William Corlett
Der Tunnel hinter dem Wasserfall Das Haus des Magiers III Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutsch...
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William Corlett
Der Tunnel hinter dem Wasserfall Das Haus des Magiers III Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutscher Taschenbuch Verlag
William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst Schauspieler, bevor er selbst erfolgreich Theaterstücke und Drehbuchtexte zu schreiben begann. Seit den 70er Jahren veröffentlicht er Jugendromane, die vielfach ausgezeichnet wurden, und ist inzwischen auch als Autor belletristischer Romane bekannt. Seine Serie ›Das Haus des Magiers‹ hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung 4. Auflage Oktober 2004 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1991 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: >The Tunnel Behind the Waterfalls erschienen 1991 bei Red Fox, a division of Random House UK Ltd. erstmals erschienen 1991 bei The Bodley Head Children’s Books © für die deutschsprachige Ausgabe: 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Ludvik Glazer-Naude Gesetzt aus der Baskerville 11/131/2’ Gesamtherstellung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany • ISBN 3-423-70.703-8
Für William
Sommerferien im Golden Valley. Endlich kommen die Geschwister William, Mary und Alice wieder zurück nach Golden House, jenem wilden und idyllischen Ort an der walisischen Grenze, an dem Tante Phoebe und Onkel Jack leben. Und dorthin, wo auch Stephen Tyler zu Hause ist. Durch ihn konnten die Geschwister erfahren, was Magie bedeutet. Hier, in einer Umgebung voller Wälder, Moore und Geheimnisse, scheint alles denkbar und nichts unmöglich. Denn mit Vernunft lässt sich nicht erklären, wie es sein kann, plötzlich in einem Tierkörper zu stecken, so wahrzunehmen, zu fühlen und zu schmecken wie Spot, der Hund, Cinnabar, der Fuchs, und Jasper, die Eule. Und während William, Mary und Alice allmählich lernen mit ihren magischen Kräften umzugehen, befindet sich Stephen Tyler in höchster Gefahr. Das Zentrum seiner magischen Kräfte wird bedroht…
1 Golden Water William stieß seine Hände nach vorn, breitete die Arme aus und glitt durch das eiskalte, prickelnde Wasser. Mit jedem Zug kamen die Bäume am anderen Ufer ein wenig näher. Um ihn herum funkelte das Sonnenlicht, eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche und ließ sie wie Seide schimmern. »William!«, hörte er eine Stimme in der Ferne rufen. Sie gehörte seiner jüngsten Schwester Alice. Als er sich umdrehte, sah er sie im seichten Wasser am Seeufer stehen. »Komm schon!«, schrie er. »Wenn man erst mal drin ist, kann man es gut aushalten.« »Es ist eiskalt!«, jammerte Alice. William drehte sich wieder um, holte tief Luft und tauchte sein Gesicht unter Wasser. Mit kräftigen Zügen schwamm er zur Mitte des Sees. »Mary«, beklagte sich Alice und beobachtete Williams immer kleiner werdende Gestalt und die winzigen Schaumkronen, die seine Füße beim Paddeln machten. »Er schwimmt kilometerweit raus.« »Keine Sorge, er ist ein guter Schwimmer«, murmelte eine schläfrige Stimme hinter ihr. Mary lag ausgestreckt auf dem Rücken in der heißen Sonne. Während sie sprach, verschwanden die Sommergeräusche wieder an den Rand ihres Bewusstseins. Die Sonne brannte auf ihren Körper und entspannte ihre Muskeln auf dem trockenen Gras. Ganz in der Nähe summte eine Biene. Ein paar Vögel sangen in den Bäumen und irgendwo trommelte ein Specht an einen Stamm. Mary seufzte zufrieden, schob ihre Hände unter den Kopf und versank wieder in Halbschlaf. »Also wirklich!«, murmelte Alice mürrisch. »Ich könnte genauso gut allein hier sein.« Dann rief sie: »Du bist so langweilig, Mary!«, und ging versuchsweise noch einen Schritt ins Wasser. Dabei rutschte sie auf einem glitschigen Felsbrocken aus und fiel mit einem Platsch und einem Schrei in den eisigen See. »O Mann, das ist ja lausekalt!«, ächzte sie, kämpfte sich aus dem
Wasser, fiel aber sofort mit noch einem Platsch und noch einem Schrei wieder hinein. »Alice?«, rief Mary, setzte sich auf und blinzelte ins Sonnenlicht. »Was ist passiert?« »Ich bin ins Wasser gefallen, was sonst?«, antwortete Alice gereizt. »Hast du dir wehgetan?« »Nicht besonders.« Dann zuckte sie mit den Schultern und kicherte. »Na gut. Jetzt bin ich drin«, sagte sie, watete tiefer in den See und machte zähneklappernd die ersten vorsichtigen Schwimmbewegungen mit hoch erhobenem Kopf, weil sie es hasste, Wasser in die Augen zu bekommen. »Eigentlich ist es ganz schön«, rief sie ihrer Schwester keuchend zu. »Komm rein, Mary. Bitte! Es ist viel lustiger, wenn mehr Leute schwimmen.« »Du bist ein kleiner Feigling, Alice!«, murmelte Mary. »Ich komme nicht rein, bloß damit du dich sicher fühlst. Und überhaupt will ich nicht nass werden. Ich liege lieber hier in der Sonne.« Typisch!, dachte Alice, stellte sich vorsichtig auf einen anderen Felsbrocken und blickte in das Wasser um sich herum. »William!«, kreischte sie. »Sieh dir das an! Um meine Beine schwimmen winzige Fische…« Aber William war schon zu weit von ihr entfernt und schwamm mit dem Kopf unter Wasser, so dass er sie nicht hören konnte. Alice hockte sich hin, schöpfte Wasser in ihre Hände und ließ es wieder in den See tröpfeln. »Meinst du, man kann es trinken?«, fragte sie. Aber keiner der beiden anderen antwortete ihr. Sie seufzte wieder, schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und betrachtete die Landschaft. Der See war von Wald umgeben, nur ein schmales Band aus Kieseln und Moos trennte das Wasser von den Bäumen. Am gegenüberliegenden Ufer standen dunkle Nadelhölzer in dichten, ordentlichen Reihen den steilen Abhang hinauf und verschwanden oben hinter dem lang gestreckten Hügelkamm. Auf Alices Uferseite, hinter der Stelle, wo Mary zwischen den Resten des Picknicks schlief, wuchsen hellere Laubbäume. Hohe Eichen, Birken, Kastanien und andere Waldbäume und Büsche drängten sich bis hinunter zum Wasser. Durch die Zweige fiel glitzernd das Sonnenlicht und warf tanzende Schatten auf den Untergrund. Am rechten Ufer des Sees ragte hinter sumpfigem Gelände ein steiler Felsen in die Höhe, auf dem Büsche
und junge Bäume wuchsen. Unter ihren Zweigen konnte man einen Gebirgsbach aus großer Höhe herabstürzen sehen. In der Ferne hinter dem Felsen waren gerade noch hohe Berggipfel im dunstigen Nachmittagslicht auszumachen. Am linken Seeufer stieg ein Hügel sanft zu einem allein stehenden, hohen Stein an, gegen den sich eine Stechpalme lehnte. Hinter diesem Stein lugten die Zweige einer mächtigen Eibe hervor. Sie stand am Rand des steilen Abhangs, der Golden Valley auf der Seite begrenzte, wo die Kinder bei ihrem Onkel Jack wohnten. In den Osterferien hatten sie in dieser Eibe ein Baumhaus entdeckt, das jetzt unter den dichten Zweigen verborgen war. »Komm, wir gehen zu Meg«, sagte Alice, watete zum Ufer zurück und hob ihr Handtuch auf, das neben einem Kleiderhaufen am Boden lag. »Bist du schon wieder draußen?«, murmelte Mary mit geschlossenen Augen. »Ich dachte, du wolltest schwimmen gehen.« »War ich auch«, erwiderte Alice. Während sie sich den Rücken rubbelte, blickte sie über den See, um William beim Schwimmen zu beobachten. »Er ist jetzt fast in der Mitte.« Eine Sekunde später stieß sie einen so überraschten Schrei aus, dass Mary sich kerzengerade aufsetzte und plötzlich hellwach war. »Alice! Was ist los? Was ist passiert?«, fragte sie. »Es ist was mit William!«, rief Alice. »Er ist verschwunden.« Mary stand auf und begann das Wasser mit den Augen abzusuchen. Flach gekräuselte Wellen plätscherten um ihre Füße. Von William war nichts zu sehen. Sie lief am Ufer entlang und rief verzweifelt: »Was ist denn passiert? Hat er noch irgendwie mit den Armen gerudert?« »Mary! Wo willst du hin?«, rief Alice drängend und platschte erneut ins Wasser. »Er ertrinkt! Komm schnell, wir müssen ihn da rausholen!« »Nein! Alice! Bleib hier! Du kannst da nicht hinschwimmen. Du bist nicht kräftig genug«, schrie Mary, drehte sich um und rannte zum Wasser hinunter. »Aber wir müssen doch irgendwas tun!«, wimmerte Alice. Als Mary sie gerade eingeholt hatte und sie zurück ans Ufer ziehen wollte, teilte sich die Wasseroberfläche vor ihnen und William erschien aus den Tiefen des Sees wie ein verspielter Delfin. Die Mädchen starrten ihn überrascht und erleichtert an. Wie in Zeitlupe sahen sie in der Sonne golden glänzende Wassertropfen von seinem
Körper herabgleiten. »William!«, schrie Mary aufgebracht. »Du hast uns fast zu Tode erschreckt!« »Wieso?«, rief er und schwamm mit kräftigen Zügen auf sie zu. »Wir dachten, du würdest ertrinken«, sagte Alice. »Ich bin nur unter Wasser getaucht«, protestierte William. »Ein Ort, wo menschliche Wesen natürlicherweise nicht hingehören«, sagte eine strenge Stimme hinter ihnen. Die Stimme kam völlig überraschend von irgendwo ganz in der Nähe der Mädchen. Sie wirbelten erstaunt herum. Stephen Tyler, der Magier, saß nicht weit von ihnen entfernt unter einer Eiche auf dem Boden. »Mr. Tyler!«, keuchte Alice. Der Magier starrte sie schweigend an. Seine dünnen roten Haare standen wie eine Wolke um seinen Kopf und seine Augen blitzten golden im Sonnenlicht. Er trug seinen langen, schwarzen Mantel und hielt seinen Silberstab mit den sich umeinander windenden Drachen an der Spitze in der Hand. Sein Arm lag in einer Schlinge aus grobem Stoff. Er saß so still da, dass er mehr ein Teil des Baumstammes zu sein schien als ein menschliches Wesen. Zugleich funkelte er sie so wütend an, dass sie seine Gegenwart mehr fühlten als sahen. »Ist er wirklich hier?«, wisperte Mary. »Sprich lauter, Kind!«, fuhr der Magier sie an. Dabei trat seine Gestalt deutlicher hervor, so wie bei einem Fernglas, durch das man klarer sieht, wenn man die Entfernung richtig eingestellt hat. Er stand langsam auf, indem er sich schwer auf seinen Stab stützte. »Und du, Junge«, rief er William zu, der inzwischen seichteres Wasser erreicht hatte und ans Ufer watete, »komm sofort an Land!« »Sie haben uns so einen Schrecken eingejagt!«, sagte Mary und ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin schon eine ganze Weile hier«, erwiderte der alte Mann. »Wo?«, fragte Alice. Der Magier zuckte mit den Schultern. »Nur halb. Ich merke, dass es mir immer schwerer fällt, mich richtig zu konzentrieren. Tempus fugit! ›Die Zeit vergeht wie im Flug‹!« Dann seufzte er und sagte gereizt: »Ihr springt immer hierhin und dorthin. Nie seid ihr da, wenn ich euch brauche. Bleibt ihr dieses Mal wenigstens länger?« »Ewigkeiten«, sagte Alice aufgeregt. »Es sind Sommerferien.« »Dann müssen wir sie gut nutzen.«
William trocknete sich energisch mit dem Handtuch ab. Seitdem er aus dem Wasser heraus war, fror er und klapperte mit den Zähnen. »Also, du Fisch«, sagte der Magier zu ihm, »du hast Golden Water erkundet. Und was hältst du von meinem See?« »Ihrem See?«, fragte Mary überrascht. »Natürlich«, antwortete der Magier. »Das ganze Land hier gehört zu Golden House, es ist Teil des Anwesens.« »In unserer Zeit nicht mehr«, sagte William, schlang sich das Handtuch um die Hüften und stieg in seine Unterhosen und Shorts. »Ich erinnere mich, dass Onkel Jack uns an Weihnachten erzählt hat, ihm gehörten nur viertausend Quadratmeter. Da habe ich noch gedacht, dass das eine ganze Menge ist. Unser Haus in London hat nur einen kleinen Garten.« »Viertausend Quadratmeter?«, rief Stephen Tyler aus. »Nur viertausend? Was hat er mit dem Rest gemacht? Er muss ihn sofort zurückbekommen. Golden Water ist wesentlich für meine Pläne, genauso wie Golden Spring und die beiden Aussichtspunkte. Viertausend Quadratmeter? Wie soll man das Universum auf einem Stecknadelkopf im Gleichgewicht halten?« Er zuckte mit den Schultern und nickte nachdenklich. »Es könnte möglich sein«, sagte er. »Das Universum liegt jenseits des Verstehens und ist somit offen für unendliche Möglichkeiten. Aber wenn Golden Water nicht Jack Green gehört, wem dann?« »Ich weiß es nicht«, antwortete William. »Sie haben sich an Onkel Jacks Namen erinnert!«, rief Alice erstaunt. »Normalerweise tun Sie das nie bei Kleinigkeiten.« »Sei nicht unverschämt, Kind!«, fuhr der Magier sie an. »Aber es stimmt doch. Wir müssen Sie an so was immer erinnern. Ich wette, Sie wissen meinen Namen nicht mehr.« »Ich erinnere mich nur an wichtige Dinge«, sagte der Magier mit leiserer Stimme. Dann fügte er hinzu: »Du heißt Minimus.« »Stimmt nicht!«, sagte Alice empört. »Ich heiße Alice.« »Für mich heißt du Minimus, du Winzling«, gab der Magier zurück, ging langsam Richtung Ufer und begann mit seinem Stab nach Kieseln zu stoßen. »Wenigstens kennen wir nun den nächsten Schritt«, sagte er nachdenklich. »Ihr müsst herausfinden, wem dieses Land gehört, und – es zurückbekommen.« »Ist das wirklich so wichtig?«, fragte William. »Für mich hört sich das eher langweilig an.« »Was möchtest du denn lieber tun?«, fragte der alte Mann mit
nicht allzu strenger Stimme. »Wieder in Tieren rumlaufen«, rief Alice. »Fliegen«, sagte William. »Und du, Mädchen«, wandte der Magier sich an Mary, »wovon träumst du?« Mary zuckte mit den Schultern und wurde rot. »Sie ist in einen von Onkel Jacks Bauarbeitern verliebt«, erzählte Alice dem alten Mann vertraulich. »Wie bitte?«, fragte der Magier verwirrt. »Bin ich nicht, Alice«, flüsterte Mary zornig. Sie konnte fühlen, wie sie immer mehr errötete, bis ihre Wangen brannten. »Er heißt Dan«, sagte Alice, »und sie schwärmt für ihn.« »Kleine Mary«, sagte der alte Mann sanft und legte den gesunden Arm um ihre Schultern. »Warum hast du es so eilig? Tempus fugit.« »Was ist mit Ihrem Arm passiert?«, fragte Mary, weil sie unbedingt das Thema wechseln wollte. »Ich hatte eine unerquickliche Begegnung mit einem wilden Hund«, antwortete Stephen Tyler. »Meinen Sie bei dem Dachstreffen? Als wir das letzte Mal hier waren? Als Sie gegen diesen widerlichen Hund Fang kämpfen mussten?«, fragte Alice atemlos. »Ach ja, ich hatte ganz vergessen, dass ihr damals hier wart«, murmelte der alte Mann. »Aber das ist schon eine Ewigkeit her«, sagte William verblüfft. »Es ist immer noch nicht verheilt.« »Haben Sie Penizillin genommen?«, fragte Mary. »Was ist das für ein Zeug?« »Nach Ihrer Zeit, fürchte ich«, seufzte William. »Fragen Sie besser nicht, es ist zu schwierig zu erklären.« »Aber du musst es versuchen.« »Naja, es ist… Medizin. Ich glaube, sie wird aus einem Schimmelpilz gemacht. Er tötet Bakterien.« »Aus einem Schimmelpilz?« Stephen Tyler dachte eine Weile darüber nach. »Faszinierend! Wir benutzen eine ziemlich ähnliche Methode. Spinnweben sind sehr wirksam.« »Spinnweben?«, wiederholte William zweifelnd. »Ich muss jetzt gehen. Ich muss mit meinen Kräften haushalten. Diese Zeitspanne wird sehr arbeitsreich sein. Oh, und noch eine Warnung. Mein Assistent Morten ist dicht davor, durch die Zeit reisen zu können. Seid auf der Hut!«
»Wie können wir ihn erkennen?«, fragte Mary. »Wie ihr Morten erkennen könnt?«, blaffte der alte Mann sie an, als ob das eine völlig abwegige Frage sei. »Natürlich an seiner Aura! Morten ist das Dunkel zu meinem Licht. Wo immer das Böse ist – da müsst ihr Morten suchen.« »Was ist eine Aura?«, wollte Mary wissen. »Keine Zeit mehr«, murmelte der Magier und hob seine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich muss fort.« Damit wandte er sich den Bäumen zu und sagte: »Findet alles über das Land heraus!« »Aber – wo können wir Sie wieder treffen?«, rief Alice. »Ich werde in der Nähe sein«, antwortete der alte Mann ohne sich umzuwenden. Dann verschwand er vor ihren Augen von einem Sonnenflecken aus in seine eigene Zeit.
2 Meg Lewis bekommt einen Brief Es wurde schon allmählich Abend, als die Kinder zum Haus zurückgingen. Obwohl die Sonne ihre größte Kraft bereits verloren hatte und nur noch durch die Bäume hinter ihnen flimmerte, wo sie langsam im Westen unterging, war es noch immer sehr warm. Sie betraten den Küchengarten durch das hintere Tor und liefen einen der Wege zwischen den Obstbäumen mit den ungepflegten Beeten darunter entlang. Als sie am Taubenschlag in der Mitte des Gartens vorbeikamen, kroch Spot aus einem Busch Minze hervor, unter dem er den Nachmittag verschlafen hatte, und lief auf sie zu. »Wo wart ihr?«, bellte er, sprang schwanzwedelnd an Alice hoch und leckte ihr übers Gesicht. »Wir haben schon überall nach dir gesucht«, sagte Alice empört, hockte sich hin und versuchte seine feuchte Zunge abzuwehren. »Hör auf, Spot! Ich bin ja klatschnass!« »Geschieht dir recht, wenn du mich hier allein lässt«, hechelte der Hund. »Du hättest uns suchen können«, protestierte Mary. »Du hättest unserem Geruch folgen können.« »Was? Den ganzen steilen Weg den Abhang hinauf?«, grinste Spot. »Zu heiß dafür!« »Wirklich, Spot. Du wirst noch fett, wenn du so faul bist!«, neckte Alice ihn und streichelte über seinen Bauch. »Und überhaupt hättest du mit schwimmen gehen können. Das hätte dich schon abgekühlt!« »Kommt«, sagte der Hund und sprang auf die Füße. »Irgendwas ist los. Meg ist hier!« Damit lief er bellend vor ihnen her zum Hoftor. In der Küche war es kühl nach der Hitze draußen und es roch gut nach frisch gebackenem Brot. Meg Lewis saß mit Phoebe und Jack am Tisch und Stephanie schlief neben dem Herd in ihrem Bettchen. Vor Phoebe stand eine Teekanne und ein Biskuitkuchen, von dem schon ein großes Stück fehlte. Als die Kinder hereinkamen, blickten die Erwachsenen auf. »O Mann! Kuchen!«, rief Alice, ließ ihr nasses Badezeug auf den
Boden fallen und lief zu ihrem Stuhl. »Kann ich ein Stück haben, Phoebe? Ich sterbe vor Hunger! Schwimmen macht mich immer hungrig.« »Das nennst du schwimmen, Alice? Das waren doch bloß drei Züge!«, sagte Mary. »Hallo, Meg!«, fügte sie hinzu und lächelte die alte Frau an. »Hallo, Herzchen!«, antwortete Meg mit trauriger Stimme. »Holt euch Tassen und Teller«, sagte Phoebe, stand auf und schüttete kochendes Wasser aus dem Kessel, der immer auf dem Herd stand, in die Teekanne. »Mary, schneidest du ein paar Stücke Kuchen für euch ab? Du kannst ruhig große Stücke machen, wir essen heute erst spät zu Abend.« »Warum denn das?«, jammerte Alice. »Ich sterbe vor Hunger, Phoebe.« »Das kann ich nicht ändern. Du musst eben warten. Jack fährt mit Meg in die Stadt«, erwiderte Phoebe. »Du fährst doch eigentlich nie in die Stadt, Meg«, sagte William überrascht und biss herzhaft in das Stück Kuchen, das Mary ihm abgeschnitten hatte. »Nein, Herzchen«, antwortete Meg unglücklich. »Aber ich bekomme auch nicht sehr oft Post.« Da erst bemerkten die Kinder den Brief, der vor Onkel Jack auf dem Tisch lag. Er sah amtlich aus, hatte einen Briefkopf und war mit Schreibmaschine getippt. »Was steht drin, Onkel Jack?«, fragte William mit vollem Mund. »Das müsst ihr Meg fragen«, antwortete Jack. »Vielleicht will sie nicht mit euch darüber reden.« »Natürlich will ich das. Ihr seid meine besten Freunde – nach den Dachsen – und sie verdanken euch ihr Leben. Du kannst ihn lesen, wenn du willst, Herzchen.« William nahm den Brief und starrte ihn an. »Lies laut vor, William«, bat Mary nervös. Sie hatte das Gefühl, dass der Brief keine guten Nachrichten enthielt. »Sehr geehrte Miss Lewis«, fing William an, »ich bin von meinem Klienten, der Firma Playco, darüber informiert worden… Playco?«, unterbrach er. »Was für ein lustiger Name!« »Ja sicher«, sagte Meg, »aber ich bezweifle, dass es lustige Leute sind. Lies weiter, Herzchen.« »Ich bin von meinem Klienten, der Firma Playco, informiert worden«, fuhr William fort, »dass das Land, das an Ihren Kleinbesitz
angrenzt, im Rahmen eines Bauvorhabens erschlossen werden soll. Darum bitte ich Sie sich so bald wie möglich in meiner Kanzlei einzufinden, um in dieser Sache einige Dinge zu besprechen, die von gegenseitigem Vorteil für Sie und die Firma Playco sind. Bitte vereinbaren Sie einen Termin mit meiner Sekretärin. Mit freundlichen Grüßen, Martin Marsh, Rechtsanwalt. « William ließ den Brief sinken und schaute in die schweigenden Gesichter vor ihm. »Was heißt das?«, wisperte Alice. »Was bedeutet ›erschlossen‹?« »Häuser, Herzchen. Es bedeutet Häuser«, antwortete Meg betroffen. »Am Golden Water?«, rief Alice. Sie war entsetzt, dass der schöne und friedliche See, in dem sie gerade noch gebadet hatten, irgendwie verändert werden sollte. »Was für Häuser?« Jack zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Wir wissen nicht mehr als ihr.« »Aber egal, was für Häuser, sie wären schrecklich am Golden Water«, sagte Phoebe. »Ich meine, wer könnte überhaupt auf die Idee kommen, da oben zu bauen? Sie können keine Häuser meinen. Da ist doch meilenweit überhaupt nichts!« »Die Menschen tun seltsame Dinge, meine Liebe, wenn dabei Geld für sie herausspringt«, sagte Meg ruhig. »Wem gehört das Land, Meg?«, fragte Jack. William schnappte nach Luft und blickte zu Alice und Mary hinüber. »Was ist los, William?«, fragte Phoebe. »Nichts«, murmelte William, »es ist nur, dass… na ja, jemand hat uns heute Nachmittag beauftragt genau das herauszufinden.« »Jemand? Wer?«, fragte Phoebe und sah ihn misstrauisch an. »Ich meine… wir haben uns überlegt, wem es gehört… das ist alles«, antwortete William und wich ihrem fragenden Blick aus. »Als die alte Miss Crawden starb«, erklärte Meg, »ging das Anwesen an ihren Neffen Sir Henry Crawden.« »Ja, das stimmt. Beim Kauf des Hauses habe ich mit Sir Henrys Rechtsanwalt verhandelt«, bestätigte Jack. »Ein echter Sir?«, fragte Alice. Es hörte sich sehr beeindruckend an. »Das ist er jetzt«, antwortete Meg ruhig. »Er war ein ganz normaler Henry Crawden, als ich ihn kannte.« »Du kanntest ihn?«, fragte Mary.
»O ja, Herzchen. Ich kannte Henry Crawden. Aber das ist lange her. Es war in einem anderen Leben.« »Wollen Sie damit sagen, dass das ganze Land hier einmal zu Golden House gehört hat?«, fragte Phoebe verblüfft. »Einschließlich Golden Water? Und auch die Eibe mit dem Baumhaus?« »Ja, meine Liebe. Deshalb konnte mein Großvater in Four Fields bleiben, als er das Haus hier verlassen musste. Sonst hätte meine Familie nirgendwo hingehen können. Sie hatte kein Geld, wissen Sie. Der Wert des Hauses deckte die Schulden, aber für sie selbst blieb nichts übrig.« »Wem gehört das Land auf der anderen Seite Ihrer Felder, Meg?«, fragte Jack. »Ursprünglich den Jenkins. Ihnen gehörten beide Seiten, aber sie verkauften es an die Forstverwaltung. Das ist schon eine Weile her. Zuerst habe ich mir Sorgen gemacht, dass das Land Verwaltungsmenschen gehört. Aber sie lassen mich in Ruhe und kümmern sich gut um die Waldgebiete. Glücklicherweise haben sie die Laubbäume stehen lassen und nicht durch diese furchtbaren Nadelhölzer ersetzt wie am anderen Ufer des Sees. Alles in allem ist diese Lösung eigentlich wirklich ganz zufrieden stellend.« »Um welches Land geht es denn dann eigentlich hier in diesem Brief?«, fragte Jack. »Um das zwischen meinen Feldern und Golden Water. Das ganze Gebiet um den See soll immer noch den Crawdens gehören. Kilometerweit von Golden Spring im Westen den ganzen Reitweg hinunter, um den stehenden Stein herum bis zur Eibe und weiter zum Abhang von Golden Valley. So heißt es zumindest immer.« Meg runzelte einen Augenblick die Stirn und schüttelte dann den Kopf, als ob sie einen Gedanken verscheuchen wollte. »Es gibt immer Gerüchte, wissen Sie. Und überhaupt war es nie wichtig, wem das Land gehört. Es eignet sich nicht als Ackerland. Es sieht vielleicht schön aus, aber Bauern sehen Land unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten und gehen nicht nach Schönheit.« »Was ist mit dem Tal?«, fragte William. »Das kann ich nicht sagen, Herzchen. Ich denke, der Steilhang hinter dem Haus gehört noch euch.« »Das glaube ich nicht«, sagte Jack kopfschüttelnd. »Laut Kaufvertrag bin ich nur Eigentümer von viertausend Quadratmetern hier unten im Tal.« »Seltsam«, murmelte Meg. »Das war nicht immer so.«
»Du solltest das nachprüfen, Jack«, sagte Phoebe. »Das tue ich auch, keine Sorge. Es würde einen riesigen Unterschied machen, wenn die Talhänge auch uns gehörten. Ich glaube zwar nicht, dass irgendjemand etwas darauf bauen kann, dafür sind sie zu steil. Aber trotzdem…« »Da sollte man nie zu sicher sein, mein Lieber«, sagte Meg bedrückt. »Nur damit ich Sie richtig verstehe, Meg«, fuhr Jack nachdenklich fort, »Sie sagen also, der einzige Weg, der vom Waldweg zu Golden Water führt, ist der Pfad, der zu Ihrer Farm geht?« »Richtig. Man könnte vielleicht einen Weg durch Mr. Jenkins’ Land führen, aber ich glaube nicht, dass er das zulassen würde. Er braucht das Land für seine Fasane. Züchtet sie für den Jagdsport. Die armen Tiere zu erschießen soll Sport sein? Seltsame Auffassung von Sport, wenn ihr mich fragt.« »Ich kann es einfach nicht glauben«, wiederholte Jack nachdenklich, »dass das ganze Land einmal zu unserem Besitz gehört hat.« »Und so hätte es bleiben sollen. Es hätte niemals verkauft werden dürfen. Aber, wie ich euch schon einmal erklärt habe, war mein Großvater ein schrecklicher Spieler und es kam, wie es kommen musste: Schließlich haben seine Schulden ihn eingeholt und er starb als ruinierter Mann. Genauso wie mein Vater nach ihm.« Meg rieb fröstelnd die Hände aneinander. In diesem Augenblick fing Stephanie an zu schreien. Phoebe hob sie aus ihrem Bettchen und wiegte sie beruhigend hin und her. »Ihr solltet euch besser bald auf den Weg machen, Jack«, sagte sie über die Schulter. »Sonst wird es zu spät für Megs Termin.« »Welchen Termin?«, fragte William. »Ich habe diesen Rechtsanwalt angerufen, der mir geschrieben hat. Er will mich heute Abend noch sehen. Er scheint es sehr eilig zu haben, mit mir zu sprechen. Ich verstehe das alles nicht.« »Am besten kommen Sie mit Jack wieder zurück und essen mit uns zu Abend, Meg«, sagte Phoebe, die immer noch das Baby wiegte. »O ja«, sagte Mary eifrig. »Dann finden wir heraus, was los ist.« »Und wir können Sie später nach Hause bringen«, bot Jack an. »Danke, das ist sehr freundlich. Aber das wird nicht nötig sein. Ich kann zurücklaufen und noch beim Dachsbau vorbeisehen. Ich habe die Kühe schon gemolken, bevor ich hierher kam, also gibt es nichts, worüber ich mir Gedanken machen müsste. Was mag das
bloß heißen?«, grübelte sie und folgte Jack zur Tür. »Gegenseitiger Vorteil? Das hört sich gar nicht gut an…« Sie redete immer noch vor sich hin, als sie auf den Hof trat. Nachdem die beiden gegangen waren, erklärten die Kinder, dass sie auf ihre Zimmer unter dem Dach gehen wollten. William forderte Alice zu einem Spiel Katz und Maus heraus, ihrem Lieblingskartenspiel, und Mary sagte, dass sie ihren Eltern einen Brief schreiben wolle. Das hätte auch gut möglich sein können. Die Eltern der Kinder waren kürzlich von einem Krankenhaus in Äthiopien, wo sie beide als Ärzte des Roten Kreuzes arbeiteten, zu einem Flüchtlingslager gewechselt. Die Kinder hörten nur gelegentlich von ihnen, weil ihre Post nicht immer ankam. Mary schrieb ihnen trotzdem jede Woche, weil sie dann das Gefühl hatte, mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Als die Geschwister die Küche verlassen hatten, entschieden sie sich aber, hinauf in das Geheimzimmer zu gehen, und liefen zu dem riesigen Kamin auf der anderen Seite der Halle. Sie schauten sich um und vergewisserten sich, dass Phoebe ihnen nicht gefolgt war, dann kletterten sie schnell über die vorstehenden Steine an der linken Seite der Kaminöffnung zum Sims. Sie zwängten sich um die hintere Ecke zu den versteckten Stufen und stiegen die steile Wendeltreppe im Kamin empor. Als sie gerade im Kamin verschwanden, öffnete Spot mit der Nase die Küchentür. Während er sich in der Halle umsah, wedelte er langsam mit dem Schwanz und legte dabei den Kopf fragend auf die Seite. Dann blickte er die Treppe bis zur Galerie hinauf, trottete schnüffelnd dem Geruch der Kinder nach durch die Halle zum Kamin und folgte ihnen hinauf in die Dunkelheit.
3 Unerwarteter Besuch Zu ihrer Überraschung wartete der Magier schon auf sie, als sie im Geheimzimmer ankamen. Er blickte aus dem hinteren Fenster hinaus und drehte sich nicht einmal um, als sie hinter ihm in der Tür auftauchten. »Kommt herein«, sagte er. »Ich habe euch schon erwartet.« Die Kinder traten in den Raum und ihre Schritte klangen hohl auf den blanken Bodenbrettern. Es war düster, denn das vordere Fenster war geschlossen und die Kerzen in den Haltern brannten noch nicht. Ein zarter Staubschleier bewegte sich in der Abendluft. Eine Spinne stürzte sich auf eine Fliege in ihrem Netz neben dem Kopf des alten Mannes, der immer noch nach draußen blickte. Als die Sonne in blendenden Gold- und Rottönen unterging, färbte sie die Wolken über dem Tal rosa und tauchte den Wald in honigfarbenes Licht. Spot war den Kindern hechelnd in den Raum gefolgt. Er setzte sich in den Durchgang und begann sich mit der Hinterpfote am Bauch zu kratzen. Dann leckte er sich über eine Pfote, gähnte und ließ sich schließlich mit einem Seufzer auf den Boden plumpsen. Er beobachtete das Geschehen durch seine halb geschlossenen Lider. Aber da gab es nicht viel zu beobachten. Die Szene im Zimmer blieb eigenartig reglos. Der Magier blickte aus dem Fenster in den dunkler werdenden Himmel und die Kinder standen hinter ihm, als hätte er sie zu sich gerufen, ohne dass sie den Grund dafür kannten, und warteten nun auf seine Anweisungen. Plötzlich schrie irgendwo draußen eine Eule. Der Magier bewegte sich immer noch nicht. Er schien den Schrei nicht gehört zu haben, aber Mary trat erwartungsvoll ans Fenster. »Jasper!«, rief sie. Stephen Tyler brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen und einen Augenblick später schwebte die große Eule aus dem abenddunklen Himmel heran und landete flügelschlagend auf dem Fenstersims. Als sie sicher saß, blinzelte sie, schüttelte ihr Gefieder, drehte ihren Kopf wie auf einer Drehscheibe herum und starrte den Magier an. »Was hast du entdeckt, mein Vogel?«, fragte Stephen Tyler und
streichelte dem Tier mit dem Handrücken über die Federn. »Der Fuchs Cinnabar und der Otter Lutra haben Männer mit Messstäben und Plänen am Wasser gesehen.« »Pläne?«, fragte der Magier. Seine Stimme klang zornig. »Was sind das für Pläne?« »Papierrollen, Meister, über denen sie brüten und auf die sie unzählige Notizen schreiben.« »Frechheit!«, rief der alte Mann erbost. »Kinder, wir haben es hier mit einer sehr ernsten Angelegenheit zu tun.« Er wandte sich vom Fenster ab und ging in die Mitte des Raumes. »Ihr müsst rasch handeln, um diese Ungeheuerlichkeit aufzuhalten. Sonst sind alle meine Bemühungen – die Arbeit eines ganzen Lebens – zunichte gemacht.« Er schüttelte den Kopf und klopfte ärgerlich mit seinem Silberstock auf den Boden. »Die Gier der Menschen! Sie wird mein Verderben sein. Du, Junge, du bist der Älteste. Was hast du für mich herausgefunden? Wer hat sich mein Land genommen?« William räusperte sich und wiederholte, so gut er sich noch erinnern konnte, was Meg ihnen in der Küche erzählt hatte. Der Magier hörte ihm aufmerksam zu und nickte manchmal, als ob er sich an einiges erinnern könnte. Als William mit seinem Bericht fast am Ende war, hob er mit dem gesunden Arm seinen Silberstock über den Kopf empor und brachte damit William mitten im Satz zum Schweigen. »Gut«, sagte er jetzt freundlicher. »Das hast du gut gemacht.« Dann drehte er sich um und sah die Eule an. »Crawden?«, fuhr er fort. »Der Name Crawden kommt mir bekannt vor. Was weiß ich über diesen Crawden, Jasper?« Die Eule, die bislang schweigend auf ihrem Platz am offenen Fenster gehockt und zugehört hatte, kam ins Zimmer geflattert. Ihre Flügel wirbelten Staub auf und ein kühler Luftzug streifte die Gesichter der Kinder. Sie ließ sich auf einem der Kerzenhalter nieder und starrte auf sie hinunter. »Crawden hat Jonas Lewis das Haus abgenommen«, schrie sie streng. »Jonas Lewis«, wiederholte der alte Mann nachdenklich. »Er hatte Schulden«, erklärte William, der sich von der Eule nicht ausstechen lassen wollte. »Er hat alchimistische Experimente gemacht. Ich glaube, Sie haben ihm dabei geholfen…« »Jonas?«, sagte der Magier grübelnd. »Ja, ich erinnere mich an einen Jonas. Er war ein guter Schüler. Aber er hat seine Kräfte miss-
braucht. Was hat er getan?« Er feuerte die Frage auf die Kinder ab, als ob sie ein Teil einer Prüfung wäre. »Er hat Gold hergestellt«, antwortete Mary nervös. »Das ist richtig. Er hat Gold hergestellt.« Die Stimme des Magiers klang wie Donnergrollen. »Gold!« Er wiederholte das Wort verächtlich. Dann kam ihm nach kurzem Schweigen ein neuer Gedanke. »Was wisst ihr darüber?« »Nur was Sie uns erzählt haben«, sagte Alice. »Aber wir haben zuerst etwas darüber in einem Buch gelesen, das Onkel Jack letzte Weihnachten von einer Dame in der Stadt geliehen hatte«, erinnerte William sie. »Eine Art Tagebuch, von Jonas Lewis selbst geschrieben.« »Meg weiß auch etwas darüber«, fügte Mary hinzu. »Sie ist Jonas Lewis’ Enkelin, wissen Sie…« »Tatsächlich? Die Frau mit den Dachsen? Die Frau, die an dieser Verletzung schuld ist…« Der Magier bewegte seinen Arm in der Schlinge und zuckte vor Schmerzen zusammen. »Es war nicht ihr Fehler«, verteidigte Alice Meg. »Sie wollte nicht, dass die Dachsjäger kommen. Einer von den Hunden hat es getan.« Der Magier lächelte sie an. »Ich mag Leute, die für ihre Freunde eintreten. Ich hoffe, du tust das auch eines Tages für mich… Minimus.« Er sagte den Namen so sanft, fast liebevoll, dass Alice ihn doch mochte. »Also diese Frau ist Lewis’ Enkelin«, fuhr er nachdenklich fort. »Das ist interessant!« Er ging hinüber zur Eule und sah sie an. »Lewis verkaufte das Haus an Crawden, als seine Schulden zu hoch wurden«, murmelte die Eule, fast als wollte sie dem Gedächtnis des alten Mannes auf die Sprünge helfen. »Ja, ja, ich erinnere mich«, schnappte Stephen Tyler und die Eule seufzte ergeben. »Ich bin nicht so alt, dass mir mein Gedächtnis schon völlig abhanden gekommen wäre, danke schön, Jasper!« »Nein, Meister«, flötete die Eule und blinzelte geduldig. »Er hatte Schulden«, fuhr der Magier fort, »weil er jede Stunde seines Lebens der Kunst der Alchimie opferte. Stimmt’s?« »Ja, Meister«, murmelte die Eule. »Vielleicht, mein lieber Vogel, wirst du auch eines Tages mal etwas vergessen. Ich hoffe, dass du dann auch jemanden hast, der so freundlich ist, dir in der Stunde der Not zu helfen.« In der Stimme des Magiers schwang Reue.
»Ja, Meister.« »Aber musst du dich immer so überheblich anhören?«, fragte der alte Mann. »Für meinen Ton kann ich nichts, Meister.« Der Vogel und der alte Mann starrten sich eine Weile an. »Jetzt hast du es geschafft, dass ich nicht mehr weiß, worüber wir sprechen wollten.« »Jonas Lewis«, sagte die Eule mit ihrer überheblichsten Stimme. Der Magier seufzte, dann lächelte er Jasper an. Er streckte seinen Arm aus und kraulte dem Vogel die Brustfedern. Es war eine liebevolle und bewundernde Geste. Der Vogel plusterte sich auf und flötete leise vor sich hin. Dann drehte sich Stephen Tyler wieder zu den Kindern um und sprach mit sicherer Stimme weiter. »Jonas war kein reicher Mann. Er hatte ein bescheidenes Einkommen als Bauer, aber in seinem Herzen war er ein Gelehrter. Diese beiden Eigenschaften passen nicht sehr gut zusammen. Ein Bauer muss seinen Hof bewirtschaften, ein Gelehrter muss sich seinen Studien widmen. Aber alle beide müssen essen. Lewis hatte kein privates Vermögen.« Er seufzte kopfschüttelnd. »Das war sein Problem. Aber er war ein fleißiger Schüler. Deshalb habe ich ihn ausgewählt… Er lernte gut und schnell. Ich führte ihn in die Alchimie ein. Das war mein Fehler. Es klappte überhaupt nicht. Er war wie besessen. Er arbeitete nur noch. Das Haus hallt immer noch von seinen unruhigen Schritten wider – auf und ab, auf und ab – und von den kläglichen Rufen seiner Frau. Er hat sie ruiniert. Er wurde zum Spieler, um seine Experimente zu finanzieren.« Stephen Tyler hob entrüstet seinen gesunden Arm. »Er verlor alles, was er besaß, und schlimmer noch, er brach seine Studien schließlich unvollendet ab. Damit hatte ich einen guten Schüler verloren. Das war sehr ärgerlich. Und das nach all der Zeit, die ich auf ihn verwandt hatte. Aber ohne einen guten Schüler konnte ich meine Arbeit nicht fortsetzen. Also beschloss ich, dass der nächste ein Kind sein sollte. Ich hatte genug von Männern mit fest gefügten Ansichten. Ein unschuldiger Geist, das war es, was ich brauchte. Etwas Frisches und Unbeflecktes, mit dem ich arbeiten konnte. Aber natürlich hatte ich nicht erwartet, dass ihr gleich zu dritt sein und dass ihr noch so jung sein würdet. Ich kann nicht gut mit Kindern umgehen. Ich hatte niemals eigene…« Plötzlich verstummte er, als ob er sich an traurige Zeiten erinnerte. Er holte ein großes Stück Stoff aus den geräumigen Falten seines Mantels und putzte sich geräuschvoll die Nase.
Die ganze Zeit über hatte Spot auf dem Boden nahe bei der Tür gelegen. Er schien eingeschlafen zu sein. Aber jetzt hob er plötzlich seinen Kopf, spitzte die Ohren und schnupperte. Er erhob sich und knurrte mit gesträubten Nackenhaaren. »Was ist los, Sirius?«, fragte der Magier, ärgerlich über die Störung. Spot nahm ihn gar nicht wahr. Er beschnupperte fieberhaft die Bodenbretter und rannte aufgeregt von einer Ecke zur anderen durch den Raum. »Er ist irgendetwas auf der Spur«, sagte Alice und beobachtete das Tier verblüfft. »Spot, was gibt es? Was ist los?«, fragte William. »Es ist noch jemand im Zimmer«, murmelte Spot. »Kein starker Geruch. Irgendjemand Kleines. Kein freundlicher Geruch.« Jasper saß sehr aufrecht, seine Augen blitzten und er horchte, wobei er seinen Kopf ruckartig hin- und herdrehte. »Der Assistent?«, zischte er. »Morten? Hier?«, fragte der Magier verblüfft. »Wo?« »Nein«, antwortete Spot immer noch schnuppernd, »nicht der Assistent. Aber… einer seiner Spione…« Damit stellte er sich auf die Hinterbeine und stützte sich mit den Vorderpfoten am schrägen Dach direkt unter dem runden Fenster ab, neben dem Jasper saß. »Etwas draußen vor dem Fenster?«, rief Stephen Tyler. »Die Spinne…«, jaulte Spot aufgeregt. Er kratzte in seinem Eifer, die Beute zu fangen, schwanzwedelnd mit den Vorderpfoten an der Dachschräge. Sie sahen die Spinne alle im selben Augenblick. Sie saß in der Mitte ihres Netzes, die Beine über die unsichtbaren Fäden gebreitet, so dass sie in der Luft zu hängen schien. »Die Spinne!«, rief William und stürzte am Magier vorbei zum Fenster. Aber Jasper saß am nächsten und war schneller. »Gehört mir, glaube ich«, zischte er, stieß blitzschnell mit dem Schnabel nach der Spinne in ihrem Netz und verschluckte sie. »Igitt!«, keuchte Alice. »Er hat sie gefressen!« »Alles weg!«, sagte der Vogel, machte es sich wieder auf seinem Platz bequem und blickte mit einem verächtlichen Blick von oben auf sie herab. »Igitt!«, sagte Alice noch einmal, schüttelte sich und verzog angewidert das Gesicht.
Mary starrte erschrocken auf den Vogel. Sie erinnerte sich an die Maus, die er an Weihnachten gefressen hatte, und einen Augenblick lang fürchtete sie, ihr würde schlecht. »Wie konntest du das tun, Jasper?«, rief Alice. »Kleines Mädchen«, schrie die Eule, »du isst Würstchen!« »Ja«, erwiderte Alice schnell. »Aber sie leben nicht und sie zappeln nicht.« »Eben«, stimmte Jasper ihr zu. »Ich habe noch nie totes Zeug fressen mögen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.« Damit ließ er das Thema fallen und knabberte zierlich mit seinem Schnabel an einer seiner Krallen. Inzwischen grübelte der Magier weiter vor sich hin. »Ich muss gehen«, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Es geschieht zu viel, was ich nicht ganz verstehe.« »So geht es uns auch immer«, rief William aus. »Sie sagen uns nie, was wirklich los ist. Sie erwarten von uns, dass wir Dinge tun, ohne dass wir überhaupt wissen, warum wir sie tun sollen.« Der Magier drehte sich um und sah ihn an. »Probst du den Aufstand, William?«, fragte er fast amüsiert. »Eigentlich nicht, nein«, erwiderte William. »Aber Sie sagen, dass wir Ihnen helfen sollen. Sie sagen, Sie hätten zu arbeiten… Aber Sie sagen uns nie, was für eine Arbeit das ist.« Der Magier seufzte. »Eine gerechte Anschuldigung«, sagte er. »Aber siehst du, Junge, ich habe Jonas Lewis vertraut und mein Vertrauen hat ihn zerstört. Er wurde bestochen… von mir.« »Aber dann ist es gut«, argumentierte William, »dass wir zu dritt sind. Wir können uns gegenseitig davon abhalten…. gierig zu werden und… Bitte, sagen Sie uns doch, worum es eigentlich geht!« Einen Augenblick lang war es still im Zimmer und der alte Mann dachte darüber nach, was William gesagt hatte. »Ihr müsstet in mein Arbeitszimmer kommen, damit ich euch alles zeigen kann. Ich brauche dazu meine Bücher und meine Skizzen. Ohne meinen Schreibtisch kann ich nicht denken.« »Aber ich dachte, das hier ist Ihr Arbeitszimmer«, sagte Mary. »Ja, ja, ja!«, fauchte der alte Mann. »Aber ich rede von meinem Arbeitszimmer in meiner eigenen Zeit. Das hier ist bloß ein Zimmer – ein Arbeitszimmer hat Bücher und Papiere und – ein Arbeitszimmer ist ein Ort, wo man seine Intelligenz vom Bücherregal holt, den Staub wegpustet – und sie benutzt.«
»Als wir zum allerersten Mal in diesem Zimmer waren«, begann Alice zögernd, »letzte Weihnachten. Erinnern Sie sich? Als wir Sie zum ersten Mal getroffen haben… Ich bin sicher, dass hier Möbel standen. Ich bin ganz sicher.« Der Magier starrte sie an. »Ich dachte, ich hätte euch am Bahnhof kennen gelernt«, sagte er. »Nein, da haben Sie nur William getroffen. Mary und ich haben nicht geglaubt, dass es Sie wirklich gibt.« »Frechheit!«, zischte der alte Mann und dann lachte er leise. »Ich hoffe, ihr zweifelt jetzt nicht mehr daran.« »Natürlich nicht«, sagte Alice und begann noch einmal: »Aber die Möbel – wo sind die Möbel? Warum konnten wir sie damals sehen und jetzt nicht mehr?« »Das ist leicht!«, rief der Magier. »Kannst du reiten?« Alice schüttelte den Kopf. »Ich mag Pferde nicht besonders«, sagte sie, »sie sind mir zu hoch.« Dann fügte sie hinzu: »Aber ich habe ein Fahrrad.« »Fahrrad?«, fragte Stephen Tyler entgeistert. Aber bevor eines der Kinder es zu erklären versuchte, hob er seine Hand. »Ist schon gut. Wenn jemand mit dem Reiten anfängt – gewöhnlich auf einem Pony –, steigt er auf und trottet los, als wäre es das Einfachste auf der Welt. Dann… fällt er herunter. Und danach braucht er Ewigkeiten, bis er die Fähigkeit und das Vertrauen hat…. einfach zu reiten.« Er betonte die letzten Worte. »Nun, es ist dasselbe mit dem Zeitreisen. Als ihr das erste Mal hier heraufkamt, wart ihr alle so…«, er suchte die richtigen Worte, »so… bereit zu Abenteuern…. dass ihr genauso in meine Welt getreten seid wie ich in eure. Es war fast ein Zufall. Ihr wusstet nicht, wie ihr es gemacht hattet. Ihr wusstet noch nicht einmal, was da passiert war. Jetzt wollt ihr durch die Zeit reisen. Das verlangt sehr viel Wissen… und sehr viel Übung. Ihr seid noch nicht dazu bereit.« »Und doch können sie in die Gestalt von Tieren schlüpfen, Meister«, sagte Jasper ruhig. »Das Mädchen ist schon mit mir geflogen. Sie waren schon alle im Turmfalken. Es gibt unzählige Beispiele, dass sie in Tieren reisen können. Frag den Hund…« »Und?«, fuhr Stephen Tyler die Eule an. »Was hat das damit zu tun?« Jasper zuckte mit den Schultern. »Wenn der Assistent seine Spione in dieser Zeit einsetzen kann ohne selbst durch die Zeit reisen zu können… warum sollten die
Kinder dazu nicht auch in der Lage sein?« Der Magier dachte lange darüber nach. »Vielleicht. Aber es wäre sehr ungewöhnlich«, sagte er schließlich. »Ich überstürze die Dinge nicht gerne.« Dann drehte er sich um und streckte seinen gesunden Arm aus. »Liebe Kinder. Es ist nicht so, dass ich euch nicht trauen würde. Ihr habt mir schon bewiesen, wie viel ihr wert seid. Es ist nur, dass ich so… darauf bedacht bin, dass nichts Falsches geschieht. Und doch«, seufzte er, »wenn Morten so rasch Fortschritte macht, werde ich euch wohl eher brauchen, als ich dachte. Und tempus fugit natürlich! Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt? Ich werde ernsthaft darüber nachdenk…«, und damit verschwand er mitten im Satz zurück in seine eigene Zeit. »Er ist müde«, erklärte Jasper. »Er vergisst immer wieder, dass er ein alter Mann ist.« Dann blickte die Eule aus dem Fenster in die Abenddämmerung. »Zeit fürs Abendessen. Will jemand mitkommen?« Aber seltsamerweise lehnten alle Kinder ab. Plötzlich war Phoebes vegetarische Kost sehr erstrebenswert für sie.
4 Schlechte Nachrichten Jack kam allein aus der Stadt zurück. Es wurde so spät, dass Phoebe entschieden hatte ohne ihn mit dem Abendessen anzufangen. Sie waren schon halb damit fertig, als sie den Landrover in den Hof fahren hörten. »Da kommen sie!«, rief Phoebe erleichtert. Sie hatte sich Sorgen um Meg und Jack gemacht, weil sie so lange weg gewesen waren. Aber nur Jack trat durch die Tür und sein Gesichtsausdruck sagte ihnen, dass er sehr schlechte Nachrichten mitbrachte. »Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Phoebe. »Wo ist Meg?«, wollte Mary gleichzeitig wissen. »Ich habe sie in Four Fields abgesetzt«, sagte Jack, ging zur Vorratskammer und kam mit einem Bier zurück. »Jack?«, fragte Phoebe wieder und füllte seinen Teller. »Da stimmt doch was nicht. Was ist los?« »Dieser Kerl!«, rief Jack. Er war so zornig, dass er kaum sprechen konnte. Er setzte sich vor seinen Teller an den Tisch und nahm einen großen Schluck Bier. Dann schüttelte er den Kopf und sah sich im Raum um. »Wo ist Stephanie?«, fragte er. »Oben. Sie schläft«, sagte Phoebe. »Es ist schon sehr spät. Ich habe das Babyphon angestellt. Wir hören es, wenn sie uns braucht. Jack, bitte, jetzt sag endlich, was los ist.« Jack seufzte und trank noch einen Schluck Bier. Er wirkte, als ob er sich beruhigen wollte, bevor er etwas tun musste, vor dem er sich fürchtete. »Dieser Kerl!«, sagte er wieder. »Dieser schreckliche Kerl!« Alice fühlte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief. Spot, der unter ihrem Stuhl geschlafen hatte, setzte sich auf und hörte mit zur Seite gelegtem Kopf zu. Fast ohne darüber nachzudenken legte Alice ihre Hand leicht auf seinen Rücken. »Was für ein Kerl?«, fragte Phoebe. »Dieser Rechtsanwalt, Martin Marsh… Tut mir Leid, es ist so ein Schock!« »Aber doch hoffentlich nicht für uns?«, sagte Phoebe. »Was immer passiert ist… es hat doch nichts mit uns zu tun… oder?«
»Ein Ferienpark am Golden Water? Ein Vergnügungspark? Schnellboote auf dem See? Ferienhäuser und Gemeinschaftsräume? Abenteuerwege durch den Wald… einschließlich eines ›WildwestTrails‹…?« Jack sagte diesen letzten Punkt mit besonderer Bitterkeit. »Ein Vergnügungspark?«, wiederholte Phoebe mit ungläubigem Staunen. »Ferienhäuser? Wo? Wovon redest du?« »Von Golden Water«, fuhr Jack sie an. »Ich dachte, das wäre hier allen klar.« »Bitte verlier nicht die Beherrschung, Jack. Wir waren alle nicht dabei. Das ist alles völlig neu für uns.« Jack seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Tut mir Leid«, wiederholte er. »Es ist so ein Schock.« »Sie wollen einen Ferienpark am Golden Water bauen?«, sagte Phoebe und versuchte zu verstehen, was genau das heißen sollte. »Das glaube ich nicht. Das können sie doch nicht machen!« »Sie meinen, sie könnten es«, erklärte Jack bitter und schob den Teller weg, den Phoebe ihm hingestellt hatte, ohne auch nur einen Bissen gegessen zu haben. »Und ihre Nachforschungen sollen ergeben haben, dass das ganze Projekt hier in der Gegend auf große Zustimmung stößt. Es bringt angeblich Arbeitsplätze und ›Leben‹ hierher«, sagte er und betonte dabei das Wort ›Leben‹. »Leben?«, rief Phoebe völlig entsetzt. »Was für Leben? Hier oben wimmelt es vor Leben. Vögel und Schmetterlinge und… Was ist mit dem Leben, das es hier schon gibt? Was ist mit den Dachsen?«, rief sie, als ob sie sich an einen Strohhalm klammern wollte. »Die Dachse?«, rief Jack höhnisch aus. »Um die mach dir mal keine Sorgen! Die Dachse wurden augenblicklich ein Teil ihres großartigen Plans. Meg musste sie nur erwähnen und schon stürzte sich dieser Mr. Marsh drauf. Wir müssen uns wegen ihnen nicht die Köpfe zerbrechen. Die Dachse werden absolut sicher sein. Sie werden eine der Attraktionen des Parks. Regelrechte Dachsexpeditionen werden für die Gäste organisiert. Menschenhorden mit einem Führer – wie in den Safariparks in Afrika. O ja, er war sehr begeistert, als er von den Dachsen hörte. Er sagte, seine Klienten würden entzückt sein.« »Wer sind diese Leute – seine Klienten?«, wollte Phoebe immer aufgebrachter wissen. »Wie heißen sie?« »Es ist eine Firma namens Playco. Martin Marsh ist ihr Rechtsvertreter in dieser Gegend. Playco!« Jack spuckte den Namen förmlich aus. »Habsüchtige, geldgierige Widerlinge!« Dann holte er tief
Luft und bemühte sich ruhiger zu sprechen. »Es ist offensichtlich eine neue Firma. Sie wollen Ferienparks bauen, die alles andere in den Schatten stellen. Im Vergleich dazu schrumpft Disneyland in Amerika zu völliger Bedeutungslosigkeit. Und Golden Water soll ihr erstes Projekt werden.« Einen Augenblick schwiegen alle in der Küche wie betäubt und dachten über Jacks Worte nach. »Aber… das können sie nicht. Sie können Golden Water nicht verändern…«, sagte William. »Das dürfen sie nicht!« »Können wir sie aufhalten, Onkel Jack?«, fragte Mary. »Nein, wir nicht. Sie behaupten, dass ihr Vorschlag mit uns überhaupt nichts zu tun hat. Marsh besaß die Frechheit zu sagen, dass wir mit unserem genehmigten Antrag für ein Hotel diese Gegend erst für den Tourismus erschlossen hätten. Er sagte, dass der Park unsere Einnahmen nur erhöhen und zu unserem Erfolg beitragen würde. Er ließ es tatsächlich so aussehen, als ob unsere Pläne für das Hotel die Firma Playco erst auf die Möglichkeiten in dieser Gegend aufmerksam gemacht hätten.« »Wie können sie das wagen?«, rief Phoebe aus. »Das ist doch alles lauter Unsinn! Unsere Pläne? Ich sehe nicht, wie ein Landhotel – wohin die Leute kommen, um sich in der Stille und Schönheit des Golden Valley zu erholen – irgendwie mit ihren abgeschmackten Kirmesideen zu vergleichen ist.« Dann fiel ihr plötzlich noch etwas ein. »Aber – warum wollten sie mit Meg sprechen?« »Also, das ist wirklich der Gipfel! Megs Land ist im Weg. Sie wollen sie ausbezahlen, damit sie eine Straße durchlegen können. Es ist der einzige geeignete Zugang zum Park.« »Dann ist ja alles in Ordnung«, rief Phoebe und versuchte zu lächeln. »Meg wird es ihnen nie verkaufen.« »Genau«, stimmte Jack grimmig zu. »Das hat sie ihnen auch gesagt.« »Wo ist dann das Problem, Jack?« »Hast du eine Ahnung, wie alt Meg ist?«, fragte Jack und verlor fast schon wieder die Geduld. Phoebe schüttelte den Kopf. »Dreiundsiebzig«, antworte Jack ruhig. »Ich dachte, sie wäre gerade in den Sechzigern«, sagte Phoebe. »Sie sieht gar nicht so alt aus.« »Wie lange dauert es, bis eine dreiundsiebzig Jahre alte Frau nicht mehr allein zurechtkommt«, fuhr Jack fort, »ohne Heizung, ohne
Wasser, mit Tieren, die zu füttern sind, und einer Farm, die bewirtschaftet werden muss? Außerdem sagten sie, sie könnten warten, wenn es sein müsste. Das Geld, das sie ihr für das Land anbieten, wird die nächsten Besitzer sicherlich überzeugen, wenn es nicht sogar Meg schon in Versuchung führt.« »Geld!«, rief Phoebe aufbrausend. »Immer nur Geld! Wir müssen diese Leute aufhalten. Wenn sie am Golden Water bauen, dann gibt es keine Gerechtigkeit mehr in diesem Land. Was wird dann der nächste Schritt sein? Wir müssen gegen sie kämpfen, Jack.« »Es ist eine riesige Firma, Liebling. Sie haben Rechtsanwälte, sie haben Unterstützung… Wir haben keine Chance.« »Haben wir auch nicht, wenn du gleich zu Anfang schon so denkst«, fauchte Phoebe. »Wenn du so reagierst, können wir gleich die Koffer packen. Verkaufen wir ihnen doch Golden House auch noch! Sie können Geisterjagden und Zauberabende hier organisieren. Sie können Festbankette wie zur Zeit Elisabeths I. ausrichten und mittelalterliche Turniere veranstalten…« »Schlag ihnen das bloß nicht vor!«, sagte Jack und berührte sie lächelnd am Arm. »Sie werden sich auf diese Ideen stürzen. Und dann machen sie uns vielleicht ein Angebot, das wir nicht ablehnen können.« »So ein Angebot gibt es nicht!«, rief Phoebe. »Ich lasse niemanden dieses Haus ruinieren.« »Ich dachte, dir gefiele es hier nicht«, sagte Jack ruhig. »Auf einmal doch wieder«, sprudelte Phoebe heraus, dann holte sie tief Luft und beruhigte sich. »Du meinst… die Leute könnten das wirklich machen?«, fragte William entsetzt. »Ich wollte schon immer mal nach Disneyland«, wisperte Alice. »Wenn du lange genug hier bleibst, wird sich dein Wunsch ganz von selbst erfüllen. Du musst dann einfach nur zur Tür rausgehen«, schrie Phoebe sie zornig an. Alice blickte auf den Tisch und schob die Unterlippe vor. Der Angriff war so plötzlich und unerwartet gekommen, als hätte Phoebe sie ins Gesicht geschlagen. »He!«, fuhr Jack dazwischen. »Wir sollten uns nicht untereinander streiten. Das löst die Probleme auch nicht. Wir müssen alle unsere Kräfte für den großen Kampf sammeln.« »Es tut mir Leid, Alice«, rief Phoebe, den Tränen nahe. »Ist schon gut«, wisperte Alice mit dünner Stimme.
