Susan Schwartz
Hinter dem Horizont Bad Earth Band 2
ZAUBERMOND VERLAG
Die Dinge sind in Fluss geraten, doch die Erd...
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Susan Schwartz
Hinter dem Horizont Bad Earth Band 2
ZAUBERMOND VERLAG
Die Dinge sind in Fluss geraten, doch die Erde ist immer noch in der Hand der Keelon-Master, die Menschen sind nach wie vor die von vielen gefürchteten und gehassten Erinjij. Da braut sich neues Unheil zusammen. Im Zentrum der Milchstraße häufen sich unerklärliche Zwischenfälle, in die auch ein HAKAR der Foronen verwickelt ist. Als die RUBIKON dorthin aufbricht, um den Leichnam des Gefährten Boreguir auf dessen Heimatwelt Saskana beizusetzen, erwartet John Cloud und seine Crew ein Abenteuer, das alles bisher Erlebte in den Schatten stellt. Während ein Außentrupp unter Scobees Führung nach Saskana aufbricht, werden John Cloud und die RUBIKONCrew Zeuge einer Raumschlacht »David gegen Goliath«. Der Goliath ist eine golden schimmernde Kugel von einem Kilometer Durchmesser, der von einem Schwarm kleiner grüner Schiffe attackiert … und schließlich überraschend vernichtet wird. Die RUBIKON greift zu spät ein, kann nur noch ein zylindrisches Objekt bergen. An Bord geholt, verwandelt es sich in eine humanoide Gestalt, die sich als Fontarayn vorstellt. Fontarayn dankt die Rettung schlecht – er reißt das Kommando über die RUBIKON an sich und steuert sie, verfolgt von der feindlichen Flotte, geradewegs in das riesige Schwarze Loch im Milchstraßen-Zentrum. Das Ende der RUBIKON scheint unausweichlich …
Prolog Meidet uns künftig. Meidet die Sonne, die ihr Sol nennt, und den Planteten, in dem ihr törichterweise immer noch eure Heimat seht. Kehrt nie mehr dorthin zurück. Von diesem Augenblick an seid ihr auf der Welt namens Erde nicht mehr willkommen – und werdet es nie mehr sein!
So hatte – sinngemäß – Darabims Abschiedsworte gelautet, und so waren sie für immer und ewig gestrandet. Man schrieb das Jahr 2252, aber es war nicht ihr Jahr. Und sie waren aus aus jenem Sonnensystem verbannt, in dem sie geboren und aufgewachsten waren, für das sie gekämpft hatten – ihr Leben riskiert, und nicht nur einmal. Das kann er nicht so einfach tun!, rebellierte eine Stimme in Cloud. Er ist ein Keelon, ein von den anorganischen Jay'nac gezüchtetes Geschöpf! Was maßt er sich an? Darabim ist nicht mehr der Master der Erde, auch wenn er das annehmen mag. Und Darnoks Bewusstsein ist in ihm, der unser Freund war, der sein Leben für uns gab. Zählt dies alles nichts? Begreift Darabim nicht, dass er nicht Herr, sonder höriger Diener ist? Und was ist mit den Erinjij, die Geißel der Galaxis, wie man sagt? Sie waren einst Menschen, und viele von ihnen sind es immer noch! Aylea ist das beste Beispiel dafür! Behütet aufgewachsen in perfekter Idylle, hat sie den faulen Kern des Apfels entdeckt – und sofort versuchte man, sie loszuwerden. Ins Getto hat man sie gesteckt, zu all den anderen Unerwünschten, sie der schleichenden Strahlung und den Gefahren der Zeitanomalien ausgesetzt, ein Ort, von dem nur die wissen, die ganz oben die Geschicke der Menschheit leiten. Es gibt keine Gefängnisse mehr auf der Erde, keine Todesstrafen, man gibt sich hochmoralisch und sozial. Natürlich, wenn man heimlich einen Platz zum Abschieben hat! Da macht man sich nicht die Hände schmutzig, überlässt den Verurteilten einfach seinem Schicksal und sorgt dafür, dass
er keinen Schaden mehr anrichten kann. So muss es ja nicht kommen, heißt es. Jeder ist dafür verantwortlich, dass das soziale Gefüge nicht gefährdet wird in diesem Paradies. Und dazu gehören vor allem unbequeme Fragen. Brot und Spiele, panem et circenses. Vermisste Cloud seine Heimat? Natürlich. Aber jene Heimat, die er 2041 verlassen hatte, auf der Suche nach seinem Vater und den Hintergründen des Scheiterns der ersten Marsmission. Die Erinjij waren nicht mehr sein Volk, zumindest größtenteils nicht, wie er bitter einsehen musste. Aber die Erde war noch da. Und damit auch diejenigen, die nicht teilhaben wollten an dem Eroberungsfeldzug der Erinjij in der Milchstraße. Die Erde selbst … war ein blühender Planet. Cloud gab es jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn er hin und wieder eine Holoaufnahme betrachtete, wenn er einfach nicht anders konnte, als sich das anzutun und das zu sehen, was er für immer verloren hatte. Oder wenn Aylea von ihrem kurzen, damals noch glücklichen Leben berichtete. Doch im Grunde hatte Darabim Recht. Was sollten Cloud und seine Freunde auf der Erde tun? Sie »befreien«? Selbst, wenn dieses Unmögliche gelungen wäre – wie hätte es danach weitergehen sollen? Die Folgen wären Anarchie und Chaos, der Zusammenbruch des pseudoparadiesischen Gefüges. Und dann? Von vorn anfangen, in Armut und Barbarei? Dafür würde ihnen wohl kaum jemand Dank entgegenbringen. Dieser Aufgabe bist du ohnehin nicht gewachsen, Cloud, sagte eine andere, reifere Stimme in ihm. Nimm es hin. Akzeptiere es. Menschen haben schon Schlimmeres durchgemacht als Entwurzelung. Und ob ein paar Millionen Lichtjahre Entfernung oder nur ein Ozean, der auf demselben Planeten Menschen voneinander trennt – es spielt keine Rolle für das Gefühl der Einsamkeit und des Heimwehs. Du musst lernen, damit fertig zu werden. Du musst lernen, damit umzugehen. Sei ein Vorbild für deine Gefährten und die weiteren Gestrandeten, die man ebenfalls »hinausgeworfen« hat. Viele von ihnen sind nicht einmal vom Schicksal so begünstigt
wie du: Denn du bist jung und gesund, du hast einen klaren Verstand – und eines der mächtigsten Raumschiffe, die je gebaut wurden. Die hoch entwickelte KI – Sesha – akzeptiert dich als Kommandanten und gehorcht dir. Ihr metallischer Leib ist eine Welt für sich, es gibt schier unerschöpfliche Möglichkeiten, es hier für die Menschen erträglich zu machen. Du kannst weitere hydroponische Gärten anlegen, die Jelto pflegt, jeder kann sich seine Unterkunft so herrichten, wie er mag. Selbst Einsiedler haben hier eine gute Chance, den Rest ihres Lebens abgeschieden in einer Enklave zu verbringen, ohne dass sich jemand auch nur zufällig in die Nähe verirren muss. Finde eine Aufgabe, Cloud, für dich und deine Leute. Gib ihnen ein Ziel, damit sie wissen, wofür sie weitermachen. Mit den gewaltigen Machtmitteln, die dir zur Verfügung stehen, kannst du eine Menge anstellen. Es wird Zeit, erwachsen zu werden und über den Tellerrand zu blicken. Das Universum ist nun deine Heimat. Da gibt es eine Menge zu tun, hadere nicht länger mit dir selbst!
Cloud musste über sich selbst lächeln. Ein Glück, dass niemand seine Gedanken las, wahrscheinlich hätte derjenige ihn für irre gehalten. Algorian, der telepathisch begabte Aorii, hätte sich vielleicht in seinen Gedanken herumtreiben können. Aber erstens würde der Freund das nie tun, und zweitens hatte er derzeit andere Sorgen. Scobee, Jarvis und Algorian waren nach ihrer Rückkehr von Saskana, jener Welt, die so gut versteckt lag, dass sie weder zu sehen noch mit Messgeräten erfassbar war, von Sesha in Quarantäne gesteckt worden. Ihnen allen haftete ein auf Saskana allgegenwärtiger Staub an, der Algorians Psi-Kräfte und Jarvis' Körper stark beeinträchtigt hatte – Letzteren sogar in einem Maße, dass ihn ein simpler Korallenbaum verletzen konnte. Was für sich genommen schon ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre – unter normalen Umständen. Denn Jarvis' Bewusstsein bewohnte seit seinem Tod die ehemalige Rüstung eines Foronen, de-
ren Nanostruktur sich von ihm beliebig formen ließ. Der ehemalige Klon brauchte nicht einmal mehr einen Stuhl, um sich darauf zu setzen, er musste die Myriaden Teilchen, aus denen er sich zusammensetzte, nur entsprechend seinen Vorstellungen anordnen … Im Allgemeinen modellierte Jarvis seine Hightech-Hülle so, dass sie entfernt an den ehemaligen GenTec erinnerte, der er einmal war. Er ahmte das Gesicht inzwischen recht gut nach und verstand sich auch auf die Mimik. Wenn Jarvis sprach, bewegte sich sein Mund, und man hätte annehmen können, dass er über Stimmbänder und Lungen verfügte. Wenn er jemals in der Lage wäre, den Nanokörper vollständig zu beherrschen, wäre er ein sehr mächtiges Wesen. Aber nicht derzeit. Der Staub haftete an ihm und machte ihn »müde«, die beste Beschreibung für seinen Zustand. Jarvis bewegte sich nur noch sehr langsam, und die Wunde machte ihm zu schaffen. Obwohl er den Fremdkörper zusammen mit dem abgestorbenen Nanogewebe isoliert und abgestoßen hatte, schien noch immer etwas da zu sein, das die Zellumgebung angreifen wollte. Die organischen Gefährten hatten zusätzlich zur Bestäubung ihrer Haut auch noch Staub in der Lunge, der allerdings außer Hustenreiz bisher nichts Schlimmeres bewirkt hatte. Sesha war noch mit den Analysen beschäftigt – eine ungewöhnlich lange Dauer für eine so hoch entwickelte KI. Das konnte allerdings auch daran liegen, dass die RUBIKON gerade auf ein Super Black Hole zutrieb und selbst eine multifunktionelle Maschine damit überfordert war. Ja, dachte Cloud. Dem Tode geweiht, das sind wir. Ihr ursprüngliches Ziel war Saskana gewesen, Boreguirs Heimat. Cloud, Scobee und die anderen hatten es als selbstverständlich angesehen, dem gefallenen Krieger und Freund die letzte Ehre zu erweisen und seinen Leichnam nach Hause zu bringen. Boreguir selbst hatte dies – bewusst oder zufällig – vorbereitet, denn er hatte ein Vermächtnis hinterlassen; eine Art Papyrus, auf dem der Sternenhimmel der Heimat des Saskanen abgebildet war. Zumindest hatte das der Satoga Artas vermutet, der den Papyrus
auf der RUBIKON gefunden und Cloud zusammen mit den Koordinaten quasi als Abschiedsgeschenk übergeben hatte. Doch erst einmal dort angekommen, war weder eine Sonne noch eine Welt zu finden gewesen. Saskana war unsichtbar – und doch vorhanden, wie Jarvis herausfand. Also war ein zweiter Trupp unter Scobees Kommando aufgebrochen, um Boreguirs sterbliche Überreste seinen Artgenossen zu übergeben. Dies war nach einigen Fährnissen gelungen. Doch dabei hatten sie Jiim, den geflügelten Nargen, verloren. Er hatte sich sprichwörtlich in Luft aufgelöst! Nicht einmal sein Nabiss, seine leistungsfähige, fast schon mythische Schutzrüstung, hatte ihn davor bewahren können. Doch als wäre das noch nicht genug, hatte Cloud derweil einen Notruf empfangen und einen Würfel an Bord geholt, der sich plötzlich zu einem Lebewesen umformte. Es hatte sich selbst als Fontarayn vorgestellt, sich im nächsten Moment aufgelöst, war durch die RUBIKON gesickert und hatte augenscheinlich die Kontrolle über Sesha übernommen. Denn kurz darauf steuerte das Schiff auf das Zentrum der Milchstraße zu, direkt zum dortigen riesigen Schwarzen Loch. »Steigt in die Kapseln!«, lautete Clouds letzter Befehl an die Mannschaft. Er selbst blieb in der Zentrale, schloss den Sarkophag-Sitz und versuchte, den Kontakt zu Sesha zu erhalten. Doch dann fielen sämtliche Systeme aus. Und das Schiff raste mit unglaublicher Geschwindigkeit seinem Untergang entgegen, die Besatzung an Bord eingeschlossen wie in einen Sarg …
1. Kapitel Plötzlich sprangen die Systeme wieder an, als wäre nichts geschehen, und Cloud erhielt Kontakt zu Sesha. Was ist passiert?, fragte er das Schiff. Der Sarkophag war geschlossen, er war – nicht zuletzt durch die Verbindung seiner Protopartikel – eins mit dem Schiff und kommunizierte mit der KI auf rein geistiger Ebene. Nichts, antwortete Sesha. Cloud hatte eine Weile an dieser idiotischen Antwort zu knabbern. War es wirklich noch die Sesha-KI oder etwas anderes, das an ihre Stelle getreten war? Oder hatten ihre Programme bei dem kurzzeitigen totalen Ausfall Schaden genommen? Er entschloss sich, die Antwort zu ignorieren und fuhr fort: Wie lange noch bis zum Eintauchen in das Black Hole? Einige wenige Minuten vielleicht, gab Sesha eine halbwegs vernünftige Auskunft. Dies ist selbst für mich eine unberechenbare Situation. Sind die anderen in Sicherheit? Präzisiere, bitte. Cloud zählte innerlich bis fünf. Mannschaft und Passagiere. Haben sie alle die Kapseln erreicht? Und hat jeder einen Platz darin gefunden? Möglicherweise waren einige rechtzeitig dort. Möglicherweise? Was bedeutete das nun wieder? Konnte Sesha das etwa nicht feststellen? Cloud aktivierte die Systemreparatur, erhielt allerdings keine Bestätigung, dass sie nach Schäden suchte. Ausgefallen? Er hatte keine Zeit, das zu überprüfen, denn Sesha meldete weiter: Doch das ist irrelevant. Inwiefern? Die Kapseln können nicht starten. Ich kann nichts tun. Scobee soll – Auch der manuelle Notstart funktioniert nicht, Cloud, und Scobee kann ohnehin die Quarantänestation nicht verlassen, weil ich die Schleusen
nicht öffnen kann. Der Kommandant ballte die Faust und biss sich auf die Zähne, bis sie knirschten und ihm die Wangenknochen schmerzten. Verdammt. Verdammt, verdammt, ver … dammt. Sein Geist raste durch die riesige Ex-Arche, suchte nach den externen Schaltsystemen für die Kapseln – und prallte gegen eine goldene Mauer. Er rannte dagegen an. Wieder und wieder. Es ist zwecklos, Commander. Seshas unbeirrbar sachliche, sanftweibliche Stimme hallte in seinem Verstand nach, und er wünschte sich, irgendeine Materie vor sich zu haben, eine Sesha-Statue, auf die er einschlagen konnte, seine hilflose Wut abreagieren. Ich sagte doch, ich kann nichts tun. Und ich habe normalerweise mehr Möglichkeiten als du, Commander. Denn ich bin das Schiff du jedoch nur ein Teil davon. Aber dieser Teil hat die Kontrolle. Cloud wollte nicht einfach so aufgeben. Sesha verstand selbstverständlich nichts von diesen Emotionen. Ihr kalter logischer Verstand hatte die Situation analysiert und festgestellt, dass nichts mehr zu tun war, sobald sie die Kontrolle verloren hatte. Der organisch-menschliche Kommandant jedoch suchte nach Hintertürchen, einem Ausweg. Er schleuste sich in unwichtigste Steuerungen ein, aktivierte sie, um von dort aus einen Zugang zur Hauptsteuerung zu finden und so über Umwege zu erreichen, dass die Rettungskapseln doch noch starten konnten und wenigstens einige seiner Begleiter überleben würden. Und, dachte Cloud in einem Anfall trockenen Humors, Sarah Cuthbert und ihr Zirkus dürften inzwischen daran gewöhnt sein, im Container zu reisen. Ein vergleichbares Behältnis, Darabims »Hinterlassenschaft«, war nämlich nach dem Abzug der Keelon zurückgeblieben. Es beherbergte die Ex-US-Präsidentin Sarah Cuthbert und ein gutes Dutzend deformierter Menschen, die dem Zirkusdirektor Prosper Mérimée als Attraktionen seiner Freak-Show gedient hatten. Eine seltsame Gruppe, die Cloud zusätzliche Verantwortung aufbürdete. Und das
gerade in dieser Situation! Den Sturz in das Super Black Hole im Zentrum der Milchstraße, noch dazu bei dieser Geschwindigkeit, würde mit Sicherheit keiner überstehen. »Bald werden wir wie Spaghetti in die Länge gezogen …«, murmelte er. »Das ist bei der außerordentlichen Größe dieses Schwarzen Lochs unwahrscheinlich«, widersprach Sesha. »Meinen Berechnungen zufolge werden wir verglühen, bevor es dazu kommt.« »Haben wir überhaupt eine Chance, in das Loch einzutauchen und hindurchzufliegen … wie durch eine Wurmlochpassage?« »Nein. Wir werden lange vorher zerstört, egal von welchem Winkel aus und mit welcher Geschwindigkeit wir es anfliegen.« Cloud versuchte es intensiv weiter mit den Umwegen, um irgendwie an die Kontrolle zu gelangen – und diesen Wahnsinn doch noch zu stoppen. Zugang verweigert … Zugang verweigert … Zugang verweigert. Cloud rannte gegen goldene Wände. Fontarayn, dachte er. Er muss es sein, dieses merkwürdige androgyne Wesen, das ich aus Unvorsicht an Bord genommen habe. Wer sonst könnte die Kontrolle übernommen haben, zufällig just in dem Moment, als der Fremde an Bord gekommen ist? Eine seltsame Art, seine Dankbarkeit zu zeigen! Den nächsten Anhalter lasse ich einfach im All schmoren!, nahm er sich fest vor. Grimmig und verbissen setzte er den Kampf fort. Dann … erlosch die Beleuchtung. Ein zweites Mal. In der Zentrale wurde es schlagartig stockfinster, die Holosäule erlosch. Nicht einmal mehr die Notlichter funktionierten noch, es gab keine einzige Systemanzeige. Sesha? Keine Antwort. Natürlich nicht, es war genau so wie beim ersten Mal. Cloud versuchte es trotzdem. Immerhin hatte der erste Ausfall nur wenige Sekunden gedauert. Vielleicht würde es auch diesmal so sein. Aus der Finsternis kam die Kälte. Cloud zog fröstelnd die Schul-
tern zusammen. Seine Hände tasteten über die Handbedienungskonsolen an den Armlehnen. Doch auch hier funktionierte nichts mehr. Jetzt ist es also endgültig so weit. Wahrscheinlich hatte die ehemalige Foronen-Arche das Schwarze Loch gerade erreicht und stürzte hinein. Cloud kam es wie ein Stillstand vor, als verharrte in diesem Moment das ganze Universum und hielte den Atem an. Um zu überlegen, was mit diesem größenwahnsinnigen Floh geschehen sollte, der es wagte, sich einem Phänomen zu stellen, das ihm milliardenfach überlegen war. Cloud konnte nicht feststellen, ob sie noch Fahrt hatten, ob sie schon im Übergang begriffen waren. Er saß allein in gefrorener Finsternis, ohne zu wissen, was mit den Gefährten geschehen war, ob sie noch lebten, ob sie sich aneinander kauerten und sich gegenseitig in ihren Ängsten trösteten. Wir kommen allein zur Welt, und allein sterben wir, resümierte er. Aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Zuerst werde ich eingefroren und dann geröstet. Da bleiben wahrscheinlich nicht einmal mehr Atomfragmente von mir übrig. Geschweige denn von den anderen, der RUBIKON … und wahrscheinlich auch diesem verrückten Goldenen. Er unternahm keinen Versuch, den Sarkophag, der nun tatsächlich zum Sarg für ihn werden würde, zu verlassen. Er konnte sich unmöglich in dieser absoluten Finsternis orientieren, und die Kälte lähmte seine Glieder. Er spürte, wie seine Fingerspitzen steif wurden. Das Atmen wurde selbst durch den geschlossenen Mund zur Qual. Hoffentlich müssen die anderen nicht leiden. Die Kälte kroch seine Beine hoch, und Cloud fühlte erste Anzeichen von Müdigkeit. Nicht einschlafen, ermahnte er sich. Möglicherweise verpasst du doch noch etwas. Seltsamerweise verspürte er keine Angst, lediglich Bedauern. Es konnte nur noch Sekunden dauern.
»John!«
Er blinzelte. Da, ein winziger Lichtpunkt in der Ferne. Der sich vergrößerte. Ein Schatten davor. Die Gestalt kam näher. Ein Mann, zweifelsohne. Sehr vertraut. »Vater?« Der Fremde erreichte ihn. Lächelte. »Erkennst du dich selbst nicht wieder?« John blickte genauer hin. Sah wirklich ein Bild von sich selbst … aber viel, viel älter. Und mit einem grauen Bart. »Du … bist ich?«, formulierte er mühsam. Seine Lippen waren trocken und rissig. »Natürlich nicht«, antwortete der andere. »Ich bin nur eine Projektion deiner Gedanken.« »Dann sterbe ich in diesem Moment?« »Wie man's nimmt.« Old John zuckte die Achseln. »Man kann es auch einen Übergang nennen. In deinem Oberstübchen ist gerade jede Menge los! Ist gar nicht so einfach für mich, mich hier zu halten. Immer wieder schweifst du ab …« Das stimmte. Das Abbild von Old John flackerte, wurde durchsichtig und dann wieder deutlicher, wie eine Bildstörung. »He, Alter, aus dem Weg!« Ein Junge rempelte Old John zur Seite. Cloud zuckte zusammen. »Wo kommst du denn auf einmal her?« Der Junge grinste und tippte sich gegen die Schläfe. »Woher alles kommt, was denkst du denn?« Cloud stöhnte. »Noch eine Projektion? Ich muss verrückt geworden sein!« Der Junge sah genauso aus wie er, mit dreizehn Jahren. Er hatte sogar den Kratzer auf der Wange, den John bei einer Prügelei mit dem Klassenrüpel abbekommen hatte. »Allerdings tickst du nicht gerade richtig, wenn du dich mit uns unterhältst«, meinte Young John. »Und uns auch noch siehst …« »Wir sind nur Stimmen in deinem Kopf«, bestätigte Old John. »All das, was dich selbst ausmacht. Es muss etwas passiert sein, dass es zu einer Trennung kam.« »Ich kann mich nur an einen gewaltigen Lichtblitz erinnern, dann war ich hier«, erklärte Young John. »Aber das ist doch alles nicht wirklich, oder?« Er streckte die Hand aus.
»Autsch!«, stieß Cloud hervor und rieb sich die Stelle am Unterarm, in die Young John ihn gezwickt hatte. »Das gibt's doch nicht.« »Hey, das macht Spaß!«, freute sich Young John. »Autsch!«, rief Old John gleich darauf. »Hör sofort auf, du Bengel, und zeige mehr Respekt vor dem Alter!« »Theige mehr Rethpekt vor dem Altääär«, äffte Young John nach und zog eine Grimasse. »O Mann, wenn ich gewusst hätte, wie uncool du wirst –« »Keiner von euch ist so wie ich!«, fuhr Cloud dazwischen. »Ihr seid nur verzerrte Abbilder! Verschwindet!« »Das kannst nur du entscheiden, John-Boy«, grinste Old John. »Wenn du keinen Gedanken mehr an uns verschwendest, sind wir auch schon weg.« »So einfach ist das nicht.« Cloud versuchte, sich zu erinnern. Worum ging es eigentlich? Es war so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte das Gefühl, weit entfernt von sich selbst zu sein. Andererseits war er immer noch in sich drin, in seinem Körper … das war keine prämortale Erfahrung, der Moment des Sterbens, wenn Geist oder Seele oder beides – wie man es nennen mochte – den Körper verließ und über sich schwebte, auf sich selbst hinabblickte. »Bin ich noch am Leben?« Er hatte gespürt, wie er gezwickt wurde. Allerdings von einer Illusion, was beides völlig irreal war. Er versuchte, seinen Puls zu fühlen, aber irgendwie bekam er sich selbst nicht zu fassen. Er konnte den Sarkophag spüren, in dem er halb lag, und die Armlehnen … Aber sonst nichts. Sarkophag? Das Schiff! »Wo … wo sind wir?«, flüsterte John in die Finsternis hinaus. »Ist es geschehen?« Young John kratzte sich am Kopf und Old John hob die Schultern. »Wenn wir das wüssten, wären wir wahrscheinlich nicht hier«, sagte der Alte. »Vielleicht sollen wir dir helfen, genau das herauszubekommen.« »Ja genau, lass uns abhauen, es ist total öde, hier herumzuhängen!«, schlug der Junge vor.
»Aber ich kann nicht gehen …« Bevor Cloud sich versah, hatten die beiden ihn unter den Achseln gepackt und in die Höhe gehievt. Young John stöhnte und schnaufte, er reichte Cloud gerade bis zu den Achseln. »Ist das ein Brocken! Mann, ich glaube, heut Abend ess ich keinen Hamburger …« »Aber wohin?«, fragte Cloud. »Na, zum Licht, wohin sonst?«, antwortete Old John. »Und dann bin ich tot?« »Quatsch. Hast du je daran geglaubt, dass es so sein würde? Ich jedenfalls nicht«, plapperte Young John munter. Cloud ging auf das Licht zu, gestützt von seinen beiden Ichs. Er spürte seine Beine nicht, aber den Boden unter den Füßen, und er wusste, dass er ging. Das Licht kam tatsächlich näher. Und entpuppte sich als Türrahmen, mit nach innen geöffneter Tür, und dahinter lag … ein Ballsaal?
Cloud blinzelte im blendenden Licht, an sein Gehör drang ein Schwall von Geräuschen, die er erst nach einer Weile als Musik identifizierte. Es klang wie eine Mischung aus Kirmes, Oper und Zirkus. Und so sah es auch aus. Der Boden des großen Saals war in einem schwarz-weißen Rautenmuster ausgelegt. Links und rechts an den Seiten führten breite, geschwungene Treppen auf die oberen Galerien. Von der Decke herab hingen mächtige Lüster, deren Kristall ein zauberisches Licht verströmte; kleine Äffchen kletterten darin herum. Auch Schaukeln waren angebracht, auf denen biegsame junge Frauen in Ballerina-Kleidung Kunststücke vorführten. Säulen, Stelen und Geländer waren mit Blumen, Papiersternen und Lametta dekoriert. Es war ein Maskenball, und John sah viele Menschen, Männer und Frauen, in farbenfrohen Kostümen tanzen, flanieren, lachen, sich küssen … Paradiesvögel, Löwen, Wölfe, Papagenos und Papagenas, Clowns, auch die Figuren der Commedia dell'Arte: Harlekin, Panta-
lone, Capitano, Columbine, Isabella. Dazu Stelzengänger, Possenreißer, Feuerschlucker, Zauberer. »So viele schöne Frauen …«, seufzte Old John hingerissen. »Pffft, olle Schnepfen«, kommentierte Young John verächtlich. »Was willste denn mit denen anfangen? Guck mal, der Zauberer da, der hat gerade den Affen verschwinden lassen!« »Es ist schlimmer, als ich dachte«, stellte Cloud verzweifelt fest. »Ein Albtraum …« »Gefällt es dir hier nicht, Süßer?« Eine Paradiesvogelfrau in der Nähe hatte seine Worte gehört und kam näher. Ihre behandschuhten Finger strichen unter seinem Kinn entlang, ihre rubinroten Lippen wölbten sich verführerisch. »He, weg da, so geht das nicht!« Young John versetzte der maskierten Schönen einen derben Schubs. »Mir gefällt es hier ausgezeichnet, geheimnisvolle Lady«, strahlte Old John. »Ich könnte mich schon zu einem Tänzchen überreden lassen …« »John!«, rief Cloud. »Warte!« Doch Old John war bereits Arm in Arm mit der Frau in der sich wiegenden und drehenden Menge verschwunden. »Vergiss doch den Alten, der bringt's sowieso nicht mehr!«, griente Young John und zog ihn zur rechten Galerietreppe, wo sich gerade ein Kamel mit einem Zebra unterhielt. Eine Polonaise tanzende Gruppe kam ihnen dazwischen, drängelte sich zwischen ihnen hindurch, trennte sie … und Young John verschwand ebenfalls. Cloud blieb stehen und sah sich um. Sein Blick verschwamm, er konnte keine Einzelheiten mehr erfassen. Alles kreiste und tanzte vor seinen Augen in einer wilden, chaotischen Farborgie, wie ein Gemälde, das nass geworden war, dessen Farben nun verliefen, sich miteinander vermischten. »Was ist das nur?«, flüsterte er, und zum ersten Mal verspürte er ein Gefühl der Furcht. Auch in seinem Kopf drehte sich alles. Er wollte sich die Augen reiben, aber nach wie vor konnte er seinen Körper nicht spüren. Er versuchte zu gehen, doch er wusste nicht,
wie. Denk an den Boden. Cloud richtete den Blick auf den gemusterten Boden. Sah seine Füße auf einer schwarzen Raute stehen. Er dachte an die weiße Raute daneben … und stand darauf. Schwarz … weiß … Es funktionierte! Er bewegte sich vorwärts, wenngleich er sich nicht erklären konnte, wie. Es war kein Gehen, aber auch kein örtliches Versetzen wie durch einen Transmitter … zumindest sprachen die Empfindungen dagegen. Er heftete fortan einfach nur den Blick auf die nächste Raute und war dort. Als er einmal den Blick hob, sah er, dass er tatsächlich der Galerietreppe näher kam. Er entdeckte keine Spur von Old oder Young John, aber er vermisste sie auch nicht. Es war sogar tröstlich zu wissen, dass sie Freude an etwas hatten, keine besorgten oder traurigen Gedanken mehr waren. (Oder was auch sonst.) »Wo bin ich?«, fragte sich John laut. Niemand kümmerte sich um ihn, aber es schien auch niemanden zu stören, dass er vor sich hinmurmelte. Die Maskierten waren damit beschäftigt, ausgelassen zu feiern. Sie tranken, tanzten, unterhielten sich, bewegten sich durch den Saal, auf den Treppen und in den Galerien, verschwanden in dunklen Nischen, applaudierten den Künstlern … all das machte keinen gefährlichen Eindruck. Dennoch empfand John nunmehr Angst, ein Zustand, den er so noch nicht erlebt hatte. Sein Verstand konnte nicht erfassen, was hier geschah. Er konnte sich selbst nicht fühlen. Und das Letzte, was ihn noch an sich erinnerte, war auf dem Ball verschwunden, um sich zu amüsieren. Zurück blieb nur eine furchtsame Hülle ohne Kraft und Willen. Vielleicht sollte er sich auch einfach treiben lassen, dieses surreale Abbild der Wirklichkeit hinnehmen, denn es schien keinen Ausweg daraus zu geben. Die Tür, durch die er hereingekommen war, existierte nicht mehr. Lass dich gehen, riet ein Wispern in ihm. Nur ein einziges Mal – lass dich gehen. Vergiss die Kontrolle, versuch nicht, alles zu beherrschen. Es funktioniert nicht. Lass dich gehen und öffne dich dem, was du siehst, hörst und fühlst.
»Wessen Stimme ist das?«, flüsterte John. »Gibt es da noch mehr von mir?« »Natürlich«, lachte etwas in seiner Nähe. Er wandte den Blick, entdeckte aber keinen weiteren John. Aber vielleicht war dies hier »der Unsichtbare John«. Er sah ihn nicht, hörte ihn aber weiterlachen: »Da ist noch viel mehr. Du bist vielschichtig, so einfach kann man dich nicht ergründen.« »Wo sind die anderen beiden?«, murmelte Cloud. »Ich brauche sie … ich zersplittere immer mehr …« Ja, das erklärte seinen Zustand am besten. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich zu erinnern, bröckelte ein Stückchen mehr von ihm ab. Cloud zerfiel in seine Bestandteile. Und mit ihm zerfielen auch seine Erinnerungen, verteilten sich über diese unwirkliche Szene. Es gab nur noch einzelne Gedankenfetzen, die einen schwachen Sinn ergaben, bevor auch sie sich verflüchtigten. Ein Streit mit den Eltern. Sein erster erkletterter Baum in Nachbars Garten, der Geschmack des gestohlenen Apfels in seinem Mund. Sein erster heimlicher Kuss mit der Favoritin eines anderen. Der Abschied seines Vaters zum … Mars? Ein Wort, an das er sich erinnerte, dessen Bedeutung er aber nicht mehr kannte. Es hatte allerdings irgendetwas mit ihm zu tun. Wann wird nichts mehr von mir übrig sein?, fragte er sich. Erneut verschwamm die fröhliche Kulisse des Maskenballs vor seinen Augen. Die lachenden Menschen tanzten an ihm vorüber, doch ihre Gesichter zerflossen zu einem bunten Farbengemisch, vermengten sich immer mehr, bis seine Augen kaum mehr einzelne Strukturen unterscheiden konnten. Dann war er allein. Und er stand, nein schwebte in der Finsternis. Es war keine dichte, drückende Finsternis, sondern eher luftig und leicht. Er konnte atmen. Er erinnerte sich daran, dass er auch früher schon geatmet hatte. Aber sehr viel mehr war von dem Menschen Cloud nicht übrig. Nur sein Name hallte in einem leeren dunklen Saal in seinem Verstand wider. »Er hat Angst«, flüsterte eine Stimme in der Dunkelheit.
