders befindlichen Rassen. Körperwerte, Gewicht, PsiLatenz, geistige Entwicklung, Atmosphärenzugehörigkeit.« »Du hast geraume Zeit nichts von dir hören lassen...« »Darüber reden wir später. Bitte. Kannst du meine Anweisungen schnellstmöglich umsetzen?« »Sicher, sehr gerne. Wüsste ich die zugrunde liegenden Auswahl kriterien, könnte ich das Suchraster entsprechend präzisieren. Schließ lich ist Col'Shan-duur die Heimat vieler Milliarden Lebewesen.« »Mach das. Suche mir Völker, die physisch und psychisch geeignet sind, in eine Schlacht zu ziehen, die einzigartig sein wird in der Ge schichte des Planeten Erde.« »Einige humanoide Rassen kämen da infrage.« »Mir egal, wer es ist! Nur genug müssen es sein! Ich brauche et wa eine Million!« »Das dürfte nicht weiter schwierig sein. Wie aber willst du sie zum Kampf bewegen? Sie wissen nichts von den Welten außerhalb des Schiffes, darum können sie sich mit deinen Werten und Vorstellungen nicht identifizieren.« »Beeinflusse sie! Mach sie gefügig! Verabreiche ihnen Halluzino gene! Dir wird da doch wohl etwas Passendes einfallen!« »Wir haben die Völker aufgenommen, um ihnen Schutz zu bieten und ihren Fortbestand zu gewährleisten und nicht, um sie an einer zweifelhaften Front zu verheizen.« Gon'O'locc-uur hatte deutliche Wor te benutzt und sie entsprachen seinem Verständnis der Ursprungspro grammierung. »Wenn der Unaussprechliche Gh'Ea heimsucht, wird es über kurz oder lang nichts mehr geben, was beschützt werden muss! Dann wird dieser wunderbare blaue Planet ein kalter Stein sein! Dann wird alles Leben fort und vergessen sein, weil niemand mehr da ist, sich an die Vergangenheit zu erinnern! Willst du das Leben im Universum überhol ten ethischen Werten unterordnen? Weißt du so wenig von der Schöp fung, dass du nicht erkennst, wie alles immer und zu jeder Zeit im Fluss sein muss, damit es sich entwickeln, weiter entfalten kann? Wir sind dabei, uns weiterzuentwickeln, indem wir dem Leben neuen Raum 87
schaffen, seine Ausweitung forcieren und alles, was sich dem entge genstellt, zurückdrängen.« Gon'O'locc-uur, der Schrein, sagte eine Weile nichts. »Gib mir eine Antwort, Großvater! Hilfst du uns?« Immer noch Schweigen. Im Hintergrund mechanisches Surren. »Die Zeit drängt! Lass mich bitte nicht stehen wie ein ungezoge nes Kind!« »Keine Aufregung, mein Junge. Bitte nur keine Aufregung. Du wirst deine Soldaten bekommen. Das sichere ich dir zu. Lass mich wis sen, wann du sie brauchst und sie werden da sein.« * Der von Wäldern umsäumte Landstrich Cor'Shan war das Ziel der Höl lenjäger. Umgeben von seinen engsten Vertrauten marschierte SaghaiTan vorneweg. Wenn er den Kopf drehte, sah er hinter sich ein Meer aus Soldaten, unüberschaubar groß, ausgestattet mit Schilden, Äxten, Schwertern, Lanzen, Morgensternen, Dolchen, Spießen, Bolas und an derem mehr. Er selbst und die ausgebildeten Höllenjäger verfügten zusätzlich über handtellergroße, kupferne Energiewaffen, die mit den Synapsen ihres Geistes verschmolzen und sich auch nur einzig darüber steuern ließen. Innerhalb weniger Tage hatten die wenigen Priester mithilfe ihrer ausgeprägten Geisteskräfte unzählige Waffen erschaffen. Gon'O'locc-uur hatte ein paar jener Möglichkeiten ausgespielt, von denen selbst der Anführer der Layshi-Pan nichts ahnte und ein unvor stellbares Heer aufgestellt, das nahezu dreihunderttausend Personen zählte. Die meisten waren humanoid und Sauerstoffatmer, da nur sie ohne aufwendige Zusatzgeräte die Atmosphäre der Erde vertrugen. Der Schrein hatte nicht nur eine ausgeklügelte Selektierung in kürzes ter Zeit vorgenommen, sondern noch eine logistische Meisterleistung vollbracht. Die zur dunklen Zitadelle strömenden Massen waren präzise kanalisiert worden, um Durcheinander zu vermeiden, die Waffenaus gabe zu passieren und im direkten Anschluss zur Erde teleportiert zu werden. Dieser letzte Vorgang wurde von niemandem als das regist riert, was er war; man schritt einfach durch einen riesigen flimmern 88
den Bogen und hatte im Nu sein Ziel erreicht. Ganz so, als ginge man durch eine offen stehende Tür. Das Austrittsportal befand sich aller dings noch zwei Tagesmärsche von Cor'Shan entfernt. Zu allem ent schlossen wälzte sich die Menge über das Land und hinterließ eine breite Spur, die noch aus großer Höhe zu sehen war. Einem Außenste henden musste es erscheinen, als frästen sich Schwärme ausge hungerter Heuschrecken durch Wald und Flur, denn mit der Distanz des Beobachters verschwimmen die Relationen. Voll und groß - vielleicht größer als sonst, aber das konnte eine Täuschung sein - stand der wie Totengebein schimmernde Mond am Firmament. Auf der abgewandten Seite des Trabanten wusste SaghaiTan den Sterntetraeder Col'Shan-duur, der etwa ein Drittel des Mond durchmessers ausmachte. Versonnen warf er einen Blick auf die kra terbesprenkelte Oberfläche. Ein Hauch von Melancholie ergriff den Bärtigen, der sich mit seinen vielen Tausend Getreuen und einer Un zahl unfreiwillig Rekrutierter zum letzten Gefecht begab. Sein Blick riss sich los vom schwarzen Samt des Himmels mit seinen Myriaden von glitzernden Punkten und streifte über das Tal, das sich bis zum Hori zont erstreckte. Vage erkannte er von seinem erhöhten Standpunkt aus eine Öffnung im dichten Blätterdach des Dschungels, die auf den ersten tiefen Schacht hinwies. Der zweite war nicht weit entfernt, je doch nur sichtbar, wenn man in etwa wusste, wo er sich befand und die entsprechende Stelle mehrere Sekunden fixierte.