»Was passiert als Nächstes, Onkel Jack?«, fragte William. »Nächste Woche ist eine öffentliche Versammlung in der Stadt«, erwiderte Jack. »Wir müssen hingehen«, sagte Phoebe sofort. »Aber – Meg wird niemals verkaufen«, fügte sie hinzu, als wollte sie sich selbst Mut machen. »Sie will das natürlich nicht, aber sie haben ihr sehr viel Geld angeboten«, erklärte Jack ruhig. »Genug, um davon ein kleines Haus in einem Dorf zu kaufen und dort den Rest ihres Lebens in aller Ruhe zu genießen. Sie besitzt nichts. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es sogar eine sehr kluge Entscheidung von ihr wäre.« »Aber – was passiert dann mit ihren Kühen?«, fragte Alice traurig. »Und mit den Dachsen… und allem?«, ergänzte Mary niedergeschlagen. »Sie wird die Dachse niemals im Stich lassen«, sagte William überzeugt. Sie schwiegen alle und dachten über die unerwartete und schreckliche Neuigkeit nach, die Jack mit nach Hause gebracht hatte.
5 Standpunkte Noch in derselben Woche berichtete die Zeitung über die geplanten Bauvorhaben für Golden Water. Die Schlagzeile auf der ersten Seite hieß: »Ferienpark stellt Arbeitsplätze in Aussicht«. Eine Ausgabe dieser Zeitung steckte bei Dan, dem jüngeren der beiden Bauarbeiter, die in Golden House arbeiteten, hinten in der Jeanstasche. Er zeigte sie Jack, als sie für eine Kaffeepause in die Küche gingen. Die Kinder waren schon da und bereiteten mit Phoebes Hilfe alles für ein Picknick vor. Sie wollten den ganzen Tag oben am See verbringen und dieses Mal wollten Phoebe und Stephanie sie begleiten. »Für manche Leute ist das wohl in Ordnung!«, sagte Arthur, der ältere Bauarbeiter, und schlürfte geräuschvoll seinen Tee. Er meinte die Leute, die genügend Geld hatten, um sich ein Leben in Muße zu leisten. Jack las den Zeitungsartikel mit wachsendem Zorn, aber Dan erklärte, dass er das Ganze für eine gute Idee halte. »Hier muss irgendwas passieren«, sagte er. »Wir jungen Leute können hier rein gar nichts machen.« »Sie meinen, Sie wollen auf Wildwest-Trails durch den Wald gehen?«, fragte Phoebe ungläubig. »Nun ja, das vielleicht nicht gerade«, räumte Dan ein. »Aber eine Bowlingbahn und…«, er spähte über Jacks Schulter auf die Zeitung, »Schnellboote auf dem See…« »Es soll Otter in diesem See geben«, sagte Phoebe zu ihm. »Glauben Sie, die mögen Ihre Schnellboote?« Die Frage brachte Dan ein bisschen aus der Fassung, aber er behauptete, er habe seit Jahren da oben keine Otter mehr gesehen. »Und überhaupt«, fuhr er fort, »wo ist der Unterschied zwischen Ihnen mit Ihrem Hotel und diesen Leuten, die Golden Water zu einem Ferienpark machen wollen? Ich kann keinen sehen.« »Du willst doch wohl nicht sagen, dass du dafür bist, wenn aus Golden Water ein Vergnügungspark wird, Dan?«, fragte William schockiert. »Das kann nicht sein!« »Klar bin ich dafür«, erwiderte Dan. »Das sag ich doch die ganze
Zeit, oder? Höchste Zeit, dass hier mal was passiert. Hier ist alles so verschlafen, dass man sich selbst kneifen muss, damit man merkt, ob man noch lebt oder nicht.« »Aber – als die Dachsjäger im Tal waren, warst du doch nicht mehr zu halten. Da warst du auf unserer Seite«, rief William. »Seite?«, fragte Dan stirnrunzelnd. »Was für eine Seite? Es gibt keine Seiten. Es gibt nur verschiedene Meinungen. Ihr seht es so – und ich sehe es anders. Jeder kann seine eigene Meinung haben – und überhaupt: Was haben die Dachsjäger damit zu tun? Ich bin gegen Grausamkeit. Deshalb habe ich die Jäger gehasst. Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Was ist grausam an einem Ferienpark? Nichts, oder?« »Nur dass die Hälfte der wilden Tiere ausgerottet wird und hier nichts mehr so sein wird, wie es jahrhundertelang gewesen ist«, sagte Phoebe bitter. »Ist das nicht auch eine Form von Grausamkeit?« »Sie werden sich um die wilden Tiere kümmern«, widersprach Dan und zeigte auf die Zeitung, die ausgebreitet vor ihnen auf dem Tisch lag. »Das sagen sie hier…« Er beugte sich vor und las langsam vor: »Die natürliche Schönheit des Ortes wird als Lebensraum für seltene Tiere und Pflanzen erhalten bleiben, so dass unzählige Urlauber die Gelegenheit haben werden, die Wunder der Natur aus nächster Nähe und in natürlicher Umgebung zu beobachten…« »Man kann Orte nicht einfach für sich behalten«, sagte Arthur, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. »Das ist selbstsüchtig. Genau das ist es.« »Stattdessen also«, wandte Phoebe ein, »stellen Sie sich auf die Seite von ein paar Geschäftsleuten aus der Stadt, die ihre ohnehin dicken Brieftaschen noch weiter füllen, indem sie eines der letzten Fleckchen unberührter Natur dieses Landes zerstören?« »Den Fortschritt kann man nicht aufhalten«, plusterte sich Arthur auf. »Man muss mit der Zeit gehen…« »Das halte ich nicht länger aus!«, sagte Phoebe und ging schnell aus der Küche. »Außerdem«, sagte Dan in die Stille, die auf Phoebes Abgang folgte, »kennen wir die endgültigen Pläne noch nicht. Wir wissen gar nicht genau, was sie vorhaben. Es ist ja nur ein Antrag. Sie können nichts tun, was wir nicht wollen…« »Was wer nicht will?«, wollte Jack wissen. »Sie können keine Häuser bauen«, sagte Dan, »oder Bäume fällen oder… so was, ohne dass wir mitreden. Das ist Demokratie. Das ist
das Gesetz dieses Landes. Das Volk entscheidet.« »Politik!«, grummelte Arthur und schnauzte sich lautstark in ein schmutziges Taschentuch. »Nichts als Ärger!« Er wedelte mit einem Finger durch die Luft, um seine Meinung zu bekräftigen. »Politik, Recht und Religion sind immer schuld an allen Streitereien. Da wird nie was Gutes draus.« Und damit putzte er sich noch mal die Nase. »Nun, es sieht so aus, als wären wir in den nächsten Monaten auf verschiedenen Seiten, Dan«, sagte Jack leise und kratzte sich am Hinterkopf. »Weil ich mich nicht einfach zurücklehnen und bei alldem zusehen kann ohne dagegen zu kämpfen.« Dan zuckte mit den Schultern. »Ich will mit niemandem kämpfen. Ich sage nur, ich halte es für eine gute Idee. Sie behaupten sogar, es würde besser als Disneyland. Das ist doch nichts Schlechtes. Bringt jede Menge Geld in diese Gegend. Für jeden springt was dabei raus. Für Sie auch, Mr. Green…« »Dan…«, stöhnte Jack. »Stimmt doch. Denken Sie doch mal drüber nach. Ihr Hotel liegt genau bei denen vor der Tür.« »Genau da will ich aber kein Hotel!«, brüllte Jack. »Also – bloß, weil Sie das nicht wollen, meinen Sie, Sie haben das Recht, auch alle anderen dran zu hindern?«, spottete Dan und landete damit einen Treffer. »Das hört sich für mich wirklich ziemlich selbstsüchtig an.« Jack hob seufzend die Hände. »Lassen wir das. Unsere Streitereien führen zu nichts«, sagte er müde. Damit stand er vom Tisch auf und begann die Tassen auf den Ablauf neben. der Spüle zu räumen. »Ich hab mir schon immer gewünscht mal nach Disneyland zu kommen«, sagte Dan mehr zu sich selbst als zu den anderen. Alice starrte auf ihre Hände und sagte nichts. Sie war ein bisschen verlegen, weil er aussprach, was sie dachte. Obwohl sie sich seit dem Abend, als Jack und Meg bei dem Rechtsanwalt gewesen waren, nicht sehr an der Diskussion beteiligte, hörte sie doch bei allem, was gesagt wurde, gut zu. Und obwohl Phoebe sie an dem Abend sehr dafür getadelt hatte, musste sie zugeben, dass sie den Gedanken an einen Vergnügungspark so nahe bei ihnen immer noch aufregend fand. Sie hatte mit William nicht darüber gesprochen, weil er offensichtlich gegen den Plan war. Aber sie hatte einmal versucht mit
Mary darüber zu reden. Es war an dem Abend nach Jacks Besuch beim Rechtsanwalt. Sie und Mary saßen im Küchengarten. Mary zeichnete und Alice war es langweilig. »Ich glaube, Disneyland würde Spaß machen«, sagte sie. »Besser, als dauernd bloß hier rumzusitzen und nichts zu tun.« »Lies ein Buch«, sagte Mary abwesend, weil sie sich gerade darauf konzentrierte, die richtige Perspektive in ihr Bild zu bekommen. »Ich will aber kein Buch lesen«, beklagte sich Alice. »Ich will auf ganz aufregende, große Achterbahnen, wo mir immer schlecht wird. Du weißt, was ich meine, Mary…« Mary drehte sich um und sah sie verblüfft an. »Warum willst du, dass dir schlecht wird?« »Will ich gar nicht. Aber mir ist langweilig«, jammerte Alice. »Uns kann gar nicht langweilig sein«, sagte Mary ruhig. »Uns passieren aufregendere Dinge als allen anderen Leuten, die ich kenne.« »Du meinst, wegen des Magiers?«, fragte Alice und warf einen Kiesel nach einem Stein. »Aber wenn er nicht hier ist, dann ist es langweilig.« Die Mädchen schwiegen wieder, bis Alice es nicht mehr aushielt. »Ich möchte trotzdem auf eine große Achterbahn«, schmollte sie. »Oder… eine Geisterbahn!« Der Gedanke heiterte sie sofort auf. »Ja, das ist es, was ich wirklich möchte. Es soll wirklich gruselig sein… du weißt schon. Wenn man die Augen die halbe Zeit zumacht und schreckliche Sachen streichen einem im Dunkeln über das Gesicht. Und andere unheimliche Sachen springen plötzlich vor, dass man schreien muss…« Sie vertiefte sich so in ihren Tagtraum, dass sie Angst bekam, obwohl sie einfach nur im Garten saß. Jetzt, als sie zu ihrem Picknick aufbrachen und zu einem weiteren friedlichen Tag am See, wo sie schwimmen und sonnenbaden würden, dachte sie immer noch, dass sie lieber zum besten Freizeitpark der Welt gehen würde und dass eine wirklich unheimliche Geisterbahn genau das wäre, was sie jetzt am liebsten hätte. Es gehört eben zu den Sachen, die ich mag, dachte sie sehnsüchtig, solche Angst zu haben, dass ich eine Gänsehaut bekomme und mir nur noch wünsche, dass es aufhört. Da kann ich nichts für. So bin ich eben. Ich grusele mich gern.
6 Steineschlittern Mit William fing alles an. Die Kinder lagen auf dem flachen Felsen am Seeufer, wo sie gewöhnlich Picknick machten. Als sie alles aufgegessen hatten, wollte Phoebe mit Stephanie auf dem Arm nach Four Fields gehen, um Meg zu besuchen. Die Sonne brannte ziemlich heiß und Phoebe hatte Angst, sie könnte der zarten Haut des Babys schaden. Megs kleine Farm war gar nicht weit entfernt, nur durch das Waldstück hinter ihnen vom See getrennt. Es war kühler, durch den Wald zu gehen, meinte Phoebe, und sie hatte Meg seit dem Abend, als das Treffen mit dem Rechtsanwalt war, nicht mehr gesehen. Sie wollte wissen, wie es ihr ging. Spot verließ sein schattiges Plätzchen unter einem Busch, wo er mit hechelnder Zunge gelegen hatte, und folgte Phoebe. Alice wollte fast schon mit ihnen gehen, aber sie war zu faul und erklärte, dass sie vielleicht später nachkommen würde, im Moment sei sie so satt, dass sie sich unmöglich bewegen könnte, auch wenn sie es wollte. »Vielleicht«, schlug William vor und streckte sich auf dem Boden aus, seinen leeren Rucksack als Kissen unter dem Kopf, »vielleicht sollten wir hier einfach warten, bis der Magier kommt und wir ihm alles erzählen können, was wir entdeckt haben. Das ist das Beste, findet ihr nicht auch?« Und er seufzte glücklich. »Wenn er nur nicht zu bald kommt«, murmelte Mary und versank allmählich in dem seligen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, wenn die Geräusche immer leiser werden und am Rand des Bewusstseins Träume aufsteigen. Durch das Essen und die Hitze fielen ihnen also die Augen zu und sie dämmerten alle drei in angenehmem Halbschlaf. William, dessen Verstand immer länger zum Einschlafen brauchte als der seiner Schwestern, sagte träumerisch: »Da ist kein Fluss.« Und so fing es an. »Kein Fluss?«, murmelte Mary ohne wirkliches Interesse. »Wo ist kein Fluss?« »Aus dem See heraus«, sagte William wieder wacher und setzte
sich auf. »Es muss einen geben.« »William!«, protestierte Mary. »Hör auf zu denken und schlaf ein.« »Nein, hört eine Minute zu!«, beharrte William und legte die Hand über die Augen, um sich umzusehen. »Was ist denn, Will?«, fragte Alice, gähnte und setzte sich widerwillig auf. »Das Wasser fließt oben in den See hinein, richtig?«, sagte William mit seiner methodischen Stimme. »Wo dieser Wasserfall ist…« »Sollen wir uns das ansehen gehen?«, fragte Alice eifrig. »Wir haben da oben immer noch nichts untersucht…« »Einen Moment, Alice«, unterbrach William sie stirnrunzelnd und blickte nicht in die Richtung des Wasserfalls, sondern zum stehenden Stein und der Eibe auf der anderen Seite des Sees. »Das ist wirklich sehr komisch«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Was denn?«, fragte Mary und ließ sich gegen ihren Willen in Williams Gedanken mit hineinziehen. »Nun, das Wasser fließt hinein… aber es kommt nirgendwo mehr heraus.« »Muss es aber«, sagte Mary, setzte sich auf und betrachtete die Uferlinie. »Sonst würde der See überfließen«, erklärte Alice ein wenig altklug und kratzte sich an der Wange. »Wie eine Badewanne, in die Wasser läuft, wenn der Stöpsel drin ist.« »Wo fließt dann also das Wasser wieder aus dem See heraus?«, fragte William verwirrt. »Irgendwo da drüben auf der anderen Seite«, schlug Mary vor, aber noch während sie sprach, sah sie, dass das nicht möglich war. Das gegenüberliegende Ufer lief in einer hügelig ansteigenden Landschaft aus, die mit dunklen Tannen bewachsen war. »Nein, das glaube ich nicht. Es muss irgendwo am unteren Teil des Sees sein«, sagte William. »Nur da ist der Boden flach genug. Obwohl, wenn ich drüber nachdenke, sogar da steigt er zur Eibe hin an.« Er drehte sich um und starrte die Mädchen an. »Es ist wirklich so«, sagte er überrascht. »Dieser See ist rundherum von Hügeln umgeben. Er liegt überall tiefer als seine Umgebung.« Er stand auf. »Diesen See kann es eigentlich gar nicht geben.« »William, jetzt sei nicht albern«, sagte Alice. »Natürlich gibt es ihn. Wir können ihn ja sehen, oder nicht?« »Hast du eine Strömung gespürt?«, fragte Mary und stellte sich
neben ihren Bruder. »Ich meine, als du so weit hinausgeschwommen bist – vor ein paar Tagen, als wir dachten, du wärst verschwunden.« »Ich glaube nicht. Ich meine, nicht besonders«, erwiderte William. »Warum?« »Weil sie zeigen würde, in welche Richtung das Wasser fließt.« Will schaute sie anerkennend an. »Es muss doch vom Wasserfall wegfließen«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang immer verwirrter. »Das Beste wäre«, erklärte Mary nachdenklich und ging ein Stück von ihm fort, »wenn wir einmal um den See herumgingen. Früher oder später müssen wir einfach die Stelle finden, wo das Wasser wieder herausfließt. Das dauert bestimmt nicht ewig. Der See ist nicht sehr groß.« Aber es dauerte länger, als sie gedacht hatten, denn die Hitze, die vom Boden aufstieg und über der Wasseroberfläche flimmerte, machte ihnen zu schaffen. Kein Lüftchen regte sich und jeder Schritt war mühsam. »Wollen wir das wirklich wissen?«, jammerte Alice, nachdem sie erst ein kurzes Stück gegangen waren. »Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht willst«, erwiderte William. Aber Alice wollte dabei sein, falls sie doch etwas Interessantes entdeckten. Also schleppte sie sich weiter hinter den anderen her und beklagte sich seufzend über das Wetter. Nach kurzer Zeit erreichten sie das untere Ende des Sees. Hier stieg das Land allmählich zum stehenden Stein und zur Eibe hin an. »Erinnert ihr euch an die Linie?«, rief Mary. »Welche Linie?«, fragte Alice. »Als wir in den letzten Ferien zum ersten Mal hier oben waren, da haben wir doch gemerkt, dass der Baum und der Stein und der See in einer geraden Linie mit dem Taubenhaus und mit Golden House unten im Tal liegen. Und… da war noch etwas, oder? Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.« »Ja, das stimmt«, sagte William. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Da war doch auch noch eine Schneise in den Bäumen…« Er drehte sich um und betrachtete den Himmel über dem fernen Wasserfall am oberen Ende des Sees. »Da!«, rief er und zeigte hinüber. »Da ist die Schneise.« Die Mädchen drehten sich um und blickten in die Richtung, in die er wies. Direkt über dem Wasserfall oben auf dem Felsen war gerade
noch eine Lücke in den Bäumen erkennbar. »Komisch, wie man alles durcheinander bringt, bis man weiß, wie die Landschaft aussieht«, stellte William fest. »Die Lücke da oben ist wahrscheinlich die Stelle, wo der Fluss entlangfließt, der zum Wasserfall wird und dann den See füllt…« »Aber es ist immer noch eine gerade Linie«, beharrte Mary. »Und«, fuhr sie immer aufgeregter fort, »der Magier hat uns erzählt, da oben gäbe es drei Linien. Da war der Silberne Weg…« »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, murmelte Alice und erinnerte sich an die Nacht der Dachsjagd. »Ich habe ihn wieder zum Silbernen Weg gemacht.« »Das haben wir alle zusammen getan, Alice«, sagte William mürrisch, hob einen flachen Stein auf und ließ ihn hüpfend und springend über die glatte Wasseroberfläche des Sees schlittern. »Ihr wart ja gar nicht dabei«, beharrte Alice trotzig. Es war ihre Tat gewesen. Das hatte der Magier gesagt. Er hatte gesagt, sie wäre mutig. Er hatte gesagt, er wäre stolz auf sie. Es war typisch William, es so hinzustellen, als wären sie es alle gewesen. »Es war wirklich zum größten Teil Alice«, verteidigte Mary ihre Schwester und vergrößerte damit Williams Ärger. Sie beobachtete ihn, wie er einen weiteren Stein aufhob und sich vorbeugte, um ihn zu werfen. »Und dann war da noch der Goldene Weg, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Der war da drüben Richtung Four Fields, wo Meg wohnt. Und zwischen den beiden…« Williams Stein hüpfte zweimal und versank. Er suchte sich noch einen aus und zielte wieder. »… zwischen den beiden, hat der Magier gesagt, gab es noch einen dritten Weg ohne Namen, der von all diesen Dingen auf der geraden Linie gebildet wird…« Williams Stein schlitterte über die Wasseroberfläche und mitten in der Luft… verschwand er. »Huch!«, japste Mary. William drehte sich um und sah sie überrascht an. »Hast du das gesehen?«, fragte er. »Mach das noch mal, Will«, bat Mary. »Was? Was soll er machen? Was ist passiert?«, wollte Alice wissen. »Nichts verraten, Will. Schau einfach hin, Alice. Mal sehen, ob du das Gleiche beobachtest wie wir.« Alice drehte sich um und starrte auf den See. »Was soll ich sehen?«
»Williams Stein.« William nahm einen Stein und ließ ihn über die Wasseroberfläche des Sees hüpfen. Er sprang schräg von ihnen weg und kreuzte dabei ihre Blickrichtung. Mitten in der Luft zwischen zwei Sprüngen kreuzte er die unsichtbare Linie, die den See der Länge nach vom Wasserfall bis zum stehenden Stein und zur Eibe dahinter in zwei Hälften teilte,… und verschwand vor ihren Augen. »Er ist wieder weg«, wisperte William. »Was hast du gesehen, Alice?«, fragte Mary. Alice machte ein nachdenkliches Gesicht und kratzte sich an der Wange. »Nun?«, drängte Mary sie. »Er ist verschwunden«, erwiderte Alice und ließ es absolut normal klingen. Dann drehte sie sich zu ihren Geschwistern um. »Das ist genau das, was mit dir passiert ist, William.« »Was?«, fragte William. »Wann?« »William, sie hat Recht!«, keuchte Mary. »Als du neulich geschwommen bist…« »Aber ich hab euch doch gesagt, ich bin getaucht.« »Ja, das hast du wahrscheinlich auch getan…«, gab Mary widerstrebend zu. »Aber trotzdem«, beharrte Alice. »Für uns bist du einfach… verschwunden.« Sie hörten ein Plätschern und blickten wieder auf die Oberfläche des Sees. Eine Serie winziger Wellenkreise auf dem Wasser entfernte sich von ihnen. »Da springen ein paar Fische«, sagte William zu sich selbst. Sie blickten noch alle auf den See, als gar nicht weit vom Ufer entfernt ein Stein aus dem Nichts auf die Wasseroberfläche platschte und darüber hinweghüpfte, wobei seine Hopser immer schwächer wurden, bis er schließlich versank. Und sofort erschien noch ein zweiter Stein, gefolgt von einem dritten und einem vierten. »Wo kommen die denn her?«, staunte Alice und suchte das Ufer nach jemandem ab, der die Steine warf. »Aus dem Nichts«, wisperte Mary. »Aber sie erscheinen immer an der gleichen Stelle«, rief William aufgeregt. »Seht ihr? Sie erscheinen an genau der gleichen Stelle in der Luft…« »Was meinst du damit, Will?«, fragte Alice. »Seht mal hin! Wenn meine Steine verschwinden… dann erschei-
nen die anderen.« Er hob einen flachen Stein auf und ließ ihn über den See schlittern. Der Kiesel sprang über die Wasseroberfläche bis zur unsichtbaren Linie… und dann weiter… »Wohin?«, fragte William. Seine Stimme klang heiser. »Vielleicht in eine andere Zeit«, sagte Mary einfach. »In die Zeit des Magiers. Warum nicht? Wir haben uns ziemlich daran gewöhnt, dass der Magier kommt und geht – warum sollten wir uns wundern, wenn ein Stein das auch kann?« »Aber wie?«, rief William verzweifelt. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten, weil er zu verstehen suchte, was vor sich ging. »Wir sollen nicht fragen ›wie‹. Wir sollen die Dinge einfach geschehen lassen«, sagte Alice ein bisschen selbstgefällig. Diese Lektion hatte sie bei ihrem letzten Besuch in Golden House gut gelernt. Aber William gab sich damit nicht zufrieden. »Nein, Alice. Das trifft vielleicht für dich zu. Aber nicht für mich. Es reicht mir einfach nicht – nur zu sagen, es ist Magie. Ich muss wissen, was da vorgeht. Es muss eine logische Erklärung geben… es muss Regeln geben, denen die Magie gehorcht… Es muss einen Grund geben…« Während die anderen noch rätselten, drehte Mary dem See den Rücken zu und blickte nachdenklich auf den stehenden Stein. Dann stieg sie langsam den kleinen Hügel zu ihm hinauf. Der Stein war mannshoch und lehnte sich seitlich gegen einen Stechpalme, die ihn fast zu stützen schien. Der Stein war einfach nur eine schlanke, grob zu einem Viereck gehauene Felssäule. Es war nichts hineingemeißelt. Scharfe Kanten, die das Werkzeug eines Steinmetzen vielleicht einmal hineingehauen hatten, waren von Wind, Regen und Frost längst abgeschliffen worden. »Wohin gehst du?«, rief Alice. »Ich denke nur nach«, antwortete Mary und verschwand hinter dem Stein. »Mary?«, fragte Alice unsicher. Erst kam keine Antwort. Alice fühlte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Sie atmete tief durch. »Will«, wisperte sie. William drehte sich um und sah zum Stein hinauf. »Mary!«, rief er. »Was ist?«, fragte sie und kam hinter der Stechpalme hervor. »Ach, Mäusedreck!«, rief Alice ärgerlich. »Ich dachte, du wärst auch verschwunden.«
»Das war sie doch auch für eine Minute, oder nicht?«, sagte William nachdenklich. »Nein – ich konnte sie nur nicht mehr sehen. Das ist was anderes«, widersprach Alice. »Ich bin sicher, es hat etwas mit dieser Linie zu tun«, rief Mary ihnen zu. Sie wanderte langsam um den stehenden Stein herum und betrachtete ihn genau. Dann legte sie eine Hand flach auf die raue Oberfläche. »Ja! Es hat sehr viel mit der Linie zu tun«, sagte Stephen Tyler und kam hinter dem Stein hervor. Mary fuhr vor Überraschung zusammen. »Oh!«, keuchte sie. »Sie haben mich furchtbar erschreckt.« Der Magier stützte sich schwer auf seinen Silberstab, der andere Arm lag immer noch in der Schlinge. Er war gebeugter als sonst und sah müde und alt aus. »Schhh!«, wisperte er und brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. Dann blickte er ernst über den See, als ob er etwas beobachtete, das die Kinder nicht sehen konnten. Die Kinder starrten schweigend auf das Wasser und versuchten zu erkennen, was den Magier so faszinierte. »Interessant!«, sagte er schließlich. Dann fuhr er mit lebhafterer Stimme fort: »Es tut mir Leid. Ich war gerade dabei, meinen Assistenten zu beobachten, als mir eure Gegenwart bewusst wurde. Es liegt alles am Alter«, sagte er ärgerlich. »Ich kann meinen Geist nicht mehr so auf die Dinge konzentrieren wie früher. Es ist für die alchimistischen Künste außerordentlich wichtig, einen stillen und ruhigen Geist zu haben. Meiner springt herum und schreit wie ein junger Esel.« Er schüttelte den Kopf, als würden dadurch seine Gedanken klarer. »So, so. Hier sind wir nun alle. Was habt ihr gerade gemacht?« »Haben Sie Steine schlittern lassen?«, fragte William. »Steine schlittern lassen?«, sagte Stephen Tyler verwirrt. »Ja, wenn man Steine über die Wasseroberfläche hüpfen lässt«, erklärte William. »Ich nicht, nein. Aber mein Assistent. Er hat zu viel freie Zeit.« »Er ist hier?«, keuchte William. »Morten ist hier?« Er sah sich um und suchte das Seeufer ab. »Nein, nein, nein! Er ist hier, aber in seiner eigenen Zeit«, erklärte der Magier geduldig. »In meiner Zeit!« Dann lächelte er. »Armer William«, sagte er sanft. »Wie sehr dein Kopf leiden muss! Es ist
wieder nur eine Frage der Zeit. Wenn du das einmal begriffen hast, wird dir alles furchtbar einfach vorkommen, das verspreche ich dir! Und du machst wirklich große Fortschritte. Ich bin sehr zufrieden mit euch allen.« Der alte Mann nickte nachdenklich mit dem Kopf. Er musterte jedes der Kinder so gründlich, als sähe er sie alle zum ersten Mal. »Faszinierend!«, sagte er. »Ich sollte gehen. Ich hatte gar nicht vor zu kommen. Meine Konzentration!« Er schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt so viel zu tun. An die Arbeit! Ich kann nicht ewig bei euch sein, wisst ihr…« »Bitte«, unterbrach William ihn. »Wohin fließt das Wasser?« Tyler sah in scharf an. »Wohin es fließt?« »Aus dem See«, erklärte William. »Ich will dir etwas über das Wasser erzählen, William«, sagte der alte Mann und vergaß sofort, dass er eigentlich gehen wollte. Stattdessen kam er zu ihnen zurück. »Mit Wasser kann man den Menschen das Prinzip der Ewigkeit am besten erklären.« Er nickte nachdrücklich mit dem Kopf, als hätte er gerade eine Perle der Weisheit entdeckt. William runzelte die Stirn, Mary sah auf ihre Füße und Alice seufzte. »So ist es! Und was haltet ihr nun davon?«, fragte der Magier erfreut. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Alice ohne zu zögern. »William?«, fragte der alte Mann. »Ich weiß auch nicht, was es heißen soll«, musste William zugeben. »Was wisst ihr über Wasser?«, begann der Magier noch einmal. »Woher kommt es?« »Vom Regen«, verkündete Alice. »Woher kommt der Regen?« »Vom Wasser, das in die Atmosphäre verdunstet«, antwortete William. »Gut! Woher kommt das Wasser?« »Vom Regen«, sagte Alice wieder und dann runzelte sie verwirrt die Stirn. »Aber – woher kommt der Regen denn zuallererst?« »Genau«, lobte sie der Magier und nickte mit dem Kopf. »Es ist an der Zeit, dass ihr alles über das Wasser erfahrt. Wartet hier…« Er
entfernte sich rasch, wobei er sich schwer auf seinen Stab stützte, und war plötzlich verschwunden. »Was jetzt?«, murmelte William und untersuchte die Stelle, wo der alte Mann gerade noch gestanden hatte. »Puh«, seufzte Alice. »Ich hoffe, er hält uns nicht noch so einen Vortrag…« Während sie noch redete, sahen sie, wie sich ein Boot dem Ufer näherte. Der Magier ruderte es selbst. »Ihr habt mich gefragt, wohin das Wasser fließt? Ich muss euch die Blackwater Schleuse zeigen.« Alice blickte ihn misstrauisch an. »Die Blackwater Schleuse?«, rief sie. »Was soll das werden?« »Eine aufregende Fahrt, Alice. Wolltest du das nicht?«, antwortete ihr der Magier und Alice spürte, wie sie rot wurde. Der alte Mann hatte offensichtlich wieder ihre Gedanken gelesen. Es war eine seiner Angewohnheiten, der sie besonders misstraute. Sie hielt sie für unfair – wie Schwindeln beim Kartenspielen. »Ach, das meinst du wirklich?«, sagte Stephen Tyler und sah sie streng an. »Ich habe gar nichts gesagt«, sagte Alice unschuldig. »Deine Gedanken sind sehr laut, Minimus. Sie machen mich manchmal ganz taub. Jetzt kommt mit. Steigt ein«, sagte er und hielt das Boot ruhig. »Einer von euch muss rudern. Dieser verwünschte Arm hält mich von den meisten Dingen ab, die ich gerne tue.«
7 Lutra »Ich nehme an, ihr wisst, wie man rudert?«, fragte der Magier, als sie sich auf ihre Plätze drängelten und das Boot auf dem Wasser hin und her schaukelte. »William, du und Mary, ihr nehmt jeder ein Ruder, und Alice, du setzt dich hier neben mich. Aber – vorsichtig!«, rief er, als sie sich alle auf einmal bewegten und das Boot so sehr auf eine Seite kippte, dass sie es fast zum Kentern brachten. »Wasser«, erklärte der Magier ihnen, »ist ein heikles Element. Es muss mit Respekt behandelt werden.« Damit ließ er sich auf dem Platz hinten im Boot nieder und winkte Alice neben sich. »Ah!«, seufzte er. »Das ist sehr angenehm. Und nun rudert! « Er ließ seine gesunde Hand durch das Wasser gleiten, schloss die Augen und schnarchte bald darauf friedlich. Alice fing an zu kichern. Sie schloss ebenfalls die Augen und begann laut zu schnarchen. Der Magier öffnete sofort ein Auge und funkelte sie damit an. Dann schöpfte er mit der Hand Wasser aus dem See und spritzte es ihr ins Gesicht. »He!«, schrie sie. »Das war eiskalt!« »Dann hör auf mich nachzumachen!«, erwiderte der alte Mann streng und schloss erneut die Augen. William und Mary saßen nebeneinander auf der Bank in der Mitte des Bootes, Alice und dem Magier gegenüber. Sie nahmen jeder ein Ruder, tauchten es ins Wasser und zogen es gleichzeitig nach hinten. Das Boot glitt lautlos vom Ufer fort. »Aber wohin fahren wir?«, fragte Mary. »Der See ist nicht sehr groß«, sagte der Magier. Seine Augen waren noch immer geschlossen. »Ihr könnt euch nicht verirren.« »Woher kommt dieses Boot?«, wollte William wissen. »Es sieht zu modern aus, um aus Ihrer Zeit zu stammen.« »Stell keine unwichtigen Fragen! Ich habe es gefunden«, erwiderte der alte Mann. »Aber – wo? Mehr will ich doch gar nicht wissen«, beharrte William. »Sie sind verschwunden und zurückgekommen und… ach!« Er schüttelte ungeduldig vor Enttäuschung den Kopf. »Es ist alles so verwirrend…«
Als William das nächste Mal vom Rudern aufsah, merkte er, dass die Augen des Magiers offen waren und ihn durchdringend anstarrten. »Also…«, protestierte William gegen den anklagenden Blick des alten Mannes. »Ich kann nichts dafür. Ich habe eben einen Verstand, der die Dinge gerne begreift…« »Armer William«, murmelte Stephen Tyler. »Was soll geschehen, wenn du auf das Unbegreifliche stößt? Wenn du auf etwas triffst, das sich nicht mit dem Verstand erklären lässt? Wir sind nur Sterbliche, William. Möchtest du gerne Gott sein?« »Und außerdem ist das alles pure Zeitverschwendung«, sagte Mary plötzlich. »Das tust du immer, William. Du verstrickst dich in Kleinigkeiten und vergisst die wirklich wichtigen Dinge.« Der Magier wandte sich von William ab und musterte nun Mary ebenso durchdringend wie zuvor ihren Bruder. »Und was machst du, Mary?«, fragte er ruhig. »Machen?«, wiederholte sie nervös. Sie mochte die Aufmerksamkeit nicht, die sie mit ihren Worten auf sich gezogen hatte. »Du hast den Charakter deines Bruders sehr genau eingeschätzt. Ich möchte jetzt wissen, was du für deine eigene Haupteigenschaft hältst.« Mary wurde rot und sagte nichts. »Sich verlieben!«, sagte Alice gelangweilt. »Das macht sie immer.« »Und du bist dagegen?«, wollte der Magier wissen, drehte sich plötzlich zur Seite und blickte sie an. Alice zuckte mit den Schultern. »Es ist langweilig!«, sagte sie. »Ich habe ja nur gemeint«, sagte Mary und wechselte schnell das Thema, »dass wir alles Mögliche entdeckt haben, was wir Ihnen erzählen müssen, und William geht hin und stellt Ihnen unwichtige Fragen darüber, wohin das Wasser fließt…« »Aber manchmal«, erklärte der Magier, »stellt sich das scheinbar Unwichtige als entscheidend heraus.« Er streckte seinen Arm nach hinten über die Lehne, fasste das Steuerruder und lenkte das Boot hinaus in die Mitte des Sees. William und Mary ruderten weiter und das Boot glitt gleichmäßig über das Wasser. Alles war so ruhig, dass sie über einen blassblauen Himmel zu schweben schienen. Fische schwammen undeutlich und träge wie Schatten unter ihnen und das Sonnenlicht tanzte funkelnd
und blitzend auf der Wasseroberfläche. Der Magier starrte hinunter auf das langsam vorbeifließende Wasser und seine Hand kräuselte es in winzige Wellen, die kreiselten und strudelten und sich dann auf der glatten, seidigen Oberfläche verloren. Er seufzte, und als er sprach, klang seine Stimme sanft und wie von weit her, als ob er sich an ferne Gedanken erinnerte. »Das Wasser hier im Golden Water war für die Menschen immer schon geheimnisvoll«, sagte er. »Wie William richtig beobachtet hat, gibt es keinen erkennbaren Abfluss. Zumindest nicht auf der Oberfläche. Vor vielen Jahren – vor meiner Zeit, vor der Zeit der Mönche, vor der Zeit, als die Römer kamen – lebte hier ein mächtiges Menschengeschlecht, das die Gesetze der Natur verstand und in der Lage war, ihre Kräfte für sich zu nutzen. Fast so, wie die Menschen in eurer Zeit die Natur verwerten – aber mit einem sehr wichtigen Unterschied. In eurer Zeit nutzen die Menschen sie aus und zerstören sie. Sie nehmen, aber geben nichts zurück. Sie glauben, dass alle Dinge für ihren persönlichen Gebrauch da sind. Die Menschen, von denen ich rede, lebten in Harmonie mit ihrer Welt. Sie nahmen nichts, erwarteten nichts und zerstörten nichts. Sie erlernten viele wunderbare Fertigkeiten, die heute längst in Vergessenheit geraten sind. Sie bewegten Berge und ließen sie doch da, wo sie immer gewesen waren. Der stehende Stein ist ein Zeuge ihrer Macht. Er wurde über viele hundert Meilen mit unbekannten Mitteln hierher gebracht und genau in die Mitte des Energiefeldes gestellt, das dieses Tal und die Landschaft drum herum bestehen bleiben lässt, seit die große Eiszeit die Hügel und Täler formte und unsere heutige Welt gestaltete.« »Was ist ein Energiefeld?«, fragte William. Der Magier seufzte. »Du stellst so schwierige Fragen«, sagte er und blickte nachdenklich über das Wasser. »Kann ich dem vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgehen?« William zuckte mit den Schultern. »In Ordnung«, sagte er. »Aber nur, wenn Sie uns noch mehr über diese Menschen erzählen. Wohin sind sie gegangen? Was ist mit ihnen passiert?« »Sie wurden von den Schwachen und Gerissenen erobert. Sie haben gegen die Gier und die Niedertracht verloren. Sie haben nicht verstanden, was es bedeutet, für ihre Existenz zu kämpfen. Sie hießen alle Lebewesen als Teil ihrer Welt willkommen. In ihrer Sprache gab es kein Wort für Hass, weil sie dieses Gefühl nie kennen gelernt
hatten.« Wieder seufzte Stephen Tyler. »Rudert jetzt langsamer«, sagte er und hob eine Hand. »Wir sind fast in der Mitte.« William und Mary tauchten die Ruder noch einmal sanft ein und legten sie, als das Boot vorwärts glitt, über den Bootsrand. Als das Boot auf einer Linie mit dem stehenden Stein auf der einen Seite und dem Wasserfall auf der anderen war, verlangsamte der Magier die Geschwindigkeit mit dem Steuerruder, bis das Boot schließlich von einer Seite zur anderen schaukelnd anhielt, als es gerade die unsichtbare Linie im spitzen Winkel kreuzte. »Seht mal«, sagte er, wühlte in den Falten seines Mantels und holte ein glattes Stück Gold an einer feinen goldenen Kette hervor. »Was ist das?«, fragte Alice und blickte das seltsame Ding mit leuchtenden Augen an. »Mein Pendel«, antwortete der alte Mann. Er hob die Kette hoch und hielt sie sehr fest zwischen Zeigefinger und Daumen. Das Goldstück hing regungslos herunter. »Mit meinem Pendel messe ich die Erdenergie. Hier in der Mitte von Golden Water ist sie extrem stark. Seht!« Das Goldstück begann sich langsam im Kreis zu drehen, obwohl Stephen Tyler sich nicht bewegte und kein Lüftchen wehte. Zuerst beschrieb es nur langsam einen Kreis, aber dann, als die Bewegung an Stärke zunahm, kreiste das Gold immer schneller und zerrte an der dünnen Goldkette, bis es in einem Winkel von 45 Grad von der Hand des alten Mannes abstand. »Was bedeutet das?«, flüsterte Mary. »Wir sind auf dem Mittleren Weg«, erwiderte Stephen Tyler. Er nahm das Pendel in die Hand und steckte es wieder in die Tasche. »Als du mich gefragt hast, wohin das Wasser fließt, William«, fuhr er fort, »hast du ein großes Geheimnis berührt. Genau diese Frage muss unsere Vorväter zu diesem Ort gezogen haben. Hierher kommt die Kraft. Genau unter uns – sehr tief da unten, unergründlich tief – gibt es im harten Stein dieses überfluteten Felsbeckens eine Öffnung. Durch sie fließt das Wasser in unvorstellbar große Höhlen. Die Einheimischen hier nennen die Öffnung Blackwater Schleuse. Nur wenige Menschen sind dort gewesen, aber viele haben es versucht und sind gescheitert. Die Öffnung ist sehr schmal. Nur ein Kind könnte sich hindurchzwängen. Und sie liegt in so großer Tiefe, dass man einen Atmungsapparat braucht, nur um dorthin zu kommen.« »Wieso wissen Sie so viel darüber?«, fragte William mit leiser
Stimme. »Sie reden so, als wären Sie dort gewesen.« Der Magier sah ihn lange an und lächelte dann. »Lutra!«, rief er. Es war ein zarter, sanfter Ruf. »Komm zu mir, Lutra.« Er hob seine Hand und zeigte über die Oberfläche des Sees. Die Kinder drehten sich um und blickten in die Richtung, in die er wies. »Lutra!«, rief er wieder. Es klang wie das wispernde Geräusch des Windes in den Bäumen, das Geräusch eines Walliedes. »Lutra!« Es hörte sich zart, stark und liebevoll, traurig und fröhlich zugleich an. »Seht nur!«, rief Alice und sie zeigte in die gleiche Richtung wie der Magier. Jetzt konnten sie alle eine v-förmige Wellenbewegung über die dünne, farblose, bewegliche Wasserfläche schnell wie ein Pfeil auf sich zukommen sehen. »Komm, mein Lutra!«, sagte Stephen Tyler fast schroff und beugte sich über den Bootsrand, als ob er die Wellen zu sich führen wollte. »Ihr passt gut zusammen!«, rief er. Im selben Augenblick tauchte ein Kopf aus dem Wasser. Das Gesicht war schmal und glänzend, die Augen zwinkerten, die Nase sah aus wie ein blanker, schwarzer Knopf, unter dem graue Schnurrbarthaare zu beiden Seiten abstanden. »Was ist das?«, japste Alice. »Das ist Lutra!«, erklärte Stephen Tyler. »Mein Lutra.« »Aber… was ist es?«, beharrte Alice. Sie hatte noch nie zuvor ein solches Wesen gesehen. »Bist du noch nie einem Otter begegnet?«, fragte Stephen Thyler, verblüfft über so viel Unkenntnis. Alice verzog achselzuckend das Gesicht. »Glaub nicht«, sagte sie. »Bin ich, Will?« William schüttelte den Kopf und Mary, die dem Wesen auf ihrer Seite des Bootes am nächsten saß, lehnte sich vor und streckte eine Hand nach ihm aus. »Lutra, mein Lieber«, sagte der Magier sanft. »Ich möchte meinen Freunden die Blackwater Schleuse zeigen.« Der Otter warf dem Magier einen fragenden Blick zu. »Erspare ihnen nichts«, fuhr der alte Mann fort. »Sie sind meine besten und treuesten Freunde. Sie müssen alles verstehen…« Als er geendet hatte, drehte sich der Otter um und verschwand mit einem Plumps unter der Wasseroberfläche neben dem Boot.
»Bitte, geh nicht weg!«, rief Alice, lehnte sich über den Bootsrand und suchte die Dunkelheit unter sich ab. Noch bevor sie Zeit hatte, nach Luft zu schnappen, war sie vom eiskalten Wasser des Sees umgeben und sie fühlte, wie sie in die dämmrigen Tiefen gezogen wurde.
8 Die Blackwater Schleuse Alles ging so schnell, dass Alice später nie genau sagen konnte, was nun wirklich passiert war. Gerade lehnte sie sich noch über den Bootsrand und hielt nach dem schwächer werdenden Schatten des Otters Ausschau und im nächsten Moment… war sie selbst im Wasser. Es fühlte sich unglaublich kalt auf ihrer Haut an und zog sie unerbittlich hinunter in die Tiefe. Das Licht nahm immer mehr ab. Alices Körper schien einem unbekannten Befehl zu folgen wie ein Unterwasserboot, das sich darauf vorbereitet abzutauchen. Alle Geräusche verschwanden, als sie ihre Ohren schloss. Sie schlug mit ihrem Schwanz und spürte, wie das Wasser um sie herum immer kälter und dunkler wurde. Im selben Augenblick schloss sie ihre Nasenlöcher und ihre Augen wie ein Schiff, das vor einem Sturm die Luken schließt. Immer schneller glitt sie durch das Wasser, immer tiefer, bis sie schließlich den Sog einer Strömung spürte. Ihre Lungen platzten fast, denn der immense Wasserdruck um sie herum presste ihren Körper zusammen. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber die Lider schienen wie zugeklebt zu sein. Sie konnte sie noch nicht einmal bewegen. Vergeblich versuchte sie einfach umzudrehen und wieder zur Wasseroberfläche zurückzuschwimmen. Wie von einem Magneten angezogen schwamm sie immer tiefer bis auf den Grund von Golden Water. Sie merkte, dass die Strömung stärker wurde und sie zu der Felswand der Unterwasserschlucht zog, die den See bildete. Wie eine Blinde betastete sie mit ihren Pfoten, an denen Schwimmhäute waren, den Felsen und ließ sich vom Sog der Strömung immer näher an die schmale Öffnung ziehen, durch die das Wasser mit großer Kraft abfloss. Die Strömung war jetzt sehr stark. Sie versetzte ihrem Körper Schläge und warf sie zur Seite, so dass sie nach Luft schnappte. Dabei öffnete sie ihren Mund und schluckte eiskaltes Wasser. Sie würgte hustend und schnaubend und fürchtete zu ersticken. Ein starkes Band schnürte ihre Lunge ein und presste den letzten Atem aus
ihr heraus. Vor ihren Augen blitzten seltsame Lichter auf. Die unheimliche Stille, die sie bisher begleitet hatte, wurde plötzlich von dem schrecklichen Geräusch tosenden Wassers zerrissen, das donnernd und brüllend durch die schmale Öffnung schoss. »Die Blackwater Schleuse«, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf. »Ich hasse diesen Ort wie keinen anderen auf der Welt. Ich komme nur hierher, wenn der Magier es will – und einmal, als ich noch klein war, aber das war aus Versehen. Festhalten, Minimus… wir schwimmen durch.« Alice wurde fast schlecht, als sie schlingernd in einen bodenlosen Abgrund fiel. Das eiskalte Wasser um sie herum zerrte an ihrem Körper und der Lärm war so ohrenbetäubend, dass sie hätte schreien mögen. Spitze Steine zerrissen ihr Fell und ihr Kopf stieß gegen einen vorstehenden Felsbrocken. Aber bevor sie noch Zeit hatte, den Schmerz zu spüren, wurde sie schon um sich selbst gewirbelt. Ihr wurde endgültig übel von der kreiselnden Bewegung, aber das schwarze Wasser riss sie mit, bis sie wie von einer Pistole abgeschossen durch kühle, feuchte Luft flog. Einen Augenblick später schlug sie dumpf auf einem Stück Fels auf und hörte, wie das Wasser neben ihr weiter in die Schwärze toste. Als Erstes fiel ihr die Dunkelheit auf. Sie war dunkler als jede Nacht und umschloss sie von allen Seiten. Sie schien so dicht und undurchdringlich wie eine feste Wand. Alice merkte, dass sie bislang gar nicht gewusst hatte, was echte Dunkelheit war. Sonst gewöhnten sich ihre Augen nach einer Weile daran, egal, wie schwarz die Nacht war, und ganz allmählich erschienen die Umrisse der Dinge wieder verschwommen vor ihr. Aber hier blieb es dunkel; solange sie auch wartete, die Dunkelheit war undurchdringlich . Ihre Schulter schmerzte von dem Sturz. Sie war klatschnass und sie zitterte vor Kälte. Das Wasser brauste noch immer mit ohrenbetäubendem Lärm durch die schmale Öffnung. Sie legte ihre Pfoten über die Ohren, um das Geräusch zu dämpfen, und fühlte dabei das geschmeidige, ölige Fell auf ihrem Körper. Ihr Körper war ihr plötzlich nicht mehr vertraut, sondern so fremd, dass sie noch nicht einmal wusste, in was sie sich verwandelt hatte. Diese Entdeckung war zu viel für Alice. Sie hockte sich auf den kalten, nassen Boden und fing jämmerlich an zu schluchzen. »Alice!«, kreischte Mary und wollte ihre Schwester aufhalten. Aber sie war nicht schnell genug. Alice lehnte sich zu weit über den
Bootsrand, und als Mary sie gerade an der Schulter festhalten wollte, stürzte sie mit einem erschrockenen Schrei ins Wasser und verschwand in der Tiefe. »William!«, schrie Mary und blickte sich Hilfe suchend nach ihm um. William richtete sich auf. Er hatte sich ebenfalls über den Rand gelehnt, um Alice zu erwischen, bevor sie fiel. Jetzt, wo das Gewicht seiner jüngsten Schwester fehlte, schaukelte das kleine Boot im aufgewühlten Wasser auf und ab. William verlor das Gleichgewicht. Mit Armen und Beinen durch die Luft rudernd fiel er rückwärts in den See. William war ein sehr guter Schwimmer. Aber die plötzliche Kälte des Wassers überraschte ihn. Sein dünnes Hemd blähte sich auf und seine Shorts sogen sich voll Wasser, so dass ihr Gewicht ihn nach unten zog. Seine Sandalen fühlten sich im Wasser fremd an und hingen wie Ballast an seinen Füßen. Er wollte sie loswerden, aber sie saßen so fest, dass er sie nicht abschütteln konnte. Er spürte, wie er immer weiter rückwärts ins Wasser sank. Das Licht über ihm wurde langsam schwächer und seine Arme und Beine streckten sich nach oben, als ob er verzweifelt versuchte sich an der Welt über ihm festzuhalten und wieder hinaufzuziehen. Beim ersten Eintauchen hatte er eine Menge Wasser geschluckt. Er würgte und prustete, und als er Atem holte, schluckte er unwillkürlich noch mehr Wasser. Er geriet in Panik. Verzweifelt strampelte er von neuem mit Armen und Beinen, aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte die Wasseroberfläche nicht erreichen. »Ruhig«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. »So geht man doch nicht mit Wasser um. Mach es so wie ich.« Später behauptete William, dass er den Otter durch das grüne Halbdunkel auf sich zuschwimmen gesehen habe, bevor sie zu einem Wesen verschmolzen. Aber er war sich nicht sicher. Er wusste nur noch, dass seine Arme und Beine, die immer noch zur fernen Wasseroberfläche gereckt waren, zu kurzen Pfoten mit Krallen schrumpften und dass er plötzlich einen starken, flachen Otterschwanz sehen konnte. »Den Schwanz mag ich am liebsten!«, wisperte er und schlug heftig damit aus. Sofort schoss er durch das Wasser und sein Körper drehte sich geschmeidig, als er abtauchte. Die neue Fähigkeit faszinierte William. Er hätte stundenlang weiter mit dem Schwanz schlagen können. Es machte solchen Spaß, durch das Wasser zu jagen!