Hörte er sie? Mit den Ohren oder im Kopf? Oder empfing er die Buchstaben auf seiner Haut, sickerten sie ein, setzten sich in seinem Blut auf dem Aderntransport zu Worten zusammen, bis sie seinen Verstand erreichten? »Woher weißt du das?« Eine zweite lautlose Stimme. Die Antwort: »Ich habe es mit einer Erinnerung verglichen, dieses Gefühl beschrieb er als Angst.« »Aber er muss keine Angst haben«, erklang eine dritte Stimme. Oder was auch immer. Cloud hatte keine anderen Worte dafür. (Er wunderte sich sogar, dass er überhaupt noch so viel begreifen konnte.) Er sah Pünktchen in der Dunkelheit. Sie tanzten umher. Und sie waren farbig. Farben, die er in dieser Zusammensetzung noch nie gesehen hatte, für die es keine Bezeichnung gab, selbst wenn er sich hätte erinnern können. Doch sie waren wunderschön. Beruhigend. Freundlich. »Wer seid ihr?«, wisperte er. »Wir sind die, die wir sind«, sang eines der tanzenden Pünktchen. Ein bisschen Blau war in der Farbe. »Wo … lebt ihr?« »Wir sind hier.« »Ich … verstehe nicht …« »Wir auch nicht.« Ein rosa Pünktchen flirrte auf und ab; Cloud fühlte ein fröhliches Lachen. Das Blauchen näherte sich ihm. »Noch nie trafen wir einen wie dich. Du bist so anders …« »So wie ihr für mich«, gab Cloud zurück. »Wobei ich … nichts mehr über mich erzählen kann. Ich habe mich … irgendwie, irgendwo verloren …« Ein bunter Funkenregen explodierte vor seinen Augen. Sie umschwirrten ihn, berührten ihn, und er fühlte es. Es kitzelte. Wie ein sanfter Stromstoß. Er fühlte sich immer leichter werden, und seine Angst war plötzlich fort. »Das waren wir«, summte Blauchen. »Wir wollten dich kennen lernen. Haben lange in dir geforscht. Viele, viele lange Erinnerungen in deinen … Genen? Richtig, ja?«
»Ja …« »Seltsam. Faszinierend. Organisch. Träume. Sehnsüchte. Bewusstsein. Wahnsinn. Verstand. Logik. Gefühle. Fantasie …« Cloud wurde müde. Er konnte die Augen kaum mehr offen halten. »Irgendetwas geschieht mit mir …« »Bist bald da, Tschonklaut. Alles ist gut.« Der bunte Reigen wurde langsamer, schien sich zu einer lautlosen Musik zu wiegen, tanzte in einem bestimmten Rhythmus vor ihm auf und ab. »Ich hätte gern mehr über euch erfahren …«, murmelte er schläfrig. »Nächstes Mal«, trillerten sie im Chor. »Sei uns immer willkommen.« »Werde ich … mich … erinnern …?«, hauchte er mit letzter Kraft. »Wenn du es willst, so wird es sein. Dein Wille, deine Entscheidung. Danke für deine Gedanken und Träume, Freund von dort draußen. Sie werden uns immer begleiten.« Dann wurde es pechschwarz in Cloud, und er wusste gar nichts mehr, als wäre er vollends ausgelöscht worden.
2. Kapitel »Willkommen hinter dem Horizont«, erscholl eine tiefe nichtmenschliche, aber weiche Stimme. Cloud öffnete die Augen und richtete sich auf. Noch bevor er richtig begriff, tastete er sich ab, fühlte seinen Körper, war wieder er selbst. Alle Splitter zusammengefügt … (Alle?) Aber jetzt war keine Zeit dafür, existenzielle Fragen zu stellen. Er blickte sich um. Alles schien normal zu sein. Es war hell, die Temperatur angenehm, die Systeme arbeiteten offensichtlich zufrieden stellend. Lediglich die Holosäule hatte sich noch nicht wieder aufgebaut. »Sesha«, sagte Cloud. »Statusbericht!« »Alle Systeme arbeiten normal«, kam umgehend die Antwort der KI. »Wir befinden uns nicht mehr in akuter Gefahr. Auch keine Verfolger sind mehr zu orten. Mannschaft und Passagiere haben den Transport ohne Schaden überstanden, sie befinden sich alle in ihren Quartieren, wo sie sich noch erholen.« »Meine Lebensfunktionen?« »Deine Vitalwerte sind ausgezeichnet. Ich kann keine negativen Veränderungen feststellen.« Ich bin immer noch ich, dachte er. Und … ich erinnere mich. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Fontarayn zu, der ihn mit seiner Stimme zu sich gebracht hatte und seither geduldig wartete. Fontarayn sah absolut menschlich aus, von wenigen Ausnahmen abgesehen: Er war sechsfingrig, besaß keine äußeren Geschlechtsmerkmale, und seine völlig haarlose Haut glänzte schwach golden. Die Augen hingegen schienen aus purem Gold zu bestehen. Wenn man sich eine menschenähnliche Gottheit vorstellen wollte, kam Fontarayn dieser Vorstellung recht nahe. Seine Gesichtszüge waren
absolut ebenmäßig und markant, seine Mimik der menschlichen angepasst. »Was zum Teufel ist passiert?«, wollte Cloud ungehalten wissen. Der Goldene grinste. »Selbstverständlich hast du ein Anrecht auf eine Erklärung, Cloud. Schließlich stehe ich in deiner Schuld – du hast mich vor meinen Verfolgern gerettet, und ich werde diese Schuld noch vergrößern, da ich weiterhin deine Hilfe benötige. Jetzt haben wir auch Zeit zum Reden.« »Dann leg mal los.« Cloud hatte den Sarkophag zurückgebildet, nur der Sitz selbst blieb erhalten. Er hatte Sesha mentale Befehle erteilt, die seine Gefährten betrafen – sie sollten alle gut versorgt werden und sich noch etwas erholen, bevor sie Erklärungen erhielten. »Wie du sicher bereits vermutet hast, bin ich ein Energiewesen«, begann Fontarayn. »Ich kann nahezu jede beliebige materielle Gestalt annehmen, oder eben auch immaterielle, die es mir beispielsweise ermöglichen, mich mit dem Antrieb deines Schiffes zu verbinden – wie kürzlich geschehen.« »Mit deiner Energie hast du die Leistungsfähigkeit um ein Vielfaches potenziert und die RUBIKON beinahe auseinander gerissen!«, knurrte Cloud. »Das Schiff hat der Belastung standgehalten, John Cloud, darauf allein kommt es an. Ich habe sofort erkannt, welche unglaublichen Möglichkeiten es bietet.« »Aber du selbst musst doch eine enorme Energie dabei verbraucht haben. Ich meine, diese neue Form von Sprit … ist einfach unvorstellbar!« »Die RUBIKON hat mir dabei geholfen, mein Energiepotenzial schnell wieder auszugleichen. Vergiss nicht, dass ein Teil von ihr in einer Hyperraumfalte verborgen liegt und von dort die Energie für eure Todeswaffe bezieht.« Cloud rieb sich das Kinn; das gefiel ihm ganz und gar nicht. Fontarayn wusste über sehr viele Schiffsgeheimnisse Bescheid – zum Beispiel über die Dimensionswälle und die Kontinuumwaffe –, und er konnte offenbar jederzeit wieder die Kontrolle über die RUBIKON übernehmen. »Wir sind dir ausgeliefert«, brummte er, wütend und
frustriert zugleich. »Ich versichere dir, ich habe aus Zeitnot so gehandelt«, erwiderte der Goldene. »Wir mussten dem Schwarm entkommen … und hierher gelangen. Ich hätte unter normalen Umständen nicht so gehandelt, glaube mir.« »Über wie viel Macht verfügst du eigentlich?« Fontarayn lächelte. Ein mildes, gütiges, auch ein wenig müdes Lächeln. »Einen Teil habe ich dir bereits demonstriert.« Klar. Als Energiewesen interessierten ihn energetische Sperrgitter herzlich wenig. Und wenn er irgendwohin wollte, sickerte er einfach mal eben in den Antrieb eines Schiffes ein und legte binnen Minuten eine Entfernung zurück, für die man sonst mindestens Tage gebraucht hätte. »Ich musste natürlich den Schmiegschirm modifizieren«, fuhr das fremde Wesen fort, »damit das Schiff nicht zerstört wird. Es war ein sehr heikler Kraftakt, selbst für mich, das muss ich zugeben. Wir durften nicht zu langsam sein, der Anflugwinkel musste stimmen, die Modifizierungen … all das benötigte leider alle Ressourcen des Schiffes, sodass ihr teilweise völlig im Dunkeln verharren musstet.« »Es wurde auch ziemlich kalt«, fügte Cloud bissig hinzu, »und der Sauerstoff hier in der Zentrale muss weitgehend verbraucht worden sein, bei den Halluzinationen, die ich hatte.« »Das tut mir wirklich Leid, aber ich hatte keine andere Wahl. Und ihr übrigens auch nicht. Jedenfalls hat dieses phänomenale Schiff es wirklich geschafft, was selbst ich für kaum vorstellbar hielt.« »Ah!« Cloud verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Endlich kommen wir der Sache näher. Zum einen: Ich weiß nicht, ob ein Energiewesen wie du überhaupt Bedauern empfinden kann, oder ob das nicht nur eine weitere versuchte Anpassung an unsere Mentalität ist. Und zweitens: Der wievielte Ausflug dieser Art ist das für dich gewesen?« Zum ersten Mal wirkte Fontarayn nicht mehr ganz so souverän und überlegen. »Der erste«, gab er unumwunden zu. »Ich wusste es!« Cloud war nahe dran, seinem mächtigen Gast an die goldene Gurgel zu gehen. »Das ist doch … total verrückt! Und
wozu das Ganze?« »Du wirst es erfahren, John Cloud, sehr bald. Doch willst du nicht zuerst wissen, wo wir jetzt sind?« »Brennend, mein Freund. Als ich erwachte, sagtest du etwas Poetisches wie hinter dem Horizont.« Fontarayn nickte. »Und das ist ganz genau so gemeint, keine Umschreibung.« Er machte eine ausholende Geste. »Wir haben das galaktische Zentrum nicht passiert, wenn du das annehmen solltest. Ich habe eure RUBIKON lediglich unter den Ereignishorizont des hiesigen Super Black Holes, wie ihr es nennt, dirigiert, um nach Jenseits zu kommen …« Cloud stutzte, sein Verstand zögerte, das Gehörte nachzuvollziehen, zu begreifen. »Wir sind nicht durch das Black Hole geflogen und auch nicht im Nichts...« »Nein, ganz und gar nicht, eher im Alles, mein Freund«, erklärte Fontarayn. »Eure Mathematik und Physik ist noch nicht so weit, diese IST-Ebene berechnen zu können. Damit könnt ihr sie auch nicht finden, sie existiert für euch nicht … dennoch gibt es sie, sogar mathematisch nachweislich … und physikalisch. Allerdings würden dir die Formeln nicht viel helfen, weil du, wie gesagt, diese n-dimensionale Mathematik nicht beherrschen kannst.« »Für mein Verständnis: Kann ich das mit einer Hyperraumblase vergleichen? Einer Art Zwischenraum?« »Eigentlich nicht. Ich wiederhole: Dies ist eine Ebene, die du mit deinem beschränkten Verstand – verzeih die Ausdrucksweise – nicht erfassen kannst. Aber da ich keinen besseren Vergleich habe, der deinem Verständnis angemessen ist … stelle es dir so vor, wie ich es formulierte. Es erleichtert dir vielleicht die Akzeptanz, dass du jetzt hier bist.« Cloud schüttelte den Kopf. Er verließ den Kommandositz und ging einige Schritte auf und ab. Es tat gut, wieder die Beine zu spüren, ihnen sagen zu können, wohin sie gehen sollten. »Es war eine fantastische Reise …«, flüsterte er, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz, als er Fontarayn wieder ansah. »Hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes … das ist wirklich unvorstellbar. Sag
mir, Fontarayn, bei dem Übergang hierher, da … sind wir doch durch eine weitere ndimensionale Ebene gekommen, quasi die Türschwelle, die sich von dieser hier unterscheidet – und auch von allem anderen, was es noch so gibt, nicht wahr?« Fontarayn nickte. »Ja. Ja, Türschwelle ist ein guter Vergleich. Es dürfte nicht einmal eine Sekunde gedauert haben, sie zu ›überschreiten‹.« »Aber doch lange genug …«, murmelte Cloud. In seinem Verstand überschlug sich alles. Bilder, Gedankenfetzen, bunte Lichter, fernes Gelächter. Er sah sich selbst in zwei verschiedenen Versionen, eine jüngere und eine ältere Ausgabe. Erinnerte sich an den Maskenball … und vieles mehr. »Und was gibt es dort?« »Nichts.« »Du meinst, du hast nichts bemerkt?« »Ich meine, da existiert nichts.« Clouds Stirn legte sich grübelnd in Falten. Entweder log Fontarayn, oder er wusste es wirklich nicht. Natürlich blieb auch die Möglichkeit der Halluzination, immerhin hatten sie die Grenze der Belastbarkeit überschritten und eine Reise unternommen, die den menschlichen Verstand überforderte. Aber Cloud hatte ein seltsam sicheres Gefühl, er wusste, dass er das alles nicht geträumt oder fantasiert hatte – sondern wirklich erlebt. Er entschloss sich in diesem Moment, nicht weiter darüber zu sprechen. Mit der Zeit wollte er herausfinden, wie die anderen den Übergang empfunden hatten, und seine Schlüsse ziehen. Eines tröstete ihn jedoch: Fontarayn war keineswegs so mächtig, wie er sich darstellte. Gewiss, im Vergleich zu den Menschen verfügte er über unglaubliche Kräfte, und allein seine Existenzform – »intelligente Energie«! – war ein Wunder an sich. Aber er war keineswegs frei von Gefühlen und nicht allwissend. Für einen Moment überlegte Cloud, Fontarayn zu provozieren, ihn direkt zu fragen, ob es nicht Dinge geben mochte, die auch er nicht wahrnehmen konnte. Andererseits … wenn es diese »Türschwellengeschöpfe« wirklich gab, dann brachte er sie möglicherweise in Gefahr, indem er ihre Existenz preisgab. So wichtig Forscherdrang
auch sein mochte, hier hatte Cloud das Gefühl, dass Schweigen angebrachter wäre. Diese Wesen hatten einen zerbrechlichen Eindruck auf ihn gemacht, verspielt, und … zu freundlich, um wahr zu sein. Nach all dem, was hinter ihm lag, durfte er eine Konfrontation mit dieser Ebene nicht wagen. Wer weiß, wenn die Jay'nac davon erführen und in die Lage gerieten, diese Passagezone für ihre Zwecke zu benutzen … »Sesha, Holosäule aktivieren«, befahl er laut. »Tut mir Leid, das ist momentan nicht möglich«, antwortete die Schiffs-KI. Cloud sah Fontarayn an. »Dein Werk, richtig?« »Ich muss mich erst davon überzeugen, dass ihr den Übergang ohne Schaden überstanden habt«, erklärte der Goldene. »Ihr sollt euch langsam daran gewöhnen und anpassen können.« »Warum? Ist es so schrecklich?« »Nein, es ist … auch so eins der Dinge, die ich nicht erklären kann. Es ist anders als das dir bekannte Universum. Euer Verstand … muss angepasst werden. Verstehst du?« Allmählich verlor Cloud die Geduld. »Hör zu, Fontarayn, zwischen uns kann kein Vertrauen herrschen, wenn du mir nicht das uneingeschränkte Kommando über mein Schiff zurückgibst und nur dann auf die Systeme einwirkst, wenn ich dir die Genehmigung dazu erteile! Ich hoffe, du verstehst, was ich damit sagen will!« »Natürlich.« Fontarayn wirkte amüsiert, was Cloud erst recht in Rage brachte. »Du könntest wieder auf uns angewiesen sein, und …« »Es ist gut, John Cloud! Verzeih, wenn ich herablassend auf dich wirke, das liegt nicht in meiner Absicht. Ich wollte dich schonen, aber wenn du unbedingt darauf bestehst, sollst du einen Einblick erhalten.« Cloud sah, wie die Holosäule sich aufbaute. Das Nächste, woran er sich erinnerte, war er selbst, wie er sich schreiend auf dem Boden wälzte, zuckend und von Krämpfen geschüttelt. Seine eigene Stimme erschreckte ihn, er erkannte sie nicht wieder, hätte nie für möglich gehalten, solche Laute von sich geben
zu können. Noch nicht einmal von einem Tier oder einem seiner Begleiter hatte er je solch ein Gebrüll gehört. Fontarayn kniete sich neben ihn nieder, hob seinen Oberkörper zu sich empor, bettete Clouds Kopf in einer Armbeuge. Er legte eine Hand auf seine Stirn, und der Commander spürte ein sacht klopfendes Pulsieren auf seiner Stirn, eine kühle sanfte Berührung, die sich wohltuend über seinen Körper ausbreitete. Die Krämpfe ließen nach, sein rasender Pulsschlag beruhigte sich. Das chaotische Durcheinander in seinem Kopf glättete sich so weit, dass lediglich verwirrte Fragen übrig blieben, und ein Schatten des Schreckens, der ihn beinahe in den Wahnsinn gestürzt hatte. »Verdammt«, ächzte er und richtete sich auf. Er fuhr sich über die feuchten Augen und sah erschrocken, dass seine Finger von der Flüssigkeit rot gefärbt waren. Aber nicht nur aus seinen Augen lief Blut, auch aus Nase und Ohren rann es hervor. Er holte ein Tuch aus der Seitentasche seiner Bordkombination und rieb sich über das Gesicht. »Hört das wieder auf?« »Ich konnte nicht spüren, dass dein Körper dauerhaften Schaden genommen hat. Aber du solltest dich auf alle Fälle untersuchen lassen.« »Das wird besser sein.« »Es tut mir aufrichtig Leid«, sagte Fontarayn leise. »Ich wollte es dir wirklich ersparen.« »Wie … lange?« John stand auf und schwankte unsicher zu seinem Kommandosessel zurück. Die Holosäule war längst wieder erloschen. »Vielleicht eine Tausendstelsekunde«, antwortete der Goldene. »Beinahe zu lange.« Cloud nickte und fuhr sich mit zitternder Hand über die schweißnasse Stirn. Er hatte keine Schmerzen mehr, sein Körper schien in Ordnung zu sein. Dennoch hatte er immer noch das Gefühl zu brennen, zerfetzt zu werden – aufgespalten in Atome, die ziellos auseinander drifteten und durch etwas schwebten, das … unbeschreiblich war. »Wenn man sich eine Vorstellung von der Hölle machen will …«, flüsterte er. »Obwohl nicht einmal sie so schrecklich sein kann
…« »So ist es nicht«, erwiderte Fontarayn. »Es ist nur das, was dein Verstand aus den Informationen, die er erhält, macht. Weil es die Vorstellungskraft übersteigt, wie ich es dir sagte. Deswegen siehst du auch Schreckliches statt Schönem, weil dein Geist überfordert ist, er gerät in Panik, ja, erleidet einen Kollaps. Du musst dir vorstellen, dass die Synapsenverbindungen deiner Gehirnzellen in einem einzigartigen ›Blitzlichtgewitter‹ erglühen. Auch die ungenutzten Teile deines Gehirns, einfach alles auf einmal. Das hat unweigerlich einen Zusammenbruch zur Folge. Aus diesem Grund wollte ich euch langsam an die Existenz dahinter heranführen, Stück für Stück.« Cloud nickte. »Diese Lektion habe ich gelernt …« Er verglich es mit der Höhenkrankheit: Sich ohne allmähliche Akklimatisierung in wenigen Minuten auf siebentausend Meter fliegen zu lassen, um die letzten tausend Höhenmeter in einem gemütlichen Spaziergang zu überwinden … das war unmöglich. Bedingt durch den zu raschen Wechsel in die extrem dünne Atmosphäre und die Sauerstoffnot wurden Halluzinationen ausgelöst. Das Immunsystem des Körpers reagierte mit einem starken Fieberschub und mit Krämpfen. Wenn nicht sofort ein Abstieg eingeleitet wurde, führte diese hirnverbrannte Idee sogar zum qualvollen Tod. Die Pfade zum Gipfel des Mount Everest waren mit den Grabkreuzen solcher »Fast-Food«Idioten gepflastert. Etwas Ähnliches hatte Cloud gerade durchlitten, nur im Bruchteil einer Sekunde, und es hatte ihn fast das Leben gekostet. Wellen der Erinnerung schlugen immer noch auf und ab in seinem erschütterten Verstand, und er fürchtete, dass er noch lange Albträume haben würde. Obwohl es nur noch Fetzen waren … aber diese Geräusche … und Schreie … und Gebilde … und Farben … er hatte keine Worte dafür. Und er wollte auch niemals Worte dafür finden. »Ich wünschte, ich könnte es vergessen«, murmelte er und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Dabei kann ich dir leider nicht helfen, so gern ich es auch möchte«, sagte Fontarayn, und der Ton seiner Stimme klang wie Be-
dauern. »Aber es war deine Entscheidung. Ich hatte nicht das Recht, darüber zu bestimmen. Doch ich nahm mir die Freiheit, es nicht zu weit gehen zu lassen.« »Ich sagte ja, ich habe die Lektion gelernt.« Cloud hob eine Hand. »Ich werde die Holosäule so lange nicht aktivieren, bis du es für erträglich für uns hältst. Du hast mir zugleich aber bewiesen, dass du vertrauenswürdig bist. Es ist nicht notwendig, dass du weiterhin Kontrolle über das Schiff oder gar Sesha hast.« »Ich stehe dir zur Verfügung, Kommandant«, sagte die Schiffs-KI anstelle des Goldenen. Cloud richtete sich auf. Er musste sich jetzt zusammenreißen, sein Erlebnis verbannen, tief in sich vergraben, um es nie wieder hervorbrechen zu lassen. »Wie lange wird der Anpassungsvorgang dauern, Fontarayn?« »Einige Stunden, vielleicht einen Tag eurer Zeitrechnung.« »Genug Zeit, um mich um die Mannschaft und die Passagiere zu kümmern. Kann uns plötzliche Gefahr drohen?« »Im Augenblick sehr unwahrscheinlich. Ich werde Wache halten.« Cloud nickte. »Haben wir ein bestimmtes Ziel?« Was für eine Frage. Natürlich hatten sie das. Aber er wollte es von Fontarayn hören. »Ja. Mit deiner Erlaubnis würde ich dorthin steuern«, sagte Fontarayn. »Bis wir dort angekommen sind, werdet ihr wahrscheinlich auch ausreichend angepasst sein.« »In Ordnung. Aber ohne das Schiff oder uns zu gefährden, es ist keine Eile geboten.« Cloud hob warnend eine Hand. »So geschieht es.« Die Gestalt des Goldenen löste sich auf, sickerte in den Boden der RUBIKON ein und verschwand. »Ich habe erneut die Kontrolle über den Antrieb verloren«, meldete Sesha wenige Sekunden später. »Die anderen Systeme?« »Keine Beeinträchtigung.« »Gut. Falls nicht bereits geschehen, schließe die Analyse des Saskana-Staubes ab, damit meine Freunde wieder aus der Quarantäne können. Ich gehe inzwischen zur medizinischen Station, um mich ebenfalls scannen zu lassen.« Cloud verließ die Zentrale und machte
sich zu Fuß auf den Weg. Einen der zahlreichen Transmitterdurchgänge wagte er in diesem Moment nicht zu benutzen.
3. Kapitel Die Untersuchung ergab nichts. Es gab wohl einige Reste einer starken Beanspruchung innerhalb der Synapsen seines Gehirns, aber diese waren reversibel. Nach ein paar Tagen, versprach die Bord-KI nach Abschluss ihrer Diagnose, würde Cloud wieder »ganz der Alte« sein. Vorsichtshalber bekam er ein Aufbaupräparat gespritzt und Injektionspflaster mit Schlafmittel für die erste Zeit, damit es in der Schlafphase nicht zu unkontrollierten Flashbacks kam, die womöglich doch noch zu Schäden führten. Dann, endlich, sah er Scobee wieder, wenn auch zunächst nur durch die transparente Scheibe der Quarantäne-Station. Jarvis und Algorian waren ebenfalls bei ihr. Sie wirkten alle drei verwirrt und misstrauisch, was kein Wunder war. »Was ist nur passiert, John?«, fragte Scobee. »Wir konnten keinen Kontakt aufnehmen … alles schien zu Ende zu sein …« »Das war es auch fast«, antwortete Cloud und erzählte dann in geraffter Form, was in der letzten Stunde passiert war. Eine Stunde, so lange wie ein ganzes Leben. »Ich bitte euch, alles zu notieren, was ihr während dieser Zeit Ungewöhnliches erlebt habt. Behaltet es aber bitte für euch, damit sich die Eindrücke nicht durch äußere Einflussnahme verändern. Gebt mir die Aufzeichnungen, damit ich sie miteinander vergleichen kann. Vielleicht finde ich dann heraus, was an dieser fantastischen Reise echt war und was Halluzination oder Illusion.« »Das werden wir«, versprachen die drei. »Du bist leichenblass, John, und an deiner Wange hast du einen roten Fleck. Ist das … Blut?« Instinktiv zuckte seine Hand zu der Stelle hoch, auf die Scobee deutete. Seine Fingerspitzen rieben hektisch die Haut. »Möglich«, murmelte er. Scobee trat nahe an die Scheibe heran. »Du hast nicht alles er-
zählt.« Ihre Stimme klang nur noch leise aus dem Lautsprecher. »Ich habe dich noch nie so gesehen. Du musst etwas Entsetzliches durchgemacht haben. Hat es mit diesem Fontarayn zu tun?« »In gewisser Weise, aber er war nicht die Ursache«, antwortete Cloud. »Willst du nicht darüber sprechen?« »Nein!« Er erschrak selbst ob der Heftigkeit seiner Antwort, und Scobee wich unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl die Scheibe zwischen ihnen war. John hob in einer beschwichtigenden Geste die Hand. »Tut mir Leid, Scob, ich bin völlig übermüdet. Wenn ich nach den anderen geschaut habe, werde ich mich hinlegen und schlafen. Und ich werde die offizielle Order erteilen, dass ihr das auch alle tun sollt. Wir wissen nicht, was uns als Nächstes erwartet und ob Fontarayn damit Recht hat, dass wir uns dieser Dimension hier anpassen können. Wir alle brauchen Kräfte. Fontarayn hat ein bestimmtes Ziel vor Augen, und es wird noch eine Weile dauern, bis wir es erreichen. Zeit genug, um zu essen und zu ruhen.« Er wünschte sich, es wäre keine Scheibe zwischen ihnen. In diesem Augenblick sehnte Cloud sich nach menschlicher Nähe und Wärme, er verzehrte sich danach wie noch nie. Nicht einmal als Kind hatte er sich jemals so schrecklich gefühlt. Er wollte Scobee in den Arm nehmen und an sich drücken, einfach nur halten, festhalten, ja, sich an sie klammern, um nicht mehr so einsam zu sein. Um zu wissen, dass da noch Leben war, warm und pulsierend, in einem gleichmäßigen Herzschlag. Doch der Augenblick ging vorüber, und Cloud straffte seine Haltung. Als Kommandant trug er die Verantwortung und durfte sich nicht gehen lassen, keine Schwäche zeigen. Sie waren allein in einer fremden Dimension, in der sie möglicherweise nicht lange überleben konnten. Mannschaft und Passagiere brauchten jemanden, der Stärke demonstrierte und wenigstens den Anschein erweckte, zu wissen, was er tat. Wenn sie nicht mehr an ihn glauben, ihm vertrauen konnten, würden sie möglicherweise in Panik verfallen, und dann könnte ihr Verstand das Neue wahrscheinlich auch nach längerer Anpassung nicht ertragen – und dem Wahnsinn die Tür öff-
nen. Gut, dass die Scheibe zwischen ihnen war, so ging der Moment der Schwäche vorüber, ohne dass Cloud etwas Törichtes getan hatte. »Sesha, besteht noch Grund zur Quarantäne?«, fragte er die Schiffs-KI. »Ich habe die Analysen soeben abgeschlossen«, tönte die Antwort der angenehmen, dennoch nichtmenschlichen Stimme aus dem Bordfunk. »Der Staub von Saskana ist ein organisches, nicht in Wechselwirkung tretendes Mineral, das auf höherdimensionaler Ebene schwingt. Diese hochfrequenten Schwingungen haben die Nanostruktur von Jarvis' Körper teilweise aufgebrochen und durcheinander gewirbelt. Deshalb konnte er wohl auch verletzt werden. Ich vermute, dass der beschriebene Korallenwald komplett aus diesen Schwingquarzen besteht und im Lauf der Zeit durch Erosion und Erneuerung bei Wachstumsschüben den Staub absondert.« »Verstehe. Wirkt sich der Staub irgendwie nachteilig auf organische Lebewesen wie Scobee und Algorian aus?« »Nein, er wird auf natürlichem Wege über die Hautporen oder den Stoffwechsel wieder ausgeschieden, ohne sich abzulagern. Allerdings verursachen diese hochfrequenten Schwingungen auch Störungen der Parasinne.« »Deshalb hatte ich also keine Psi-Kräfte mehr!«, hatte Algorian endlich eine Erklärung. Er besaß ein schwaches telepathisches Talent, das auf Saskana völlig taub war – eine sehr unangenehme Erfahrung für ihn. Inzwischen erholte er sich wieder. Sesha fuhr fort: »Für Jarvis arbeite ich an einem speziellen Dekontaminierungsbad, das ihn von dem Staub befreien sollte. Die Nanostrukturen werden sich regenerieren, und es wird kein dauerhafter Schaden zurückbleiben.« »Dann ist jetzt die beste Gelegenheit dafür.« Cloud nickte seinen Freunden zu. »Die Quarantäne ist aufgehoben. Scob, Algorian, ihr geht unverzüglich zu euren Quartieren und befolgt meinen Befehl. Jarvis, du unterziehst dich zuerst noch der Reinigungsprozedur. Dann wirst du dich gleich besser fühlen.« »Darauf freue ich mich«, meinte der ehemalige Gen-Tee mit einem
leichten Lächeln des künstlich ausgebildeten Mundes. Algorian hatte allerdings noch eine Frage. »Und was ist mit Jiim?« Ein leiser Stich durchzuckte Cloud. »Für ihn können wir momentan nichts tun, Algorian, tut mir Leid.« »Aber du glaubst doch nicht, dass er tot ist, oder?«, hakte der schlaksige Aorii nach. »Die Möglichkeit besteht natürlich, weil wir nicht wissen, was mit ihm geschah, aber … nein. Dafür bräuchte ich erst Beweise.« »Dieser dunkle Schemen, der ihn im Flug vom Himmel pflückte, hat gedacht, John. Das habe ich gefühlt. Er lebt. Und ich glaube nicht, dass er Jiim mit dieser Handlung getötet hat. Unser Freund ist noch dort!« »Und das werden wir auch nachprüfen. Wir haben aber vorerst keine Möglichkeit, ihn zu suchen. Erst, wenn das hier erledigt ist, werden wir nach Saskana zurückkehren und nach ihm suchen können.« Scobee hob eine tätowierte Braue. »Das hört sich fast nach einem Auftrag an, den wir erhalten haben …« »So könnte man es wohl auch ausdrücken. Fontarayn erwartet jedenfalls noch etwas von uns.« »Das nenne ich mal eine originelle Art, seine Dankbarkeit für die Rettung zu zeigen.« Spöttisch verzog sie den Mund. »Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren, Scob. Wir sind jetzt hier, also ziehen wir das auch durch. Ich schätze, ohne Fontarayn kommen wir nicht mehr zurück. Also machen wir gute Miene zu einem bösen Spiel – das sich für uns aber vielleicht noch als positiv erweist. Und Jiim werden wir zu gegebener Zeit auch wiederfinden, da bin ich sicher.«
Als Nächstes schaute Cloud bei Aylea und Jelto vorbei, die er beide in der Unterkunft des Mädchens fand. Sie waren völlig verstört und verängstigt. »Wir haben geglaubt, ihr wärt alle tot!«, sagte der Florenhüter mit brüchiger Stimme.