Die Augen Cor'Shans! Saghai-Tan spürte einen leichten Druck auf der Brust. Ein paar Stunden noch bis zum Ende des Tals. Der Kampf in den Wäldern, auf engstem Raum, Rücken an Rücken und von allen Seiten beengt und bedrängt wird nicht leicht werden. Aber es gibt kei ne Alternative. Wir greifen an und locken den Gegner aus der Reserve. Mag sein, dass unser überraschender Feldzug uns einen kleinen Vorteil verschafft. Der Heerführer ließ ein Signal zur baldigen Ankunft blasen, das von den Fanfaren bis in die letzte Reihe der Marschierenden getragen wurde. So wurde es früher Morgen, als sie den Rand des Urwaldes erreichten und jeder Einzelne konnte von einem Herzschlag auf den 89
nächsten spüren, dass sich die Atmosphäre und die ganze Natur um sie herum veränderte. Ein Rauschen erfüllte die frühmorgendliche feuchtkühle Luft, als würden gewaltige Körper - wie von Katapulten abgefeuert - heranja gen. Doch der Himmel zeigte sich klar. Da war nichts Ungewöhnliches, das von den jungen Strahlen der Sonne hätte sichtbar gemacht wer den können. Das Rauschen verstärkte sich zum Sturm, doch keine Brise ging. »Sieh zurück!«, zerrte Hogur den Anführer an der Schulter. Das klamme Gefühl, das Saghai-Tans Herz umfangen hielt, wurde um mehrere Nuancen bedrückender. In die hinteren Reihen seines Heeres war Bewegung gekommen. Jetzt hörte er auch die Fanfa rensignale, die viel zu lange gebraucht hatten, um herüberzuschallen. »Was ist da los?« Die Frage stellte er mehr sich selbst, als dass sie an Hogur gerichtet war. Aus dem dicht gedrängten Pulk seiner Armee zweigten sich meh rere Züge aus Tausenden Kämpfern ab. Die Trompeten bliesen Angriff, obwohl kein Gegner in Sicht war. »Die Nachhut bricht auseinander!« Saghai-Tan zeigte sich unfähig, in irgendeiner Form zu reagieren. »Wir werden angegriffen und doch...« Ein Instinkt ließ ihn den Kopf wieder voraus richten. Er erstarrte. Langsam, unerträglich langsam schoben sich riesige Kugeln über die Wipfel der Bäume. Sie leuchteten sonnenhell und auf ihrer Oberflä che züngelten knisternde Energieblitze auf und nieder. Die Kugeln wa ren offensichtlich der Grund für dieses zermürbende Rauschen und das nun einsetzende tiefe Dröhnen. Die hintere Phalanx des HöllenjägerHeeres hatte sie wesentlich früher gesehen und entsprechend gehan delt. Saghai-Tan brauchte nicht lange zu überlegen, um in den lodernden Bällen furchtbare Waffen zu erkennen, die ihr grausames Potenzial jede Sekunde zum Einsatz bringen konnten. Es gab keine Sicherheit mehr, in die sie sich flüchten konnten. Wenn sie mit Schlimmem ge rechnet hatten, so war dies der Anfang. Und es würde noch wesentlich fataler kommen, darüber gab sich Saghai-Tan keinerlei Illusion hin. 90
Die Energiekugeln stiegen höher. Die abgehenden Blitze tasteten sich weiter in die Umgebung vor. Einige Baumkronen gingen bei der geringsten Bewegung in Flammen auf. Wohin habe ich die, die mir vertrauten, nur geführt? Der LayshiPan-Führer kam sich klein und unbedeutend vor angesichts der Größe der Herausforderung, die ihm allmählich über den Kopf zu wachsen drohte. In meiner Arroganz haben mich die kosmischen Gesetze nicht
gekümmert und ich schickte Hunderttausende in einen aussichtslosen Krieg.
Die Erde bebte. Ungeheure Stöße erschütterten das Umland. Ein Grollen aus den Eingeweiden des Planeten kündete von dem Aufruhr in seinem Innern. »Gib das Signal zum Ausschwärmen!«, wandte sich Saghai-Tan an den Hornbläser in seiner Nähe. Hogur glaubte, sich verhört zu haben. »Wohin denn ausschwärmen? Hier ist doch niemand, den wir an greifen können!« »Du hast gehört, was ich sagte!«, sprach er hart. Und dann sanf ter: »Ich habe da so ein Gefühl...« »Du schwächst unsere Position, wenn du ausschwärmen lässt!« Wie als Antwort brach die Erde auf. Es war ein donnernder Schlag, ein infernalisches Brüllen, mit dem ein Schwall kochenden Magmas Hunderte Meter hoch spritzte und als glutflüssiges Gestein auf die Krieger her abregnete. »Neeiiiin!« Saghai-Tans Schrei ging in dem Geräuschorkan unter, der wahrscheinlich noch am anderen Ende Welt gehört werden konnte. Mehrere zehntausend Männer und Frauen waren in Sekundenbruchtei len verkocht und verbrannt. Ein See aus Feuer hatte sich in ihren Rei hen aufgetan und immer noch prasselten unzählige tausend Grad hei ße Brocken auf sie herunter. »Wir sind verloren!«, keuchte Hogur und auch Ghandor, der zum engsten Kreis von Saghai-Tans Vertrauten gehörte, konnte seinen Pes simismus nicht länger für sich behalten. »Wir haben eine Macht herausgefordert, die zu gewaltig ist für uns! Selbst ein feiger Rückzug würde uns hoffnungslos aufreiben!« 91