Aber eine Stimme in seinem Kopf wisperte energisch: »Überlass mir die Bewegungen, wenn’s dir nichts ausmacht. Außerdem kann das Wasser die meiste Arbeit für uns selbst erledigen.« »Das haben sie uns bei der Lebensrettung auch erzählt«, erinnerte William sich plötzlich. »Lasst das Wasser die Arbeit tun.« »Die ganze Zappelei mit dem Schwanz macht dich nur müde. Ich will aber nicht müde sein. Du vielleicht?« Eigentlich nicht, dachte William. Aber er war trotzdem enttäuscht. Es hatte solchen Spaß gemacht. »Du bist nicht zu deinem Vergnügen hier«, wisperte die Stimme streng. »Wo wir hingehen, ist es nicht lustig. Wir brauchen unsere Kräfte für die Blackwater Schleuse, das sollst du ruhig wissen. Ich hasse den Ort. Ich schwimme nur für den Magier dahin – außer einmal, als ich noch klein war und das war aus Versehen…« Der Sog der Strömung nahm immer mehr zu. Der Otter streckte seine Pfoten nach vorne und hinten, von der Nasenspitze bis zum Schwanzende sah sein Körper wie eine lange, geschmeidige Zigarre aus. Er öffnete seine Augen ein wenig, so dass sie durch das trübe Wasser einen schmalen Riss in der tiefen Felsspalte sehen konnten, zu der sie gezogen wurden. Die Kraft, mit der das Wasser durch diesen Riss schoss, war so stark, dass es sich gar nicht zu bewegen schien. Es sah eher wie eine feste Wand aus, schwarz und hart. Als der Körper des Otters diese Wand berührte, fühlte William eine riesige Kraft. Es war, als ob er sich an ein Auto in voller Fahrt klammern würde, das ihn in unglaublicher Geschwindigkeit mit sich zog. »Los geht’s!«, wisperte die Otterstimme in seinem Kopf, dann jagten sie beide als ein einziges Wesen mit einem durchdringenden, verzweifelten »Aaahhh!« – von dem William vermutete, dass es eher von ihm als vom Otter kam – auf die schmale Öffnung zu. »Das schaffen wir nie!«, schrie William und duckte im Geist seinen Kopf, um sich gegen die harten, gezackten Felskanten zu schützen, die auf ihn zurasten. Der Lärm des Wassers dröhnte in seinen Ohren. Der Fels kam näher und schloss sich immer enger um seinen Otterkörper. Sie wirbelten und rollten und kreiselten und stoben tief durch massives Gestein. »Die Blackwater Schleuse«, schrie eine Stimme in seinem Kopf und einen Moment später hörte er Alices entsetzten Schrei: »William! William!«
»Ich bin hier«, sagte er zu ihr. »Es ist alles in Ordnung.« Als er keuchend nach Luft schnappte, spürte er, dass der Körper des Otters ihn verließ, und er sah seine eigenen Hände durch das Wasser nach Alice greifen, die im See zappelte und schrie. Als William über Bord ging, schaukelte das Boot furchtbar. Mary gelang es, sich auf beiden Seiten am Bootsrand festzuhalten. Sie klammerte sich daran, als wäre sie auf einer Achterbahn. Sonst wäre sie mit Sicherheit ebenfalls im Wasser gelandet. Das Boot schlingerte vorwärts und rückwärts hin und her und warf sie in alle Richtungen, als ob es sie abschütteln wollte. Wasser schwappte über den Rand auf den flachen Boden unter ihren Füßen und drückte das Boot immer tiefer in den See. Seine Oberfläche kam immer näher. Es sah aus, als ob das Boot unweigerlich sinken würde. Mary zwang sich zur Ruhe. Sie holte tief Luft, hielt sich fest und hoffte inbrünstig, dass das Boot bald wieder friedlich und sicher auf dem See liegen würde. Ganz allmählich begann die glänzende Wasseroberfläche sich zu beruhigen. Sobald es möglich war, blickte Mary über ihre Schulter und suchte nach einem Lebenszeichen von William oder Alice. Der See lag glatt und klar wie ein Spiegel. Mit einem Ruck drehte sie sich um und blickte panisch in die Gegenrichtung. Nichts. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie allein im Boot war. Der Magier war verschwunden. Sie wusste nicht, wohin oder wann er gegangen war. Warum er gegangen war, schien fast schon unwichtig zu sein. »Typisch!«, sagte Mary laut. »Genau, wenn ich Sie brauche!« Ihr wurde schlecht vor Angst. »William!«, schrie sie. »Alice!« Dabei kniete sie sich in das kalte Wasser im Boot und lehnte sich über den Rand, um in die Tiefe des Sees zu blicken. Aber sie wusste, dass es zwecklos war. Sie hatte gesehen, wie Alice im See verschwand, und einen Augenblick später hatte sie William aufschreien hören, als er rückwärts aus dem Boot ins Wasser fiel. Als sie jetzt die glatte Oberfläche des Sees sah, war sie sicher, dass beide ertrunken waren. Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an. Sie wusste nicht, wie lange sie im nassen Boot gekniet hatte, aber schließlich wurde sie auf eine ruckartige Bewegung aufmerksam. Sie öffnete die Augen und stellte überrascht fest, dass das Boot sich bewegte. Wie von unsichtbarer Hand gezogen glitt es langsam über das Wasser. Sie kletterte vorne in den Bug und sah über den Bootsrand. Das
Seil, das Stephen Tyler benutzt hatte, um das Boot an Land zu ziehen, spannte sich einen Meter vor dem Boot im Wasser, und als Mary genauer hinsah, konnte sie den nass glänzenden Kopf eines Otters an der Oberfläche auftauchen sehen. Das Ende des Seils hielt er fest zwischen seine Zähne geklemmt. Der Otter zog das Boot langsam ans Ufer. »Ist es genug für einen Tag?«, wisperte die bekannte Stimme des Magiers in ihrem Kopf. »Bitte«, schluchzte Mary. »Wo sind William und Alice?« »Wir haben sie zur Blackwater Schleuse mitgenommen«, sagte der Otter, während er sich auf den Rücken legte und das Seil in seinen großen Krallen hielt. »Aber wo sind sie jetzt?«, fragte Mary. Bevor der Otter antworten konnte, hörte sie William vom Ufer nach ihr rufen. »Mary! Bist du in Ordnung?« William stand nass und verdreckt, aber offensichtlich unverletzt im seichten Wasser am Seeufer. »Wo ist Alice?«, schrie sie. »Sie ist hier. Hast du mich nicht gesehen? Ich habe ihr gerade ans Ufer geholfen.« Da sah Mary, dass Alice hinter ihrem Bruder am Boden kniete. »Geht es ihr gut?«, schrie Mary. »Ja klar«, antwortete William. »Ich habe doch den Rettungsschwimmer, schon vergessen? Was ist los mit dir?« »Nichts«, antwortete Mary. Sie nahm die Ruder, bewegte das Boot langsam zum Ufer und ließ sich die Tränen der Erleichterung und Müdigkeit einfach über das Gesicht laufen. Der Otter schwamm noch eine Weile neben ihr. Er streckte seinen Kopf aus dem Wasser und beobachtete sie mit glänzenden, zwinkernden Augen. »Nicht weinen, kleines Mädchen«, pfiff er mit seiner hohen Flötenstimme. »Es ist alles vorbei. Alles ist wieder sicher. Ich hasse die Blackwater Schleuse…« Bevor er noch seinen Satz beendet hatte, tauchte er unter und kam einen Augenblick später mit einem silbernen Fisch zwischen den Zähnen wieder hoch. Die Sonne brannte. William und Alice hatten sich in ihre Badetücher gewickelt und die nassen Kleider zum Trocknen neben sich ausgebreitet. Mary erreichte das Ufer weiter oben und watete durch das seichte
Wasser an Land. Dann zog sie das Boot hinter sich auf die Kiesel. Sie wollte gerade zu den anderen gehen, als sie auf der Bank, auf der der Magier gesessen hatte, etwas glitzern sah. Der hintere Teil des Bootes lag immer noch im Wasser und Mary watete zurück, um zu sehen, was es war. Auf der Holzbank lag das Goldpendel des Magiers. Mary hob es auf und ließ die Kette durch die Hand gleiten. Ohne diesen Beweis hätte sie beinahe geglaubt, er sei gar nicht da gewesen und sie hätten ihn sich bloß eingebildet. So ist es fast immer, dachte sie und steckte das Pendel in die Tasche. Dann lief sie schnell am Ufer entlang zu William und Alice. »Geht es euch gut?«, rief sie. »Ja!«, antwortete Alice ärgerlich. »Reg dich doch nicht so auf, Mary. Ich bin doch bloß fast ertrunken, das ist alles!« Sie zog achselzuckend ein Gesicht, als ob Ertrinken zu den Dingen gehörte, die sie jeden Tag tat. »Ein Glück, dass du da warst, Will«, sagte Mary und kniete sich zwischen sie. »Ich hätte sie nie retten können.« »Aber ich hätte schwimmen können«, maulte Alice und schlang fröstelnd die Arme um sich. William saß im Schneidersitz, warf einen Kieselstein von einer Hand in die andere und starrte auf den See. »Was ist passiert?«, fragte Mary. »Ich bin ins Wasser gefallen«, antwortete Alice. Sie hörte sich immer noch gereizt an. »Aber danach. Habt ihr die Blackwater Schleuse gesehen?« »Hör auf, Mary!«, wisperte Alice und hielt sich die Ohren zu. »Ich will niemals mehr daran denken.« William nahm den Kiesel und warf ihn, so weit er konnte, in den See. »Will?«, drängte Mary. »Sag es mir bitte.« »Was?«, fragte William und versuchte mutig zu klingen. »Was ist passiert?«, wiederholte seine Schwester ängstlich. William zuckte mit den Schultern. »Erzähl du es mir«, sagte er. »Also, wir haben den Otter gesehen und im nächsten Augenblick seid ihr ins Wasser gefallen und wart völlig verschwunden und das Boot ist fast gesunken und dann… seid ihr plötzlich hier am Ufer aufgetaucht. Oh! Und der Otter. Ich habe den Otter wieder gesehen.« Sie erinnerte sich stirnrunzelnd und konnte kaum glauben, was sie sagte. »Er hat das Boot gezogen.« »Das war alles?«, fragte William und sah sie an.
»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Mary. »Wie lange hat das gedauert?« »Ich weiß nicht genau«, antwortete Mary. »Nicht sehr lange. Warum?« William schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist noch mehr passiert, nicht wahr?«, fragte Mary und sah William gespannt an. »Bitte erzähl mir den Rest, Will. Bitte.« »Ich glaube«, antwortete ihr Bruder langsam, »dass Alice fast ertrunken ist und dass ich sie gerettet habe… Genau wie du gesagt hast. Das ist alles.« »Ja, das ist alles«, sagte Alice. William und sie sahen sich einen Augenblick lang an. »Ist es nicht«, rief Mary. »Da ist noch was, das ihr mir nicht erzählt. Es hat mit Magie zu tun, oder? Irgendwas ist passiert – und ich war nicht dabei. Warum? Warum verpasse ich immer alles? Warum?« »Ach, Mary«, sagte Alice kleinlaut. »Es war keine sehr nette Magie…« Und sie und ihr Bruder fingen an zu beschreiben, was ihnen passiert war. »Es war schrecklich«, schluchzte Alice, als sie schließlich fertig waren. »Ich will nie wieder so was erleben. Niemals wieder.« »Das ist nicht fair«, murmelte Mary und überhörte die letzte Bemerkung. »Immer verpasse ich alles.« Sie legte sich auf den Rücken und schloss die Augen, damit die anderen beiden nicht merkten, dass sie wieder weinte.
9 William findet Erklärungen Das Geheimzimmer war von der späten Nachmittagssonne durchflutet. Blasses, aprikosenfarbenes Licht strömte durch das hintere Fenster und tauchte die steil aufragende Decke, die Wände, den Boden und sogar die staubige Luft in Gold. Die Luft wehte noch sommerlich warm um das Dach und brachte den Duft von Rosen und den würzigen Geruch von Kräutern aus dem Garten mit, aber einige Vögel kündigten mit seltsam erwartungsvollen Liedern bereits die Nacht an. Mary konnte nicht aufhören zu weinen. Es war kein lautes, schluchzendes, verzweifeltes Weinen, sondern ein stilles, das von der Schönheit der Landschaft, die sie durch das runde Fenster betrachtete, ebenso herrührte wie von ihrer eigenen Gemütsverfassung. Irgendwie war sie seit dem Nachmittag am See traurig. Aber sie hatte den anderen nichts davon erzählt, denn sie wollte ihre seltsame Stimmung mit niemandem teilen. Sie hätte sie auch kaum in Worte fassen können. Es war nicht mehr als ein leichtes, nagendes Gefühl der Zurückweisung, als ob sie übergangen worden wäre. Es war etwas Magisches geschehen und sie hatte keinen Anteil daran haben dürfen. Warum? War sie vielleicht nicht gut genug dafür? Oder noch nicht bereit dazu? Oder… warum? Sie wischte mit den Händen übers Gesicht und seufzte tief. Vielleicht war es das Beste, sich gar nicht darum zu kümmern – genauso, wie sie sich nicht mehr um Dan kümmerte. Wieso sollte sie ihre Zeit damit vergeuden, sich an Orten aufzuhalten, wo er sie sehen musste, wenn er sie dann nur wie ein kleines Kind behandelte und nicht ernsthaft mit ihr redete? Er war eigentlich genau wie die Magie. Er überging sie auch. Und dieser Ausblick… sogar dieser Ausblick aus dem Fenster… Sie war nicht wirklich ein Teil davon. Sie stand irgendwie außerhalb von allem und beobachtete alles nur aus der Ferne. Sie fühlte sich, als gehöre sie nirgendwohin, als wäre sie unsichtbar oder würde gar nicht existieren. Sie hatte es satt, nur zuzusehen, und am meisten hatte sie es satt, offenbar niemals irgendwo dazuzugehören. Sie waren vom See über Four Fields zurückgegangen, wo Phoebe
mit Stephanie und Spot schon auf sie wartete. Bei Meg gab es Tee in dickwandigen, angeschlagenen Tassen und große Stücke gekauften Obstkuchen, die William und Alice heißhungrig verschlangen. Keiner von beiden verlor natürlich auch nur ein einziges Wort darüber, was passiert war. William fragte Meg nur, ob es ein Boot auf dem See gäbe. »Nein, Herzchen. Es gab mal eins, glaube ich. Aber jetzt nicht mehr«, sagte Meg zu ihm. Sie schien selbst bedrückt zu sein und Phoebe schlug bald vor, dass sie und die Kinder nach Hause gehen sollten. Beim Abendessen erzählte Phoebe ihnen, dass Meg sehr in Versuchung war, Four Fields zu verkaufen. »Was soll ich tun, meine Liebe?«, hatte sie gesagt. »Ich hätte nie gedacht, dass mir einmal jemand Geld für Four Fields anbieten würde. Ich meine, es ist kein gutes Land und das Haus ist baufällig. Natürlich will ich hier nicht wegziehen, ich habe vorher nie einen Gedanken daran verschwendet. Hab nie geglaubt, dass ich es einmal könnte. Dachte immer, ich lebe und sterbe in Four Fields. Aber mit dem Geld, das sie mir bieten, könnte ich ein kleines Haus in einem Dorf kaufen. Ich werde auch nicht jünger, nicht wahr? Und das Leben hier ist hart… Hart für eine alte Frau wie mich… Ich muss nur einmal bei Eis und Schnee hinfallen, und was dann? Wer würde dann die Kühe melken? Wer würde überhaupt merken, dass etwas nicht in Ordnung ist? Wenn Schnee liegt, sehe ich manchmal tagelang keine Menschenseele. Ich könnte eine Woche irgendwo liegen. Letzten Winter ging es mir schon nicht gut. Aber ich habe durchgehalten. Man muss in meinem Alter einfach an solche Dinge denken. Dieser Ort… Na ja… Es ist schön hier, wenn man jung ist. Aber nicht ganz so schön, wenn man alt wird.« Die Kinder waren entsetzt über diese Neuigkeit. Nur Jack schien Meg zu verstehen. »Aber…«, rief Alice, »sie kann doch nicht aus Four Fields wegwollen. Wir gehen sie jeden Tag besuchen. Wäre das gut?« »Und was ist, wenn ihr wieder in der Schule seid?«, wandte Phoebe ein. »Und wenn eure Eltern aus Afrika zurückkommen und ihr nicht mehr hier wohnt?« »Aber wir werden sie immer besuchen«, wehrte Alice sich und erschrak plötzlich bei dem Gedanken, nicht mehr in Golden House zu wohnen, obwohl sie ihre Eltern vermisste. »Aber wenn sie verkauft«, sagte William, »kommen diese
schrecklichen Leute und reißen das Haus ab und planieren die Felder. Das kann Meg doch nicht zulassen.« »Wer sagt denn, dass das nach ihrem Tod nicht sowieso passiert?«, fragte Jack. »Sie hat niemandem, dem sie Four Fields vererben könnte«, sagte Phoebe. »Sie hat mir heute erzählt, sie habe keine Familie.« »Sie kann es uns vererben«, rief Alice eifrig. Phoebe lächelte. »Daran hat sie auch schon gedacht«, sagte sie. »Meg sieht euch als ihre Familie.« »Na also«, freute sich Alice. Sie wurde ein bisschen rot und nahm sich noch einen Löffel Zitronencreme. »Dann ist ja alles erledigt.« »Und was wollt ihr mit Four Fields machen?«, fragte Phoebe. »Ihr könnt es doch nicht bewirtschaften.« »Ich vielleicht doch«, erwiderte Alice mit vollem Mund. Aber sie wusste, dass sie das langweilen würde, und weil sie ehrlich war, verzog sie das Gesicht und seufzte. »Stimmt nicht. Was ich wirklich möchte, ist, dass Meg es bewirtschaftet, und ich kann immer hingehen und sie besuchen, wenn ich will.« »Ich dachte, du wärst diejenige, die hier einen Vergnügungspark haben will, Alice«, sagte Jack. Aber Alice schüttelte schaudernd den Kopf und sah ängstlich zu William hinüber. »Nein. Das will ich nicht mehr«, erklärte sie. Dann starrte sie bedrückt auf ihren Teller und wollte nichts mehr sagen. Tatsächlich hatten sie nicht mehr über den Unfall mit dem Boot gesprochen, noch nicht einmal untereinander. Alice hatte zu viel Angst, um überhaupt daran zu denken. Mary fühlte sich zurückgewiesen und William… Williams Kopf war in Aufruhr. Er musste eine Erklärung finden. Jetzt saß er im Schneidersitz auf dem Boden des Geheimzimmers und malte mit dem Finger Männchen in den Staub. Er runzelte immer noch angestrengt die Stirn, während er über die Ereignisse des Nachmittags nachdachte. Alice und Spot saßen nebeneinander unter dem Spiegel. Spot versuchte Alice zu überreden Fangen zu spielen – ein wirklich langweiliges Spiel, aber er liebte es. Alice musste sich dabei auf ihn stürzen und er sprang schwanzwedelnd zurück, immer gerade außerhalb ihrer Reichweite. Sie konnte nur manchmal gewinnen, wenn sie ihn in eine Ecke gedrängt hatte, und das endete immer mit einer Rauferei. Aber obwohl Spot dann wild um sich biss, verletzte er sie nie.
Es war Williams Idee gewesen, ins Geheimzimmer zu gehen. Er hatte eine Menge Fragen an den Magier. Aber wie immer war Stephen Tyler nicht da, wenn man ihn brauchte. »Ich glaube«, sagte William laut, so dass die anderen erschreckt auffuhren, »ich glaube, was passiert ist, war so: Du bist aus dem Boot gefallen, Alice, und ich bin hinterhergesprungen, um dich zu retten.« »Nein, bist du nicht, William«, protestierte Mary entrüstet. »Du bist hineingefallen und dabei hast du sogar noch geschrien.« »Naja, das ist doch jetzt nicht wichtig, Mary…« »Du willst ja bloß den Helden spielen«, murmelte Mary vor sich hin. »Ich war aber schrecklich froh, als du gekommen bist«, gab Alice zu. »Und überhaupt erklärt das nicht, wie ihr beide durch diesen fürchterlichen Tunnel gekommen seid, und auch nicht die Sache mit dem Otter…«, sagte Mary. »Aber Mary«, beharrte William. »Du sagst, dass die ganze Sache in einem Augenblick vorbei war. Es gab gar nicht genug Zeit für alles, was Alice und ich glauben erlebt zu haben. Und«, betonte er und hinderte Mary daran, ihn zu unterbrechen, »Alice dachte, sie wäre in Lutra – oder wie immer der Otter auch hieß –, und ich dachte auch, ich steckte in seinem Körper… aber wir waren nicht zusammen in ihm… und du hast ihn zur selben Zeit das Boot ans Ufer ziehen sehen…« »Vielleicht gab es drei Otter«, überlegte Alice. »Das glaube ich nicht«, widersprach William. »Was glaubst du denn dann?«, fragte Mary. William starrte einen Augenblick lang auf den Fußboden. »Ich glaube, es geschieht alles nur in unseren Köpfen«, sagte er. »Wahnsinn!«, rief Mary boshaft. »Das erklärt wirklich alles, was?« »Na gut, dann erklär du es uns, Mary, wenn du so schlau bist«, gab ihr Bruder zurück. »Kann ich doch nicht! Mir ist es ja nicht passiert, oder?«, erwiderte Mary giftig. »Natürlich gibt es einen Weg, das herauszufinden…«, sagte William wieder tief in Gedanken. »Was herauszufinden?«, fragte Alice. »Ob wir uns die Blackwater Schleuse nur eingebildet haben oder
ob wir wirklich da waren…« »Wie?«, fragte Mary. »Nun ja, indem wir noch einmal hingehen«, antwortete William ruhig. »Alice und ich erkennen den Ort bestimmt wieder, oder nicht?« Alice legte den Arm um Spot und zog ihn an sich. »Wisst ihr, man hat uns gesagt, dass die Magie das ist, woran wir glauben. Du hast das gesagt, Spot, nicht wahr?«, fragte William. Aber der Hund gähnte nur und setzte eine überhebliche Miene auf, wie er es häufiger tat. »Ich glaube«, sagte Alice und sah ihn an, »du guckst immer so, wenn du die Antwort nicht weißt.« »Wir hätten von der Blackwater Schleuse gar nichts gewusst, wenn Mr. Tyler uns nicht kurz vorher davon erzählt hätte«, bestand William auf seinen Erklärungen. »Na und?«, sagte Mary. Aber sie ahnte, worauf er hinauswollte. »Er hat die Idee in unsere Köpfe gesetzt.« »Aber… als wir diesen Raum gefunden haben… da waren wir ihm doch noch gar nicht begegnet«, wandte Mary ein. »Aber dieser Raum ist nicht magisch. Er ist wirklich. Was manchmal hier passiert, ist magisch… Oder ist eigentlich alles wirklich? Was hat er mit dem Energiefeld gemeint? Was sollte das heißen…?« Sie schwiegen wieder. William vergrub sich in seine Gedanken und versuchte Sinn in das ganze Durcheinander zu bringen. Alice streichelte Spot, der sich neben sie legte, gähnte und so tat, als würde er einschlafen. Mary ging zum Fenster zurück und blickte hinaus in die allmählich einbrechende Dunkelheit. »Wir sollten runtergehen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Es wird bald dunkel.« Hinter ihr sah William plötzlich auf. »Was hast du gesagt?« »Es ist spät«, erklärte Mary. »Nein!«, rief William und auf seinem Gesicht verbreitete sich ein Ausdruck, als dämmerte ihm plötzlich etwas. »Natürlich!«, rief er. »Das ist es!« »Was, William?«, sagte Mary und ging zu ihm. »Was ist es?« »Was du über die Dunkelheit gesagt hast«, sagte er. »Es wird bald dunkel… Danke, Mary! Das ist es!«, rief er und sprang auf. »Wenn es dunkel wird, was machen wir dann?«
»Licht«, witzelte Alice. Aber William klatschte in die Hände und umarmte sie. »Richtig, Alice. Elektrizität. Das ist es!« Er war so aufgeregt, dass er auf und ab hüpfte. »Was ist was?«, wollte Mary wissen. »Das Energiefeld, über das Stephen Tyler gesprochen hat. Die Energie… es muss so was sein wie Elektrizität. Wie funktioniert Elektrizität?« Mary runzelte die Stirn. Alice gähnte. »Du schaltest sie ein«, sagte sie gleichgültig. »Was passiert dann?« »Licht geht an.« »Wie?« Alice seufzte. »Weiß ich nicht«, sagte sie mürrisch. »Es passiert halt einfach.« »Wie Magie…«, stimmte William ruhig zu. »Aber es ist keine Magie. Es ist Naturwissenschaft. Onkel Jack könnte es uns erklären. Es hat was mit einer positiv und einer negativ geladenen Kraft und einer neutralen, nicht geladenen Kraft zu tun.« »Das erklärt ja dann wohl alles, William!«, spottete Mary. »Wir kennen uns alle ja so gut mit Elektrizität aus!« »Nein, natürlich tun wir das nicht. Es ist wirklich schwierig. Es sind Elektronen und Protonen und das ganze Zeug…« »Was für Zeug?«, schimpfte Alice plötzlich schlecht gelaunt. »Du bist schon fast genauso schlimm wie der Magier. Er benutzt auch immer so lange Wörter… Was soll das? Man versteht doch dann gar nichts mehr.« »Und ein Magnet«, fuhr William unbeirrt fort. Er hatte kein Wort von dem gehört, was seine Schwester gesagt hatte. »Ein Magnet ist das Gleiche… Magisch und geheimnisvoll und doch wirklich. Erinnert ihr euch noch an das Stück Gold, das er uns gezeigt hat, an der Kette? Wie hat er es genannt? Sein Pendel… Es nahm…«, er suchte nach den richtigen Worten, »Wellen auf… Energie… Elektrizität. Ach, ich weiß nicht…«, seufzte er schließlich, schlang die Arme um seinen Kopf und gab sich im Kampf gegen seine eigenen Gedanken geschlagen. »Wenn er nur nicht immer wegginge, wenn wir ihn brauchen. Wenn er uns nur helfen würde… Warum ist alles so schwierig?« Er hörte sich so verzweifelt an, dass Mary zu ihm ging und ihn trösten wollte.
»Will«, sagte sie sanft. Und als er sich von ihr wegdrehte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Lass mich, Mary, ich bin schon in Ordnung«, sagte er mit brüchiger Stimme. Mary seufzte, steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und ging zum Fenster zurück. Da fühlte sie einen fremden Gegenstand. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was es war. Dann erinnerte sie sich. »William!«, rief sie. »Er hat uns nicht ganz im Stich gelassen. Das hier haben wir noch.« Und sie drehte sich zu den anderen beiden um und zog das Goldpendel aus ihrer Tasche.
10 Jasper greift ein William und Alice starrten auf das Stück Gold an der dünnen Kette, die Mary ihnen entgegenhielt. »Aber wozu ist das gut?«, fragte Alice. »Okay, es hat sich immer im Kreis gedreht. Ja und?« Dann seufzte sie. »Es ist sehr schwierig, die Jüngste zu sein, wisst ihr?«, sagte sie. »Ich hatte keine Zeit dazu, so viel zu lernen wie ihr beide.« »Ich weiß auch nicht, wozu es gut ist, Alice«, sagte William. Er streckte die Hand nach dem Stück Gold aus, aber dann zog er sie wieder zurück, als hätte er Angst davor, es zu berühren. »Vielleicht hättest du es nicht nehmen sollen, Mary.« »Aber es lag einfach da. Es muss Mr. Tyler hingefallen sein. Er wäre bestimmt wütend, wenn er es verloren hätte. Es ist offensichtlich wichtig für ihn.« Sie nahm die Kette zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer anderen Hand. Dann hob sie das Pendel langsam hoch und ließ es vor ihnen baumeln. »Warum überhaupt ein Pendel?«, sagte sie und starrte es nachdenklich an. »Pendel gehören doch eigentlich in Standuhren.« Sie schwang das Gold hin und her. »Ticktack, ticktack«, wisperte sie. »Ich bin sicher, dass wir es nicht anfassen dürfen«, sagte William und ging ein Stück weg. »Warum hast du Angst davor, Will?«, fragte Alice leise. »Ich habe keine Angst«, sagte William, aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. »Es ist nur… Naja, es gehört dem Magier. Es kommt aus einer anderen Zeit. Es ist das erste Mal, dass etwas hier geblieben ist und er selbst ist nicht da…« »Außer dem Spiegel natürlich«, sagte Mary und ging zu der Ecke des Raumes, wo der runde, gewölbte Spiegel an der Wand hing. Als sie sich ihm näherte, begann das Pendel, das immer noch vor ihr an der Kette baumelte, zu schwingen. »Es bewegt sich«, stellte sie verblüfft fest. »Nur, weil du dich auch bewegst, Mary«, sagte William und folgte ihr. Aber als Mary genau vor dem Spiegel stand, schoss das Stück
Gold nach vorne, als ob es gezogen würde. Das überraschte Mary so sehr, dass ihr die Kette fast aus der Hand gerutscht wäre. Sie musste beide Finger fest zusammendrücken, damit das Goldstück ihr nicht entglitt. »Es ist jetzt wirklich sehr stark«, murmelte sie. Während sie das Goldstück weiter beobachteten, fing es an, in der Luft zwischen Mary und dem Spiegel einen Kreis zu beschreiben, und drehte sich wie ein Propeller. »Machst du das?«, wisperte Alice. »Nein«, rief Mary. »Ehrlich, ich mache gar nichts.« Ihre Stimme klang zaghaft und sie schreckte vor dem Pendel zurück, als ob sie Angst hätte, es könne sie treffen. »Ich mag das nicht, William. Was passiert hier?« »Ich weiß nicht«, sagte William und hörte sich genauso beunruhigt an. »Spot«, rief Alice. »Hilf uns! Sag uns, was wir tun sollen.« Der Hund war aufgestanden und beobachtete das Pendel, den Kopf auf die Seite gelegt und den Schwanz zwischen den Hinterbeinen. »Morten!«, grollte er. »Wo?«, rief William. »Im Spiegel«, grollte der Hund wieder. Dann bellte er laut und sprang knurrend zum Spiegel hoch, als ob er ihn erreichen wollte. Seine Nackenhaare sträubten sich vor Wut und er sah gefährlich aus. Die unbekannte Kraft, die das Stück Gold angezogen hatte, verringerte sich sofort. Die Kreisbewegung wurde schwächer, bis das Pendel schließlich wieder ruhig von Marys ausgestreckter Hand herunterhing. »Woher weißt du, dass es Morten war?«, fragte William den Hund. Aber Spot überhörte seine Frage. Er schnupperte energisch über den Boden vor dem Spiegel, wedelte langsam mit dem Schwanz und hielt die Nase flach am Boden. Plötzlich sprang er hoch, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Er drehte sich mitten in der Luft um und blickte zum Fenster. Dann sprang er bellend vorwärts. »Morten! Morten! Morten!«, schien er zu sagen. »Wo?«, rief William und suchte verzweifelt die schattigen Ecken des Raumes ab. Alice und Mary blieben zurück und Alice nahm zur Sicherheit Marys Hand.
»Was ist los, Spot? Bitte sag es uns!«, bat William. Spot stand auf seinen Hinterbeinen am Fenster und versuchte über die hohe Brüstung nach draußen zu sehen. »Morten!«, heulte er lang gezogen und bellte aufgeregt. Dann war er ruhig – und in der Stille, die folgte, hörten alle irgendwo draußen eine Krähe krächzen. »Was war das?«, wisperte Alice, duckte sich hinter Mary und hielt sich die Augen zu – ein sicheres Zeichen, dass sie jetzt wirklich Angst hatte. »Ein Vogel!«, flüsterte Mary. »Eine Krähe!«, rief William und wischte eine Fliege von seinem Gesicht. Sie brummte laut, landete auf dem Kerzenleuchter am offenen Fenster und fuhr sich mit den beiden vordersten Beinen über den Kopf. »Steckt Morten in der Krähe, Spot?«, fragte Mary und trat aus der Zimmerecke heraus zu ihm und William. »Weiß nicht«, antwortete der Hund. Er stand immer noch auf den Hinterbeinen und stützte sich mit einer Vorderpfote an der schrägen Wand unter dem Fenster ab. Die andere hielt er elegant in die Luft, und während er sprach, schnupperte er hinter sich in den Raum hinein. Seine Nase zuckte und seine Nackenhaare stellten sich wieder auf. Er drehte sich um und ließ sich auf alle viere zurückfallen, dann schlich er lautlos durch das Zimmer, schnupperte in den Ecken herum und am Treppenabsatz den Kamin hinunter. »Er ist doch nicht immer noch hier, oder?«, wisperte Alice, die Hände immer noch vor den Augen. »Weiß nicht«, grollte Spot und kam in den Raum zurück. »Was ist los, Spot?« »Irgendwas Schlimmes«, brummte er. »Ist es wieder eine Spinne?«, fragte Mary und suchte in dem schwächer werdenden Licht nach einem Spinnennetz. Spot setzte sich mitten im Raum hin, gähnte und kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. »Der Geruch ist jetzt zu schwach«, sagte er zu ihnen, als ein Schwall Sommerluft von draußen ins Zimmer drang. William hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Jetzt ging er durch den Raum und hockte sich vor den Hund auf den Boden. »Spot…«, begann er mit seiner methodischen Stimme. Der Hund gähnte wieder, hörte aber auf sich zu kratzen und schüttelte energisch seinen Kopf.
»Du weißt, wenn manchmal Alice in dir ist… oder wenn der Magier in dir ist…«, fuhr William fort. Spot blickte ihn an und bewegte seinen Kopf langsam hin und her, als ob er andächtig zuhören würde. »Nun«, fuhr William fort, »was passiert wirklich? Ich meine – wie fühlt sich das für dich an?« »Frag nie einen Hund«, schrie da eine Stimme hinter ihnen und mit einem Flügelschlag segelte die Eule durch das Fenster und setzte sich auf den Kerzenhalter. Als ihre Krallen sich um das Metall schlossen, summte die Fliege hoch hinauf in die Spitze des Dachs, wo sie mit dem Kopf nach unten landete und die Szene unter sich weiter durch ihr einziges Auge beobachtete. Die Eule wurde dadurch abgelenkt und betrachtete das Insekt mit großem Interesse. Dann zog sie die Schultern hoch, flötete laut und starrte auf die Kinder herunter. »Ein Schüler oder eine Schülerin ist nur so gut wie der Lehrer«, fuhr Jasper fort. »Wenn ihr ernsthafte Fragen habt, verschwendet sie nicht an den Hund.« Alice legte den Arm um Spot und zog ihn an sich. Aber er schien sich gar nicht sehr über die Bemerkung der Eule aufzuregen. Er gähnte erneut und leckte Alice über die Hand. Dann glitt er auf den Boden, immer noch halb an sie gelehnt, und nagte an seinem Hinterbein, wo er ein ärgerliches Kitzeln verspürte. »Eulen haben Grips im Kopf«, grummelte er zufrieden. »Hört dem Kauz ruhig zu. Er wird reden und reden… und im Handumdrehen seid ihr eingeschlafen.« Dann legte er sich mit einem zufriedenen Seufzer selbst schlafen. »Was wollt ihr wissen?«, fragte Jasper, besah sich eine seiner Krallen genauer und pickte ein Stück Mäusefleisch heraus, das er kürzlich bei einem Mahl übersehen hatte. »Was ich wirklich wissen will«, begann William stirnrunzelnd, »ist… Wenn Morten niemals hierher in unsere Zeit kommt, wie bekommt er Tiere… und die Ratte sowieso… auf seine Seite, damit sie seine Arbeit tun?« Die Eule starrte ihn zwinkernd an. »Der Geist«, flötete sie nach einem kurzen Moment, »kann viel leichter bewegt werden als der Körper. Morten schickt seinen Geist. Weil er nicht halb so klug ist wie der Magier, hat er noch keinen Weg gefunden, seinen Körper zu schicken. Er überträgt seinen Geist…« William seufzte. Das war wieder so eine von diesen unmöglichen
Antworten. »Aber«, fügte die Eule hinzu, »was er nicht bemerkt, ist, dass er nahe, sehr nahe daran ist, auch seinen Körper zu übertragen. Alles, was er jetzt noch tun muss…«, fuhr Jasper mit gesenkter Stimme fort und sah über seine Schulter zum Fenster, »ist…« Er drehte seinen Kopf wieder um und blinzelte sie an. Dann stürzte er plötzlich von seinem Platz hinauf zu den Dachbalken. Die Fliege war völlig überrascht. Jasper schnappte mit seinem Schnabel nach ihr und verschluckte sie. »Was ist passiert?«, japste Alice. »Eine Fliege«, erwiderte Jasper ungerührt und kehrte zu seinem Platz zurück. »Wo war ich stehen geblieben?« »Was Morten tun muss, um seinen Körper in unsere Zeit zu bringen«, half William ihm weiter. »Ah ja!«, schrie die Eule. »Das hat ihn interessiert!« »Wen?« »Morten natürlich!« »Wo?«, rief William und verlor beinahe die Geduld. »Die Fliege«, erklärte Jasper gelangweilt. »Du meinst, Morten hat sich in der Fliege versteckt?« »Nein, William!«, schrie Jasper ärgerlich. »Nur sein Geist.« »So wie schon mal«, erinnerte sich Mary und schnappte nach Luft, »in der Spinne?« »Genau«, schrie die Eule. »Dummer Mensch! Man sollte nie denselben Trick zweimal benutzen.« »Also jetzt – hast du gerade Morten gefressen?«, wollte William wissen. Er versuchte mit aller Kraft zu begreifen, was vor sich ging. »Natürlich nicht«, flötete Jasper. »Aber…« »Ich habe nur seine Wahrnehmung unterbrochen. Ich erzähle euch dauernd…« »Also was ist jetzt mit Morten passiert?« »Nichts«, schrie die Eule. »Außer, dass er jetzt unser Gespräch nicht mehr belauschen kann. Er kann jetzt nicht mehr an unserer Zeit teilnehmen.« »Aber – als der Magier im Dachs war am Blackscar Steinbruch und Fang ihn angriff«, beharrte William, »da wurde sein Arm verletzt – und ist jetzt nach Monaten immer noch nicht verheilt.« »Weil es dem Meister gelungen ist, seinen Körper zu übertragen, nicht nur seinen Geist… seine Wahrnehmung… Der Meister bringt
sein ganzes Selbst… manchmal…« Die Eule sah sie mit ihren großen Augen nachdenklich an. »Zu anderen Zeiten ist natürlich nur sein Geist hier.« »Wie jetzt?«, fragte Mary flüsternd. Jasper blinzelte. »Ich verstehe das einfach nicht!«, stöhnte William. »Das ist mir alles zu schwierig.« »Das kommt daher, dass du dich mit den falschen Fragen beschäftigst… du versuchst die falschen Dinge zu verstehen, William«, sagte die Eule. »Aber ich gebe dir die Antworten, wenn es das ist, was du willst. Du musst zuhören. Versuche nicht, Erklärungen für die Dinge zu finden. Du musst einfach… zuhören.« Das Wort knisterte in der Luft, danach folgte ein langes Schweigen. Jasper starrte William so durchdringend an, dass es aussah, als wolle er direkt in seinen Kopf hineinsehen. »Nun«, wisperte er schließlich, »hör mir einfach zu, William. In Ordnung?« William nickte und schluckte nervös. Er war sich nicht sicher, was von ihm verlangt wurde. Er hörte doch die ganze Zeit schon zu. Er hatte die Eule kein einziges Mal unterbrochen. Er redete auch nicht nur alleine. Was sollte er noch tun?… Da merkte er, dass die Eule schon weitersprach und dass er bis jetzt kein Wort von dem gehört hatte, was sie gesagt hatte. Also versuchte er, nicht mehr zu denken, sondern zuzuhören. »… Assistent des Magiers hat entdeckt, dass er in bestimmten Wesen seinen Geist durch die Zeit reisen lassen kann«, erklärte Jasper gerade langsam. »Er kommt nicht selbst… aber sein Bewusstsein, seine Gedanken können reisen… Wie der Geist in Träumen reist. Oder in der Fantasie. Wenn ihr euch vorstellt an einem anderen Ort zu sein, dann seid ihr fast wirklich da, oder nicht? Ihr riecht und fühlt den neuen Ort und eine Zeit lang nehmt ihr nicht mehr wahr, wo ihr eigentlich seid… Versteht ihr?« Die Eule verlagerte ihre Krallen auf dem Kerzenhalter und drehte nachdenklich ihren Kopf. »Die Fliege existierte in eurer Zeit«, fuhr sie fort, »und dann auch in Mortens.« »Dieselbe Fliege?«, wollte William wissen. »Natürlich nicht – und doch, vielleicht…Ja, warum nicht? Es gibt furchtbar viele Fliegen – arme Dinger!« Jasper schüttelte sich. »Natürlich nicht nur Fliegen. Die Eule ist auch in beiden Zeiten bekannt… und der Fuchs… der Dachs… die Amsel… Otter… Fi-
sche… Die meisten von uns existieren in beiden Zeiten.« Er starrte sie kalt an. »Obwohl«, fügte er hinzu, »in eurer Zeit werden manche von uns selten, um nicht zu sagen einsam«. Er schüttelte sich wieder und schrie: »Ja, ich muss sagen, dass es meine Familie nicht mehr in der Fülle gibt wie früher. Und das macht einen Unterschied. Zum Beispiel würde der Magier jetzt nicht in einem Wolf hierher reisen, denn traurigerweise gibt es keinen Wolf mehr in diesem Wald, oder in einem Bären, denn hier leben keine Bären…« Alice gähnte und kuschelte sich näher an Spot. Jaspers flötende Stimme hatte sie müde gemacht. Sie legte ihren Kopf auf den gleichmäßig atmenden Körper des Hundes und schloss die Augen. »Aber«, sagte Mary, »Menschen gibt es in der Zeit des Magiers – und in unserer Zeit auch. Warum kommt er nicht in einem von uns?« »Tut er das nicht?«, wisperte die Eule. Mary runzelte die Stirn. »Manchmal… denke ich irgendwie seine Stimme«, gab sie zu. »Oder hörst du seine Gedanken…?« »Nun ja, ich glaube, das ist es«, sagte Mary achselzuckend. Sie war nicht ganz sicher, worin der Unterschied bestand. »Liebe Mary«, sagte Jasper freundlich. »Du hast die natürliche Gabe, dich nicht an Problemen festzubeißen…« »Also…«, unterbrach William, der das Thema nicht wechseln wollte, bevor er nicht zumindest versucht hatte die Sache zu verstehen, »du sagst doch, dass alles im Geist geschieht?« »Alles geschieht im Geist, ja. Alles, was du siehst, alles, was du hörst, alles, was du berührst, riechst, schmeckst… Alles wird durch den Geist gedeutet. Aber es ist noch mehr als das, William. Dein Geist und Marys Geist sind jetzt verbunden, weil ihr beide an diesem Gespräch teilnehmt…« »Aber Mary könnte was ganz anderes denken als ich«, stellte William fest. »Wir können dieselben Worte hören, aber trotzdem was ganz anderes darüber denken.« »Genau«, schrie die Eule aufgeregt. »Deshalb ist der wesentliche Schritt auf dieser Reise der Stillstand des Geistes. Genauso wie zuerst das Quecksilber ganz still sein muss, bevor man Gold herstellen kann, so muss in der wahren Alchimie der Geist still sein, bevor die Erkenntnis beginnen kann.« Der Vogel hob einen Fuß und hinderte William daran, ihn zu unterbrechen. »Hör mir zu, Junge!«, schrie er streng. »Wenn du und Mary jetzt frei von euren eigenen Gedanken
wärt… Wenn ihr beide in der Lage wärt, ausschließlich mir zuzuhören, ohne irgendeine Störung eures Geistes… Was würde dann geschehen?« Die Kinder schwiegen. Sie wussten nicht, welche Antwort von ihnen erwartet wurde. »Wärt ihr dann nicht verbunden…? Vereinigt…? Zusammengefügt…?« »Es wäre genauso wie in Spot«, sagte Alice schläfrig. »Das ist alles, was wirklich passiert. Ich sehe durch seine Augen, höre durch seine Ohren und so was alles…« »Ja«, stimmte die Eule zu, »und gleichzeitig sehen und hören wir durch jeden von euch. Der Geist, William. Der Geist. Wenn er stillsteht und ruhig ist und leer von allen Gedanken… dann kann er frei dahin gehen, wohin er will.« »Aber«, rief William, »wie können wir erreichen, dass unser Geist stillsteht?« »Indem ihr Dinge sein lasst«, sagte Jasper, »indem ihr aufhört Fragen zu stellen, indem ihr nicht versucht zu denken… indem ihr den Gedanken erlaubt zu kommen und zu gehen ohne euch sofort auf sie zu stürzen und sie zu Tode zu erschrecken…« »Ach, William!«, rief Mary. »Ich weiß nicht, wie dir das jemals gelingen soll.« »Ich brauche jetzt eine Maus, ich sterbe vor Hunger«, erklärte Jasper plötzlich mit veränderter Stimme, als er hinaus in die dunkler werdende Nacht blickte. »Will jemand mit auf die Jagd gehen?« »Nein danke«, antwortete Mary schnell. Sie hatte schon einmal mit Jasper gejagt. Die Erinnerung daran verfolgte sie immer noch. Jasper starrte sie blinzelnd an. »Ihr Sterblichen seid komische Wesen. Ihr esst allen möglichen Unfug und regt euch über eine niedliche, kleine Maus auf. Ich bin weg. Nach dieser ganzen Rederei kann ich ein Häppchen vertragen!«
11 Die öffentliche Versammlung Am folgenden Abend wurde eine Versammlung abgehalten, um den Bebauungsplan für das Gebiet am Golden Water zu diskutieren. Der Saal, in dem sie stattfand, war schon überfüllt, als die Gruppe aus Golden House eintraf. Sie kannten kaum einen der Anwesenden, aber Mary entdeckte Dan in einer der vorderen Reihen. Mr. Jenkins, der Farmer von der Straße am Moor, war mit seiner Frau da und winkte ihnen zu. Und Miss Prewett, die Leiterin des Stadtgeschichtlichen Museums, quetschte sich tatsächlich aus ihrer Sitzreihe und stellte sich zu ihnen hinten in den Saal. »Ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind, Mr. Brown«, flüsterte sie Jack zu. »Dies hier betrifft Sie genauso wie jeden anderen. Es ist ein Verbrechen, finden Sie nicht auch? Haben Sie die Pläne gesehen?« Sie reichte Jack eine Mappe mit Papieren. »Sehen Sie sich nur allein die Kosten an, die für die Vorbereitungen hier entstanden sind. Sie meinen es wirklich ernst, fürchte ich, Mr. Brown… Brown ist doch richtig, oder?« »Green«, verbesserte Jack sie in der kleinen Atempause, die sie zwischen zwei Sätzen ließ. »Green! Natürlich! Wie dumm von mir. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: Wenn sie schon so viel Geld allein dafür lockermachen, das Projekt hier vorzustellen – dann werden sie sich nicht so leicht geschlagen geben.« Miss Prewett hätte noch den ganzen Abend so weitergeredet, wenn nicht drei Leute auf die kleine Bühne am einen Ende des Saales gestiegen wären und eine Frau versucht hätte Ruhe in das allgemeine Gemurmel zu bringen. Jack machte Miss Prewett darauf aufmerksam und sie flüsterte: »Das ist Mrs. Sutcliffe, unser örtliches Parlamentsmitglied. Aber ich traue ihr nicht über den Weg. Sie interessiert sich keinen Deut für Geschichte. Traue niemandem, der Geschichte nicht mag, sag ich immer!« Mrs. Sutcliffe war eine kleine, dicke Frau mit sehr schwarzen Haaren und leuchtend roten Lippen. Sie trug ein viel zu enges blaues Sommerkleid und eine Handtasche über einem Arm. Sie eröffnete
die Versammlung und stellte die anderen beiden Personen auf dem Podium vor, »die heute Abend hierher gekommen sind, um uns alles über die aufregenden Pläne zu erzählen, die sie für unsere schöne Gegend haben. Zu meiner Linken sitzt Mr. Martin Marsh, den viele von Ihnen sicher kennen. Mr. Marsh ist ein hier am Ort hoch geachteter Rechtsanwalt, der fast sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hat. Und zu meiner Rechten, das ist Mr. Charles Crawden, der Sohn von Sir Henry Crawden, der hier – ich brauche es Ihnen wohl nicht zu sagen – große Waldgebiete besitzt. Die Crawdens gehören zu den alteingesessenen Familien und sind selbst ein Teil unserer Geschichte. Ich glaube, ich kann wohl mit Recht behaupten, dass die Familie Crawden schon seit der Zeit hier lebt, als Elizabeth I. den Thron bestieg. Das heißt also, es sind schon ein paar Jährchen!« Miss Prewett stieß Jack in die Seite und zog die Augenbrauen hoch, als wenn sie sagen wollte: ›Sehen Sie, was ich meine?‹ Jetzt stand Martin Marsh auf, um eine Ansprache zu halten. Er holte ein paar Notizzettel aus seiner Aktentasche, auf denen seine Rede stand. Martin Marsh war ein dünner Mann mit dünnem Haar und noch dünneren Lippen und einer leidenden Miene. Meg hatte gesagt, er sähe aus wie eine lebendige Leiche – was Alice zum Kichern brachte. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug und seine alte Schulkrawatte. Man konnte sein Alter nur schwer schätzen, denn er gehörte zu den Menschen, die immer schon ältlich ausgesehen hatten. Zuerst dankte er Mrs. Sutcliffe dafür, »dass sie ihre kostbare Zeit geopfert hat, um heute hier zu sein«. Dann erklärte er, Playco sei ein neues Unternehmen und sie alle seien sehr glücklich darüber, dass sein Direktor Charles Crawden aus ihrer Region komme, weil sonst »die Möglichkeiten des Standortes Golden Water gänzlich übersehen worden wären«. Der andere Mann auf der Bühne lächelte bei dieser Feststellung strahlend und nickte heftig mit dem Kopf. Charles Crawden hatte ein glänzendes Gesicht, das von einer Menge kleiner, brauner Locken darüber gerahmt wurde. Mary dachte, er sähe wie ein zu groß geratenes Baby aus, dessen gedrungener Körper in eine braune Tweedjacke und zu lange Knickerbocker gesteckt worden war. Er hatte seine Ellbogen vor sich auf den Tisch gestützt und sein Doppelkinn auf seine Wurstfinger gelagert. Dabei schien er gespannt auf das zu hören, was gesagt wurde. »Es liegt klar auf der Hand«, fuhr Martin Marsh fort und blickte
beim Reden auf seine Notizen, »dass wir alle hier jegliche Erschließung dieser Region begrüßen. Nicht nur, weil sie dringend benötigte Arbeitsmöglichkeiten bietet, sondern auch, weil sie eine früher blühende Gemeinde vor Stagnation und letztendlich vor dem Tod bewahrt.« Für diesen Satz erhielt er vom Publikum viel Beifall, was ihn zu beflügeln schien. »Damit Unternehmen in der gegenwärtigen Wirtschaftslage überleben können, müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einem Strang ziehen. Wir hier in diesem Raum sind beides: Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und dies hier«, er breitete die Arme aus, »unsere herrliche Landschaft, ist das Familienunternehmen. Aber das schöne Bild trügt. Der Landwirtschaft geht es schlecht, die Forstverwaltung muss ihre Ausgaben einschränken, die Industrie siedelt sich hier nicht an, die örtlichen Bergwerke gehören der Vergangenheit an und die kleineren Geschäfte in der Stadt machen eins nach dem anderen aus Mangel an Kundschaft dicht. Das ganze Land ist in der Rezession, aber schlimmer noch: Wir fühlen uns hier in der vergessenen Ecke Englands. Aber sei’s drum. Wenn die Regierung uns nicht helfen will, dann müssen wir uns selbst helfen.« Diese Erklärung wurde mit noch mehr Beifall bedacht. Phoebe drehte sich zu Jack um und schüttelte den Kopf. »Wie soll die Zerstörung von Golden Water dabei helfen?«, wisperte sie. »Dummer Kerl!«, sagte Jack laut und ein paar Zuhörer drehten sich nach ihm um. »Es muss uns allen klar sein«, leierte Martin Marshs Stimme weiter, nachdem er aus dem Glas vor sich einen Schluck Wasser getrunken hatte, »dass unser wirklicher Reichtum in unserer Landschaft und unserer Geschichte liegt. Aber sie müssen sich auszahlen. Wir können nicht in unserer Vergangenheit leben. Unsere Vergangenheit muss unsere Zukunft sein. Allein aus diesem Grund befürworte ich Playco und ihre Pläne von ganzem Herzen und sichere ihnen meine Unterstützung zu. Meine Gründe sind einleuchtend, nicht nur kurzfristig, sondern auch auf lange Sicht. Wir sprechen hier heute Abend über die Zukunft, die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkelkinder.« Er machte eine dramatische Pause für vereinzelten Beifall. »Playco-Gold – das ist der vorgeschlagene Name für das GoldenWater-Projekt – wird uns nicht nur einen Platz auf der Karte Englands, sondern auch auf denen Europas und der ganzen zivilisierten Welt sichern. Wir leben im Zeitalter des Tourismus. Ich kann in
nicht allzu ferner Zukunft schon Amerikaner und Japaner mit gezückten Scheckkarten auf unserem Marktplatz stehen sehen! Endlich werden dank Playco die, denen das Geld locker sitzt, auch zu uns kommen. Wir müssen sie nur pflücken wie reife Äpfel – und die Ernte wird ertragreich sein!« Martin Marsh ging zu seinem Platz zurück und Mrs. Sutcliffe stand wieder auf. Sie dankte ihm für die bewegende Eröffnung der Diskussion. Dann wandte sie sich an das Publikum. »Der Grund, aus dem wir heute Abend hier sind, ist unsere natürliche Sorge um unsere Gemeinde. Manche von Ihnen mögen unter Umständen gegen die Vorschläge von Playco sein. Aber vielleicht könnte Mr. Crawden sich dazu bereit erklären, ein paar Fragen zu beantworten? Mr. Crawden?« »Aber mit dem größten Vergnügen«, antwortete Mr. Crawden. Seine Stimme war seidenweich und er lächelte das Publikum strahlend an ohne von seinem Stuhl aufzustehen. »Ich bin natürlich kein Experte auf allen Gebieten…« Eine peinliche Stille folgte, während er sich im Saal umblickte und darauf wartete, dass jemand etwas sagte. »Nur nicht so schüchtern. Ich bin sicher, dass Sie Fragen haben.« In der Mitte des Saales stand eine Frau auf. »Können Sie uns sagen«, fragte sie nervös, »ob es auf dem Gelände ein Hotel geben wird?« »Das steht alles hier in der Broschüre«, antwortete Charles Crawden und hielt eine der Mappen hoch, die Miss Prewett Jack gegeben hatte. »Die Einzelheiten sind ziemlich kompliziert. Aber, ja, es wird ein großes Hotel oben am Golden Water geben und auch Ferienhäuser. In der Planung ist jetzt sogar ein Safari-Hotel vorgesehen, damit die Gäste dem nächtlichen Treiben am großen Dachsbau dort oben zuschauen können.« Meg warf William einen Blick zu und flüsterte: »Sie haben nicht viel Zeit verloren, nicht wahr, Herzchen? Sie haben gar nichts von den Dachsen gewusst, bevor ich ihnen davon erzählt habe.« »Aber in dem Fall«, fuhr die Fragestellerin mit festerer Stimme fort, »ist es doch auch möglich, dass die Pläne unseren örtlichen Geschäften gar nicht helfen, sondern ihnen im Gegenteil die Kunden wegnehmen.« »Haben Sie selbst ein Geschäft?«, fragte Charles Crawden mit eingefrorenem Lächeln auf seinem Gesicht. »Ja«, antwortete die Frau. »Ich habe eine Pension mit Fremden-
zimmern.« »Dann wird Ihnen doch sicher ein wenig Konkurrenz nicht schaden?«, erklärte Charles Crawden mit schärferer Stimme. »Wenn Sie eine gute Pension haben«, er sagte es so, als wäre es ihm irgendwie zuwider, »dann haben Sie zweifellos auch Stammgäste. Playco-Gold kann doch zur zusätzlichen Unterhaltung Ihrer Gäste beitragen und den Freizeitwert ihres Urlaubs erhöhen. Zumindest haben sie die Gelegenheit, noch irgendwo anders hinzugehen. Das wird einen Urlaub hier in der Gegend noch attraktiver machen.« »Meine Gäste gehören nicht zu den Leuten, die auf den Rummelplatz gehen. Sie sind hauptsächlich Wanderer. Sie kommen hierher, um die Stille des Waldes zu genießen…« »Ja, das ist wohl noch ein Punkt, den ich ansprechen sollte«, unterbrach Charles Crawden sie. »Mein Vater als der Besitzer des Gebietes um Golden Water ist in der Vergangenheit ausgesprochen geduldig mit Spaziergängern gewesen. Aber das Land ist Privatbesitz und als solcher nur dank des Wohlwollens meiner Familie für Fremde zugänglich.« »Das ist völliger Blödsinn«, sagte ein älterer Mann, stand von seinem Stuhl auf und nannte seinen Namen, als wäre er an öffentliche Versammlungen dieser Art gewöhnt. »Colonel Dearing vom Wanderverein. Der gesamte Wald ist mit einem Netz von Reit- und Wanderwegen durchzogen. Die Öffentlichkeit hat jedes Recht der Welt, dort zu sein.« Charles Crawden zuckte mit einem strahlenden Lächeln die Schultern. »Offenbar habe ich nicht alle Fakten zur Hand, Colonel. Aber ich denke, Sie werden feststellen, dass der See selbst nicht benutzt werden darf. Meine Familie hat dort in der Vergangenheit geangelt und mein Sohn hat die feste Absicht, es auch diesen Sommer wieder zu tun…« »Das ist aber seltsam, finden Sie nicht?«, sagte Colonel Dearing sarkastisch. »Die Familie Crawden hat sich seit vierzig Jahren hier nicht sehen lassen und plötzlich möchte Ihr Sohn dort angeln gehen?« »Soweit ich sehen kann, gibt es bis jetzt noch kein Gesetz, Colonel«, antwortete Charles Crawden kühl, aber immer noch lächelnd, »das vorschreibt, wann ein Mann seinen Besitz nutzen soll und wann nicht. Aber vielleicht sympathisieren Sie ja auch mit der Besetzerszene? «
»Natürlich tue ich das nicht. Aber wenn Sie nicht wollen, dass die Leute da oben angeln, dann müssen Sie Schilder aufstellen.« »Und wie will Ihr Sohn zu seinem Angelsee kommen?«, fragte Phoebes und Jacks Nachbar Mr. Jenkins plötzlich dazwischen und stand auf. »Und Sie heißen…?«, fragte Crawden. Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen und sein Lächeln erstarrte zu einer Grimasse. »Jenkins, Farmer. Von der Straße am Moor. Ihre Leute haben sich schon mit mir in Verbindung gesetzt. Ich besitze einen Teil des Landes, hinter dem Sie her sind.« »Ah ja. Jetzt erinnere ich mich. Nun, Mr. Jenkins, wie Ihr Vorredner so geschickt gezeigt hat, gibt es öffentliche Wegerechte…« »Ja, für Fußwege. Aber nicht für Straßen. Was ist mit Ihren zukünftigen Kunden? Erwarten Sie von denen vielleicht, dass sie von der Straße am Moor zu Fuß zu diesem Ferienlager gehen, das Sie bauen wollen?«, sagte Mr. Jenkins. »Auf keiner Karte werden Sie eine Straße durch mein Land entdecken. Der einzige Weg auf meiner Seite des Sees geht nach Four Fields. Da hab ich doch Recht, nicht wahr, Miss Lewis?« »Ja«, antwortete Meg schüchtern. »Als mein Großvater den Besitz an die Familie Crawden verkauft hat, war es alles privates Land. Er behielt Four Fields und hat damals den Karrenweg durch den Wald angelegt.« »Es gibt, glaube ich, einen Zugang für Fahrzeuge in das Waldgebiet hinter Ihrem Kleinbesitz, nicht wahr, Miss Lewis?«, sagte Martin Marsh und zeigte auf eine Karte, die er aus seiner Aktentasche geholt hatte. »Ja, es gibt einen Weg. Aber er geht nicht bis nach Golden Water.« »All diese Probleme müssen noch nachgeprüft und beseitigt werden«, lenkte Martin Marsh ein und faltete die Karte wieder zusammen. »Gibt es noch weitere Fragen?«, wollte Mrs. Sutcliffe wissen, als ob sie ängstlich darauf bedacht wäre, das Thema zu wechseln. »Ja, ich habe eine«, sagte Miss Prewett und alle Augen blickten zu der Gruppe aus Golden House. »Ja, Miss Prewett?«, sagte Mrs. Sutcliffe. Dann drehte sie sich zu Charles Crawden um und wisperte vernehmlich: »Das ist die örtliche Historikerin, von der ich dir erzählt habe, Charles.«
»Ahja!«, sagte Crawden und lächelte strahlend in die Richtung von Miss Prewett. »Dann schießen Sie mal los!« »Haben Sie einen Beweis dafür, dass Ihre Familie das Land wirklich besitzt?«, fragte Miss Prewett mit klarer Stimme. Bei ihrer Frage ging ein Raunen durch die versammelten Zuhörer. Charles Crawden war offenbar so verblüfft über die Frage, dass er sich an Mrs. Sutcliffe vorbei zu seinem Rechtsanwalt beugte. Martin Marsh blätterte unterdessen im Inhalt seiner Aktentasche. »Was für eine außergewöhnliche Frage«, murmelte er. »Ich habe die Urkunde im Augenblick nicht greifbar, aber natürlich gehört das Land der Familie Crawden.« »Warum fragen Sie, Miss Prewett?«, wollte Charles Crawden wissen. »Beiläufiges Interesse, Mr. Crawden«, antwortete sie. »Ich bin Historikerin, müssen Sie wissen. Diese Dinge üben eine beständige Faszination aus. Ich stelle bei meiner Arbeit immer wieder fest, dass Vermutungen aufgestellt werden und dass diese Vermutungen dann Jahre später als Fakten ausgegeben werden.« »Nun, ich versichere Ihnen, dass die Fakten in diesem Fall auch Fakten sind. Golden Water liegt auf Crawden-Land. Wem sonst könnte es denn überhaupt gehören?« Mr. Crawden stellte eine rhetorische Frage und drehte sich um, weil er keine Antwort erwartete. »Nun«, erwiderte Miss Prewett mit lauter Stimme, »wenn das Land Ihrer Familie nicht mit Golden House zusammen verkauft wurde, dann gehört es immer noch zum Golden-House-Besitz – wie es schon dazugehörte, als es aus dem Besitz der Krone im letzten Jahr der Regierung Edwards VI. erworben wurde. Das Land war ursprünglich Eigentum der Abtei Llangarren – die 1539 aufgelöst wurde…« »Danke, Miss Prewett«, warf Mrs. Sutcliffe dazwischen. »Aber wir sind hier nicht für eine Ihrer endlosen Vorlesungen über Geschichte…« Ihre Bemerkung stieß auf gutmütiges Gelächter im Saal, aber sie konnte Miss Prewett nicht aufhalten, die jetzt bei ihrem Lieblingsthema angelangt war und Unterbrechungen gar nicht wahrzunehmen schien. »Die Einzelheiten dieser Übergabe«, fuhr sie fort, »finden sich in der Museumsbibliothek. Das Stille Haus, wie es genannt wurde, war schon baufällig, bevor Stephen Tyler es im Jahr 1552 käuflich er-
warb…« Stephen Tylers Namen zu hören war ein Schock für die drei Kinder. Aber er hatte auch eine sehr erstaunliche Wirkung auf Charles Crawden. Er drehte sich ruckartig um, stand von seinem Stuhl auf und starrte Miss Prewett an. Seine Gesichtsfarbe hatte sich von Babyrosa in ein tiefes Rot verwandelt und er lächelte nicht mehr. »Stephen Tyler?«, brüllte er. »Was hat die Legende von einem Magier mit unseren Diskussionen hier zu tun? Verschwenden Sie meine Zeit bitte nicht mit Ablenkungsmanövern! Golden Water gehört der Familie Crawden und wir beabsichtigen das Gebiet zu erschließen. Und jetzt ist Schluss mit der Debatte!« Einen Moment lang herrschte sprachlose Stille, dann redeten alle durcheinander. Martin Marsh schloss die Augen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Mrs. Sutcliffe versuchte wieder Ruhe herzustellen und Crawden setzte sich hin. Er sah erhitzt und verwirrt aus und war sich offensichtlich bewusst, was für ein Fehler sein Ausbruch gewesen war. Mrs. Sutcliffe schien die Zuhörer nicht mehr kontrollieren zu können. Nach einem hastigen Gespräch mit ihren Kollegen auf dem Podium und einem schwachen Versuch, den Saal zur Ordnung zu rufen, erklärte sie die Versammlung für beendet. Die drei Redner verließen die Bühne und eilten durch eine Hintertür nach draußen. Als Jack Miss Prewett nach Hause fuhr, wollte er wissen, warum sie die Frage nach dem Besitz gestellt hatte. »Nur so ein Gefühl, Mr. Brown«, antwortete sie. »Wie schade, dass Ihr Großvater nicht mehr bei uns ist, Miss Lewis… Sehen Sie, ich erinnere mich an Ihren Namen«, sagte sie und umarmte Meg fast vor Begeisterung, »weil Sie ein Teil unserer Geschichte sind. Wenn wir nur die Zeit zurückdrehen könnten.« Die Kinder warfen sich gegenseitig Blicke zu, sagten aber nichts. »Ich habe das Gefühl, dass das Haus das Einzige war, was die Crawdens von Ihrer Familie gekauft haben«, fuhr Miss Prewett fort ohne Atem zu holen. »Es steht alles in diesem Buch, das Ihr Großvater geschrieben hat. Ich muss es noch einmal nachschlagen. Ich bin sicher, da steht etwas über den Besitz. Aber Sie, Mr.… oh, wie heißen Sie noch mal?« »Warum sagen Sie nicht einfach Jack?«, fragte er lachend. »Weil es wahrscheinlich nur dazu führt, dass ich Sie dann Tom nenne! Darum!«, erwiderte Miss Prewett. »Wir sind da!«, rief sie, als Jack fast an ihrem Gartenzaun vorbeigefahren wäre. Sie kletterte aus dem Landrover, bedankte sich fürs Nachhausebringen und rief dann:
»Sie sollten Ihre Übertragungsurkunde auch überprüfen, Mr.…« »Green!«, riefen die Kinder einstimmig. »Ja, genau!«, sagte Miss Prewett. »Das ist exakt das, was ich sagen wollte. Und jetzt Gute Nacht! Ich lese noch einmal in dem Buch nach, sobald ich Zeit habe. Ich habe da so eine Ahnung…« Und immer noch redend verschwand sie auf dem dunklen Weg hinauf zu ihrer Eingangstür.