»Und die Tür ging nicht mehr auf!« Aylea brach in Tränen aus, als sich ihre Anspannung löste. Sie klammerte sich an Cloud. »Ich bin so froh, dass du lebst! Wir haben gedacht, nie mehr raus zu können … und dass keiner mehr da –« »Schon gut.« Cloud schloss seine Arme um das Mädchen; eine ungewohnte Situation für ihn, aber so, wie er sich selbst vor einigen Augenblicken gefühlt hatte, war ihm klar, was Aylea brauchte. Und dadurch, dass er ihr Halt und Schutz gab, tröstete er zugleich sich selbst. »Es kommt wieder alles in Ordnung, du brauchst keine Angst mehr zu haben.« Er wiederholte seinen Bericht und die Order, zu essen und danach zu schlafen. Sobald sich etwas Neues ergab, würde er seine Crew in der Zentrale um sich versammeln. Der Aurige Cy war nicht ansprechbar. Das Pflanzenwesen hatte sich in eine Art »Winterschlaf« zurückgezogen, zumindest wirkte es momentan nicht halb so frisch und im Saft stehend wie sonst. Algorian, der schon bei seinem besten Freund weilte, konnte Cloud aber beruhigen: »Ich kann fühlen, dass es ihm nicht schlecht geht. Er hat sich nur tief in sich zurückgezogen und ruht. Ich kann dir nicht sagen, wann er aus diesem Zustand wieder erwacht. Vielleicht spürt er noch irgendeine Bedrohung. Als Pflanze hat er ja ein ganz anderes Wahrnehmungsspektrum als wir.« Blieben also noch Sarah Cuthbert und die Zirkusleute. Tatsächlich waren sie die Einzigen gewesen, die zu dem Raum mit den Rettungskapseln gelangt waren. Allerdings hatte keine Möglichkeit bestanden, die Zugänge zu den Kapseln zu öffnen, und so hatten sie die Zeit der absoluten Finsternis aneinander geschmiegt davor verbracht, zitternd in Dunkelheit und Kälte. Sie waren von ihrem letzten »Ausflug« immer noch völlig erschöpft, und dieser Schrecken hatte sie weitere Kraft gekostet. »Sesha, diese Leute brauchen längere Zeit zur Erholung«, gab Cloud dem Schiff Bescheid. Ein Bereich neben den hydroponischen Gärten sollte in kürzester Zeit von dem Schiff in eine Wohnanlage umgewandelt werden, mit Kabinen, in denen die Menschen sich zum Schlafen hinlegen konnten, einem gemeinsamen Ess- und Auf-
enthaltsbereich und einem ungehinderten Zugang zu einem provisorischen Arboretum, das Jelto nach kurzer Rücksprache versprach auszubauen. Cloud war klar, dass diese Menschen eine potenzielle Gefahr darstellten. Sie waren genau wie er heimatlos, aber völlig verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Für sie musste ein menschenwürdiges Ambiente geschaffen werden, damit sie zu einem Ausgleich fanden und in Ruhe darüber nachdenken konnten, was in Zukunft mit ihnen geschehen sollte. Wollten sie an Bord bleiben? Oder auf der weiteren Reise einen Planeten suchen, auf dem sie sich niederlassen konnten? Es gab einige Möglichkeiten – und ebenso viele Betätigungsfelder. In der augenblicklichen extremen Situation aber musste Cloud sich voll und ganz auf Fontarayn konzentrieren und auf das, was der Goldene von ihnen erwartete. Er hatte bestimmt bald keine Zeit mehr, sich zusätzlich um die Belange der Passagiere zu kümmern, durfte sie aber auch nicht einfach beiseite schieben. Ex-Präsidentin Sarah Cuthbert war eine erfahrene Politikerin, sie wusste offenbar, was in ihm vorging. Deshalb kam sie jetzt von sich aus auf Cloud zu und hielt eine kleine Rede. »Wir waren nicht gerade das, was man Freunde nennt, John … damals auf der Erde. Aber diese Vergangenheit sollten wir ruhen lassen. Ich wurde ebenso von dort verbannt wie Sie, ohne Aussicht, jemals zurückkehren zu dürfen. Ich habe weder Amt noch Würden, wie man so schön sagt, möchte aber meine Selbstachtung durch unvorbereitetes Handeln nicht vollends verlieren. Ich muss umdenken und mich anpassen. Deshalb bin ich mit allem einverstanden, was Sie mit uns vorhaben, und werde Ihnen zusichern, dass Sie von unserer Seite aus keine Schwierigkeiten zu befürchten haben, solange Sie unser in Sie gesetztes Vertrauen nicht missbrauchen. Glauben Sie mir, es ist nicht angenehm, so völlig abhängig von einem anderen zu sein, doch wir haben keine andere Wahl. Daher begeben wir uns also in Ihren Schutz und werden Ihnen nicht im Wege sein. Zuerst müssen wir zu uns selbst finden, bevor wir darangehen können, an die Zukunft zu denken. Ich bin Ihnen außerordentlich
dankbar für das, was Sie bereits für uns getan haben – und für alles, was Sie noch für uns tun werden. Wir stehen tief in Ihrer Schuld.« »Vielen Dank, Ma … – Sarah.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Auf einen Neubeginn.« »Darauf schlage ich ein.« Die verbannte Präsidentin brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. Von ihrem ehemaligen Glanz und ihrem herrischen Selbstbewusstsein war nichts mehr zu bemerken. Sie war dünn, blass und müde. Doch tief in ihren Augen glomm immer noch ein Funke Überlebenswillen, der sich bestimmt bald wieder entzünden würde. Cloud bewunderte die Frau in diesem Moment. Auf ihre Weise war sie ihm ebenbürtig – zäh, voller Durchsetzungsvermögen, wenn es darauf ankam, und nicht bereit aufzugeben; aber nicht so töricht, gegen alle Vernunft zu handeln. Sie würde in Ruhe darauf warten, bis ihre Stunde wieder schlug. »Ich habe Sesha Anweisung gegeben, alle Ihre Wünsche bezüglich der Einrichtung und Versorgung zu erfüllen«, fügte Cloud hinzu. »Es soll Ihnen an nichts mangeln, das Schiff bietet genügend Ressourcen. Jelto hat sicher schon einige Ideen und wird Sie nach besten Kräften unterstützen, damit Sie sich in diesen Wänden nicht gefangen fühlen.« Das war nicht übertrieben. Schon während der Zeit der Foronen hatte es auf der Arche jede Menge verschiedener Umgebungen gegeben, Freizeiteinrichtungen und vieles mehr. Sie war eine kleine Welt, die wenigstens den Anschein bieten konnte, dass man sich auf einem Planeten und unter freiem Himmel befand. Platz genug gab es jedenfalls für sie alle; selbst wenn sie sich sehr großzügig ausbreiteten, konnten sie bestenfalls ein Prozent des verfügbaren Platzes in Anspruch nehmen. Cloud sagte: »Sie werden natürlich regelmäßig über den Stand der Dinge informiert. Im Augenblick weiß keiner von uns, was die Zukunft bringt, also lassen wir es einfach darauf ankommen. Ich sträube mich dagegen, mich als ›Heimatlosen‹ zu bezeichnen; die RUBIKON ist jetzt meine Heimat, und ich glaube, was das betrifft, hätten wir es schlechter treffen können.«
»Da haben Sie allerdings Recht«, stimmte Sarah Cuthbert zu und drückte seine Hand noch einmal. Es war ein fester und warmer Händedruck, der Cloud nicht unangenehm war. Doch er schob diesen Gedanken beiseite. Zufrieden holte er sich, nachdem er sich von den anderen getrennt hatte, etwas zu essen, duschte ausgiebig und ließ sich anschließend wieder im Sarkophagsitz der Zentrale nieder; dieser Platz war so gut wie jeder andere zum Schlafen. Außerdem würde er sofort vor Ort sein, sollte sich etwas Unerwartetes ereignen. Er hatte kaum den Kopf zurückgelegt, als ihm schon die Augen zufielen und er in einen tiefen Schlummer fiel. Das Injektionspflaster mit dem Schlafmittel hatte er ganz vergessen.
Er ging einen Gang entlang. Ein schmaler, nur von dämmrigem Licht beleuchteter Gang. Es wurde von Lampen verstreut, die in regelmäßigen Abständen installiert waren, und erinnerte ein wenig an Gaslicht, war jedoch viel weißer und gleichzeitig diffuser. Der Gang war schmucklos, die Wände glatt. Wäre ihm jemand entgegengekommen, hätten sie sich jeder an eine Wand quetschen müssen, um aneinander vorbeizukommen. Lange Zeit verlief dieser Gang nur geradeaus. Ohne Abzweigung, ohne Tür, ohne Biegung. Dennoch konnte er nicht weiter als zwei, drei Laternen vor sich sehen. Was will ich hier?, fragte er sich. Du bist auf der Suche, erhielt er zur Antwort. Es war eine Antwort aus dem Nichts. Eine Nicht-Antwort. Etwas, das er hörte – ohne zu hören. Absurd, unmöglich, und doch … wahr. Wonach?, fuhr er fort. Das weißt du doch genau, sagte das Nichts. Nein, ich weiß es nicht. Dann bist du auf dem richtigen Weg. Aber ich will nicht hier sein … Du wärst sonst nicht hier. Dieses Frage-Antwort-Spiel ergab keinen Sinn und führte zu
nichts. War es wirklich das Nichts? Nein, keine Fragen mehr. Und doch war es schon da mit der Antwort: Das Nichts ist das Nichts, Narr. Keine Fragen, keine Antworten. Alles reduziert auf ein einziges Nichts. Nichts, das du erfassen könntest – Wenn ich es wollte? Diesmal ein Lachen, genauso lautlos wie alles andere, genauso wenig da, erfassbar und greifbar. Und trotzdem vorhanden. Mumpitz, Dummkopf. Der Gang bog scharf rechts ab, in einem exakten 45-Grad-Winkel. Ohne Sinn und Zweck, einfach so. Er nahm die Biegung. Da war ein Mädchen vor ihm, lief fast außerhalb des Lichtkreises der dritten Laterne vor ihm. Ein Mädchen, wusste er sofort, obwohl er nur eine kleine Gestalt sehen konnte. Doch sie hatte langes blondes Haar, das wie ein Schleier hinter ihr herwehte, obwohl sie eine rote Kapuze und ein rotes Mäntelchen trug. Warte!, rief er. Das Mädchen lief weiter. Er fiel in schnellen Schritt, schließlich lief auch er. Schneller. Noch schneller. Das Mädchen blieb immer vor ihm, mit exakt demselben Abstand. Warum bleibst du nicht stehen? Warum wartest du nicht? Ich tue dir nichts, hab keine Angst! Gelächter antwortete ihm, aber er wusste nicht, ob es zu dem Mädchen gehörte. Es lief voraus, und er hinterdrein. Schließlich wurde er müde. Seine Lungen stachen, die Beine wurden schwer wie Blei. Die Augenlider fielen ihm zu. Bitte, flüsterte er. Lass mich nicht allein. Das Mädchen blieb stehen. Mit letzter Kraft erreichte er es. Ich habe Angst, so allein, keuchte er. Wie hältst du das aus? Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Ihm stockte der Atem. Aylea, sagte er. Sie war so hübsch, das Gesicht so fein gezeichnet. Doch wo sonst
ihre strahlend blauen Augen dominierten, gab es nur noch undurchdringliche schwarze Löcher. Er prallte zurück, hob entsetzt die Hand vor sein Gesicht. Aylea, was ist mit dir passiert? Grauen erfüllte ihn. Aylea schüttelte langsam, voller Trauer den Kopf. Ich habe es gesehen, sagte sie. Was?, fragte er. Alles, sagte sie. Du weißt es. Du hast es auch gesehen. Aber wie konntest du?, rief er. Ich war in der Zentrale, und die Holosäule – Ich brauchte sie nicht, um sie zu sehen, erwiderte sie. Sie tippte mit dem Finger an ihre Schläfe. Weißt du nicht mehr? Einst war ich in einer anderen, ein Mädchen wie ich. Wir waren über Lichtjahre hinweg verbunden, und einander doch ganz nah. Ich habe dabei Grenzen überschritten, die du nicht einmal erahnst. Du nennst mich Kind, und wenn ich wach bin, bin ich auch eines. Doch wenn ich schlafe … du verstehst das nicht. Sie hat sich umgebracht, wusstest du das? Ich war dabei. Es zerriss mich. Er empfand ihr Leid. Er wusste, dass sie vom Packa-Spiel sprach – das alles andere als ein Spiel gewesen war. Aylea, wenn ich es dir nehmen könnte … Nehmen?, meinte sie ironisch. Was will man mir noch nehmen? Ich habe doch nichts mehr. Deshalb stahl ich die Pflanze, hast du das schon vergessen? Nein – nein, das werde ich nie vergessen. Es war ein entsetzlicher Schrecken für uns, dass du sterben wolltest. Wie … wie konntest du das nur tun? Eben darum, antwortete das Mädchen. Weil mir nichts mehr blieb, und so wollte ich mich selbst auch nehmen, bevor es ein anderer tut. Doch es kam ja anders. Jelto hat dich gerettet, und darüber sind wir alle glücklich. Bist du letztendlich nicht auch froh? Es öffnete mir die Augen … die besser geschlossen hätten bleiben sollen. Aylea zeigte auf ihre schwarzen Höhlen. Siehst du es denn nicht? Er sah … Würmer in der Dunkelheit, die darin herumkrochen, an
den Knochen nagten, sich tiefer hineinbohrten, und – Und er hörte den Schrei, denselben Schrei wie schon einmal. Aber jetzt ganz aus der Ferne. Das wollte ich nicht!, schrie er. Bitte, vergib mir! Doch Aylea war fort. Sie hatte sich selbst weggenommen. Der Gang lag still und verlassen, aber außerhalb davon, hinter den Wänden, hörte er Stimmen und Geräusche, und er glaubte zu sehen, wie sie sich gegen die Wände pressten, sich an sie schmiegten, sie verformten, verflüssigten, dass sie wie Öl daran herabflossen. Sie verschmolzen damit, und sie stöhnten und schrien weiter und klagten und jammerten, und da waren diese Geräusche, so schreckliche, entsetzliche Geräusche und –
Er rannte den Gang entlang, immer weiter den Gang entlang. Er wusste, er konnte nicht zurück, es hätte nichts geändert. Er rannte und rannte, doch je schneller und länger er lief, desto weiter schien der Weg zu dauern. Es geht nicht mehr, sagte er irgendwann zu sich selbst und gab auf. Er fiel in Schritt, keuchend und müde, bleiern Fuß vor Fuß setzend. Und da war eine Tür, fast außerhalb des dritten Lichtkreises, auf der rechten Seite. Dahinter ging der Gang weiter. Diese Tür. War sie der Ausgang? Sollte er dem Gang weiter folgen? Was war die richtige Entscheidung? Ich kann nicht mehr, flüsterte er. Und: Ich muss es wissen. Er sah seine Hand, die sich nach der Klinke ausstreckte, sie ergriff, langsam nach unten drückte. Die Tür war nicht verschlossen. Sie öffnete sich.
»Ahhh!« Cloud fuhr hoch, sein Herz raste, der Puls klopfte im Hals. Er war schweißgebadet; pitschnass, um genau zu sein, fast wie nach
einer Dusche. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er umher, erkannte erst nach und nach, je wacher er wurde, die vertrauten Umrisse der Zentrale, das beruhigende Summen der Systeme. Abgesehen von seiner eigenen Befindlichkeit fühlte sich alles gut und richtig an. »Sesha?«, fragte er vorsichtig in die Stille hinein. »Ich bin bereit, Cloud. Was sind deine Befehle?« Ja, das war ihre Stimme. Beruhigend sachlich und nüchtern. »Wie – wie lange habe ich geschlafen?« »Annähernd zwei Stunden.« »Hat … sich irgendetwas Besonderes ereignet, während ich … schlief?« »Mir ist nichts aufgefallen. Ich beobachte ständig die Vitalwerte aller Organischen an Bord, und es ist alles im grünen Bereich, wie du zu sagen pflegst. Auch deine Werte sind, abgesehen von der letzten Minute, normal gewesen. Wenn du nicht aufgewacht wärst, hätte ich dich allerdings wecken müssen, denn dein Herz zeigte Symptome, als stünde es kurz vor einem Infarkt. Was selbstverständlich unmöglich ist bei deiner Konstitution.« »Und jetzt ist alles wieder normal?«, fragte John und antwortete gleich selbst: »Ja, es ist alles in Ordnung.« Das rasende Klopfen und Pochen des Pulsschlags ließ nach, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren verebbte. »Ich … hatte einen Albtraum.« Oder war es eine parallele Wirklichkeit gewesen? Konnte er das wirklich noch unterscheiden, nach allem, was seit der Ankunft von Fontarayn an Bord der RUBIKON geschehen war? Vielleicht waren dies Auswirkungen der Anpassung. Oder dieser Dimensionsebene ganz allgemein. Schließlich befanden sie sich außerhalb des Standarduniversums, auf einer noch extremeren Ebene als dem Hyperraum. Cloud rieb sich die Augen. Er fühlte sich jetzt müder und zerschlagener als vorher. Diesmal dachte er daran, ein Pflaster aufzulegen. Er spürte den kleinen Stich. Bald darauf breitete sich watteweiche wohlige Wärme in ihm aus. »Weck mich, Sesha, wenn sich etwas verändert, egal was«, erteilte
er der Schiffs-KI Order und lehnte sich wieder zurück. »Ich habe noch eine Frage, Commander«, sagte Sesha unerwartet. John, der bereits auf der Wellenwirkung des Mittels dahinglitt, murmelte schläfrig: »Ja, was ist?« »Wie ist das eigentlich: zu träumen?« Von allen Fragen hätte er diese am wenigsten erwartet. Bedeutete das, dass auch die KI in dieser seltsamen Umgebung allmählich durchdrehte? Musste auch sie eine entsprechende Anpassungsphase absolvieren? »Grauenvoll«, antwortete er. »Du solltest besser nicht damit liebäugeln. Weshalb, denkst du, nehme ich ein Schlafmittel? Um es nicht zu tun. Ich wünschte, ich könnte alle meine Träume für immer vergessen. Jeden einzelnen, den ich hatte. Und künftige vollkommen vermeiden.« Damit schloss er die Augen. Kurz bevor er in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel, hörte er wieder diese Geräusche. Keine Stimmen diesmal, sondern künstlich erzeugte, wie von Maschinen, Dissonanzen und Disharmonien – einfach scheußlich. Und dennoch war es wie eine Melodie, wenn nicht gar ein Lied …
Als Cloud erwachte, fühlte er sich sehr viel besser, fast erholt. Keine Träume, nur tiefer Schlaf lagen hinter ihm. Immerhin war es tröstlich, dass ein einfaches Mittel bereits half, die Grenze nicht überschreiten zu müssen. »Sesha, zeig mir Aylea«, befahl er der KI. Als Kommandant hatte er jederzeit die Möglichkeit, alle Räume einzusehen; er machte aber nur sehr selten davon Gebrauch, um die Intimsphäre der anderen zu wahren. Er hätte es auch nicht gewollt, ständig unter Beobachtung zu stehen und sich nicht einmal in der eigenen Unterkunft gehen lassen zu können. Doch in diesem Fall machte er eine Ausnahme. Auf dem Holo mit Infrarotfilter erschien Ayleas Wärme-Abbild. Sie lag in ihrem Bett und schlief. Ihre Gehirnströme waren normal, die Vitalwerte angemessen.
Bis zu seinem Albtraum hatte er darüber gegrübelt, warum Aylea sich das Leben hatte nehmen wollen. Gewiss, sie war unglücklich und allein gewesen und hatte geglaubt, auch noch Jeltos Freundschaft zu verlieren. Aber sie war eigentlich nicht der Typ für eine so extreme Handlung, dafür war sie viel zu bodenständig und zugleich lebensfroh. John hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass sie wirklich den Mut zum Leben verloren hatte. Doch ihre Tat war mehr als ein Hilfeschrei gewesen, denn dass Jelto sie überhaupt retten konnte, war mehr ein empathisches Wunder als wirklich gezielt gegengesteuert. Aylea hatte nie viel über ihre Vergangenheit gesprochen, als sie noch im Packa-Netz unterwegs gewesen war. Doch was sie in diesem Traum über das andere Mädchen erzählt hatte, in dessen Gehirn sie hatte schalten und walten können wie in ihrem eigenen, hatte Cloud vorher nicht gewusst. Deswegen war er auch nicht sicher, ob er wirklich geträumt hatte. Es hatte so realistisch geklungen … und es wäre eine Erklärung für ihre Tat gewesen. Wenn sie den Selbstmord jenes anderen Mädchens einer fremden Spezies miterlebt – vielleicht mit verschuldet – hatte, musste ihre Seele Schaden genommen haben. Kein Erwachsener könnte das ohne Folgen überstehen, erst recht kein Kind! Ich muss mit ihr darüber sprechen, sobald sich die Gelegenheit ergibt, nahm Cloud sich vor. Ich glaube, in Aylea lauert noch etwas im Verborgenen. Da gibt es eine Menge Dinge, die ich nicht weiß, und die ihr viel leicht nicht einmal selbst bewusst sind. So, wie ich meine Protopartikel habe, trägt auch sie vielleicht noch etwas in sich … Er hätte beinahe aufgeschrien, als er wieder bewusst auf das übertragene Bild blickte. Aylea hatte sich aufgerichtet und starrte ihn an, sah ihn an. Ihr Kopf füllte die Wiedergabe großformatig aus, ein weißlich-rot leuchtendes Gesicht, das in Flammen zu stehen schien, doch ihre Augen waren leere schwarze Höhlen, zwei schaurig blinde Flecken auf dem Wärmebild, die ihn durchdringend anstarrten, ihn durchbohrten, bis auf den Grund seiner Seele … Cloud keuchte und blinzelte, erneut war er in Schweiß ausgebrochen, der ihm über die Brauen auf die Lider tropfte. Seine Sicht ver-
schwamm, er rieb sich die Augen; das dauerte vielleicht eine Sekunde. Als er das Bild wieder klar sah, lag Aylea in ihrem Bett und schlief ruhig, genau wie zuvor. »Se –«, Cloud musste sich räuspern, weil ihm die Stimme versagte. »Sesha, hat sich Aylea in den letzten Sekunden bewegt?« »Keine Veränderung, Commander. Es ist alles in Ordnung mit ihr, sie ist völlig entspannt.« Er hatte keine andere Antwort erwartet, und sie half ihm nicht im Geringsten, sich selbst zu entspannen. Er war genauso verwirrt und verunsichert wie zuvor, und das Schreckensbild stand ihm immer noch vor Augen. »Aufzeichnung«, flüsterte er. »Privates Bordtagebuch. Sesha, trage automatisch die Bordzeit ein, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Eintragung beginnt: Ich glaube, wir sind einen Schritt zu weit gegangen. Ich habe Angst, was mit uns passiert. Wir haben Grenzen überschritten, die Menschen besser nicht überschreiten sollten. Unser fremder Gast, das Energiewesen Fontarayn, hat uns vielleicht überschätzt, wegen der RUBIKON. Doch sie wurde ja nicht von uns gebaut, sondern von den Foronen. Auch wenn wir die RUBIKON als Heimat betrachten, sind wir im Grunde genommen nur geduldete Gäste. Die Bord-KI erkennt mich nur wegen meiner Protopartikel an. Sobek, der vorherige foronische Kommandant, hätte es sicher auch nie erwartet, plötzlich abgesetzt zu sein und als Eindringling betrachtet zu werden. Auch mir kann das eines Tages unvorbereitet passieren. Das alles hätte Fontarayn erkennen müssen. Und obwohl wir ihm das Leben gerettet haben, führt er uns in den Untergang. Ich weiß nicht, wie lange ich noch bei Verstand bin. Ich kann zwischen Traum und Realität kaum mehr unterscheiden, zweifle sogar daran, dass ich diese Aufzeichnung tatsächlich mache. Ich habe zwar geschlafen und mich gut gefühlt, doch das war nur eine kurze Phase. Sesha behauptet, dass alle meine Begleiter an Bord schlafen, und zwar ganz ruhig. Aber ob das stimmt? Es wird besser sein, wenn ich noch ein Schlafmittel nehme und versuche, fünf Stunden am Stück zu schlafen. Vielleicht geht es mir dann besser.
Aufzeichnung Ende.« Cloud betrachtete das Zittern seiner Hand und fühlte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Er hatte alle Anzeichen eines Höhen- oder Tiefenrauschs; hier draußen würde man Raumkoller dazu sagen, obwohl die Umweltbedingungen an Bord völlig in Ordnung waren. Aber Fontarayn hatte ja von den geistigen Beanspruchungen gesprochen. Vielleicht kamen die anderen wirklich um diese Probleme herum, weil sie sich langsam akklimatisierten. Er hingegen hatte gesehen … Cloud schüttelte den Kopf und hievte sich aus dem Kommandositz. Eine Dusche, Kleidungswechsel, etwas zu essen. Er zwang sich, nicht zu viel nachzudenken. Dann kehrte er in den Sarkophag zurück, legte das zweite Injektionspflaster auf – und sank in ohnmachtsgleiche Tiefen.
4. Kapitel »John.« Cloud fuhr hoch, als er eine Stimme und eine sanfte Berührung an seiner Hand spürte, kühl und leicht elektrisierend. Fontarayn stand vor ihm. »Was … Ist etwas passiert?« Alarmiert setzte er sich auf. »Beruhige dich, es ist alles in Ordnung«, erwiderte der Goldene und drückte leicht seine Schulter. »Fühlst du dich erholt?« Der Kommandant rieb sich die Stirn, den Nacken und lauschte in sich. »Ja«, sagte er überrascht. »Ich fühle mich tatsächlich gut! Wie lange habe ich geschlafen?« »Zwölf Stunden«, antwortete Sesha. »Ich habe deinen Schlaf bewacht, es war alles in Ordnung.« »So lange!« Cloud schüttelte die Reste der Benommenheit ab, stand auf, streckte sich und gähnte. »Ich nehme an, wir haben unser Ziel erreicht?« »Ja, ohne weitere Zwischenfälle«, antwortete Fontarayn. »Ich glaube, eure Anpassungsphase ist nun auch abgeschlossen. Ich hätte keine Bedenken, dir einen Blick nach draußen zu gewähren.« »Wie kannst du da so sicher sein?«, meinte Cloud misstrauisch. »Sagen wir, ich weiß es einfach. Möchtest du gleich …?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Zuerst möchte ich nach Mannschaft und Passagieren sehen, etwas essen, mich frisch machen. Dann werden wir den Blick hinaus wagen.«
Eine Stunde später waren Scobee, Jarvis, Algorian, Jelto und Aylea in der Zentrale eingetroffen und nahmen ihre Plätze rund um die Holosäule ein. Auch Cy war völlig übergangslos aus seinem »Winterschlaf« erwacht und »in frischer Blüte« hereingeraschelt, hatte mit munter zirpender Stimme verkündet: »Ich bin sehr neugierig!«
Da Jiim fehlte, fand auch Jarvis diesmal Platz, der seinen Körper nicht wie sonst einfach zwischen ihnen formierte. Fontarayn, der sich nicht setzen wollte, stand neben Clouds geöffnetem Kommandosessel. Kurz darauf baute sich die Holosäule auf und zeigte … »Ist das real, was wir sehen?«, fragte Scobee. »Es ist das, was euer Bewusstsein heraus filtert«, antwortete der Goldene und wirkte wieder einmal amüsiert. »Aus der Fülle von Informationen, die eure Gehirne erhalten, wird ein Bild erschaffen, das dem nahe kommt, was eure Vorstellungskraft begreifen kann. Ich sehe natürlich etwas ganz anderes, doch ich kann mich problemlos eurer Sichtweise annähern. Wobei ich hinzufügen möchte, dass euch durch eure beschränkte organische Form eine Menge entgeht. In Wirklichkeit ist das alles viel … prächtiger. Ich glaube, das ist das richtige Wort.« Cloud dachte an die Albträume, die hinter ihm lagen. Durch den langen, erholsamen Schlaf waren die Schrecken verblasst und hatten sich in einen hinteren Bereich seines Gedächtnisses zurückgezogen, in das Archiv mit der Aufschrift »Wird nicht zu oft benötigt«. Er fühlte sich jetzt wieder ausgeglichen und energiegeladen, ebenso wie seine Begleiter, einschließlich Aylea. Aylea mit ihren großen blauen Augen, die so viel Wissen enthielten und dennoch immer etwas fragend blickten. Das Kind-und-doch-nicht-Kind. »Mir genügt, was ich sehe«, meinte Jelto mit einem besonderen Glanz in den tiefgrünen Augen. Ein andächtiger Schimmer lag auf dem Gesicht des jungen Mannes. Cloud hatte bis zu diesem Zeitpunkt möglichst alle Gedanken von sich geschoben, die sich vorstellen wollten, was sie dort draußen sehen würden. Es war … leer. Sollte man meinen. Denn hier gab es keine fernen Sterne, keine Planetensysteme, keine Galaxien. Nicht das samtene Schwarz des Alls. Keine Sonne in der Nähe, keine Meteoriten, keine Kometen. Aber auch keine Leere wie diejenige, hinter der sich Saskana verbarg.
Wenn das das Nichts ist, dann ist es Alles, dachte Cloud in einem Anfall von Philosophie. Zum Glück sprach er nicht laut. Keiner von ihnen hatte zunächst Worte dafür, sie schauten einfach nur. Vielleicht sah auch jeder etwas anderes, speziell die nichtmenschlichen Lebensformen wie Algorian und Cy. Womit war es zu vergleichen? Mit nichts, dachte Cloud und war wieder bei seinem philosophischen Ansatz angelangt. Doch dann fing es an, der Aurige platzte heraus: »Der Ewige Baum, der große Schöpfer aller Floren, die Wahre Spore«, knisterte Cy hingerissen. »Seht, die Vollkommenheit der Äste, wie sie sich wiegen und schwingen, wie sie wachsen und sich verbinden und schrumpfen und schlingen – und die Blütenschleier und die Lichtspiele der Blätter und die flirrenden Nadeln …« »Ja, wie das Rauschen eines Waldes an einem Spätsommertag, wenn die Abendbrise einsetzt und die Sonne untergeht. Wenn alle Farben intensiv und weich sind und man sich schier darin auflöst«, ergänzte Jelto schwärmerisch. »Die lichte Einheit aller Geister, vereint in einem einzigen Gedanken, die perfekte Harmonie, keine Düsterkeit mehr. Das riesige Netz aus Synapsen, leuchtend und funkelnd, klarer als ein Kristall, blitzend und explodierend, Licht strömt entlang der Netzlinien …«, schnarrte Algorian. »Wallende Schleier und Schlieren, eine reine Farborgie, ineinander fließende weiche Formen, wie Batik, wie Papierschöpfen, wie Malerei, sich ständig neu erschaffend …«, waren sich gegenseitig ergänzend Jarvis und Scobee einig. »Geometrische Muster, Fraktale in perfekter Asymmetrie, Himmelsgeschöpfe aus Fraktalen geschaffen und diese Wolken in den Schleiern …«, murmelte Aylea. »Wow«, sagte Cloud. Auch er sah die Schleier und Schlieren, die prächtigen Farben, und die Wolken fraktale … und vieles mehr. Das Bild veränderte sich ständig, das war irritierend, wenn auch nicht beunruhigend. Vermutlich verarbeitete sein Gehirn immer neue Informationen oder versuchte, Verständlicheres herauszufiltern.
Nichts im Vergleich zu dem, was er zuerst gesehen hatte. Es war nicht schrecklich, sondern faszinierend. Absolut fremd. Es könnte auch das Innere der Blutbahn eines riesigen Geschöpfes sein, und die RUBIKON war ein Virus, das dem Strom folgte, um schließlich irgendwo andocken zu können. Ja, ein Virus. Sie waren ein Fremdkörper, gehörten nicht hierher. »Das müssten wir erforschen können!«, seufzte Scobee. »Du könntest es nicht aufzeichnen«, versetzte Fontarayn. »Nicht filmen, auf keine dir bekannte Weise festhalten, Beweise sammeln … nichts dergleichen.« »Kann es uns passieren, dass wir … abgestoßen werden?«, wollte Cloud wissen. »Um aufrichtig zu sein, das weiß ich nicht«, gestand der Goldene. »Ich war in einem wichtigen Auftrag auf dem Weg hierher, als ich angegriffen wurde – und von euch gerettet. Wesen wie ihr, Konstrukte wie euer Schiff … stießen noch nie bis hierher vor.« »Glaubst du oder weißt du das?«, hakte Cloud nach. »Von woher kommst du eigentlich?« Fontarayn zögerte einen Moment, er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Dann antwortete er: »Unmittelbar vor unserem Treffen war ich in einer Galaxie, die ihr Andromeda nennt.« Na prächtig, dachte Cloud. Genau dort, wohin Artas mit seiner Zehntausende Einheiten umfassenden Expansionsflotte aufgebrochen ist, um die Satoga anzusiedeln. Wer weiß, wie eine Begegnung der beiden Völker verlaufen mag. Das Universum ist manchmal ein Dorf … Bevor er sich äußern konnte, deutete Aylea auf die Säule. »Seht mal! Erkennt ihr es auch?« »Ja«, bestätigte Cloud. Die RUBIKON steuerte auf eine riesige goldene Kugel zu, die wie eine vielfach vergrößerte Ausgabe von Fontarayns Schiff aussah, das immerhin auch schon einen Kilometer Durchmesser hatte … und dennoch von den kleinen grünen Schiffen zerstört worden war. Die Fremden hatten sich auch nicht gescheut, die RUBIKON anzugreifen, sodass nur die Flucht blieb … »Das ist also unser Ziel«, stellte Cloud fest.