Das tieffrequente Dröhnen der aus purer Energie bestehenden Bälle - nun schon fast vollständig sichtbar über dem Dach des Dschun gels - ging durch Mark und Bein. »Es wird keinen Rückzug geben! Den Grund hast du selbst ge nannt! Also gehen wir doch lieber mit Würde und Anstand und für ein besseres Morgen in den Tod.« Es war das letzte Mal, dass Saghai-Tan während der Schlacht ei nen langen, zusammenhängenden Satz sprach. Aus den Energiekugeln stachen Blitze wie Lanzen hervor, brannten breite Schneisen in das Heer der Angreifer und hinterließen dampfen de, schwarz verbrannte Erde. Ein Knistern wie von Hoch energiereaktoren, das Saghai-Tan nicht einmal von Col'Shan-duur her kannte, durchsetzte die brennende Luft. Das Sterben offenbarte sich in einem kollektiven Schrei, mit dem an einer Stelle Hunderte ihr Leben verloren, an anderer Stelle Tausende zu heißen Schwaden ver dampften. Die Armee wurde löchrig und ständig weiter zersetzt. Bis die Himmelskugeln schlagartig ihre Attacken einstellten. Selbst die blasenwerfende Lava, die von einem Ende ihrer Ausdehnung bis zum gegenüberliegenden einen knappen halben Kilometer durchmaß, schien sich zu beruhigen, leckte nicht mehr gierig nach den Layshi-Pan und hielt sich in Erwartung anders lautender Befehle eines finsteren Kommandanten auf Abruf bereit. Eine abwegige, irrwitzige Vorstellung! In Anbetracht dessen, was geschehen war und ihnen allen noch bevorstand, jedoch eine absolut plausible Deutung. »Warum ist es plötzlich so ruhig?« Hogurs Augen zwinkerten ner vös, wanderten hektisch die Reihen der Kriegerinnen und Krieger ab, blickten argwöhnisch zum Himmel, dann wieder zum Lavasee. »Sie haben den Angriff eingestellt!«, rief er schließlich halb lachend. »Sag hai-Tan! Verdammt! Sie haben ihr Pulver verschossen!« Saghai-Tan sah seinen Kameraden nicht einmal an, als er sagte: »Glaubst du das wirklich...?« Das Heer war stark dezimiert. Die Kämpfer wichen auf die Flanken aus, strömten fort von der Mitte der Ebene zum Waldrand. 92
»Tun wir, wozu wir gekommen sind«, ergriff Saghai-Tan das Wort. Beinahe blieb es ihm im Halse stecken. Der Dschungel lebte! Schlagartig war überall Bewegung, Rascheln, Knacken, Rennen, Schreien und Geräusche, die niemand von ihnen zuzuordnen wusste. Von den Flügeln her wurden die Höllenjäger in den dunklen Wald gezerrt, ja, regelrecht hineingesaugt. Glühende Augenpaare brannten sich durch das Zwielicht, wogende, pulsierende Fänge schossen hervor und umschlangen die Ahnungslosen, rissen sie mit sich und erstickten ihre Schreie, als sie ihnen die Kehlen wegätzten. Wurzelwerk bildete sich zu entfernt menschlichen Formen aus, griff mit unnachgiebigen Klauen nach denen, die sich zu weit vorgewagt hatten. Schwerter und Äxte hieben auf die hölzernen Kreaturen nieder, die wie Menschen wirkten, die man bis zu den Hüften in die Erde eingegraben hatte. Ihre Haut war dunkel und gemasert. Unter den Schlägen der Layshi-Pan splitterten die Körper, doch ließen sie erst los, wenn man ihnen die Gliedmaßen, die Holz- und Pflanzenstränge waren, abgetrennt und zerstückelt hatte. Auch zwischen den Bäumen ertönten mit einem Mal ein Rauschen, dessen Ursprung allerdings keine energetischen Feuerbälle waren, sondern lokale Zentren geballter Windkraft. Kanonenkugeln gleich jag ten sie durchs Unterholz, fegten alles und jeden beiseite, der ihren Weg kreuzte und preschten - nicht sicht- sondern einzig hörbar - hin aus ins Freie, wo sie mit ungestümer Wut und außerordentlicher Kraft die verschüchterten Layshi-Pan von den Füßen fegten, sie he rumwirbelten wie Blätter im peitschenden Sturm. Alleine die Wucht des Aufpralls, der mit immer höherer Geschwindigkeit erfolgte, je weiter die zurückgelegte Entfernung war, tötete die unmittelbar Getroffenen auf der Stelle. Für Saghai-Tan und seine Getreuen, die auf einer Anhö he standen, zeigte sich das widersinnige Bild eines unsichtbaren Ber serkers, der aus allen Richtungen einfallend Spuren von Tod und Ver nichtung in die Menge pflügte. Bisher sah es aus, als wenn der Anführer der Höllenjäger-Armee nur als Statist und Beobachter dem großen Gefecht gegen die Horden der Finsternis beiwohnte. Doch seine erhöhte Position und der sich 93
daraus ergebende strategische Vorteil geriet ins Wanken, als er und die ihn umgebenden Layshi-Pan zum Ziel einer weiteren Angriffswelle wurden, die direkt aus der keine fünfzig Mannslängen entfernten Baumreihe auf sie zurollte. Was sie bis zu diesem Moment nur aus der Distanz hatten beo bachten können und nur als unbeteiligte Zuschauer erlebt hatten, wurde nun greifbare, entsetzliche Wirklichkeit! So entsetzlich, dass sie sich lange Augenblicke nicht zu helfen wussten und die Angst sie an sprang wie eine gefräßige Bestie! * Sie brachen durch das Dickicht, knickten rumpfstarke Stämme, als wären sie aus morschem Holz und versengten durch die bloße Berüh rung ihres Leibes Pflanzen, Blätter und Äste. Grünschwarz wogend und mit grell leuchtenden, hypnotisierenden Augen wälzten sich die me terhohen Geschöpfe eines unerbittlichen, rachsüchtigen Gottes auf die Höllenjäger zu, deren Verstand blockierte und das Bewusstsein mit seiner Forderung nach einer Entscheidung überforderte: Kampf oder Flucht! »Die Mindblaster!«, schrie Saghai-Tan. Die Instinkte und Reflexe der langjährig geschulten Layshi-Pan gewannen erneut die Oberhand. Fast von selbst glitten die kupferfar benen, ellipsoiden Gegenstände in die Hände der Männer. Lohender Feueratem schoss ihnen entgegen, als die Plasmagiganten ins Freie traten, beliebig viele und beliebig lange Pseudopodien ausbildeten und nach den Menschen griffen. Zwei von Saghai-Tans Getreuen wurden zu schwarzer Schlacke verätzt, während diejenigen, die das Glück hat ten, den züngelnden Tentakeln zu entgehen, beinahe gleichzeitig ihre fremdartigen Waffen abfeuerten. Große Gewebestücke wurden aus den Riesen herausgerissen. Zor niges Gebrüll hallte weit über das Land und erreichte noch die Streit kräfte im Tal, die einen erbitterten, blutigen Kampf führten, auch wenn ihre Zahl sich rapide verringerte. 94