12 Im Baumhaus Die Übertragungsurkunde des Hauses verriet nichts, was sie nicht schon wussten. Das Original war bei den Hypothekenunterlagen in der Bank, aber Jack hatte eine Fotokopie. Damit konnte er feststellen, dass Golden House zusammen mit viertausend Quadratmetern Land, hauptsächlich im Osten, Westen und Süden des Besitzes, auf seinen Namen überschrieben waren. Ein See wurde überhaupt nicht erwähnt, auch nicht das Land darum herum. »Wohlgemerkt«, erklärte Jack, »diese Urkunde geht nur auf das Jahr 1900 zurück, als die Crawdens den Besitz von der Familie Lewis erwarben. Ich habe meinen Rechtsanwalt danach gefragt, als wir das Haus gekauft haben. Es ist alles zwar rechtsgültig, aber nicht sehr befriedigend. In einem Begleitbrief wird erklärt, dass eine neue Urkunde aufgesetzt werden musste, weil die alte beim Brand des Hauses zerstört wurde… Ich glaube, das stand drin. Ich habe keine Kopie hier, sie liegt bei meinem Rechtsanwalt.« »Aber in dem Fall«, stellte Phoebe fest, »könnte das Land tatsächlich immer noch Meg gehören. Weißt du, was ich meine, Jack? Wenn ihr Großvater den Crawdens das ganze Land verkauft hätte, würde das doch mit Sicherheit in der Urkunde stehen.« »Ja, das sollte man meinen. Aber die Crawdens müssen irgendeinen Beweis für ihre Besitzansprüche haben. Sie wären nie so weit gegangen, ohne sich in dem Fall ganz sicher zu sein.« »Ich glaube, Miss Prewett klammert sich bloß an einen Strohhalm«, sagte Phoebe bedrückt. »Warten wir mal ab, was sie in diesem Buch herausfindet«, sagte Jack. »Wenn ich nächstes Mal in der Stadt bin, gehe ich beim Museum vorbei.« Sie wünschten sich alle nicht zum ersten Mal, dass es in Golden House ein Telefon gäbe. »Sie wollen ja eine Leitung zu uns legen – aber, wie ihr alle wisst, sind wir hier ›in der vergessenen Ecke Englands‹!«, zitierte Jack grinsend aus Mr. Marshs Rede. Schließlich rückte das Theater um den Bauantrag dann aber erst einmal in den Hintergrund, weil dringendere Dinge erledigt werden mussten.
Dan und Arthur hatten an einem Nebengebäude im Hof gearbeitet, als das Dach einstürzte und sie fast unter den Trümmern begrub. Niemand traf eine Schuld, aber Arthur machte viel Lärm um Entschädigungen und Gefahrenzulagen und Jack verlor die Nerven. Arthur war beleidigt und drohte, ihn auf der Arbeit sitzen zu lassen, so dass Jack gezwungen war sich bei ihm zu entschuldigen. Er erklärte, dass Stephanie einen bösen Husten habe und dass er die ganze Nacht aufgewesen sei und… »Es war wirklich nicht mein Fehler, dass das Dach eingestürzt ist, Arthur.« »Ich sage auch gar nicht, dass es Ihr Fehler war, Mr. Green. Ich weise ja nur darauf hin, dass ich aus Fleisch und Blut bin und Sie verdammtes Glück haben, dass mein Fleisch und Blut jetzt nicht auf Ihrem ganzen Hof verteilt ist. Genau das sage ich.« »Und ich entschuldige mich«, sagte Jack. »Das mag wohl sein«, grummelte Arthur. »Aber ich kann mir für Ihre Entschuldigung nichts kaufen, oder? Wozu ist eine Entschuldigung dann gut?« »Aber – Ihnen ist doch gar nichts passiert, Arthur…«, rief Jack und verlor fast schon wieder die Geduld. »Hätte aber, Mr. Green, und das ist der Punkt. Denken Sie mal daran, was hätte passieren können.« »Ach, komm schon, Arthur«, sagte Dan ruhig. »Es war unser Fehler. Mr. Green könnte genauso gut von uns eine Entschädigung verlangen, weil wir sein Nebengebäude fast abgerissen haben.« »Auf welcher Seite stehst du, Bursche?«, stöhnte Arthur. Und dann ließ er mit viel Geschimpfe das Thema nach und nach fallen. Nach ein paar Tagen entschied Phoebe mit Stephanie zum Arzt zu gehen. Sie und Jack hatten nächtelang kaum ein Auge zugetan, weil sie sich um das Baby kümmern mussten. Beide waren hundemüde und sie gingen nur schlecht gelaunt miteinander und mit den Kinder um. »Ich gehe beim Museum vorbei«, sagte Phoebe morgens beim Frühstück, »und frage Miss Prewett, was sie herausgefunden hat.« Sie fragte die Kinder, ob sie mit in die Stadt fahren wollten, aber sie entschieden, dass es viel zu heiß wäre und sie lieber zum See gehen wollten. »Glaubt ihr, es ist immer noch in Ordnung, zum Golden Water zu gehen?«, fragte Mary. »Klar«, sagte Jack. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist,
dass man euch auffordert zu gehen. Aber wie dieser Mann vom Wanderverein gesagt hat, gibt es da oben jede Menge Wegerechte.« Also packten die Kinder ein einfaches Picknick zusammen – es war viel zu heiß, um mehr als ein paar Früchte und eine Packung Kekse zu schleppen – und machten sich bald nach dem Frühstück auf den Weg. Spot begleitete sie und protestierte mit viel Hechelei gegen das Wetter. Sie stiegen langsam den steilen Pfad durch den Wald hinauf, der am Dachsbau und an der Eibe vorbei auf die Höhen über Golden Valley führte. Sobald sie aus dem Schatten der Bäume traten, brannte die Sonne heiß auf sie herab. Hoch oben am wolkenlosen Himmel drehte ein schwarzer Vogel seine Kreise. »Kann das vielleicht der Magier sein?«, rief Alice den anderen hoffnungsvoll zu. »So ähnlich wie damals, als er im Turmfalken steckte? Was meinst du, Mary?« Mary legte die Hand über die Augen und sah hinauf zu dem Vogel. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Ich kann nicht erkennen, was für ein Vogel es ist, er ist viel zu weit weg.« »Aber das ist doch egal«, sagte Alice. »Der Magier kann doch in jedes beliebige Tier schlüpfen.« »Also, er würde bestimmt keine Ratte wählen, was? Oder eine Spinne. Oder eine Fliege. Das sind nämlich die Tiere, die Morten benutzt.« »Aber das da ist ein Vogel, Mary«, sagte Alice, als ob sie mit einer Geistesgestörten redete. »Das weiß ich, Alice«, fuhr Mary sie an. Die Hitze machte sie beide reizbar. »Aber Morten kann vielleicht auch in irgendwelche Vögel schlüpfen. In schreckliche Vögel wie… Geier und…«, sie zuckte die Schultern, »ich weiß nicht. Es gibt ein paar Vögel, vor denen ich Angst habe, so wie du vor Ratten.« »Ich mag Vögel«, sagte Alice zufrieden. »Ich war schon in einer Amsel und einer Schwalbe…« »Halt die Klappe, Alice!«, warnte Mary sie. »… und wir alle waren in einem Turmfalken«, fuhr Alice fort und fing an zu grinsen. »Du magst keine Vögel mehr, Mary, seit Jasper dich an Weihnachten zum Jagen mitgenommen hat und du eine Maus essen musstest.« »Alice!«, drohte Mary mit einem gefährlichen Klang in der
Stimme. »Überall war Blut, nicht wahr?«, sagte Alice und freute sich diebisch darüber, wie Mary sich vor Verlegenheit wand. »Du konntest das Blut schmecken, oder? Und es tropfte an deinem Gesicht herunter und du musstest es von deinem Kinn lecken…« »Ich hab gesagt, halt die Klappe!«, schrie Mary und verlor jetzt wirklich die Beherrschung. »Ich meine es ernst, Alice. Sei still!« Alice seufzte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Es war viel zu heiß zum Streiten. Sie blickte wieder zu dem winzigen Punkt am Himmel, wo der Vogel noch immer seine Kreise zog. »Spot, ist das da oben Mr. Tyler?«, fragte sie. Aber der Hund machte sich nicht einmal die Mühe, nach oben zu sehen. »Hör auf zu reden!«, grollte er. »Es ist viel zu heiß dafür.« Als sie zur Eibe kamen, rief Alice, die hinter den anderen herschlurfte, dass sie auf sie warten sollten. »Ich steige auf jeden Fall ins Baumhaus hinauf«, sagte William. Das war das Erste, was er von sich hören ließ, seit sie losgegangen waren. William war seit ihrem letzten Besuch im Geheimzimmer insgesamt sehr schweigsam. Mary hatte ihn ein paar Mal aufgefordert damit aufzuhören, »nach Erklärungen zu suchen, William«, was ihn verdrossen machte und bewies, dass er genau das versucht hatte. Als er sich jetzt beeilte in den kühlen Tiefen der Eibenzweige zu verschwinden, hatte Mary das Gefühl, dass er fortwollte, um allein zu sein. »Wo ist Will?«, fragte Alice, als sie erschöpft und mit rotem Gesicht den Weg heraufgeschnauft kam, Spot dicht hinter sich. »Oben im Baumhaus«, antwortete Mary bedrückt. »Uff!«, stöhnte Alice, sank auf den Boden und legte sich flach auf den Rücken. »Ich hoffe, sie bauen einen Aufzug ein.« »Wer? Wo?«, fragte Mary ohne viel Interesse. »Diese Leute – wenn sie den Vergnügungspark oder was auch immer bauen. Ich hoffe, sie bauen dann auch einen Aufzug vom Tal bis hier hinauf.« »Du bist unmöglich, Alice«, tadelte Mary. »Dich erschüttert wohl gar nichts, was?« »Im Moment nicht«, erwiderte Alice und schloss die Augen. »Es ist viel zu heiß dafür.« Spot war unterdessen in den angenehm kühlen Schatten von ein
paar Büschen gekrochen. Er ließ sich mit hängender Zunge nieder und schloss die Augen. Über ihnen kreiste noch immer der schwarze Vogel und seine Flügel rauschten leise in der trägen Luft. »Hör mal«, sagte Mary, legte wieder die Hand über die Augen und sah hinauf. »Kannst du auch die Flügel schlagen hören?« Alice blinzelte in den Himmel. Für einen Augenblick sah sie ein kleines Mädchen auf dem trockenen Gras liegen, das zu ihr hinaufsah. Mit ausgestreckten Flügeln flog sie langsam darüber hinweg und starrte auf das Mädchen hinunter. Dann stieg ein rauer Klang in ihrer Kehle auf und brach als lautes Krächzen heraus, das in der heißen Luft nachhallte. Sie legte ihre Flügel an und streckte den Kopf nach vorne, so dass ihr scharfer Schnabel zur Erde zeigte. »Nein!«, japste Alice, setzte sich hin und schlug die Hände schützend vors Gesicht. »Was ist?«, fragte Mary. Alice sah nur noch die staubigen Baumkronen, die hinter dem Abhang zum Tal verschwanden, und den schwülwarmen Morgen, der sie umgab. Spot schlief unter dem Strauch und Mary hatte sich besorgt zu ihr umgedreht. »Alice?«, sagte sie beunruhigt. »Was ist passiert?« »Ich weiß nicht«, antwortete ihre Schwester kleinlaut und ängstlich. Dann blickte sie wieder zum Himmel hinauf, wo der Vogel im blauen Dunst verschwand. »Alice?«, sagte Mary sanfter. »Irgendwas ist mit dir passiert. Geht es dir gut?« Alice sah ihre Schwester an. »Ich glaube schon«, erwiderte sie. Dann kniete sie sich hin und suchte die dichten Zweige der Eibe nach dem Baumhaus ab. »William«, rief sie. »Was?«, fragte eine Stimme über ihr. »Was tust du?« »Den Vogel beobachten«, antwortete William. »Hast du gesehen, was passiert ist?«, rief sie, stand auf und bahnte sich durch die tief herabhängenden Zweige einen Weg in das dunkle Innere der Eibe. Es war zwar kühler unter dem Baum, aber zugleich trocken und stickig. Sie fand den ersten Halt für ihren Fuß und begann den Stamm hinaufzuklettern. Sie griff nach dem Eisenring, hielt sich daran fest und zog sich endlich schwitzend und schnaufend auf die
Plattform hinauf. Dann schob sie sich um den Stamm herum, und als sie sich unter einem Ast durchduckte, sah sie, dass Licht aus der Tür des Baumhauses fiel. William saß auf dem einzigen Stuhl vor einem offenen Fenster. Die anderen Fensterläden waren geschlossen, aber das Licht aus dieser einzigen Öffnung war so blendend, dass Alice sich schützend die Hände über die Augen legte. William saß steif wie eine Statue und starrte hinaus. Als Alice zu ihm kam, schien er sie kaum wahrzunehmen. »William«, sagte sie atemlos. »Was?«, fragte er. »Was tust du?« »Hab ich doch gesagt – den Vogel beobachten.« Alice ging ein Stück zurück, steckte die Hände in die Taschen ihrer Shorts und wartete. William bewegte sich nicht. Er saß so still, dass er kaum zu atmen schien. Seine Augen starrten ohne zu blinzeln in das Licht. »Du hast was vor, oder?«, wisperte Alice schließlich. »Alice!«, sagte William scharf. »Was?«, maulte sie. »Du bist unmöglich!«, fauchte ihr Bruder und funkelte sie an. »Warum? Was ist?«, protestierte Alice. »Ich wollte meinen Geist stillstehen lassen«, erklärte William. »Stillstehen lassen?«, rief Alice aus. »Wie denn?« »Ich bin nicht sicher. Es ist sehr schwierig. Immer sind Gedanken da.« »Hör mal zu, William«, unterbrach Alice ihn flüsternd. »Dieser Vogel. Ich glaube, ich habe einen Moment lang durch seine Augen gesehen.« »Na und, das ist doch schon öfter passiert, oder?« »Ja«, antwortete sie zweifelnd. »Nur dieses Mal war es so… als ob ich mich selbst sehen könnte… als ob ich gejagt würde.« »Was meinst du damit?«, fragte William. »Genau das. Es war so, als ob ich jeden Augenblick herabstoßen würde und…« Alice schüttelte fröstelnd den Kopf. »Es war nicht schön, William.« William drehte sich um und blickte wieder aus dem Fenster. Der schwarze Vogel, der im Himmel über dem Baum langsam seine Kreise gedreht hatte, stürzte plötzlich mit dem gleichen schrecklichen Krächzen herab, das Alice vor gar nicht langer Zeit in ihrer
eigenen Kehle gespürt hatte. »Pass auf!«, schrie William und duckte sich. »Er geht auf uns los.« Er hatte den Satz noch nicht beendet, als sich die Fensteröffnung vor ihnen schon von dem Körper der Krähe verdunkelte. Sie schlug heftig mit den Flügeln und ihr tiefes, zorniges Krächzen füllte den kleinen Raum, als sie auf der Fensterbank landete und die Kinder mit stechenden Augen anstarrte. Der Vogel war schwarz wie die schwärzeste Nacht. Sogar sein Schnabel und seine Krallen waren schwarz. Er starrte sie so eindringlich an, dass Alice merkte, wie ihre Beine zu zittern begannen. William hatte vor ihr auf dem Stuhl gesessen, war aber heruntergerutscht, als der Vogel auf sie zuflog, und hockte nun auf dem Boden. Langsam sah er zu dem Vogel auf. »Geh weg!«, zischte er. »Geh weg!« Die Krähe blieb und starrte sie weiter durchdringend an. »Mr. Tyler?«, wisperte Alice hoffnungsvoll. »Kräh!«, schrie der Vogel. »Nicht Mr. Tyler«, wisperte Alice und schüttelte den Kopf. Sehr langsam richtete William sich vom Boden auf, bis er direkt vor der Krähe stand. Alice hörte, dass er tief durchatmete. Seine Augen blinzelten genauso wenig wie die des Vogels. Sein Körper war genauso angespannt und regungslos. »Geh weg!«, wiederholte William. Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Der Vogel starrte William weiter schweigend an, als ob er ihn zum Nachgeben zwingen wollte. Aber William war genauso stark. Auf Alice, die schräg hinter ihm stand und ihn beobachtete, wirkte er so erstarrt und reglos wie ein Stein. »Geh weg!«, sagte er wieder. Und dieses Mal war seine Stimme ruhig und beherrscht. Er sprach fast im Plauderton, als ob er ein langes Gespräch mit dem Vogel führte, von dem Alice nur diese beiden Worte hören konnte. Der Vogel blinzelte und schien dabei an Kraft zu verlieren. William bewegte sich nicht. Einen Augenblick lang zögerte der Vogel, ruckte mit dem Kopf hin und her und blinzelte erneut. Dann schüttelte er seine Flügel und schloss die Augenlider. Er drehte sich um und hob sich von der Fensterbank in das heiße Morgenlicht. »Er ist weg«, wisperte Alice. »Armer Vogel!«, sagte William und seine Stimme klang für Alice
immer noch fremd. Weit weg und ruhig und stark. »Es war ein schreckliches Tier«, sagte Alice. »Ich glaube, es wollte mich fressen.« »Ja«, antwortete ihr Bruder ruhig. »Wahrscheinlich wollte es das tatsächlich.« Dann drehte er sich wieder zum Fenster und zitterte plötzlich. »Seid ihr okay?«, fragte Mary und trat von der Plattform vor der Tür in den Raum. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass du da warst«, sagte William und hörte sich jetzt wieder wie er selbst an, aber zugleich auch ein bisschen erschrocken. »Ich habe von draußen zugeschaut. Ich habe mich nicht getraut hereinzukommen«, erklärte Mary. »Es war Morten, nicht wahr?« »Ich glaube schon«, erwiderte William ruhig. »Nicht gerade in Fleisch und Blut, wisst ihr – aber wie Jasper uns gesagt hat… hat Morten den Geist des Vogels ausgefüllt. Ich konnte nicht hinein…« »Aber du hast ihn doch weggeschickt«, sagte Mary verwirrt. William schüttelte den Kopf. »Der Vogel ging von selbst – als Morten seinen Geist verlassen hatte.« »Und hast du Morten vertrieben, William?«, fragte Alice, die nicht genau verstand, was eigentlich passiert war. »Ich weiß nicht«, erwiderte William leise. Er hörte sich jetzt müde an. »Ich habe nicht wirklich etwas getan. Ich habe nur versucht nicht zu denken. Einfach reglos und leer zu sein. Nein, falsch. Nicht einmal das habe ich wirklich versucht. Ich habe einfach nichts getan.« »Nun«, sagte Mary und sah ihn nachdenklich an, »was immer du getan oder auch nicht getan hast, es hat wohl geklappt.« »Was meinst du mit – geklappt?«, fragte er sie. »Der Vogel hat dir gehorcht«, erklärte sie. »Er hat getan, was du ihm gesagt hast. Er ist gegangen.« »Ein Glück!«, sagte Alice. »Es war ein schrecklicher Vogel.« »Nein«, sagte William und verlor die Nerven. »Er war nicht an sich schrecklich. Er wurde schrecklich gemacht. Aber warum? Warum hasst Morten uns so? Warum?« »Da geht’s schon wieder los«, sagte Mary, froh darüber, ihn kritisieren zu können. »Er stellt wieder Fragen!« Sie drehte sich um und verließ vor den anderen das Baumhaus.
13 Krähe Die Luft über dem See flimmerte vor Hitze. William saß im Schneidersitz auf dem Kiesstrand und starrte schweigend auf das glitzernde und funkelnde Licht vor sich. Mary lag auf dem trockenen Gras hinter ihm und ließ sich von der Sonne bescheinen. Alice und Spot paddelten nicht weit entfernt im Wasser am Ufer. Seit längerer Zeit hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen, nur ab und zu durchbrachen Vogelgezwitscher oder das Platschen eines Fisches, der nach einer Fliege sprang, die Stille. Plötzlich setzte sich Mary auf und sagte: »Was ist eigentlich mit dem Boot passiert?« Sie legte eine Hand über die Augen und suchte das Ufer hinter Alice ab, die sich gerade hinunterbeugte, um ein paar winzigen Fischen dabei zuzusehen, wie sie um ihre Beine schwammen. »Alice«, rief Mary. »Was?«, brüllte sie ohne sich umzudrehen. »Kannst du das Boot sehen?« »Welches Boot?« »Das Ruderboot. Mit dem wir vor ein paar Tagen gefahren sind«, rief Mary gereizt. Alice war manchmal ganz schön begriffsstutzig. »Kann ich nicht sehen«, schrie sie und sah am Ufer entlang. »Es ist wahrscheinlich irgendwo versteckt.« »Aber wer sollte es versteckt haben? Wir haben es neulich bei unserem Picknick drüben am Ufer gelassen«, sagte Mary. »Keine Ahnung«, antwortete Alice nicht sehr interessiert. Sie blickte auf, schirmte die Augen mit einer Hand ab und drehte langsam den Kopf, um den See und den milchigblauen Himmel darüber zu mustern. Die schwarze Krähe segelte auf der warmen Luft und spähte hinunter. »Dieser Vogel ist immer noch da«, rief Alice nervös. Mary blinzelte in das blendende Licht. »Ich weiß«, sagte sie. Dann wurde sie auf William aufmerksam, der unbeweglich wie ein Stein vor ihr saß.
»William – hast du gehört?«, fragte sie. »Diese Krähe beobachtet uns.« William blieb still. »William«, sagte Mary noch einmal. »Dieser Vogel fliegt immer noch über uns…« »Sei still, Mary! Bitte!«, bat William eindringlich. »Warum? Was machst du?« »Ich versuche, nicht mehr zu denken«, antwortete William. »Wie denn?« »Einmal, indem ich dir nicht zuhöre, und dann, indem ich versuche alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen – was sehr schwierig ist, wenn du mir die ganze Zeit die Ohren volljammerst.« »Wie langweilig!«, murmelte Mary und streckte sich wieder auf dem Boden aus. »Wenn dieser Vogel mich angreift, dann ist das nur dein Fehler!« Damit schloss sie die Augen und versank in ihren geliebten Halbschlaf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie William und sie die Ruder ins Wasser tauchten und mit Stephen Tyler und Alice langsam über den See fuhren. Sie sah, wie Stephen Tyler das kleine Steuerruder herumschwang, so dass sie die unsichtbare Linie in der Mitte des Sees kreuzten. Immer noch halb im Traum blickte sie vom Boot auf das ferne Seeufer mit dem stehenden Stein und der Eibe und – weit hinter dem unsichtbaren Raum, wo sich Golden Valley verbarg – dem v-förmigen Einschnitt in den Bäumen, der die geheimnisvolle, unsichtbare Linie im Osten weiterführte. Mary seufzte zufrieden und räkelte sich wohlig in der warmen Sonne. Dann vernahm sie plötzlich, erst leise, aber sehr schnell immer lauter, das Geräusch von fließendem Wasser. Es war so wirklich, dass es gar nicht zu ihrem Traum gehören konnte. Sie sank in tieferen Schlaf, aber das Geräusch des brodelnden und stürzenden Wassers blieb. »Golden Spring«, wisperte eine Stimme. »Triff mich bei Golden Spring.« »Oh!«, rief Mary. Im selben Moment wurde sie wach, setzte sich auf und blickte sich um. Natürlich war niemand da und doch hatte sich die Stimme völlig echt angehört. »Ich hab bloß geträumt!«, murmelte Mary und wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie eine Spinne bemerkte, die zwischen zwei Binsengräsern neben ihr ein Netz webte. Sie drehte sich auf den Bauch, legte ihr Kinn auf die Hände und
beobachtete, wie das winzige Tier die klebrigen Fäden geschäftig mit seinen Beinen verknüpfte. Es arbeitete mit großer Genauigkeit und richtete seine ganze Energie und Konzentration auf diese Aufgabe. Einmal fiel es scheinbar ohne Halt in die Tiefe und kletterte dann wieder in der Luft nach oben, gehalten von seinem selbst hergestellten, unsichtbaren Faden. »Geh nach Golden Spring«, wisperte die Stimme wieder und die Spinne hörte kurz mit ihrer Arbeit auf und blickte Mary an. »Mr. Tyler?«, wisperte Mary aufgeregt. »Wo?«, fragte William, drehte sich um und sah, wie seine Schwester auf dem Bauch lag und mit gespannter Aufmerksamkeit einen Grashalm anstarrte. Mary antwortete ihm nicht. Sie schien ihn kaum gehört zu haben. »Mary?«, sagte William und kroch zu ihr, genau zwischen den beiden Grashalme hindurch, wo die Spinne ihr Netz gewebt hatte. »Nein, William, nicht!«, rief Mary. »Was ist denn jetzt los?«, fragte er aufgebracht. »Die Spinne. Du hast ihr Netz kaputtgemacht.« »Das ist alles? Ich dachte, du hättest Stephen Tyler gesehen.« »Hab ich vielleicht auch«, sagte sie nach einem Moment. »Irgendwie.« Dann runzelte sie die Stirn. »Außer – das Komische ist – er scheint überall zu sein, nicht wahr? Ich meine nicht nur, wenn wir ihn sehen können, sondern alle Lebewesen scheinen ein Teil von ihm zu sein.« Sie kratzte sich am Kopf. »Das ist sehr verwirrend – normalerweise hasse ich Spinnen…« »Weißt du, was du über dieses Boot gesagt hast…«, begann William. »Was ist damit?«, fragte Mary und suchte nach der Spinne. »Ich glaube, er hat es aus der Vergangenheit mitgebracht – ich meine, Mr. Tyler…« Dann fiel ihm noch etwas ein. »He, Mary!«, sagte er. »Hast du immer noch dieses Pendelding?« »Natürlich«, sagte Mary. Sie stand auf und zog die Kette mit dem Goldstück aus ihrer Jeanstasche. »Kann ich es mal nehmen?«, fragte William. »Natürlich«, antwortete seine Schwester. »Es gehört mir doch nicht. Ich habe es bloß zufällig gefunden.« William nahm das Pendel und hielt es an der Goldkette. Es schwang langsam hin und her und hing allmählich ganz ruhig. William starrte es nachdenklich an. »Es passiert gar nichts«, sagte er, aber bevor er noch seinen Satz
beendet hatte, geschah alles sehr schnell auf einmal. Sie sahen, wie Alice am Seeufer auf sie zulief und mit den Armen wedelte, um sich bemerkbar zu machen. William war für einen Augenblick abgelenkt und blickte von dem Pendel auf. In diesem Moment begann es so schnell zu kreisen, dass es fast unsichtbar wurde. Die Krähe, die über ihnen langsam ihre Runden gedreht hatte, stürzte aus dem Himmel direkt auf Williams ausgestreckte Hand zu. »William!«, schrie Mary, packte ihren Bruder und zog ihn an sich. Die Krähe verlangsamte ihren Flug mit heftigem Flügelschlagen, schwebte einen Moment lang vor ihnen und pickte schließlich das Pendel aus Williams immer noch ausgestreckter Hand. Sie fühlten einen kalten Luftzug, als der Vogel wieder stärker mit den Flügeln schlug und sich in den Himmel hob. William wollte den Vogel schnappen und griff mit beiden Händen nach seinen Flügeln. Er hätte ihn fast gehabt, aber als er vorwärts fiel, hielt er nur eine einzelne Feder in der Faust. »Er hat das Pendel gestohlen«, keuchte er und sah der Krähe nach, die mit der glitzernden Kette in ihrem Schnabel davonflog. »William! Mary!«, japste Alice atemlos, als sie mit Spot dicht hinter sich zu ihnen gerannt kam. »Da kommen Männer durch den Wald. Ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben.« »Ist schon in Ordnung«, beruhigte Mary sie. »Wir haben doch nichts Unrechtes getan. Wir haben ein Recht, hier zu sein…« »Nein, du verstehst nicht«, zischte Alice. »Sie sind es doch… Die Männer von der Versammlung.« William beobachtete immer noch die Krähe. Sie flog zum stehenden Stein und landete oben auf seiner Spitze. Dann drehte sie sich herum und starrte die drei Kinder mit ihren glänzenden schwarzen Augen an. Das Goldstück baumelte von ihrem Schnabel und blitzte in der Sonne. William holte langsam tief Luft. Dabei richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. Gerade, als der Vogel wegfliegen wollte, starrte William ihn wieder mit durchbohrenden Blicken an. Die Krähe war wie gebannt und schien nicht wegsehen zu können. Sie hob erst den einen, dann den anderen Fuß und schlug mit den Flügeln. Aber Williams Augen schienen sie wie mit einem unsichtbaren Band festzuhalten. William ließ die Krähe nicht aus den Augen und ging auf den stehenden Stein zu…
Er sah den Jungen langsam auf sich zukommen. Er erkannte den Jungen sogar als sich selbst. Im selben Augenblick wusste er, dass er in die Krähe eingetreten war und durch ihre Augen sah. Es schien das Natürlichste von der Welt zu sein. Eine Bewegung, die er gerade noch aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, ließ ihn nach links blicken. Die Farbe der Wiese war plötzlich leuchtender und saftiger. Die fernen Bäume trugen schwer an ihrer sommerlichen Blätterlast. Der See kräuselte sich und spiegelte einen wolkenlosen Himmel wider… Unter ihm stand ein junger Mann im Gras. Er trug ein mattrotes Wams mit offenem Kragen, bauschige, unter den Knien zusammengebundene Hosen und dünne Strumpfhosen, die eng an seinen Beinen saßen. Sein schwarzes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Er hatte dunkle Augen unter schwarzen Augenbrauen und sein Gesicht war sehr blass. »Gib es mir, Krähe!«, sagte der Mann und ging mit ausgestreckter Hand zu dem Stein, auf dessen Spitze William stand. William beugte sich vor und ließ das Stück Gold aus seinem Schnabel auf den Stein fallen. Dann zog er seine gefiederten Schultern hoch und starrte wieder den Mann an. »Gib es mir!«, sagte der Mann noch einmal und hielt dem Vogel seine Hand entgegen, damit er gehorchte. William spürte, wie sein Geist sich mit Gedankenfetzen füllte, die alle gleichzeitig gehört werden wollten. Der Wunsch, ihnen nachzugeben, war sehr groß – besonders für William, der seine Gedanken gern unter Kontrolle hatte. Es war, als ob er in einem geschlossenen Raum wäre und ferne Stimmen hörte. Er verstand die Worte nicht, aber er wollte ihnen zuhören. Doch er wusste, dass alles verloren war, wenn er nachgab. Er musste seinen Geist ruhig und leer halten. Er holte noch einmal tief Luft und starrte in die Augen des Mannes. »Was ist los, Krähe?«, fragte der Mann. Seine Stimme zitterte vor Ungeduld. »Morten?!«, krächzte William. Es war halb eine Frage und halb eine Feststellung. Der Mann keuchte und hob seine Hände vors Gesicht, als ob er einen Angriff abwehren wollte. »Morten«, sagte William wieder. »Wer bist du?«, flüsterte der Mann. »Warum greifen Sie uns an?«, fragte William. Morten schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück.
»Warum stören Sie die Arbeit des Magiers? Warum lassen Sie uns nicht in Ruhe? Warum?«, wollte William wissen. »Du? Du bist aus dieser anderen Zeit gekommen?«, wisperte Morten. »Das glaube ich nicht. Mein Verstand spielt mir Streiche. Ihr seid gar nicht dazu in der Lage, durch die Zeit zu reisen. Ihr seid unwissende Kinder. Das ist eine Falle. Und jetzt, Krähe«, forderte er mit vor Entrüstung schriller Stimme, »gib mir das Pendel.« William starrte den Mann an, den er Morten nannte. Er fürchtete sich nicht. Er hatte alles unter Kontrolle. »Wenn Sie es haben wollen, dann kommen Sie her und holen Sie es sich«, krächzte er. Aber offensichtlich war der Mann von dieser Drohung nicht beeindruckt. Seine schmalen Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und er warf seinen Kopf zurück. »Du denkst wohl, du bist klug, nicht wahr, kleiner Junge? Du denkst, du hast die alten Geheimnisse gelernt? Aber du weißt nicht mehr darüber als dieser Stein!« »Stimmt«, sagte William. »Aber ich habe auch gerade erst angefangen zu lernen. Geben Sie mir einfach noch ein wenig Zeit.« »Du hältst dich wohl wirklich für sehr klug«, lachte Morten ihn aus. »Du wiegst dich in Sicherheit, nur weil der Meister dich beschützt. Aber was passiert, wenn er von uns geht, kleiner Junge? Was dann? Du bist verloren ohne ihn. Du bist nichts.« »Warum bekämpfen Sie uns, Morten?«, sagte William noch einmal und überhörte die Andeutungen des Mannes. »Warum? Was haben wir Ihnen getan?« »Gib mir das Pendel!«, befahl Morten wütend. »Nein«, erwiderte William. »Sie sind ein schlechter, niederträchtiger Mensch. Sie benutzen Ratten, um uns zu erschrecken. Sie haben versucht zu verhindern, dass Stephanie geboren wurde. Als die Dachse getötet wurden…. hätten Sie uns helfen können, aber Sie taten es nicht. Ich bin sicher, Sie waren sogar froh darüber. Sie tun sich mit allem zusammen, was die Welt schrecklich und grausam macht. Jetzt, wo die Menschen daran denken, diesen Ort zu zerstören, könnten Sie mit dem Magier zusammenarbeiten. Stattdessen lassen Sie es geschehen… wollen Sie, dass es geschieht. Warum? Was kommt für Sie dabei heraus?« Morten starrte kalt zu der Krähe auf dem stehenden Stein hinauf. Seine Augen waren so durchdringend, dass William sich selbst in ihrem Bann fühlte.
Er konnte spüren, wie der Mann um seine Überlegenheit rang. Einen Augenblick lang wurde er von Panik erfasst. Er merkte, dass Morten dies sofort ausnutzte. Wieder atmete William tief durch und klammerte sich mit seinen Krähenkrallen an den harten Stein unter sich. »Macht?«, sagte er schließlich. Das Wort war ihm in den Sinn gekommen, aber er verstand kaum, was es hieß. »Bedeutet es das für Sie? Macht?« »Ja«, antwortete Morten. »Macht, kleiner Junge… und viel mehr als das. Bald wird der Meister sterben. Wenn das geschieht, erbe ich dies alles hier. Nicht nur den Besitz, sondern auch seine Magie und sein Wissen. Dafür habe ich hart gearbeitet. Er hat mich selbst ausgebildet. Er kann es nicht aufhalten. Ich bin sein Geschöpf. Wenn er stirbt, kleiner Junge, bin ich der Meister hier. Dann bin ich euer Magier. Ihr werdet mich brauchen. Ich werde euch alle Wunder der Kunst lehren. Zusammen werden wir Gold herstellen. Nicht…«, er drohte ihm mit erhobenem Finger, »… nicht wie dieser erbärmliche Lewis. Diesmal machen wir es richtig. Du und ich, kleiner Junge. Zusammen, du in deiner Zeit, ich in meiner, werden wir die Größten sein. Wir werden allmächtig sein. Wir werden das Wissen unser nennen, nach dem alle Menschen sich sehnen. Reichtum und Macht im Überfluss. Gold!« Bei diesem Wort schauderte er vor Aufregung. »Gold, kleiner Junge. Unendliche Mengen Gold! Niemand wird uns ebenbürtig sein. Wir werden unbesiegbar sein, du und ich. Und jetzt gib mir das Pendel!« Als er die letzten Worte sagte, sprang er am Stein empor und versuchte William zu erreichen. Mit einem zornigen Krächzen warf sich William in die Luft und stürzte sich auf Morten. Sein Schnabel hackte nach dem ausgestreckten Handrücken. Morten zog seinen Arm sofort zurück und William sah Blut aus der Wunde tropfen, die er ihm zugefügt hatte. »Verdammt!«, schrie Morten. William flog erneut auf ihn zu. Diesmal zielte er mit Schnabel und Krallen auf das Gesicht des Mannes. Morten hob schützend die Arme über den Kopf und schlug wild um sich, um den Angriff abzuwehren. Doch Williams Krallen senkten sich in seine Schulter und es gelang ihm, seinem Gegner ins Ohr zu zwicken. Dann verlor er das Gleichgewicht und musste aus Mortens Reichweite flüchten, bevor er sich aufs Neue in den Kampf stürzte. »Krähe!«, schrie Morten. »Krähe! Gehorche mir!« Aber William hatte den Geist der Krähe besetzt und dieses Mal
war die Krähe sein Vogel. Zornig krächzend flog er auf Morten zu. Der sprang einen Schritt zurück und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Als er loslief, schlug William mit den Flügeln und streckte seine Krallen in Mortens fliegende Haare. Morten stieß vor Wut und Angst einen durchdringenden Schrei aus und schlug wild um sich. Schließlich gab er den Kampf auf und flüchtete Schutz suchend in den Buchenwald. »Junge!«, rief er. »Das zahle ich dir heim. Du hast dir Morten zum Feind gemacht. Der Tag wird kommen, an dem du wünschst, du wärst nie geboren.« »Kräh!«, antwortete William. »Junge!«, hörte er wieder eine Stimme rufen. »Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken. Wir wissen, dass du da bist.« William sah, wie die Krähe Morten verfolgte… Dann verschwamm der Buchenwald, auf den sie zuhielten, und verwandelte sich in ernste, dunkle Tannen, das saftige Gras wurde trocken und braun, die Hitze war groß… »Komm schon, Junge, komm raus da«, hörte er die Stimme sagen. William kam aus seinem Versteck hinter dem stehenden Stein hervor. Als er zum See blickte, bot sich ihm ein seltsamer Anblick: Da standen Alice und Mary, neben ihnen knurrte Spot leise mit aufgestellten Nackenhaaren. Bei ihnen waren die beiden Männer von der Versammlung – Rechtsanwalt Martin Marsh und Charles Crawden, dessen Gesicht rosig glänzte. Inmitten der Gruppe saß ein alter Mann in einem Rollstuhl, der trotz der Hitze eine karierte Decke um sich gewickelt hatte. Er starrte William an und lehnte sich dabei aus seinem Rollstuhl heraus auf einen Ebenholzstock. »Nun komm schon«, sagte er. »Komm hierher, wo ich dich sehen kann.« Wie ferngesteuert ging William auf die Gruppe zu. Er sah noch einmal über den See zu dem dunklen Tannenwald hinüber, der noch vor so kurzer Zeit ein heller Laubwald gewesen war. Wie in einem Traum, dachte er. Dann sah er wieder seine Schwestern und die Männer an. Sie erschienen ihm seltsam fern und entrückt. Nichts hier schien wirklich zu sein. »Was ist Traum, was Wirklichkeit?«, flüsterte sein Verstand. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass er sich kurz im England des 16. Jahrhunderts befunden hatte, vierhundert Jahre zurück in der Vergangenheit. Jetzt war er wieder in dem, was er Gegenwart nann-
te. Der Übergang zwischen diesen beiden Zeiten, diesen beiden Welten, war so sanft, so einfach, so ereignislos gewesen wie ein Augenzwinkern. »Vielleicht ist alles ein Traum?«, fragte sein Verstand. »Komm her, Junge«, sagte der alte Mann. »Ich will dich ansehen.« Oben am strahlenden Himmel zog eine einzelne Krähe krächzend ihre Kreise.
14 Sir Henry Crawden Der Mann im Rollstuhl starrte William an. »Nun mal los oder hast du deine Zunge verschluckt, Junge? Name? Grund deines Hierseins? Verbindung zu den beiden hier? Beeil dich! Ich bin ein sehr alter Mann. Zeit ist kostbar für mich.« William zwang seinen Geist zurück in die Gegenwart. Er fand es jetzt genauso schwer, den Fragen des Mannes zuzuhören, wie noch vor wenigen Augenblicken, sich nicht um die Gedanken in seinem Kopf zu kümmern. Er warf noch einen Blick über seine Schulter zur anderen Seite des Sees und versicherte sich, dass der Wald dort tatsächlich aus Tannen und nicht aus Buchen bestand. Er schluckte. Sein Herz schlug zu schnell und sein Mund war seltsam trocken. Er fühlte sich gleichzeitig ruhig und ängstlich. Mehr als alles andere wünschte er sich mit Mary und Alice allein zu sein, damit er ihnen erzählen konnte, was geschehen war. Er wollte es herausschreien: »Ich habe gerade durch die Augen der Krähe gesehen – und ich habe ein anderes Zeitalter gesehen, eine Zeit in der Vergangenheit. Mir ist es gerade gelungen, irgendwie durch die Zeit zu reisen. Nicht ich, aber mein Geist. Mein Geist war in der Vergangenheit.« Aber stattdessen musste er sich auf diesen alten Mann vor sich konzentrieren, der schlechte Laune zu haben schien und ihn feindselig anblickte. »Wirst du mir jetzt antworten oder müssen wir hier den ganzen Tag warten?«, sagte der Mann. Plötzlich wurde William wütend. Wie konnte es irgendjemand, noch dazu ein völlig Fremder, wagen, ihn so zu behandeln? Er erinnerte sich daran, wie er seinen Geist dazu gezwungen hatte, nicht in Panik zu geraten, sich nicht einschüchtern zu lassen, als die Krähe ihn mit genau den gleichen feindseligen Augen angestarrt hatte wie dieser übellaunige alte Mann. William holte tief Luft und richtete sich auf. Dann sagte er klar und deutlich: »Ich heiße William Constant. Meine Schwestern und ich wohnen bei unserem Onkel in Golden House. Das ist das große Haus da unten im Tal…«, erklärte er und zeigte in die Richtung von Golden Valley. »Ja, ja«, unterbrach der Mann ihn gereizt. »Ich weiß schon, wo
Golden House ist. Also du bist der Bruder dieser beiden Mädchen?«, sagte er und nickte in die Richtung von Mary und Alice. »Nun, junger Mann, ich bin Sir Henry Crawden«, fuhr er fort und starrte William an, als wolle er ihm Angst einjagen, »der Besitzer des Landes, auf dem du gerade stehst.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Dreh mich herum, Charles. Ich will mir die Aussicht ansehen.« Charles Crawden trat zu dem Rollstuhl und stellte ihn so, dass der alte Mann mit dem Rücken zu William saß und den See mit den fernen Hügeln und den Wäldern an beiden Ufern sehen konnte. »Was hältst du von den Plänen meines Sohnes für diesen Ort, William?«, fragte er schließlich. »Ich finde sie schrecklich«, antwortete William ohne zu zögern. Sir Henrys Kopf fuhr ruckartig herum, dann winkte er ihn zu sich. »Komm hierher, damit ich dich sehen kann«, befahl er. William ging zu dem Rollstuhl hinüber. Mary und Alice folgten ihm und stellten sich neben William. »Du willst hier keinen Rummelplatz?«, fragte der alte Mann im Plauderton. »Es wird nicht einfach nur ein ›Rummelplatz‹ sein, Vater«, protestierte Charles Carwden. »Du hast die Pläne gesehen. Dies wird ein gewaltiges Unternehmen.« Henry Crawden zuckte die Schultern. »Dann also ein großer Rummelplatz.« Schweigend betrachtete er die Aussicht. Vögel sangen in den Bäumen Richtung Four Fields und Golden Water lag glatt und klar da wie ein Spiegel. »Ich bin hier seit dem Sommer 1940 nicht mehr gewesen«, sagte der alte Mann ruhig. »Ich kam aus Dünkirchen, hatte ein bisschen Urlaub, weißt du? Ich konnte damals noch gehen. Die Beine hat es erst 1945 erwischt.« Er schlug sich mit der geballten Faust auf die Schenkel. »Sehr nützlich, solche Beine. Pass auf sie auf, wenn du kannst.« Er hing einen Augenblick seiner Erinnerung nach. »Tante Crawden lebte damals noch«, fuhr er fort. »Völlig verrückt, natürlich. Ich fürchtete mich davor, sie zu besuchen. Sie wurde nach Onkel Crawdens Tod immer seltsamer. Aber man musste sich gut mit ihr stellen. Das war der Sommer 1940 – es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Sie starb 1945. Ich habe meine Beine verloren und Tante Crawden ihr Leben… fast am gleichen Tag! Damals dachte ich, sie hätte den besseren Teil erwischt. Aber jetzt bin ich mir nicht so sicher – verrückt zu sein wäre schlimmer, glaube ich.« Er sah die Kinder an. »Ein Leben ohne Beine ist nur… behindernd…« Er verlor sich kopfschüttelnd in
Erinnerungen. Dann zuckte er die Schultern, stützte sich auf seinen Stock und sagte: »Also, Charles, dann male uns allen jetzt deine Pläne aus.« »Ausmalen?«, fragte sein Sohn überrascht. »Dafür hast du mich doch hierher gebracht, oder nicht? Um mir die Idee zu verkaufen?«, fuhr der alte Mann ihn an. »Nun, das ist deine Chance. Erklär uns deine Pläne, uns allen! Überzeuge uns davon, dass es nicht wieder eine von deinen Schnapsideen ist.« »Sollten wir nicht erst die Kinder loswerden, Vater?«, fragte Charles Crawden. »Unterschätze sie nicht, Charles. Sie könnten deine ersten zahlenden Kunden sein!«, sagte der alte Mann. »Nun gut«, sagte sein Sohn überheblich, »wenn du darauf bestehst.« Seine Stimme bekam eine neue Art von Autorität. Sie klang, als ob er etwas auswendig Gelerntes aufsagte oder einen Vortrag hielt. »Der Standort, den wir nutzen werden, liegt auf der rechten Seite des Sees. Wie du weißt, gehört das Land auf der linken Seite der Forstverwaltung. Unten am Ufer planen wir einen Anlegeplatz für kleine Boote – Schnellboote, Tretboote, Kanus und so weiter. Er wird aus Gasbetonsteinen gebaut und so weit wie möglich mit einheimischen Steinen verkleidet. In der Nähe gibt es einen stillgelegten Steinbruch, den wir dafür nutzen wollen. Der Anlegeplatz soll wie ein Fischerhafen in Cornwall aussehen. Dahinter wird ein zentraler Platz entstehen mit Geschäften und Ständen, einem Supermarkt, Cafes, Restaurants… einem Spielsalon… einem Brunnen in der Mitte. Blumenbeeten. Sitzbänken für die Leute.« Die Wunder seiner eigenen Visionen rissen ihn förmlich mit. »Hier sollen auch jede Woche an bestimmten Tagen unsere historischen Spiele stattfinden… Ritterkämpfe und Turniere und… solche Dinge. Es wird immer etwas los sein. Der Platz wird zum Dreh- und Angelpunkt des Vergnügens werden.« Er warf seinem Vater einen nervösen Blick zu. »Wir wollen ihn ›Crawden Platz‹ nennen – dir zu Ehren, Vater.« Sir Henrys Gesicht blieb unbeteiligt. Sein Sohn räusperte sich nervös. »Martin, hast du die Pläne mitgebracht, damit wir sie Vater zeigen können?«, fragte er, aber sofort unterbrach der Alte ihn gereizt. »Ich habe die Pläne gesehen, Charles.« Sein Sohn räusperte sich wieder und seine Hände begannen leicht zu zittern.