»Ja, es ist eine Station«, erklärte Fontarayn. »Sie ist unterhalb des Ereignishorizonts fixiert worden, deshalb war diese ungewöhnliche Anreise notwendig.« »Es sieht aus, als wäre sie in die Wolkenfraktale eingebettet, obwohl sie gleichzeitig im Freien zu hängen scheint … das ist alles sehr verwirrend«, meinte das Mädchen und rieb sich die Nase. »Wie nennt ihr das denn?« »Es gibt die allgemeine Bezeichnung Chardhin-Perle dafür«, gab der Goldene Auskunft. Cloud konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Fontarayn zusehends nervöser wirkte, je näher sie dem kostbar leuchtenden Gebilde kamen. Bald nahm die goldene Perle die gesamte Holosäule ein, sie schien nun das einzig Existierende in dieser Dimension zu sein. Es war keine Ritze, keine Einkerbung, keine Struktur zu erkennen. Sie sah wie aus einem Guss aus, glatt und glänzend poliert. »Gehe auf Andockgeschwindigkeit«, meldete Sesha plötzlich. Das Virus hat seinen Wirt gefunden …. fuhr es Cloud durch den Sinn. »Messdaten?«, fragte er knapp. »Etwa hundert Kilometer Durchmesser.« »Hundert Kilometer!«, stieß Scobee hervor. »Kein Wunder, dass die Station hier verborgen wurde. So etwas fallt unweigerlich auf!« »Im kosmischen Rahmen ist das nicht mal ein Sandkorn«, widersprach Cloud, bevor er die KI aufforderte, weitere Daten zu liefern. »Keine weiteren Analysen möglich«, antwortete Sesha. »Ich kann mit meinen Instrumenten sonst nichts feststellen. Keine messbaren energetischen Emissionen. Ob die Kugel innen hohl ist, kann ich ebenfalls nicht sagen. Ich erkenne keine Andockmöglichkeit. Das Material, aus dem die Außenhülle der Station besteht, ist eine mir unbekannte Legierung, deren Formel ich noch nicht entschlüsseln konnte. Eine Altersbestimmung ist auf dieser Basis natürlich auch unmöglich. Es scheint allerdings sehr stabil zu sein, denn ich messe in der unmittelbaren Umgebung tosende Stürme und gewaltige energetische Entladungen.«
Cloud sah aus den Augenwinkeln, wie Algorian in seinem Sessel zusammensackte, den Kopf jammernd in den Händen vergrub. »Algorian?« Er erhielt keine Antwort. Der Psi-Begabte wand sich in Krämpfen, schrie vor Schmerz. »Scob, schnell, gib ihm ein Schmerzmittel!« Cloud wandte sich wieder der Holosäule zu. »Diese Entladungen sind nicht mit unseren Stürmen vergleichbar, richtig, Sesha?« »Die Frequenzen liegen im 5-D-Bereich und darüber«, bestätigte das Schiff. »Algorian als schwacher Telepath ist davon ebenfalls betroffen. Ich werde eine Abschirmung um ihn errichten, die auf der Ebene der Saskana-Quarze schwingt, das müsste ihm augenblicklich helfen.« Scobee, die dem Aorii gerade ein Pflaster aufdrücken wollte, sprang gerade noch zurück, als Sesha ihn mit einem Energiefeld umgab. Tatsächlich kam Algorian nur wenige Sekunden später wieder zu sich. »Danke«, flüsterte er. »Jetzt geht es wieder. Ich dachte, ich würde verrückt werden … es war kaum auszuhalten, als würde mir das Gehirn ausgesaugt …« »Und diese Station trotzt den Stürmen seit … wie lange, Fontarayn?« »Sehr lange.« Der Goldene gab sich einsilbig. Er hielt den Blick gebannt auf die Holosäule gerichtet, schien sich auf irgendetwas zu konzentrieren. »Habt ihr die Chardhin-Perle erbaut?«, setzte Scobee die Befragung fort. Keine Antwort. »Und was ist mit den Stürmen?«, fügte Cloud an. »Sind es Phänomene dieser Dimension, oder werden sie künstlich von der Station selbst erzeugt, um unerwünschte Besucher ab einer bestimmten Entwicklungsstufe fernzuhalten?« Fontarayn sagte: »Ich muss beobachten. Einen Moment bitte …« »Hör mal, Fontarayn, so kommen wir nicht weiter!« Cloud riss wieder einmal der Geduldsfaden. »Wir sind an unserem Ziel ange-
kommen, und du hast Antworten versprochen!« »Du sollst sie auch erhalten, Cloud, aber im Augenblick muss ich mich konzentrieren auf – da!« Aylea und Jelto fuhren unter dem unerwarteten Schrei zusammen und starrten Fontarayn entgeistert an. So eine heftige Reaktion hatten sie nicht von ihm erwartet; allerdings hatte er seit der Sichtung der Perle auch erheblich an Souveränität eingebüßt. Anscheinend war es auch für ihn eine völlig neue Situation, und er war nervös wegen des Auftrags, den er erfüllen sollte. Wenn das ihr bester Mann ist, dachte Cloud mit einem Anflug von Sarkasmus, dann möchte ich nicht wissen, was für ein Chaotenhaufen der Rest dieses Völkchens ist. Er wäre schon an dem Schwarm grüner Winzlingsschiffe gescheitert, wenn wir nicht gewesen wären, und nun scheint er die Sache auch nicht im Griff zu haben. »Cloud, ich habe den Andockpunkt gefunden«, erläuterte der Goldene seinen Aufschrei. »Habe ich die Erlaubnis, dein Schiff dorthin zu steuern und festzumachen?« Cloud nickte. »Nur zu. Deswegen sind wir doch hier.« Die RUBIKON nahm wieder Fahrt auf. Cloud konnte überhaupt keinen Unterschied zu jeder anderen Stelle des glatt polierten Materials feststellen. Doch wenige Meter vor dem Aufprall sah er plötzlich eine Bewegung an der Station. Einen, nein, zwei Schatten, die von herausfließendem Gold geworfen wurden. Sie nahmen Struktur und Form von Andockklammern an. »Raffiniert«, murmelte er. Fontarayn steuerte das Schiff millimetergenau an die Andockklammern, die allerdings mehr optische Funktion hatten, denn gleich darauf meldete die KI die Errichtung eines energetischen Fesselfeldes, das die RUBIKON auf Position hielt. »Ich werde hinübergehen«, sagte Fontarayn. »Bitte wartet hier auf mich.« »Willst du wirklich allein gehen?«, fragte Cloud. »Vielleicht wäre es besser, wenn dich einer von uns begleitet. Jarvis wäre dafür am besten geeignet.« Der Goldene lehnte ab. »Danke, das ist nicht notwendig. Ich muss
dies allein erledigen.« »Bist du sicher«, versetzte Scobee bissig, »dass du weißt, was du da tust?« »Nun, es ist … das spielt keine Rolle, ich gehe allein und bitte euch um ein wenig Geduld.« Fontarayn schien nicht gewillt, eine weitere Diskussion zu führen. Doch Cloud gab sich nicht so leicht geschlagen. »Und wie lange sollen wir warten?« »Ich verstehe nicht.« »Nun, das ist ganz einfach, mein Freund. Auf Expeditionen ist es üblich, dass eine Wartezeit vereinbart wird, wie lange ein Forscher wegbleibt. Wird diese Zeit überschritten, muss man tätig werden – sprich, entweder wird die Expedition abgebrochen und man kehrt ohne den Gefährten zurück, oder man macht sich auf die Suche nach ihm. Keinesfalls bleibt man auf unbestimmte Zeit untätig auf dem Hintern hocken und dreht Däumchen.« »Oh.« Fontarayn neigte leicht den Kopf. »Ich verstehe. Du möchtest wissen, wie lange meine Mission dauern wird.« »Richtig!« »Und wenn du nach Ablauf einer genannten Frist nicht wieder da bist, wissen wir, dass wir dich raushauen müssen«, bekräftigte Aylea. »Stimmt's, John?« Er nickte. Jetzt lächelte der Goldene. »Ihr werdet mich nicht ›raushauen‹ müssen.« Auf Clouds Gesicht zeigte sich nicht die Spur eines Lächelns, sondern kühle Zurückhaltung. »Das hättest du vor deiner Begegnung mit der Flotte der Grünen vermutlich auch gesagt, Fontarayn. Ich weiß, als Energiewesen hast du sicher nicht viel Erfahrung in solchen Dingen, aber wir als Organische können dir versichern, dass jede Menge auf einer Mission schief gehen kann und man froh ist, wenn da noch jemand ist, der einem helfen kann. Und selbst ein Wesen wie du kann in haufenweise Schwierigkeiten geraten, denn es gibt immer etwas, das mächtiger ist als man selbst – oder das einen fiesen Trick auf Lager hat.«
Fontarayn schwieg verdutzt. Seine Stirn legte sich in Falten. Dann glättete sie sich wieder, und er lachte dröhnend. »Ich danke dir für deine Ansprache, John Cloud! Es ist gut zu wissen, dass man Freunde hat, auch wenn ich bisher noch nichts zurückgeben konnte. Aber ich werde meine Schuld eines Tages bezahlen, das verspreche ich.« Er machte eine ausholende Geste. »Also vereinbaren wir Folgendes: Wenn ich in drei Tagen eurer Standardzeit nicht zurück bin, könnt ihr tätig werden. Ich weiß nicht, was ihr dann tun wollt, hier in dieser fremden Umgebung, aber vielleicht fällt euch ja etwas ein. Seid aber nicht enttäuscht, wenn ihr nichts tun könnt. Es ist unmöglich, ohne mich zurückzufliegen, denn nur ich kann das Schiff richtig aus dieser Dimension steuern. Und helfen … wenn mir etwas zustößt, was denkt ihr, dann für mich tun zu können?« »Dasselbe wie letztes Mal«, versetzte Cloud ungerührt. »Dich an Bord holen. Überlass das nur uns, bisher ist uns immer was eingefallen.« Scobee warf ein: »In 72 Stunden also, Fontarayn. Wenn du bis dahin nicht zurückgekehrt bist, ist dir irgendetwas zugestoßen und du bist nicht mehr in der Lage, uns wenigstens eine Botschaft zukommen zu lassen. Wir werden dann nach dir suchen und dich befreien.« »Schon allein aus dem Grund, weil du der Einzige bist, der uns wieder rausbringen kann«, fügte Jelto verschmitzt hinzu. »Mir wird nichts geschehen. Ich werde vor Ablauf der Zeit zurück sein, und dann fliegen wir aus der Zone«, versprach der Goldene. Seine Gestalt löste sich auf – ein mittlerweile gewohnter Anblick – und sickerte durch die Hülle der RUBIKON. Ein kurzer Lichtblitz auf der Außenhülle der Chardhin-Perle zeigte an, dass er soeben in die Station eindrang. »Jetzt heißt es warten«, bemerkte Aylea. »Jelto, spielst du mit mir eine Runde Catchball im Garten? Ich habe keine Lust, die ganze Zeit hier rumzusitzen und zu warten.« »Klar«, antwortete Jelto, und die beiden verschwanden. »Sie hat Recht.« Scobee stand auf und streckte sich. »Ich werde mich an ein paar Trainingsgeräte schwingen, die Sesha mir zur Ver-
fügung stellt. Leicht modifiziert dürften sie durchaus zu gebrauchen sein …« Cy und Algorian schlurften und staksten ihr hinterher. Der Aorii konnte sich jetzt ohne das ihn umgebende Energiefeld ungehindert bewegen; vermutlich hatte Sesha den Schutz auf den Bereich erweitert, in dem die Mannschaft sich bewegte. Cloud ließ Sesha einen Systemcheck durchführen und seine Cleaner-Programme durchlaufen. Dann stellte er sie auf Bereitschaft mit der Option, im Notfall sofort sämtliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Erst dann verließ er ebenfalls die Zentrale.
»Ich hätte nicht gedacht, Sie so schnell wiederzusehen«, sagte Sarah Cuthbert mit einem hintergründigen Lächeln. »Ich wollte mich davon überzeugen, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist«, sagte Cloud mit einem verlegenen Grinsen, über das er sich ärgerte. »In Ordnung? Wir leben im Chaos! Aber wie Sie sehen, sind wir fleißig am Aufbau einer Wohnanlage, und alle helfen mit. Das lenkt sie ab, und sie fühlen sich nützlich.« Die Ex-Präsidentin wies auf den ehemaligen Zirkusdirektor, der seine Bücher durch die Gegend schleppte. »Prosper Mérimée ist glücklich, dass er seinen kostbarsten Schatz retten konnte. Fragen Sie mich nicht, wieso er die Bücher behalten und mitnehmen durfte. Mindestens ebenso wundert es mich, dass man uns überhaupt am Leben gelassen hat.« Sie richtete ihren Blick auf Cloud. »Vielleicht als lebendes Mahnmal, was aus Menschen werden kann. Schließlich ist unsere Gruppe völlig durchgedreht und skurril.« Cloud kratzte sich am Kinn. »Aber sie wird sicherlich eines Tages von großem Nutzen sein«, meinte er. »Wir können uns gegenseitig helfen. Außerdem ist meine Mannschaft nicht weniger skurril, wenn man es genau nimmt. Wir sind ein bunter Haufen schräger Vögel, anders kann man es nicht sagen.« »Passend zum Ambiente.« Cuthbert deutete nach oben. »Danke für die Holoübertragung. Wer hätte gedacht, wohin wir einmal ge-
raten! Und Sie sind sicher, dass dieses Energiewesen uns wieder zurückbringen kann?« »Sicher bin ich mir in gar nichts«, erwiderte Cloud. »Erst recht nicht bei Fontarayn, solange wir nicht mehr über ihn wissen. Er scheint ein Talent dafür zu haben, in Schwierigkeiten zu geraten. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass er schon einmal in einer ähnlichen Mission unterwegs war. Einerseits kommt er mir wie ein unglaublich mächtiges, fast gottgleiches Wesen vor, andererseits wieder wie ein Kind, das zum ersten Mal allein vor die Haustür tritt. Fest steht allerdings, dass er als Einziger den Weg hinaus findet. Sesha hat keinerlei Anhaltspunkte, um irgendwelche Koordinaten berechnen zu können. Sie findet nicht einmal mehr unsere Eintrittsstelle.« »Können Sie auch von der Station ausgehend keine Fixpunkte festmachen?« »Nein, weil für Sesha in diesem Medium überhaupt nichts existiert, abgesehen von den n-dimensionalen Stürmen und der Chardhin-Perle. Sie nimmt nichts von dem wahr, was wir zu sehen glauben.« »So stößt also auch die foronische Technik an ihre Grenzen. Nun, dann vertrauen wir darauf, dass Fontarayn weiß, was er tut, und es auch schafft.« Sarah Cuthbert musterte Cloud. »Ich sehe schon, Sie brennen darauf, diese Welt da draußen erkunden zu können.« Er grinste. »Ja …« »Aber?« Er dachte an sein erstes Erlebnis nach dem Eintauchen. »Manches sollte besser im Ungewissen bleiben.« Sie schmunzelte. »Das klingt, als wüssten Sie, wovon Sie reden, und das in Ihrem Alter – und ohne jemals das politische Parkett betreten zu haben.« Sie wandte sich ihren Gefährten zu, die eifrig dabei waren, Einrichtungen herbeizuschaffen, Trennwände in Abstimmung mit der KI aufzubauen, ein gemütliches Ambiente zu schaffen. »Sie können uns getrost uns selbst überlassen, wir haben hier genug zu tun, was unsere Abenteuerlust befriedigt. Im Augenblick sind wir froh mit dem, was wir haben, und wollen unsere Ruhe.
Sollten wir in Gefahr geraten … hm, warten Sie vielleicht mit der Mitteilung noch etwas. Einige würden in große Aufregung geraten, und das ständige Wechselbad zwischen Angst und Hoffnung würde sie auf Dauer zermürben. Vielleicht ist es ja die Aufregung gar nicht wert. Also lassen Sie uns ruhig eine Weile im Ungewissen, und wir tun so, als wären wir in Sicherheit.« »In Ordnung«, stimmte er zu. »Ist vielleicht wirklich das Beste. Dann überlasse ich Sie erst einmal sich selbst und informiere Sie später, sobald alles glimpflich verlaufen ist.«
Die Zeit verrann. Die Mannschaft begann, sich zu langweilen. Bisher drohte keine Gefahr, genau wie Fontarayn es kurz vor dem Andocken versprochen hatte. Die hyperenergetischen Stürme zeigten keine weitere Auswirkung auf die RUBIKON und die Insassen, mit Ausnahme von Algorian, für den Sesha allerdings aus den Resten des Saskana-Staubs eine Art Folie produziert hatte, die er auf dem Kopf befestigte. Damit konnte er gut leben, und das Schutzfeld konnte deaktiviert werden. Sie beschäftigten sich mit allem Möglichen, nahmen Mahlzeiten zu sich, schliefen, unterhielten sich. Die Stunden tickten dahin. Cloud hatte inzwischen von der gesamten Crew die Berichte über die Vorgänge seit der Aufnahme Fontarayns erhalten. Und war so schlau wie zuvor. Anscheinend hatte keiner, aber auch wirklich keiner, die Wahrheit gesagt. Es waren belanglose Berichte, ein paar merkwürdige Halluzinationen, die aber nicht weiter von Bedeutung waren. Außer in der Hinsicht, dass sie zu harmlos und zu konstruiert wirkten. Wie die x-te Version eines grausamen Erlebnisses, die letztendlich einem dreijährigen Kind präsentiert werden konnte. Hatten sie alle etwas Ähnliches durchgemacht wie er? Oder wussten sie wirklich nichts? Hatten sie einfach nur die üblichen Albträume im Schlaf gehabt, bedingt durch die Ereignisse davor? Ayleas Bericht war am kürzesten. Hab geschlafen. Kann mich an nix erinnern, keine Träume oder so was.
Ein bisschen Kopfweh vielleicht, irgendwie ein komisches Gefühl. Eines Tages muss ich mit ihr darüber reden, dachte Cloud. Sie weiß viel mehr, als sie zugibt.
In der siebzigsten Stunde trafen sich alle wie auf ein geheimes Signal hin in der Steuerzentrale der RUBIKON. »Er kommt nicht zurück«, äußerte Scobee geradeheraus ihre Meinung. »Irgendeine Nachricht, ein Signal?«, knisterte Cy. »Nichts«, musste Cloud zugeben. »Es ist alles wie vorher, wir sind messtechnisch praktisch blind und taub.« »Und was tun wir jetzt?«, fragte Jarvis drängend. »Wir könnten eine Kapsel schicken, mit mir an Bord.« »Und du denkst, du kannst einfach so in das Innere der Perle gelangen?«, fragte Cloud. »Wieso, es ist ähnlich wie bei der Leere von Saskana.« »Da hatten wir Koordinaten«, erinnerte ihn Cloud. »Und es gab eine Gegenstation. Die hätten wir hier kaum. Wohin sollte Sesha die Kapsel schicken? Ich kann sie kaum einfach aufs Geratewohl starten lassen. Vor allem: Was ist, wenn die Perle ein Eindringen verhindert? Die Kapsel könnte an einem Sicherheitsschirm zerschellen, und wir hätten dich auch noch verloren.« »Und wenn wir zuerst eine leere Kapsel los schicken?«, schlug Algorian vor. Cloud schüttelte den Kopf. »Dann riskieren wir zwar kein Leben, aber wir haben in jedem Fall eine Rettungskapsel weniger. Vergesst nicht, dass wir jetzt sehr viel mehr Leute sind! Und diese Kapseln müssen lange, sehr lange reichen. Wir müssen jetzt sparsamer denn je damit umgehen.« »Aber irgendetwas müssen wir unternehmen, ich werde hier sonst verrückt!«, rief Scobee. »Wir können es doch außen über die Hülle versuchen, vielleicht öffnet sich ein Zugang durch irgendeinen Handdruck oder so etwas! Raumanzüge haben wir genug. Ich könnte mit Jarvis gehen, und –«
»Du gehst nirgendwohin«, unterbrach Cloud sie. »Dein letztes Abenteuer auf Saskana liegt noch nicht lange genug zurück. Wenn, dann gehe ich!« »Das glaubst auch nur du!«, widersprach Scobee empört. »Du bist der Kommandant des Schiffes, nur dich akzeptiert Sesha, und du bist auch der Einzige mit Protopartikeln, um perfekt mit dem Schiff verschmelzen zu können!« Cloud gab süffisant zurück: »Und was nützt uns das, wenn wir Fontarayn nicht zurückbringen können? Ohne ihn sitzen wir hier sowieso bis in alle Ewigkeit fest! Sollte mir etwas zustoßen, aber Fontarayn kommt zurück, kann er die Steuerung über die RUBIKON übernehmen!« »Verdammt, John!«, schnaubte Scobee. »Ich halte das auch für keine gute Idee«, kam Jarvis ihr zu Hilfe. Cloud machte eine herrische Geste. »Glaubt ihr, ich lasse mich für immer in diesen Sarkophag sperren? Das kommt nicht in Frage! Und ich will das da draußen näher kennen lernen, ich will wissen, was es mit dieser Station auf sich hat! Nach allem, was passiert ist …« Scobee musterte ihn prüfend. »Du bist auf einmal wieder ganz blass geworden, John. Sag uns endlich, was passiert ist! Du hast doch unsere Berichte nicht nur für wissenschaftliche Zwecke angefordert. Wir sind jetzt alle hier, also rede!« Er zögerte. Dann gab er sich einen Ruck. »Ich habe es vorher gesehen«, sagte er leise. »Vor der … Anpassung. Wie beim Tiefenrausch, wisst ihr? Wenn man sich nicht entsprechend akklimatisiert hat, bekommt man Halluzinationen, Zittern, Schweißausbrüche … oder wenn man zu schnell in große Höhen gelangt, Sauerstoffmangel und –« Aylea verließ ihren Sitz und kam zu Cloud, dessen Hände sich um die Armlehnen krampften. »Du glaubst, dass es real war, ist es so?«, sagte sie leise und legte eine Hand auf seinen Arm. »Kein Traum … oder eine Illusion …« »Du warst auch dort«, murmelte er. Er fühlte, wie seine Stirn feucht wurde in Erinnerung an das Grau-
en. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich weiß.« Dann kehrte sie auf ihren Platz zurück. John starrte das Mädchen eine Weile verstört an, was die anderen veranlasste, in Schweigen zu verharren. »Ich kann es euch einfach nicht erzählen«, stieß er schließlich hervor. »Nicht nur, weil es so schrecklich ist – ich habe auch keine Worte dafür. Gebt euch damit zufrieden, dass ich so etwas meinem ärgsten Feind nicht wünsche. Und gerade deswegen will ich dort hinaus … und wenn möglich in die Station hinein. Ich muss es wissen, mich meinen Ängsten stellen, sonst werden sie mich noch weiter verfolgen.« Scobee begann: »John …« »Nein!«, unterbrach er sie. »Es geht mir gut, wirklich. Ich habe mich erholt, vor allem beim Nichtstun der letzten Tage, gesundheitlich bin ich topfit. Ich lasse täglich mein Gehirn von Sesha scannen, und es ist alles in Ordnung. Keinerlei Veränderungen, es ist kein Schaden zurückgeblieben, nur eben diese grässliche Erinnerung. Aber nach all dem bleibe ich bei dieser Rettungsmission nicht hier an Bord – und das ist mein letztes Wort dazu, als Kommandant.« Das letzte Wort betonte er langsam und deutlich. »Es ist deine Entscheidung«, meinte Jarvis nach einer Weile. »Aber ich werde dich begleiten, denn vom logischen Standpunkt aus gesehen bin ich die beste Wahl für Exkursionen.« »Und ich werde auch mitgehen«, schnarrte Algorian. »Innerhalb der goldenen Kugel bin ich vielleicht vor den Hyperemissionen geschützt und kann euch eventuell wertvolle Dienste auf der Suche nach Fontarayn leisten.« Cloud nickte. »In Ordnung, gehen wir also zu dritt. Scob, du übernimmst das Kommando während meiner Abwesenheit.« »Und wie lange sollen wir warten?«, meinte sie ironisch, mit einem Funkeln in den exotisch grünen Augen. »Noch einmal drei Tage?« »So lange wie nötig, eine andere Wahl habt ihr nicht«, erwiderte
Cloud. »Ich gehe nicht davon aus, dass wir Funkkontakt halten können, aber wir werden es versuchen.« Er blickte auf die Uhr. »Die knapp zwei Stunden, die noch verbleiben, werden wir zur Vorbereitung brauchen. Wenn sie verstrichen sind, brechen wir auf.«
5. Kapitel In geschlossenen Anzügen verließen sie die RUBIKON, mit einem Wartungsseil verbunden. Wenn Cloud etwas Ungewöhnliches erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Es war nicht anders als im All – Schwerelosigkeit, Atmosphärelosigkeit, große Stille. Der Hypersturm prallte an einem Energiegitter ab, das Sesha bis zur Kugel ausgeweitet hatte. John sah nur Gold, sein ganzes Sichtfeld war damit ausgefüllt. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie gigantisch die Chardhin-Perle war. Dieses Gebilde erschlug ihn, bedrückte ihn. Als er den halben Weg zwischen der RUBIKON und der Kugel zurückgelegt hatte, sah er sich um, sah die riesige Arche, die trotzdem nur ein lächerlich kleiner, dunkler Klecks in all diesem Gold war, das die Sicht einnahm, egal wohin er blickte. »Alles in Ordnung?«, fragte er seine Begleiter. Jarvis hatte keinen Extraschutz benötigt, da sein Kunstkörper bereits gegen die herrschenden Einflüsse gefeit war. »Keine Probleme«, meldete er. »Ich auch nicht«, bestätigte Algorian. »Landen wir einfach auf der goldenen Fläche, oder wie?« »Ja, untersuchen wir sie, ob wir einen Weg hinein finden.« Die Perspektive änderte sich erst, als Cloud schließlich auf der Kugel stand. Erst am Rand des »Horizonts« konnte er eine leichte Krümmung ausmachen, ansonsten war es fast, als stünde er auf dem Erdmond. Allerdings fühlte er sich immer noch unglaublich winzig, als die RUBIKON in sein Sichtfeld kam. Er aktivierte die künstliche Schwerkraft des Anzugs, damit er auf der goldenen Kugel spazieren gehen konnte. Zu dritt bewegten sie sich langsam über die glatt wirkende Oberfläche. Immer wieder verharrte Cloud, tastete mit behandschuhten
Fingern den »Boden« ab. Keine Ritze, keine Delle, keine noch so winzige Pore. Glatt wie ein Spiegel und schwach magnetisch; nach entsprechender Justierung wurden seine Schuhe von dem gegenpoligen Feld angezogen, was ihm ein zusätzliches Sicherheitsgefühl vermittelte. »Aber wir können nicht die ganze Station umlaufen, oder doch?«, machte sich Algorian nach einer Weile bemerkbar, als sie sich immer weiter vom Schiff entfernten. »Nicht, bevor wir die Sicherheitsleinen gekappt haben«, bestätigte Cloud. »Aber ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen uns auf unsere Augen und unseren Tastsinn verlassen, auf unser Gespür, da Sesha keinen Eingang finden konnte.« »Wir haben auch alle Zeit der Welt, Algorian, wenn Fontarayn nicht zurückkehrt«, erklang Jarvis' lakonische Stimme im Helmempfänger. Sie versuchten, die Hülle zu einer Reaktion zu provozieren – mit Laser, Vibrationsschneidern, Säure und einigem mehr, was die RUBIKON ihnen zur Verfügung gestellt hatte, doch alles ohne Erfolg. Cloud hatte auch nicht damit gerechnet, aber er wollte nichts unversucht lassen. Zwischendurch meldete sich Scobee aus der Zentrale, von wo aus sie via Holosäule alles beobachtete. »Es sieht nicht so aus, als ob du eine Einladung erhalten würdest.« »Diese Station ist wohl so gebaut, dass nur Wesen wie Fontarayn hinein können. Das Problem ist nur: Wenn ihm etwas zustößt, wie kann man ihm helfen?« Cloud versuchte, wenigstens ein paar Körnchen von der Oberfläche abzukratzen, um sie Sesha zur Analyse zu geben. Doch die Hülle zeigte sich resistent, nicht der Hauch einer Abnutzung blieb zurück. Es war zwar kein Schutzschirm aktiviert – an und für sich sollte diese extraordinäre Position auch Schutz genug sein –, jedoch hatte man bei der Herstellung des Materials ganze Arbeit geleistet. »Mit Gewalt ist da nichts zu machen«, meinte Algorian nach einer Weile missgelaunt. Sie hatten inzwischen die Wartungsleinen abge-
koppelt, um sich freier bewegen zu können. Es sah nicht so aus, als würden sie plötzlich den Halt verlieren und hilflos davontreiben. »Vielleicht doch, aber zu solchen Mitteln wollen wir nicht greifen – noch nicht«, erwiderte Cloud. »Wir wissen nicht, wie die Station ausgestattet ist, und wie sie auf einen Angriff reagiert.« »Alles schön und gut«, meldete sich Jarvis aus einiger Entfernung. »Wir könnten natürlich tagelang so weitermachen. Aber werden wir einen Schritt weiterkommen? Ich glaube, wir gehen diese Sache falsch an.« »Was meinst du?«, fragte Scobee verwundert von der Zentrale aus. Der Funkkanal war ständig offen. »Wir sollten vielleicht weniger … organisch denken«, erklärte der ehemalige GenTec. »Wenn Fontarayns Volk die Station gebaut hat, müssen wir lernen umzudenken. Sie sind Energiewesen, für sie existieren keine Wände. Selbst ein Energiefeld kann sie kaum aufhalten, wie wir festgestellt haben.« Cloud hatte natürlich ausführlich Bericht erstattet, auf welche Weise Fontarayn an Bord gelangt war. Das Sperrgitter, das Sesha um ihn errichtet hatte, konnte er mühelos überwinden. Es waren also andere Kaliber notwendig, ihn festzuhalten, vermutlich auf Hyperbasis. Die Emissionen, die von der Station kamen, hatten ihn ebenfalls nicht behindert. »Nun gut, Fontarayn hat sich in Energie aufgelöst, um in die Station einzudringen«, sagte Cloud. »Dazu sind wir aber nicht in der Lage. Ich meine«, fügte er ironisch hinzu, »wir können uns nicht einfach verwandeln. Und auch dann bezweifle ich den Erfolg, denn hier gibt es keine Ritzen, in die wir einsickern könnten. Schließlich sind wir nach wie vor organisch.« »Das heißt also, wir werden nicht eindringen können«, kommentierte Scobee frustriert. »Da bin ich nicht so sicher«, beharrte Jarvis. »Ich bin noch nicht bereit, aufzugeben.« »Wir können uns aber nicht in Energiewesen verwandeln, das hat John doch gerade gesagt«, schnarrte Algorian. »Vielleicht können wir ja so tun als ob«, versetzte Jarvis rätselhaft.