Die Plasmaungeheuer - von menschenähnlicher Statur und doch eher Panzerinsekten und Krustentieren nachgebildet - gebärdeten sich ungleich wilder. Ihre Attacken wurden zunehmend unberechenbarer und Saghai-Tan sah mit Grauen, wie der Kreis seiner engsten Un tergebenen, Krieger und Freunde sich lichtete. Unaufhörlich donnerten die unscheinbaren Waffen, sprengten die Gliedmaßen der Plasmabestien einfach vom Körper. Zuckende Tentakel wanden sich am Boden, schlugen umher, als wohnte ihnen immer noch unheimliches Leben inne. Die Layshi-Pan mussten nicht nur den ersterbenden Fangarmen ausweichen, sondern auch die gezielten An griffe abwehren und dabei eine Waffe bedienen, die sich bei unsach gemäßer Handhabung sehr leicht gegen ihren Träger wenden konnte. Weiter und weiter wichen Saghai-Tan und seine Gefährten auf der An höhe zurück, obwohl sie ohne Unterlass die schrecklichen Kreaturen unter Beschuss nahmen und ihnen Mudras und Mantras entgegen schleuderten. Den Vormarsch indes konnten sie nur bedingt aufhalten. Saghai-Tan spürte das Blut in seinen Ohren rauschen. Der Kampf lärm geriet zu einem Hintergrundbrummen, das er nur noch nebenbei wahrnahm. Die Umgebung schien erstarrt. Zeitlupenhaft bewegten sich die Höllenjäger an seiner Seite, alles dehnte sich unnatürlich, zog sich in die Länge und nur der Anführer im winzigen Kosmos seines eigenen Aktionsradius war diesen Verzögerungen nicht unterworfen. Drohend züngelten schwarze Tentakel in gespenstischer Lang samkeit heran, rollten sich aus und peitschten auf eine kleine Gruppe zu, die mit dem Rücken zum Gegner stand und keinesfalls mehr recht zeitig würde reagieren können. Wutentbrannt brüllte Saghai-Tan auf, fokussierte den schlingernden Fangarm mit dem Mindblaster und gab den Abschussimpuls. Was nun geschah, konnte unmöglich als Auswirkung der Waffe in terpretiert werden. Die Umgebung verlor ihre Farbe. Alles wurde erst grau, als wären sämtliche Farbpigmente auf einen Schlag und aus hei terem Himmel verblasst. Dann legte sich ein weißer Schleier über die Szenerie, bedeckte die Menschen, die Plasmaungeheuer, den Wald und das Tal und ließ nichts übrig, was das Auge in irgendeiner Weise hätte wahrnehmen und deuten können. Ein zeit- und materieloser 95
Raum war entstanden. Sich selbst konnte Saghai-Tan ebenso wenig erkennen. Wenn er der Meinung war, seine Arme vorzustrecken, um seine Hände zu betrachten, so war da nichts. Nichts außer dem Weiß, das allgegenwärtig war.
Uns steht nicht zu, deine Handlungsweise zu bewerten oder dich zu bestrafen. Stimmen! Ganz in seiner Nähe. Oder bei ihm. Oder in ihm. Das Töten und Schlachten wird nun enden. Die Evolutionäre! Sie hatten einen Kontakt hergestellt. Sie waren zu ihm gekommen, nicht, wie gewöhnlich, er zu ihnen. »Ihr kommt zur rechten Zeit!«, hörte sich Saghai-Tan sagen. »Die negativen Mächte reiben uns erbarmungslos auf!«
Was nicht geschehen wäre, hättest du dich den karmischen Prin zipien untergeordnet. »Ich hatte keine Wahl! Ohne den Krieg wäre Gh'Ea untergegan gen!«
Ohne den Krieg wären Hunderttausende noch am Leben, die nun sinnlos gestorben sind. »Nicht sinnlos! Sie starben für das Leben!«
Aus deiner Warte ist eine Entscheidung dieser Größenordnung gar nicht möglich. Amalnacron hätte noch Jahrhunderte deiner Zeit ge braucht, auf die Erde hinab zu steigen. Amalnacron! Der Name des Unaussprechlichen, des Allergrößten. Was der physische Körper nicht fähig war zu artikulieren, das war für den Geist keine Hürde. »Nein! Die Augen Cor'Shans waren offen! Der Übergang hatte be reits stattgefunden!«
Tor! Der Übergang war lediglich eingeleitet. Nicht mehr. Die Los sprengung der astralen Fesseln war noch ungewiss. Doch die Men schenopfer, die du mit deinem törichten Feldzug dargebracht hast, haben den Vorgang immens beschleunigt. »Das... das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!« Schockiert überdachte Saghai-Tan die Konsequenz der Aussage. Wenn das stimmte, dann hatte er selbst... 96
Du bist verantwortlich für die physische Manifestation der negati ven Urkraft, die euch bis zur Erde gefolgt ist und sich am Grunde der Felsenschächte eingenistet hat. Du hast den Priesterinnen in die Hän de gespielt, das bewirkt, was erst Generationen später eingetroffen wäre. Und du hast uns gezwungen in eine Auseinandersetzung ein zugreifen und damit den Verlauf der Dinge zu verändern. »Das könnt ihr mir nicht anlasten!«, ereiferte sich Saghai-Tan. »Ich kann nicht die Verantwortung für Ereignisse übernehmen, die ich nicht überschauen konnte!« Gehe in dich, Mensch. Handelte es sich um einen Vorwurf oder nur um einen schlichten Hinweis, wie unendlich groß die Kluft zwi schen Saghai-Tan und den Evolutionären war? Von Verantwortung
willst du nichts wissen. Die Entscheidungen triffst du dennoch.