»Nur zu, erzähl weiter!«, bellte der alte Mann. »Ich will es vor mir sehen können.« »Das Hotel Crawden wird schräg hinter dem Platz stehen. Dort sind auch Parkanlagen und ein Irrgarten vorgesehen… Das ganze Gebiet auf der anderen Seite des Platzes wird mit Ferienhäusern bebaut – für Urlauber, die sich selbst versorgen wollen. Drüben im Wald werden wir einen Abenteuerspielplatz errichten und auf dem Felsen hinter uns ein Safari-Hotel bauen…« Während er sprach, drehte er den Rollstuhl seines Vaters, so dass sie alle zu dem allmählich ansteigenden Hang mit dem stehenden Stein und der Eibe dahinter hinaufblickten. »Die Idee ist noch ziemlich neu, darum können wir dir im Moment noch keine Pläne dafür zeigen.« »Wo soll das Hotel hinkommen?«, fragte der alte Mann. »Wo die Eibe steht, Vater.« »Ich verstehe. Der Baum wird gefällt?« »Nein!«, rief Alice aus. »Sie können den Baum nicht abholzen.« »Von dort hat man den schönsten Blick über das Tal«, sagte Charles Crawden zu ihr, »und der Platz eignet sich bestens für die Gäste, damit sie den Dachsbau vom Hotelbalkon beobachten können.« »Hm! Dachse! Was hast du noch für deine Gäste geplant?« Während Charles Crawden weiterredete, drehte er den Rollstuhl langsam wieder herum, so dass der alte Mann auf den See schauen konnte. »Ponyfahrten durch die walisische Hügellandschaft. Fährtensuchen im Wald. Wildwest-Expeditionen – komplett mit Bären!« Er ließ es wie einen lustigen Witz klingen. »Ein Kino… und, wie ich zugeben muss, für die Kinder einen ›Rummelplatz‹, wie du es nennst, Vater. Vielleicht ein Zoo – aber das wird erst Phase zwei sein. Und je nachdem wie gut Phase eins läuft, denken wir noch an eine Einschienenbahn durch die Wälder, so dass die Gäste, die nicht so sportlich sind, den Wald von einem Sitzplatz aus genießen können…« Er hörte sich jetzt fast verzweifelt an, weil er sich so sehr wünschte, dass sein Vater etwas wie echte Begeisterung zeigte. »Es gibt Pläne, die unterirdischen Bergwerksschächte zu nutzen. Wir könnten eine Geisterbahn bauen und… eine ›Reise zum Mittelpunkt der Erde‹ veranstalten, so etwas in der Art. Junge Leute gruseln sich gern. Wir wollen, dass hier so viel wie möglich los ist, damit die Gäste keine Zeit haben, sich zu langweilen. Wir wollen ihnen etwas bieten für ihr Geld.«
»Nun, Charles«, sagte der alte Mann, als sein Sohn geendet hatte. »Wir sind sehr beeindruckt. Nicht wahr, Kinder? Es hört sich alles sehr aufregend an. Du scheinst an alles gedacht zu haben. Und du hast natürlich Recht, es ist ein ›gewaltiges Unternehmen‹. Und – wo ist der Haken dabei?« »Das geht wirklich nur die Familie etwas an, Vater. Wir diskutieren das besser unter uns, denke ich.« »Unsinn«, sagte der alte Mann und wischte jegliche Geheimhaltung mit einer Handbewegung fort. »Die Zufahrtsstraße? Ist es das?« »Hm, ja«, antwortete sein Sohn. »Wir haben der Frau gutes Geld geboten. Aber ich bin nicht sicher, ob sie anbeißt.« »Wie soll ich sie dann überzeugen?« »Sie sagte, sie wolle mit dir persönlich sprechen«, sagte Charles Crawden. »Wer ist diese Frau?«, wollte sein Vater wissen. »Komische alte Schachtel, eine Art Einsiedlerin. Nicht ganz richtig im Kopf, möchte ich meinen. Wie heißt sie, Martin?« »Lewis«, antwortete Martin Marsh. Als er den Namen aussprach, schnappte Henry Crawden nach Luft. »Lewis?«, flüsterte er. »Ja, Sir Henry. Margaret Lewis. Ihr gehört der Besitz Four Fields, der zwischen Ihrem Land und der Straße am Moor liegt.« »Meg Lewis«, seufzte der alte Mann. »Sie lebt noch? Irgendwie dachte ich…« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich will sie nicht sehen. Fahr mich zurück zum Auto…« »Sie hat nach dir gefragt, Vater. Das könnte unsere einzige Chance sein.« »Ich will sie nicht sehen, Charles. Und damit Schluss. Hol dir deine Zufahrtsstraße von der Forstverwaltung. Sie werden sicher nichts dagegen haben…« »Also – stimmst du den Plänen zu?« »Ich will diese Frau nicht sehen«, wiederholte Henry Crawden. »Was den Rest angeht, müsst ihr jungen Leute das entscheiden.« Charles Crawden und Martin Marsh sahen sich über den Kopf des alten Mannes hinweg erleichtert an. »Wunderbar, Vater. Martin wird alle notwendigen Dokumente aufsetzen.« »Dokumente?« »Es wäre einfacher, Sir Henry«, sagte der Rechtsanwalt mit glat-
ter, schmeichelnder Stimme, »wenn das Land Ihrem Sohn überschrieben würde…« »Ja, ja, natürlich«, nickte Henry Crawden abwesend. Er schien an der ganzen Angelegenheit kaum noch interessiert zu sein. »Mach damit, was du willst.« »Aber – wenn du irgendeinen Vorschlag hast, Vater, wären wir froh über deinen Rat.« »Es gibt einen«, sagte der alte Mann langsam. »Benutzt doch wieder den richtigen Familiennamen! Er würde viel besser zu diesem Ort passen. Unsere Familie lebt immerhin schon seit 1590 hier.« »Den richtigen Namen?«, fragte William. Das war das Erste, was er sagte, seit Charles Crawden seine Pläne eröffnet hatte. »Ja«, erwiderte der alte Mann. »Einer unserer Vorfahren war eine Art Gauner, fürchte ich. Bekam Ärger mit Kirche und Staat! Vernünftig, wie unsere Familie ist, haben wir unseren Namen geändert. Wir wollten nicht, dass etwas von seinen Scherereien an uns haften blieb. Aber das ist alles schon Jahrhunderte her. Wir nennen uns schon fast seit dem Tag seines Todes Crawden. Einen faulen Apfel wirft man doch auch aus der Kiste, nicht wahr? Obwohl, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte immer viel Vergnügen an dem Gedanken, einen Zauberer in der Familie zu haben.« »Einen Zauberer?«, rief Alice verblüfft. »So hat er sich zumindest bezeichnet. Er wurde aus der Grafschaft gejagt. Wohlgemerkt, zu dieser Zeit saß James I. auf dem Thron – und es gab viele Gerüchte, dass er selbst auch ein bisschen Zauberei betrieb. Hexerei war in Mode! Aber nicht in diesem Teil der Welt. Den Einheimischen hier ist der Kragen geplatzt! Haben den armen Kerl zum Tod verurteilt und hingerichtet.« »Der Zauberer wurde… hingerichtet?«, keuchte William. »Sind Sie sicher?«, Mary versuchte ihre Stimme nicht allzu zittrig klingen zu lassen. »Absolut sicher«, antwortete Sir Henry fröhlich. »Wir Crawdens sind schon immer ein buntes Völkchen gewesen… Das heißt, bis jetzt«, fügte er hinzu und funkelte seinen Sohn an. »O ja«, fuhr er fort, »die Crawdens leben nur hier in dieser Gegend dank der Umtriebe unseres Familienzauberers. Vielleicht wollte Onkel Crawden deshalb das Haus zurückhaben.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Vielleicht hatte er Familiensinn? Nicht, dass ihm das Glück gebracht hätte – er war so verrückt wie seine Schwester. Beide völlig verdreht! Du solltest aufpassen, Charles! Vielleicht sind wir Craw-
dens dazu verdammt, hier in Golden Vale niemals glücklich zu sein.« »Abergläubischer Unsinn!«, rief Charles Crawden unwillig. »Ja, vielleicht!« Der alte Crawden beugte sich mit verschwörerischer Miene zu William. »Mein Sohn erfreut sich einer zweiten großen Eigenart der Crawdens – er hat den unersättlichen Wunsch nach Reichtum! Wenn man irgendwo Geld machen kann… dann ist er da, ohne Rücksicht auf mögliche Gefahren!« Dann richtete er sich wieder auf. »Ich habe jetzt genug, Charles. Bring mich nach Hause. Auf Wiedersehen, Kinder. Freut euch an der Ruhe hier, solange es sie noch gibt. Armer See! Arme Gegend! Bald wird hier alles zum ›Rummelplatz‹!« Wieder betonte er das Wort mit Genuss, als ob er Spaß daran hätte, seinen Sohn damit zu verspotten. »Nun beweg dich, Charles«, fauchte er gereizt. »Schieb mich zurück zum Auto!« »Sir Henry«, rief William und rannte hinter ihm her. »Was denn noch?«, fragte der alte Mann ungeduldig. »Wie hieß der Zauberer?« »Oh, habe ich das nicht gesagt? Dumm von mir. Er hatte einen Namen, der unserem nicht unähnlich war.« Der alte Crawden lächelte spöttisch. »Wir haben ihn nicht sehr verändert. Der Zauberer in unserer Familie hieß Morten, Matthew Morten – Gott hab ihn selig!«
15 Der Eingang zum Tunnel Die Kinder beobachteten schweigend, wie die Crawdens und Martin Marsh durch die Bäume in Richtung Four Fields verschwanden. Spot hatte zu Alices Füßen auf dem Boden gelegen, als Charles Crawden seine Pläne beschrieb. Jetzt setzte er sich auf und kratzte sich hinter dem Ohr. Alice hockte sich neben ihn und legte einen Arm um ihn. Sie fühlte sich bedrückt und konnte sich nicht erklären, warum. »Matthew Morten«, flüsterte William. »Sie sind mit Morten verwandt.« »Als er von dem Zauberer erzählte, hab ich zuerst gedacht, er redet über Stephen Tyler…«, rief Mary. »Ich auch«, stimmte Alice zu. William entfernte sich tief in Gedanken ein Stück von ihnen. Er dachte an den Mann mit dem roten Wams und der Kniehose, den er zu dem Buchenwald hatte laufen sehen. Die Buchen reichten bis hinunter zum linken Seeufer, wo jetzt nur ernste Tannen in starren, geraden Linien standen. Er schüttelte den Kopf. Es war alles so verwirrend. Je mehr er darüber nachdachte, umso unsicherer wurde er, ob er das alles wirklich erlebt hatte. »Es kann nicht passiert sein«, flüsterte sein Verstand. »Es ist nicht möglich. Es muss eine vernünftige Erklärung für alles geben. Denk nach, William, denk nach! Finde es heraus. Du weißt, dass du es kannst. Mach aus allem einen Sinn…« »Nein!«, rief William laut, schüttelte den Kopf und schlug mit einer Faust auf die Fläche der anderen Hand. »Was ist, Will?«, fragte Mary und kam besorgt zu ihm gelaufen. »Was ist los?« »Nichts«, antwortete ihr Bruder knapp. »Nichts ist los.« Er holte ein paar Mal tief Luft und erzählte ihnen dann ruhig und gelassen, was geschehen war, als er durch die Augen der Krähe geblickt hatte. Mary und Alice hörten ihm schweigend zu, sogar Spot sah aufmerksam zu ihm hoch. Nachdem er alles bis zu dem Punkt erzählt hatte, als er hinter dem stehenden Stein hervorkam und von Sir Henry und den anderen entdeckt worden war, überfiel ihn plötzlich ein
kalter Schauer. Er schlang die Arme um seinen Körper, starrte verdrossen auf den Boden und wartete darauf, dass seine Schwestern irgendwie reagierten. Alice zog die Nase hoch und kratzte sich dann nachdenklich die Wange. »Du meinst, du bist in der Zeit gereist? Wie der Magier?«, fragte Mary. »Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte William. »Nicht genauso.« »Egal, was passiert ist«, sagte Alice, »wir konnten dich jedenfalls nicht sehen.« »Ihr konntet mich nicht sehen?«, fragte William überrascht. »Nein«, antwortete Alice. »Aber… was ist mit mir passiert?« »Du hast dich versteckt«, erwiderte Alice. »Versteckt?« »Ja. Ich bin zu euch gelaufen, um euch zu erzählen, dass ich diese Männer kommen sehe, die dieses Fahrstuhl-Dings schieben – und als ich das getan habe… bist du hinter den Stein gelaufen. Das hat er doch gemacht, oder, Mary?« »Ja«, nickte Mary. »Ich fand das ziemlich seltsam. Ich meine, ich habe geglaubt, du hättest Angst oder so.« »Hast du mich tatsächlich laufen sehen?«, fragte William. »Hm… nein«, gestand Mary schließlich. »Aber du musst gelaufen sein – denn erst warst du neben mir und im nächsten Moment nicht mehr. Ich habe Alice rufen hören, hab mich umgedreht, und als ich mich wieder umdrehte, warst du verschwunden.« »Alice?«, fragte William. »Was?« »Hast du gesehen, wie ich hinter den Stein gelaufen bin?« »Nein. Ich habe mich umgedreht und auf die Stelle gezeigt, wo die Männer herkamen. Aber du musst es getan haben, denn du bist da rausgekommen, als dieser Sir Irgendwas dich gerufen hat.« »Also habt ihr mich beide in dem entscheidenden Moment, als ich das erste Mal durch die Augen der Krähe sah, nicht gesehen«, fasste William nachdenklich zusammen. »Aber William, das ist uns doch allen schon so ergangen«, stöhnte Alice. »Ja, ich weiß. Aber normalerweise passiert es zufällig. Ich habe es passieren lassen.«
»Na gut«, sagte Mary widerwillig. »Vielleicht glaubst du, dass du das getan hast. Hast du dich dann auch selbst in die Vergangenheit sehen lassen?« »Nein«, musste William seufzend zugeben. »Ich weiß nicht, wie sich das abgespielt hat… außer… Ach! Warum ist der Magier nie da, wenn wir ihn brauchen?« »Aber natürlich!«, rief Mary. »Die Spinne. Ich habe die Spinne ganz vergessen! Wir müssen nach Golden Spring gehen. Er hat gesagt, er trifft sich dort mit uns.« Während sie noch redete, lief sie schon eilig am Seeufer entlang in die Richtung der fernen Hügel. Spot sprang bellend vor ihr her und freute sich offensichtlich, dass er sich endlich wieder bewegen durfte. Das Geräusch von stürzendem Wasser kam allmählich immer näher. Der Boden unter ihren Füßen wurde weich und nass. Felsbrocken ragten aus dem Gras und in großen Wasserpfützen spiegelte sich der Himmel. Der Boden stieg jetzt steil an. Sie kletterten einen Abhang hinauf, der von kärglichen Bäumen bewachsen war. Große Ginsterbüsche zerkratzten ihnen die bloßen Arme und Beine. Schließlich erreichten sie das Ufer eines schnell dahinströmenden Flusses. Bei seinem rasanten Sturz hinunter in den See schäumte das Wasser über Steine und durch enge Felsspalten. Das Geräusch des Wasserfalls über ihnen war fast ohrenbetäubend. »Wir müssen noch höher hinauf, glaube ich«, schrie William und zeigte nach oben. Mary drehte sich kurz um und kletterte dann vor ihnen her das hohe Gras hinauf. Manchmal mussten sie auf allen vieren fast senkrechten Fels hinaufkriechen. Über ihnen blockierte eine Felsnase die Sicht. Aber als sie sich endlich mühsam hinaufgezogen hatten, fanden sie nur eine weitere Felskuppe vor sich. Nach einer halben Stunde halsbrecherischer Kletterei erreichten sie schließlich die Spitze eines weiteren zerklüfteten Felsens. Vor ihnen erhob sich eine glatte Felswand, über die der Fluss wie ein Laken aus glitzerndem Wasser hinunterdonnerte. Die Kraft des Wasserfalls war so groß, dass ein kalter Windstoß sie traf und die feine Gischt in der Luft ihnen die Kleider bis auf die Haut durchnässte. »Golden Spring!« William musste schreien, um das Getöse des Wassers zu übertönen. »Da geht’s nicht weiter!«, schrie Mary und suchte den Felsen nach einem Pfad ab, der hinaufführte. »Also – wo ist er?«, fragte Alice. »Du hast gesagt, Mr. Tyler wäre
hier, Mary. Wo ist er?« Mary zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht«, antwortete sie. »Vielleicht müssen wir warten. Er hat ganz bestimmt gesagt, wir sollten ihn bei Golden Spring treffen.« »Wenn er es war«, sagte William. »Ich bin mir ganz sicher«, rief Mary. »Wer soll es denn sonst gewesen sein?« »Morten«, stellte William fest. »Nein!«, sagte Mary trotzig. »Ich weiß, dass es der Magier war. Ich weiß es einfach.« »Also, ich bleibe hier nicht länger stehen«, rief William. »Ich bin klatschnass!« »Wohin willst du dann?«, schrie Alice. »Wieder runter«, antwortete William und ging zu dem Pfad, den sie hochgeklettert waren. »Komm, Spot!«, rief Alice und folgte ihrem Bruder. Aber Spot bellte so sehr, dass sie stehen blieb und sich umdrehte. Der Hund war schon halb einen kaum erkennbaren Pfad zu der oberen Kante des Wasserfalls hochgestiegen. Er wandte ihnen den Rücken zu und wedelte laut bellend mit dem Schwanz. »Was ist los mit ihm?«, fragte William und blickte zurück. »Komm her, Spot!«, rief Alice. Aber der Hund hörte nicht auf sie, bellte weiter und kratzte auf dem Boden, als ob er etwas sehr Wichtiges entdeckt hätte. »Ich glaube, er will, dass wir zu ihm kommen«, rief Mary und kletterte vorsichtig in Spots Richtung. William und Alice folgten ihr. »Was ist los, Junge?«, fragte William schließlich, der als Erster bei Spot ankam. »Was ist los mit dir?« Spot jaulte aufgeregt und sprang bellend hin und her. »Sag es mir!«, befahl William. Als der Hund nicht aufhörte zu winseln, blickte William in die Richtung, die Spot ihm wies, und starrte aufmerksam auf den Wasserfall. Zuerst konnte er nur die weiß schäumende Gischt des herabstürzenden Wassers erkennen. Dann bemerkte er einen Felsvorsprung, der von da, wo sie standen, an dem steilen Felsen vorbei hinter das Wasser führte. »Na so was!«, rief er den anderen zu. »Da ist eine Art Pfad.« Er begann sich seitwärts den Vorsprung entlangzuschieben, den Rücken
eng gegen den Fels gepresst. »Sei vorsichtig, William!«, rief Alice ängstlich. »Wenn du reinfällst, wirst du bis zum See mitgerissen.« »Komm schon«, drängte Mary und nahm Alice bei der Hand. »Ich will nicht hier zurückbleiben.« William war schon nicht mehr zu sehen. »Oh«, kreischte Alice. »Er ist hinter den Wasserfall gegangen!« »Sieh nicht nach unten!«, mahnte Mary, worauf Alice auf der Stelle genau das tat. Einen Augenblick lang wurde ihr schwindelig und sie verlor fast den Halt, aber Mary packte ihre Hand und hielt sie fest. »Ich sagte, nicht nach unten sehen, du Idiotin!«, zischte sie ihrer Schwester ins Ohr. »Ja. Ist ja gut!«, fauchte Alice nervös zurück. Nebeneinander schoben sie sich den Vorsprung entlang, bis das Wasser so nahe war, dass sie es mit ausgestreckten Händen hätten berühren können. Als es aussah, als würden sie einfach mitten in den Wirbel gesogen, bog die Felswand plötzlich hinter ihnen vom Wasserfall weg und sie befanden sich in einem niedrigen Gang. Das Wasser versperrte jede Sicht nach draußen. »Wir sind hinter ihm!«, keuchte Alice. Die Luft war kalt und feucht und das Getöse des Wassers unbeschreiblich. »Mary!«, brüllte Alice ihrer Schwester ins Ohr. »Wir sind hinter dem Wasserfall!« »Aber wo ist William?«, schrie Mary. »Und Spot?«, rief Alice. Sie blickte an Mary vorbei zu dem Vorsprung, der an der Felswand zu enden schien. Einen Augenblick später stand William wie aus dem Nichts vor ihnen. »Oh!«, rief Mary erschrocken. »Wo kommst du denn her?« »Seht mal!«, rief er und die Mädchen konnten neben der Stelle, wo er stand, eine schmale Öffnung seitlich in den Fels führen sehen. »Es ist ein Tunnel«, schrie William. »Er scheint tief in den Berg zu gehen.«
16 Die Gesellschaft der Freunde »Da gehe ich nicht rein«, wisperte Alice und spähte über Marys Schulter in die dunkle Öffnung. »Was meinst du, Will?«, fragte Mary. »Ist es sicher?« William zuckte mit den Schultern. »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, sagte er, zwängte sich zwischen die Felsen und verschwand. »Müssen wir das wirklich tun, Will?«, stöhnte Mary. William konnte ziemlich nervig sein, wenn er den Helden spielte. Aber Spot, der zu Marys Füßen gesessen hatte, sah schwanzwedelnd zu ihr auf. Dann drehte er sich um und folgte Wiliam durch die enge Felsspalte. »Komm, Mary«, flüsterte Alice. »Spot findet es wohl in Ordnung.« Sie nahmen sich fest bei den Händen und gingen zusammen zur Höhle. Sobald sie die Öffnung hinter sich gelassen hatten, wurde das Geräusch des Wasserfalls schwächer, bis sie nur noch ein fernes Grollen hörten. Sie standen in einem schmalen Gang, der in den massiven Felsen gehauen worden war. Der Boden, die Wände und die Decke bestanden aus glattem, hartem Gestein. Das wenige Licht, das durch den Wasservorhang hinter ihnen fiel, reichte kaum weiter als ein paar Meter und schon bald tasteten sie sich durch die Dunkelheit. »Will?«, rief Mary nervös. »Ich bin hier«, antwortete ihr Bruder von irgendwo direkt vor ihnen. »Wäre es nicht vernünftiger, zurückzugehen und eine Taschenlampe zu holen?« »Warte mal«, rief er und einen Moment später hörten die Mädchen ihn nach Luft schnappen. »Was ist los?«, wisperte Alice nervös, aber bevor irgendjemand ihr eine Antwort geben konnte, waren sie und Mary schon aus dem dunklen Tunnel in ein seltsames und unheimliches Dämmerlicht hinausgetreten. Sofort konnten sie William vor sich stehen sehen und Spot neben ihm. Der Raum, in dem sie sich befanden, war nicht mehr als ein breiterer, geräumigerer Teil desselben Tunnels, durch den sie gerade
gestolpert waren. Aber hier war die Decke höher. Dünne Lichtstrahlen fielen durch eine Felsspalte irgendwo über ihren Köpfen und erfüllten den Raum mit sanftem, grünlichem Leuchten. Mary und Alice brauchten eine Weile, bis sie sich an dies neue Licht gewöhnt hatten. Dann zerfiel die Düsternis vor ihnen allmählich in unzählige Formen und Dinge. Der Raum war voller Tiere und Vögel. Sie saßen auf dem Boden, standen auf Felsbrocken, sie hielten sich an den Wänden fest und hockten auf vorspringenden Felsnasen. Cinnabar, der Fuchs, blickte sie mit funkelnden Bernsteinaugen an. Neben ihm stand Bawson, der Dachs, und über ihm krallte sich Jasper, die Eule, an einen Felsvorsprung. Eine Amsel flog von irgendwoher herab und landete auf Alices Schulter. »Merula?«, wisperte sie, als sie den Vogel erkannte, der sie im Frühling während der Dachsjagd auf dem Dunklen und Schrecklichen Weg begleitet hatte. Aber Merula antwortete nicht. Er starrte ihr einen Augenblick in die Augen und blickte dann in die Richtung, in die alle Tiere sahen. Als sich ihre Augen langsam an das Licht gewöhnten, konnten die Kinder allmählich immer mehr Einzelheiten in ihrer Umgebung ausmachen. Die Wände der Höhle waren dicht bedeckt mit Vögeln, sie krallten sich an jede erreichbare Ecke und drängten sich auf den wenigen Vorsprüngen: Schwalben und Mauersegler, Blaumeisen und Buchfinken, Drosseln und winzige Zaunkönige. Eine große, schwarzweiße Elster starrte böse auf sie herunter und ein Grünspecht musterte sie streng von einem seitlichen Vorsprung. Das strahlend blaue Gefieder eines Eisvogels schimmerte geheimnisvoll in der Dämmerung und nicht weit von ihnen entfernt verlagerte eine Stockente ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ein Turmfalke, der sie kommen sah, schrie lang und klagend: »Ki-ki-ki!« »Das ist Falco«, wisperte Mary. »Erinnerst du dich, Alice? Du hast ihn Kiki genannt…« »Ihr habt euch Zeit gelassen«, lispelte eine Stimme, und als sie sich umdrehten, sahen sie Lutra, den Otter, auf seinen Hinterbeinen neben einem unbekannten Eichhörnchen stehen. »Schhhh!«, zischte Jasper und starrte von seinem Vorsprung herunter. »Was ist hier los, Jasper?«, wisperte William. Aber Jasper zwinkerte nur streng mit den Augen und gab keine Antwort.
»Warte!«, grollte Spot leise und legte eine Pfote auf Williams Arm. Er drehte sich um und blickte wie alle anderen Tiere zur Mitte der Höhle hinüber. Ein feiner Lichtstrahl fiel wie aus einem Scheinwerfer durch den unsichtbaren Felsspalt über ihnen auf den rauen Fels, um den die Gesellschaft versammelt war. William, Mary und Alice drängten sich nebeneinander und sahen gespannt hinüber. Lange Zeit – oder vielleicht dauerte es auch überhaupt nicht lange, denn Zeit schien hier keine Rolle zu spielen oder gar nicht zu existieren – passierte nichts. Endlich ließ sich aus der geheimnisvollen Höhe eine winzige Spinne an einem feinen Faden herab. Die Stille in der Höhle war fast mit Händen zu greifen. Alle waren wie gebannt von diesem kleinen Lebewesen. Die Spinne verharrte einen Moment lang ein paar Zentimeter über dem Boden und drehte sich langsam um ihren Silberfaden. Dann ließ sie sich plötzlich mit unerwarteter Schnelligkeit fallen und augenblicklich verwandelte sich der silberne Faden in einen Silberstab, der von zwei sich umeinander windenden Drachen, einer Sonne und einem Mond überragt wurde. Das bekannte Symbol blitzte in der Düsternis vor ihnen auf und fast gleichzeitig erschien Stephen Tyler in ihrer Mitte. Er stützte sich schwer auf seinen Stab, einen Arm noch immer in der Schlinge. »So«, sagte er nach einer Weile ruhig und musterte die versammelte Schar um ihn herum. »Ihr seid alle gekommen. Wir sind vollzählig, glaube ich.« Dann blickte er auf die Eule und sagte im leichten Plauderton: »Jasper, mein Vogel, was ist zu tun?« »Zu tun…«, wiederholte die Eule flötend. »Sprich für uns, Jasper«, brummte Bawson, der Dachs. »Was ist passiert, Meister?«, fragte Jasper ehrerbietig. »Wir haben Angst. Die Dinge sind nicht so wie sonst. Warum hast du uns hier zusammengerufen? Sag uns, was passiert ist.« »Passiert?«, wiederholte der Magier. »Das Leben ist passiert. Ich bin ein alter Mann, Jasper, und ich habe zu lange so getan, als wäre ich das nicht. Alt!« Er sagte das Wort mit grimmiger Entrüstung, dann schüttelte er den Kopf und lächelte traurig. »Die Alten vergessen – sie vergessen, wie man kämpft. Sie vergessen sogar, dass sie alt geworden sind. Aber bitte, ich gebe es jetzt zu. Ich bin ein närrischer… alter Mann.« Er seufzte. »Kommt her, Kinder«, sagte er und winkte William, Mary und Alice zu sich. »Hört mir zu. Es gibt keine Magie, die es mit der Gier aufnehmen kann. Morten wird gewinnen.
Ich kann ihn nicht aufhalten…« »Was?«, keuchte William. »Warum nicht?« »Weil er jünger und kräftiger ist und ich euch zu spät gefunden habe.« »Aber Sie haben uns gefunden!«, rief Alice. »Wir können jetzt nicht aufgeben.« »Sie haben die Männer mit den Hunden davon abgehalten, mein Volk zu töten«, protestierte Bawson, der Dachs. »Als Morten versucht hat die Geburt des Babys zu verhindern«, schrie Jasper, »haben wir gewonnen. Das Baby wurde geboren.« »Ja, ja. Das ist alles richtig«, nickte Stephen Tyler. »Aber ich bin jetzt müde – und dieser verwünschte Arm schmerzt. Und ich habe nicht die Kraft…« »Dann geben Sie uns die Kraft«, unterbrach William ihn. »Ach, William!« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das hat schon Jonas Lewis zu mir gesagt. Und was war dann? Er hat Gold für sich selbst hergestellt. Er wollte die Magie für seinen eigenen Gewinn benutzen. Und so verlor er… alles. Von dem Augenblick an hätte ich merken müssen, wohin diese Bemühungen führen. Jonas Lewis verlor den Besitz an die Crawdens. Und wegen ihm finden wir uns jetzt in der Lage wieder, in der wir sind.« Der Magier verstummte und versank tief in Gedanken. Dann schüttelte er den Kopf und seufzte noch einmal. »Und doch kann ich es nicht über mich bringen, Jonas allein die Schuld zu geben. Ich war es, der ihm die Macht gab.« »Aber bei uns ist es anders«, bat William. »Wir sind zu dritt, also können wir nichts nur für uns allein tun. Und wir wollen ja auch gar kein Gold machen, oder?«, fügte er hinzu und sah seine Schwestern verzweifelt an. »Was willst du denn tun?«, fragte der Magier scharf, bevor Mary oder Alice antworten konnten. William dachte lange nach. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich weiß nur alles, was ich nicht will.« »Und was ist das?« »Ich will nicht, dass ein paar furchtbar gierige Leute hierher kommen und alles verderben. Ich will nicht, dass sie die Eibe abholzen und die Dachse zur Schau stellen und Käfige für die Tiere in unserem Wald bauen.« »Ich will kein vorgetäuschtes Leben«, sagte Mary plötzlich.
»Vorgetäuschtes Leben?«, fragte Stephen Tyler verwirrt. »Genau das haben sie mit der Gegend hier vor. Sie wollen alles nur spielen. Leute, die sich fein machen und so tun, als ob.« »Und was wünschst du dir stattdessen, Mary?« »Ich will, dass alles wirklich echt ist. Ich will nicht die ganze Zeit nur zusehen. Es ist wie Fernsehen… Ich weiß, dass Sie Fernsehen nicht kennen…« »Bilder, die sich bewegen und die aus der Luft kommen. Ich erinnere mich. Ihr habt es mir einmal erklärt. Ich fand das eigentlich ganz nett«, sagte Stephen Tyler. »Ja… aber…«, rief Mary. Dann schüttelte sie den Kopf, weil sie ihre Gefühle nicht erklären konnte. »Aber?«, fragte der Magier sanft. »Mama und Papa sind in Afrika«, unterbrach Alice sie. »Und manchmal… sehen wir Bilder in den Nachrichten… schreckliche Bilder… von Kindern, die sterben. So dünn… und mit Fliegen auf dem Gesicht und…« »Ja?«, fragte der Magier und blickte sie an. »Sie verhungern.« Sie knetete nervös ihre Hände. »Aber es bedeutet mir nicht wirklich etwas. Nicht wirklich. Ich meine… Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist. Ich versuche mich um sie zu sorgen. Aber dann… na ja, es sind einfach nur Bilder im Fernsehen.« William legte einen Arm um sie. »Sie hat Recht. Wir sehen oft die Nachrichten beim Abendessen. Nicht hier. Nicht in Golden House. Aber wenn wir zu Hause sind. Wir sehen Bilder von verhungernden Menschen… und wir stopfen gleichzeitig das Essen in uns hinein.« »Also?«, fragte der Magier erneut. »Was willst du dann? Mit den Leuten verhungern?« »Nein, natürlich nicht«, protestierte Mary ärgerlich. »Aber wir sollten doch etwas für sie fühlen können. Ich meine, wirklich fühlen.« »Und wenn wir das täten«, fügte William hinzu, »dann bekämen sie vielleicht Hilfe.« »Aber eure Mutter und euer Vater helfen ihnen doch, oder nicht?« William zuckte mit den Schultern. »Papa wird sofort böse«, murmelte er. »Er sagt, man hätte die Hungersnot von Anfang an gar nicht erst aufkommen lassen dürfen.« »Und wieso ist es dann dazu gekommen, William?« »Naja, es gibt viele Gründe. Haben Sie von der Klimaerwärmung
gehört?« Der Magier schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Nein. Ich dachte mir schon, dass Sie das nicht wissen«, seufzte William. »Dann gibt es in dem Land einen Bürgerkrieg, also kommen viele der Medikamente gar nicht durch…« »Gier, William«, murmelte Stephen Tyler. »Es geschieht aus Gier. Aber willst du… diese Leiden aufhalten? Willst du das sagen?« »Nicht immer, nein. Die meiste Zeit denke ich gar nicht darüber nach.« »Aber was willst du dann?«, beharrte der Magier. »Ich will, dass die Magie weitergeht«, sagte Alice schnell. »Ach!«, seufzte Stephen Tyler enttäuscht. »Aber – ist das falsch?« »An sich nicht. Aber wenn du Magie willst, musst du sie für einen bestimmten Zweck wollen – und da beginnt das Problem. Morten will Magie…« »Damit sie ihm Macht gibt«, erinnerte sich William. »Du weißt das?«, sagte der Magier und blickte ihn an. »Woher?« »Er hat es mir gesagt«, antwortete William. »Dir gesagt?«, donnerte Stephen Tyler, offensichtlich verblüfft. »Wie – dir gesagt? Hast du ihn gesehen?« Dann ging ein Ausdruck großer Bestürzung über sein Gesicht. »Ist er hier gewesen? Er kann durch die Zeit reisen!« »Nein«, beruhigte William ihn schnell. »Ich habe ihn in seiner eigenen Zeit gesehen…« Als er dies sagte, begannen alle Tiere und Vögel leise zu zwitschern, seufzen und brummen. Nur Spot blieb unbeeindruckt. Er stand schwanzwedelnd auf und sah sich stolz um. »Du bist durch die Zeit gereist?«, keuchte Stephen Tyler. »Nein, nicht richtig. Wenigstens glaube ich das nicht«, erwiderte William zufrieden. »Ich habe einfach nur irgendwie… durch die Augen der Krähe… gesehen.« Nach einem langen Augenblick sagte der Magier: »Erzähl mir, was geschehen ist, William.« Und so erzählte William so genau wie möglich alles, was am stehenden Stein passiert war. Stephen Tyler hörte ihm schweigend zu, und als er geendet hatte, begann der Magier tief in Gedanken versunken hin und her zu wandeln. »Du bist in die Krähe, in Corvus, durch deinen eigenen Willen
eingetreten? Willst du das sagen?« »Ja«, antwortete William. »Das ist sehr wichtig, Junge«, fuhr der Magier mit strenger Stimme fort. »Du musst mir sagen, wie du das gemacht hast. Wie ist dir diese Übertragung gelungen?« William runzelte die Stirn. »Also ich glaube, ich habe versucht mit dem Denken aufzuhören – denn das Denken ist einem immer im Weg, nicht wahr?« »Weiter«, murmelte der Magier. »Aber… als es passierte…. war ich zornig, glaube ich. Erinnern Sie sich an Ihr Pendel? Die Krähe hat es mir gestohlen. Ich wollte es zurückhaben. Ja, ich war böse. Wissen Sie, die Krähe hatte uns nämlich schon einmal angegriffen. Sie ging auf Alice los und später im Baumhaus dachte ich, sie hätte es auf uns beide abgesehen. Aber ich habe sie aufgehalten.« »Wie hast du das geschafft?« »Ich habe ihr irgendwie einfach befohlen… aufzuhören.« »Und sie hat dir gehorcht?« »Ja, das hat sie«, sagte Alice. »Ich war auch da. Ich habe es gesehen.« »Sie war gemein und böse und ich habe die Beherrschung verloren. Wir hatten ihr gar nichts getan, wissen Sie. Als sie mir dann das Pendel aus der Hand schnappte, da wollte ich es einfach zurück. Mehr ist nicht passiert.« Der Magier brummte tief in Gedanken. »Aber wir waren schon vorher in Tieren«, fuhr William fort. »Es war nichts besonders Neues…« »Aber du sagst, du hast Morten gesehen…?«, sagte Stephen Tyler. »Ja. Die Krähe war auf dem stehenden Stein und deshalb war ich auch irgendwie da – weil ich durch die Augen der Krähe sehen konnte. Wir hatten das Pendel im Schnabel und… plötzlich… habe ich ihn gesehen. Ich habe vermutet, dass er es war. Er trug rote Kleidung und hatte sehr schwarze Haare…« »Genau!«, rief der Magier erfreut. »Du hast mehr erreicht als mein Assistent in acht Jahren. Aber mehr als das – die Magie ist immer noch wirksam. Es ist nicht zu spät. Gut gemacht, William! Ihr habt eure Sache alle sehr gut gemacht…« Er hörte mitten im Satz auf zu sprechen, schwang herum und sah William streng an. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, was du willst, was du
wirklich willst.« »Ich will gar nichts«, erwiderte William atemlos. »In dem Fall wirst du auch nichts erreichen«, fauchte der alte Mann. »Nicht gut genug, fauler Schüler! Denk noch einmal nach.« »Ich will Morten aufhalten«, sagte William. »Und ohne Zweifel will Morten dich auch aufhalten. Nicht gut genug. Dabei gibt es nur eine Aktion und eine Reaktion. Noch mal. Was willst du, William? Was willst du wirklich?« William ließ den Kopf hängen. Mary rückte ein bisschen näher zu ihm. Er tat ihr Leid und sie konnte nicht verstehen, warum der Magier so zornig war. »Minimus – sag es ihm! Mach schon«, fauchte der Magier und schüttelte den Kopf, als ob er empört über William wäre. Alice stockte der Atem. »Ich?«, rief sie aus. »Ich weiß doch nicht, was er will.« »Nicht er! Du, Kind. Was willst du? Hör mir zu. Als du dich allein oben auf den Dunklen und Schrecklichen Weg gewagt hast – wofür hast du das getan?« »Für die Dachse«, antwortete Alice. »Die Männer mit den Hunden wollten sie umbringen!« »Gut!«, brüllte der Magier. »Und ihr alle, als das Kind an Weihnachten geboren wurde, warum habt ihr euer Leben im Schneesturm riskiert? Warum hast du, Mary, ganz allein und ohne Hilfe ein Baby auf die Welt geholt, obwohl du noch nie gesehen hattest, wie ein Kind geboren wird?« »Ich war nicht allein. Jasper war bei mir…« »Nicht so kleinlich, Kind! Warum hast du es getan?«, rief der Magier. »Also, das ist doch wohl klar! Irgendjemand musste es doch tun!« »Endlich!«, schrie der Magier erfreut. »Ihr habt es dem Kind zuliebe getan, nicht wahr? Oder den Dachsen zuliebe? Das stimmt doch, oder? Also… Jetzt soll mir einer von euch sagen… warum wir die Leute aufhalten müssen, die unser wunderschönes Tal zerstören wollen. Warum, William, warum?« »Weil sie das nur zu ihrem eigenen Nutzen tun wollen. Damit sie Geld herausholen können…« »Weil sie uns diesen heiligen Ort nehmen und für sich zu Gold machen wollen«, sagte der Magier ruhig. »Sie verschwenden keinen Gedanken an die Tiere, an die Vögel, an die Fische im See. Sie kümmern sich nicht um Veilchen oder Schlüsselblumen, um blühen-
de Kirschbäume oder mächtige Eichen. Sie sehen in ihm nur einen Ort, den sie besitzen, verändern und zerstören können – zu ihrem eigenen Gewinn, ohne Rücksicht auf das Leben, das Wohlergehen, die Zukunft der Bewohner dieses Landes oder auch nur des Landes selbst. Also, gegen was genau sind wir, Kinder? Wogegen müssen wir kämpfen? Gegen selbstsüchtige Taten. Gegen die Missachtung des Allgemeinwohls. Das ist alles. Denkt darüber nach. Selbstsüchtiges Verhalten ist die Wurzel allen Leidens. Die Menschen töten aus Gier. Die Menschen töten für Gold. Die Menschen sterben für Gold. Kinder verhungern… die Erde vertrocknet… alles im Namen der Gier. Dieses Tal darf nicht genauso zerstört werden. Denn wenn es verschwunden ist, gibt es auf diesem großen Globus einen Ort weniger, der so ist, wie die Natur ihn gewollt hat. Seht euch hier die Gesellschaft der Freunde an«, sagte er und zeigte auf die Tiere ringsum. »Haben sie nicht auch das Recht, in ihrem Land zu leben? Und wenn wir sie verleugnen, jedes einzelne dieser Mitgeschöpfe, sind wir dann nicht in Gefahr, selbst verleugnet zu werden? Wer zerstört, soll zerstört werden. Wer Leiden verursacht, soll selbst leiden. Es ist nur eine sehr kleine Bitte, die ich an dich habe, William, und an dich, Minimus, und auch an dich, Mary mit dem großen Herzen – obwohl ich glaube, dass der Augenblick eurer großen Prüfung nach meiner Zeit liegt. Erhaltet Golden Valley für die nächsten Generationen, dann wird eure Aufgabe erfüllt sein. Und wenn ihr eure Aufgabe erfüllt, wird die Alchimie vollendet sein. Meidet Eigennutz, ehrt die Gerechtigkeit, handelt wahrhaftig. Das ist alles, was nötig ist. Ihr habt alles, was ihr braucht. Das Pendel, das ich euch überlassen habe, wird euer Prüfstein sein. Passt gut darauf auf! Denkt daran, ihr braucht Gold, um Gold zu machen. Das Pendel ist euer Gold. Die Tiere werden euch helfen. Sie sind eure Freunde. Schützt den Besitz vor gierigen Händen, damit ich in meiner Zeit zufrieden sterben kann und weiß, dass ich meine Aufgabe erfüllt habe. Tut es für mich, Kinder, nicht für euch. Tut es für mich und ihr werdet meine konstante, beständige Dankbarkeit gewinnen. Konstant? Das ist doch euer Name, glaube ich. Ihr Constant-Kinder – jetzt habt ihr die Gelegenheit, euch diesen großen Namen zu verdienen. Ruft mich, wenn ihr die große Aufgabe gemeistert habt…« Damit verschwand er und die Kinder standen allein inmitten Tausender schimmernder Augen. »Sag uns, was wir tun sollen, William!«, schrie Jasper. »Wieso ich?«, rief William. »Ich habe keine Ahnung.«
»So geht es uns mit dem Meister auch oft«, flötete Jasper. »Er lässt einen sprachlos zurück. Aber ich habe mit den Jahren herausgefunden, dass er nie etwas von einem verlangt, was man nicht leisten kann.« William blickte ihn zweifelnd an. »Ich weiß noch nicht mal, wo wir anfangen sollen«, stammelte er. »Benutz das Pendel«, wisperte Spot und kratzte sich hinter dem Ohr, als ob er verbergen wollte, dass er William vorsagte. Aber sein Rat beunruhigte William nur noch mehr. »Das kommt noch dazu«, sagte er zögernd. »Ich habe es nicht.« Bei diesen Worten begann die ganze Gesellschaft zu murmeln, zu fauchen, zu piepsen und zu kreischen. »Du hast es nicht?«, fragte Jasper traurig. »Nein. Ich fürchte, es ist immer noch oben auf dem stehenden Stein«, sagte William. »Da hab ich es fallen lassen, als ich Morten begegnet bin…« »Dann schlage ich vor genau da anzufangen«, sagte Cinnabar, der Fuchs. »Komm, Will.« Und während er noch sprach, sprang er auf William zu und warf ihn um. Als William sich wieder aufrichtete, stand er auf vier Pfoten und fühlte, wie sein Körper vor Tatendurst prickelte. Dann schoss er mit einem Schlag seines rotbraunen Schwanzes auf den dunklen Tunnel und den Wasserfall dahinter zu.
17 Der Kampf um Golden Water Nach der Dunkelheit in der Höhle war das Licht draußen blendend hell. Der Fuchs trottete den schmalen Felsvorsprung entlang. Am Ufer des Flusses blieb er einen Moment lang stehen und spürte, wie die feine Gischt des Wasserfalls seinen Pelz durchnässte. William blickte über seine Schulter Cinnabars geschmeidigen, roten Rücken entlang und sah Vögel aller Arten hinter dem Wasserfall hervorflattern. Gleichzeitig liefen, hoppelten und trippelten die anderen Tiere über den Vorsprung – Wiesel und Kaninchen, ein Eichhörnchen, Bawson, der schwerfällige Dachs, eine Gruppe piepsender Feldmäuse, ein paar Kröten und mitten in dieser seltsamen Gesellschaft folgte ihnen Spot mit Mary und Alice. Die Ente watschelte hinter ihnen her, und als sie den Fluss erreichte, flatterte sie davon. Einen Moment später erschien Lutra und rannte auf seinen kurzen, dicken Beinen zum Ufer. »Bis später am Golden Water«, rief er und sprang mit einem fröhlichen Winken über den Felsrand. Sie sahen seinen biegsamen Körper im schäumenden Wasser am Fuß von Golden Spring verschwinden. »Wir müssen weiter«, rief Cinnabar. Aber bevor er sich noch umdrehen konnte, erschien Jasper und segelte lautlos auf breiten Schwingen aus der Höhle. »Warte, Fuchs!«, schrie er. »Wir brauchen einen Plan.« »Der Plan ist«, erwiderte Cinnabar, »das Pendel zu holen und dann einen Plan zu machen!« Und bevor die Eule weiter mit ihnen diskutieren konnte, drehten er und William sich um und sausten den steilen Hügel hinunter. Spot drängte sich dicht an Alice und stieß sie ungeduldig mit der Nase an. »Wenn wir noch lange hier rumhängen«, wisperte er in ihren Gedanken, »dann haben wir Jasper am Hals – und er redet wieder stundenlang.« »Wir gehen mit William, Mary«, sagte Alice schnell. Sie griff nach dem Hund und sah, wie ihre Hand als Pfote das Gras berührte, als sie in Spots Körper geschlüpft war. Zusammenjagten sie hinter
dem Fuchs über den grünen, schwammigen Boden davon. »Das ist alles gegen die Regeln«, schrie Jasper. »Wir müssen Pläne machen.« »Vielleicht hat Cinnabar dieses Mal Recht«, sagte Mary diplomatisch. »Wir müssen das Pendel zurückbekommen, bevor irgendjemand anders es findet.« »Wohl wahr!«, rief Jasper verstimmt. »Der Assistent, zum Beispiel. Es kann wer weiß was passieren, wenn es in seine Hände gerät.« In diesem Moment hörte Mary eine raue, kehlige Stimme ihren Namen rufen und blickte überrascht auf. »Du kommst mit mir!«, krächzte die Stimme und die große, schwarzweiße Elster, die sie schon in der Höhle gesehen hatte, schlug mit den Flügeln und landete zu ihren Füßen. »Mary«, erklärte Jasper etwas von oben herab, »dieser Vogel ist die Elster des Magiers. Der Magier nennt sie Pica. Er benutzt sie bei zweifelhaften Unternehmungen.« »Sie sind überhaupt nicht zweifelhaft, du hochnäsiger Uhu! Er braucht mich, um Dinge zu sammeln. Ich bin besonders gut darin, Gold zu finden. Du wirst noch sehr froh sein, dass du mich kennst. Jetzt komm, Mary…« »Gut…«, sagte Mary zweifelnd. »Du willst doch den Spaß nicht verpassen, oder? Wenn die Freunde des Assistenten dabei sind, kann alles Mögliche passieren.« Pica gluckste vergnügt in sich hinein. »Ich bin in der Stimmung für einen kleinen Kampf!« »Noch etwas solltest du über Pica wissen«, schrie Jasper geringschätzig. »Er ist so etwas wie ein Schläger. Er fängt immer Streit an.« »Und du freust dich immer, wenn ich dich retten komme – du jämmerlicher, alter Rattenfänger! Komm schon, Mary. Lassen wir den alten Windbeutel stehen.« »Nein«, sagte Mary zweifelnd. »Ich sollte wirklich bei Jasper bleiben. Er ist mein Freund.« »Bleib bitte nicht meinetwegen«, schrie die Eule. »Jetzt komm schon«, murrte Pica. »Wenn wir hier noch lange stehen und schwätzen, kann es schon zu spät sein.« »Gut…«, sagte Mary wieder. »Vielleicht solltest du tatsächlich mit Pica gehen, Mary«, riet Jasper mit trauriger Stimme. »Bei Tageslicht bin ich nicht so auf der
Höhe.« »Gut…«, wiederholte Mary zum dritten Mal. »Gut?«, raspelte eine Stimme in ihrem Kopf. »Ziemlich gut, danke sehr! Und wie geht es dir heute?« Und mit einem rauen, freudlosen Glucksen streckte Pica seine Flügel aus und gemeinsam glitten beide vom Boden in die dunstige Luft hinauf. »Oh!«, rief Mary erschocken, als der Boden unter ihr zurückwich. »Du fliegst doch nicht zu hoch, oder?« »Hoch?«, krächzte Pica. »Fliegst du nicht gern?« »Ehrlich gesagt mache ich es nicht sehr oft«, wisperte Mary. Sie schloss vor Schreck die Augen, als Pica zu einer steilen Kurve ansetzte. Der Blick auf Golden Water kippte plötzlich zur Seite und ihr wurde ziemlich schlecht. »Entspann dich einfach«, wisperte der Vogel in ihrem Kopf. »Es gibt nichts Schöneres, als durch die helle Luft zu segeln. Oho!«, rief er plötzlich und Mary fühlte, wie ihr Körper herumschwang und ihre Flügel schlugen, als sie und Pica höher und höher in die Luft über dem See stiegen. »Was ist?«, keuchte sie. »Gesellschaft!«, krächzte Pica. Da sah Mary schon die große Krähe auf sie zufliegen. »Ist es Morten?«, fragte sie. »Schwer zu sagen«, antwortete Pica. »Am besten weichen wir ein bisschen aus, glaube ich.« Er flog einen großen Bogen und ließ sich dann wieder hinunter zum Wasser fallen. Unter sich sahen sie Cinnabar und Spot am Seeufer entlangjagen. Irgendwo über ihnen konnte Mary die Krähe krächzen hören. Pica blickte über die Schulter zurück und Mary sah den großen, schwarzen Vogel auf einer Luftströmung zum fernen Ufer von Golden Water segeln. Wieder krächzte er laut und böse. Aber dieses Mal folgte ein schwacher Antwortruf. Und dann noch einer… und noch einer. Ein ganzer Chor krächzender Töne kam aus der Richtung des dunklen Tannenwaldes, der sich bis zum Horizont erstreckte. Und als Mary und Pica die Bäume beobachteten, löste sich eine schwarze Wolke aus den Tannen, stieg in die Luft und bewegte sich schnell auf sie zu. »Was ist das?« »Verstärkung«, erwiderte Pica grimmig, drehte ab und hielt auf das Ende des Sees zu, wo gerade noch der stehende Stein und die Eibe oben auf dem Hügel dahinter auszumachen waren. Hinter ihnen krächzte die Krähe unheilvoll weiter. Jetzt schien ihr
Ruf von einem schrecklichen Summgeräusch aus dem Buchenwald auf der Four-Fields-Seite des Sees beantwortet zu werden. »Was ist das?« »Noch mehr von Mortens Freunden«, wisperte Pica. Cinnabar war fast am Ende des Sees angekommen, als die Hornissen angriffen. Der zornig summende Schwarm kam aus dem Buchenwald, flog um seinen Kopf herum und zielte auf seine Augen. »Was ist das?«, schrie William. »Wespen – so eine Art Wespen. Eigentlich Hornissen«, antwortete Cinnabar. Er zuckte zusammen, als eines der Insekten ihm durch sein dickes Fell stach. »Au!«, rief William und schlug mit einem schmerzenden Hinterbein aus, um eine zweite Hornisse abzuschütteln, die gerade zugestochen hatte. »Wir müssen zum Wasser«, rief Cinnabar. »Können Füchse schwimmen?«, wunderte sich William. »Wenn wir müssen«, antwortete Cinnabar in seinem Kopf, und als ob er es beweisen wollte, sprang er einen Augenblick später in das eisige Wasser und schüttelte die schrecklichen, krabbelnden Insekten von seinen Beinen und seinem Rücken. Spot war noch ein Stück hinter Cinnabar, als er den Hornissenschwarm sah. Schnell wich er aus und lief zu den Ginsterbüschen am Rand des Buchenwaldes hinüber. »Was ist los, Spot?«, wisperte Alice in seinem Kopf. »Schhh!«, zischte der Hund leise. Dann legte er sich auf den Bauch, robbte im Schutz der dichten Blätter weiter und wandte sich dabei zum See. Sie konnten sehen, wie Cinnabar von dem gefährlich brummenden Schwarm angegriffen wurde, und beobachteten, wie er umdrehte und zum Wasser lief. Das ist Mortens Werk, dachte Spot. Da hörten sie Picas verweifelte Schreie. Die Elster war von mehreren Krähen umringt, die mit Schnäbeln und Klauen nach ihr hackten. »Das ist Pica«, knurrte Spot grimmig. »Gehört er zu uns?«, fragte Alice. »Pica?« Spot klang überrascht. »Pica ist die Elster des Magiers. Der Meister hält große Stücke auf den Vogel. Wir müssen versuchen ihm zu helfen.« »Aber wie?«, rief Alice. Als Spot ein Stückchen weiterrobbte,
blickte sie am Ufer des Sees entlang. Wo Mary nur steckt?, dachte sie. »Pica! Hinter uns«, schrie Mary, als sie und der Vogel unter den Klauen einer Krähe wegtauchten. Pica blickte zurück. Der Himmel war schwarz vor Vögeln. »O nein!«, stöhnte er. »Stare. Ich hasse Stare. Sie kämpfen mit allen Tricks.« Da kam auch schon der erste auf sie zugeflogen. Er zwitscherte schadenfroh, als er mit seinem Schnabel auf die verwundbare Unterseite der Elsternflügel zielte. Pica stieß mit dem Fuß nach ihm und ließ sich tiefer fallen. Er flog dicht über der Wasseroberfläche und eine der Krähen, die für einen neuen Angriff zurückkam, verfehlte ihr Ziel knapp und landete mit einem Platsch im Wasser. »Gut, Pica!«, kreischte Mary. Dann mussten sie ihre Kräfte sammeln, denn im selben Moment wurden sie von zwei weiteren Staren angegriffen. »Wir brauchen Verstärkung«, murmelte Pica. »Sirius!«, krächzte er. »He, Sirius!« Als Spot seinen Namen rufen hörte, sprang er auf und sauste hinunter zum Seeufer. »Was?«, jaulte er aufgeregt. »Du sollst bellen, verdammt noch mal!«, schrie Pica. »Die anderen müssen wissen, dass wir sie brauchen! Bell wie der Teufel, Sirius!« »In Ordnung!«, murmelte Spot. »Das kann ich gut. Bist du bereit, Alice? Wenn ich belle, bekommst du bestimmt Kopfschmerzen!« »Nein, warte…«, rief Alice drängend. Sie hatte gerade gesehen, wie William aus dem See watete, dabei nach den Hornissen schlug und sich das Hemd vom Leib riss. Cinnabar schwamm jetzt weit draußen und es sah so aus, als wäre William ins seichte Wasser zurückgekommen, um die Insekten vom Fuchs wegzulocken. »William!«, rief Alice und gleichzeitig sah sie, wie Spot den Kopf hob und anfing laut und unaufhörlich zu bellen. Alice, wieder von Spot getrennt, rannte zu William, der schnell auf den stehenden Stein zuhielt. »Alice!«, rief er keuchend über die Schulter. »Ich brauche deine Hilfe.« Alice holte ihren Bruder am Abhang zum stehenden Stein ein. Ein paar Hornissen brummten noch herum, aber sie schienen sich nicht mehr für ihn zu interessieren und griffen auch Alice nicht an.