Er modulierte seinen Körper in einer Weise um, dass er bald flach wie eine Flunder auf der Außenhülle lag. Der ehemalige GenTec war nur noch eine formlose Masse. »Was tust du?«, fragte Cloud irritiert. Es war für ihn immer noch nicht einfach, solche Verwandlungen mit anzusehen, denn immer noch sah er den Jarvis vor sich, wie er früher gewesen war. Doch das war Vergangenheit. Jarvis' Bewusstsein war zwar mit allen Erinnerungen transferiert worden – doch je länger sich der ehemalige GenTec mit der Nanomaterie auseinander setzte, desto mehr veränderte er sich in seinem Wesen. Was kein Wunder war, denn er besaß keine hormonelle Steuerung mehr, die Stimmungsschwankungen und Emotionen auslöste; keine Organe, die nach Zufuhr von Energie in Form von Nahrung verlangten und auch schon mal eine gute Mahlzeit in angenehmem Ambiente zu schätzen wussten; das Leben in einer Nanohülle war ganz anders; selbst die notwendigen Ruhephasen waren bedeutend kürzer als bei Menschen. Wie lange würde es dauern, bis Jarvis vergaß, dass er ein Mensch war, und sein früheres Leben nur noch als Erinnerung in ihm verblieb? Oder würden grundlegende Emotionen wie Liebe, Zorn und Hass, Freude und Niedergeschlagenheit, Mitgefühl sowie moralisches Empfinden erhalten bleiben? »So kann ich es besser abtasten und fühlen«, kam die Antwort aus dem Stimmmodul. Algorian näherte sich ihm neugierig. »Du kannst etwas fühlen?« »Ich hoffe es, wenn man mir Zeit zur Konzentration lässt«, gab Jarvis prompt zurück. »Schon verstanden.« Cloud winkte Algorian. »Komm, warten wir mit ein wenig Abstand und verhalten wir uns ausnahmsweise ruhig.« Sie kauerten sich auf die goldene Hülle, mit angezogenen Knien, die Arme darum geschlungen, und warteten gespannt ab. Etwa eine Stunde verging. Cloud schliefen allmählich die Beine ein, und sein Geist wurde ebenfalls schläfrig. Hin und wieder hatte er sich über die interne Verbindung mit Scobee unterhalten, wäh-
rend Algorian unzufrieden dasaß. Er konnte ja nicht einmal seinen Geist auf Erkundung schicken, da er durch das Schutzfeld abgeblockt wurde. Draußen tobte in unverminderter Stärke der Sturm, aber davon war hier drin nichts Nachteiliges zu spüren. Die Umgebung veränderte sich ständig. Fraktale zogen durch regenbogenfarbige Schleier und Schlieren; manches erinnerte tatsächlich an Pflanzen, wie Cloud nach längerer Betrachtung einräumen musste. Vielleicht sahen sie die Umgebung gar nicht so unterschiedlich, die Informationsverarbeitung konzentrierte sich nur vor allem auf das, was man am liebsten sehen wollte. Es wurde also ein angepasstes Bild übermittelt. Wie es wohl wirklich aussah? Cloud dachte auch noch einmal an die »Türschwellenwesen«, seinen ersten geistigen »Höhenflug« auf dieser Reise. Das war ein äußerst skurriles, aber positives Erlebnis gewesen, im Gegensatz zu dem Horror danach. Da gibt es noch so viel mehr, dachte er und empfand es als Trost. Man war nie wirklich allein, egal wohin man kam. »John!« Er schreckte hoch; er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er völlig vergessen hatte, Jarvis zu beobachten. »Was ist?« »Sieh doch!« Algorian wedelte aufgeregt mit einem Finger. John runzelte die Stirn. »Ich sehe nichts.« »Ganz genau!«, keifte der Aorii. Erst jetzt fiel es Cloud wie Schuppen von den Augen. Jarvis war weg!
»Jarvis? Jarvis? Kannst du mich hören? Melde dich, verdammt!« Cloud versuchte es auf allen Frequenzen, zusätzlich funkte Scobee von der RUBIKON aus den ehemaligen Klon an und versuchte, ihn zu orten. Er war und blieb verschwunden. »Er hat bestimmt einen Zugang gefunden!«, frohlockte Algorian.
»Hast du denn nicht gesehen, wie er verschwunden ist?«, fragte Cloud. »Nein, ich habe nur einmal kurz zur Seite gesehen, und als ich zurückblickte, war er weg. Und du?« »Dasselbe. Scob?« »Tut mir Leid, John, ich habe mir eingebildet, nicht weggeschaut zu haben, aber ich habe es trotzdem nicht mitbekommen. Auch Sesha kann nicht nachvollziehen, was da geschehen ist. Ich habe die Holoaufzeichnungen mehrmals mit starker Verlangsamung hinund hergeschaltet. Auf dem einen Bild ist er noch da, auf dem nächsten weg. Es muss so abrupt geschehen sein, dass weder unsere Augen noch die Ortung der RUBIKON zu folgen vermochten. Jarvis konnte uns ja auch keine Warnung mehr geben.« »Verdammt«, stieß Cloud hervor. »Was …« In diesem Moment zuckten zwei Hände aus dem undurchdringlichen Gold hervor, packten Cloud an den Armen und zerrten ihn mit sich.
Bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, durchdrang Cloud bereits die goldene Hülle, als wäre es Gelee – zäh, aber nachgiebig. Hinter sich hörte er gedämpft Algorians Aufschrei … und seinen Hilferuf an Scobee. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, durch diesen goldenen Widerstand gezogen zu werden, er konnte nichts erkennen, und die Systeme seines Anzugs meldeten nur Buchstabensalat. Doch dann zappelten seine Beine plötzlich in der Luft, und er fiel hinab auf … eine Reling? Endlich ließen ihn die Hände los, und Cloud erkannte Jarvis in seiner humanoiden Form. »Willkommen«, sagte der ehemalige GenTec mit einem täuschend echten breiten Grinsen.
6. Kapitel »Wie ist das –«, begann Cloud fassungslos. Jarvis hob die Hand. »Augenblick, ich hole eben noch Algorian, dann erkläre ich alles.« »Lass Scobee wenigstens ein Signal zukommen, dass es uns gut geht und wir drin sind!« Cloud hatte nur noch ein leises Knacken in seinem Funkempfänger und glaubte nicht, dass er von hier aus nach außen senden konnte. Schließlich hatte die Abschirmung alle Ortungen und Scans verhindert, beim Funk wurde sich das nicht anders verhalten. »Bin schon dabei!« John Cloud versuchte Jarvis mit Blicken zu folgen, aber die Sicht wurde diffus, als läge eine Nebelwand dazwischen. Also wandte er sich der Umgebung zu und sah, dass er sich tatsächlich in gewaltiger Höhe auf einem schmalen Galerie-Rundweg befand, im Inneren der Chardhin-Perle. Der Blick reichte allerdings in keine Richtung weiter als ein paar Meter. Es herrschte ein dämmriges indirektes Licht, das sich rasch verlor. Hinzu kam diese seltsam diffuse Atmosphäre. Die Messgeräte des Anzugs zeigten zwar eine dünne Atmosphäre an, aber zu wenig Sauerstoff, um für Menschen atembar zu sein. Es herrschte eine künstliche Schwerkraft von etwas über 0,5 g. Wie es aussah, hatten die Hyperstürme keine Auswirkungen nach innen, zumindest behaupteten das die Messgeräte. Sicherlich eine gute Botschaft für Algorian. »Hat jemand meinen Namen gerufen?« Jarvis und Algorian kamen in diesem Moment an, und die muntere Bemerkung des Aorii zeigte Cloud, dass er seine Psi-Kräfte wieder entfalten konnte. Vorsichtshalber hatte er aber die SaskanastaubSchutzfolie mitgenommen, man wusste ja nie. Algorian lebte deutlich wieder auf, weil er nicht mehr telepathisch
taub war, ein Zustand, den er hasste. Er drückte oft sein Mitleid für die »armen Menschen« aus, die immer »taub« waren – wie eintönig musste das sein! »Ich habe ein Signal an Scobee abgeschickt«, berichtete jarvis. »Algorian hat nicht schlecht gestaunt, als ich auf einmal neben ihm auftauchte und ihn ohne Vorbereitung mitnahm. Aber das war wichtig, wegen der Entspannung.« »Entspannung?«, erwiderte Cloud. »Ich fühlte mich eher sehr angespannt, weil ich nicht wusste, was mit mir passiert!« »Aber da warst du ja schon durch«, erwiderte Jarvis. »Es ist wichtig, dass man nicht zu viel nachdenkt und loslässt. Dann funktioniert es prima.« »Und wie hast du das nun gemacht?«, wollte Algorian ungeduldig wissen. »Ich habe versucht, mich in Fontarayn zu versetzen«, antwortete der ehemalige Klon. »Auch, wenn ich mich aus Nanoteilchen zusammensetze, sind meine Funktionen vorwiegend energetisch, also denen Fontarayns nicht unähnlich. Er verfällt ja immer in seine ursprüngliche Form, bevor er sich vom Acker macht. Deshalb bin ich einfach verflossen, habe mich über die Außenhülle ausgebreitet und mich dann einfach geistig entspannt. Ich habe alles auf mich zukommen lassen.« »Klingt einfach. Aber es hat sicher eine Weile gebraucht, bis du dein Bewusstsein so weit abschalten konntest«, vermutete Cloud. »Allerdings. Ich bin immer noch sehr dem Organischen und meiner menschlichen Denkweise verhaftet. Trotzdem war es irgendwann so weit, dass ich die Perle spürte. Ihre feinen Strukturen, die Verbindung aus Energie und Materie.« »Lebt die Station?« »Das kann ich nicht beantworten, es ist alles sehr fremd. Aber meine Nanopartikel können eine Verbindung mit der Materie eingehen, aus der die Außenhülle besteht. Auf einer bestimmten Frequenz harmonisierten die Schwingungen einigermaßen miteinander. Das war der Moment, in dem ich mich einfach auflöste, durch die Strukturen floss und hier unten wieder Gestalt annahm. Es ging ganz
plötzlich und hat mich selbst überrascht, deswegen konnte ich keine Mitteilung mehr machen. Und da ich schon so weit war, dachte ich mir, hole ich euch gleich nach, solange ich es kann. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich dauerhaft dazu fähig wäre. Oder ob es die Station immer wieder zulassen wird.« »Aber wie haben wir uns dann aufgelöst?«, fragte Cloud fassungslos. »Nun, für eine Sekunde habe ich meinen Körper auf euch ausgeweitet und der Hülle suggeriert, dass ein besonders großer Brocken, der nicht mehr weiter aufgelöst werden kann, mit hindurch muss. Wenn man die richtige Frequenz erwischt, kann man alles durchschleusen, glaube ich.« Jarvis wirkte aufgeräumt und guter Dinge. »Wir sind jedenfalls drin. Was nun?« »Das ist eine gute Frage«, sagte Cloud.
Hundert Kilometer Durchmesser, so groß wie mancher Mond im heimatlichen Sonnensystem! John Cloud bezweifelte, dass seine Lebenszeit ausreichen würde, um Fontarayn hier zu finden, wenn sie dafür jeden Winkel durchforsten mussten. Er hatte angeordnet, etwa alle halbe Stunde im Wechsel ein Peilsignal zu senden. Vielleicht hatte das Energiewesen irgendeine Möglichkeit, das Signal zu empfangen und darauf zu antworten. Gleichzeitig erhöhte sich für die Eindringlinge natürlich die Gefahr, entdeckt zu werden – aber wenn sie abwechselnd sendeten und dabei gleichzeitig in Bewegung blieben, konnten sie sich möglicherweise einer Verfolgung entziehen. Ansonsten hatten sie nicht viele Möglichkeiten, außer sich einfach durch das riesige Gebilde zu bewegen und nach einer systematischen Ordnung zu suchen, um eventuelle Steuerzentralen ausfindig zu machen. Da Fontarayn nichts über sein Vorhaben geäußert hatte, konnte er überall sein. Die Messgeräte zeigten jedenfalls keine Anzeichen von organischem Leben in dieser Kunstwelt, geschweige denn bedeutende
Energieemissionen. Sie schien tot und verlassen zu sein. »Oder es ist alles abgeschirmt«, meinte Algorian, der angestrengt esperte. »Dass ich nichts fühlen kann, liegt möglicherweise an meiner mangelnden Begabung«, fügte er fast entschuldigend hinzu. »Besser ein schwaches Psi-Talent als gar keines«, erwiderte Cloud beschwichtigend. »Zunächst einmal sollten wir einen Zugang zu den Ebenen finden, um überhaupt irgendwohin zu gelangen. Vielleicht gibt es irgendwo einen Plan dieser Station, an dem wir uns orientieren und Vermutungen darüber anstellen können, wo Fontarayn sich vielleicht aufhält.« »Wenn wir wenigstens Kontakt zur RUBIKON halten könnten«, grübelte Algorian. »Das sollte kein Problem darstellen, solange ich nach draußen fließen kann«, erwiderte Jarvis. »Und solange wir uns nicht zu weit von der Außenhülle entfernen«, fügte Cloud hinzu. Algorian meinte munter: »Wir dürfen nur die Orientierung nicht verlieren.« Sie wanderten die Galerie entlang, versuchten ihren Anzugcomputern Informationen zu entlocken und eine bessere Sicht durch das diffuse Licht zu bekommen. Es war gespenstisch still. Algorian nestelte in seinen Anzugtaschen herum und fand eine kleine Schraube. »Was hast du vor?«, fragte Jarvis. »Ich will etwas ausprobieren.« Der Aorii holte aus und schleuderte die Schraube ins Innere der Kugel. Sie flog ein Stück weit. Kurz bevor sie im nebelartigen Dunst aus dem Sichtbereich verschwand – blieb sie hängen. Und rührte sich nicht mehr, sie sackte auch nicht ab. Als ob sie an den Fäden eines Spinnennetzes klebte. »Sie müsste bei der künstlichen Schwerkraft eigentlich fallen«, sagte Algorian nachdenklich. »Ob das mit uns auch funktioniert?« »Und was bringt uns das weiter?«, erwiderte John. »Schließlich können wir nicht fliegen.« »Jiim fehlt eben«, murmelte der Aorii niedergeschlagen. »Durch
ihn würde dieses Riesen-Etwas hier gleich viel kleiner.« Sie sprangen alle drei von der Reling zurück, als plötzlich ein schauriger Schrei erklang, als ob eine rostige Säge versuchte, Stahl zu schneiden. Ein riesiger Schatten tauchte aus dem Nebel auf. Er hatte Flügel und einen langen Schnabel. »Eindeutig anorganisch«, stellte Cloud nach einem Blick auf sein Ärmel-Display fest. Das Metallkleid des »Vogels« war von stumpfem Grau, seine Proportionen passten überhaupt nicht zusammen. Riesige Flügel, ein mächtiger Schnabel, der Rest jedoch unverhältnismäßig klein, keine »Beine« oder anderweitige Stützen. Cloud drosselte den Außenempfänger, als das Metalltier ein weiteres Kreischen ausstieß; dennoch klingelte es in seinen Ohren. Jarvis stellte sich vor Cloud und Algorian und weitete seinen Körper zu einer Art Schutzwand aus. Das Ungetüm war jetzt ganz nahe und öffnete den Schnabel. Cloud machte sich auf alles gefasst – doch der Metallvogel nahm überhaupt keine Notiz von ihnen. Er schnappte nach der kleinen Schraube, die immer noch über dem Abgrund hing, schloss den Schnabel darum … und verschwand. Ebenso schnell wie er gekommen war. »Ich habe einen Riesenschrecken bekommen!«, stieß Algorian hervor. »Das … das war wohl ein Müllschlucker, wie? Sorgt dafür, dass man keinen Dreck hinterlässt …« »Seltsam«, murmelte Cloud. »Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit.« »Ich habe eine Idee«, sagte Jarvis. »Algorian, hast du noch so ein Teil?« »Mal sehen …« Der Aorii fummelte eine Weile herum, dann fischte er ein verbogenes Metallstück aus einer seiner Taschen. »Keine Ahnung, wo ich das alles herhabe …« Er gab es Jarvis, der es mit kräftigem Schwung über das Geländer warf. Wie schon beim ersten Mal blieb es bald darauf hängen. »Was hast du eigentlich vor?«, wollte Algorian wissen. Seine Stimme ging allerdings in dem metallischen Kreischen des Robotervo-
gels unter, der wie auf Befehl aus dem Dunst auftauchte und mit dem Schnabel nach dem Metallstück schnappte. Cloud dämmerte es plötzlich. »Ich fürchte, ich weiß es!« Er sprang zu Jarvis, um ihn aufzuhalten, doch zu spät. Der ehemalige Klon flankte bereits über das Geländer, auf den Vogel hinab. Er erwischte ihn am kurzen Hals, knapp hinter dem Schnabel und vor dem Flügelansatz, und zog ihn durch den Schwung und sein Gewicht deutlich nach unten. Das Robotertier kreischte erneut und flatterte wild. Dann sank es steil nach unten, zusammen mit Jarvis, und war bald den Blicken entschwunden. »Jarvis, du Narr!«, schrie Cloud in den Funk. »Was soll das?« »Keine Bange, John«, kam es gedämpft zurück, »ich will nur wissen, wo er hinfliegt. Vielleicht finden wir dort in der Nähe so was wie eine Zentrale.« Er sagte noch etwas, aber seine Worte gingen in Knacksen und Rauschen unter. Cloud rief mehrmals den Namen des Freundes, doch ohne Erfolg. Die Verbindung war abgerissen. »Und was tun wir jetzt?«, fragte Algorian ratlos. »Sollen wir uns trennen? Einer sucht nach einem Weg, der irgendwohin führt, der andere wartet auf Jarvis?« Cloud war verärgert. »Er hätte es wenigstens mit uns bereden können, was sollte diese spontane Aktion!« »Wahrscheinlich hat er angenommen, dass du es ihm verbieten würdest.« »Natürlich hätte ich das getan! Das ist eine dämliche Idee, die zu nichts führt!« Algorian meinte versöhnlich: »Bestimmt ist er gleich wieder zurück. Außerdem ist er ziemlich schwer verwundbar und kann eine Menge aushalten, vergiss das nicht. Und nach allem, was du mir von ihm erzählt hast, war das auch früher schon seine Aufgabe gewesen: Die Vorhut bilden, wenn's brenzlig wird. Die Lage sondieren.« »Aber hier ist alles anders, Algorian«, erwiderte Cloud düster. »Die normalen Naturgesetze scheinen außer Kraft gesetzt, keiner von uns weiß, ob er nicht ständig ein Trugbild vor Augen hat … Es
wäre besser gewesen, wir wären zuerst eine Weile gemeinsam auf Erkundung gegangen, bis wir uns mit dem Ambiente etwas mehr vertraut gemacht hätten.« »Stimmt, weiter herumzusitzen und zu warten, habe ich auch keine große Lust.« Der spindeldürre Humanoide rieb sich die behandschuhten Hände. »Da hätten wir gleich an Bord der RUBIKON bleiben können.« Cloud nickte. »Wir warten eine halbe Stunde. Danach werde ich schauen, ob es einen Weg nach unten gibt, damit wir uns auf die Suche nach Jarvis machen können.« »Ah, und ich soll also weiter warten? Obwohl ich gerade gesagt habe, wie sehr mich das langweilt?« »So ist es.« »Und wenn ich mich weigere?« »Das wirst du nicht tun.« Algorian schnappte nach Luft. »Was meinst du damit, das werde ich nicht tun?« Cloud gab keine Antwort. Er starrte angestrengt über die Reling, versuchte irgendeine Information von seinem Anzugcomputer zu erhalten, gab ein Peilsignal ab und durchforstete sämtliche Funkfrequenzen. Algorian fing an, auf- und abzugehen, um seinen Ärger zu bezähmen. Er lauschte mit seinem telepathischen Sinn hinaus, aber auch auf Psi-Ebene herrschte Stille. Er tastete den schmalen Steg und die Wand ab, doch hier wie überall war nirgends eine Nut oder eine sonstige Unregelmäßigkeit zu entdecken. »Geh nicht zu weit!«, erklang plötzlich Clouds Stimme hinter seinem Rücken. »Du bist schon fast aus meinem Sichtbereich.« Algorian drehte sich um. »Komisch, ich sehe dich ganz deutlich. Meine Augen scheinen hier von größerem Nutzen zu sein als deine.« »Was sagst du?«, rief Cloud. »Ich höre dich kaum noch, sprich lauter! Und komm verdammt noch mal zurück, ich kann dich nur noch ganz schwach erkennen!« »Aber hier bin ich doch!«, rief Algorian genervt. Er winkte mit ei-
nem Arm. »Siehst du, was ich mache?« »Algorian, melde dich! Wo bist du? Ich habe nur noch Rauschen im Empfänger!« Clouds Stimme klang zusehends hektischer. Algorian, der ihn ganz deutlich hörte, suchte nach einer anderen Frequenz, und probierte es erneut. »John? Ich komme jetzt zurück. Keine Sorge, es können nicht mehr als fünf Meter sein. Vielleicht bist du übermüdet! Ich glaube, es ist doch besser, wenn ich nach einem Weg suche, und du bleibst hier.« Er ging auf Cloud zu, zählte in Gedanken die Schritte. Er wusste, er hatte sich nur wenige Meter entfernt, keinesfalls aus dem Sichtbereich. Doch nach zehn Schritten hatte er Cloud immer noch nicht erreicht. Seltsam. Er sah den Kommandanten weiterhin ganz deutlich und hörte seine Stimme, in der jetzt fast schon Verzweiflung schwang, im Empfänger. Aber er kam irgendwie nicht näher. Algorian beschleunigte seinen Schritt. Zuletzt rannte er. Die geringe Schwerkraft ausnutzend, machte er große Sätze. Es konnte nicht so weit sein! Er hätte Cloud schon mehrmals umrennen müssen, gar keine Frage! Doch Cloud verharrte stets in derselben Entfernung, klar und deutlich sichtbar. Aber unerreichbar. »John!«, rief Algorian beunruhigt. »Irgendwas stimmt nicht, ich komme einfach nicht bei dir an! Hörst du mich? Bitte antworte, allmählich wird mir das unheimlich! John!« Der Aorii versuchte es auf allen Frequenzen. Keine Chance. »Ich habe ihn verloren«, musste er sich resigniert eingestehen. Wahrscheinlich war der John Cloud, den er sah, nur ein trügerisches Abbild, eine Spiegelung … oder was auch immer. Jedenfalls war die Funkverbindung inzwischen abgerissen. Er war jetzt ganz allein.
Jarvis erlebte einen rasanten Flug »nach unten« – obwohl es innerhalb dieser riesigen Hohlkugel eigentlich kein Oben und Unten gab, denn es sah in allen Richtungen völlig gleich aus. Bisher konnte er
sich lediglich an der Schwerkraft orientieren, doch auch was das anging war er sich nicht mehr ganz sicher. Es gab kein Anzeichen dafür, dass der mechanische Vogel seinen uneingeladenen Passagier bemerkte. Er versuchte nicht, ihn abzuschütteln, und kreischte auch nicht mehr. Mit halb angelegten Flügeln sauste er durch den Dunst der Hohlkugel. Hin und wieder drehte er sich. Dann flog er Schrauben ziehend weiter, sodass Jarvis bald jegliche Orientierung verlor und wirklich nicht mehr wusste, wo oben oder unten war. »John? Kannst du mich noch hören?« Keine Antwort. Das hätte er sich auch denken können. Das war eine Schnapsidee, dachte er niedergeschlagen. So finde ich den Weg nie mehr zurück, und ich kann den anderen auch nicht mitteilen, was ich entdecke. Falls ich etwas entdecke. Seltsam, wie weit der Vogel flog, obwohl er doch immer so schnell aufgetaucht war. Wie viel Zeit mochte inzwischen verstrichen sein? Jarvis hielt im Geiste die Luft an – eine menschliche Regung –, als es plötzlich in einen Schacht hineinging. Er hatte überhaupt nicht gesehen, dass sie sich diesem Schacht genähert hatten. Er war auf einmal da, und der Vogel sauste mit angelegten Flügeln hinein. Jarvis sah ein gewaltiges Geflecht aus Rohren von dickem bis dünnem Durchmesser um sich herum, das eine gute Durchsicht gestattete – und sich unendlich hinzuziehen schien. Weiter ging der rasante Flug, an Abzweigungen vorbei, links und rechts, jedes Mal um Haaresbreite abgebogen, ohne irgendwo hängen zu bleiben. Es nahm kein Ende. Jarvis vermutete, dass es so noch eine ganze Weile weitergehen würde. Sicher, er hatte nichts Besseres zu tun, aber er war nicht mehr so sicher, ob das mechanische Ding jemals irgendwo ankam. Vielleicht flog es, ähnlich wie ein Albatros, der fast sein ganzes Leben über dem Meer dahinzog, durch seine Welt, auf der ständigen Suche nach Abfall, sonst aber ohne weiteres Ziel, ohne zusätzlichen Sinn und Zweck. An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, ließ Jarvis kurz entschlossen los und packte eines der Rohre und schlang seine Hände darum herum, um nicht vom Schwung mitgerissen zu wer-
den. Der Metallvogel flog, ohne zu verlangsamen, weiter und war bald in dem Röhrenlabyrinth verschwunden. Jarvis' Nanokörper, der noch mitten in der Beschleunigung war, wurde in die Länge gedehnt und dann zusammengepresst, bis er endlich zur Ruhe kam. Automatisch nahm er wieder menschliche Form an, seine Hände umklammerten weiterhin das Rohr. Die Füße suchten und fanden weiter unten Halt. »So«, sagte Jarvis über den Stimmverstärker laut. »Hier bin ich also. Kann mich jemand hören?« Er lauschte eine Weile, doch es kam keine Antwort. Hier war es genauso still wie »oben« auf der Galerie, oder in welche Richtung auch immer Cloud und Algorian zu suchen waren. Jarvis verstärkte über den Modulator die Stimme so laut er konnte – das brachte schon einige Dezibel hervor, die normalerweise sehr weit getragen hätten, selbst in der dünnen Atmosphäre. »KANN MICH JEMAND HÖREN?« Seine Stimme verhallte – nein, das war nicht richtig beschrieben. Sie ging einfach unter, wurde verschluckt wie alles. Es gab kein Echo. Und Jarvis bezweifelte, dass seine Stimme über die übliche Grenze, die auch eine Sicht gestattete, hinausging. Über allem lag der Dunst, der nichts hindurch, nichts aus sich herausließ – wie ein Schwarzes Loch, dachte Jarvis in einem Anfall von Galgenhumor. Irgendwie befanden sie sich also doch darin. Vielleicht hatte Fontarayn gelogen, sie waren gar nicht hinter den Ereignishorizont geflogen und weg von der gewaltigen Sogkraft des Black Hole … sondern steckten wahrscheinlich mitten drin in der Todesspirale. Vermutlich würden sie bald endgültig hinabgezerrt und verschluckt werden, um im Zentrum gespalten, zusammengepresst und zerquetscht zu werden, bis nicht einmal mehr kleinste Teile übrig blieben, gar nichts mehr außer dem Nichts der Finsternis. Dies hier war etwas anderes als das künstlich geschaffene Schwarze Loch des ehemaligen Jupiterplaneten, das als funktionierendes Transportmedium diente, als Beginn einer dauerhaft stabilisierten Wurmlochpassage. Es war mit der fortgeschrittenen Technik der Jay'nac kontrollierbar und blieb durch seine relativ geringe Größe
»erfassbar«. Das Zentrums-Black Hole hingegen besaß ganz besondere Eigenschaften und bestand seit Jahrmilliarden. Spekulationen, ob man durch dieses Schwarze Loch fliegen konnte, auf eine andere Seite, waren müßig. Selbst Fontarayn hielt dies für ausgeschlossen. »Romantische Vorstellungen«, murmelte Jarvis. »Was hofften wir dort auch zu finden? Wir sind jetzt immer noch auf unserer Seite und können trotzdem nicht begreifen, was hier mit uns geschieht.« Er rief noch einmal, obwohl es aussichtslos war. Aber Jarvis war immer noch ein Mensch in diesem anorganischen Körper, der ehemaligen Rüstung des Foronen Mont aus dem Septemvirat. Mont hatte den Anzug einst getragen, doch selbst dieser leistungsfähige Schutzpanzer hatte den Hohen Hirten nicht vor dem Tod bewahren können. Durch seine Zuneigung zu Siroona, Sobeks Gefährtin, hatte Mont sein Todesurteil unterschrieben. Sobek duldete keine Rivalen, und er sah sich als der Oberste des Septemvirats an. Wo mochte Sobek jetzt sein? Jarvis vermisste den kaltschnäuzigen arroganten Foronen nicht im Geringsten. Aber jede Auseinandersetzung mit Sobek wäre ihm jetzt lieber gewesen als dies hier. Gewiss, es war noch nicht lange her, als sie unfreiwillig eine ähnlich irrationale Reise in das »andere Universum« unternommen hatten. Doch das war ein Paralleluniversum gewesen, es herrschten dieselben Gesetze, nur die Tatsachen hatten sich etwas verschoben. In jenem Universum hatte Mont noch gelebt und die Macht innegehabt, und das Restbewusstsein von Diesseits-Mont, das immer noch in der Nanorüstung existierte, hatte die Chance erhalten, sich an Sobek zu rächen. Aber Mont hatte stattdessen Cloud und seinen Gefährten zur Flucht zurück ins »eigene« Universum verholfen und war dabei endgültig ums Leben gekommen.* Das Paralleluniversum war nicht so fremd gewesen wie dieser Ort hier. Wobei Jarvis als Ort nur die Chardhin-Perle bezeichnete, nicht das Medium, in das sie gebettet war. Es gab keine passende Definition für die Sphäre selbst. Jarvis hatte schon eine Menge Abenteuer und vor allem Gefahren *siehe Bad Earth Heft 41: »Das falsche Universum«
erlebt. Das Beunruhigende hier war aber, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte. Er fand nur nicht mehr zurück. Und er wusste nicht, wohin er sich wenden konnte. Mörderische Kreaturen, technisch überlegene Intelligenzen, Raumschlachten, Kämpfe »Mann gegen Mann«, alles hatte Jarvis kennen gelernt, und in seiner neuen Gestalt musste er kaum mehr etwas fürchten. Dass auch er nicht unverletzlich war, wusste er inzwischen. Angefangen hatte es mit dem Korallenwald auf der verborgenen Welt der Saskanen. Ein Ast hatte Jarvis verletzt, obwohl das unmöglich erschien. Er hatte sich schwach, unbeholfen und müde gefühlt. Doch das war ausgestanden, seine Rüstung war gereinigt und von allen Rückständen des Schwingquarzes befreit. Trotzdem war er jetzt hilflos. Nicht einmal in einem Gefängnis hätte er sich verlorener und einsamer fühlen können als hier. Ein Gefängnis hatte Wände, die man vielleicht überwinden konnte. Doch hier gab es nicht einmal die. Nur schier endlose Weite, ohne Aussicht, irgendwo ein Ziel anpeilen zu können. Oder seine Freunde wiederzufinden. Ich kann aber auch nicht ewig hier verharren, dachte Jarvis. Ich muss mich irgendwohin bewegen. Wir haben die Kugel ausgemessen, wir wissen, dass sie irgendwo endet. Also muss ich nur in eine bestimmte Richtung gehen und sie beibehalten, dann erreiche ich irgendwann die Innenseite der Außenhülle und kann durchsickern. Dann werde ich zusammen mit Scob nach einem Weg suchen, die anderen zu lokalisieren. Oder ich versuche es doch mit der Kapsel. Er veränderte die Struktur seines Körpers so, dass er behände wie ein Affe durch das Rohrgeflecht klettern und sich voranhangeln konnte. Um die Richtung zu bestimmen, entschied er sich für Farbmarkierungen, die er auf dem Weg hinterlassen wollte. Dann wusste er zumindest, dass er nicht im Kreis herumirrte. Trotz der unterschiedlichen Größe der Rohre sah alles gleich aus. Es gab schmale und breite Durchgänge, auch verschiedenfarbige Röhren. Jarvis versuchte ein System darin zu erkennen. Irgendetwas, wor-
an er sich orientieren konnte. Wenn er beispielsweise nur den orangefarbenen Rohren folgte, wie weit er damit kam. Seinem Zeitgefühl nach hätte er das Ende des Rohrlabyrinths in etwa einer Stunde erreichen müssen, da er ja sehr viel langsamer als der Vogel war. Zumindest wenn er die richtige Richtung einschlug. Es konnte auch sein, dass er sich immer tiefer hinein verirrte. Doch auch dann musste es irgendwann ein Ende nehmen. Es würde nur etwas länger dauern. Jarvis ging im Geiste noch einmal die Flugroute durch. Als gentechnisch veränderter, in vitro gezeugter und herangewachsener Klon verfügte er über bessere Sinne und ein besseres Gedächtnis als ein »normaler« Mensch. Schon in seinem Körper aus Fleisch und Blut war er körperlich den meisten anderen Menschen überlegen gewesen. Doch so vieles hatte ihn von den »Normalen« getrennt. Er besaß nur eingepflanzte Erinnerungen, denn sein Körper war innerhalb von zwei Jahren zu einem erwachsenen Mann herangereift, mit dem Wissen und Bewusstsein eines über Zwanzigjährigen. Sesha hatte ihm das Angebot gemacht, seinen Körper noch einmal zu klonen, aus dem vorhandenen genetischen Material seines Leichnams, der auf dem Friedhof der RUBIKON ruhte. Er wäre wieder ein Mensch gewesen, hätte atmen und weinen können, schmecken, riechen, fühlen, essen, und ja, auch Schmerz empfinden. Doch das Risiko war zu groß gewesen, denn in seine Klongene waren bereits die Erinnerungen eingepflanzt, ein Bewusstsein, das gleichzeitig mit dem neuen Körper herangereift wäre, und das Jarvis mit seinem neuen Körper hätte teilen müssen. Er hätte zweimal existiert, und das war für ihn unvorstellbar, auch in moralischer Hinsicht. Ihm genügte schon die Zeit, als er den Nanokörper mit Mont hatte teilen müssen, Er war froh, jetzt »ganz allein« zu sein. Diese ehemalige Rüstung unterstützt mich auch besser, als es mein organischer Körper je könnte, rechtfertigte Jarvis seine Entscheidung vor sich selbst. Ich kann höhere Risiken eingehen und größere Aufgaben bewältigen. Vielleicht ist es wirklich besser so.