»Einer musste entscheiden! Wenn nicht ihr, dann ich! Was ist dar an verkehrt?«
Reine Ausflüchte. Du kanntest unseren Beschluss, der auf den Weisungen der Gänger des dreizehnten Weges beruhte. Dieser laute te, jegliche Einmischung zu vermeiden. Dies entsprach nicht deinen eigenen Vorstellungen, die du über die unseren gestellt hast. Sieh nun, was du gesät hast. Bist du auch bereit, die Ernte einzubringen? Sicher nicht, denn es wäre die Auslöschung des Planeten. »Ich habe gekämpft! Jeder gute Mensch hat gekämpft! Doch die höllischen Kräfte waren viel zu stark! Wollt ihr mir das zum Vorwurf machen...?!«
Was geschehen ist, ist geschehen. Von nun an wird die Vorsehung neue Wege beschreiten. Wir selbst müssen die Konsequenzen für un sere eigenmächtige Einflussnahme tragen. Denn auf der kosmischen Bühne geht alles seinen vorgeschriebenen Lauf. Ein Theaterstück. War es dieser Vergleich, den die Evolutionäre, das vergeistigte Kollektiv, ihm näher bringen wollte? Jeder agierte nach einem Drehbuch, lernte seine Bewegungen, die Gestik und den Text. Ein Verpatzer konnte überspielt werden. Doch was geschah, wenn jemand aus der Rolle fiel? Konnte die Aufführung dann noch gerettet werden? 97
Etwas zerrte an Saghai-Tans Gliedern. Zeit und Raum gerieten wieder in Fluss. Das Weiß wurde porös, bildete Falten und verwandelte sich in einen Schleier. Doch nur für kurze Zeit. Der Schleier löste sich auf, Weiß wurde zu Grau. Das Grau füllte sich mit wenigen Farben, die schnell mehr und viel, viel mehr wurden, bis sie den gewohnten Um fang besaßen, den der Layshi-Pan-Führer als seine Realität aner kannte. Stechender Geruch stieg ihm in die Nase. Er war immer noch auf der Anhöhe. Aber er war allein. Verbranntes Fleisch!, kroch der beunruhigende Gedanke durch seinen Verstand. Die verkohlten Überreste des Urwaldes, der vor Stunden noch in sattem Grün gestanden hatte, ragten anklagend em por. Zwischen ihnen lagen schwarze Knochen, von Säure zerfressene Leiber, Armstümpfe und abgerissene Köpfe - teils skelettiert, teils noch von rotschwarzem Fleisch überwuchert. Saghai-Tans Magen rebellierte, krampfte sich zusammen, traktier te ihn in konvulsivischem Rhythmus. Nicht einzig der Anblick setzte dem Bärtigen dermaßen zu, das er sich übergeben wollte. Am Ende war es die Kenntnis um die eigene Täterschaft, die er vor seinem Ge wissen nicht mehr leugnen konnte. Alles, was die Evolutionäre ihm vorgeworfen hatten, entsprach der Wahrheit. Angewidert von sich selbst blickte er ins Tal. Glutrot erstreckte sich der Lavasee über eine weite Fläche. Um ihn herum gab es nichts mehr, was in irgendeiner Form lebte. Nicht einmal Bakterien konnten zurückgeblieben sein. Dreihunderttausend Menschen waren zu Staub und klebriger Asche verbrannt. Der Dschungel war bis auf lose Baumreihen und ver krüppelte Haine hinfort gefegt. So weit das Auge reichte sah man nur kahle Hänge, schwarzbraune Schlacke und ausglühende Baumstämme. Freund und Feind hatte es gleichermaßen getroffen. Von beiden war nichts mehr zu sehen. Saghai-Tan konnte nur hoffen, dass seine kleine Gruppe Höllenjäger es zurück nach Col'Shan-duur geschafft hat te. Die Evolutionäre hatten die Schlacht beendet. Sie würden den Preis zahlen, der unter Saghai-Tans Rechnung stand. Es blieb zu ver muten, dass Amalnacron - der Name hatte sich unauslöschlich in Sag 98
hai-Tans Gehirnwindungen eingebrannt - aus der stofflichen Welt ver bannt worden war. Aber er würde wiederkehren. So, wie es das Schauspiel der Schöpfung vorsah.
7. Kapitel
Das Böse zu knechten...
Sie waren nicht alle vernichtet worden. Einen Teil seiner Getreuen hat te Saghai-Tan ganz in der Nähe der Anhöhe vorgefunden. Mutlos hat ten sie dagesessen, sein Kommen argwöhnisch betrachtet, nicht wis send, einer Täuschung aufzusitzen oder ihren wahrhaftigen Anführer zu sehen. Er hatte erfahren, dass er plötzlich verschwunden, erst farb los grau, dann durchsichtig geworden war. Keine Viertelstunde mehr hatte die Schlacht noch gewütet, dann hatte sich die Sonne verdun kelt, Kaskaden fremdartigen Lichts auf die Erde geschüttet. Tiefblau, Purpur und Dunkelorange. Dröhnen und Brummen, so durchdringend, dass die Kontinente erbebt waren - der Schrei des negativen Gottes hatte die Armeen der Hölle in ein unbegreifliches Etwas ein gesogen, eine schwarz flammende Öffnung, die anstelle des Himmels die Hori zonte erfüllt hatte. Was geblieben war, war das Gebein der Geschlach teten, größtenteils zur Unkenntlichkeit verbrannt, in wenigen Ausnah men jedoch ein schonungsloser Affront auf das Gemüt. Die Zerstörung der oberen Erdschichten würde außerdem für Tausende von Jahren keine noch so anspruchslose Pflanze gedeihen lassen. Nach dem Ein griff der Evolutionäre noch von einem Sieg zu sprechen, konnte ange sichts der großflächigen Verwüstungen und den Abertausenden von Toten nur mit bissigem Spott beantwortet werden. Jedoch hatte es selbst im tiefen Schlund der Hoffnungslosigkeit keinen Grund zur Auf gabe gegeben. Das hatte Saghai-Tan vor seiner Rotte deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie hatten die Pflicht, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Jetzt erst recht! Der Seelenacker - auf diesen Namen hatten sie den Austragungsort des großen Gefechts mit den Dunkel mächten getauft, im unsterblichen Andenken an die Gefallenen vieler Völker und Welten sowie zur Erinnerung an das Keimen der Frucht des 99