»Ich komme nicht allein an die Spitze des Steines heran«, keuchte William und rang nach Atem. »Du musst dich auf meine Schultern stellen. Schaffst du das?« »Ich glaube schon«, erwiderte Alice. Aber ihre Stimme klang zweifelnd. William ging vor dem Stein in die Hocke und Alice gelang es nach ein paar Versuchen tatsächlich, auf seinen Schultern zu stehen, indem sie sich mit beiden Händen am Stein festhielt. William stand langsam auf und benutzte den Stein dabei ebenfalls als Halt. »Wenn du die Spitze erreichen kannst«, keuchte er, »taste sie mit deinen Händen ab. Das Pendel muss in einer Art Mulde irgendwo mitten auf dem Stein liegen.« »Ja«, flüsterte Alice, »ich versuche es…« Das letzte Wort ging in einem verzweifelten Schrei unter, als sie fast von seinen Schultern fiel. Sie packte den Stein und brachte sich wieder ins Gleichgewicht. »Alles klar?«, fragte William. »So ziemlich«, erwiderte sie angespannt. Pica sah die Kette glitzern, als er sich gerade höher in die Luft schwang. Er wurde von drei kleinen Staren verfolgt, die nach ihm pickten und ihn nicht entkommen lassen wollten. Da ist es, dachte er und Mary, die durch seine Augen sah, wurde von dem leuchtenden Glanz des Goldes in der Sonne fast geblendet. »Hol es, Pica«, rief sie. »Hol es.« Pfeilschnell schoss Pica auf den stehenden Stein zu, die Stare dicht hinter sich. Einen Moment lang waren er und Mary vom Anblick des Pendels abgelenkt und sahen nicht, wie Corvus, die große Krähe, sich vom Himmel herab auf sie stürzte. »Kräh!«, schrie Corvus, als er die Sonne auf dem Stück Gold blitzen sah. Er war im Vorteil. Er lachte keckernd, als er tiefer flog, Pica den Weg abschnitt und Schnabel und Krallen vorstreckte. Alice zitterte wie Espenlaub und klammerte sich an den Stein, an dem sie sich in die Höhe reckte. Zentimeter um Zentimeter kam sie näher an die Spitze, bis sie sie schließlich sehen konnte. »Ich bin oben, Will!«, rief sie triumphierend, schlang einen Arm um den Stein, um sich festzuhalten, und tastete ihn nach dem Pendel ab. »Kräh!«, schrie Corvus ihr ins Ohr. Keuchend drehte Alice sich um und sah die große Krähe nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. »Diesmal gehört es mir!«, krächzte die Krähe böse, hob eine
Kralle und zerkratzte Alice die Hand, mit der sie gerade die glatte Oberfläche des Goldstückes packen wollte. Alice schnappte nach Luft vor Schmerz. Ihre Hand fühlte sich an, als hätte ihr ein Messer ins Fleisch geschnitten. »Alice?«, rief William verzweifelt von unten, weil er nicht sehen konnte, was passierte, und ihr Gewicht schwer auf seinen Schultern lastete. »Alice? Bist du in Ordnung? Was ist los?« Alice biss die Zähne zusammen und verkniff sich die Tränen. Sie war plötzlich von einer ungeheuren Wut erfüllt. »Verschwinde!«, schrie sie. Sie schlug mit ihrer freien Hand nach dem Vogel und hielt mit der anderen immer noch das Goldstück umklammert. Die Krähe drehte sich mit glühenden Augen zu ihr um und hackte erbarmungslos weiter auf sie ein. Mit einem Schmerzensschrei ließ Alice das Pendel los und ließ es zurück in die Mulde auf der Spitze des stehenden Steines fallen. Das war Picas Chance. Während Corvus noch Alice angriff, stürzte er auf den Stein hinunter und schnappte sich die Goldkette an einem einzigen Kettenglied. Dann hob er sich mit aller Kraft senkrecht vom Stein empor und entschwand hoch in die Luft. Das Pendel hing blitzend und blinkend von Picas Schnabel herab. Corvus blickte in die Höhe und sah, dass es ein Leichtes sein würde, Pica das Pendel abzujagen. Er öffnete seinen Schnabel und schnappte nach der Kette. Aber Pica ließ nicht los und so zerrten sie von beiden Seiten an der Kette, verzweifelt darum bemüht, die Oberhand zu gewinnen. Schließlich drehte Pica entschlossen ab und flog in Richtung Golden Water. Aber er konnte Corvus weder abschütteln noch ihn dazu bringen, die Kette loszulassen. Falco hörte Spots nachdrückliches, unaufhörliches Bellen, als er träge über den großen, grünen Wald schwebte und sich gelegentlich nach einem Häppchen zu essen umsah. Er wandte sich gemächlich um, nur wenig neugierig auf das, was so viel Aufregung verursachen könnte. Aber als das Wasser des Sees am Horizont glitzerte, machten seine scharfen Augen die Stare und Krähen aus, die über eine einzelne Elster herfielen. Der große Turmfalke bog seine Flügel und segelte auf dem Wind zum Zentrum des Kampfes, nun doch neugierig darauf, um was es eigentlich ging. Als er näher kam, merkte er, dass die Elster Pica war und dass er sich in großen Schwierigkeiten befand. Wie ein Stein fiel Falco vom Himmel und seine Augen kon-
zentrierten sich auf die Mitte des schwarzen Nackens der Krähe. Pica und Mary verloren an Kraft. Corvus holte immer weiter auf, indem er Glied für Glied der Kette in seinen Schnabel zog, bis die Vögel fast Kopf an Kopf flogen. »Nun, Pica«, krächzte die schwarze Krähe rau und spöttisch durch ihren zusammengepressten Schnabel. »Diesmal gewinnt mein Meister, glaube ich…« Aber in diesem Moment stürzte sich Falco aus großer Höhe auf die Krähe und tötete sie mit einem einzigen Schlag seiner Krallen. Corvus glitt die Kette aus dem Schnabel. Pica war völlig überrascht, als die Spannung plötzlich nachließ. Er wurde fortgerissen, kippte gefährlich zur Seite, und als er erschrocken Luft holte, öffnete er seinen Schnabel. Die goldene Kette mit dem glatten Goldstück fiel wie eine glitzernde Schlange in den See. Am Ufer rannte William mit einem Schrei vorwärts. Er sah, wie der Turmfalke auf die Krähe zuschoss. Er sah die Krähe fallen und trudelnd ins Wasser stürzen. Er hörte das überraschte Krächzen der Elster und ganz zuletzt sah er den kostbaren Besitz, den Grund des Kampfes, seine Hoffnung für die Zukunft, das goldene Pendel des Magiers, glitzernd und funkelnd in den See fallen und in seinen Tiefen verschwinden.
18 Meg schließt sich an William war verzweifelt. Er fühlte sich gleichzeitig wütend, enttäuscht und furchtbar elend. Das Schlimmste war das Gefühl, schrecklich versagt zu haben. Er schlenderte langsam mit den Händen in den Hosentaschen am Seeufer entlang und kickte Steine vor sich her. Die Vögel zerstreuten sich allmählich. Das irritierende Gezwitscher der Stare wurde leiser, als sie in einem Bogen zum fernen Tannenwald abdrehten. Einige wenige Krähen zogen noch aufgeregt krächzend ihre Kreise, verschwanden dann aber eine nach der anderen dorthin, woher sie gekommen waren, als Corvus sie zum Kampf gerufen hatte. Falco schwebte auf der warmen Luft und schraubte sich höher und höher in den blauen Himmel. »Ki-ki!«, rief er und das Tal warf das Echo seines klagenden Lautes zurück, bevor es sich in den fernen Hügeln verlor, die nur er sehen konnte. Während Falco seine Runden zog, ließ sich Pica auf einem flachen Felsen nieder, der vom Ufer in den See ragte. »Tut mir Leid«, wisperte er. Mary spürte, dass sie ihn endlich verlassen konnte, und wusch sich im Wasser das Blut von einer Wunde an ihrem Arm. Sie war zu mitgenommen zum Sprechen und zu müde, um irgendetwas zu tun. Die Haare auf ihrem Hinterkopf klebten zusammen. Sie spürte, dass dort eine weitere Wunde verkrustete. Ihre Beine waren zerkratzt und auf ihrer Stirn pochte eine Beule. Die Elster hockte etwas von ihr entfernt und beobachtete sie. Zwei ihrer Schwanzfedern standen schräg ab und von einem Flügel tropfte Blut. Eine kleine Stichwunde über einem Auge glänzte gegen das Nachtschwarz ihrer Kopffedern. Pica lachte laut auf. »Das war ein Kampf!«, rief er zufrieden. »Wir haben uns nicht schlecht geschlagen, wenn man die Zahl unserer Gegner bedenkt!« Er richtete sich stolz auf, doch als er seine Flügel streckte, zuckte er vor Schmerz zusammen. »Obwohl wir in Falcos Schuld stehen! Wir waren schon fast erledigt, als er kam. Peinlich! Ich bin ihm nicht gerne was schuldig. Er und ich sind normalerweise auch nicht gerade
die besten Freunde. Er kommt meistens einfach und holt sich mein Essen, wenn ich mit der ganzen Arbeit fertig bin.« Er hielt ein, sah sich um und hatte plötzlich eine Idee. »Da wir gerade von Essen reden… Gehen wir uns doch eine Maus oder so was holen. Ich bin ziemlich hungrig. Komm mit…« »Nein!«, schauderte Mary und unterdrückte ein Gefühl der Übelkeit, als sie sich daran erinnerte, wie sie einmal mit Jasper auf die Jagd gegangen war. »Geh allein, Pica. Ich mag Mäuse nicht besonders gerne.« »Du bist in Ordnung«, knarzte der Vogel mit seiner rauen, harten Stimme. »Ja, ja«, erwiderte Mary. »Mir geht’s gut. Ich will mich nur… hier ausruhen…« »Nein. Ich habe nicht gefragt – ich hab es dir gesagt«, krächzte Pica. »Du bist in Ordnung, Mary. Ich mag dich. Der Meister hat gut gewählt. Ich mag nicht viele Menschen. Das tun Elstern nicht. Ihr und wir passen nicht zusammen. Aber… dich mag ich. Wenn du jemals wirklich in der Klemme sitzt – ruf einfach nach Pica…« Damit flog er in Richtung des Buchenwaldes davon. »Nein, geh noch nicht, Pica… bitte!«, rief Mary ihm nach. »Das Pendel. Wir müssen versuchen es zurückzubekommen.« »Ich schwimme nicht«, krächzte der Vogel. »Frag Lutra – das fällt mehr in sein Fach.« Mary drehte sich um und betrachtete die glatte Oberfläche des Sees. Lutra war nirgendwo zu sehen. Alice saß mit dem Rücken gegen den stehenden Stein gelehnt auf dem Boden. Der Schnitt auf ihrer Hand hatte aufgehört zu bluten, aber ihr Arm klopfte von den Stichwunden, die die Krähe ihr mit ihrem Schnabel zugefügt hatte. Alice zog die Nase hoch und wischte sich mit einer Hand die Tränen von der Wange. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte. Vor ihr streckte sich die ruhige Fläche des Sees und spiegelte den blauen Himmel und die fernen Bäume. Spot stand am Ufer und schlabberte Wasser. Seine Kehle war rau vom Bellen und seine Schulter schmerzte von einem Hornissenstich. Er drehte sich um, leckte seine Wunde und sah Mary auf dem Fels weiter unten am See sitzen. »Mary!«, bellte er und paddelte durch das Wasser zu ihr. »William!«, rief Alice. »Da ist Mary.« Sie stand auf und ging langsam zu ihrer Schwester hinunter an den See. William war in die entgegengesetzte Richtung gegangen und ent-
deckte Mary erst, als er schon ziemlich weit von ihr entfernt war. Für ihn sah es aus, als säße sie friedlich und faul am Ufer des Sees. Es war typisch für Mary, einfach so zum Spaß in der Sonne zu liegen, dachte er. Es machte ihn wirklich wütend. Er konnte nicht glauben, dass sie überhaupt nichts gemerkt haben sollte, dass sie so völlig mit sich selbst beschäftigt gewesen war und das Schreckliche, das gerade passiert war, nicht mit ihm teilen konnte. Er drehte sich um und lief auf sie zu. »Wo warst du, Mary? Was hast du gemacht?«, schrie er. »Wir hätten dich dringend gebraucht! Gehörst du zu uns oder nicht?« Sein Zorn war nicht zu bremsen und machte seine Stimme schrill und hässlich. Als er näher kam, hätte er sie am liebsten geschlagen. Sie saß gemütlich auf dem Felsen, stützte sich auf einen Arm und zog ihre Hand durch das Wasser. »Wir sind hier nicht beim Picknick, weißt du?«, brüllte er sie an. »Wenn du hier gewesen wärst und uns geholfen hättest, dann wäre vielleicht nichts von all dem geschehen…« Aber als er bei dem Stein ankam und Mary sich umdrehte, sah er das Blut, die Wunden und Kratzer, ihr wild zerzaustes Haar und die Beule auf ihrer Stirn. Sie saß gar nicht faul in der Sonne, sie zitterte und schluchzte und große Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was ist passiert?«, murmelte William beschämt. »Sie ist in dem schwarzweißen Vogel geflogen«, wisperte Alice und legte einen Arm fest um Mary. »Pica«, sagte Spot. »Die Elster des Magiers. Sie war die ganze Zeit bei ihm – mitten im Kampf.« »Arme Mary!«, seufzte William, und weil er sie nicht mehr länger ansehen konnte, kauerte er sich hin und starrte über den See. »Wir können nicht nach Hause, so wie wir aussehen«, sagte er zu sich selbst. »Phoebe kriegt Zustände. Und überhaupt – wie sollen wir das ganze Durcheinander erklären?« »Wir könnten sagen, wir hätten gekämpft«, schlug Alice vor. »Mit wem?« Sie zuckte die Schultern. »Was wird passieren?«, murmelte Mary zaghaft. »Passieren?«, wollte William wissen. »Ohne das Pendel!«, schluchzte Mary und kämpfte gegen die Tränen. »Weiß ich nicht«, erwiderte William seltsam schroff. »Darum können wir uns jetzt nicht kümmern. Wir sollten dich zu einem Arzt
bringen, Mary.« »Wie denn?«, fragte seine Schwester bitter. »Was sollen wir ihm denn sagen? Dass ich von einer Schar Vögel angegriffen worden bin? Er würde uns für verrückt halten!« »Wenn ich mich verletzt habe, gehe ich immer nach Four Fields«, jaulte Spot. »Meg weiß, was zu tun ist. Und überhaupt gehe ich da jetzt hin«, erklärte er und lief los. »Ich bin gestochen worden.« »Wohin?«, fragte William. »Auf meine Schulter.« »Nur einmal?«, fragte William. »Da hast du Glück gehabt!« Er zog sein Hemd aus und zeigte ihnen die großen, roten Flecken auf seinem Rücken. »William!«, rief Mary aus. »Das sieht schlimm aus. Tut es weh?« »Natürlich tut es weh«, fauchte William. »Du bist sehr tapfer«, sagte Alice und sah sich die Stiche mit großem Interesse an. »Ich habe schon gehört, dass Leute daran gestorben sind, weil sie so oft gestochen wurden.« »Danke, Alice!«, knurrte William. »Aber sie hat Recht«, sagte Mary. »Die Stiche könnten wirklich gefährlich sein.« »Also kommt mit«, bellte Spot ungeduldig, lief ein paar Schritte auf den Buchenwald zu und blickte sich wieder um. »Meg kann uns bestimmt helfen.« Trotz des warmen Wetters war es in Megs Küche kühl und düster. Es gab nur ein winziges Fenster, das so von Efeu überwuchert war, dass kaum noch Licht hindurchkam. Der Raum war voll gestopft mit Möbeln, Geschirr, Bergen von alten Zeitungen, Büchern, Garnrollen, leeren Konservendosen, Flaschen und dem angehäuften Kram unzähliger Jahre. Eine Henne saß oben auf einem alten Mantel und in einem Kochtopf schlief eine Katze. Meg hatte in dem einzigen gemütlichen Sitzmöbel ein Nickerchen gemacht. Es war ein abgewetzter Sessel, der so aussah, als hätte er einmal zu einer Sitzgruppe gehört. Die Federung war schon lange zerbrochen und die Füllung quoll aus einem Loch in der Rückenlehne, aber er war mit seiner Besitzerin alt geworden und hatte sich an Megs Figur angepasst. Deshalb machte sie hier tagsüber oft ein Schläfchen, wenn sie nicht nach ihren Tieren sehen musste. Die Kinder hatten vergeblich an der Haustür nach ihr gerufen. Sie dachten schon, sie wäre nicht da. Aber Spot drängte sich an ihnen vorbei und führte sie in die Küche. Meg fuhr erschrocken aus einem
Traum auf, den sie sofort vergaß, und blickte durch das dämmrige Licht in drei Gesichter. »Was ist?«, fragte sie und stand schnell auf, als ob es ihr peinlich wäre, beim Schlafen erwischt worden zu sein. »Ich habe euch nicht gehört.« »Tut uns Leid, Meg«, sagte William. »Wir wollten dich nicht wecken. Wir haben von draußen gerufen…« »Ich war wahrscheinlich… meilenweit weg«, sagte Meg und füllte Wasser in den Kessel. »Wollt ihr eine Tasse Tee?«, fragte sie und zündete einen Primuskocher mit dem Streichholz an. »Im Moment benutze ich diesen Ölkocher. Es ist zu heiß, um Feuer im Herd zu machen. Ich habe Phoebe gesagt, sie sollte sich auch einen besorgen…« Mitten in ihrem geschäftigen Hin und Her – Plätze für sie frei zu räumen, damit sie sich hinsetzen konnten, drei Tassen zu finden, die nicht zu angeschlagen waren – fiel ihr plötzlich die Beule auf Marys Stirn auf. »Um Himmels willen, Kind! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«, rief sie, und als sie es sich näher ansah, entdeckte sie die Kratzer und Schnitte auf Marys Armen und Beinen und dann den hässlichen Riss auf Alices Hand. Meg fuhr zurück und blickte die drei Kinder stirnrunzelnd an. »Ihr seid nicht gekommen, um Tee zu trinken, oder? Was ist mit euch passiert?« »Wir… sind von einem Felsen gefallen«, sagte William hastig. »Wir haben gekämpft«, antwortete Alice im selben Moment. »Und haben sich diese beiden Ereignisse gleichzeitig abgespielt – oder nacheinander?«, fragte Meg ruhig. »Kommt mit, raus zum Licht. Ich sollte mir euch alle wohl einmal genauer ansehen.« Damit ging sie durch den dunklen Flur voraus zur Haustür. Nachdem Meg Marys und Alices Schnittwunden untersucht hatte, besah sie sich die Stiche auf Williams Rücken. »Du liebe Zeit!«, sagte sie mitfühlend. »Die sehen nicht gut aus. Ich habe eine Salbe, die helfen könnte. Hornissen, sagst du. Hornissen sind ziemlich selten. Wieso glaubst du, dass es welche waren?« William zuckte die Schultern. »Ich bin überrascht, dass du Hornissen von normalen Wespen unterscheiden kannst. Und diese Kratzer und Schnitte, Mary – wie hast du die noch mal bekommen?« Mary ließ den Kopf hängen und sagte nichts. Meg musterte die Kinder eins nach dem anderen und seufzte. »Warum erzählt ihr mir nicht, was wirklich passiert ist? Wartet,
bis ich meine Medizintasche geholt habe.« Sie lief ins Haus zurück und kam fast auf der Stelle mit einer großen, bauchigen Ledertasche wieder. »Hier habe ich alles drin. Wenn ich etwas für eins der Tiere brauche, dann kann ich es zu ihm tragen. Jetzt lass mich mal sehen, William. Dreh dich um!« Sie bestrich jeden Stich mit einer Salbe. »Du solltest vielleicht trotzdem zum Arzt gehen, weißt du? Ich würde mir an deiner Stelle eine gute Geschichte einfallen lassen.« Nachdem Meg mit der Behandlung von Williams Rücken fertig war, trug sie auf Marys und Alices Verletzungen andere Mittel auf. Zuerst eine antiseptische Lösung, die furchtbar biss, wenn sie auf offene Schnitte kam, und dann Salben und Mullbinden, die sie mit Leukoplast festklebte. Sie arbeitete schnell und schweigend, und als das erledigt war, betupfte sie auch noch Spots Schulter mit Salzwasser, weil er so lange bettelte und winselte, bis sie fragte, was denn mit ihm los sei, und Alice ihr erzählte, dass er ebenfalls gestochen worden war. »Nun lauf schon, du großes Baby!«, sagte Meg und streichelte sein Ohr. »Ich denke, du bleibst wohl am Leben.« Dann schloss sie ihre Medizintasche, drehte sich wieder zu ihnen um und blickte sie an. »Ich wurde in diesem Tal geboren, wisst ihr? Ich war auch hier, als ich so alt war wie ihr. Ich weiß eine Menge von dem, was so vor sich geht. Erzählt ihr es mir jetzt?« William schüttelte den Kopf. »Wir können nicht, Meg«, sagte er. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, William, euch allen habe ich es gesagt – hier gehen Dinge vor sich, die euch zerstören können«, sagte Meg mit ruhiger, eindringlicher Stimme. »Wie oft muss ich euch noch warnen? Wie oft?« »Als du jünger warst, Meg«, fragte Mary, »hast du da gesehen…« Sie schüttelte den Kopf ohne den Satz beenden zu können. »Ich habe nichts gesehen«, antwortete Meg ernst. »Aber ich weiß, was man sehen kann. Und ich weiß, was mit Leuten passiert, die in all diese Dinge verwickelt werden. Golden House. Golden Valley. Golden Water. Gold. Gold. Gold. Es hat meinen Großvater zerstört, das Leben meines Vaters ruiniert und mich allein und einsam zurückgelassen. Alles im Namen des Goldes. Ich war einmal verrückt genug zu glauben, dass es stärkere Gefühle als Gier gäbe. Gefühle, die die Gier besiegen könnten. Ich habe mich geirrt…« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie versuchte eine unglückliche Erinnerung loszu-
werden. Mary starrte sie nachdenklich an. »Wir haben einen Mann getroffen, Meg. Jemand, den du kennen musst. Er hat gesagt, dass du ihn sehen willst.« »Einen Mann?«, wisperte Meg. »Was für einen Mann?« »Sir Henry Crawden«, antwortete Mary. Meg schwieg so lange, dass Mary wirklich dachte, sie hätte sie nicht gehört. »Sir Henry, Meg. Er saß im Rollstuhl. Sein Sohn war bei ihm und dieser Rechtsanwalt, zu dem du gegangen bist. Sie haben gesagt, du hättest darum gebeten, ihn zu sehen. Aber er wollte es nicht. Warum nicht, Meg?« Meg starrte in die Ferne. Als sie sprach, klang ihre Stimme weit fort. »Ich wollte, dass er mir ins Gesicht sieht. Ich wollte, dass er mir ins Gesicht sagt, Golden Water gehöre seiner Familie.« »Aber so ist doch, oder nicht?«, fragte William. »Wenn sie das sagen. Du kannst einem Crawden nicht widersprechen. Aber es gab eine Zeit, als sie das noch nicht meinten. O nein. Es gab eine Zeit, als der ganz normale Henry Crawden an meine Tür klopfte – und warum?« Ihre Stimme klang immer bitterer. »Warum? Warum ist er gekommen? Weil seine Familie den See wollte – das war der einzige Grund.« Sie seufzte. »Sie glaubten, das Land gehöre uns. Sie schickten ihn, damit er das Land bekam. Er hätte mich sogar dafür geheiratet. So sehr wollten sie es. Sie haben es immer gewollt. Immer, die ganze Zeit. Es wird hier keinen Frieden geben, bis sie es haben. Gut, sollen sie es haben, sage ich. Mein Vater sagte damals, Henry hätte es nicht auf mich abgesehen, sondern nur auf das Land. Er hatte natürlich Recht. Aber wenn ich nicht auf ihn gehört hätte, dann hätte Henry beides gehabt, das Land – und mich. Ich glaube, er hätte sich darüber gefreut. Und ich…« Sie schüttelte den Kopf. »Aber mein Vater sagte, eine Lewis könnte niemals einen Crawden heiraten.« Sie zuckte die Schultern. »Na ja… Jetzt ist es natürlich zu spät. Aber ich dachte einfach… wenn er mich besuchen käme, wäre vielleicht endlich ein bisschen Wahrheit zwischen uns.« Sie wischte mit der Hand über ihren Rock. »Sollen die Crawdens das Land doch haben…«, sagte sie nachdrücklich. »Aber wenn sie das Land erst haben, Meg, dann werden sie es zerstören«, erklärte William. »Dann bin ich es Gott sei Dank los! Sollen sie doch damit ma-
chen, was sie wollen.« »Denk an die Dachse, Meg«, bettelte Alice. »Deine Dachse. Sie wollen sie zur Schau stellen. Sie werden das Baumhaus abholzen…« »Die Dachse werden es überleben«, schluchzte Meg. »Ich werde auch nicht für ewig da sein, um mich um sie zu kümmern. Die Natur muss sich anpassen. Man kann den Fortschritt nicht aufhalten.« »Meg!«, schrie Alice und kämpfte mit den Tränen. »Ihr könnt gegen die Crawdens nicht gewinnen«, sagte die alte Frau. »Glaubt mir. Ich weiß es.« »Meg?« William versuchte seine Stimme stark und fest klingen zu lassen. »Sag uns noch eins. Gehört dir das Land wirklich?« »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es jetzt mehr«, erwiderte Meg. »Mein Großvater hätte es dir sagen können. Er und der alte Crawden trafen eine Vereinbarung. Sie unterschrieben beide ein Papier und jeder hatte eine Kopie. Aber mein Großvater hat seine verloren. Die Crawdens wussten das damals noch nicht. Vielleicht haben sie erwartet, dass ich meine Kopie jetzt hervorhole. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum der Rechtsanwalt mir geschrieben hat. Natürlich ist da immer noch das Problem mit der Zufahrt. Sie brauchen dieses Stückchen Land - Four Fields. Aber es geht noch um mehr. Ich glaube, jetzt – haben sie mich. Ich fürchte, dass diese Vereinbarung, wie immer sie auch ausgesehen hat, nutzlos ist, weil sie jetzt wissen, dass sie die einzige Kopie haben…« »Aber – wie konnte dein Großvater etwas so Wichtiges verlieren?«, rief William aus. »Verloren, gestohlen oder verlegt. Das hat er immer gesagt«, erwiderte Meg ruhig. »Und hat er nie jemandem erzählt, wie die Vereinbarung ausgesehen hat?« »Gaunerehre, hat er immer gesagt. Gaunerehre!« »Also gibt es keinen Weg, jemals herauszufinden, wie die Vereinbarung zwischen der Familie Lewis und der Familie Crawden über den Besitz von Golden Water und dem Land drum herum aussah?«, rief William ungläubig. »Das kann doch nicht wahr sein! Es muss einfach einen Weg geben.« »Nun, ich nehme an, wenn du in die Vergangenheit reisen könntest, dann würdest du es wohl herausfinden«, sagte Meg leichthin. »Ein anderer Weg fällt mir nicht ein.« Dann blickte sie William stirnrunzelnd an. »Vergiss, dass ich das gesagt habe!«, sagte sie streng. »Vergiss alles über Golden Water! Bitte, William. Bitte, ihr
alle drei. Wenn ihr das nicht tut, dann zerstört es euch auch.« »Aber denk doch mal nach, Meg«, sagte William abwesend, »wir könnten gewinnen – und dann wäre dieser Ort für immer sicher – und Morten wäre besiegt.« »Morten?«, fragte Meg entsetzt. »Ich meine, die Crawdens«, sagte William schnell. »Morten!«, seufzte Meg. »Ich habe diesen Namen seit langer Zeit nicht gehört. Du hörst dich genauso an wie mein Großvater.« »Du musst uns helfen, Meg. Du bist die Einzige, die das kann. Bitte, Meg«, bat William. »Als ich Hilfe brauchte, wart ihr da«, sagte Meg leise. »Die Dachse würden mir sagen, dass ich euch helfen soll. Aber ich habe Angst um euch.« »Es ist alles in Ordnung, wirklich«, sagte Alice strahlend. »Wir haben den besten Magier auf unserer Seite.« »Habt ihr ihn gesehen?«, fragte Meg und blickte die Kinder fragend an. Ihr Schweigen war die Zustimmung, die sie brauchte. »Mein Vater hat sein Leben lang bedauert ihn nie gesehen zu haben – wie nennt ihr ihn? Den Magier? Mein Großvater nannte ihn den Magus, glaube ich. Und ich – ich habe nie wirklich daran geglaubt.« »Er ist ein guter Mann, Meg«, sagte Mary, umarmte sie und drückte sie an sich. »Aber er ist alt – und er hat solche Angst vor dem, was mit dem Tal passiert, wenn die Crawdens es in die Finger bekommen.« Meg nickte. »Er hat zu Recht Angst davor. Die Crawdens bestehen aus nichts als reiner Gier. Das ist alles, was sie interessiert. Sie sind so reich, wie man nur sein kann – und wollen trotzdem immer mehr.« »Wir müssen dem Magier helfen, Meg. Wir müssen«, beharrte William. »Hat er euch das alles erzählt? Dieser Mann aus der Vergangenheit? Ich kann es kaum glauben. Wenn ich ihn nur sehen könnte…« Dann holte sie tief Luft. »Ich tue alles, was ich kann, um zu helfen«, sagte sie.
19 Miss Prewett kommt zu Besuch Am folgenden Sonntag kam Miss Prewett zum Mittagessen und brachte, wie versprochen, das Buch aus der Bibliothek des Museums mit. Die Tage zwischen dem ›Kampf um Golden Water‹, wie die Kinder das Ereignis untereinander nannten, und dem Sonntag waren ziemlich ruhig verlaufen. Phoebe machte sich Sorgen um Williams Hornissenstiche und bestand darauf, ihn zum Arzt in die Stadt zu bringen. Der Arzt war aber nicht sonderlich beunruhigt. Er verschrieb eine stärkere Salbe und eine Packung Antibiotika für den Fall, wie er sagte, dass irgendwo noch ein paar Bakterien lauerten. Mary konnte die meisten ihrer Wunden verstecken, indem sie Jeans und ein langärmeliges T-Shirt trug. Aber Phoebe bemerkte die Beule auf ihrer Stirn und den bösen Schnitt auf Alices Hand und sie mussten sich mit Kletterunfällen herausreden. Den Mädchen lag sehr viel daran, etwas – irgendetwas – zu tun, um den Auftrag des Magiers weiter zu erfüllen, aber William war mürrisch und bedrückt und wollte nichts mit ihnen unternehmen. Am Samstagnachmittag, als Alice gerade von draußen durch die Haustür in die Halle trat, um sich ein Glas Limonade zu holen, sah sie ihn aus dem Kamin treten. »Du warst im Geheimzimmer! Du bist ohne uns gegangen, William«, warf sie ihm vor. Aber ihr Bruder ging nur achselzuckend zur Treppe hinüber. »Geh nur selbst hinauf, wenn du willst«, sagte er. »Es hält dich niemand auf. Aber es ist reine Zeitverschwendung. Er ist nicht da. Ich habe alles probiert, um ihn zu erreichen – aber es hat keinen Zweck.« Elend und niedergeschlagen stapfte er die Stufen hinauf und verschwand in seinem Zimmer. An diesem Abend beschlossen Mary und Alice ihn ernsthaft zur Rede zu stellen. William war bereits schlafen gegangen, als sie zu ihm hinübergingen. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen«, begrüßte er sie mürrisch. »Es hat keinen Zweck, mich zu fragen.« »Aber du bist doch sonst immer derjenige, der Erklärungen für al-
les findet, William«, protestierte Mary. »Ja – gut, aber diesmal eben nicht! Man hat mir doch gesagt, ich soll es lassen, oder nicht? Ich muss doch aufhören zu denken, oder was?« Er sprang ihr mit seinen trotzigen Fragen fast ins Gesicht. »Aber du musst doch nicht gleich völlig mit dem Denken aufhören«, fauchte Mary. »Manchmal bist du einfach zu blöd.« »Also gut«, blaffte William zurück, »wenn du so klug bist, dann sag du uns doch, was wir tun sollen.« Es folgte eine lange Stille, die nur dadurch unterbrochen wurde, dass Alice sich nachdenklich schniefend an der Wange kratzte. »Du meinst, wir werden Mr. Tyler nicht mehr helfen?«, flüsterte sie. »Willst du das sagen?« »Ach, Alice!«, zischte William. »Was sollen wir denn tun? Ich habe alles ausprobiert. Ich habe versucht nicht zu denken, doch zu denken, den Magier herbeizuwünschen, im Geheimzimmer zu warten… Nichts passiert. Wenn wir nur nicht das Pendel verloren hätten. Wenn wir nur nicht…« Er sah jetzt so elend aus, dass er Mary Leid tat. Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Ich glaube, wir könnten Lutra fragen«, sagte sie. »Er könnte das Pendel finden.« »Aber wie sollen wir an Lutra herankommen? Ich habe es versucht.« »Wann?«, fragte Mary. Sie wurde schon wieder wütend. »Gestern Morgen. Bevor ihr wach wart…« »Du bist allein hinauf zum See gegangen?«, explodierte Mary. »Ohne uns Bescheid zu sagen?« »Ich wollte doch nur sehen, ob ich Lutra finden kann«, verteidigte William sich. »Na bitte! Wenn du weiter alles allein tun willst, dann…«, fauchte Mary und stürmte zur Tür. »Mary, bitte!«, sagte William. »Jetzt verlier nicht die Nerven. Ich hätte bestimmt nichts Ernsthaftes ohne euch getan. Ich musste es einfach versuchen. Es war mein Fehler, dass wir das Pendel verloren haben. Ich hätte es nicht oben auf dem Stein liegen lassen dürfen. Ich musste versuchen es zurückzubekommen.« »Wenn wir es hätten«, sagte Alice, »was würde uns das nützen?« »Ich weiß es nicht«, murmelte William niedergeschlagen. »Aber der Magier hat gesagt, es sei wichtig.« »Es könnte überall auf dem Grund des Sees liegen, nicht wahr?«,
bemerkte Mary nachdenklich. »Oder schlimmer noch, es könnte durch die Strömung in die Öffnung gesaugt worden sein und dann ist es jetzt kilometerweit weg.« »Was meinst du?«, fragte Mary. »Ach, du warst ja gar nicht dabei«, erinnerte sich William. »Als Alice und ich mit Lutra da unten waren, haben wir gesehen, wo das Wasser wieder aus dem See herausfließt. Es schießt durch eine schmale Öffnung und dann… verschwindet es irgendwie in unterirdischen Höhlen.« »Aber wohin fließt es dann?«, fragte Mary. William zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Wenn das Pendel in die Höhlen geraten ist, dann kann es jetzt überall sein. Wir werden es nie wiederfinden. Es ist weg.« Er schloss seufzend die Augen. »Geht ins Bett! Wir können nichts mehr daran ändern. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen.« Später, als Alice kurz vor dem Einschlafen war, dachte sie an die Blackwater Schleuse und was für eine Angst sie gehabt hatte, als Lutra sie dorthin brachte und in der dunklen Höhle allein ließ. Sie fing an zu zittern, als sie sich an den Dunklen und Schrecklichen Weg erinnerte. Auch da hatte sie nicht noch einmal hingehen wollen, aber es war dann doch nötig gewesen. O nein!, dachte sie, schloss die Augen und zwang sich zum Schlafen. Miss Prewett kam mittags in einem kleinen, altmodischen Auto mit blank geputzten Metallbesätzen. »Es heißt Daisy«, rief sie und hupte laut. »Und ich liebe es ungeheuer!« Dann kletterte sie aus dem Auto, schloss sorgfältig die Tür und ging auf die andere Seite hinüber. Sie hob einen Korb und ein viereckiges Päckchen vom Beifahrersitz und nahm beides mit ins Haus. Der Korb enthielt ein Glas Apfelgelee, eine Pflanzenknolle und eine Schachtel Pralinen. »Das Gelee habe ich selbst gemacht und es ist ein bisschen flüssig – aber man kann es über irgendwas gießen. Diese Knolle ist eine ziemlich ungewöhnliche gefüllte Geranie aus meinem Garten und die Pralinen sind absolut vertrauenswürdig – weil ich sie in einem Laden gekauft habe!« Dann machte sie das Päckchen auf und holte das Buch heraus, das sie an Weihnachten gesehen hatten. Auf der Titelseite stand in feiner Handschrift: Die alchimistischen Schriften von Jonas Lewis vom Haus im Gol-
den Valley. Vollendet am letzten Tag im letzten Jahr des Jahrhunderts, 31. Dezember 1899. »Sollen wir es uns jetzt ansehen?«, fragte Miss Prewett eifrig. »Nun«, sagte Phoebe ein bisschen zweifelnd, »das Mittagessen ist fast fertig.« »Dann müssen wir warten«, erklärte Miss Prewett fröhlich. »Mmh!«, schwärmte sie. »Was für ein wundervoller Duft! Lammbraten mit Rosmarin?« »Ich fürchte, nein«, sagte Phoebe schnell, denn sie sah, wie Alice grimmig den Kopf schüttelte. »Wir sind Vegetarier.« »Ihr auch?« Miss Prewett schaute die Kinder überrascht an. »Also wir sind es, wenn wir hier sind«, erklärte William. »Und ich bin es fast immer«, sagte Mary. »Und was ist mit dir, meine Kleine?«, fragte Miss Prewett und blickte fragend auf Alice. »Alice braucht immer noch etwas Überredung«, sagte Phoebe lächelnd. »Aber es wird immer besser.« »Also ich halte das für eine ganz wundervolle Idee«, strahlte Miss Prewett erfreut. »Das Problem bei mir ist nur, dass ich einfach zu faul dafür bin. Weil ich allein lebe, koche ich sowieso nicht viel. Ich fürchte, ich habe meistens die Nase in einem Buch und esse dabei Würstchen mit Kartoffelbrei.« »Mögen Sie Würstchen?«, fragte Alice. »Meine Hauptkost«, erwiderte Miss Prewett ein wenig verschämt. Alice war nicht ganz sicher, was eine Hauptkost war, aber Miss Prewett stieg gewaltig in ihrer Achtung. Sie aßen an einer langen Tafel unter einem großen Apfelbaum im Küchengarten. Ein weißes Tuch war über den Tisch gebreitet und Phoebe hatte kleine Vasen mit Wildblumen die Mitte entlang gestellt. »Das sieht so hübsch aus!«, rief Miss Prewett. »Wir haben nicht sehr oft Gäste«, erklärte Phoebe schüchtern. »Es hat mir einfach Spaß gemacht.« »Was ist mit uns?«, rief Alice. »Wir sind doch auch Gäste.« »Nein, seid ihr nicht, Alice. Ihr gehört zur Familie. Und deshalb könnt ihr jetzt beim Servieren helfen«, sagte Jack zu ihr. »Es ist ein langer Weg von hier bis zur Küche.« Die Vorspeise bestand in einem Käsesoufflé mit grüner Erbsensoße. Danach kam eine Gemüselasagne, die Phoebe dampfend und nach vielen Kräutern und Knoblauch duftend auf den Tisch stellte.
Dazu gab es grünen Salat mit in Öl gerösteten Löwenzahnblüten. Den Nachtisch bildete eine Creme aus frischen Himbeeren mit karamellisiertem Zucker. Phoebe nannte es Creme Brulée und Mary erklärte, das hieße gebrannte Creme. Alice nahm sich zweimal von allem, und als in ihrem Magen kein einziges Plätzchen mehr frei war, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und sagte, Phoebe sei zweifellos die beste Köchin der Welt und sie würde ganz bestimmt keine Würstchen mehr essen – jedenfalls nicht für den Rest des Tages. Nach dem Essen räumten die Kinder den Tisch ab und Jack kochte Kaffee. Dann setzten sich alle in den kühlen Schatten, Stephanie schlief in ihrem Wagen und Spot hatte sich unter dem Tisch zusammengerollt. Miss Prewett öffnete Jonas Lewis’ Buch. »Sie werden sich vermutlich noch vom letzten Mal, als Sie das Buch ausgeliehen hatten, daran erinnern, dass es zum größten Teil aus Karten und Diagrammen besteht – alle völlig sinnlos für mich, fürchte ich«, erklärte Miss Prewett und übernahm es, die Seiten des Buches umzublättern. Sie hörte sich ein bisschen an, als hielte sie einen Vortrag. »Ja. Weißt du noch, Liebling?«, unterbrach sie Jack und wandte sich an Phoebe. »Du warst ein Ass in Latein und hast es uns übersetzt!« »Gott weiß, warum«, erwiderte Phoebe schüchtern. »Ich habe kaum Latein in der Schule gelernt und das wenige, was ich behalten habe, ist eigentlich ziemlich hoffnungslos.« Sie blickte Miss Prewett über die Schulter, als sie langsam die Seiten umblätterte, auf denen Zeichnungen von Sonnen und Monden, Blumen und Fischen und ordentliche Listen mit Buchstaben und Zahlen zu sehen waren. »Das Seltsame ist«, sagte sie halb zu sich selbst, »dass ich glaube, ich habe das alles schon einmal gesehen. Aber ich weiß, dass es nicht sein kann…« »Sieh mal«, sagte Alice und bat Miss Prewett einen Moment mit dem Blättern aufzuhören. »Das ist ein Bild von deiner Kette, Phoebe.« Phoebes Hand ging automatisch zu dem kleinen Anhänger mit der Sonne und dem Mond und den sich umeinander windenden Drachen dazwischen, den Jack im Haus gefunden und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Auf der aufgeschlagenen Seite vor ihnen erkannten sie eine genaue farbige Zeichnung des Anhängers. »Und es sieht genauso aus wie die Wetterfahne, die wir im Keller
gefunden haben«, fügte William hinzu. »Die Dan und ich oben auf dem Taubenhaus befestigt haben.« Sie blickten alle hinüber zum Taubenhaus in der Mitte des Gartens und sahen auf seiner Spitze die Wetterfahne mit den runden Silberscheiben, die sich im Wind drehen konnten, sich aber an diesem heißen, windstillen Nachmittag nicht bewegten. »Vielleicht ist es das Wappen des ursprünglichen Eigentümers des Hauses«, vermutete Miss Prewett. »Sein Name war Stephen Tyler und ich glaube, man hielt große Stücke auf ihn… obwohl ich nicht viel über ihn herausfinden kann. Aber ich darf nicht abschweifen. Das war schon immer mein Manko. Geschichte geht einem unter die Haut, sag ich immer. Man versucht sich vorzustellen, wie alles einmal war. Dieser Ort zum Beispiel. Wenn diese Mauern nur reden könnten!« Sie sah sich im Garten um und betrachtete versonnen die Rückseite des Hauses. Dann warf sie die Hände in die Luft. »Schon wieder! Bleib beim Thema, Weib! Bleib beim… Ich lasse Ihnen das Buch hier, dann können Sie es sich in aller Ruhe ansehen. Es gehört eigentlich sowieso hierhin.« »Das wäre wunderbar«, sagte Jack. »Ich denke, Meg würde es auch gerne wiedersehen. Sie und ihre Mutter haben es verkauft, wissen Sie?« »Ja. Es sieht so aus, als hätte die Familie Lewis immer in kargen Verhältnissen gelebt. Was uns auf eine Krise in der Gegenwart bringt. Und da habe ich übrigens zwei Neuigkeiten. Ich habe gehört, dass die Forstverwaltung den Antrag für eine Zufahrtsstraße über ihr Land abgelehnt hat. Das will aber nicht viel heißen, fürchte ich. Man kann auf Verwaltungen immer Druck ausüben. Und der Plan wird natürlich von unserer örtlichen Parlamentsabgeordneten, der allwissenden Mrs. Sutcliffe, unterstützt. Grässliche Frau. Macht immer den Eindruck, sie wüsste alles besser als jeder andere. Der Himmel bewahre uns vor Parlamentsmitgliedern! Merkwürdiges Gezücht! Wo war ich stehen geblieben? Was hatte ich gerade gesagt?« »Dass Sie zwei Neuigkeiten haben«, half Jack ihr auf die Sprünge und stieß Alice unter dem Tisch mit dem Fuß an, damit sie Miss Prewett nicht weiter mit offenem Mund anstarrte. »Was?«, fuhr Alice erschrocken auf. »Tut mir Leid. Ich bin mit dem Fuß ausgerutscht«, sagte Jack schnell. »Mach den Mund zu, Alice«, grinste Phoebe und versuchte, nicht zu lachen. »Sonst fängst du noch eine Fliege damit. Und starr nicht
so!« »Entschuldige«, sagte Alice, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie hielt Miss Prewett für einen der beeindruckendsten Menschen, die sie jemals gesehen hatte. Sie sprach so schnell und benutzte so seltsame Wörter, dass es sich fast wie eine Fremdsprache anhörte. »Zwei Neuigkeiten«, wiederholte Jack. »Sie haben uns von der Forstverwaltung erzählt…« »Forstverwaltung?« Miss Prewett stand vor einem völligen Rätsel. »Wirklich? Was habe ich gesagt?« »Dass sie die Zufahrtsstraße zum See über ihr Land nicht genehmigt haben.« »Oh! Das wissen Sie schon? Ich wollte es Ihnen gerade erzählen.« »Das haben Sie auch«, murmelte Jack. Miss Prewett warf wieder die Hände in die Luft und brüllte vor Lachen. »Das Alter und seine vielfältigen Gebrechen! Werdet bloß nie alt, Kinder. Es ist grässlich. Manchmal muss ich schon darum kämpfen, meinen eigenen Namen nicht zu vergessen! Also, wo war ich? Denk nach, Weib! Konzentrier dich! Ich habe Ihnen von der Forstverwaltung erzählt. Was war nur das andere? Ach ja, Miss Lewis.« Sie strahlte vor Vergnügen. »Es ist so gut, wenn das alte Gehirn dann wirklich arbeitet. Also ich habe eine Freundin, sie heißt Joan Benson. Sie arbeitet in Martins Marshs Anwaltspraxis. Eigentlich ist sie keine Freundin, aber ich kenne sie. Sie ist eine sehr schwatzhafte Person. Holt niemals Luft beim Reden. Ich komme manchmal kaum zu Wort. Stellen Sie sich das vor!« Alle ihre Zuhörer fanden das offensichtlich schwierig, aber sie sagten nichts und warteten, dass Miss Prewett ihren Bericht fortsetzte. »Jedenfalls hat Joan Benson mir erzählt, dass Martin Marsh einen Brief von Miss Lewis bekommen hat, in dem sie das Angebot für ihren Besitz ablehnt! « »Aber das ist ja eine wunderbare Neuigkeit!«, rief Jack. Plötzlich wurde ihre ruhige Unterhaltung von wütendem Bellen unterbrochen und Spot schoss zornig knurrend und kläffend unter dem Tisch hervor. »Was ist los mit dir, Spot?«, schrie Jack. »Sei still!« Aber Spot beachtete Jacks Worte nicht, er war völlig davon eingenommen, in den Büschen auf der gegenüberliegenden Seite des Weges herumzuschnuppern.
»Was ist bloß in ihn gefahren?«, rief Phoebe, als Stephanie durch den Krach aufwachte und laut zu weinen anfing. »Jetzt bring doch jemand den Hund zur Ruhe!«, rief sie, hob Stephanie aus ihrem Wagen und wiegte sie beruhigend in ihren Armen. »Spot! Was ist los mit dir?«, fragte Alice und lief zu dem Hund. Dann schrie sie auf und blieb stocksteif stehen. »Was hast du denn, Alice?«, brüllte Jack. »Da ist eine Ratte!«, jammerte Alice. »Was?«, rief Phoebe. »Wo?« »Da!«, rief William und im selben Augenblick schoss eine große, graue Ratte aus den Büschen und sauste den Gartenweg entlang. Spot verfolgte sie und bellte noch immer völlig außer sich. Das Tor zum Wald hinten im Garten war nur angelehnt und alle beobachteten, wie die Ratte schnell hindurch verschwand. Spot blieb ihr laut bellend auf den Fersen und verfolgte seine Beute den steilen Abhang hinauf in den Wald. »Igitt!« Phoebe schnitt ein Gesicht. »Tut mir Leid! Aber ich hasse Ratten!« Sie drückte und hätschelte Stephanie, aber wahrscheinlich nur, um sich selbst zu trösten. Während des ganzen Tumults hatte Miss Prewett unbeweglich und mit offenem Mund dagesessen. Jetzt schluckte sie nervös und wischte sich mit der Hand ein paar Haare aus der Stirn. »Ja, tut mir Leid«, sagte Jack strahlend. »Ist schon gut. Keine Panik! So ist das Landleben! Aber komisch ist es schon. Man sieht normalerweise keine Ratten mitten im Sommer – obwohl sie natürlich irgendwo hier sind. Und jetzt«, er lächelte Miss Prewett aufmunternd an, »was wollten Sie sagen?« »Lieber Mr.… Sie können doch nicht erwarten, dass ich mich daran erinnere? Nicht nach all dieser Aufregung.« »O doch!«, rief Jack begeistert. »Sie hatten uns gerade die gute Neuigkeit erzählt, dass Meg Lewis Four Fields nicht an die kriecherischen Crawdens verkauft!« Miss Prewett verzog das Gesicht. »Ich würde mich nicht zu sehr darüber freuen, wenn ich Sie wäre. Ich fürchte, es ist nur ein kurzfristiger Aufschub, Mr.…« »Sie haben versprochen, Sie nennen mich Jack.« »Hab ich das? Wie vorlaut von mir!« »Aber wenn Meg sagt, sie will nicht verkaufen«, beharrte William, »ist dann damit nicht alles erledigt?« »Liebes Kind«, sagte Miss Prewett verächtlich. »Sie kommen mit
einem besseren Angebot wieder. Und am Schluss kriegen sie sie. Jeder hat seinen Preis.« »Also Meg mit Sicherheit nicht«, verteidigte William seine Freundin. »Sie liebt dieses Land – sie kennt das Tal schon ihr ganzes Leben lang.« »Wir werden sehen – aber mir scheint, es wäre viel besser, wenn wir herausfänden, dass dieses Land überhaupt nicht der Familie Crawden gehört«, beharrte Miss Prewett. »Das würde ihnen nämlich einen dicken Strich durch ihre Rechnung machen.« »Warum sind Sie so sicher, dass das Land ihnen nicht gehört?«, fragte Jack. »Ich bin gar nicht sicher«, protestierte Miss Prewett. »Das habe ich nicht gesagt. Aber ich bin neugierig.« »Aber – warum?« »Dieses Buch«, antwortete sie und klopfte auf den dicken Band, der aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag. »Ich hatte einfach diese… unbestimmte Erinnerung ganz hinten im Kopf… dass ich da etwas… gesehen habe…« »Also, steht da irgendetwas in dem Buch, was uns weiterhilft?«, fragte Phoebe fast ungeduldig. Offenbar brachte Miss Prewetts Geplapper sogar sie durcheinander. »Nicht wirklich«, sagte Miss Prewett und blätterte das Buch bis zum Ende durch. »Und doch… hören Sie sich das an. Es steht hier fast ganz am Schluss.« Sie räusperte sich, schob die Brille zurecht und begann zu lesen: »Alles ist verloren. Das Gold hat sich zurückverwandelt. Crawden ist gekommen. Ich glaube, er weiß, was geschehen ist. Er wird das Haus in Zahlung nehmen. Alles ist verloren. Ich bin erledigt. Katzengold. Katzengold.« Miss Prewett nahm die Brille ab und putzte sie. »Es scheint so zu sein, obwohl es nur schwer zu glauben ist, dass der alte Jonas Lewis dachte, er hätte es fertig gebracht, Gold herzustellen, und versuchen wollte damit seine Spielschulden zurückzuzahlen. Ich glaube nicht, dass er tatsächlich mit Crawden gespielt hat – aber er hatte sich Geld von ihm geliehen. Eine der Verdienstquellen der Crawdens war der Geldverleih. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier in der Gegend viel Armut. Einem Menschen mit Privatvermögen ging es sehr gut…« »Miss Prewett, bitte!«, rief Phoebe. »Sagen Sie uns doch einfach, was in dem Buch steht.« »Entschuldigung. Bin ich schon wieder vom Thema abgekommen? Also, Sie erinnern sich an die Geschichte. In diesem Haus
lebte einmal ein Alchimist – und dieses Buch, geschrieben von Jonas Lewis, ist voll gestopft mit alchimistischen Andeutungen. Das ist an sich noch nichts Ungewöhnliches. Es gibt furchtbar viele Bücher über Alchimie. Es werden immer noch welche geschrieben. Aber natürlich glaubt niemand mehr ernsthaft, dass die Alchimisten wirklich Gold machen konnten. Und doch ist hier…«, sie stieß mit dem Finger auf die Seite vor ihr, »hier ein Mann, der behauptet genau das getan zu haben – er hat Gold gemacht! Faszinierend!« »Also, wenn es ihm wirklich gelungen ist«, sagte Jack leicht spöttisch, »hat er es wohl nicht allzu gut gemacht! Das Zeug hat sich zurückverwandelt. Das sagt er hier. Wenn es Gold war, dann war es das nicht lang.« »Richtig«, stimmte Miss Prewett zu. »Aber was immer auch vor sich gegangen ist, er hat genau deshalb das Haus verloren. Hören Sie sich die nächste Seite an.« Sie setzte ihre Brille wieder auf, blätterte um und las weiter: »15. Dezember. Wir müssen am Ende des Jahres gehen. Crawden wird das Haus nehmen. Wir haben uns über das Land geeinigt. Die Papiere sind bereits aufgesetzt. Es ist das Beste, was ich tun kann. Der Magus darf es nicht wissen. Es ist gut, diesen Ort zu verlassen.« Miss Prewett sah ihre Zuhörer an. »Also, was glauben Sie, was das heißt? Wir haben uns über das Land geeinigt. Die Papiere sind bereits aufgesetzt. Es ist das Beste, was ich tun kann…? Für mich hört sich das an, als wäre das Land irgendwie treuhänderisch verwaltet worden.« »Aber ohne die Papiere können wir nichts beweisen«, rief Jack aus. »Wo sind diese Papiere?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Miss Prewett nachdenklich. »Ihr Anwalt hat Ihnen gesagt, dass die Hausurkunden in einem Feuer verbrannt sind. Ist das richtig?« »Ja.« »Hm«, überlegte sie und blätterte eine Seite weiter. »Hören Sie! Dies hier ist fast der letzte Eintrag im Buch.« Sie fing wieder an vorzulesen. »28. Dezember. Ich weiß, was ich tun muss. Diese Kunst muss auf ewig Geheimnis sein, Der Grund dafür leuchtet unschwer ein; Hätt nur ein Böser Macht dabei, Der christliche Friede bräche entzwei;
Und durch seinen Hochmut stürzten hinab Prinzen und Könige in ihr Grab. Der König tritt aus dem Feuer und jubiliert. So sei es. Dem Feuer übergebe ich alles, was ich erreicht habe. 29. Dezember. Will Hardwick wird mir mit den Steinen helfen. Es muss morgen getan werden. Crawden mag das Geheimzimmer finden, aber er darf niemals das Laboratorium entdecken. Wenn doch, muss ich dafür sorgen, dass es leer ist.« Miss Prewett blickte mit zitternder Stimme auf. »Was bedeutet das alles? Und dann schreibt der arme Mann schließlich: Wer immer dies liest, soll ihm Beachtung schenken. Das Gold ist nicht zum Gebrauch bestimmt. Der Magus beobachtet. Der Magus weiß. Der Magus besitzt uns alle. Ich bin ruiniert. Gott habe Erbarmen mit meiner Seele.« Die folgende Stille wurde nur durch Phoebes Schaudern unterbrochen. »Ich habe das Buch schon damals nicht gemocht, als wir es im Haus hatten«, rief sie. »Jetzt mag ich es noch weniger.« »Das Laboratorium«, sagte William nachdenklich. »Wo war das Laboratorium?« »Was bedeutet das alles überhaupt?«, rief Jack aufgebracht. »Das macht doch alles keinen Sinn!« Die drei Kinder vermieden es, sich anzusehen. Sie wussten so viel mehr als die Erwachsenen. Für sie machte das Buch sehr wohl Sinn, weil sie wussten, dass alles so geschehen war, wie Jonas Lewis es beschrieben hatte. »Faszinierend!«, bemerkte Miss Prewett fröhlich und hob die gespannte Stimmung auf, die alle erfasst hatte. »Trotzdem«, fuhr Jack bedrückt fort, »worum es auch immer geht, ich kann nichts erkennen, was uns auch nur annähernd helfen könnte. Verdammt! Ich habe wirklich geglaubt, wir fänden irgendetwas…«
»Aber das haben wir, Mr.…. das haben wir. Wir wissen, dass es eine Vereinbarung zwischen Crawden und Lewis über das Land gab!«, rief Miss Prewett. »Aber das hilft uns nicht weiter!«, rief Jack. »Wir kennen ihren Inhalt doch gar nicht. Wir können nichts beweisen. In fünf Jahren wird jemand hier im Garten sitzen und um ihn herum wird die Hölle los sein, weil da oben auf den Felsen ein Rummelplatz ist. Aber ich sage euch allen was: Ich werde das nicht sein.« Er stand auf, stapfte den Gartenweg entlang und verschwand im Hof. »Oje«, sagte Miss Prewett traurig. »Ich fürchte, Mr.…Jackson… nimmt sich das alles sehr zu Herzen. Aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Der Kampf ist nicht verloren. Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht weiß, wo man Hilfe bekommen könnte.«
20 Gedanken Bis zum Abendessen war Spot immer noch nicht zurück. Alice stand am Tor zum Wald und rief nach ihm, bis Phoebe schließlich den Gartenweg heraufkam und sie ins Haus zurückholte. Die Nacht brach schon über den Bäumen herein und nach der Hitze des Tages wehte ein leichter Wind. »Wir lassen ihm die Küchentür auf«, sagte Phoebe. »Er war früher auch schon öfter weg. Vielleicht ist er noch mal zu Meg gegangen. Komm mit, Alice. Mach dir keine Sorgen…« Zögernd folgte Alice Phoebe über den mittleren Weg des Küchengartens zurück ins Haus. Als sie am Taubenhaus vorbeikamen, schrie eine Eule. Alice blickte nach oben und sah sie auf einem der obersten Fenstersimse sitzen. Sie hoffte, dass es Jasper war und dass er vielleicht Neuigkeiten hatte. Aber der Vogel schlug nur mit den Flügeln und verschwand dann auf dem Dach des Hauses. Ein scharfes Bellen ließ beide erwartungsvoll zurücksehen. Dann schüttelte Phoebe den Kopf. »Ein Fuchs«, sagte sie. Wieder zögerte Alice. Sie dachte, es könnte Cinnabar sein, der nach den Kindern suchte, weil er ihnen etwas mitteilen wollte. Aber wieder wurde sie enttäuscht, denn Augenblicke später kam das Bellen weiter weg aus dem Wald. Trotzdem blieben Phoebe und sie stehen und hörten auf die Nachtgeräusche. Ein verspäteter Vogel zwitscherte, ein leiser Windhauch ging durch die Bäume, eine Eule schrie in der Ferne. »Man sollte meinen, ein Ort wie dieser wäre für immer sicher«, sagte Phoebe und legte einen Arm um Alices Schultern. »Können wir wirklich nichts tun, um sie aufzuhalten?«, fragte Alice. »Ich fürchte, nein. Die meisten Leute sind tatsächlich für die Pläne. Ich glaube, ich kann es sogar irgendwie verstehen. Hier in der Gegend gibt es nicht sehr viele Arbeitsplätze. Der Vergnügungspark bringt jede Menge Bauarbeiten mit sich. Und wenn er einmal eröffnet ist, braucht man viele Menschen als Mitarbeiter und die Besucher bringen natürlich viel Geld ein. In gewisser Weise ist es schon wahr,
was auf der Versammlung gesagt wurde – die Umsetzung der Pläne würde dieser Gegend neuen Aufschwung geben.« »Ist es denn wirklich so wichtig, ob die Pläne verwirklicht werden?«, wollte Alice wissen. »Für uns schon«, antwortete Phoebe. »Aber das ist sicherlich selbstsüchtig gedacht. Wenn es also dazu kommt, können wir nur verkaufen, damit unser Schaden nicht noch größer wird.« »Golden House verkaufen?«, rief Alice. »Ja. Es gibt wirklich keine andere Möglichkeit.« »Aber Phoebe! Das würdet ihr nie tun!«, rief Alice. »Doch, das würden wir. Jack und ich haben schon darüber gesprochen. Wir sind hierher gezogen, weil wir Ruhe und Abgeschiedenheit suchten. Sobald sie da oben anfangen zu bauen – wird es damit bald vorbei sein.« »Aber – ihr wollt doch hier ein Hotel haben. Ist das so viel anders?«, fragte Alice. Während sie noch redeten, stieg der Mond langsam über die Baumkronen und tauchte den Garten in silbriges Licht. Es herrschte tiefe Stille. »Es sollte kein richtiges Hotel werden«, erklärte Phoebe. »Mehr so etwas wie… ein Ort, wohin Menschen kommen und eine Weile bleiben; wo sie gutes Essen und gute Gesellsc haft finden; wo sie tagsüber draußen auf dem Land sein und abends in aller Ruhe zu Hause sitzen können. Ein Ruheplatz, fast ein Zufluchtsort. Ja – das ist es. Ein Haus der Ruhe sollte es werden, genau das, was das Haus ursprünglich einmal war. Ein Ort, wohin Menschen kommen, um für eine Weile alle Alltagsprobleme vergessen zu können, wo sie körperlich und geistig ihre Batterien wieder aufladen. Ein Ort, wo sie die Gelegenheit haben, all dies zu genießen.« Sie zeigte auf den mondhellen Garten und den dunkler werdenden Wald. Dann seufzte sie. »Aber weißt du, vielleicht ist das ja auch nur ein Traum von uns. Jack und ich sind nicht sehr geschäftstüchtig! Wir hätten wahrscheinlich kein Geld mehr, noch bevor das Hotel tatsächlich eröffnet wird. Eins ist sicher, wir können es uns nicht leisten, hier zu leben, ohne mit irgendetwas unser Geld zu verdienen. Vielleicht hatte dieser Anwalt Recht. Wir sollten uns über die Erschließung freuen und sie für uns nutzen. Aber das können wir nicht. Wir wollen kein Teil von… einem Unternehmen sein, das nur Geld scheffeln will. Also…«, sagte sie leise, »müssen wir verkaufen und gehen.« »Wohin?«, fragte Alice bestürzt.