Jetzt zum Beispiel vermochte er geschickt wie ein Baumbewohner in den Rohren herumzuklettern und auf diese Weise schnell und effizient voranzukommen. Um den zurückgelegten Weg zu beobachten, brauchte er sich nicht umzudrehen. Die Nanopartikel der Rüstung vermittelten ihm an jeder Stelle des Körpers alle Sinneseindrücke, die er brauchte. Wenn er in menschlicher Form herumlief, konnten seine Füße sehen, wohin sie traten. Und hier … seine Hände fühlten das poröse Material, sahen zugleich, wohin sie griffen, erkannten unterschiedliche Strukturen. Er konnte gar nicht danebengreifen, auch wenn er sich mit dem Geist nicht richtig konzentrierte – die Nanopartikel wussten, was sie zu tun hatten. Sein fotografisches Gedächtnis hatte sich jedes Bild auf dem Flug durch das Labyrinth eingeprägt. Er rief diese Sequenzen nun nacheinander ab, blendete sie vor seinem »inneren Auge« ein, und suchte nach Anhaltspunkten. Es gab keine. Auch wenn es unterschiedliche Lücken gab, verschiedenfarbige Rohre, unterschiedliche Größen in Dicke und Länge – es gab kein System, in dem alles wiederkehrte. Es war einfach alles genau gleich, auch wenn es unterschiedlich war. Paradox? Nun, das war diese ganze Ebene. Und Jarvis entdeckte, nachdem er den orangenen Rohren eine Weile gefolgt war, seine eigenen Markierungen wieder. Auch ein zweites Mal, nachdem er die Abzweigungen anderer orangenfarbener Rohre genommen hatte. Und ein drittes Mal, als er sich zum »über Kopf«-Klettern entschied, um die Orientierung zu behalten. So funktionierte es also auch nicht. Er musste die Markierungen anders setzen. Irgendwie … diagonal, wenn man das so sagen konnte. Dann behielt er vielleicht eine Richtung bei und fand aus dem Labyrinth. Jarvis kletterte und kletterte. Unermüdlich. Seine Rüstung konnte nicht erschöpfen, nicht schwitzen, nicht in Atemnot geraten. Sie kletterte auch weiter, als der Klon-Geist immer wieder abschweifte, er-
mattet ob des ewigen Gewirrs aus Rohren, behielt sie die korrekte Richtung bei, hinterließ Markierungen. Das eigene Zeitgefühl war längst verloren gegangen. Mal sehen, ob ich diesen Körper auf die Probe stellen kann, ob er wirklich unsterblich ist, dachte Jarvis freudlos. Aber wahrscheinlich ist mein Geist vorher längst wahnsinnig geworden. Ausdauer war ebenfalls eine herausragende Eigenschaft der Klone. Fluch und Vorteil zugleich, wie Jarvis jetzt feststellte. Weiter, dachte er, immer nur weiter, irgendwann muss es zum Ende kommen. Ich glaube nicht, dass ich mich immer im Kreis bewege. Und ich weiß, dass die Hohlkugel nicht vollends mit diesem Labyrinth gefüllt ist. Ich schaffe es. Ich muss es schaffen, ich muss … an die anderen denken! Doch es war so schwer … In diesem Moment hörte Jarvis den Schrei des mechanischen Vogels.
Unwillkürlich ruckte sein Kopf herum, eine menschliche Gewohnheit. Da sah er ihn, in dem verwirrenden Netzwerk, er sauste in gewohnter Geschwindigkeit hindurch. Jarvis war wiederum froh um seine Nanosinne, mit deren Hilfe er dem Flug folgen konnte; mit menschlichen Augen hätte er Probleme gehabt. Und nicht nur das, er konnte auch ungefähr die Flugbahn voraussehen! Endlich ein Hoffnungsschimmer! Jarvis setzte all sein Können ein, hetzte wieselflink durch das Röhrengeflecht, ein besonderes Ziel im Auge, eine Stelle, an der er auf den Vogel treffen konnte, wenn er sich nicht verkalkuliert hatte. Der ehemalige Klon gab alles und setzte alles auf eine Karte. Es musste gelingen. Musste! Da sah er schon den dunklen Schatten heransausen! Wie es aussah, stimmte die Kursberechnung. Wenigstens ein Silberstreif am Horizont, so golden-dämmrig er auch erscheinen mochte. Schier in der letzten Sekunde sprang Jarvis von einem Rohr ab, machte sich lang und schmal und jagte, von seinem Schwung getragen, durch eine enge Lücke … erwischte um Haaresbreite die Flü-
gelspitze. Seine Finger sogen sich fest, die Nanopartikel verschmolzen förmlich mit dem Metall. Jarvis zerfloss, glitt über den Flügel weiter Richtung Kopf und nahm erst dort wieder Gestalt an. Er presste sich rittlings an das mechanische Wesen und war fast geneigt, diesmal den Flug zu genießen. Er kam ihm auch viel kürzer vor. Im Geiste jubelnd sah Jarvis das Ende des Labyrinths vor … und dann gleich wieder hinter sich. Es ging durch den Leerraum der Hohlkugel einem neuen Ziel entgegen. Als der Vogel wieder schrie und den Schnabel öffnete, sah Jarvis seine Chance gekommen. Undeutlich durch den Dunst wurde ein vertrautes mattgoldenes Geländer sichtbar. Er zögerte keine Sekunde, streckte den Arm aus, so weit er ihn strecken musste – zwei, vielleicht auch drei Meter lang –, bis er fast selbst nur noch ein Arm war, bis zur Grenze des Möglichen gedehnt. Zwei lange dünne Finger bekamen das Geländer zu fassen, griffen zu, und der restliche Arm-Körper löste sich von dem Vogel. Ein flugs gebildeter zweiter Arm verstärkte den Griff, und Jarvis schwang sich in seiner gewohnten Gestalt über die Reling. »Ich habe gehofft, dass es funktionieren würde«, erklang Algorians vertraute Stimme.
Algorian hatte sich wohl oder übel damit abfinden müssen, auf sich allein gestellt zu sein. Aber was konnte er schon groß unternehmen? Er ging eine Weile über die Galerie, ohne dass sich etwas veränderte. Keine Tür, kein Schott, keine Abzweigung. Es ist zum Verrücktwerden!, dachte sich der Aorii. Immerhin war das Geisterbild von John Cloud endlich verschwunden. Den Freund zu sehen und nicht erreichen zu können, grenzte fast an Folter! Was wird er jetzt tun, da er genauso allein ist wie ich? Was würde er von mir erwarten? Cloud hatte zuvor deutlich gemacht, dass Algorian auf Jarvis zu warten habe. Das bedeutete wohl, dass er nunmehr ausharren muss-
te, um irgendwann beide abzupassen. Aber wenn dieser diffuse Dunst für Verschiebungen sorgte, auf zeitlicher oder dimensionaler Ebene, konnten sie alle an derselben Stelle stehen und würden einander unter Umständen doch nicht sehen! Hier ist nichts, wie es scheint. Vielleicht eine groß angelegte Falle, aber wozu und für wen? Was hat Fontarayn hier so Wichtiges zu tun? Viele Spekulationen, die müßig waren, aber Algorian hatte im Grunde genommen sehr viel Zeit. Er hatte keine Ahnung, wie er jemals wieder zur RUBIKON zurückkehren oder die anderen finden sollte. Vielleicht war es sein Schicksal, bis ans Ende aller Tage die Galerie endangzustreifen und nach dem Ausgang zu suchen. So wie die anderen und wie vermutlich jeder, der sich jemals hierher verirrte. Da übersteht man solche Gefahren, schafft es in diese unglaubliche Zone, und dann scheitert man letztendlich doch. Was für eine Ironie! So endet das Abenteuer schneller als geplant. Schade. Ich hätte mir mehr erwartet, da ich ohnehin nicht mehr nach Hause zurückkehren kann. Was außer dem Tod würde mich dort erwarten? Ja, ich weiß, der Tod erwartet einen überall. Ich stelle es gerade fest, denn bald werde ich hier an Langeweile sterben. Schließlich entschloss er sich zum Handeln. Es ging ihm immer noch nicht in den Kopf, wieso die Schwerkraft keine Wirkung auf die beiden in die Luft geworfenen Metallstücke gehabt hatte. Ein kühner Gedanke breitete sich in Algorian aus. Was konnte ihm schon großartig passieren? Dass er vorzeitig zu Tode stürzte? Er konnte sich schließlich nicht ewig verkriechen und darauf warten, dass ihm andere aus der Patsche halfen. Algorian schwang sich über das Geländer und versuchte, sich auf die Unterseite des Stegs zu stellen. Normalerweise eine Unmöglichkeit. Und deswegen funktionierte es genau hier. Die Schwerkraft wirkte von allen Seiten gleichermaßen ein! Der Aorii stieß ein trockenes Lachen aus, als er kopfunter den Steg entlangging. Nach einer Weile häufigen Augenblinzelns hatte er
sich so daran gewöhnt, dass die Perspektive sich verschob und er das Gefühl hatte, oben zu sein und aufrecht zu gehen. Das war der Moment, als Algorian sich wieder zurückschwang, er wollte nicht noch mehr an Orientierung verlieren. Aber er gönnte sich den Spaß, sich seitlich an die Wand zu stellen und horizontal entlangzugehen. Eine ganz neue Erfahrung, die er unbedingt auskosten wollte. Als sich auch hier die Perspektive verschob, kehrte er auf den Steg zurück. Was für ein verrücktes Gebilde! Hier gelten wirklich keine der bekannten Naturgesetze mehr. Kurz entschlossen stieg Algorian die Wand senkrecht empor. Von oben waren sie gekommen, also konnte die Außenhülle nicht weit entfernt sein. Doch schon nach wenigen Metern erfasste ihn Unruhe. Der Steg unter ihm war noch sichtbar, aber wenn es genauso wie bei Cloud wäre? Dann hatte er überhaupt keine Orientierung, keinen Haltepunkt mehr, sondern sich gänzlich in dem goldenen diffusen Dunst verlaufen! Die Lichtstärke war überall gleich, von woher die Beleuchtung kam, blieb unergründlich. Die Decke war nicht zu sehen, es war keine Krümmung zu erkennen, da war einfach nichts über ihm. Und wie sollte Algorian es auch anstellen, wieder hinauszukommen? Ihre Versuche mit Blasterbeschuss und dergleichen hatten nichts gebracht. Er konnte nicht wie Jarvis durch das Material hindurchfließen. Algorian stapfte zurück zur Reling und war erleichtert, dass er sie tatsächlich fand. Durch seine Spielereien wusste er nicht mehr, wie weit er von der ursprünglichen Landestelle entfernt war. Aber es konnte nicht allzu weit sein. Natürlich war niemand sonst da. John Cloud war fort und fand Algorian offensichtlich nicht wieder. Aber irgendwo da draußen war noch Jarvis. Wenn wenigstens er den Weg zurück fände, könnten sie gemeinsam überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten.
Algorian vermutete, dass der ehemalige Klon genau dieselben Schwierigkeiten mit dem Rückweg hatte. Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, ihn trotzdem hierher zu bringen. Er musste lange in seinen Taschen suchen, aber schließlich fand er doch noch ein letztes Metallrestchen, das er kurzerhand ins Nichts hinausschleuderte. Und schon kurze Zeit später hörte er den Schrei des Entsorgers.
»Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte Algorian erleichtert. »Geht mir ebenso«, stimmte Jarvis zu. »Das war eine hervorragende Idee, denn ich hätte sonst nie mehr aus dem Labyrinth zurückgefunden.« Sie berichteten einander gegenseitig, was sie erlebt hatten. Zuletzt fragte Jarvis: »Und von Cloud die ganze Zeit keine Spur mehr?« »Nichts. Der Dunst hat ihn verschluckt. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihn finden sollen.« Der ehemalige Klon überlegte. »Vielleicht gibt es tatsächlich nur eine einzige Lösung«, meinte er schließlich. »Ich kehre auf die Außenhüile zurück und setze mich mit Scobee in Verbindung. Vielleicht sollten wir es doch mit der Kapsel versuchen.« »Aber wie willst du nach draußen kommen? Ich habe nach der Wandung oben gesucht, aber nichts gefunden.« »Ich versuche es gleich von hier aus, an dieser Wand.« »Du musst mich mitnehmen, Jarvis, sonst findest du mich nicht mehr, und ich bleibe keine Sekunde länger hier allein!« »Ich versuche es. Aber versprechen kann ich nichts.« »Komm schon, du hast Boreguir in deinem Bauch getragen, da falle ich doch gar nicht weiter auf.« Jarvis grinste mit seinem künstlich ausgebildeten Mund. »In kurzer Zeit zweimal schwanger … hoffentlich finde ich jemals wieder zu meiner guten Figur zurück!« »Du bist der Ansicht, deine Figur ist gut?«, fragte Algorian erstaunt. »Das war ein Witz, Freund.« »Ah. Menschenwitz. Verstehe. Von mir übrigens auch. Haha.«
Jarvis stülpte seine Körpermitte aus. »Rein mit dir. Aber es wird dir nicht gefallen.« »Es hat mir beim ersten Mal schon nicht gefallen«, versetzte Algorian. Er faltete sich zu einer Kugel zusammen, machte sich so klein wie möglich. »Ich habe Angst, dass dir gleich sämtliche Knochen brechen, wenn du so weitermachst«, bemerkte Jarvis. »Aorii halten eine Menge aus, mein Freund, unterschätze mich nicht.« Algorians Stimme klang leicht gequetscht. »Aber noch mehr geht nicht.« »So passt es.« Jarvis floss um den Aorii herum, die Nanopartikel verteilten sich über seinen ganzen Körper und schlossen sich über ihm. Jarvis sah nun aus, als hätte er allerhand an Übergewicht zugelegt. Seinen Bewegungsablauf beeinträchtigte es kaum. Jarvis lehnte sich an die Wand, entspannte sich und versuchte Kontakt aufzunehmen. Die Nanosinneszellen übernahmen die Führung. Was genau da geschah, konnte Jarvis nicht sagen. Er wusste nur, dass sein Nanokörper mit der Hülle der Perle auf irgendeine Weise kommunizierte. Er dachte an den Weg nach draußen … und dann spürte er, wie sich etwas veränderte, wie er sich auflöste, zerfloss, durch die Wand drang, wie bei einer Osmose. Es wurde neblig-trüb und dann wieder klar. Jarvis öffnete seinen Leib und gab Algorian frei. »Wir sind durch«, verkündete er. Der Aorii rappelte sich ächzend und stöhnend auf, rieb seine Gelenke und erhob sich. »Es ist fast ein tröstlicher Anblick!«, stellte er fest. Sie standen auf der Außenhülle der Perle Chardhin, und um sie her waberten nun schon fast vertraut die farbigen Schlieren und Schleier, fantastische, sich permanent verändernde Formen und die exotischen Fraktalgebilde, die scheinbar sinnlos durch den Raum schwebten. Algorian blickte sich um. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so weit von unserem Eintrittspunkt entfernt haben.«
»Das haben wir auch nicht.« Jarvis deutete auf einen Fleck in etwa zwanzig Metern Entfernung. Sie gingen darauf zu und identifizierten eine Markierung, die Cloud in regelmäßigen Abständen per Haftmagnet auf der Hülle angebracht hatte, nachdem sie aus der RUBIKON hierher geflogen und gelandet waren. »Es ist Markierung Nummer Drei, die letzte, die John meines Wissens nach angebracht hatte, bevor ich das erste Mal diffundierte.« »Ja, ich glaube auch«, stimmte Algorian zu. »Dann müssen wir uns etwas links halten, um die nächste Markierung zu finden. Sie dürfte höchstens fünfzig Meter entfernt sein. Und von dort aus gelangen wir zur ersten, dann ist es nicht mehr weit zu den Andockklammern.« Sie stapften die Oberfläche entlang und entdeckten bald darauf tatsächlich die zweite Markierung und etwas später dann die erste. Jarvis blieb so abrupt stehen, dass Algorian beinahe in ihn hineingerannt wäre. »Was ist jetzt wieder?« »Fällt es dir nicht auf?«, sagte Jarvis mit veränderter Stimme. Sein Voicemodulator konnte Gemütsschwankungen erkennen und den Ton entsprechend anpassen. Etwas, das den ehemaligen Klon lebendiger erscheinen ließ und wofür er sehr dankbar war. Algorian sah sich um. »Mhmmm«, machte er. »Ja, irgendetwas fehlt.« »Allerdings, mein Alter«, schnarrte Jarvis. »Die RUBIKON ist weg!«
7. Kapitel Scobee erlitt einen enormen Schrecken, als nacheinander erst Jarvis, dann John Cloud plötzlich verschwanden. Jarvis tauchte allerdings wenige Sekunden später wieder auf und funkte ihr kurz: »Alles in Ordnung, Scob, wir gehen jetzt rein. Leider werden wir keinen Funkkontakt mehr halten können.« Dann war er auch schon mit Algorian verschwunden. Tja, und nun?, dachte sie. Warten … bis wann? Bis wir alle zu Staub geworden sind, genauso tot und leer wie diese Perle dort draußen? Ist dies hier in Wirklichkeit ein Friedhof? Die Endstation, ohne Aussicht auf Rückkehr? Bevor er gegangen war, hatte Cloud der Schiffs-KI den Befehl erteilt, Scobee als seine Vertretung anzuerkennen. Sie sollte berechtigt sein, notfalls einen Start durchzuführen, die Waffen und den Schmiegschirm zu aktivieren. Vorausgesetzt natürlich, dass dies überhaupt möglich war. Scobee hatte es ausprobieren wollen, aber irgendetwas hatte Cloud davon Abstand nehmen lassen. »Tun wir nichts Unüberlegtes, das könnte uns ganz schnell zum Nachteil gereichen.« »Aber es wäre doch nur ein Systemcheck …« »Der interne Systemcheck hat ergeben, dass alles funktionsfähig ist, aber das bedeutet noch lange nicht, dass es auch funktionieren wird. Fontaravn hat zwar keine ausdrückliche Warnung ausgesprochen, aber er wird seine Gründe haben, weswegen er den Schirm abschaltete und die Systeme nicht auf Alarmbereitschaft setzte.« Scobee hob eine ihrer tätowierten Brauen. »Er geht nicht davon aus, dass uns hier Gefahr droht. Aber er hatte auch nicht vor zu verschwinden. Das ist gegen jede Vernunft, John.« »Trotzdem … wir wissen nicht, was es in diesem Kontinuum für Auswirkungen hat, Scob«, beharrte Cloud. »Erinnere dich, was passiert ist, als uns der Einsatz unserer Kontinuumwaffe beim Virgh-
stock in jenes Paralleluniversum versetzte! Das hatten wir so gewiss nicht beabsichtigt.« Scobee zögerte. Cloud fuhr fort: »Ein Fehler kann eine Kettenreaktion auslösen. Ich habe auf der Reise hierher festgestellt, dass es besser ist, sich passiv zu verhalten und zuerst abzuwarten, bevor wir reagieren.« »Aber in die Perle eindringen zu wollen, kann man kaum als Passivität auslegen«, widersprach sie ungeduldig. »Keine Aktivierung, keine energetische Aktivität«, wiederholte Cloud, ohne darauf einzugehen. »Solange es nicht unbedingt notwendig wird. Sesha, hast du das verstanden?« »Ja, Kommandant. Aber ich werde nicht ohne dich abfliegen.« »Das kommt darauf an. Deine Aufgabe ist es, die Lebewesen hier an Bord zu schützen, und jemand muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen – in diesem Fall Scobee. Du kannst die Steuerung nicht allein übernehmen, da du nicht über ausreichende Intuition verfügst.« »Ich werde deinem Befehl Folge leisten, John Cloud«, sagte die Schiffs-KI. »Aber ich erkenne Scobee nicht als Kommandantin an. Wenn ihre Entscheidungen nicht der Logik folgen, kann ich das Risiko nicht eingehen.« »Sesha, hier in diesem Kontinuum ist nichts von Logik geprägt, das sollte dir aufgefallen sein.« Cloud wandte sich der GenTec zu. »Ihr werdet schon irgendwie miteinander auskommen.« Scobee hatte also in einem der sieben Kommandositze Platz genommen und konnte seither das Geschehen über die Holosäule verfolgen. Gleichzeitig ließ sie sich regelmäßig das Befinden der übrigen Crew und der Passagiere einblenden, damit nicht auch noch innerhalb des Schiffes das Chaos ausbrach. Niemand wusste, welche Auswirkungen diese Dimension auf Organismen hatte. Alles war möglich. Und nun waren John und die beiden anderen verschwunden. Es gab keine Funkverbindung mehr zu ihnen. Das machte das Warten am schlimmsten: nicht zu wissen, was mit den Gefährten passierte. Sie konnten in Gefahr sein, gefangen oder tot – es gab keine Mög-
lichkeit, dies festzustellen. Was konnten sie tun? »Sesha, haben wir wirklich keine Ortungsmöglichkeit? Können wir überhaupt nicht ins Innere der Perle vordringen?« »Negativ«, bestätigte die Schiffs-KI zum wiederholten Mal. Cloud wäre bei dieser zum x-ten Mal gestellten Frage wahrscheinlich längst an die Decke gegangen, aber Sesha besaß keine Emotionen. In diesem Fall ein Glück. »Und eine Sonde?« »Würde an der Oberfläche zerschellen. Ich habe das Metall immer noch nicht analysieren können. Wir haben nichts an Bord, womit wir die Außenhülle bearbeiten könnten – außer durch intensiven Beschuss vielleicht. Aber wenn es eine ähnliche Struktur hat wie Fontarayns Kugelraumer, dürfte das sehr lange dauern … und würde womöglich in eine Katastrophe münden« »Ja, die Konsequenzen möchte ich mir lieber nicht vorstellen«, pflichtete Scobee bei. »Eine andere Frage: Bestünde überhaupt die Möglichkeit, die K-Waffe einzusetzen?« »Auch hier sind meine Berechnungen sehr ungenau. Ich kann die Wahrscheinlichkeit anhand der mir vorliegenden Informationen nur schätzen, und sie liegt bei unter dreißig Prozent.« Scobee hielt das sogar noch für zu hoch gegriffen. Sie vermutete, dass der Einsatz der ultimativen Bordwaffe nicht nur die Zerstörung der RUBIKON bedeutet hätte, sondern unter Umständen auch dieses Medium völlig außer Kontrolle bringen konnte. Die Auswirkungen waren – so nahe am Super Black Hole – schier unvorstellbar. Scobee schüttelte sich. Die unterschiedlichsten Untergangsszenarien spukten durch ihren Kopf, in den farbenprächtigsten Bildern. Ihre Fantasie erfand zahlreiche Möglichkeiten, wozu ein solcher Kollaps unter Umständen führen würde. Da hätten wir dann wirklich etwas vollbracht, das niemand jemals vergessen würde – vorausgesetzt, es ist dann noch jemand da, der darüber nachsinnen kann, dachte sie. »Aylea ruft dich«, sprach Sesha in Scobees Gedanken hinein. »Holo aktivieren«, sagte sie und lächelte das Mädchen an, sobald
es in Großaufnahme innerhalb der Säule erschien. »Aylea, was –« »Jelto ist komisch«, unterbrach Aylea. Sie wirkte blass und besorgt. Scobee hob fragend die Brauentattoos. »Komisch? Inwiefern?« »Er steht da, und – er merkt gar nicht mehr, dass ich da bin. Kannst du nicht kommen?« »Glaubst du wirklich, dass es so ernst ist?« Das Mädchen nickte. Scobee stand auf. »Gut. Ich komme sofort, Aylea. Wo bist du?« »Im Garten«, antwortete sie. »Sesha, erstatte sofort Meldung, wenn sich da draußen etwas tut«, ordnete Scobee an und machte sich auf den Weg zum hydroponischen Garten. Aylea war ein ernsthaftes Mädchen, das nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit Alarm schlug. Wenn sie sagte, dass etwas nicht stimmte, dann war es so. Aylea empfing Scobee gleich bei der Schleuse. »Komm, ich führe dich.« Scobee atmete unwillkürlich durch und verlangsamte ihren Schritt. Der Garten war wie eine kleine blühende Welt, beschienen von einer künstlichen Sonne, mit nach Kräutern und Blüten duftender, frischer feuchter Luft. Ganz anders als das sterile trockene und eintönige Bordklima. Man konnte zwischen Bäumen hindurchwandeln, über Wiesen spazieren, sich an der Blütenpracht von Büschen und kunstvoll angelegten Beeten erfreuen und sogar an einem kleinen Teich verweilen. Es half, die langen Reisen durchs All zu überstehen, erzeugte die Illusion, nicht eingesperrt zu sein in ein – wenn auch riesiges – Raumschiff, sondern auf einer Welt zu stehen, mit zartblauem Himmel und richtiger Atmosphäre. Eine Heimat, dachte Scobee. Wenn wir sonst schon nichts mehr haben. Hatte sie jemals darüber nachgedacht, ein »normales« Leben zu führen? Sich niederzulassen, eine Familie zu gründen? Vor zweihundert Jahren vielleicht. Doch seit dem Sprung in die Zukunft hatten sich solche Gedanken erübrigt, nicht einmal in einsa-
men Momenten hing sie ihnen nach. Scobee war kein »was wäre, wenn …«-Typ, sie hatte das Augenmerk stets auf das Hier und Jetzt gerichtet und hing keinen illusorischen Vorstellungen nach. Gewiss, manchmal überkam sie schon ein Verlangen. Sie war eine in-vitro, aber sie war auch jung und gesund, mit denselben Bedürfnissen wie jeder »normale« Mensch. Sie konnte sich durchaus vorstellen, sich einmal mit John Cloud einzulassen – eine flüchtige Liaison, schließlich waren beide erwachsen … oder auch mehr. Seine athletische Figur, zu der das markante Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen passte, sprachen sie an. Sie ihn umgekehrt wohl auch. Aber obwohl es nie zwischen ihnen zum Äußersten gekommen war, stellte sie sich manchmal vor, wie es wohl wäre, ihm ganz nahe zu sein, seine Haut auf ihrer Haut zu fühlen, seine Hände. Die Gedanken daran lösten auch jetzt ein warmes Kribbeln in ihr aus, vor allem, als sie an einem Moosbett vorübergingen, das weich und einladend aussah – der perfekte Platz für ein leidenschaftliches Intermezzo. Aber was dann?, fragte sie sich. Wie sollte es weitergehen? Wir fallen übereinander her … und das war's dann? Könnten wir danach noch unbefangen miteinander umgehen? Wir haben keine Möglichkeit, uns hier auszuweichen, wir müssen jeden Tag, jede Stunde miteinander auskommen. Was würde aus unserer Freundschaft? Scobee hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob sie Cloud lieben könnte. Sie waren stets ein gutes Team gewesen, und wenn sie ehrlich war, hatte es von Anfang an ein Knistern zwischen ihnen gegeben. Doch dann war sie zur Verräterin geworden. Scobee hatte an mehreren Prüfungen zu kauen: Zum einen war sie eine Matrix – ein Klon zwar, wie die anderen, aber zugleich auch die Vorlage für weitere Klone, was ihr einen besonderen Status verschaffte. Und dann war sie auch noch zur Verräterin an John und den anderen geworden, als sie den damaligen Geheimdienstchef Cronenberg zweihundert Jahre später aus dem Stasetank befreite. Genetisch bedingt musste sie dem verachtenswerten, nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten und machtgierigen Cronenberg aufs Wort gehorchen
– und ihm zugleich als seine Gespielin zu Willen sein. Was für ein schrecklicher Albtraum, dachte Scobee schaudernd ob dieser Erinnerung. Eine glückliche Fügung des Schicksals hatte sie aus Cronenbergs Machtbereich befreit, und Cloud wie auch die anderen hatten ihr verziehen. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen, und sie wusste, dass er ihr wieder rückhaltlos vertraute. Ihre Freundschaft war kurzzeitig bedroht gewesen, doch sie hatten diese Krise überwunden, und heute konnte sich jeder wieder blind auf den anderen verlassen. Aber würde es je darüber hinausgehen? Seltsam, dachte Scobee. So scharf ich manchmal auch auf ihn bin, als Vater meiner Kinder habe ich John nie gesehen. Und auch nicht als den Mann, mit dem ich jeden Morgen erwachen möchte. Ich schätze ihn als Freund und würde alles für ihn tun. Aber ich liebe ihn nicht. Und ich werde ihn wohl auch nie lieben, denn sonst wäre das in der Vergangenheit schon geschehen, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben. Und Cloud empfand wohl ebenso, denn auch er unternahm von sich aus nie einen Schritt über die Freundschaft hinaus. Kein Versuch, sie einmal verstohlen zu berühren oder vielleicht gar zu küssen. Ebenso wie Scobee stellte er seine natürlichen Bedürfnisse hintenan und hielt sie im Zaum, um ihr gutes harmonisches Verhältnis nicht zu gefährden. Ja, so wird es auch das Beste sein. Stellen wir uns einfach vor, dass wir das Zölibat freiwillig gewählt haben. Vielleicht wird es eines Tages einen Ausgleich geben. Aber zwischen John und mir soll alles so bleiben, wie es ist. Jemand packte sie am Arm und schüttelte sie heftig. »Scob! Fängst du auch noch an?« Scobee fuhr zusammen. Dann strich sie sich mit einer energischen Geste ihr violettschwarzes schulterlanges Haar zurück. Das träumerische Moosgrün ihrer Augen nahm einen härteren Glanz an. »Tut mir Leid, Aylea, ich war völlig in Gedanken.« »Das passiert die ganze Zeit, sobald jemand hier reinkommt!«, be-
schwerte sich das Mädchen. »Ich bin anscheinend die Einzige, die noch normal ist!« »Warum? Wer –« »Cy! Kurz bevor du gekommen bist, schlurfte er rein und an mir vorbei, ohne mich zu beachten … was er noch nie getan hat … und dann stellte er sich neben Jelto, schlug Wurzeln und rührt sich nun auch nicht mehr.« Scobee überlegte, ob das Mädchen immer noch mit seiner Eifersucht zu kämpfen hatte. Aylea war in der Idylle der paradiesischen Erde aufgewachsen, bis sie hinter ein Geheimnis kam, für das sie mundtot gemacht werden sollte. Ihre eigenen Eltern verrieten sie an die Behörden und ließen es zu, dass die Zehnjährige in das völlig isolierte »Getto des ehemaligen Peking« abgeschoben wurde. Von einer Minute zur anderen hatte das Mädchen, das nur Überfluss kannte, das völlig sorgenfrei und behütet aufgewachsen war, um sein Überleben kämpfen müssen und die negativen Seiten des glanzvollen Utopia kennen gelernt. Es musste damit fertig werden, völlig allein auf sich gestellt zu sein. Erst die Begegnung mit Jelto hatte sie etwas aus ihrer Zurückgezogenheit geholt, und die beiden verband eine innige Freundschaft. Doch inzwischen verstanden sich auch Cy und der Florenhüter sehr gut, was nicht von ungefähr kam – doch Aylea litt darunter. Es hatte sie sogar fast in den Selbstmord getrieben. Kein Wunder, womit dieses Kind fertig werden muss, dachte Scobee. Es ist für uns ja schon schwierig, selbst für GenTecs. »Siehst du?« Aylea zupfte erneut an ihrem Ärmel. »Du schweifst schon wieder ab …« »Stimmt«, sagte Scobee schuldbewusst. »Aber das ist auch kein Wunder, meinst du nicht? Wir haben in der letzten Zeit eine Menge erlebt. Nun sind John, Jarvis und Algorian verschwunden und wir zum Nichtstun verdammt. Ich trage die Verantwortung für euch … das ist schon ein Grund, ein bisschen nachzudenken.« »Ja … klar. Aber es ist einfach komisch, dass jeder, der hier reinkommt, sofort irgendwie in Trance fällt und einen ganz weggetretenen Eindruck macht. Kommst du jetzt endlich?«
»Ich reiße mich zusammen, versprochen.« Wenige Minuten später erreichten sie einen Platz, den Jelto zum Meditieren eingerichtet hatte. Es war zugleich ein Aussichtsplatz. Ein wie ein Fenster gestaltetes Holorama zeigte stets einen Ausschnitt des Alls – oder, in diesem Fall, dieses fremdartigen Kontinuums. Der Florenhüter stand davor, und Scobee musste Aylea Recht geben, er hatte tatsächlich einen völlig geistesabwesenden, wenn nicht sogar leicht geistesgestörten Gesichtsausdruck. Der junge Mann war genau wie Scobee ein Klon, aber zweihundert Jahre später geschaffen, mit einer von den Mastern/Jay'nac fast zur Perfektion weiterentwickelten Technologie. Anstatt für kriegerische Zwecke war Jelto dafür erschaffen worden, eine psionische Affinität zu Pflanzen zu entwickeln, ganz egal, von welchem Planeten sie stammten. Er konnte sich geradezu mit ihnen unterhalten. Diese Begabung merkte man dem zumeist stillen, zurückhaltenden jungen Mann nicht gleich an. Äußerlich auffällig allerdings waren seine intensiv grünen Augen – ähnlich wie in einem von der Sonne beschienenen Blätterwald – und seine »Kirlianhaut«, die ihn bisweilen von innen heraus wie mit einer leuchtenden Aura umgab. Je nach Konzentration leuchtete sie stärker oder schwächer. Im steril-technischen Einerlei der RUBIKON, außerhalb des Gartens, erlosch die Aura in der Regel fast völlig. Jetzt jedoch leuchtete Jelto beinahe wie eine grünlichgelbe Sonne. »Er sieht aus wie ein Schlafwandler«, stellte Scobee beunruhigt fest. Sie berührte Jelto sacht am Arm, doch er reagierte nicht. Auch als sie sich vor ihn stellte, ihn unverwandt anschaute, die Hand vor seinem Gesicht hin- und herbewegte, veränderte sich nichts. »Er benimmt sich auch so«, stellte Aylea fest. »Ich habe schon alles versucht, Scob. Das ist doch nicht normal, oder?« »Allerdings nicht.« Scobee bemühte sich, ihre Unruhe nicht zu deutlich zu zeigen. Neben Jelto kauerte Cy. Der Aurige ähnelte einem großen Busch mit vielen Knospen. Und auch er war eine Schöpfung der Jay'nac, herangewachsen wie jeder seines Volkes auf der Spore Auri. Doch
wie so viele hatte er sich gegen seine Schöpfer, die Anorganischen gestellt und sich zusammen mit Algorian dem Bund CLARON angeschlossen. Algorian und Cy verband eine ganz besondere Freundschaft, über die sie nie sprachen. Normalerweise waren sie unzertrennlich, außer wenn es auf Außeneinsätze ging, wie jetzt. Cy war zwar beweglich, aber bei weitem nicht so gewandt und schnell wie seine Gefährten. Jetzt schien es tatsächlich, als habe er Wurzeln geschlagen. Einige Knospen hatten Verfärbungen, die wie Blüten gezeichnet waren. Er verharrte völlig reglos und reagierte auf keinen Ruf, keine vorsichtige Berührung. »Was sehen die nur da draußen?«, flüsterte Aylea. »Ich kann es einfach nicht erkennen. Ich sehe immer nur geometrische Muster, diese Fraktale … und die Regenbogenschleier. Es sieht toll aus, passt aber irgendwie nicht zusammen. Es ergibt keine Formel …« Als erdgeborene Erinjij besaß Aylea einen sehr hohen Intelligenzquotienten. Komplizierte Berechnungen waren für sie kaum mehr als Fingerübungen, sie schüttelte Formeln aus dem Ärmel wie andere ihre Einkaufsliste. Sie ließ sich sogar auf Diskussionen mit Sesha ein und hatte sich natürlich die vergeblichen Analyseversuche der unbekannten Struktur der Perle Chardhin angeschaut. Allerdings war auch sie zu keinem Ergebnis gekommen, obwohl John Cloud durchaus auf ihre Intuition und ihren Status als Kind baute. Aylea ging an vieles unbedarft und arglos heran, weil sie noch nicht über den Erfahrungsschatz und die Entscheidungsfähigkeit eines Erwachsenen verfügte, trotz aller Abenteuer, die sie bereits erlebt hatte. Das lenkte sie allerdings auch weniger ab und ließ sie intensiver an ein Problem herangehen als viele andere. »Vielleicht habe ich ja auch einfach keine Fantasie mehr«, fuhr Aylea leise fort. »Keine Träume. Es ist … als ob ich immer noch durch den Gang laufe …« Scobee legte ihr einen Arm um die schmächtigen Schultern und drückte sie an sich. »Sei nicht so niedergeschlagen, Aylea, so kenne ich dich gar nicht. Hast du einen Albtraum gehabt, der dich so beschäftigt?«
»Ich wache gar nicht daraus auf«, erwiderte das Mädchen. »Seit wir hierher kamen. Ich weiß auch nicht, es ist alles so … gefühllos und kalt.« Scobee war jetzt ernsthaft besorgt. Anscheinend fingen alle an Bord an, Neurosen zu entwickeln. Das konnte nur an dem Kontinuum draußen liegen. Sie gehörten hier nicht her. Sie waren Fremdkörper, die besser dafür sorgen sollten, wieder in ihr eigentliches Universum zurückzukehren. Wenn es so weiterging, würden sie irgendwann durchdrehen. »Sesha, das Holorama löschen«, befahl sie, einem plötzlichen Einfall folgend. Der Fensterausschnitt erlosch, dahinter wurde ein großes Stück kahle Wand sichtbar, umkränzt von Blätterranken. »Was soll das bringen?«, fragte Aylea erstaunt. »Vielleicht nichts«, antwortete Scobee unbestimmt. Sie verharrte fünf geduldige Minuten. Aylea kauerte sich derweil auf den Boden und schob Kieselsteinchen herum, ordnete sie zu geometrischen Mustern an und verwarf sie wieder. Ihr Kopf ruckte hoch, als Jelto sich plötzlich bewegte. Der Florenhüter kam zu sich, wenn auch schleppend. Das gleißende Licht um ihn wurde schwächer, nahm die normale Helligkeit an, und er blinzelte Scobee erstaunt an. »Wo kommst du denn auf einmal her?« »Jelto!« Aylea sprang auf und umarmte ihren Freund überglücklich. »Endlich! Ich dachte schon, ich hätte dich verloren …« »Aber was …« Jelto erwiderte kurz die Umarmung und schob das Mädchen dann von sich. »Hör mal, wir haben doch vor nicht mal einer Minute miteinander gesprochen …« »Woran kannst du dich erinnern?«, fragte Scobee dazwischen. »Wieso?« Der Florenhüter fuhr sich verwirrt durch die langen Haare. »Ich bin mit Aylea hierher gegangen, wir haben uns unterhalten, und …« »Und?« »Nichts weiter! Dann hast du wie aus dem Boden gewachsen vor mir gestanden.«
»Du hast etwas gesehen«, half Aylea seiner Erinnerung auf die Sprünge. »Im Holofenster. Du sagtest: ›Sieh mal‹, und dann nichts mehr. Du hast dich überhaupt nicht mehr gerührt.« »Was für ein Unsinn«, bestritt Jelto die Tatsache. »Da war gar nichts zu sehen. Wie lange soll ich denn so herumgestanden sein?« Statt einer Antwort sagte Scobee: »Sesha, wie lange?« »Eine Stunde fünfundzwanzig Minuten. Soll ich eine Aufnahme einblenden?« »Ja, mach das.« Ein kleines Hologramm baute sich an der Wand auf, und Jelto sah sich selbst. »Ich sehe ja schön bescheuert aus«, kommentierte er. »Und dieses Leuchten ist auch nicht normal.« Beunruhigt sah er Scobee an. »Was ist da nur mit mir geschehen? Ich kann mich überhaupt nicht erinnern … nicht mal an einen Traum oder so …« Er unterbrach sich, als er ein Rascheln neben sich hörte. Cy bewegte sich plötzlich wieder und zirpte: »Algorian ist allein. Die Perle hat ihn verschluckt. Er wird nicht zurückkehren.« »Wie kommst du darauf?«, fragte Scobee entgeistert. »Ich habe es gesehen«, behauptete der Aurige. »Du kannst dich also erinnern? Was ist passiert, siehst du jetzt nichts mehr?« »Ich weiß es nicht. Ich wollte mit Jelto reden, dann sah ich es, aber es ist vorbei.« Scobee tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Sesha, bis auf weiteres bleibt das Fenster deaktiviert. Jelto, Aylea, ihr solltet vielleicht zu mir in die Zentrale kommen. Du auch, Cy. Wir treffen uns dort, ich sehe vorher noch bei Sarah und den anderen vorbei.«
Durch ein weiteres Schott und einen kurzen Gang erreichte Scobee die Unterkünfte der Passagiere. Von der Geschäftigkeit der vergangenen Stunden war nichts mehr zu merken. Die meisten Zirkusleute fläzten sich teilnahmslos im provisorischen Gemeinschaftsraum herum.