unaufhörlichen Widerstands - war Mahnmal und Motivation in einem. Im Gedenken an die Toten hatte das Layshi-Pan-Oberhaupt Gedächt nisstätten errichten lassen, die vordergründig zwei Aufgaben erfüllten: Einmal sollten sie den ruhelosen Seelen der Krieger eine Heimat in der Nähe ihres sterblichen Wirkens bieten, einen hermetisch abgeriegel ten, metaphysischen Kaum. Andererseits sorgte ein grün schillernder, mit spirituellen Energien aufgeladener Informationskristall dafür, dass das Wissen um die Höllenjäger, ihren Kampf und ihre Gegner niemals verloren ging. Oft hatte Saghai-Tan nach seiner Rückkehr zur Zitadelle eine Ver bindung zum Kollektiv herstellen wollen, doch ein Kontakt war niemals mehr zustande gekommen. Es hatte den Anschein gehabt, als wären die Evolutionäre aus diesem Universum getilgt worden und in Gedan ken grübelte der Höllenjäger-Führer darüber nach, ob das wohl der Preis gewesen war, den die Manipulation des Szenarios eingefordert hatte. Hinzu war gekommen, dass die Transportverbindung zwischen Col'Shan-duur und der Erde eigentümliche Fluktuationen aufgewiesen hatte. Der Schrein hatte die Transfertore bis auf weiteres abgeschal tet; seine Vermutung, auch diese Unwägbarkeiten könnten auf die genetische Mutation des Tetraedergewebes zurückgehen, hatten allen Grund zur Besorgnis geboten und eine düstere Zukunftsvision gemalt. Seine Überlegungen aber einzig auf die Zukunft auszurichten, war Saghai-Tans Sache nicht; viel mehr zählte für ihn gelebte Gegenwart. Und dieser wollte er sich widmen, diese galt es auszubauen und immer wieder zu überprüfen. Gleiches galt für die Ausbildung und geistige Führung der Höllenjäger. Über kurz oder lang musste ein anderes - ein sichereres - Refugium als die dunkle Zitadelle auf Col'Shan-duur ge funden werden. »Glaubst du, es war klug, am Grunde der Augen Cor'Shans eine Siegelkammer zu errichten?«, war Saghai-Tan einmal gefragt worden. Daraufhin hatte er nur hintergründig gelächelt und geantwortet: »Ich habe einen Stachel gepflanzt in das Herz der Dunkelheit. Ja, ich denke, es war klug.« Die Siegelkammern konnten einiges mehr. In einem experimentel len Ritual ausgesuchter Gefährten hatte Saghai-Tan den Siegelgeist 100
auf eine bestimmte Aufgabe geeicht. Vornehmlich gehörte dazu der stoffliche Transfer der Ordensangehörigen von einer Gedenkstätte zur nächsten. Hatte man ein mentales Abbild der Gegenstation erschaffen, so klinkte sich der Siegelgeist darauf ein und schuf ein Abstrahlfeld, das auf psi-basierten Frequenzen aufbaute und nicht - wie ur sprünglich die Transporttore auf Col'Shan-duur - auf energetischen Schwingungsmustern. Damit war ein Problem gelöst. Um aber die voll ständige Unabhängigkeit vom Sterntetraeder zu erreichen, musste die dunkle Zitadelle aufgelöst und etwas völlig Neues geschaffen werden diesmal auf der Erde selbst! Saghai-Tan nahm die Kommunikation mit den Hova auf, jene Ras se, die sich über Millionen Lichtjahre hinweg mit der Sternenschwester Erde verbunden fühlte und gerne ihre Hilfe gab, sofern keine Na turgesetze verletzt wurden. Hundert Jahre nach Schaffung der ersten Siegelkammer entstand Venora Ghol. Eingebettet in den Fels der westlichen Küstengebirgsket te Exons war es Schule, Kathedrale und Festung in einem, verfügte über eine Kammerverbindung nach Col'Shan-duur und war Zen trumspunkt eines im Ausbau befindlichen globalen Siegelkammernet zes. Unter Mithilfe der Hova wurden die Eignungsprüfungen der Lays hi-Pan-Anwärter verbessert, ihre Ausbildung verfeinert und die An sprüche an ihr Wirken angehoben. Als Saghai-Tan mit fast sechshundert Jahren starb, befanden sich an etlichen Kreuzungspunkten der energetischen Gitternetzstruktur, die den Planeten als morphogenetisches Feld umgibt, Siegelkammern. Diese Seelenhäuser der in der Schlacht von Cor'Shan Gefallenen waren mit einem mentalen Identifizierungscode versehen, der auf Recher chen des Col'Shan-duur-Priestervolks beruhte und Teile der transgene tischen Matrix des T'ott'amh-anuq enthielt. Allen Schülern, Prüflingen und Mentoren des Ordens wurde der Schwingungsstempel ins Be wusstsein eingeprägt, sodass er unbemerkt vom Siegelgeist verifiziert werden konnte. Ruhe war auf Gh'Ea, der Erde, eingekehrt. Eine Ruhe, die die Menschheit brauchte, um sich auf ihre bevorstehenden Aufgaben ein zustimmen. 101
Das Böse in Form von Amalnacron, jener Entität, die von Anbeginn des Universums auf Eroberung und Zersetzung bestehender Struktu ren fixiert war, war in seine Schranken verwiesen. Doch güns tigstenfalls schlief es nur, sammelte neue Kraft für einen neuen Schlag gegen alles, was anders war als es selbst. Das Wissen um die schlum mernde Gefahr wurde von dem Lehrer an den Schüler weitergegeben, ging von Venora Ghol aus in die Welt hinaus, überall dorthin, wo auch Layshi-Pan wanderten, predigten, sich niederließen und ihre eigenen Schulen gründeten und eigene Schüler ausbildeten. Doch wo sie sich auch befanden, gehörten sie alle dem gleichen Orden an, folgten derselben Bestimmung und waren winzige, funktio nierende Teile einer Milliarden Jahre alten Zielsetzung, die in die ent scheidende Phase getreten war. Im Herzen und im Verstand waren und blieben diese Männer, Frauen und deren Sprösslinge immer Höllenjäger!