»Ich weiß es nicht – so weit haben wir noch nicht gedacht.« Als die Geschwister später am Abend gemeinsam im Zimmer der Mädchen saßen und sich flüsternd unterhielten, erzählte Alice den anderen, was Phoebe ihr gesagt hatte. »Ihr wisst, was passieren wird«, sagte William grimmig. »Die Crawdens kaufen das Haus zurück. Dann haben sie alles und Morten hat gewonnen.« »Und die Einzigen, die das aufhalten können…. sind wir«, seufzte Mary. »Und wir wissen nicht, wie«, fügte William hinzu. »Wisst ihr noch, wie wir letztes Mal hier waren«, sagte Alice plötzlich nachdenklich, »als ich mich mit dem Magier gestritten habe und er gesagt hat, es gäbe jetzt keine Magie mehr? Ist es jetzt genauso? Oder ist es anders?« »Wie meinst du das?«, fragte William, der nur halb zuhörte. »Naja – hat er die Magie mitgenommen? Oder ist sie immer noch da – aber jetzt müssen wir… sie irgendwie finden?« »Ich erzähle es euch doch dauernd – ich kann es nicht! Ich habe es versucht«, protestierte William. »Aber er kommt einfach nicht.« »Nein, William. Das meine ich nicht«, beharrte Alice. »Nicht, dass der Magier kommen und uns helfen soll…« »Was meinst du dann, Alice?«, fragte Mary ungeduldig. »Naja – was ist, wenn gar nicht alles schiefgegangen ist? Wenn alles einfach richtig war?« »Das ist unmöglich, Alice«, seufzte William. »Das ist doch klar, oder nicht? Wir sollten das Pendel zum Beispiel nicht verlieren…« »Aber das ist es doch, William. Du redest dauernd davon, dass wir das Pendel verloren haben – aber wir wissen gar nicht, wofür es gut war oder wie es uns helfen könnte. Ich glaube nicht, dass es so wichtig ist. Wenn wir nur alles erklären könnten.« »Aber er hat uns doch dauernd ermahnt, nicht nach Erklärungen zu suchen!«, rief William. »Es ist mir egal, was er uns gesagt hat – schließlich ist er ja nicht hier«, antwortete Alice schniefend. »Mach schon, Will, streng dein Gehirn mal ein bisschen an. Das kannst du doch so gut.« William holte tief Luft und dachte eine Weile nach. »Wir wissen«, sagte er, »dass Morten in der Zeit des Magiers versucht Macht zu bekommen. Wir wissen auch, dass Morten nach dem Tod des Magiers irgendwie dieses Haus hier übernimmt. Daran wird sich mit Sicherheit nichts ändern, weil es ein Teil der Geschichte ist.
Die einzige Hoffnung des Magiers, Golden House wiederzubekommen, liegt darin, die Ereignisse nach seinem Tod – in seiner Zukunft – zu ändern. Und deshalb ist er, glaube ich, immer durch die Zeit gereist. Er hoffte, irgendwie Golden House und das Tal wiederzubekommen – unter seine Kontrolle oder für seinen… Plan, seine Absicht… was auch immer.« »Das ist genial, William!«, sagte Mary. »Nur – wenn wir ihn im Stich lassen, wie Jonas Lewis das offensichtlich getan hat, was hält ihn davon ab, weiter in die Zukunft zu gehen – ich meine, nach unserer Zeit – und zu versuchen jemand anderes zu finden, der ihm hilft? Vielleicht… Stephanies Kinder, wisst ihr, oder… sogar noch später. Zum Beispiel in der Mitte des 21. Jahrhunderts?« »Das würde er wahrscheinlich versuchen… sein einziges Problem ist nur, dass er schon ziemlich alt ist. Vielleicht… vielleicht hat er nicht mehr viel Zeit.« »Warum?«, fragte Alice. »Vielleicht stirbt er ja schon bald«, sagte William. »Aber William! Sag doch so was nicht!«, wisperte Alice. »Er ist nicht so alt.« Für einen Moment schwiegen die Kinder. »Wisst ihr noch, als Jack an Weihnachten Miss Prewett besucht hat?«, sagte Mary nach einer Weile. »Sie hat ihm eine Liste von allen Leuten gegeben, die hier gewohnt haben. Erinnerst du dich, William? Du hast sie dir mitten in der Nacht angesehen – als du entdeckt hattest, dass Stephen Tyler hier gelebt hat… bevor wir ihn getroffen haben.« »Ja, natürlich weiß ich das noch«, sagte William fast gereizt. »Wie lautete der nächste Name auf der Liste?« »Daran kann ich mich nicht erinnern – ich glaube noch nicht mal, dass ich nachgesehen habe. Ich war so überrascht ›Tyler‹ zu lesen. Aber wir wissen, dass es Morten sein muss, weil wir wissen, dass Morten hier leben wird. Sir Henry hat es uns selbst erzählt.« »Aber – wenn wir wüssten, an welchem Datum Morten der Eigentümer des Hauses wird«, fuhr Mary fort, »dann wüssten wir auch, wann Stephen Tyler gestorben ist, wenn Morten ihn nicht einfach nur hinausgeworfen hat.« »Worauf willst du hinaus?«, fragte William. »Na ja – wenn wir nur wüssten, wie viel Zeit wir noch bis zum Tod des Magiers haben, dann wüssten wir auch, wie lange wir noch… seine Zukunft ändern können.«
»Hm«, stimmte William nachdenklich zu. »Das Problem ist – der Magier hat uns nie gesagt, was für ein Datum in seiner Zeit ist, wenn er in unsere Zeit reist…« »Ach, hört doch auf, alle beide!«, rief Alice ungeduldig. »Ihr macht es schon wieder.« »Was machen wir schon wieder?«, fragte William. »Ihr denkt über die falschen Dinge nach. Ihr bringt alles durcheinander. Was sagt ihr da überhaupt? Wenn der Magier immer noch jemanden in unserer Zukunft finden muss, der ihm helfen kann – dann heißt das doch, dass wir ihm nicht geholfen haben. Meinst du das, William?« Diesem Ausbruch folgte ein langes Schweigen. »Glaubt ihr, das gehört alles zur Alchimie?«, sagte William schließlich. »Was?«, fragte Mary. »Dieses ganze Durcheinander«, antwortete William. »Schon wieder!«, rief Alice. »Jetzt bleibt doch ein einziges Mal beim Thema!« »Na gut, Alice«, fauchte William und war gefährlich nahe daran, die Nerven zu verlieren. »Wenn du so schlau bist, dann denk du doch nach.« »Wir müssen nur die Crawdens irgendwie daran hindern, da oben am Golden Water zu bauen«, sagte Alice langsam. »Wenn wir das nicht schaffen, haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt. Mehr müssen wir nicht tun. Wir müssen noch nicht mal wissen, warum wir es tun sollen. Ich glaube, wir werden es verstehen… aber später. Mehr sollen wir nicht tun, hat er gesagt.« »Mehr nicht!«, stöhnte William. »Also, wie machen wir es, Will?«, fragte Alice, als ob sie ihn herausfordern wollte. »Indem wir selbst durch die Zeit zurückreisen«, antwortete William spontan, fast noch bevor er Zeit hatte, über seine Antwort nachzudenken, »und herausfinden, was für eine Vereinbarung Jonas Lewis mit Crawden über das Land getroffen hat.« Alice nickte mit ernsthaftem Gesicht. »Wie machen wir das?« William dachte kurz nach. »Wir finden das Laboratorium.« »Warum?«, fragte Mary. »Wie kann uns das helfen?« »Weil Jonas Lewis in seinem Buch sagt, er muss das Laboratori-
um vor Crawden verstecken. Das heißt, dass das Laboratorium irgendwie wichtig für ihn war… und wahrscheinlich auch für den Magier. Onkel Jack hat uns doch erzählt, Alchimisten waren damals so was wie heute die Chemiker… und Stephen Tyler hätte als Chemiker ein Laboratorium gehabt.« »Aber doch nicht das Zimmer oben im Kamin?«, fragte Mary. »Das war sein Arbeitszimmer«, antwortete William. »Sein Laboratorium muss irgendwo anders gewesen sein.« »Wo?«, fragte Alice. »Na ja, wir waren mit Onkel Jack überall im Haus«, sagte William. »Ich glaube, jeder Raum hätte dazu benutzt werden können… Aber er erwähnt in dem Buch jemanden, der ihm beim Mauern hilft… Erinnert ihr euch an den zugemauerten Bogen im Hauptkeller? Den Onkel Jack Krypta nennt? Glaubt ihr, der hat was damit zu tun?« »Ziemlich auffällig, wenn es so ist«, sagte Mary. »Naja…«, fuhr William nachdenklich fort. »Es ist entweder ein Raum, der irgendwie verschlossen worden ist, oder… es könnte unterirdisch sein.« »Wenn wir es finden würden«, sagte Alice, »wie sollen wir es schaffen, in der Zeit zurückzugehen?« »So wie ich, denke ich, als ich Morten gesehen habe. In einem Tier. Das ist doch die zweite Sache, die er uns immer erzählt. Morten kann nicht in unserer Zeit erscheinen – jedenfalls nicht so, wie es der Magier tut. Er hat es noch nicht fertig gebracht. Das Einzige, was er tun kann, ist… irgendwie… in unsere Welt zu sehen, indem er seinen Geist in bestimmte Tiere oder Vögel treten lässt.« »Wie in die Krähe«, sagte Mary. »Und die Ratte«, ergänzte William. »Meinst du die Ratte an Weihnachten?«, fragte Alice und schüttelte sich. »Das war am schlimmsten.« »Und die Ratte heute«, sagte William sachlich. »Du meinst… die Ratte, die Spot gejagt hat, war eine MortenRatte?«, japste Alice. »Wahrscheinlich«, antwortete William. »Wahrscheinlich hat er überall Spione. Wie die Spinne im Geheimzimmer, die Jasper gefressen hat.« »Das ist etwas, das ich nicht verstehe«, sagte Mary. »Als Jasper die Spinne gefressen hat… hat er da Morten gefressen? Als Falco die Krähe beim Kampf um Golden Water getötet hat – hat er da Morten
getötet?« »Nein, das glaube ich nicht. Es ist mehr wie… eine Fernsehstörung. Morten konnte nicht mehr sehen, was passierte – oder es hören –, als die Verbindung zu seinem Spion unterbrochen wurde.« »Aber als der Magier in Bawson steckte und dieser Hund ihn angegriffen hat… Naja, der Hund hat den Dachs angegriffen, aber der Magier hat immer noch einen schlimmen Arm von dem Biss.« William nickte. »Wenn man wirklich in der Zeit reist – ich meine, wenn man wirklich seinen Körper in die neue Zeit mitnimmt –, dann sind vielleicht die Regeln anders. Vielleicht besitzt man dann den anderen Körper wirklich. Vorher weißt du nur, wie der andere Körper sich anfühlt, und siehst, was er sieht…« Alice kratzte sich an der Wange. »Genauso war es für mich, als ich nach dem Kampf in Spot war. Ich konnte alle seine Wunden und Beulen fühlen – aber ich hatte natürlich selbst keine.« »Aber«, sagte Mary ruhig, »wie erklärt ihr euch dann, was mir passiert ist?« »Was meinst du?«, fragte William, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock. »Wie erklären wir uns, dass du alle Wunden hast, die die Elster beim Kampf um Golden Water bekommen hat?« »Genau,« sagte Mary fast ängstlich. »Warum habe ich alle diese Kratzer und Beulen? Ich bin noch nie in der Zeit gereist. Wie erklärst du dir das?« »Woher willst du wissen, dass du das nicht doch getan hast?«, sagte William nach einem Moment. »Vielleicht bist du in der Zeit gereist und hast es nicht gewusst?« »Ach!«, protestierte Mary. »So was passiert mir einfach nicht. Das geschieht doch nur immer Alice und dir.« William starrte sie nachdenklich an. »Trotzdem weiß ich nicht, warum du die Kratzer hast«, sagte er, als ob er ihr zustimmte. »Bitte!«, jammerte Alice. »Ihr kommt schon wieder vom Thema ab. Was machen wir jetzt?« »Schlafen gehen!«, sagte William. »Und morgen früh – rauf zum See.« »Wofür soll das gut sein?« »Weil ich von da oben in die Vergangenheit schauen konnte – als ich Morten gesehen habe. Und Mary ist dort in der Elster geflogen.
Ich glaube, es hat etwas mit dieser Energielinie zu tun, von der der Magier erzählt hat. Erinnert ihr euch? Er hat gesagt, dass es da oben drei Linien gibt. Die dunkle Linie – das ist der Dunkle und Schreckliche Weg; die helle Linie – das ist der Reitweg nach Four Fields; und dann eine geheime mittlere Linie, deren Namen er uns nicht gesagt hat. Wisst ihr noch, als ich Steine übers Wasser hüpfen ließ? Da kamen Steine einfach aus dem Nichts und meine verschwanden in der Luft. Ich bin sicher, das passierte genau auf dieser Linie. Ich glaube, Morten hat in seiner Zeit Steine schlittern lassen und seine Steine haben irgendwie… die Zeit gewechselt.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Es ist ein bisschen kompliziert und ich habe noch keine richtige Erklärung dafür. Aber ich bin sicher, so ähnlich muss es gewesen sein.« »Du bist genial, William«, sagte Alice und unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest.« »Als wir dann mit Stephen Tyler gerudert sind«, fuhr William unbeirrt fort, »wisst ihr noch, wie gezielt er das Boot anhielt? Da waren wir genau über derselben Linie.« »Aber – was für eine Linie? Ich habe nie eine Linie gesehen«, beklagte sich Alice. »Weil man sie nicht sehen kann – wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss. Aber wir haben sie bemerkt, Alice. Wir alle. In den Osterferien, als wir das erste Mal oben bei Golden Water waren. Erinnerst du dich nicht? Sie verläuft durch die Mitte dieses Hauses, durch die Eibe, durch den stehenden Stein, schnurgerade durch die Mitte des Sees und…«, er klatschte aufgeregt in die Hände, »natürlich durch diesen Tunnel hinter dem Wasserfall! Der liegt auch genau darauf. Wir sollten ihn untersuchen. Wir nehmen Taschenlampen mit. Wir erzählen Phoebe, wir würden den ganzen Tag unterwegs sein. Sie scheint jetzt nichts mehr dagegen zu haben… Ich wette mit euch, dieser Tunnel hat etwas mit dem Geheimgang zu tun.« »Was für ein Geheimgang?«, wisperte Alice mit vor Aufregung weit aufgerissenen Augen. »Es soll doch einen geheimen Gang vom Haus bis zu dem Kloster geben, zu dem das Haus ursprünglich gehört hat. Ja!«, rief William aufgeregt. »Das machen wir als Nächstes. Wir untersuchen den Tunnel hinter dem Wasserfall.«
21 Die Rückkehr der Ratten Das war also der Plan. Aber als der nächste Morgen kam und Spot immer noch nicht zurück war, machte sich Alice solche Sorgen um ihn, dass sie die anderen davon überzeugte, erst in Four Fields vorbeizugehen, bevor sie irgendetwas anderes unternahmen. Als sie Golden Water erreichten, wollte William eine Weile beim stehenden Stein bleiben und Mary hoffte immer noch, dass sie Lutra anlocken könnten. »Lutra muss doch jeden Zentimeter des Sees kennen«, sagte sie. »Ich bin sicher, er könnte das Pendel finden, wenn es noch da ist.« Aber Alice ließ nicht locker. »Bitte«, flehte sie. »Lasst uns einfach zuerst zu Meg gehen. Spot geht oft dahin, weil er da gelebt hat. Ich muss einfach wissen, ob es ihm gut geht, dann mache ich alles, was ihr wollt.« »Dann geh doch allein, Alice«, sagte Mary, hockte sich ans Ufer und blickte über den See. Aber William schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir sollten vorläufig zusammenbleiben«, sagte er grimmig. »Warum das?«, fragte Mary und sah zu ihm hoch. »Wegen dem, was mit der Krähe passiert ist«, antwortete William und sah sich um. »Wenn Morten jetzt wirklich kämpft – können seine Tiere überall sein.« Sie gingen quer durch den Buchenwald nach Four Fields und erreichten das Gatter in der Hecke ohne den Reitweg zu benutzen. So gingen sie immer, wenn sie Meg nach dem Schwimmen besuchen wollten. Sie kannten hier jeden Stein. Als sie über die erste Wiese kamen, merkte Mary, dass die beiden Kühe und die sechs Schafe fehlten. »Wo können sie nur sein?«, sagte sie. Alice kletterte bereits über das zweite Gatter. Von hier aus konnten sie Megs Haus schon sehen. Es war so von Kletterpflanzen überwuchert, dass es fast wie ein wilder Strauch aussah. Um sie herum war es seltsam still. Beunruhigend still. William blickte sich unbehaglich um. »Es ist so furchtbar ruhig hier«, flüsterte er.
Sogar Alice zögerte, nachdem sie über das Gatter geklettert war, obwohl sie es so eilig gehabt hatte, hierher zu kommen. Nahe beieinander gingen sie langsam auf das Haus zu. »Ich fühle mich, als würde ich die ganze Zeit beobachtet«, wisperte Mary. »Vielleicht sollten wir Meg rufen?«, sagte Alice. Aber sie wollte es nur ungern selbst tun und hoffte, einer der anderen würde ihren Wink verstehen. Sie hatten fast schon die Haustür erreicht, als sie Megs Kühe und Schafe entdeckten. Sie waren auf der Wiese in einem Pferch aus Maschendraht eingesperrt und sahen ganz friedlich aus. Die Kühe hatten sich hingelegt und kauten regelmäßig, die Schafe grasten um sie herum. Mary öffnete die Eingangstür. Zwei der Katzen schliefen fest und einer von Spots Brüdern lag ausgestreckt auf dem Boden. Er schreckte plötzlich hoch, als sie hereinkamen, wedelte mit dem Schwanz und kroch zu ihnen, als er sie erkannte. »Hallo? Meg?«, rief William. Er bekam keine Antwort. Vorsichtig stieß er die Küchentür auf. Der unordentlich voll gestopfte Raum sah aus wie immer, aber Meg war nicht da. Sie bemerkten einen starken Geruch, den sie zuerst nicht einordnen konnten. »Igitt! Petroleum!«, sagte Mary. »Megs Ofen stinkt aber wirklich furchtbar.« »Hier stimmt was nicht«, murmelte William und lief zurück zur Haustür. »Meg? Meg?«, rief er. Und dann sahen die Mädchen ihn über das Feld laufen. »Meg?« »Er hat etwas entdeckt«, schrie Mary und lief hinter ihm her. Sie fanden Meg auf dem Boden neben dem Weg, der zur Straße am Moor führte. Sie war bewusstlos, aber sie atmete. An einer Seite ihres Kopfes klaffte eine Wunde. Es sah aus, als wäre sie gestürzt und hätte danach das Bewusstsein verloren. »Was können wir nur tun?«, jammerte Alice. »Wir müssen Hilfe holen«, sagte Mary. Sie blickte den Weg hinunter. »Von hier bis in die Stadt ist es zu weit. Jenkins’ Farm ist die nächste. Wir gehen besser dahin…« Der Hund, der im Haus eingeschlossen gewesen war, kam jaulend zu ihnen gelaufen. Er beschnupperte und leckte Megs Gesicht. Meg bewegte sich stöhnend.
»Ihr bleibt bei ihr«, bestimmte William und lief den Weg hinunter. »Hat jemand von euch Geld dabei?«, rief er. Aber sie hatten keins. »Bei Jenkins’ Farm ist eine Telefonzelle. Ich rufe den Notarzt. Wenn nur Cinnabar hier wäre…« Damit verschwand er um die nächste Kurve. Meg kam langsam wieder zu Bewusstsein. Sie schien starke Schmerzen zu haben und stöhnte. »Sollen wir Wasser holen?«, fragte Alice. »Ich weiß nicht«, erwiderte Mary. Sie war verzweifelt, weil sie nicht wusste, was sie tun sollten. »Ich hole jetzt Wasser«, wiederholte Alice entschlossen, um sich Mut zu machen. Sie stand auf und lief los, um einen Krug aus dem Haus zu holen. »Bring auch eine Schüssel und ein Handtuch mit, Alice«, rief Mary. »Vielleicht sollten wir ihr das Gesicht waschen. Kannst du das allein? Du musst frisches Wasser aus dem Brunnen holen.« »Ist okay, ich weiß schon«, rief Alice und rannte los. Sie war froh, dass sie etwas tun konnte. Mary kniete sich neben Meg und nahm ihre Hand. Die alte Frau reagierte zuerst nicht, aber dann fühlte Mary, wie ihre Hand fester gepackt wurde. Sie blickte auf Megs Gesicht und sah, dass ihre Augen offen waren. »Ratten!«, wisperte die alte Frau. »Was?«, sagte Mary und legte ein Ohr nahe an die Lippen der alten Frau. »Ratten!«, wiederholte Meg und ihre Hand begann zu zittern. »Sie waren überall. Die Hunde haben sie verjagt.« Dann wurde sie aufgeregter. »Die Tiere…«, stöhnte sie. »Alles in Ordnung. Sie sind alle in Sicherheit«, beruhigte Mary sie. »Was tut dir weh, Meg?« »Das Bein«, antwortete die alte Frau. »Und der Kopf…« Dann lächelte sie. »Alles tut mir weh, um die Wahrheit zu sagen!« »Du solltest lieber nicht mehr reden« sagte Mary und tupfte der alten Frau sanft das Gesicht ab. »William holt Hilfe und Alice bringt dir Wasser.« Der Geruch nach Petroleum war kaum auszuhalten. Alice durchquerte die Küche und drängte sich an dem Durcheinander von Möbeln vorbei zum übervollen Geschirrschrank. Sie nahm eine Porzellanschüssel, einen Becher und einen großen Krug heraus. Dann sah
sie sich nach einem Handtuch um. Neben dem Spülstein hing eines am Haken. Sie schob sich weiter durch den Raum, fiel über ein paar Gummistiefel, die unter einem Packen alter Zeitungen versteckt waren, und zerbrach beim Fallen fast den Krug. Als sie wieder aufstand, entdeckte sie in einer Ecke neben dem Spülstein einen alten blauen Kanister mit einem Hahn an der Seite. Daraus tropfte Petroleum auf den Teppich herab. Alice drehte den Hahn zu und wusch sich schnell die Hände in einer Schüssel Wasser im Spülstein. Dann nahm sie sich das Handtuch und lief hinaus in den Flur. Die Ratte beobachtete sie vom Geschirrschrank aus, auf den sie geklettert war, als sie Alice ins Haus kommen hörte. Sie wartete, bis Alice aus der Eingangstür hinaus war, kam aus ihrem Versteck hervor und begann um den Kamin herumzustöbern. Alice lief aus dem Haus zum Brunnen und füllte den Krug mit frischem Wasser aus dem Eimer. William war fast schon an der Straße zum Moor, als er ein Auto kommen hörte. Einen Augenblick später erschien Spot. Er humpelte die Straße entlang und ein Landrover folgte ihm. »Weißt du, was los ist, William?«, fragte Mr. Jenkins, der Farmer, und lehnte sich aus dem Landrover. »Der Hund war ziemlich aufgeregt.« »Meg hatte einen Unfall. Ich glaube, wir brauchen einen Krankenwagen.« »Wo ist sie?«, fragte Mr. Jenkins, als William und Spot in den Landrover kletterten. »Weiter oben am Weg«, japste William. Er war vom Laufen ganz außer Atem. »Ich habe schon lange befürchtet, dass so was mal passiert«, sagte Mr. Jenkins, warf den Gang ein und raste los. »Ich seh sie mir kurz an, dann hole ich Hilfe. Das wird wohl ihr Ende hier sein, fürchte ich. Eine alte Frau kann nicht ewig allein leben.« Als Mr. Jenkins Megs Zustand kontrolliert hatte, stieg er wieder in den Landrover. »Ich möchte sie nicht gerne selbst bewegen«, erklärte er. »Man kann nicht wissen, wie schwer sie verletzt ist. Das sieht nach einem gebrochenen Bein und einem ziemlichen Schlag auf den Kopf aus – aber ich bin kein Arzt. Ihr bleibt bei ihr. Ich komme so schnell wie möglich zurück«, rief er durch das Fenster und brauste davon. Spot legte sich neben den Weg und leckte seine Pfoten. Alice saß neben ihm und legte ihm tröstend die Hand auf den Nacken.
»Was ist passiert, Spot?«, fragte William, sobald der Farmer verschwunden war. »Meg hat etwas von Ratten gesagt«, erzählte Mary. »Ja. Da waren Ratten. Hunderte«, sagte Spot. »Ich weiß nicht, wo Jasper bloß steckt. Dieser Vogel ist nie da, wenn man ihn braucht. Aber, um fair zu sein, wir sind im Moment alle ein bisschen durcheinander. Der Meister ist verschwunden«, grummelte er, »und ihr scheint auch nicht zu wissen, was zu tun ist.« »Erzähl uns einfach, was passiert ist, Spot«, bat William, der den Vorwurf des Hundes heraushörte. »Es fing alles an, als die Frau euch etwas über dieses Buch erzählt hat, das sie mitgebracht hatte. Ich schlief gerade so schön. Wenn der Meister nicht da ist, hat man wenigstens mal Zeit für ein Nickerchen! Zuerst habe ich die Ratte gar nicht bemerkt. Um ehrlich zu sein, habe ich tatsächlich zuerst den Assistenten gerochen. Ich habe die Ratte gejagt, ich habe mich ziemlich ins Zeug gelegt und habe sie trotzdem nicht gekriegt. Jammerschade! Dann hat mich ein Kaninchengeruch abgelenkt und ich habe nicht mehr weiter an sie gedacht. Sehr dumm von mir! Denn sie hatte natürlich alles gehört, was sie wissen musste, nicht wahr?« »Was meinst du damit?«, fragte William. »Die Frau hat doch gesagt, Meg würde Four Fields nicht verkaufen. Und darum geht es doch hier. Wenn Meg nicht verkauft – dann müssen sie sie auf andere Weise loswerden.« »Mr. Jenkins sagt, dass sie jetzt sowieso umziehen muss«, sagte William. »Das ist noch nicht sicher«, knurrte Spot. »Sie kann einen ganz schönen Dickkopf haben!« »Mit wem sprecht ihr?«, wisperte Meg. »Schhh! Alles in Ordnung, Meg. Mr. Jenkins war hier. Er geht Hilfe holen.« »Was bin ich doch für eine Plage. Die Kühe müssen gemolken werden…« »Mäusedreck!«, murmelte Alice. »Hoffentlich müssen wir das nicht machen. Ich kapiere das mit dem Melken nicht.« »Ist schon gut«, sagte William zu Meg. »Mr. Jenkins kommt gleich zurück. Er kümmert sich um alles.« Die Ratte fand eine Schachtel Streichhölzer auf dem Kaminsims. Sie packte sie mit den Zähnen, sprang hinunter auf das Ablaufbrett und vom Ablaufbrett auf den Boden. Hier unten war es ein Leichtes,
die Schachtel aufzuschieben. Das hatte sie die Menschen schon tausendmal tun sehen. Sie klemmte ein Streichholz vorsichtig zwischen ihre großen Vorderzähne, stellte die Schachtel auf die Seite und rieb das Streichholz über die raue Oberfläche. Ein kleiner Funke knisterte und verlosch. Das dritte Streichholz fiel auf den mit Petroleum voll gesogenen Teppich. Eine der Katzen kam zitternd angelaufen. Spot war sofort auf der Hut. Er stand auf und seine Nackenhaare sträubten sich. »Was ist los?«, jaulte er. Sie sahen den Rauch, noch während sie über das Feld liefen. Mary blieb bei Meg und wieder einmal, dachte sie, verpasste sie das ganze Abenteuer. »Vorsicht!«, schrie William, als rotgelbe Flammen durch das Efeu züngelten, das die unteren Fenster bedeckte. »Die Kühe und die Schafe, William!«, rief Alice. Sie liefen zu dem Behelfsgatter des Maschendrahtzaunes und öffneten es. Die Kühe rannten verängstigt über die Weide davon. Aber die Schafe waren so verwirrt, dass sie immer im Kreis liefen. »Blödes Viehzeug!«, bellte Spot und schnappte nach ihren Beinen, bis sie sich endlich vom Haus wegbewegten. Dann standen Alice und William wie versteinert da, schützten ihre Gesichter mit den Händen vor der großen Hitze, die das brennende Gebäude ausstrahlte, und mussten hilflos mit ansehen, wie Megs gesamter irdischer Besitz ein Raub der Flammen wurde. »Was ist denn los?«, murmelte Meg und bewegte nervös ihre Hände. »Schhh! Alles in Ordnung. Es ist nichts«, sagte Mary zu ihr, aber dann sah sie eine Rauchwolke über den Bäumen aufsteigen und roch das Feuer in der warmen Sommerluft. Meg wurde in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Mr. Jenkins trieb die Schafe und Kühe zusammen, nahm auch Megs vier Hühner mit und sagte, er würde sich um die Tiere kümmern. Die Kinder holten die Hunde, nahmen jeder eine der zitternden, verschreckten Katzen auf den Arm und kehrten noch vor dem Mittagessen nach Golden House zurück. Phoebe war überrascht, dass sie schon wieder zu Hause waren, und als Jack hörte, was passiert war, beschloss er gleich am Nachmittag zum Krankenhaus zu fahren, um nach Meg zu sehen.
Als sie alle um den Küchentisch saßen, sagte Phoebe plötzlich: »Das ist doch ein sehr großer Zufall, oder nicht? Die Crawdens haben jetzt alles, was sie wollen. Meg hat keinen Platz mehr, wo sie wohnen könnte. Sie muss jetzt das Geld annehmen und sich ein Haus kaufen.« Sie schluchzte plötzlich auf. »Ich kann es nicht ertragen, dass Four Fields zerstört ist. Wohin wird sie gehen, Jack?« »Ich weiß es nicht«, sagte er ruhig. »Sie wird am Boden zerstört sein, wenn sie erfährt, was passiert ist. Four Fields war ihr Zuhause.« »Was wird jetzt aus den Dachsen?«, fragte Alice leise. »Sie muss einfach bei ihren Dachsen sein.« »Jetzt, wo das Haus abgebrannt ist, hat sie wohl keine Wahl mehr«, sagte Jack. »Sie wird sich in der Stadt nach einer Bleibe umsehen müssen, denke ich.« »Aber sie hasst es, wenn sie nicht bei ihren Dachsen sein kann«, rief Alice. »Sie sind ihre Familie. Sie liebt sie mehr als die Menschen. Das hat sie selbst gesagt.« »Sie kann doch nicht im Zelt leben, Alice!«, sagte Jack. »Sie kann nirgendwo anders hin.« Da erklärte Mary gelassen: »Außer hierhin natürlich. Sie wäre immer noch bei ihren Dachsen, wenn sie hier in Golden House wohnen würde.«
22 Der Ort der Träume Am folgenden Morgen gingen die Kinder nach dem Frühstück wieder hinauf zum See. Megs Hunde hatten die Nacht auf dem Hof im Nebengebäude gegenüber der Küche zugebracht und die Katzen hatten eine Weile in der Halle geschlafen, brachten dann aber große Teile der Nacht damit zu, im Haus herumzustreifen. Als Phoebe am Morgen herunterkam, schliefen sie zusammengerollt vor dem Küchenherd. Phoebe hatte die vielen Tiere nur zögernd ins Haus gelassen und Jack hatte darauf bestanden, dass die Hunde nicht im Haus schliefen. »Ein Hund im Haus ist genug«, sagte er, als Alice vorschlug sie alle mit in ihr Zimmer zu nehmen und sie dort schlafen zu lassen. Spot schien jedoch mit Jack einer Meinung zu sein. Als einer seiner Brüder durch die Küchentür wieder ins Haus schlüpfen wollte, während Phoebe vor dem Schlafengehen noch den Abfall auf den Komposthaufen brachte, war er bellend und knurrend auf das arme Tier losgegangen und hatte es jaulend in die Nacht hinausgejagt. »Spot!«, rief Alice. »Ich hätte nie gedacht, dass du so scheußlich sein kannst! Das ist doch deine Familie!« »Sie sind Draußen-Hunde«, grollte er. »Außerdem ist das hier mein Haus.« Am Nachmittag hatten sie alle Meg im Krankenhaus besucht. Aber sie war noch benommen und schläfrig und sie waren nicht lange bei ihr geblieben. Seit Mary vorgeschlagen hatte, dass Meg doch in Golden House leben könnte, war nicht mehr darüber gesprochen worden und die Kinder wussten nicht, was Phoebe und Jack von der Idee hielten. Schließlich entschied William, dass sie den ursprünglichen Plan, den Tunnel zu untersuchen, weiterverfolgen sollten. Er hatte nur wenig geschlafen und war schon kurz nach dem Morgengrauen aufgestanden, um seine Schwestern zu wecken. Jetzt saß er auf Marys Bett und die drei sprachen leise flüsternd miteinander. »Es ist alles allein unsere Schuld«, sagte er. Er meinte Megs Unfall und das Feuer im Haus. »Wir haben sie gebeten uns zu helfen.
Deswegen hat sie wohl diesem Rechtsanwalt den Brief geschrieben, dass sie Four Fields nicht verkauft. Sie hat es für uns getan. Wenn sie es nicht getan hätte, wäre das alles nicht passiert.« »Aber wir haben es doch nicht absichtlich getan, William«, widersprach Mary verschlafen. Es war ein bisschen zu früh am Morgen für schwierige Diskussionen. »Was sollen wir tun, Will?«, fragte Alice. Sie kniete auf ihrem Bett, von wo aus sie einen guten Blick aus dem Fenster hatte. Es war ein strahlender Morgen. Der Tag versprach wieder heiß zu werden. Ein leichter Wind bewegte die Vorhänge und das Vogelgezwitscher aus dem fernen Wald hätte sie fröhlich stimmen müssen. Aber Alice seufzte niedergeschlagen, als sie daran dachte, was am Tag zuvor geschehen war. »Wir haben so gut wie verloren, oder nicht?« »Nein, das haben wir nicht«, antwortete William fest. »Ich gebe nicht auf. Ich bin jetzt noch fester entschlossen Morten zu schlagen. Ich habe die ganze Nacht über nichts anderes nachgedacht. Wir werden versuchen zu beweisen, dass das Land nicht den Crawdens gehört. Miss Prewett hatte Recht – wenn wir das tun können, dann gehen sie und lassen uns in Ruhe.« »Aber dann werden sie doch auch Megs Land nicht mehr kaufen«, sagte Mary. »Und jetzt braucht sie das Geld doch noch mehr als vorher. Vielleicht ist es besser, wir lassen sie weitermachen. Ich meine – auch wenn Meg hier wohnt – wovon soll sie leben? Jack kann nicht auch noch für sie bezahlen.« »Warum kann er nicht?«, fragte Alice. »Sie ist doch bestimmt nicht sehr teuer.« »Er hat doch kaum genug Geld für sich und Phoebe und Stephanie«, erklärte Mary. »Und Meg muss schrecklich arm sein – so wie ihr Haus aussah. Sie hatte noch nicht mal einen ordentlichen Sessel. Warum muss Geld immer so wichtig sein? Aber das ist es. Ich kann verstehen, dass Jonas Lewis Gold machen wollte, als er pleite war. Dem Magier macht das nichts aus. Ich wette, er war wirklich reich, wo er sich so ein großes Haus leisten konnte. Aber Jack ist es nicht – darum braucht er so lange mit den Arbeiten am Haus. Und Meg – sie hat schließlich jetzt alles verloren, oder nicht?« »Sie hat nur ihr Haus verloren, Mary«, sagte William. »Und das war wirklich nicht mehr viel wert. Sie hat immer noch ihre Tiere…« »Nicht viel wert?«, rief Alice. »Ich finde, es war das beste Haus auf der ganzen Welt!« »Und noch was. Wenn sie hier lebt«, fügte Mary hinzu, »was pas-
siert dann mit ihren Kühen und Schafen? Hier kann sie die Tiere nicht halten. Es gibt nicht genug Platz.« »Eins nach dem anderen«, sagte William. »Zuerst müssen wir die Crawdens aufhalten. Dann kümmern wir uns um alles andere.« Sobald das Frühstück vorbei war, machten sich die Kinder auf den Weg nach Golden Water. Diesmal nahmen sie Rucksäcke mit, in denen Picknickpakete, Taschenlampen und nützliche Dinge wie Kordel, Taschenmesser, Leukoplast und Williams Kompass verstaut waren. »Man weiß nie, was man so braucht«, sagte William. Spot begleitete sie, aber als die anderen Hunde sich ihnen anschließen wollten, verscheuchte er sie. Als sie Golden Water erreichten, hielt William nicht beim stehenden Stein an. Er hatte es zu eilig, zum Tunnel hinter dem Wasserfall zu kommen. Er ging so schnell, dass Alice laufen musste, um Schritt zu halten. Mary blickte über den See und hoffte ein Zeichen von Lutra zu entdecken. Aber nur ein paar Krähen zogen ihre Kreise über dem Tannenwald und ein Schwarm Stare flog zwitschernd und lachend am Himmel entlang. »Abscheuliche Vögel«, murmelte Mary und beeilte sich William und Alice einzuholen, weil sie nicht allein sein wollte. Golden Spring blitzte und funkelte im Sonnenlicht. Als sie endlich den Felsvorsprung erreichten, waren sie völlig außer Atem und hatten Herzklopfen. »Das ist doch kein Wettlauf, William«, schrie Mary, als sie sich an dem steilen Abhang hochzog und sich gegen einen Felsblock lehnte, um Luft zu holen. Aber William war erhitzt und immer noch wild entschlossen. Er zögerte nur einen Moment und schob sich dann über den Vorsprung zum Wasserfall. »Kommt schon«, brüllte er. »Je eher man uns nicht mehr sehen kann, desto besser.« Dabei blickte er zum Himmel hinauf, wo mehrere Krähen bedrohlich kreisten. Die Schwärze umfing sie fast sofort. Aber diesmal hatten sie Taschenlampen und konnten ihren Weg sehen. Der Tunnel war nicht mehr als ein schmaler Felsspalt, gerade breit genug, dass sie hintereinander hergehen konnten. Sie kamen zu der Stelle, wo er breiter wurde. Durch eine Öffnung hoch über ihnen fiel ein wenig Tageslicht herein. »Hier hat der Magier seine Versammlung abgehalten«, wisperte
William, »als wir ihn das letzte Mal sahen. Warum hat er wohl diesen Ort gewählt?« Er beleuchtete mit seiner Taschenlampe die glatten Felswände um sie herum. »Ist es eine Sackgasse?«, fragte Mary enttäuscht. »Ich dachte, von hier aus ginge es noch irgendwohin.« »Das hatte ich auch gehofft«, stimmte William zu. »Warum hat er diesen Ort ausgewählt, um uns alle zu sehen?« Spot jaulte leise. Er saß auf dem Boden der Höhle und blickte eifrig zu William hoch, als ob er versuchte dessen Worte zu verstehen. William ging langsam in der Höhle herum und leuchtete mit seiner Taschenlampe in jede Ecke. »Dieser Ort liegt auf einer Linie mit dem stehenden Stein und der Eibe. Das wissen wir«, sagte er langsam. »Und die Eibe liegt auf einer Linie mit dem Taubenhaus und den Fenstern vom Geheimzimmer«, fügte Mary hinzu. »Also sind wir auf der verborgenen mittleren Linie. Jetzt, während wir hier sprechen, sind wir darauf. Wie hat er sie genannt? Eine Energielinie…« William entfernte sich langsam und leuchtete die Wände mit seiner Taschenlampe ab. »Was ist das für ein Ort?«, flüsterte er. »Was hat es mit ihm auf sich?« »Es ist der Ort der Träume«, sagte eine Stimme und einen Moment später trat Stephen Tyler aus den dunklen Schatten und stand vor ihnen. Er stützte sich auf seinen Silberstab und hielt eine Laterne, in der eine Kerze flackerte. »Oh!«, seufzte William erleichtert und überglücklich, den Magier wiederzusehen. »Ich dachte schon, Sie kämen niemals wieder hierher.« »Das musstest du denken, William. Du musstest allein hierher finden«, sagte der alte Mann sanft zu ihm. »Aber wo sind wir?«, fragte William. »In Wirklichkeit – oder in der Magie?«, fragte der Magier. »In Wirklichkeit ist dies eine sehr alte Höhle. In alten Zeiten benutzten die Menschen sie vielleicht als einen Ort der Verehrung. Seht hier«, sagte er und hob seine Laterne, so dass sie undeutliche Linien auf dem glatten Stein erkennen konnten. »Es sieht aus wie ein Pferd«, rief Alice überrascht. »Eine Zeichnung von einem Pferd.« Sie rückten näher an die grobe, einfache Zeichnung auf dem Fel-
sen heran. Neben dem Pferd gab es noch den Abdruck einer Hand und eine Ansammlung von Linien, die keinen Sinn ergaben. »Ein Pferd, eine Hand und… was noch?« »Wer wird das jemals wissen?«, fragte Stephen Tyler. »Jemand hat einst hier versucht das zu zeichnen, was er sah. Denk darüber nach, William. Wer diese Zeichnung gemacht hat – hatte noch nie zuvor eine Zeichnung gesehen. Er tat etwas völlig – gänzlich – Neues. Wie oft tun wir noch etwas Ursprüngliches, etwas wirklich Neues? Das war es, was ihr tun musstet, ihr Constant-Kinder. Ihr musstet selbst nachdenken. Normalerweise denken wir nur die Gedanken anderer. Unsere Lehrer, unsere Eltern oder unser Magier geben uns die Ideen… und wir machen sie uns zu Eigen. Aber bei dieser Arbeit, der Alchimie, ist es manchmal notwendig… einzigartig zu sein. Warum?« Er verstummte und sie schienen die Stille um sich herum hören zu können. »Warum ist es notwendig?«, wiederholte er die Frage. »Weil wir einzigartig sind«, antwortete William. »Es gibt niemanden, der so ist wie ich. Oder wie Alice oder wie Mary… oder auch wie jemand ganz anderes… Jeder Mensch auf der Welt ist verschieden…« Der Magier nickte. »Wie viele Millionen Menschen auch geboren werden – noch nicht einmal zwei davon sind völlig gleich. Eine unbegrenzte Zahl von Variationen des gleichen Themas. Unsere Einzigartigkeit ist das Gold in uns, die Schlacke ist unser Streben danach, gleich zu sein. Ihr konntet das nur hier an diesem Ort erfahren. An diesem heiligen Ort. Jetzt müssen wir zusammen dieses Land retten. Weil es ebenfalls einzigartig ist – nirgendwo gibt es etwas Ähnliches. Die Menschen finden diese Höhle nicht zufällig. Die Tiere kennen sie, die Vögel, die Insekten, die Geschöpfe der Natur. Sie wissen, wo sie ist. Und auch der Mensch, der diese Zeichnungen machte, kannte diesen Ort.« »Aber – ist sie wirklich hier?«, fragte Alice. »Oder träumen wir das nur?« »Sehr gute Frage«, antwortete der Magier. »Sie ist hier – in Wirklichkeit –, wenn du weißt, wonach du suchen musst.« »Ich meine – könnte jemand sie einfach… zufällig finden?«, fragte Alice. »Es sähe wie Zufall aus – aber er würde sie nicht finden, wenn es
nicht richtig für ihn wäre.« »Weiß Morten, dass es sie gibt?«, fragte Mary. »Noch bessere Frage!«, sagte der Magier lächelnd. »Nein – und wenn er es wüsste… zum Beispiel, wenn er euch gefolgt wäre und hierher käme…. wäre sie bedeutungslos für ihn. Sie wäre einfach nur eine Höhle und diese Zeichnungen wären nur Kratzer an der Wand.« »Warum?«, fragte William. »Weil er nur sieht, was er zu sehen erwartet, und nicht darauf vorbereitet ist, das Unbekannte zu glauben.« Der alte Mann drehte sich um, hob die Laterne wieder hoch und beleuchtete damit das über die Höhlenwand galoppierende Pferd. Die Kinder konnten die stampfenden Hufe und ein fernes Wiehern hören. »Wie können wir Morten aufhalten?«, fragte William. »Indem ihr ihn nicht wichtig werden lasst«, sagte der alte Mann seufzend. »Es ist sehr schwer, aber es ist der einzige Weg. Wir schenken Morten zu viel Beachtung. Davon wird er stärker.« »Aber – Sie haben doch gesagt, dass wir das tun sollten. Ihn aufhalten – oder besser Charles Crawden –, damit er diesen Ort nicht an sich reißt und zerstört. Ich dachte wenigstens, dass das unsere Aufgabe ist.« »Ja«, erwiderte Stephen Tyler. »Und ich will es sogar noch mehr als ihr. Aber wenn wir diesen Ort nicht retten können – wenn mein Assistent gewinnt und meine ganze Schöpfung hier zu nichts zerfällt – dann sei es so. Ihr habt eure Einzigartigkeit erfahren und das ist viel wichtiger.« »Das finde ich nicht«, sagte William. »Wir haben das nicht alles durchgestanden, damit er jetzt noch gewinnt. Er hat Megs Haus zerstört…« »Willst du Rache, William?«, fragte der Magier mit gefährlich ruhiger Stimme. »Nein, keine Rache. Gerechtigkeit. Sie haben gesagt, wir sollen gerecht handeln. Das will ich auch. Aber ich will nicht, dass die Bösen die ganze Zeit gewinnen. Wenn ich gerecht handle, dann will ich auch Gerechtigkeit. Für Meg. Für Jack und Phoebe und Stephanie. Für die Tiere, die hier leben. Ach, ich weiß es nicht.« William schüttelte gereizt den Kopf. »Ich will nicht versagen, nicht jetzt. Ich will Golden Valley retten.« »Ist das alles, was ihr wollt?«, fragte der Magier. Mary und Alice nickten, brachten aber kein Wort heraus.
»Dann gibt es vielleicht doch noch Hoffnung«, sagte der Magier ruhig. »Aber ihr müsst euch sehr ernsthaft fragen, warum ihr es wollt. Wenn euer Grund in irgendeiner Weise selbstsüchtig ist – könnte er euch zerstören. Das muss euch ganz klar sein: Handelt ihr selbstsüchtig, seid ihr verloren, aber handelt ihr reinen Herzens, dann gehört euch das Tal…« »Wir tun es, weil wir müssen!«, rief William. »Vielleicht ist das in Ihrer Zeit nicht so wichtig. Aber heute ist es das. Männer wie Charles Crawden zerstören unsere Welt. Die Regenwälder verschwinden, Wale und Delfine werden getötet, Elefanten werden wegen ihrer Stoßzähne aus Elfenbein umgebracht, die Erde wird vergiftet und es gibt das Ozonloch. Alles Dinge, die Sie nicht kennen, weil Sie in der Vergangenheit leben. Aber der Grund für das alles ist die Gier. Das habe ich von Ihnen gelernt. Und jetzt kann ich mich nicht zurücklehnen und die Dinge hier einfach geschehen lassen. Ich muss versuchen sie aufzuhalten. Vielleicht ist das nicht die Aufgabe, die Sie uns gestellt haben – aber es ist die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe.« »Geht zum See zurück«, sagte der Magier. »Lutra wird euch helfen.« »O nein!«, jammerte Alice. »Nicht die Blackwater Schleuse!« »Nun geht schon«, sagte der Magier. »Ihr habt eure Wahl getroffen. Meine Gebete werden mit euch sein. Seid auf der Hut. Handelt stets für das Allgemeinwohl, niemals für euch selbst. Mehr verlange ich nicht von euch.«
23 Die Reise durch die Unterwelt Lutra wartete schon auf sie. Sie sahen seinen Kopf aus dem Wasser ragen, als sie den Grashang zum Kieselufer hinunterliefen. »Ihr seid eine Plage«, begrüßte er sie. »Ich habe so schön geschlafen. Was wollt ihr?« William zuckte die Schultern und hockte sich hin, so dass sein Kopf auf einer Höhe mit dem des Otters war. »Weiß ich nicht«, sagte er. »Der Magier sagte, du würdest uns helfen.« »Also – was wollt ihr?« »Golden Water retten«, sagte Alice, warf sich neben William auf den Boden und hob einen Kiesel auf. »Hmmm!«, summte der Otter zweifelnd. »Wie wollt ihr das machen?« »Mit deiner Hilfe!«, sagte William grinsend. »Wir wissen nicht genau, wie, Lutra. Ich dachte, wenn wir das Laboratorium des Magiers finden würden…« »Ist das alles?«, fragte der Otter und hörte sich viel fröhlicher an. »Das ist leicht! Kommt ihr mit?« »Huch!«, rief Mary. »Was ist?«, fragte William. »Es passiert«, flüsterte sie. Und da tauchte sie schon mit dem Kopf unter Wasser, kam wieder hoch und schüttelte die Tropfen aus ihren Schnurrbarthaaren. Sie sah William und Alice am Ufer sitzen und fragte sich, wo sie wohl sei. Dann hörte sie ihren Bruder in ihrem Kopf wispern: »Hoppla! Es geht los!« »Komm her, Alice«, rief Lutra. »Ich nehme euch alle mit.« »Ich will aber nicht«, wehrte sich Alice. »Komm schon«, schmeichelte Lutra. »Es wird schon nicht so schlimm. Beim zweiten Mal ist es nie so schlimm.« Alice blickte ihn zweifelnd an, aber willigte dann doch ein mit den anderen zu gehen. Sofort drehte Lutra sich um, schlug einmal mit dem Schwanz und trieb sich damit bis zur Mitte des Sees. Das Wasser war ruhig und glasklar. Sie schwammen durch einen Schwarm winziger glänzender Fische, die auseinander stoben und
Reißaus nahmen, sobald sie den Otter bemerkten. »Diese Knirpse!«, schnaubte Lutra. »Ihr müsst mal mit mir auf Forellenjagd gehen. Forellen sind mein Lieblingsessen. Mögt ihr Forellen?« »Wir essen tatsächlich Forellen!«, rief Mary begeistert. Es war doch etwas anderes, in einem Tier zu sein, das das Gleiche mochte wie sie. Aber dann dachte sie daran, dass Lutras Forelle wohl roh sein würde, und beschloss ihn lieber nicht zu ermutigen. Es war schön, durch das ruhige Wasser zu schwimmen und um sich herum das Sonnenlicht funkeln zu sehen. Die Kälte drang kaum durch das dicke, wasserdichte Fell des Otters, und obwohl sie sich schnell vorwärts bewegten, war es nicht sehr anstrengend. Es ist wirklich fast wie in einem Boot, dachte Mary und fühlte, wie sie sich entspannte. Aber als sie die Mitte des Sees erreichten, wurde Lutras Stimme zu einem drängenden Flüstern. »Seid ihr bereit?«, sagte er. Und Marys kurze Freude war vorbei, denn sie hörte Alice keuchen: »O Lutra! Müssen wir?« »Ja«, antwortete der Otter. »Es ist der einzige Weg.« »Was ist?«, wisperte Mary in ihren Köpfen. »Wohin gehen wir?« Erst als Lutra mit einem weiteren Schlag seines Schwanzes in die Tiefe abtauchte, erinnerten sich Alice und William daran, dass Mary noch nicht durch die Blackwater Schleuse geschwommen war. »Bitte sagt mir doch, was passiert«, bettelte sie, als das Wasser an ihnen vorbeiströmte und das Licht schwächer wurde. »Nicht denken!«, zischte Lutra. »Ich muss mich konzentrieren.« Der Sog der Strömung wurde stärker. Sie konnten fühlen, wie der Otterkörper mitgezogen wurde. Die Temperatur sank und die Kälte drang ihnen bis unter die Haut. Plötzlich sahen sie die Felswand des Sees undeutlich vor sich. Sie schwammen zu schnell. Lutra streckte seine Vorderfüße nach vorne und schlug mit dem Schwanz, um sich zu drehen. Der Fels kam mit rasender Geschwindigkeit immer näher. Irgendetwas war schief gegangen. Lutra schaffte es nicht, sich umzudrehen. Mit letzter Kraft schlug er mit seinen Hinterbeinen und seinem Schwanz aus. William konzentrierte sich auf seine Beine. Er versuchte sie im gleichen Rhythmus wie Lutra zu bewegen. »Wir krachen dagegen«, schrie Alice. »Was ist los?«, rief Mary.