Scobee entdeckte Sarah Cuthbert und winkte sie zu sich. »Gibt es Probleme?« Die ehemalige Präsidentin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sind nur alle sehr müde. Kein Wunder nach all den Strapazen. Außerdem müssen sie noch damit zurechtkommen, viele Freunde und Angehörige verloren zu haben. Vergiss nicht, dass wir die letzen Überlebenden des Gettos sind.« Die beiden Frauen waren längst per Du miteinander, sie verstanden sich sehr gut und hatten keine Probleme, auf Förmlichkeiten zu verzichten. Die Vergangenheit zählte nicht mehr. »Wie könnte ich«, stieß Scobee hervor und ballte eine Hand zur Faust. »Reuben Cronenberg!« Sie spuckte den Namen aus. Er war das Synonym ihres Hasses, die Personifizierung allen Übels, das er über die Menschen brachte. »Es wundert mich nicht, dass er zum Handlanger und Opportunisten wurde. Wahrscheinlich hatte er eine perverse Freude an der Schlacht!« »Sehr wahrscheinlich.« Sarah nickte. »Aber das betrifft uns nicht mehr.« »Vielleicht sollte es das.« Es war ein irrationaler Wunsch, Scobee wusste das. Aber in diesem Moment empfand sie nur ein glühendes Racheverlangen. »Der Kerl darf nicht ungestraft davonkommen!« »Das wird er auch nicht, Scobee. Jeder muss seine Schulden bezahlen, irgendwann. Seine Zeit wird kommen. Aber wir müssen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Sieh dir diese Leute an, wie traurig und verloren sie sind. Im Augenblick haben sie gar keinen Mut mehr. Ich weiß nicht, woran das liegt, es geschah ganz plötzlich.« »Die Spinnenroboter können doch trotzdem mit der Arbeit weitermachen. Es ist ja nicht notwendig, dass ihr das meiste selbst macht.« Scobee musterte Sarah eindringlich. »Denkst du, sie sind krank?« »Nein. Sesha hat uns alle für heruntergekommen, aber gesund erklärt. Wir sind bestens mit allem versorgt, um schnell wieder fit zu sein. Aber mich erstaunt dieser plötzliche Wechsel von Enthusiasmus zu Lethargie.« Sarah fuhr sich mit einer müden Geste durchs Haar. »Mir selbst geht es ganz ähnlich. Ich fühle, wie immer mehr Kraft aus mir fließt. Ich bringe keinen Elan mehr auf. Das kenne ich
gar nicht bei mir, so etwas konnte ich mir schließlich während meiner Amtszeit nicht leisten.« Sie lächelte schwach. »Und man wird nicht Präsident, indem man sich schont und viel schläft.« Scobee runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es an euch selbst liegt«, meinte sie. »Ich denke, das liegt an diesem verdammten Kontinuum. Wir gehören hier nicht her. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis es auf uns reagiert.« »Und uns abstößt wie einen Fremdorganismus, meinst du? Du kannst einem wirklich Mut machen, Scob. Nun ja, wir sind langsam daran gewöhnt, hinausgeworfen zu werden …« »Tut mir Leid.« »Schon gut.« Sarah nahm ihre Hand und drückte sie. »Du machst dir Sorgen um John, nicht wahr?« Scobee nickte. »Er ist in der Perle, mit Jarvis und Algorian. Ich habe keinen Kontakt. Ich fühle mich hilflos.« »Ist da … etwas Besonderes zwischen euch?«, fragte Sarah Cuthbert vorsichtig. Scobee machte ein erstauntes Gesicht. »Ich weiß nicht genau, was du meinst. Wir sind Freunde … ein gutes Team. Unsere Irrfahrt hat uns zusammengeschweißt, insofern vermisse ich John natürlich. Warum fragst du?« »Reine Neugier.« Sarah lächelte verlegen. »Entschuldige, es geht mich natürlich überhaupt nichts an. Aber ich weiß so wenig über dich, John und die anderen … das ist eine ganz neue Welt für mich …« »Das wird sich mit der Zeit ändern«, meinte Scobee leichthin. Sie wurde allerdings den Verdacht nicht los, dass Sarah eine Ausrede benutzt hatte. Doch das interessierte sie nicht weiter, in diesem Moment hatte sie andere Sorgen. »Wenn ihr etwas braucht, gebt mir Bescheid.« »Ich … kann mich nicht irgendwie nützlich machen?« Eine fast verzweifelte Frage. Scobee verstand die Frau. Vor zweihundert Jahren war sie die mächtigste Politikerin der Erde gewesen. Jetzt war sie eine Verbannte, heimatlos auf ein durchs All streunendes Schiff verschlagen,
ohne Zukunft, ohne Aufgabe. Sarah tat ihr Leid. »Der Tag wird kommen«, sagte sie sanft. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Im Moment kann ich selbst auch nichts tun, ich sitze nur da und warte ab. Es ist für uns alle eine unangenehme Situation, in die Fontarayn uns da gebracht hat. Hoffen wir, dass sich bald etwas ändert.«
Aylea, Cy und Jelto warteten in der Zentrale auf Scobee. Sie hatten sich bereits auf die ehemaligen Foronensitze verteilt, konnten sich aber nur gelangweilt gegenseitig anstarren, weil die Holosäule abgeschaltet war. »Gibt es einen Grund dafür?«, wollte Cy wissen. »Ja«, bestätigte Scobee, während sie sich niederließ. »Ich habe Grund zur Annahme, dass es uns … gelinde gesagt … nicht gut tut, ständig nach draußen zu blicken. Jelto und Cy sind in Trance gefallen, Aylea hat den Eindruck, ständig durch den düsteren Gang eines Albtraums zu rennen; selbst Sarah Cuthbert und die Zirkusleute sind davon betroffen, obwohl sie auf eigenen Wunsch immer nur kurze Einblendungen bekommen. Ich glaube, unser Wahrnehmungsvermögen verschiebt sich, und wir bekommen Schwierigkeiten, die Realität noch als unsere zu erkennen.« »Soll heißen, wir werden neurotisch«, brummte Jelto. »Es stimmt, ich habe ein sehr starkes Bedürfnis, mich zu meinen Pflanzen zurückzuziehen und nicht mehr so schnell herauszukommen. Aber ich glaube, selbst die Pflanzen haben Schwierigkeiten mit der Anpassung. Einige Conifera sind innerhalb der letzten Stunden eingegangen. Das ist normalerweise unmöglich und hat mich sehr beunruhigt.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Das war es, weswegen ich noch mal in den Garten gegangen bin … und ich wollte dann zur dir, Scobee … aber das ist auch schon alles, woran ich mich wieder erinnern kann.« »Ich denke immer noch über das nach, was John uns erzählt hat, nachdem wir hier eintrafen«, sagte Scobee. »Er hat dieses Kontinuum zuerst ganz anders erlebt, und es muss eine furchtbare Erfah-
rung gewesen sein.« »Ja. Ich habe noch nie so einen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen«, stimmte Aylea zu. »Und ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er dieses Erlebnis hatte, muss auch mein Albtraum angefangen haben.« »Willst du uns nicht davon erzählen, Kind?«, forderte Cy sie raschelnd auf. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es ist zu wirr und zu schrecklich. Ich weiß nur, John war da, und ich auch … und ich wusste Dinge … die …« Sie barg plötzlich das Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen. Jelto beugte sich zu ihr und streichelte ihre Haare. »Ist ja gut, Aylea, hab keine Furcht. Du musst dich nicht erinnern, wenn du nicht willst. Schick den Traum fort, lass dich nicht mehr von ihm quälen. Du bist hier bei uns in Sicherheit und außerdem wach. Jetzt hat er keine Macht über dich, und im Schlaf auch nicht, wenn du es nicht willst.« »Vielleicht kannst du ihr ein pflanzliches Beruhigungsmittel brauen, damit sie ruhig schlafen kann«, schlug Scobee vor. »Aylea hat genug durchgemacht, irgendwann wird es zu viel.« »Um auf John zurückzukommen«, schwenkte Cy um. »Du denkst, er hat das Kontinuum so gesehen, wie es wirklich ist?« Scobee schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber er sagte, dass es deswegen so schlimm kam, weil er noch nicht angepasst war. Er verglich es mit der Höhenkrankheit, beziehungsweise mit einem Tiefenrausch.« »Ich verstehe.« Cy bewegte knisternd einige Knospenäste. »Die Anpassung kann nur für eine bestimmte Zeit erfolgen, aber nicht auf Dauer. Wir sind weder dafür bestimmt, unter Wasser in großen Tiefen zu leben, noch in sehr großer Höhe mit Sauerstoffarmut. Dazu wäre wahrscheinlich erst die nächste Generation in der Lage, wohingegen wir unter ständigem Mangel, Krankheiten oder sogar einem frühen Tod leiden müssten.« »Glaubst du, wir sind schon zu lange hier?« Scobee nickte. »Und es wird schlimmer werden, je länger wir hier ausharren.
Nicht auszudenken, was mit John, Algorian und Jarvis in der Perle geschieht, wenn bei ihnen die ersten Ausfälle einsetzen. Möglicherweise stehen sie sich gegenüber und sehen einander trotzdem nicht, so wie Jelto vorhin mich und Aylea ignorierte. Zugleich haben sie aber subjektiv das Gefühl, dass nur kurze Zeit vergeht.« Cy rückte seinen Körper in dem Sessel zurecht. »Aber was willst du unternehmen? Du weißt, dass wir hier keine Möglichkeit zur Orientierung haben. Sesha ist praktisch ebenso blind wie wir.« »Deswegen wollte ich ja mit euch reden, ob euch etwas einfällt, woran wir uns halten können. Irgendetwas, das uns wieder ›zurückholt‹, wenn wir zu sehr abdriften.« »Das wird nur Sesha können«, antwortete der Aurige nach kurzer Überlegung. »Wir sollten uns Impulsgeber anlegen, die uns akustisch, optisch und mit elektronischen Reizen wachrütteln.« »Ja, Elektroschocks haben sicher eine Wirkung!«, warf Aylea ein, die Jeltos Rat befolgt hatte und sich auf die Diskussion konzentrierte. »Sesha, ist das durchführbar?« »Selbstverständlich, Scobee, es dauert höchstens eine Stunde. Ich werde es sofort erledigen.« »Gut. Und wir warten hier gemeinsam, einverstanden? Beobachten wir uns gegenseitig. Denn sollte John oder einer der anderen wieder auftauchen oder um Hilfe rufen, dürfen wir es nicht verpassen.« »Einverstanden«, echoten alle im Chor. »Ich hoffe, dass John bald zurückkommt«, meinte Aylea. Cy sagte nichts. Scobee dachte an seine Worte über Algorian, und ob er sie wirklich ernst meinte. Jelto schien ebenfalls eigenen Gedanken nachzuhängen. Die Stunde wird rasch vergehen, dachte Scobee. Und wir sind zu viert, da kann eigentlich nichts schief gehen.
»Scobee, das solltest du dir anschauen«, schallte es plötzlich durch
die Zentrale, und die GenTec schreckte hoch. War sie etwa eingenickt? Welch sträflicher Leichtsinn! Für einen Moment verwirrt blickte sie um sich und erblickte die drei Gefährten, die tief schlummernd in ihren Sesseln kauerten. Es hatte sie also auch erwischt. Es war schon zu spät, der Koller, Rausch oder das Fieber – wie man es auch nennen sollte – hatte bereits begonnen. »Was ist?«, fragte Scobee. »Kann ich die Holosäule aktivieren, um es dir zu zeigen?« »Ja, natürlich.« Scobee rieb sich die Augen und konzentrierte sich auf das Bild, das sich flimmernd aufbaute. Sie musste zweimal hinsehen. Dann blinzelte sie, rieb sich erneut die Augen und schaute noch einmal. »Was ist das?«, flüsterte sie. »Ich glaube, ein Sturm«, vermutete die KI. »Du weißt es nicht?« Das war an und für sich unmöglich bei einer hoch entwickelten küastlichen Intelligenz vom Schlage Seshas. »Ich muss mich auf meine optischen Sensoren verlassen«, antwortete Sesha. »Meine Messgeräte können nichts empfangen. Dies muss auf einer anderen Ebene stattfinden als der Hypersturm, der um die Perle braust. Allerdings kann ich auch auf den psionischen Frequenzen nichts feststellen.« Das farbenprächtige Bild dort draußen hatte sich deutlich verdüstert. Beunruhigend war, dass die Fraktalwolken durcheinander gewirbelt wurden, sich ineinander verhakten und verzahnten, sich zu immer größeren Haufen ballten, die dann plötzlich wie unter enormem Druck zerfetzt wurden. Fraktale Bruchstücke wurden dabei unkontrolliert in alle Richtungen geschleudert. Ein unheimliches Spektakel. »Wie kann das passieren? Und vor allem: Wie lange wird das anhalten?«, murmelte Scobee. »Sesha, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Sturm uns Schaden zufügen kann?« »Keine Parameter zur Berechnung vorhanden.« Die Perle wird es aushalten, dachte Scobee. Die hängt hier schon seit Jahrtausenden oder länger fest. Aber wir, was wird aus uns?
Sie rief Aylea, Jelto und Cy an und forderte sie auf, aufzuwachen. Doch sie rührten sich nicht. Scobee verließ ihren Sitz, ging nacheinander zu den Gefährten und versuchte, sie wachzurütteln. Vergebens. Das war mehr als beängstigend. »Sesha, stelle eine Verbindung zu Sarah Cuthbert her.« Nach einer Weile kam die Rückmeldung: »Tut mir Leid, ich erhalte keine Antwort.« »Und die anderen? Irgendjemand?« »Negativ.« »Bin ich das einzige Wesen an Bord, das noch bei Bewusstsein ist?« »Negativ.« »Was … was soll das heißen?« »Keine Parameter zur Berechnung möglich. Meine Systeme zeigen volle Bereitschaft, aber ich kann nicht damit arbeiten.« Da wurde es dunkel. Die Notbeleuchtung sprang an, aber Scobee schaltete zuvor schon auf Infrarotsicht um. Der Sturm in der Holosäule gewann an dramatischer Tiefe, je dunkler es wurde. In der RUBIKON genauso wie außerhalb. »Was geschieht mit uns …«, flüsterte Scobee leichenblass. Wenn nur John endlich zurückkäme! Oder wenigstens Fontarayn ein Zeichen von sich geben würde! Und sie war ganz allein. Jeder lebende Organismus an Bord war in seinen eigenen Halluzinationen gefangen, und Sesha handlungsunfähig, weil auch sie nicht Teil dieses Kontinuums war. Die Technik war kaum mehr von Nutzen; es war fast schon von Glück zu reden, dass die Lebenserhaltungssysteme noch funktionierten. Dort draußen gingen unglaubliche Dinge vor sich. Scobee starrte wie hypnotisiert auf den Sturm; es sah aus, als wäre unter den Fraktalgebilden ein Kampf ausgebrochen. Die GenTec, sonst rational, sah fantastische Geschöpfe, zusammengesetzt aus geometrischen Mustern, die mit unglaublicher Gewalt aufeinander einschlugen, sich ineinander verschlangen, die fragilen Konstrukte aufbrachen und neu
zusammenfügten. Einzelne Fragmente schwirrten wie Satelliten um sie her, während die Wolken ihren surrealen Tanz aufführten, beleuchtet von düsterviolettem bis blauschwarzem Licht. Schließlich schien der Kampf zu einem Höhepunkt zu kommen, die Verwirbelungen wurden immer wilder, sodass Scobee kaum noch mit den Augen folgen konnte. Zerstörung folgte auf Zerstörung, und dann sah die Frau voller Schrecken, wie sich im Zentrum der größten Schlacht ein wirbelnder Strudel bildete, mit schwarzrot-violett-lilafarbenen Schlieren, der sich wie eine Spirale drehte und ähnlich wie ein Schwarzes Loch alle kleinen Gebilde, die in seiner Nähe waren, in sich hineinzog und verschluckte. Größere Fraktale am Rand wurden abgestoßen und sogar weggeschleudert, manche kamen auf einer elliptischen Bahn zurück, steuerten direkt auf den schwarzen Mahlstrom des Zentrums zu und tauchten hinein. »Der Wirbel kommt auf uns zu! Wir müssen etwas tun!«, schrie Scobee. »Sesha, können wir einen Notstart durchführen?« »Negativ«, antwortete die KI. Eine Antwort, die Scobee nicht mehr hören wollte. »Und die Waffen? Feuere ab, was du hast!« »Das ist nicht ratsam, Scobee. Möglicherweise führen wir diesem Gebilde noch mehr Energie zu und beschleunigen die Katastrophe.« »Aber was ist das? Ein Abbild des Zentrums-Black Hole?« »Keine Messung möglich. Eventuell Dunkle Energie, aber das kann nicht festgestellt werden.« Scobee rieb sich die Stirn, auf der sich feine Schweißperlen bildeten. Der Mahlstrom kam immer näher, kreisend, verschlingend, hypnotisch. Längst hatte er alle Fraktale in seiner Nähe verschluckt oder zerstört. Er wuchs und wuchs und brachte selbst den Sturm zum Schweigen. »Soll ich die Evakuierung einleiten?« »Was für eine blöde Frage, Sesha, wohin sollen wir denn fliehen? Und wie wollen wir die Leute so schnell in die Kapseln bringen? Es ist doch niemand mehr bei Bewusstsein!« »Als letzte Maßnahme fällt mir nur noch die Selbstzerstörung ein.«
»Selbstzerstörung? Sind bei dir einige Systeme durchgeknallt? Warum das denn?« »Wir dürfen dem Feind nicht in die Hände fallen.« »DORT DRAUSSEN IST KEIN FEIND!« Scobee fühlte Panik in sich aufsteigen. Offensichtlich war Sesha nun auch noch verrückt geworden. Sie war das einzige Wesen überhaupt, das den Untergang bewusst miterlebte. Vielleicht sollte sie befehlen, die Holosäule zu deaktivieren. Aber sie brachte es nicht fertig, sie musste zusehen, es hatte sie völlig in seinen Bann geschlagen. Der Mahlstrom kam näher. »Befehle?«, verlangte Sesha. »Leck mich«, murmelte Scobee auf nicht gerade feine Art. »Was für ein Mist, so viele verpasste Gelegenheiten. Aber wenn es eben so sein soll … was kann ich da schon machen.« Was sagte John? Nicht aktiv werden, die Dinge geschehen lassen, passiv bleiben. Vielleicht war das der richtige Weg? Der einzig mögliche zudem? Scobee lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen. Hör auf zu kämpfen und ergib dich, einmal in deinem Leben. Manchmal ist auch das eine Art der Verteidigung … oder sogar des Angriffs. Hier sind alle Gegebenheiten anders, die gewohnten Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Also musst auch du etwas tun, das überhaupt nicht deiner Art entspricht. Vielleicht ist genau das die Rettung.
Der riesige schwarzviolette Strudel kam näher und näher. Scobee empfand Furcht, alles in ihr bäumte sich dagegen auf, sich so still zu verhalten, sich zu ergeben. Die Gedanken rasten durch ihr Gehirn, aber sie zwang sie immer wieder zum Stillstand, blockte alles ab, wollte nicht mehr tiefer gehen. Sie versuchte, sich in sich selbst zu versenken, in einer Art Selbsthypnose, die in Momenten von größtem Stress wirksam wurde. Wenn man Angst hatte vor einer Prüfung, einer Untersuchung, einer unangenehmen Begegnung, was auch immer.
Aus der Ruhe kommt die Kraft, hatte John sie einmal belehrt und dazu dozierend den Finger erhoben. Allerdings gleichzeitig dazu gelacht. Dennoch, ein wahrer Kern mochte darin stecken. Tu so, als wärst du jemand anderer, versuchte Scobee sich einzureden. Du hältst dich für eine Gefangene deiner Genmanipulation, aber du bestehst nicht nur aus Programmierung, du bist ein denkendes, fühlendes, sich weiterentwickelndes Wesen. Du bist nicht mehr die frisch geborene Matrix Scobee, es hat sich viel verändert. Du hast dich verändert. Du hast gelernt. Du hast dich frei gemacht. Du bist zu einem vollwertigen Menschen geworden. Erinnere dich, wie negativ John am Anfang dir und den anderen Klonen gegenüber eingestellt war. Er hielt euch für kaum was Besseres als Roboter. Das hat sich geändert. Er achtet und schätzt dich inzwischen, und er sieht in dir auch eine Frau. Also tu, was du sonst niemals tun würdest, du kannst es. Es war schwer, so schwer. Scobee zog unwillkürlich die Beine an, als das Ding den Ausschnitt der Holosäule komplett ausfüllte und schwarz kreisend näher kam. Sie schlang die Arme um die Knie, schlotternd vor Panik. Doch ihr Wille ließ nicht zu, dass sie blindlings handelte, auch wenn ihre Gedanken nur noch um die K-Waffe kreisten. Das ist die Soldatin Scobee, doch das bist du nicht mehr, erinnerst du dich? Sie haben dich rausgeschmissen, ohne Kündigungsfrist und Abfindung. Du bist frei. Also entscheide dich auch dafür. Die anderen haben ihren Frieden, warum nicht auch du? »So wird es geschehen«, murmelte die GenTec. Auf einmal wurde sie völlig ruhig. Eigentlich war es ganz einfach, sie brauchte sich nur ein einziges Mal fallen zu lassen, nicht ständig an die Konsequenzen zu denken, die Verantwortung für andere zu übernehmen – sie konnte hier nichts mehr tun. Also sollte sie jetzt auch nur an sich denken und alles geschehen lassen. Hör auf John, dieses eine Mal. Er hat mehr gesehen als du. Und dann war es da. Scobee schloss die Augen, als der wirbelnde Strudel die RUBIKON erfasste. Doch dann öffnete sie sie wieder, denn sie wollte es sehen. Aber es war bereits stockfinster. So finster, dass nicht einmal die
Umstellung auf Infrarot etwas nutzte. Schwer und dick, drückend wie ein Tonnengewicht, kam die Finsternis über sie. Durchdrang sie, zog ihre Bahn durch ihre Lymphgänge und Adern, lähmte sie, brachte sie dem Empfinden des Erstickens nahe. Nicht heiß, nicht kalt, nur unbeschreiblich schrecklich anzufühlen. Scobee wollte schreien, aber kein Ton drang mehr über ihre Lippen. Die Finsternis hatte jedes Geräusch verschluckt. Es gab nichts mehr. Wenn das der Tod war, so wollte Scobee niemals sterben, denn das war entsetzlich. Gefangen in der absoluten Finsternis, bei vollem Bewusstsein, aber sonst zu nichts fähig. Kein Schmerz konnte so grausam sein wie diese Erfahrung. Es löscht uns aus, war Scobees letzter Gedanke. Ich spüre es, wie die RUBIKON um mich herum verschwindet, und bald werde auch ich …
8. Kapitel »Cy«, murmelte Algorian. »Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.« »Er war nicht allein«, gab Jarvis trocken zurück. »Da sind noch Aylea, Scob, Jelto und die anderen, schon vergessen?« Algorian senkte den Kopf. »Denkst du, sie sind für immer … fort?« »Ich klammere mich daran, dass sie noch da sind«, erwiderte Jarvis. »Ich will nicht darüber nachdenken, dass sie verloren sein könnten. Bestimmt gibt es einen guten Grund für ihr Verschwinden, und sie werden einen Weg finden, zurückzukehren. Wir haben uns schließlich auch gefunden, und genau so werden wir auch John und Fontarayn aufspüren. Machen wir uns nicht verrückt. Ich bin sicher, dass wir auf der richtigen Fährte sind, und dass unser Weg uns letztendlich zu den Gefährten führen wird.« »Jarvis' Erstes Unlogisches Gesetz?«, bemerkte Algorian in freudlosem Humor. »Ganz recht. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass wir hier mit Logik überhaupt nicht mehr weiterkommen? Wir machen immer noch denselben Fehler, nach unseren Gewohnheiten zu handeln und uns an das zu halten, was wir wissen. Aber hier gelten nicht die Regeln und Gesetze unseres Standarduniversums, du selbst hast mir erzählt, wie es sich mit der Schwerkraft in der Perle verhält.« »Und was schlägst du vor?« »Wir gehen wieder rein. Und stolpern einfach drauflos, lassen uns von unseren Beinen und unseren Gefühlen leiten. Du wirst sehen, plötzlich werden wir ganz andere Dinge sehen. Trotz der Anpassungsphase stimmt unsere Wahrnehmung einfach nicht. Dies hier ist nicht unser gewohntes Ambiente, wir gehören eigentlich nicht hierher, also müssen wir versuchen, uns noch besser anzupassen. Verlassen wir uns also auf unsere Instinkte. Du hast doch so etwas, oder?«
»Ich will es hoffen. Aber du wirst mir schon den Weg weisen. Machen wir es einfach so: Du stolperst voran, und ich hinterher. Ohne lang nachzudenken. Damit kann ich mich vielleicht selbst überlisten.« Jarvis presste die Handflächen aneinander. »So muss es sein. Wir müssen das bewusste Denken abstellen und alles möglichst unverfälscht auf uns einwirken lassen. Vielleicht kapieren wir dann, was hier vorgeht.« Algorian straffte sich plötzlich, er schien mit neuer Zuversicht erfüllt. »Ja, und bestimmt kommt Scobee auf dieselbe Idee. Oder Cy, er ist recht vernünftig und bodenständig. So werden sie mit der RUBIKON wieder hierher zurückfinden. Und genau so werden wir dann den Weg nach draußen finden, auch ohne Fontarayn, du wirst sehen. Also, lass uns aufbrechen.« Er faltete sich zusammen, und Jarvis »verleibte« sich den Gefährten erneut auf diese ungewöhnliche Weise ein. Was zu der ganzen surrealen und irrationalen Situation hier eigentlich passte. Inzwischen war es ja schon so etwas wie Routine, durch die Hülle zu diffundieren, doch diesmal hatte Jarvis absichtlich kein Ziel vor Augen, sondern ließ sich einfach treiben, mit dem »dicken Brocken« in sich. Bisher war er immer »durchgehastet«, doch diesmal schien es länger zu dauern, und es war nicht einmal unangenehm. Um ihn herum war weiches warmes, matt leuchtendes Gold, das ihn umhüllte und umschmiegte. Er wurde, zumindest momentan, nicht als Fremdkörper identifiziert. Möglicherweise konnte Algorian etwas ganz Ähnliches fühlen, was ein weiterer Vorteil war. Je länger Jarvis diffundierte, wurde ihm bewusst, desto behaglicher fühlte er sich. Irgendeine Erinnerung rumorte in ihm. Was war es nur? Jedenfalls lag es sehr, sehr lange zurück. Ein Erlebnis, das ihm bisher nie so recht bewusst geworden war. Und dann stürzte mit großer Gewalt eine Menge über ihn herein, und etwas in ihm stieß einen gequälten Schrei aus, als es unerträglich wurde.