Schlusswort Lohn der Erkenntnis »Wenn du etwas weißt, dann solltest du es mir nicht länger ver schweigen.« Gon'O'locc-uur reagierte nüchtern und sachlich auf Virrocs orakel hafte Verlautbarung. Der Kommandant selbst hatte nicht im Entfern testen vorgehabt, unbegründet die Spannung zu steigern. »Wie ich schon sagte: Unser Problem liegt im Innern, auf den Hunderten Decks und Ebenen des Schiffes. Es sind die Abermillionen Lebewesen, die ihre Toten bestatten.« »Erkläre mir den Zusammenhang«, forderte Gon'O'locc-uur. »Ob wohl ich ahne, worauf du abzielst.« »Sie vergraben ihre Toten in der Erde, in der Substanz des Stern tetraeders. Die Leichen faulen im Fleisch Col'Shan-duurs. Sie sind die Infektion. Sie sind das Gift im Organismus des Schiffes!« Gon'O'locc-uur zeigte sich wenig überrascht. Eher stieg seine Sor ge noch an. 102
»Ich habe das Ausmaß der Vergiftung anhand deiner Untersu chungsdaten und dem Abgleich mit den Speicherbänken soeben bestä tigt bekommen. Der Vorgang ist irreversibel. Die biologisch-psionische Matrix wurde in Mitleidenschaft gezogen. Ein Wundbrand, möchte ich sagen, dessen Ausbreitung sich verlangsamen, aber nicht mehr stop pen lässt.« »Das hast du jetzt gerade herausgefunden?« Es klang spöttisch und das mit voller Absicht. »Jahrelang kommst du zu keinem Ergebnis, rätselst herum und hast mir nichts, dir nichts plötzlich die Diagnose in der Hand.« »Ich bin Teil der Schwingungsmatrix. Ihre Beschädigung kann nicht spurlos an mir vorübergehen. Ich habe Einbußen in meiner Leistungs- und Beurteilungsfähigkeit entdeckt, diese aber vorher nicht wahrgenommen. Ich konnte mein Bewusstsein anheben und der End losschleife des Nichtbegreifens entkommen. Dazu hat deine Be standsaufnahme beigetragen. Und dafür möchte ich dir Dank sagen.« »Schon gut.« Mehr konnte Virroc auf Anhieb nicht zu dem entlar venden Geständnis Gon'O'locc-uurs sagen. »Trotzdem sind die Um stände vielleicht nicht ganz so aussichtslos, wie du sie gerade ge schildert hast. Möglicherweise habe ich das Rezept, Col'Shan-duur zu heilen.« »Meinen Analysen zufolge ist ein Genesungsprozess nicht mehr...« »Keine voreiligen Schlüsse! Vordringlich müssen die Bestattungsri tuale abgewandelt werden. Sollen sie ihre Toten verbrennen. Mach ihnen klar, dass eine Leiche in lebendiger Erde dasselbe bewirkt wie ein abgestorbener Fötus im Mutterleib. Du schaffst das. Ich kenne deine Alternativen zur Massenbeeinflussung.« »Du stellst dir die Sache recht einfach vor, Virroc.« »Dann sieh zu, dass ich mich nicht irre. Derweil begebe ich mich zur Erde. Dort ist mir bereits vor geraumer Zeit eine unterirdische An sammlung grünen Mineralsteins aufgefallen. Neueren Messungen zu folge schwingt er auf Psi-Frequenzen.« »Du willst das Mineral in das Gewebe pflanzen«, stellte der Schiffscomputer fest. 103
»Ganz genau. Es besteht gewisse Aussicht auf Erfolg und der kleinste Lichtblick sollte uns Ansporn genug sein. Ich habe eine Form des Mineralsteins berechnet, die das Schwingungsfeld optimal unter stützt. Wir werden sie demgemäß zurechtschneiden. Wahrscheinlich genügt ihre bloße Präsenz auf dem Schiff, um die Strahlung gleichmä ßig auszusenden. Wir werden sehen...« Ein Erkundungstrupp war schnell zusammengestellt. Nach Bestäti gung der Mineralvorkommnisse folgte ihm ein Schürfkommando mit schwerem Gerät. Betrachtete man es genau, dann war es einem Zufall zu verdanken, dass Virroc das psionisch strahlende Gestein entdeckt hatte. Ursprünglich war es unter kilometerlangen und dicken Gold adern verborgen gewesen. Als vor über einhunderttausend Jahren die Anunnaki die Erde heimgesucht und die Menschen zum Goldschürfen versklavt hatten, waren die ungleich tiefer liegenden Schichten des grünen Erzes freigelegt worden. Aber war es wirklich als Zufall zu bezeichnen gewesen? Die Anun naki - eine außerirdische Zivilisation, deren Name in der Zukunft nicht mehr vielen geläufig sein würde und die in den fernen Tagen des Christentums als gefallene Engel bezeichnet werden sollten - hatten selbst in höchster Not gehandelt, als sie auf den unschuldigen blauen Planeten und seine kleinen unwissenden Bewohner hinabgestürzt wa ren. Wie sie gekommen waren, hatten sie sich nach einigen Jahrtau senden auch wieder entfernt. Virroc war es zu dieser Zeit nahezu uner träglich erschienen, seinen Schutzbefohlenen, den Menschen, nicht zur Hilfe eilen zu dürfen. Der Kontakt zu den Evolutionären hatte sich in tensiver gestaltet und sie waren nie müde geworden, auf den großen Plan zu verweisen, der der Erde eine strahlende Zukunft und wegbe reitende Funktion im Universum verhieß. Waren eventuell alle Besuche weltraumfahrender Zivilisationen Teil dieses Plans? Was hatten sich einige als Götter verherrlichen las sen, mit ihren technischen und mentalen Fähigkeiten geprahlt und die junge Rasse mit Namen Mensch eingeschüchtert. Nicht alle Welten bummler waren jedoch negativer Natur gewesen, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Sie lebten schon lange nicht mehr auf diesem Pla neten und nur ihre Bauwerke hier, auf dem Mond und den inneren 104