»Die Blackwater Schleuse!«, zischte Lutra. »Das ist los!« Und dann, als es fast zu spät war, drehte sich der Körper des Otters endlich und schürfte an der rauen Oberfläche des Felsens entlang. Sie wurden vom Sog des Wassers zu dem schwarzen Loch der Schleuse gezogen und schossen mit der stahlharten Strömung durch die schmale Öffnung. Halb betäubt und völlig außer Atem fanden sie sich schließlich auf dem Boden der Höhle wieder. Mary rappelte sich hoch. Ihr war schrecklich kalt. Einen Moment lang dachte sie, sie wäre allein in der schwarzen Dunkelheit. Aber dann hörte sie Alice schniefen und William keuchen. »Verdammt noch mal!«, rief er. William fluchte nicht oft. Und wenn er es doch tat, dann hatte er einen guten Grund dafür. »Tut mir Leid«, sagte Lutra fröhlich von irgendwoher aus der Dunkelheit ganz in ihrer Nähe. »Hab die Richtung falsch eingeschätzt. Bisschen schwierig, durch die Schleuse zu kommen. Ich hab auch keinen großen Spaß dabei. Und der Weg zurück zum See ist ziemlich lang. Klappt nicht durch die Schleuse, die Strömung ist zu stark. Aber gut, jetzt kommt mit.« »Aber wie sollen wir denn von hier aus zum Laboratorium des Magiers kommen?«, fragte William. »Wart’s ab«, zischte Lutra fröhlich. Sie mussten durch unzählige enge Gänge und tropfnasse Tunnel. Manchmal schwammen sie in tiefem Wasser, dann wieder krochen sie durch so enge Spalten, dass sie den rauen Fels an Lutras Körper zerren fühlten. »Was ist das für ein Ort?«, fragte Mary. »Die Unterwelt«, erwiderte Lutra. »Es gibt immer eine Unterwelt, weißt du?« Später kamen sie zu mehreren Tunneln, die hoch genug waren, dass die Kinder aufrecht hindurchgehen konnten. »Das sind die Minen«, erklärte Lutra, der vor ihnen hertrottete. »Die Menschen sind hierher gekommen und haben die Steine gestohlen. Manchmal haben sie so viele genommen, dass der Tunnel eingestürzt ist. Einmal ist ein Mensch hier verschüttet worden. Das hat mir mein Vater erzählt. Er hat gesagt, sein Vater hat dem Menschen dann herausgeholfen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Kann auch einfach nur eine Geschichte sein.« Während Lutra noch erzählte, kamen sie an eine steile Klippe. »Ist schon in Ordnung«, sagte Lutra. »Ich kann nicht gut klettern, aber da unten ist Wasser.« Damit ließ er sich durch die Dunkelheit
hinunterfallen und sie landeten in noch mehr schwarzem Wasser. Sie schienen jetzt in einer Art Fluss zu sein, aber es war viel zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Das Wasser war jedoch tief und fühlte sich breiter an. »Es gibt viele solche Flüsse in der Unterwelt«, erzählte Lutra. »Sie enden alle im Meer. Ich war schon mal am Meer. Es war groß. Das ganze Wasser der Welt geht von hier aus. Wir berühren die ganze Welt. Und jetzt hört gut zu. Das Wasser war in vergangenen Tagen hier und wird in künftigen Tagen hier sein. Also reicht das Wasser zurück bis damals und voraus bis dereinst. Könnt ihr mir folgen?« »Nicht so ganz«, musste William zugeben. »Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, William«, wisperte eine bekannte Stimme in seinem Kopf. »Es gibt nur das Jetzt.« »Mr. Tyler?«, rief William. Ich habe ihn auch gehört, dachte Mary. »Ich auch«, wisperte Alice. Wenn es nur das Jetzt gibt, dachte William, wer sagt, wann jetzt ist? Genau!, stimmte Lutra zu. Dann sagte er laut: »Wir sind fast da.« »Wo?«, fragte William überrascht. »Im Laboratorium des Magiers«, antwortete der Otter. »Da wolltest du doch hin, oder nicht? Also nach oben«, fügte er hinzu und schon konnten die Kinder durch eine runde Öffnung über ihren Köpfen einen schwachen Lichtschein fallen sehen. »Sieht aus wie ein Schornstein«, bemerkte Alice, als sie ihren Arm aus dem Flusswasser hob. »An der Seite führt eine Leiter hoch«, fügte sie hinzu. »Geh du zuerst, Will«, bat Mary. William hielt sich an der eisernen Stange fest, die in dem runden Schacht angebracht war. Alice hatte Recht. Der Schacht erinnerte wirklich an einen Schornstein. Irgendwo von weit oben schien schwaches, grünes Licht einzufallen. »Wo sind wir, Lutra?«, fragte er. Aber er bekam keine Antwort. »Ich glaube, er ist weg«, sagte Alice, zog sich aus dem Wasser und folgte William die eiserne Leiter hinauf, Mary dicht hinter sich. Je höher sie kletterten, desto heller wurde es. Sie konnten jetzt eine Öffnung ausmachen, die mit grünen Laubzweigen bedeckt war. »Als würden wir in einem Baum nach oben klettern«, rief Willi-
am. »Oder zum Baumhaus hinauf«, bemerkte Mary. »Oder gleichzeitig die Stufen im Kamin und die Eibe hoch«, sagte Alice verwirrt. »He!«, keuchte William. »Was ist?«, fragte Alice. »Hier ist eine Öffnung«, rief William hinunter. »Man kann hineingehen.« Und als sie nach oben blickte, sah Alice, wie William von der Eisenleiter zur Seite trat und in der Wand des Schachtes verschwand.
24 Das Laboratorium des Magiers Neben der Leiter war ein viereckiges Loch in der Wand des Schachtes, gerade groß genug, dass ein Mensch hindurchpasste. Alice hielt sich mit beiden Händen an den Metallstangen der Leiter fest und stellte einen Fuß in die Öffnung. Sobald sie einen sicheren Halt hatte, ließ sie die Leiter los und schlüpfte hindurch. Dabei strich ihr ein Spinnennetz über das Gesicht. »William?«, flüsterte sie. »Wer ist da?«, rief eine unbekannte Stimme. »Hier, Alice«, hörte sie William wispern, und als sie in seine Richtung blickte, entdeckte sie eine Spinne in ihrem Netz. Nein! Bitte nicht!, dachte sie. Bitte keine Spinne. Ich hasse Spinnen. »Das kommt nur daher, dass du nichts von uns weißt«, sagte die Spinne mit dünner Stimme. »Wir Spinnen werden oft schlecht gemacht.« »Oh…!«, stöhnte Alice. Sie konnte gerade noch an den feinen Fäden der Spinnwebe emporkrabbeln, als ein Mann aus dem Dunkel des Raumes kam und sich an ihr vorbeidrängte. »Wer ist da?«, rief er wieder. Er griff nach der eisernen Leiter, hielt sich an einer Stange fest und lehnte sich hinaus in den runden Schacht, um zu der mit Blättern bedeckten Öffnung nach oben zu schauen. »Will?«, rief er. »Will? Bist du das?« Mary presste sich gegen die Wand des Schachtes. Die Füße des Mannes befanden sich genau auf der Höhe ihrer Hände. Wenn er hinunterblickte, musste er sie sehen. Aber sie konnte sich nirgendwo verstecken. Sie stand regungslos und hielt sich an der eisernen Leitersprosse so fest, dass sie in ihre Hände schnitt. Der Mann zögerte noch einen Moment, dann drehte er sich um und verschwand wieder in der dunklen Öffnung. Mary wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte gesehen, wie Alice hinter William in dem dunklen Loch verschwunden war. Sie hatte gerade selbst hineingehen wollen, aber jetzt war sie nicht mehr so sicher, was sie als Nächstes tun sollte. Wer war dieser Mann und was tat er hier? Und noch viel wichtiger: Wohin waren William und Alice gegangen?
»Ich bin hier«, wisperte ein dünnes Stimmchen und eine Spinne ließ sich an ihrem Faden vor Marys Gesicht herunter. »Hält der mich?«, fragte Mary, als sie sich bereits geschickt an dem Faden hochhangelte. »Wird er schon«, wisperte William. Mary drehte ihre acht Augen hin und her und sah alles gleichzeitig: den Raum und die Decke und den Boden und das Licht einer Lampe und William, der regungslos in der Mitte seines Netzes hockte, und Alice, die aus einem Riss in den Steinen genau neben ihm hervorlugte. Mary spann einen Faden und sprang über die Öffnung. Sie fand eine gute Stelle in der Nähe der Zimmerdecke, setzte sich hin und schaute sich in ihrer Umgebung um. Der Raum, in dem sie sich befanden, sah wie ein unterirdischer Keller aus. Die Wände waren aus Stein und hatten keine Fenster. In der Mitte des Raums stand ein großer Arbeitstisch. Auf den Regalen, die ringsum die Wände entlangliefen, und über den ganzen Boden verteilt lagen kleine und große Flaschen, Glasbehälter jeder Form und Größe und Tonkrüge. Ein Feuer glühte in einem kleinen Kamin. Lampen brannten. Der Boden war bedeckt mit unordentlich verstreuten Büchern, Papieren und Diagrammen. Ein Mann, den sie alle nicht kannten, räumte geschäftig den Inhalt der Regale aus und stapelte ihn auf einen großen Haufen auf dem Boden zwischen Kamin und Tisch. Er arbeitete mit rasender Geschwindigkeit und schien sehr aufgeregt zu sein. Das Licht im Raum war so schwach, dass sie ihn nur schemenhaft erkennen konnten. Er war offenbar groß und hager, trug ein dunkles Jackett und eng anliegende Hosen. Er stürzte durch den Raum und warf eilig immer neue Gegenstände auf den Haufen. Sie hörten, wie Glas in Scherben ging und Holz zersplitterte, als er alles, was in seine Reichweite kam, zerbrach, zerschlug und zu Boden schleuderte. Dann hielt er inne, lauschte wieder und wandte seinen Kopf zu dem Loch in der Wand. »Mr. Lewis?«, rief eine Stimme von weitem. »Mr. Lewis, sind Sie da?« Der Mann eilte zurück zur Öffnung und ging dabei so dicht an William vorbei, dass dieser große Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen konnte. »Ich bin hier, Will«, rief er und lehnte sich hinaus in den Schacht. Dann trat er zurück in den Raum, nahm eine Laterne von einem Haken und hob sie hoch, um die Verwüstung zu betrachten, die er
angerichtet hatte. Hinter ihm kündigten Schritte die Ankunft eines jungen Mannes an. Er trug ein kragenloses Hemd und dicke Wollhosen, die unter den Knien mit einer Kordel zusammengebunden waren. »Was ist zu tun, Mr. Lewis?«, fragte der Junge und schnappte nach Luft, als er das Durcheinander im Raum sah. »Was ist passiert?« »Du hast es nicht gehört?«, fragte der Mann, der Mr. Lewis hieß. »Ich hätte gedacht, die ganze Grafschaft zerreißt sich das Maul darüber. Mr. Crawden zieht am Ersten des Monats hier in Golden House ein.« »Das tut mir Leid, Mr. Lewis«, sagte der Junge ehrlich betroffen. »Mehr als ich sagen kann. Ich würde mir noch nicht mal für einen Jahreslohn wünschen, dass die Crawdens hier leben.« »Nun, Will«, sagte Mr. Lewis und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, »so wird es aber sein.« »Wohin werden Sie gehen, Mr. Lewis?« »Ich behalte das Land. Meine Frau und ich und das Baby werden oben in der Försterhütte am Golden Water wohnen.« »Das Land gehört Ihnen?«, fragte Will. »Das habe ich sogar schriftlich!« Lewis ging hinüber zum Tisch und hob ein dickes Buch in die Höhe. »Hier ist das Papier. Ich habe es hier in mein Tagebuch gesteckt.« Alice erkannte das Buch sofort. Es war jenes, das Miss Prewett aus dem Museum mitgebracht hatte. Jonas Lewis’ Buch. »Sie wissen doch, dass ich nicht lesen kann, Mr. Lewis.« Jonas Lewis hielt das Papier dicht an die Lampe und begann laut zu lesen: »Vereinbarung zwischen Jonas Lewis von Golden House… Ach, das brauchst du gar nicht alles zu hören. Der ganze Besitz des besagten Golden House bleibt Eigentum des Verkäufers, seiner Familie und seiner Nachkommen unter der absoluten Voraussetzung, dass, sollte er oder einer seiner Nachkommen das Land verkaufen wollen, mit sofortiger Wirkung der Käufer, der oben genannte Edmund Arthur Crawden, seine nächsten Angehörigen oder seine Nachkommen das Vorkaufsrecht für den Besitz haben, solange der genannte Edmund Arthur Crawden, seine nächsten Angehörigen oder seine Nachkommen die Eigentümer von Golden House sind. Im Falle, dass Edmund Arthur Crawden, seine nächsten Angehörigen oder seine Nachkommen Golden House verkaufen wollen, werden er, seine nächsten Angehörigen oder seine Nachkommen das Haus zu-
erst Jonas Lewis, dessen nächsten Angehörigen oder dessen Nachkommen zum Kauf anbieten… So ist es geteilt worden, Will. Crawden hat das Haus. Ich habe das Land. Er bekommt das Land, wenn ich verkaufen will. Ich bekomme das Haus, wenn er verkaufen will.« Er lachte bitter. »Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, womit ich es kaufen sollte, und das weiß Edmund Crawden nur allzu genau. So ist es also. Ich habe mein Bestes getan. Alles ist legal. Alles unterschrieben und besiegelt.« Er legte das Tagebuch wieder auf den Arbeitstisch und warf das Papier neben das Buch. »Dann haben Sie doch nicht alles verloren, Mr. Lewis«, sagte der Junge. »Doch, alles, Will. Ich verlasse dieses Haus ohne eine einzige Münze in der Tasche.« »Sie haben das Land, Mr. Lewis«, erinnerte Will ihn. »Und kein Geld, um es zu unterhalten. Er hat es geschafft. Ich bin bestraft.« Jonas Lewis ging langsam im Raum umher und trat dabei nach den Trümmern. »Was ist mit den Chemikalien, Mr. Lewis?«, fragte Will und ging zu den Regalen, in denen immer noch reihenweise Flaschen standen. »Ich habe die tödlichen Gifte beseitigt. Es ist nichts Gefährliches mehr dabei. Wenigstens hinterlasse ich alles ordentlich, Will.« »Ordentlich?«, rief Will aus und betrachtete die Verwüstung, die Lewis angerichtet hatte. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte Lewis. »Können Sie diese Sachen nicht verkaufen, Mr. Lewis? Das Quecksilber zum Beispiel. Dafür bekommt man schon ein paar Schilling.« Lewis schüttelte den Kopf. »Ich werde niemals mehr irgendetwas von all dem hier zu Geld machen«, antwortete er grimmig. »Meine Tage des Geldmachens sind vorbei!« Er lächelte freudlos wie über einen geheimen Scherz. »Nein. Alles muss hier bleiben. Es gehört mir nicht.« »Gehört es Crawden? Gehört ihm das auch alles?« »Nein, nicht Crawden, Will. Eher dem Haus. Dies alles gehört dem Haus.« »Kennt Crawden diesen Ort?« Jonas Lewis schüttelte den Kopf. »Und er wird ihn auch nicht kennen lernen. Ich möchte, dass du etwas für mich tust, Will, für das ich dich nicht bezahlen kann.«
»Sie haben mir schon genug bezahlt, als ich für Sie gearbeitet habe, Mr. Lewis.« »Aber es ist nicht einfach und es muss schnell geschehen.« »Ich weiß, was Sie wollen. Ich stütze die Öffnung ganz bestimmt für Sie ab. Ich fange gleich damit an.« »Das ist nett von dir, Will.« »Sagen Sie mir noch eins, Mr. Lewis. Das ganze Experimentieren – hat es irgendetwas gebracht? War es die Arbeit wert?« »Nein, Will. Es hat zu nichts geführt und hat mir auch nichts eingebracht«, erwiderte Jonas todunglücklich. »Worauf hatten Sie denn gehofft?«, fragte der Junge. »Ich meine – was wollten Sie machen?« »Etwas mit mir selbst«, antwortete Jonas Lewis. »Ich wollte mich verbessern.« »Der Herr beschütze uns, Mr. Lewis! Sie waren der Herr dieses Hauses. Was wollten Sie denn noch mehr?« »Es gibt immer noch mehr, Will. Das ist die Gefahr. Komm, wir müssen von hier fort. Wie lange dauert es, die Tür zuzumauern? Ich helfe dir.« Will Hardwick zuckte mit den Schultern. »Nicht lange. Aber ich kann hier nur unter Schwierigkeiten arbeiten. Ich kann die Hälfte von hier aus erledigen, dann muss ich herausklettern und von der anderen Seite weitermachen. Die Wand wird nicht völlig glatt sein. Ich muss einen Vorsprung lassen, auf dem ich stehen kann. Dann muss ich die Steine von oben holen und den Mörtel…« »Wirst du es schaffen, Will?« »Aber ja, Mr. Lewis. Das ist schließlich mein Handwerk, oder nicht?« »Und wirst du niemals von diesem Ort reden, Will? Zu niemandem? Für mich?« »Ich habe mein Handwerk doch nur gelernt, weil Sie mir geholfen haben, Mr. Lewis. Wer hat sich um uns gekümmert, als Vater gestorben ist? Sie. Ich mache es. Ich fange sofort an.« »Nein, Will. Morgen erst. Dann wird das Feuer heruntergebrannt sein.« »Feuer?«, fragte Will überrascht. »Ich habe es dir doch gesagt«, erwiderte Jonas Lewis. »Ich hinterlasse alles ordentlich.« Während er noch sprach, hob er eine der Laternen auf und warf sie auf den Abfallhaufen zwischen Kamin und
Tisch. Als die Glaslaterne auf dem Steinboden zerbrach, lief das Öl aus der Lampe. Die Flamme aus der Lampe setzte das Öl in Brand und mit einem hohlen Knall begannen die Papiere und Bücher zu brennen. »Raus, Will! Schnell!«, drängte Jonas Lewis und schob den Jungen zur Tür. »Hier sind Chemikalien, die ein munteres Feuer geben.« »Aber wird das Feuer nicht das ganze Haus abbrennen?« Will musste schreien, um über dem lauter werdenden Geräusch der Flammen gehört zu werden. »Ich glaube nicht, Will. Ich glaube, der Magus hat sein Laboratorium gut gewählt. Diese festen Steinwände widerstehen jeder Katastrophe. Raus jetzt, Junge, raus! Die Hitze wird unerträglich.« Jonas schob Will vor sich her zur Öffnung. Die Flammen fraßen sich durch den großen Haufen Papier und Holz. Das Feuer war gut gelegt, und als es an Kraft gewann, verbrannten in seiner rot glühenden Mitte große Holzstücke und noch größere, schwer in Leder gebundene Bücher. »Lebe wohl, Ort meiner Verzweiflung!«, sagte Jonas Lewis von der Tür aus. Er wollte gerade aus der Öffnung treten, als er das Buch auf dem Tisch liegen sah. »Mein Tagebuch!«, schrie er, bedeckte Mund und Nase mit einem Arm, schlug sich einen Weg durch die sengende, rauchige Hitze und packte den Band. Hustend und keuchend stürzte er zurück zur Öffnung und verschwand. »Will!«, schrie Mary. »Das Dokument! Das Papier, aus dem er vorgelesen hat. Er hat es auf dem Tisch vergessen.« »Kommt mit«, sagte die Spinne, »hier wird es heißer, als mir lieb ist.« »Nein! Warte!«, rief William. Dabei spürte er den Steinboden unter seinen eigenen Füßen. Der Rauch erfüllte bereits den ganzen Raum und mehrere kleinere Explosionen zeigten, dass die Flaschen mit den Chemikalien geplatzt waren und die Luft mit giftigen Dämpfen erfüllten. William keuchte und hustete. Seine Augen tränten und die Hitze des Feuers versengte seine Haare. »Will!«, schrie Alice und wollte zu ihm. »Geh zurück, Alice!«, rief er. »Mary und du, ihr müsst hier sofort raus! Ich will versuchen…« Die Flammen zwischen ihm und dem Tisch züngelten über eine
Ölspur auf dem Boden. Er bedeckte sein Gesicht mit einem Arm, sprang über das feurige Rinnsal und riss das Papier vom Tisch, wo Jonas Lewis es hingeworfen hatte. Als er sich umdrehte, merkte er entsetzt, dass der Boden zwischen ihm und der Öffnung zu einem wütenden Inferno geworden war. Die Flammen verschlangen alles Brennbare in ihrer Reichweite. »William!«, schrie Mary aus dem Schacht auf der anderen Seite der Feuerwand. »Helft mir!«, jammerte William. Panik erfasste ihn und seine Beine begannen vor Angst zu schlottern. »Pass auf, William!«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. »Wenn du aus einem bestimmten Grund heraus handelst – musst du dich um dich selbst kümmern.« »Ich tu es nicht für mich selbst«, schrie William. »Gut, dann tu diesmal trotzdem etwas für dich selbst, Junge«, beharrte die Stimme. »Verschwinde von hier, William. JETZT!« Als er diesen nachdrücklichen Befehl hörte, kämpfte William sich, so gut er konnte, durch den Flammenherd zur Öffnung. Keuchend und hustend erreichte er die eiserne Leiter. Er stopfte das zusammengefaltete Papier in den Gürtel seiner Jeans und kletterte hinauf. Unter sich konnte er den Rauch und die Flammen sehen, die aus der Öffnung hervorschlugen. Der Schacht hatte die Wirkung eines Schornsteins – er zog das Feuer nach oben. William stieg die Leiter hinauf, bis er frische Luft auf dem Gesicht spürte. Über ihm versperrten die Zweige eines großen Strauches den Weg. Endlich erreichte er die letzte Sprosse und zwängte sich durch den Wirrwarr der Zweige über eine niedrige Mauer. Er wand sich durch den Strauch und taumelte mit letzter Kraft aus dem Dschungel aus Blättern und Zweigen auf einen Seitenweg in der Ecke des Küchengartens von Golden House. Mary und Alice warteten schon auf ihn. Ihre Gesichter waren von Schmutz und Ruß bedeckt und Tränen liefen ihnen über die Wangen. »Will!«, schrie Mary erleichtert auf und umarmte ihn. »Ich dachte schon…« Ihre Worte erstickten in einem Schluchzen. »Was führt ihr drei denn im Schilde?«, fragte plötzlich eine Stimme, und als sie sich umdrehten, sahen sie Dan, den jüngeren Bauarbeiter, am Hoftor stehen. »Nichts. Wir haben bloß gespielt«, sagte William schnell. »Gespielt?«, sagte Dan. »In der Ecke solltet ihr aber vorsichtig mit dem Spielen sein. Hinter dem Strauch ist ein alter Brunnen. Ich
habe Jack davon erzählt. Man muss Bretter darüber legen oder eine Metallplatte. Gefährlich, diese Brunnen.« Damit ging er wieder zurück in den Hof. »Bist du in Ordnung?«, fragte Mary William, sobald Dan weg war. Er nickte und wischte seine schmutzigen Hände an der Jeans ab. Mit einer Hand berührte er ein dickes Papierbündel, das aus seinem Gürtel ragte. Ihm fiel ein, was es war, und er zog es heraus. »Was ist das?«, fragte Mary. »Das verlorene Dokument«, sagte William und betrachtete die großen, wie gestochen geschriebenen Buchstaben auf der ersten Seite. »Es ist der Kaufvertrag über Golden House zwischen Jonas Lewis und Edmund Crawden.« »O Will!«, wisperte Alice. »Heißt das, wir haben gewonnen? Haben wir Golden Valley gerettet?« »Wir haben jetzt den Beweis, dass das Land nicht den Crawdens gehört, sondern Meg – ja, vielleicht haben wir gewonnen«, antwortete William, aber es hörte sich zweifelnd an. »Kommt, wir sagen es ihnen sofort! «Jubelte Mary. Aber William schüttelte den Kopf und betrachtete verwirrt das Papier in seiner Hand. »Nein, wir müssen warten«, sagte er. »Warum?«, riefen die Mädchen ungeduldig wie aus einem Mund. »Ich bin nicht sicher«, erwiderte William. »Wir müssen es diesmal richtig machen. Wir dürfen Jonas Lewis’ Fehler nicht noch mal machen…« Tief in Gedanken versunken ließ er sie stehen und stopfte das Dokument wieder in seine Jeans.
25 »Die Sache ist endlich abgeschlossen« An einem lauen Sommerabend zwei Wochen später machten sich die Kinder auf den Weg nach Four Fields. Sie kletterten den steilen Abhang hinter Golden House hinauf, gingen an der Eibe und dem stehenden Stein vorbei, und als sie an das Ufer von Golden Water kamen, ging die Sonne gerade in einem Schleier aus goldenem Licht über den Hügeln hinter Golden Spring unter. In den Wipfeln der Bäume sangen vereinzelt Vögel und die Oberfläche des Sees reflektierte den milchigweißen Himmel wie ein liegender Spiegel. William war seit den Ereignissen im Laboratorium des Magiers seltsam mürrisch und nicht sehr mitteilsam, was die Mädchen wütend machte, weil sie Jack dringend erzählen wollten, dass sie das verlorene Dokument wiedergefunden hatten und dass sie deshalb Golden Water vor den Crawdens retten konnten. »Es beweist wirklich, dass das Land nicht den Crawdens gehört«, hatte Mary aufgeregt gerufen, nachdem sie es alle aufmerksam gelesen hatten. Aber William war weiter tief besorgt und sprach nicht mehr über das Thema. In den nächsten Tagen vermied er sorgfältig weitere Diskussionen. Das war nicht schwer, denn die Geschwister waren damit beschäftigt, für Meg ein Zimmer herzurichten, das sie beziehen konnte, wenn sie aus dem Krankenhaus kam. Aber jetzt auf dem Weg nach Four Fields wusste William, dass er die Unterredung mit seinen Schwestern nicht weiter hinausschieben konnte. Eigentlich hatte Jack sie alle zusammen mit Meg in seinem Auto nach Four Fields mitnehmen wollen, aber Alice und Mary bestanden darauf, mit William zu Fuß zu gehen. Es war das erste Mal, dass Meg seit ihrem Unfall Four Fields besuchte, und es war ihre Idee gewesen, dass sie alle dabei sein sollten. Sie war schon seit einer Woche wieder aus dem Krankenhaus und hatte nur zögernd zugestimmt in Golden House zu wohnen. »Aber nur für kurze Zeit«, fügte sie schüchtern hinzu, als Phoebe sie einlud. »Ich will niemandem zur Last fallen.« Meg wurde gemeinsam mit ihren Katzen vorne im Haus in dem Flügel aus dem 16. Jahrhundert untergebracht, in dem Raum, den die
Kinder für sie hergerichtet hatten. Die Hunde schliefen draußen vor ihrem Fenster und schon nach ein paar Tagen nahm alles das unordentliche Aussehen der Küche in Four Fields an. Während dieser ganzen Zeit warteten die Kinder vergeblich auf die Rückkehr des Magiers. Jasper erzählte ihnen, dass es dem alten Mann nicht gut ginge, aber dass er genau über alles Bescheid wüsste, was vorgefallen war, und dass er kommen würde, wenn es nötig sei. »So ist das mit dem Meister«, flötete die Eule. »Er kommt, wenn man ihn am wenigsten erwartet, und eigentlich nie, wenn man ihn braucht!« Als sie jetzt langsam am Seeufer entlanggingen, erklärte William, warum er Stephen Tyler so sehnsüchtig und mehr als je zuvor erwartete. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er zu ihnen. »Wobei?«, fragte Mary. »Jack sagt, der Bauantrag wird nächste Woche im Stadtrat besprochen. Wenn wir die Crawdens davon abhalten wollen, ihren Plan durchzubringen, dann müssen wir das jetzt tun.« »Aber wir können sie doch davon abhalten, William«, beharrte Alice. »Du musst ihnen doch einfach nur dieses Vertragsdings zeigen.« »Das wage ich nicht«, flüsterte William. »Warum nicht?«, rief Mary. »Aus zwei Gründen«, sagte William und schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der Magier hat immer gesagt, wir dürften die Vergangenheit nicht ändern. Deshalb hat er, glaube ich, immer in die Zukunft geblickt. Man darf wohl Ereignisse beeinflussen, bevor sie geschehen. Aber wenn man etwas aus der Vergangenheit verändert… wird alles, was danach passiert, unsinnig. Zum Beispiel… wenn jemand in der Vergangenheit gestorben wäre, aber wir hätten beschlossen, dass es aus irgendeinem Grund besser wäre, wenn er ein bisschen weiterlebte, und hätten ihn davor gewarnt, was passieren wird, und ihm damit das Leben gerettet… dann könnten alle Ereignisse danach – immer noch in unserer Vergangenheit – nicht geschehen. Weil alles anders wäre. Die Person würde leben… und wäre gar nicht tot. Die Geschichte wäre verändert worden. Das können wir nicht machen. Wir können die Zukunft beeinflussen, aber wir dürfen die Vergangenheit nicht ändern.« »Aber es sind doch bloß ein paar Blätter Papier, William!«, protestierte Alice ungeduldig. »Wir hätten sie doch überall finden kön-
nen.« »Haben wir aber nicht, Alice. Wir wissen, dass sie in diesem Feuer verbrannt sind… oder zumindest sollten sie verbrannt sein«, sagte er und holte die gefalteten Blätter unter seinem Hemd hervor, wo er sie zur Sicherheit verstaut hatte, bevor sie losgingen. »Ich glaube«, sagte er und betrachtete sie nachdenklich, »irgendwie habe ich die Geschichte schon geändert. Ich hätte sie verbrennen lassen sollen.« »Hast du aber nicht – also solltest du sie benutzen«, sagte Alice schnell. »Nein, Alice!«, widersprach William gequält. »So fängt es an!« »Was? Was fängt so an?« »Dass wir die Magie für unsere Zwecke benutzen.« »Aber das sollten wir doch tun«, warf Mary ein. »Niemals«, erklärte William trotzig. »Wir sollten niemals die Magie benutzen. So ist Jonas Lewis zum Goldmachen gekommen. Versteht ihr denn nicht? Er wollte sich von seinen Schulden befreien. Er wollte das Gold für sich. Wir wollen Crawden daran hindern, diesen Vergnügungspark hier zu bauen. Heißt das nicht, wir wollen die Magie auch für unsere eigenen Zwecke benutzen?« »Aber wir sollen das Tal doch retten!« »Ja«, nickte William. »Aber irgendwie müssen wir es selbst tun. Die Magie kann uns nur helfen, dass wir selbst und ganz allein unser Ziel erreichen. Wir müssen das Tal selbst retten – und das nicht nur der Magie überlassen. Sonst würden wir uns ja einfach zurücklehnen und… wenn wir etwas ändern wollten… würden wir einen Zauberspruch sagen, genau wie im Märchen. Aber so ist es nicht – oder so sollte es nicht sein. So darf es nicht sein!« Mary überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Wir können aber unser Wissen benutzen, oder?« »Wie denn?«, erwiderte William. Mary zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber wir können nicht so tun, als ob wir nicht wüssten, was in dem Kaufvertrag steht. Wir können nicht so tun, als ob wir nicht gesehen hätten, was in dem Laboratorium passiert ist. Vielleicht wissen wir diese Dinge nur durch die Magie, aber wir können jetzt nicht so tun, als sei das alles nie geschehen. Ich will damit sagen – wir haben bestimmte Dinge nur gesehen, weil die Magie uns zu ihnen geführt hat.« »Ja, das stimmt«, sagte William zögernd. »Also«, beharrte Mary, »meinst du auch, dass die Magie uns da-
bei helfen darf, bestimmte Dinge zu wissen?« »Um uns zu beeinflussen, ja, natürlich«, stimmte William ihr zu. »Aber danach müssen wir entscheiden, was wir mit dem Wissen anfangen. Ich wünschte nur, ich wüsste, was wir hiermit tun sollen!« Er hielt den Mädchen den Kaufvertrag entgegen. »Könnten wir ihn nicht… aus Versehen… irgendwo fallen lassen, wo jemand anderes ihn bestimmt findet?«, fragte Alice hoffnungsvoll. »Zum Beispiel jemand wie Onkel Jack?« »Er sollte in diesem Feuer verbrannt sein«, wiederholte William hartnäckig. »Das ist wirklich passiert – bis wir daherkamen und ihn mithilfe der Magie gerettet haben.« Er seufzte. »Wir haben getan, wovor der Magier uns gewarnt hat. Wir haben die Ereignisse verändert. Wir haben die Geschichte geändert. Nein, nicht wir – ich. Ich habe es getan. Ich war so entschlossen, den Crawdens zu beweisen, dass sie im Unrecht sind. Es ist mein Fehler.« »Aber du tust es doch nicht für dich selbst.« »Doch, Mary. Ich will, dass wir gewinnen – egal wie.« »Du meinst, es war alles umsonst?«, fragte Alice. »Du meinst, wir können nicht die Wahrheit sagen, weil wir sie durch die Magie wissen?« »Vielleicht nicht ganz so«, sagte William. »Wir können dieses Dokument nicht zeigen… aber wir könnten… sie wissen lassen, dass wir seinen Inhalt kennen.« »Wieso wäre das ein Unterschied?«, fragte Mary. »Weißt du, sie haben hiervon eine Kopie«, sagte William und hielt das gefaltete Papier hoch. »Und sie verlassen sich darauf, dass Meg Lewis die Kopie ihres Großvaters Jonas Lewis nicht mehr hat. Und natürlich haben sie Recht. Aber – wenn wir sie irgendwie… glauben lassen könnten, dass Meg tatsächlich einmal eine Kopie hatte…« »Aber wenn sie eine Kopie hätte, würde sie sie doch einfach hervorholen«, sagte Mary. »Was sie auch kann, wenn wir sie ihr einfach geben«, erklärte Alice erfreut. »Nur, dass sie eigentlich verbrannt ist«, sagte Mary leise. »Was wirst du tun, Will?« »Also, ich kann gar nichts tun, wenn ihr nicht einverstanden seid. Aber ich glaube…«, William holte eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Tasche, »sie muss verbrannt werden.« Sie schwiegen alle für einen Moment, dann nickte erst Mary und
danach Alice feierlich mit dem Kopf. »Sollten wir nicht zuerst den Inhalt auswendig lernen?«, schlug Alice eifrig vor. »Das brauche ich nicht – ich glaube nicht, dass ich die Worte jemals wieder vergessen werde«, sagte William. Sie gingen zu dem flachen Fels, der ins Wasser hinausragte und auf dem sie schon so oft gepicknickt hatten. William hockte sich mit dem Gesicht zum See. »Sind wir uns einig?«, fragte er ruhig. »Tu es, Will«, sagte Mary. »Wir werden Golden Water jetzt nicht mehr retten«, murmelte Alice traurig. »Das können wir einfach nicht.« »Vielleicht doch«, sagte William, aber er klang nicht sehr überzeugt. »Aber wenn wir es tun, dann müssen wir es selbst tun.« Er strich das Streichholz an und entzündete eine Ecke des Dokuments. Mary und Alice knieten sich zu beiden Seiten hin und beobachteten, wie die Flamme immer größer wurde und das Papier in dicke, graue Asche verwandelte. »Ich hoffe, wir tun das Richtige«, sagte Mary. »Jetzt ist es jedenfalls zu spät«, stellte Alice nüchtern fest und beobachtete, wie die letzte Flamme schon an Williams Fingern züngelte. »Wir tun, was wir für richtig halten«, sagte er. »Vielleicht kann man gar nicht mehr erreichen.« Dann ließ er die Ecke des Papiers fallen. Die Flamme flackerte und verlosch. Ein leichter Wind wehte die graue Asche vom Fels und blies sie über Golden Water, bis sie nicht mehr zu sehen war. »Wir sollten gehen«, sagte William und stand auf. »Wir kommen zu spät zu den anderen.« Mary und Alice erhoben sich ebenfalls und Alice lief neben William her in Richtung Four Fields. Aber Mary zögerte. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Wasseroberfläche in honigfarbenes Gold. Kleine Wellen funkelten im Abendlicht. Aber was Marys Aufmerksamkeit auf sich zog, war das goldene Glitzern von etwas anderem, ein härteres, strahlenderes Licht, das genau vor ihren Füßen unter Wasser aufblitzte. »William! Alice!«, rief sie aufgeregt. Ihre Geschwister kamen mit fragenden Gesichtern zurück. »Was ist, Mary?«, fragte William. Er klang immer noch niedergeschlagen. Es war hart für ihn gewesen, den einzigen Beweis zu
verbrennen, den sie brauchten, um Mortens Pläne zu vereiteln. »Seht mal!«, rief Mary. Sie kniete sich auf den Felsrand und reichte mit der Hand ins Wasser. Dann stand sie auf und hielt ihnen die goldene Kette mit dem glatten Goldstück entgegen, das sie zuletzt gesehen hatten, als es beim Kampf um Golden Water in den See fiel. »Das Pendel des Magiers!«, sagte sie fassungslos. »Aber – wie ist es dahin gekommen?«, fragte Alice. »Als es hineinfiel, waren du und die Krähe kilometerweit draußen über dem See, Mary.« »Das ist doch jetzt egal«, sagte William. »Wir sollten uns einfach freuen, dass wir es wieder haben.« »Ach, Will! Glaubst du, das ist ein Zeichen von ihm?«, bat Mary inständig. »Glaubst du, er will uns sagen, dass wir das Richtige getan haben, als wir das Dokument verbrannten?« »Ich weiß es nicht«, seufzte William und blickte auf den See. »Ich weiß überhaupt nichts. Behalte du es, Mary…« »Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Nimm du es, William. Eigentlich ist das deine Geschichte.« »Warum sagst du das?«, fragte William. »Wir sind alle beteiligt.« »Aber du hast am meisten über die Dinge nachgedacht, Will. Ich meine, wirklich nachgedacht. Behalte du es – wenigstens, bis alles vorbei ist.« »Also gut«, sagte William, nahm das Pendel und steckte es in seine Hosentasche. »Aber es gehört mir nicht. Ich passe nur darauf auf.« Als sie Four Fields erreichten, war die Abendluft von Vogelgezwitscher erfüllt. Saatkrähen stießen heisere Schreie aus und eine Amsel, die auf einem Torpfosten saß, besang aus voller Kehle die nahende Nacht. Jack schob Meg in einem Rollstuhl durch die Trümmer ihres Hauses und Phoebe stand mit Stephanie auf dem Arm unter einem Apfelbaum in dem, was einmal ein Garten gewesen war. »Ist Meg in Ordnung?«, fragte Mary. »Ich hoffe schon«, sagte Phoebe. »Sie hat so sehr darauf bestanden, dass wir alle heute Abend hierher kommen – also muss sie wohl gerne hier sein.« Spot jagte unterdessen über das Feld, an Phoebe vorbei in Richtung des Waldweges, wo sie gerade noch Jacks Landrover am Gatter stehen sehen konnten. Spot bellte aufgeregt und sträubte die Na-
ckenhaare. »Was ist denn mit Spot los?«, fragte Jack. Er tauchte in der rußgeschwärzten Eingangstür des Hauses auf und schob Meg vor sich her. »Ich glaube, da kommt jemand«, sagte William, als sie das Geräusch eines Autos hören konnten. Sie liefen ein paar Schritte zum Weg und warteten, wer so spät am Tag noch nach Four Fields wollte. Das Auto, das neben dem Landrover parkte, war groß und luxuriös. Charles Crawden stieg aus der Fahrertür aus. Er ging zum Kofferraum und holte einen zusammengeklappten Rollstuhl heraus. Martin Marsh kam von der Beifahrerseite und die Gruppe auf der Wiese beobachtete, wie die beiden gemeinsam Sir Henry Crawden aus dem Rücksitz halfen und ihn in den Rollstuhl hoben. Die ganze Szene spielte sich ab, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Alles geschah still und langsam, fast so, als schaue man einem Traum zu. William steckte eine Hand in seine Jeanstasche und umklammerte das Pendel, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht tat er es, weil er sich aufgeregt und erwartungsvoll fühlte. Sir Henry saß in seinem Rollstuhl und starrte auf die Gruppe, die vor ihm stand. Schließlich blieb sein Blick an Meg haften, die mit hoch erhobenem Kopf und auf dem Schoß verschränkten Händen aufrecht in ihrem Rollstuhl saß. »Miss Lewis, wie von Ihnen gewünscht, sind wir hierher gekommen«, begann Martin Marsh. Aber dann wurde er von Jack unterbrochen. »Sie haben das gewünscht, Meg?« »Ja, ich habe Mr. Marsh geschrieben. Ihr junger Bauarbeiter hat den Brief für mich zur Post gebracht. Ich war der Meinung, wir alle müssten uns treffen. Ich dachte, dass es dafür keinen passenderen Ort als diesen geben könnte.« »Ihr Unfall hat uns sehr Leid getan, Miss Lewis. Und wir waren sehr besorgt, als wir hörten, was mit Ihrem Haus geschehen ist«, fuhr Mr. Marsh fort. »Danke, aber es hätte schlimmer kommen können«, antwortete Meg. »Schließlich hätte ich im Haus sein können, als es anfing zu brennen.« »Meine Klienten möchten Sie wissen lassen, dass sie mit dem höheren Preis für den Kauf Ihres Besitzes einverstanden sind…« »Höherer Preis?«, sagte Jack. »Sie haben mit denen gehandelt,
Meg?« »Es sieht so aus«, antwortete Meg und sah Jack mit klaren Augen an. »Ohne uns etwas zu sagen?«, fragte Jack und konnte kaum verbergen, wie verletzt er war. »Ich konnte es Ihnen nicht sagen, Mr. Green. Sie waren alle so freundlich zu mir… so freundlich. Aber ich kann nicht von der Fürsorge leben und das Angebot, das diese Herren mir machen, erlaubt mir einige Unabhängigkeit. Ich werde einen Ort finden, an dem ich leben kann…« Sie betrachtete die langen Schatten in der Abenddämmerung um sich herum. »Aber nicht hier in der Nähe. Ich möchte diesen Ort lieber so in Erinnerung behalten, wie er immer war.« »Dann werden wir die notwendigen Papiere aufsetzen«, fuhr Martin Marsh fort. »Ihre Hand darauf, Mr. Crawden«, sagte Meg, streckte ihren Arm aus und zwang Charles Crawden über das Gras zu ihr zu kommen. Er schüttelte ihre Hand steif und ungeschickt und zog sich dann wieder an die Seite seines Vaters zurück, als ob er sich in der Gesellschaft von Menschen seines Schlages wohler fühlte. Die ganze Zeit über saß Sir Henry schweigend da und starrte Meg an. »Sie hätten uns vorwarnen sollen, Meg«, sagte Phoebe bitter. Stephanie wimmerte und Phoebe wiegte sie sanft, während sie sprach. »Ich hatte wirklich gehofft, Sie würden bei uns in Golden House bleiben, wenigstens so lange, wie wir da sind. Ich habe mich darauf gefreut, eine Frau bei uns wohnen zu haben. Sie hätten sogar hin und wieder auf Stephanie aufpassen können. Jack und ich gehen niemals aus…« Meg sah sie an. »Ich gehöre da nicht hin, meine Liebe. So gerne ich auch möchte«, sagte sie. »Irgendwie ist das nicht der richtige Platz für mich…« »Doch, das ist er«, sagte William und war vom Klang seiner Stimme selbst überrascht. »Das Haus hätte dir gehören müssen. Oder wenigstens hätte man dich fragen müssen, ob du es von den Crawdens zurückkaufen willst, bevor sie es an jemand anderen verkauften.« »Worüber redest du da, William?«, sagte Jack. »Wir haben das Haus in gutem Glauben gekauft…« Aber Martin Marshs und Charles Crawdens Reaktion war so außergewöhnlich, dass Jack verstummte. Sie drehten sich beide ruckartig um und starrten William an. Martin Marsh war kalkweiß im Ge-
sicht geworden und Charles Crawden hob seine Hände, als wollte er einen körperlichen Angriff abwehren. »Woher hast du diesen Unsinn?«, stieß er hervor. »Habe ich Recht damit, dass ein Kaufvertrag zwischen Megs Großvater und Sir Henrys Onkel, Edmund Crawden, aufgesetzt wurde?«, antwortete William und ergriff das Pendel in seiner Tasche, als ginge es um sein Leben. »Kaufvertrag?«, keuchte Martin Marsh. »Was für ein Kaufvertrag? Du hast keine Kopie eines solchen Dokuments. Wenn du sie hast, musst du sie uns zeigen…« Ein langes, spannungsgeladenes Schweigen folgte, als die beiden Männer versuchten William mit ihren Blicken aus der Fassung zu bringen. Mary und Alice stellten sich neben ihren Bruder und alle drei gaben die Blicke der Männer zurück. »Wollen Sie, dass ich Ihnen genau sage, was in dem Dokument steht?«, fragte William. »Dass nur das Haus in den Besitz der Crawdens überging und wie Jonas Lewis das Land für sich zurückbehielt…« »Wir brauchen eine weitere private Besprechung«, brauste Martin Marsh auf. »Hast du eine Kopie dieses Dokuments gesehen?«, fragte Charles Crawden scharf. »Wurde nicht vereinbart, dass das Land im Besitz der Familie Lewis bleiben sollte?«, beharrte William, überging die Frage und versuchte seine Stimme nicht zittern zu lassen. »Das ist alles absolut rechtswidrig!«, tobte Martin Marsh. »Du wirst alles vor einem Gericht beweisen müssen«, rief Charles Crawden aufgebracht. »Zeig uns dieses Dokument, bereite dich auf einen Prozess vor! Auch wenn es das Dokument gibt – was ich bestreite –, kommst du damit nicht durch. Dieses Land gehört uns. Wir haben es immer genutzt. Es gehört uns mit allgemeiner Zustimmung. Es gehört uns durch Übernahme. Ich tue damit, was ich will.« »Nein, Charles«, sagte Sir Henry ruhig und blickte immer noch Meg an. »Wenn dieses Land hier möglicherweise als das Eigentum der Familie Crawden ausgewiesen werden könnte – dann würde es immer noch mir gehören… Schließlich bin ich immer noch das Oberhaupt dieser Familie.« »Wir haben ein Papier aufgesetzt, Sir Henry«, unterbrach Martin Marsh ihn mit schriller Stimme. »Sie haben zugestimmt auf Ihre Rechte zu verzichten. Sie haben erlaubt, dass Ihr Sohn den Besitz
verwaltet.« »Sie mögen solche Papiere haben, Mr. Marsh. Aber ich habe sie bis jetzt weder unterschrieben«, erwiderte Sir Henry gereizt, »noch habe ich – nebenbei bemerkt – den Handel per Handschlag bekräftigt, wie mein Sohn das soeben mit Miss Lewis getan hat. Es scheint mir, als hätten Sie Ihr Four Fields verkauft, Miss Lewis. Ich bin sicher, dass mein Sohn sein Wort einlösen wird. Schon allein deshalb, weil er es vor so vielen Zeugen gegeben hat. Für den Rest des Besitzes ist wohl offensichtlich, dass der Junge weiß, wovon er spricht. Ich habe nicht die Absicht, den Familiennamen in einen schmutzigen Gerichtsprozess verwickeln zu lassen, den wir sicherlich verlieren würden. Denn wenn ein Gericht für die Crawdens entscheidet, dann wäre für immer bewiesen, dass das Recht ein Esel ist.« »Vater!«, rief Charles Crawden. »Sei still, Charles! Dieses Kind hat dich ausmanövriert. Jetzt kannst du wenigstens so viel Anstand haben, in Würde zu verlieren.« »Vater«, bat Charles Crawden. »Alle unsere Pläne hängen von diesem Land ab.« »Such dir doch einen anderen Ort für deinen Rummelplatz, Charles. Golden Valley ist dafür nicht geeignet. Und jetzt ist Schluss damit, Schluss mit allem. Ich werde diese Sache nun abschließen, wie sie schon vor vielen Jahren hätte abgeschlossen werden müssen. Golden House und das Tal haben unsere Familie fast zerstört, wie sie schon die Familie Lewis zerstört haben. Das muss jetzt aufhören. Hier oben wird nicht gebaut. Nicht, solange ich lebe, und bevor ich zu alt dafür bin, werde ich das Land an seine rechtmäßige Besitzerin zurückgeben.« »Vater, du treibst mich in den Ruin«, rief Charles Crawden. »Du ruinierst dich selbst, mein lieber Junge«, sagte sein Vater betont freundlich. »Wir haben eine Kopie des Kaufvertrags, Charles. Wir wissen, worüber sie sprechen. Du hast damit gespielt, dass die Familie Lewis ihre Kopie nicht mehr besitzt. Du hast das Spiel verloren. Und jetzt lass es gut sein, Charles. Lass es bitte einfach… gut sein.« »Also hat deine Familie es wirklich schon die ganze Zeit über gewusst, Henry«, sagte Meg leise. »Mein Vater hat mir die Wahrheit gesagt. Du bist niemals gekommen, um mir den Hof zu machen – du warst nur hinter meinem Eigentum her.« »Nein, Meg«, sagte der alte Mann traurig. »Ich war um deinetwil-
len gekommen. Aber das hast du nie geglaubt. Und dann hast du mich weggeschickt. Es war ein langes Leben, Meg Lewis. Ein sehr langes Leben ohne dich.« Das alte Paar blickte sich in der Dämmerung an, beide im Rollstuhl, umgeben von ihren Erinnerungen. »Miss Lewis«, sagte Sir Henry schließlich sehr förmlich, »Sie werden von meinem Rechtsanwalt hören. Nicht von diesem Knauser hier, sondern von unserem Familienanwalt. Auf jegliche Ansprüche, die die Familie Crawden in der Vergangenheit auf den Besitz von Golden Valley gehegt haben mag, werden wir förmlich verzichten…« Er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Bring mich nach Hause, Charles. Die Sache ist endlich abgeschlossen.«
26 Mary sieht den nächsten Schritt Am Abend nach dem Treffen mit den Crawdens und Martin Marsh in Four Fields herrschte in Golden House großer Jubel. Jack war tief beeindruckt von der Art, wie William die Sache erledigt hatte. »Woher hast du gewusst, was im Kaufvertrag steht?«, rief er, als er den Korken aus einer Flasche Wein zog und die Gläser für Meg und Phoebe füllte. »Ja, Will«, sagte Phoebe. »Wie hast du das nur erraten?« William fühlte, wie er rot wurde, und steckte auf der Suche nach einer Antwort seine Hände tief in die Taschen seiner Jeans. Seine Faust schloss sich um das Pendel des Magiers und wieder fühlte er sich getröstet, weil er sich an ihm festhalten konnte. »Natürlich«, sagte Jack plötzlich, »wussten wir aus Jonas Lewis’ Buch, dass es eine Art Dokument gegeben haben muss – und Meg, Sie haben gesagt, dass auch Ihr Vater davon wusste. Ich glaube, mit einigem Nachdenken hätten wir genau das vermutet, was du gesagt hast, William. Aber ich muss sagen, das war ziemlich genial.« »Eigentlich habe ich gar nicht viel gesagt, weißt du. Sie haben doch die meiste Zeit selbst geredet.« »Das stimmt«, erinnerte sich Jack. »Umso besser, William! Vielleicht solltest du Jura studieren. Du denkst schon wie ein Anwalt! Selbst so wenig wie möglich sagen, damit die andere Partei sich mit ihrem Gerede das eigene Grab schaufelt!« »Also, Meg«, sagte Phoebe, »jetzt sind Sie also die Besitzerin des ganzen Landes hier!« »Ja, meine Liebe«, sagte Meg ruhig. »Eine Landbesitzerin ohne Haus!« »Ich wünschte, Sie würden noch einmal darüber nachdenken, bei uns zu bleiben«, sagte Phoebe. »Wir haben wirklich mehr als genug Platz und – sogar wenn wir jemals dahin kommen, ein Hotel zu eröffnen, wäre immer ein Zimmer für Sie da.« »Es ist seltsam, hier zu sein…«, murmelte Meg und sah sich in der Küche um. »Du musst sie nicht drängen, Phoebe«, sagte Jack sanft. »Sie sollen nur wissen, dass wir Sie sehr gerne hier hätten, Meg.«
»Danke, mein Lieber«, sagte Meg. »Und du wärst bei den Dachsen«, fügte Alice schnell hinzu. »Obwohl man einen steilen Abhang hinaufmuss«, sagte Meg lächelnd. »Ich muss wieder auf die Beine kommen, wenn ich sie jede Nacht sehen will. Schluss mit diesem Rollstuhl. Ich muss mit den Gymnastikübungen anfangen, die ich machen soll…« William kam glimpflich davon, denn es wurde von anderen Dingen gesprochen und er musste sich nicht damit herumquälen, noch mehr Fragen zu beantworten, bis die Kinder hinauf in ihre Zimmer gingen. Da verhörten ihn dann seine Schwestern. »Ich dachte, wir dürften nichts über diese Papiere sagen?«, forderte Alice ihn heraus, sobald sie allein waren. »Ich dachte, deshalb hätten wir sie verbrannt.« »Das habe ich auch gedacht, Alice«, antwortete William. »Sei nicht böse. Ich war genauso überrascht wie ihr. Ich hatte entsetzliche Angst, dass jemand eine Frage stellen würde, die ich nicht ehrlich beantworten konnte ohne die ganze Sache platzen zu lassen.« »Aber niemand hat es getan«, sagte Mary nachdenklich. »Es war perfekt. Sie haben getan, was Jack gerade gesagt hat… sie haben sich selbst verurteilt – weil sie dachten, du wüsstest mehr, als du zugegeben hast.« »Da bin ich mir nicht sicher«, gab William zu. »Als ich diesen gemeinen Mann gesehen habe…« »Welchen, Will?«, fragte Alice eifrig. »Ich glaube, sie sind beide gemein.« »Aber Martin Marsh hinterlässt eine Schleimspur wie eine Schnecke«, sagte William. »Igitt!«, verzog Alice das Gesicht. »Ich hoffe, der Magier hat keine zahme Schnecke. Ich glaube nicht, dass ich das mag!« Und wieder einmal kehrten ihre Gedanken zu Stephen Tyler zurück. »Ich frage mich, woher Jasper wusste, dass er krank ist«, sagte William. »Glaubst du, er leidet immer noch unter dem Hundebiss an seinem Arm?«, fragte Mary. »Ich weiß es nicht«, sagte William. Er machte plötzlich ein ziemlich beschämtes Gesicht und drehte sich weg. »Was ist, William? Was ist los mit dir?«, fragte Mary und schaute ihn erstaunt an.
»Es ist nur… albern, eigentlich. Wisst ihr noch, als Phoebe mich nach dem Kampf um Golden Water zum Arzt gefahren hat – als ich all diese Hornissenstiche hatte? Na ja, er hat mir eine Packung Antibiotika gegeben.« »Und?«, sagte Mary. »Ich hab sie nicht genommen. Ich habe sie aufgespart.« »Wofür?« »Für Mr. Tyler«, sagte William leise. »Ich dachte, vielleicht würden sie ihm helfen über diesen Hundebiss hinwegzukommen – wenn er sich entzündet hat.« »Aber das ist doch wundervoll, William!«, rief Alice. »Wir können ihm helfen gesund zu werden…« Dann schniefte sie laut, kratzte sich an der Wange, und während die anderen in Gedanken versunken schwiegen, rief sie plötzlich: »Ach, Bockmist! « »Ist das ein neuer Fluch, Alice?«, fragte William. »Verdammter Bockmist!«, antwortete Alice von oben herab. Dann schwiegen sie wieder. »Wir können ihm die Tabletten nicht geben, oder?«, sagte Mary traurig. »Wir können ihm nicht helfen gesund zu werden… weil wir die Dinge verändern würden. Wie du gesagt hast, William. Das ist es, nicht wahr?« »Ich bin nicht sicher«, sagte William. »Ich glaube schon, dass es richtig wäre, ihm zu helfen. Wenn wir herausfänden, dass er verhungert, dann könnten wir ihm etwas zu essen geben…« »Aber Antibiotika?«, zweifelte Mary. »Sie waren damals noch nicht mal erfunden.« »Naja, egal«, sagte William seufzend, »es macht nicht viel Sinn, darüber zu reden – wenn er nicht zu uns kommt.« Während er sprach, nahm er das Pendel aus der Tasche und hielt es vor sich. Sie starrten es alle nachdenklich an. »Wir müssen es irgendwo gut verstecken«, sagte Alice. »Irgendwo hier, dachte ich«, sagte William. »Aber wo?«, fragte Alice und blickte sich suchend um. »Ich weiß nicht«, antwortete William mutlos. »Wir geben es Spot«, sagte Alice. »Er bewacht es für uns. Hältst du das nicht auch für das Beste, Mary?« Aber Mary hatte gar nicht zugehört. Sie dachte über andere Dinge nach. Als sie merkte, dass die anderen sie ansahen, drehte sie sich zu ihnen um und erklärte nüchtern: »Wenn der Magier nicht zu uns kommt, dann müssen wir einfach zu ihm gehen.«
»Was?«, rief Alice. »Aber wie?« Sie war gleichzeitig aufgeregt und ängstlich bei dem Gedanken. »Ich weiß nicht, wie«, sagte Mary und tat diesen Umstand ab, als sei er nicht weiter wichtig. »Wir müssen uns überlegen, wie. Wir sind so weit gekommen. Wir haben durch die Augen von Tieren gesehen…« »Wir waren schon in der Vergangenheit«, sagte William und spürte ein aufgeregtes Kribbeln auf seinem Rücken. »Aber das war doch eigentlich nur zufällig, oder?«, sagte Mary. »Er hat uns geholfen. Aber – wenn er krank ist, ist er vielleicht nicht in der Lage, uns zu helfen…« »Also müssen wir es allein tun«, beendete William ihren Gedanken und das ganze Ausmaß ihrer Überlegungen machte ihm eine Gänsehaut. »Es muss möglich sein«, sagte Mary ernst. »Tun wir es für Mr. Tyler…« »Du meinst… in seine Zeit zurückgehen?«, fragte Alice, die ganz sichergehen wollte, worüber sie redeten. »Warum nicht?«, wisperte Mary. »Aber wann?«, sagte William. Mary zuckte mit den Schultern. »Das braucht Zeit und die Ferien sind bald vorbei.« »Nächstes Mal, wenn wir kommen, sind Herbstferien. Die sind auch nicht sehr lang«, sagte William nachdenklich. »Vielleicht ist es einfacher, als wir glauben«, sagte Alice und starrte auf das Pendel, das von Williams Hand herunterhing. »Wir sollten es wenigstens versuchen«, entgegnete Mary. Und das war das erste Mal, dass sie auf diesen Gedanken kamen. Wenn ihr wissen wollt, welche weiteren Abenteuer Mary, William und Alice im Haus des Magiers erleben, dann lest weiter im nächsten Band der Reihe: Die Brücke in den Wolken (70714)