Himmelskörpern würden ein verwelkendes Zeugnis ihrer Existenz able gen, derer sich niemand mehr bewusst sein würde. Unter Umständen war selbst die Erkrankung Col'Shan-duurs ein Steinchen im unüberschaubaren Mosaik der Schöpfung. Wer kannte die Zusammenhänge...? Virroc ließ Maschinen konstruieren, die die tonnenschweren Mine ralsteinblöcke bearbeiten und zu der Form schleifen konnten, die opti male Strahlungswerte abgab. Lastengleiter passierten die Transport felder in beide Richtungen, waren Tag und Nacht unterwegs, Woche für Woche, Monat für Monat... Die gewaltige Aufgabe wollte angesichts der Größe des Sterntet raeders, der eine feste Position über der der Erde abgewandten Seite des Mondes eingenommen hatte, kein Ende nehmen. Völker wurden umgesiedelt, Decks geräumt, um die unglaublichen Mengen des grün schillernden Erzes zu lagern. Bis die Vorkommen schließlich erschöpft waren. »Eine Verbesserung des Allgemeinzustandes ist nicht eingetre ten«, berichtete Gon'O'locc-uur sehr viel später auf Nachfrage Virrocs, der seinen eigenen Auswertungen nicht unbedingt misstraute, jedoch auf die unbestechliche Logik des Bordgehirns baute. »Das Kollektiv dritter Potenz lässt sich nicht ins Handwerk pfu schen«, erwiderte Virroc süffisant, obwohl seine Laune nicht zum Bes ten stand. Er seufzte. »Ich werde alt. Mein Körper wird schwach. Bald ist es wieder so weit...« »Soll ich eine neue Hülle bereitstellen? Möchtest du vorzeitig in karnieren?« »Nein«, kam es tonlos. Virroc strich über den grünen Mineralstein, ein unbearbeitetes Stück, das bei den Schleifarbeiten abgetrennt wor den war und das er oftmals bei sich trug. War es, weil er die Trophäe seiner enttäuschten Hoffnungen stets vor Augen haben wollte, war es nostalgische Anwandlung oder das Wissen um eine höhere Bedeutung desselben. »Nein«, wiederholte er, diesmal geringfügig kraftvoller. »Ich bin so tief die Bewusstseinsebenen hinab geglitten, habe mich so weit von der Flamme der Spiritualität entfernt, dass ich nicht einmal mehr ein 105
Glimmen erkennen kann. Nun da ich weiß, wohin mein Weg führt und da ich meine Bestimmung in der Begleitung meiner Schützlinge auf Gh'Ea sehe, ziehe ich es vor, als einer der ihren unter ihnen zu weilen. Eine letzte Inkarnation. Ein letzter Versuch, auf dieser niederen Exis tenzebene das Schicksal der Welt positiv beeinflussen zu können.« »Du möchtest... ein Mensch werden?« »Ich möchte vergessen können. Ich trage eine unsägliche Last. Die Last der Erinnerung an den Ursprung dieser Reise, wenn er auch noch so winzig und verschwommen ist. Ich muss etwas tun! Ich will aktiv sein, etwas bewegen und nicht nur beobachten und aufzeichnen. Ich muss ausbrechen aus der Neutralität, die man von mir erwartet. Und nie zuvor ist mir diese Entscheidung leichter gefallen. Der Um gang mit den Menschen hat mich geprägt, mich praktisch zu ihresglei chen gemacht, egal, wie du oder das Kollektiv das einschätzen mögt.« »Wie kann ich dich unterstützen?«, fragte Gon'O'locc-uur ohne die erwartete Zurechtweisung. »Das brauchst du vorerst nicht. Ich suche mir unter den Rassen und Stämmen des großen Kontinents einen Menschen aus. Ich werde ihm alles genauestens erklären und wenn er seine Zustimmung gege ben hat, werden mein Geist und meine Seele seinen Körper als freiwil lige Gabe annehmen.« »Ich schaffe dir einen Körper exakt nach deinen Wünschen.« »Nein.« Virroc schüttelte in menschlicher Gestik den Kopf. »Das wäre nicht dasselbe. Er wäre konstruiert, nicht geschaffen. Ihm würde der Schöpfungsfunke fehlen, möchte ich einmal sagen. Der Hauch der Göttlichkeit.« »Hast du weiterführende Anweisungen?« Der Schiffscomputer ahnte zusätzliche Neuerungen, die es bei den vorangegangenen In karnationen nicht gegeben hatte. »Wie ich bereits andeutete: mein Fluch ist die Erinnerung. Sieh dir die Menschen an. Sie unterliegen dem kosmischen Gesetz der Wieder geburt, kommen stets zurück, vermehren sich, bekommen See lenzuwachs von außerhalb und gehen ab und zu auch von hier fort. Aber niemals nehmen sie die Erinnerung der Vorleben mit, obwohl sie in der Seele gespeichert sind. Nur dem Bewusstsein sind diese In 106
formationen nicht zugänglich. Und genau so möchte ich es auch ha ben.« Gon'O'locc-uur schwieg eine Weile. Dann projizierte er einen Ta chyonenschirm in den Kuppeldom, der eine Szene auf der Erde zeigte. »Ein Dorf«, beschrieb Virroc die Bilder. Die imaginäre Kamera nä herte sich den Hütten, zirkelte um eine Gruppe Männer, Frauen und Kinder. »Ist da jemand für dich dabei?« »Ist das deine Art von Humor? Wir sind doch nicht auf dem Wo chenmarkt!«, empörte sich Virroc, zeigte aber weiterhin Interesse. Er verfolgte die Gespräche der Dorfbewohner, wohnte ihrer Versammlung bei, als säße er gleich neben ihnen. »Legst du es mir als Egoismus aus, wenn ich meinen Beitrag zur Entwicklung der Menschheitsstämme leiste?«, fragte Virroc versonnen. Das herzliche Miteinander der Personen berührte ihn und es war ihm plötzlich klar, dass es genau das war, was er vermisst, wonach er sich gesehnt hatte. »Was du durch Eigenmächtigkeiten an karmischer Belastung er schaffst, kannst auch nur du wieder beseitigen.« »Dachte ich mir doch, dass du eine Stellungnahme verweigerst...« Gon'O'locc-uur hielt eine Richtigstellung seines Kommentars für überflüssig; es wäre der Beginn einer fruchtlosen Diskussion gewesen. Virroc hatte sich längst entschieden und brauchte lediglich eine Bestä tigung. »Der da vorne«, sagte Virroc. »Den kenne ich. Ich bin ihm schon begegnet. Ist gar nicht mal so lange her.« »Er ist jung und kräftig«, erklärte das Bordgehirn und sagte sar kastisch: »Sein Preis wird recht hoch sein.« »Hör doch mit dem Unsinn auf«, gab sich Virroc teils ernst, teils amüsiert. »Ich meine, er ist der Richtige. Er hat Ausstrahlung, obwohl er noch nicht erwachsen ist. Mit ihm könnte ich die Welt bewegen...« Virroc stutzte. »Ich habe seinen Namen vergessen. Lass uns weiter hören. Vielleicht wird er genannt.« Unmerklich floss die Zeit dahin, während Virroc gebannt auf den Schirm schaute, um kein einziges Detail zu versäumen. 107
»Aha«, meinte er eine Weile darauf. »Saghai-Tan heißt er.« »Wirst du zu ihm gehen?« »Auf jeden Fall werde ich mit ihm reden. Er muss einverstanden sein, dass ich zu ihm werde.« Die Aufnahme, die der Tachyonenschirm zeigte, veränderte ihren Winkel, zoomte aus dem Dorf heraus, über den Kontinent hinweg und gelangte in die oberen Atmosphäreschichten und dann in den Welt raum. »Eine Zusage würde dich sehr glücklich machen, habe ich recht?« Gon'O'locc-uur hatte etwas Mitfühlendes in seine Stimme gelegt, fernab vom erhobenen Zeigefinger, von Warnungen und Vorwürfen. Beinahe war es eine Ermutigung. Virroc nahm das Gefühl als Geschenk und erwiderte: »Nichts wün sche ich mir mehr...« Ende
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