Algorian bekam von der »Diffusion«, wie Jarvis es nannte, so gut wie nichts mit. Er hatte sich zusammengekauert. Durch den Schutzanzug spürte er den amorphen Nanokörper um sich herum kaum. Es war mehr wie ein … Schweben, ein sanftes Dahintreiben, wie in einer mit Luft gefüllten Blase im Wasser. Zumindest war es eine Beschreibung für die davon ausgelösten Gefühle, auch wenn es nicht wirklich stimmen mochte. Eigentlich, überlegte sich Algorian, war es überhaupt ganz anders. Ich werde wohl immer verwirrter, dachte er daraufhin, als ihm seine seltsamen Gedankengänge bewusst wurden. Er hatte sich noch nie so gefühlt. Er konnte nicht sagen, ob es ihm gefiel oder nicht, es war einfach so. Nicht mehr und nicht weniger. Dahintreiben. Wie Jarvis es als neue Strategie vorgeschlagen hatte: Kein Ziel, keine Planung, kein Agieren. Passivität, das Bewusstsein reduziert auf Empfinden, auf Akzeptanz all dessen, was von außen hereinkam. Wie ein Neugeborenes, das die Welt erst kennen lernen musste, das noch keinerlei Erfahrungen besaß und noch nicht einmal richtig bewusst wahrnehmen konnte. Algorian empfand diese neue Strategie insofern als nicht schlecht, da er sich ausgezeichnet dabei fühlte. So ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Plötzlich so frei von allem. So hätte es ruhig noch weitergehen können, das war endlich einmal etwas, das – Ein lang gezogener, hallender Schrei zog seine feurige Bahn durch Algorians Gedanken. Es war nicht sein Schrei. Sein telepathischer Sinn hatte ihn wahrgenommen – von einem anderen Wesen, ungefiltert. Auf Algorian stürmte in diesem Moment alles Leid ein, das in dem Schrei lag, ohne dass er es abblocken konnte, was er sonst automatisch tat. Von Anfang bis Ende, solange der Nachhall dauerte, war es, als wäre er selbst dieses leidende Wesen; er erlebte den Schmerz, als wäre es sein eigener. Algorian war außerstande, sich dagegen zu schützen. Er war auch nicht in der Lage, den Absender zu lokalisieren, einen beruhigenden Impuls zu schicken, das Schlimmste zu verhindern. Er konnte sich
in seiner Hilflosigkeit nur wünschen, dass es bald aufhörte, schon um des gequälten Bewusstseins willen, das einen solchen Schrei aussandte. Und dann stürzten sie ab.
Der Raumanzug dämpfte selbstverständlich den Aufprall, trotzdem entfuhr Algorian ein Ächzen, als er unvermutet auf hartem Boden landete. Es war ohnehin kein schwerer Sturz bei der geringen Schwerkraft – dennoch, er kam überraschend. Bevor der Aorii sich richtig entfalten konnte, kugelte er ein Stück weit über den Boden, wo er endlich zum Halten kam. Das Erste, was ihm auffiel, war das Dämmerlicht, und das Fehlen von Gold. Algorian rappelte sich auf, sortierte seine steif gewordenen Glieder, machte einige Dehn- und Streckübungen, bis die Muskeln wieder einigermaßen brauchbar waren, und stand dann auf. »Die Umgebung hat sich völlig verändert«, flüsterte er. »Ich glaube, wir sind jetzt wirklich drin...« Es sah tatsächlich ein bisschen vertraut aus. Wie das Innere eines Raumschiffs eben, eines Frachters beispielsweise, wo man nicht viel Wert auf Schnörkel und Verkleidungen legte. Algorian stand in einer Halle voll gestopft mit allem möglichen technischen Kram. Hauptsächlich wohl Aggregate, die durch dicke, mehrfach verzweigte Kabelstränge miteinander verbunden waren. Dazu verliefen Rohrleitungen über Decke und Wände, endeten in containerartigen Behältern oder umliefen sie. Auf dem Boden waren dunkle Flecken, aus einigen Rohren tropften undefinierbare Flüssigkeiten heraus. Hier und da zischte es leise, wenn eine Flüssigkeit auf ein Aggregat tropfte und ein kleines dampfendes Loch hineinbrannte. Farben gab es hier keine, alles war eintönig Grau in Grau, und trotz des indirekten, trostlosen Lichtes warfen die Gerätschaften lange Schatten. Die Halle mochte etwa fünf Meter hoch sein; Länge und Breite konnte Algorian nicht abschätzen, da er keine durchgängige Sicht
hatte. In Betrieb war keines dieser Geräte, und Wartungen wurden offenbar schon sehr lange nicht mehr durchgeführt, dem allgemeinen Verfall nach zu urteilen. »Wir haben es geschafft, Jarvis!«, rief Algorian begeistert. Er ging um ein Aggregat herum und tastete es ab, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht von herabfallenden Tropfen getroffen zu werden. »Du hast Recht gehabt mit deiner Vermutung! Diese Perle ist wirklich eine Station oder ein Raumschiff und nicht das Werk eines durchgeknallten Illusionsspezialisten. Es gibt also auch vertraute Sektionen, die uns nicht so durcheinander bringen wie diese anderen verrückten Bereiche! Sagenhaft!« Er erhielt keine Antwort. »Jarvis?« Wieder nichts. Beunruhigt blickte Algorian um die Ecke. »Bitte teile mir nicht auf diese Weise mit, dass wir uns schon wieder verloren haben und ich allein bin!« Allerdings konnte genau das der Fall sein. Immerhin war er plötzlich abgestürzt, und seitdem hatte er von Jarvis weder etwas gesehen noch gehört, nur zuerst nicht darauf geachtet. »Schlocks und Schilndz! Das darf doch einfach nicht wahr sein.« Algorian kehrte zur Absturzstelle zurück, doch dort sah alles genauso leer und verlassen aus wie sonst wo. Unglücklich drehte der Aorii sich einmal um sich selbst. Als er von links ein leises Geräusch hörte, orientierte er sich unwillkürlich dorthin. »Es liegt hier einiges im Argen«, murmelte er und entdeckte schließlich die Quelle des Geräuschs. Von einem breiten Rohr herab tropfte es zäh und dunkel, wie Öl. Auf dem Boden hatte sich eine große Pfütze gebildet. Algorian betrachtete nachdenklich die anderen Flecken auf dem Boden. Sie waren alle trocken, das hier war das einzige frische Leck. Er trat näher an das Rohr heran und sah, dass die Flüssigkeit nicht aus einem Loch oder einer undichten Verbindungsnaht trat, sondern
… obendrauf ein gewaltiger Batzen haftete, der nach und nach herunterfloss. Algorian kam ein furchtbarer Verdacht. »Heilige Sperraten, Jarvis, bist du das etwa? Was in aller Welt machst du da?« Er sprang zu der Rohrleitung, sorgsam darauf bedacht, nicht versehentlich in die Pfütze zu treten, und umschloss den dunklen Klumpen vorsichtig mit beiden Händen. Er hatte alle Mühe, dass die schwabbelnde Masse nicht zwischen seinen Fingern hindurchrann, und transportierte sie behutsam zu der großen Pfütze hinunter. Dann blickte er sich hektisch um, aber auf den ersten Blick fand er nichts. »Rühr dich nicht vom Fleck, Jarvis, ich bin gleich zurück!« Hastig rannte Algorian kreuz und quer durch die Halle, um Aggregate und Container herum, bis er tatsächlich etwas Geeignetes fand – einen Metallbehälter, gefüllt mit allerlei Schrott. Der Aorii kippte kurzerhand den Inhalt aus, der sich scheppernd und klirrend auf dem Boden verteilte. Algorian lauschte ein wenig erschrocken dem Nachhall des Lärms, den er verursacht hatte. Die Unruhe wirkte an diesem sterbenden Ort deplatziert, und der zerbrechlich anmutende Humanoide erwartete jeden Moment Vergeltung. Doch es geschah nichts, nach dem letzten Echo blieb alles ruhig, keine Roboterkolonnen mit Reinigungsgeräten und Waffen tauchten auf. Und auch sonst niemand. Algorian eilte zu Jarvis zurück, von dem er hoffte, dass er immer noch in der Pfütze steckte, und schöpfte ihn in den notdürftig ausgewischten Behälter. »Ich weiß, das ist nicht unbedingt angenehm, aber ich habe leider nichts Besseres, und sauber kriege ich es leider auch nicht«, murmelte Algorian vor sich hin. Pedantisch suchte er den Boden nach allerletzten Resten ab. »Ich hoffe, du bist vollständig, mein Freund, nicht dass irgendwelche wichtigen Teile fehlen … ich habe mit Nanotechnik keine besondere Erfahrung, fürchte aber …« Er sprach nicht weiter. Natürlich waren Nanoteilchen nicht vollständig mit bloßer Hand aufzulesen! Die Frage war nur, wie würden Verluste Jarvis im Späteren beeinträchti-
gen? Dann stand der Aorii vor dem nächsten Problem: dem Transport. Der Behälter an sich war zu groß, um ihn allein tragen zu können. Mit dem Gewicht des Amorphen darin war es unmöglich, ihn auch nur anheben zu wollen. Algonan fluchte leise vor sich hin. Er redete die ganze Zeit über mit Jarvis, ohne zu wissen, ob der Freund ihn überhaupt hörte. Aber dann fühlte er sich nicht so allein. Selbst wenn Jarvis sich nie mehr zusammenfügen konnte, wollte er ihn nicht zurücklassen. Algorian stemmte die Arme in die Seiten und sagte eindringlich: »Hör zu, Jarvis, mein Freund, die Lage ist die: Ich komme mit dir nicht weiter, und ohne dich gehe ich nicht. Du wirst dich also schon wieder zusammensetzen müssen. Wenigstens so weit, dass ich dich irgendwie stützen kann, einverstanden?« Er beugte sich über den Behälter, in dem die Masse ruhte. Es tat sich gar nichts. Algorian versuchte, Jarvis' Bewusstsein telepathisch zu finden, doch da war nur Dunkelheit. »Er muss in tiefer Ohnmacht liegen, weil ich ihn überhaupt nicht orten kann, oder … oder …« Nein, den Gedanken würde er nicht zu Ende führen. Nicht so, auf diese Weise, das kam gar nicht in Frage. Jarvis war nicht tot, nicht so plötzlich und warnungslos … »Jarvis!«, drängte Algorian. »Hör mal, ich muss dir was Wichtiges sagen! Komm endlich zu dir und hilf mir! Sonst hast du doch auch immer so ein loses Mundwerk und gibst mit deinen Fähigkeiten an! Jarvis!« Nur Stille antwortete ihm. Wir müssen weiter, dachte Algorian verzweifelt. Es ist sehr wichtig. Das will ich dir ja sagen, mein Freund. Es geht doch nicht an, dass ich dich beschützen muss, anstatt umgekehrt! Also reiß dich zusammen! Es half alles nichts. Jarvis, oder was auch immer in dem Behälter schwappte, schwieg. Die nächste Zeit verbrachte Algorian damit, ein fahrbares Untergestell zu basteln. Ob es eine Stunde dauerte oder mehr, wusste er nicht; er hatte kein Zeitgefühl mehr, und die mit dem Bordrechner
synchronisierte Zeitangabe auf seiner Anzeige war übergeschnappt und hatte ihr ganz eigenes System erfunden. Mit »3"&8*94« konnte der Aorii jedenfalls überhaupt nichts anfangen. Material lag wenigstens ausreichend herum. Alte Rohre, Kabel, Kugellager (oder was es sein mochte). Algorian bastelte ein Rollgestell und eine Rampe aus Rohren, um den Behälter darauf zu hieven. Ein paar weitere Kabel, die er sich um den Leib band, und dann konnte er endlich starten. Quietschend, ruckelnd, aber immerhin. Es ging vorwärts. Und nach einer Weile, mit dem richtigen Schwung, ging es sogar richtig gut. Schwierig war es nur, den Hindernissen auszuweichen, die immer wieder das Vorankommen erschwerten. Aber Algorian meisterte auch dies. Er war fest entschlossen, keine unnötige Zeit mehr verstreichen zu lassen, er wollte nicht zu spät kommen. Über die Richtung hatte er sich keine Gedanken gemacht. Er befolgte weiterhin Jarvis' Strategie der Intuition, ließ einfach seine Beine den Weg suchen und »irgendwohin stolpern«. Ein unbestimmbares Gefühl sagte ihm, dass er auf dem richtiger Weg war. Die Perle Chardhin selbst schien es ihm zuzuraunen. Algorians Hochgefühl schwand allerdings, als er das Ende der Halle erreichte und eine Verbindungssektion betrat, die sich vielfach verzweigte. Teils lagen die Zugänge frei, teils durch Schotte versperrt. Das Licht flackerte, allerdings konnte Algorian wie überall keine Quelle ausmachen. Der Bereich war völlig nüchtern gestaltet, die Wände mit grauem Metall ausgekleidet, ebenso Boden und Decke. Auf den ersten Blick unterschied sich kein freier Gang von dem anderen, und die Schotte waren alle gleich, ohne farbliche Markierung, Symbole oder sonstige Hinweise. Jetzt musste Algorian doch eine Entscheidung treffen, ob er wollte oder nicht. Er näherte sich dem ersten freien Gang und spähte hinein. Die Sicht reichte einige Meter weit, dann jedoch verlor sich der Weg im Dunkel. Der nächste Zugang war mit einem kreisrunden, wie ein Zahnrad aussehenden Schott versperrt, das sich nicht automatisch öffnete. Algorian suchte nach irgendeinem Codefeld, doch da war
nichts. Er tippte das Schott an, versuchte es schließlich zu verschieben, aber es rührte sich nicht. Also weiter. Der dritte Gang war wieder frei zugänglich, und er sah richtig einladend aus. Kreisrund wie eine Röhre, rundum erhellt und beleuchtet, so weit er blicken konnte. Algorian zögerte nicht weiter, das schien der richtige Weg zu sein. Er betrat die Röhre, den Behälter im Schlepptau, und ging einige Schritte weit, als er plötzlich ein ungutes Gefühl bekam. Irgendetwas tat sich da unter seinen Füßen. Er blieb stehen und zögerte. Weiter oder zurück? Wieder eine Entscheidung … Was würde Jarvis tun? Weitergehen, vermutlich. Das war wahrscheinlich die falsche Entscheidung. Und damit genau die, die Algorian treffen musste. Andere Gesetze. Wenn er sich nicht an die ihm bekannten Regeln und an seine eigenen Erfahrungen hielt, würde es weitergehen. Also mutig den nächsten Schritt nach vorn getan. Es ging weiter, und wie! Algorian stieß einen Schrei aus, als die Röhre plötzlich nach unten kippte, und schon glitt er auf dem glatten Boden rasant abwärts. Doch nicht sehr weit, dann rutschte der Aorii mit seiner Last bereits wieder auf ebener Fläche dahin. Allerdings war dies nur eine kurze Verschnaufpause, wie er entsetzt erkannte, denn danach ging es weiter bergab. Algorian versuchte, die Füße gegen den Boden zu stemmen, zu bremsen, rückwärts zu laufen, doch er hatte die Rechnung ohne seinen Freund gemacht. Der Behälter hatte immer noch guten Schwung, prallte ungebremst auf den Aorii und schubste ihn kurzerhand über den Rand. Jetzt ging die Fahrt erst richtig los. Die Röhre war eng und so glatt, dass keine Chance zum Abbremsen bestand. Algorian konnte es gerade noch verhindern, dass er in den zerflossenen Jarvis hineinstürzte, als es ihm die Füße wegriss. Er sauste schreiend durch Windungen und Kurven irgendeinem unbekannten Ziel entgegen.
Das Ende war mehr als unspektakulär. Algorian hatte sich den wildesten Fantasien darüber hingegeben, eine grausiger als die andere, doch die Rutschpartie endete lediglich in einer weiteren Halle, einfach so. Er hatte sogar genug Auslauf, um langsam zum Halten zu kommen. Selbst Jarvis' Behälter rollte unbeschadet an ihm vorbei, ohne umzukippen. »Das ist doch alles völlig verblödet«, jammerte Algorian und blieb noch eine Weile erschöpft auf dem Rücken liegen. »Das kommt mir bald wie das Spielfeld eines Kindes vor …« Er stieß einen weiteren, aber nur kurzen Schrei aus, als sich aus dem Behälter plötzlich eine dunkle Masse erhob, und fluchte über sich selbst. Algorian, du Idiot, liegen deine Nerven so blank, dass du vor deinem eigenen Freund erschrickst? Langsam richtete er sich auf und kroch auf den Behälter zu, aus dem die immer noch amorphe Masse herausragte und leicht hin- und herschwankte, wie ein Baum im stärker aufkommenden Wind. »Jarvis, bist du's?«, flüsterte Algorian. »Ich bitte dich, gib mir endlich ein Zeichen, sonst drehe ich durch …« Es verging noch eine Weile, doch dann nahm die Masse allmählich vertrautere Formen an. Und schließlich stand Jarvis vor Algorian und blickte mit perfekt nachgebildetem erstauntem Gesicht auf den Aorii herab. »Das war die verrückteste Reise meines Lebens«, sagte Jarvis. »Wem sagst du das«, ächzte Algorian und kippte um.
»Alles in Ordnung?« Algorian merkte, wie sein Oberkörper gestützt wurde und blinzelte. »Bist du es wirklich?« »Eine berechtigte Frage. Beinahe wäre ich es nicht mehr gewesen …« »Den Eindruck hatte ich auch.« Algorian rappelte sich wieder auf die Beine und klopfte sich den staubigen Anzug ab. »Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier herumhängen. Ich führe den Schwächean-
fall darauf zurück. Aber was ist mit dir passiert, Jarvis?« »Ich wurde noch einmal geboren«, antwortete der ehemalige Klon leise. »Es war, als erhielte ich auf einmal alle Erinnerungen zurück, und zwar wirklich alle, fast vom Zeitpunkt der ersten Zellteilung in der Petrischale an. Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist, und ich kann dir auch nicht genau sagen, woran ich mich erinnere. Da waren so viele Bilder und Gedankenfetzen … ich glaube, da ist noch viel mehr in meinen Genen verborgen, als absichtlich einprogrammiert wurde. Vielleicht auch die Erinnerungen der Vorfahren, was weiß ich. Jedenfalls stürmte dermaßen viel auf mich ein, eine solche Flut an Information, dass ich sie nicht mehr verstehen, geschweige denn verarbeiten konnte. Irgendwie hat es die nanosynaptischen Neuronenverbindungen überlastet, sprich: Da ist eine Menge durchgeglüht, und das hat mich wortwörtlich zerfließen lassen.« »Ich habe versucht, telepathischen Kontakt mit dir aufzunehmen, aber da war nur Totenstille«, sagte Algorian. »Ich musste eigentlich das Schlimmste annehmen, aber das wollte ich nicht wahrhaben.« »Und das war mein Glück«, sagte Jarvis lächelnd. »Nachdem sämtliche Sicherungen in meinem Geist durchgebrannt waren, bin ich wohl in eine Art Koma gefallen, in ein tiefes schwarzes Loch. Zumindest finde ich das jetzt in meinem Gedächtnis, wenn ich versuche, alles zu rekonstruieren. Ab einer bestimmten Stelle setzt es aus. Das ist anscheinend eine Selbstschutzfunktion, die mir Zeit geben sollte, die Schäden zu reparieren. Was offensichtlich auch funktioniert hat, denn auf einmal war ich wieder bei Bewusstsein und konnte meinen Körper steuern.« »Ein Glück, dass es nur von kurzer Dauer war.« Algorian klang erleichtert. »Die seltsamen Einflüsse dieses Ortes auf uns reißen wohl nicht so schnell ab. Andererseits hat deine Strategie trotzdem funktioniert, wir sind endlich ein Stück weiter. Von hier aus haben wir immerhin eine Chance, eine Steuerzentrale zu finden, irgendetwas, das noch intakt ist. Und dann ist da noch etwas.« »Spann mich nicht auf die Folter, ich bin zu –« »Schicke mir einen Gedanken.« »Wie bitte?«
»Du hast schon verstanden. Schicke mir einen Gedanken, den ich telepathisch empfangen will. Tu's einfach, ich erkläre dir gleich, warum.« »Meinetwegen.« Algorian konzentrierte sich und empfing Und was bezweckst du nun damit? sehr deutlich. Er grinste zufrieden, auf eine ganz schelmische Aorii-Weise, die Jarvis aber sicher so nicht interpretieren konnte. Deshalb erklärte er: »Auf dem Weg durch die Hülle, noch in deinem Bauch verborgen, habe ich telepathisch einen Schrei empfangen.« »Klar«, sagte Jarvis. »Meiner. Ich hab mich selbst schreien gehört. Das war das Letzte, woran ich mich erinnern kann, bevor ich zerfloss.« »Nein, du verstehst mich falsch«, unterbrach Algorian ungeduldig. »Ich meine, ich habe nicht dich gehört.« Jetzt hatte er Jarvis' volle Aufmerksamkeit. »Nicht?« »Nein. Tut mir Leid, aber dein Schrei ist total untergegangen, jedenfalls habe ich telepathisch nichts aufgenommen, weil dieser andere Schrei mich völlig gefangen nahm. Ich konnte mich ihm überhaupt nicht entziehen und wäre sogar beinahe mit fortgerissen worden, wenn du in diesem Augenblick nicht völlig zusammengebrochen wärst und mich freigegeben hättest. Glücklicherweise hatten wir zu dem Zeitpunkt die Hülle schon wieder verlassen.« »Deshalb der Gedankentest? Damit du Gewissheit hast, dass ich es nicht war?« »Ja.« »Ich ahne, was du sagen willst …« Algorian nickte. »Es war John. Und er steckt in großen Schwierigkeiten …«
9. Kapitel John Cloud rief Algorian nach: »Bleib doch stehen! Warum hörst du mich nicht?« Er selbst empfing nur unverständliches Gebrabbel, Algorians Gestalt verschwamm immer mehr. Schließlich war er verschwunden. »Verdammt!« Jetzt waren sie endgültig getrennt, und Cloud musste eine Entscheidung treffen. Warten und hoffen, dass sie irgendwie aufeinander trafen? Das würde die Suche nur noch mehr verzögern, und Cloud hatte das sichere Gefühl, nicht zu lange in diesem Kontinuum verweilen zu dürfen. Die Auswirkungen zeigten sich immer deutlicher. Also hatte die Suche nach Fontarayn höchste Priorität. Algorian und Jarvis konnten auf sich selbst aufpassen, sie würden schon einen Weg hier heraus finden. Und Cloud hoffte, wenn er Fontarayn erst gefunden hätte, käme alles wieder ins Lot. Wobei natürlich mit dem Schlimmsten gerechnet werden musste, denn wodurch konnte ein Energiewesen aufgehalten werden? Cloud schob den Gedanken an die Auslöschung des Goldenen von sich. Das wäre zu … nein, das kam nicht in Frage. So schlimm durfte es nicht kommen. Es gab noch viel zu viele offene Fragen … Ich werde Fontarayn finden. Er ging die Galerie entlang, beobachtete dabei die Umgebung genau. Immer wieder unternahm er Funkversuche, strahlte jede Viertelstunde das auf dieses Intervall eingestellte Peilsignal ab. Eine halbe Stunde lang veränderte sich gar nichts. Bis auf die chronographische Anzeige, die sich mit unverständlichen Zeichen in Konfusion verabschiedete. Nun hatte Cloud überhaupt keinen Anhaltspunkt mehr. Er befand sich – irgendwo, ging – irgendwohin, brauchte dazu – irgendeine Zeit. Sinn- und planlos, ärgerte er sich. So schlecht vorbereitet ging er freiwillig niemals auf einen Außeneinsatz. Aber er hatte keine ande-
re Möglichkeit. Hier war alles anders, das konnte er nur immer wieder feststellen. Allerdings fragte er sich, warum das innerhalb der Perle immer noch so war. Wenn Fontarayns Volk diese Station gebaut hatte, warum so unübersichtlich? Warum fand sich nirgendwo eine Spur von der Besatzung, selbst wenn die Perle Chardhin längst aufgegeben war? Irgendwelche Hinterlassenschaften gab es immer, und sei es auch nur ein achtloses Graffiti irgendwo. Doch hier sah alles so klinisch rein und glatt aus, absolut jungfräulich, als wäre es gerade erst erschaffen worden – nur mit einem Fingerzeig, anstatt mit schwerem Gerät und Werkzeug. Hatte Fontarayn sich geirrt? Hatten sie an der falschen Station angedockt, gab es hier irgendwo noch so ein Gebilde, täuschend ähnlich, das keine … Attrappe war? Es war alles möglich, jede Art von Illusion und Täuschung. Man mochte es mit verschobener Wahrnehmung und Perspektive erklären, mit mangelnder Anpassung an dieses fremde Medium, trotzdem musste es nicht wahr sein. Vielleicht saßen sie hier gerade dem größten Schwindel aller Zeiten auf! Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens hier auf und ab zu tigern und nach einem Zugang zu suchen, dachte Cloud gereizt. Trotz der Größe dieses inneren Bereichs würde er irgendwann klaustrophobische Zustände bekommen. Immer wieder tastete er die Wand ab, ob nicht doch eine Unebenheit zu entdecken war. Die Sensoren an den Handschuhen übermittelten ihm ein feineres Strukturbild, als seine bloßen Fingerkuppen es vermocht hätten. Auf einmal hatte er das Gefühl, da wäre etwas. Es war wie ein feiner elektrisierter Schlag, eine Veränderung in der Wand, mit den Augen nicht sichtbar. Cloud verharrte und tastete eine größere Fläche rundherum ab. Tatsächlich, die Sensoren zeichneten eine veränderte Kurve auf. Er klopfte dagegen, konnte aber nicht feststellen, ob ein Hohlraum dahinter lag. Er nahm ein Markierungsspray, testete, ob es auf dem goldenen
Material haftete, und dann fuhr er die Grenzlinie zwischen dem Ausschlag und dem »normalen Nichts« mit dem Spray nach. Das Ergebnis sah einem schmalen Durchgang sehr ähnlich, etwa zwei Meter hoch und vielleicht einen halben Meter breit. »Ich habe es gefunden«, murmelte Cloud. Er freute sich wie ein kleines Kind über eine Kugel Schokoeis. So bescheiden bin ich inzwischen schon geworden, dass ich beim Anblick einer gezeichneten Tür halb durchdrehe. Aber es bedeutete ein Vorankommen! Wieder klopfte Cloud die Stellen ab, verstärkte die Akustik in seinem Helm, und versuchte es mehrmals mit Scan und Ortung. Es konnte wie alles andere auch Einbildung sein, aber es schien ganz so, als läge dahinter tatsächlich ein Hohlraum. Nun musste er nur noch den Öffnungsmechanismus finden! Mit dem Laser wollte er es ganz zuletzt versuchen, vielleicht gab es irgendwo einen Schalter, der genauso verborgen war wie die Tür. Also weitertasten. Cloud war jetzt hochkonzentriert, er hatte alles andere um sich herum völlig ausgeblendet. Tasten, drücken, Anzeigen prüfen, vergleichen, weitermachen. Ganz geduldig, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Kaum zu glauben, wie bedeutend eine so einfache Tätigkeit sein konnte! Wenn man nicht gerade Tresorknacker war, allerdings. Dann hörte er, ganz leise, ganz entfernt ein Klick. Und die Tür glitt mit leisem Summen nach innen in die Wandverkleidung und gab den Blick frei auf eine abwärts führende Treppe aus Metallgittern. Cloud bekam unwillkürlich Herzklopfen. Er hatte keine Ahnung, was ihn dort unten erwarten würde. Doch es war alles besser als diese goldene Einöde. Er betrat halb den ersten Absatz, beugte sich nach vorne und blickte auf einen tiefen Schacht hinunter, in dessen Mitte sich die Treppe abwärts wand. Es herrschte mattes Dämmerlicht. Cloud atmete einmal tief durch, dann trat er endgültig über die Schwelle. Kaum hatte er sie passiert, da schloss sich die Tür bereits wieder sanft und wurde auch von dieser Seite unsichtbar. John Cloud machte sich auf den Weg nach unten.
Die Spiralen zogen sich und zogen sich, eine schier endlose Wendeltreppe, und manchmal zweifelte Cloud, ob er eigentlich immer noch bergab oder nicht schon wieder bergauf stieg. Er spürte die Beinmuskeln, sein Atem ging schneller, und das Klimasystem des Anzugs bekam reichlich zu tun. Die Umgebung veränderte sich nicht, der Schacht blieb ewig trist und grau, das Licht flackerte. Die Decke über sich konnte Cloud nicht mehr erkennen, sie lag im Halbdunkel verborgen. Was eigentlich gar nicht sein konnte. Es war seltsam, dass es bei der herrschenden indirekten Beleuchtung zu solchen Licht- und Schattenspielen kam. Doch in diesem Kontinuum war offenbar alles möglich. Cloud atmete auf, als endlich eine Abzweigung kam. Der Schacht führte noch weiter, doch es gab einen Ausstieg auf eine andere Ebene. Diese Gelegenheit ließ sich Cloud nicht entgehen. Sobald er den Absatz vor der unsichtbaren Tür betrat, glitt sie sofort zurück und gab den Weg frei … auf einen Gang. Ein Gang, der John Cloud fatal bekannt vorkam, und unwillkürlich griff eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Wollte er wirklich da hineingehen? Nach diesem furchtbaren Albtraum? »Gerade deswegen«, murmelte er. »Es muss etwas zu bedeuten haben, dass ich hier exakt den Gang aus meinem Albtraum vorfinde. Ich muss mich dem stellen, ob ich will oder nicht.« Er nahm seinen Mut zusammen und trat über die Schwelle. Langsam ging er den Korridor entlang, sah die Lampen aus seinem Traum wieder, die Lichtkreise auf den Boden schlugen, konnte genau drei Lichtkreise weit sehen. Die Biegungen hätte er mit geschlossenen Augen wiedererkannt. Träumte er etwa schon wieder? Nein, es war anders. Der Traum war unwirklich gewesen, die Bewegungen, die leicht verschobene Perspektive. Das hier war ganz anders, nüchtern und greifbar. Außerdem fehlte das Mädchen, das vor ihm herlief. Er hatte die Stelle längst passiert, wo er ihr im Traum das erste Mal begegnet war. Doch da war die Tür, genau an derselben Stelle. Die erste Tür, so wie die erste Abzweigung nach der Wendeltreppe.
Das Gefühl des Déjà-vu wurde beinahe übermächtig, als er nach der Klinke griff – richtig, es war keine automatische Tür, sondern sie besaß eine ganz unmoderne schnörkellose Klinke –, sie herunterdrückte und die Tür öffnete. Das Licht blendete ihn kurz, bis das Anzugsystem die Sichtscheibe des Helms verdunkelte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, denn in seinem Traum … Grundgütiger! Nicht das! Nicht …
»Papa!« – »Dad!« John wäre fast rückwärts wieder hinausgestolpert, als er zwei Kinder auf sich zustürmen sah, ein Mädchen und einen Jungen, vielleicht sechs und acht Jahre alt. Gleich darauf hingen sie links und rechts an ihm, drückten ihn gegen die Tür, umarmten ihn stürmisch. »Mama, er ist zurück! Dad ist endlich daheim!«, krähte der Junge. Das Mädchen schmiegte sich in seinen Arm. »Du hast uns so gefehlt, Papa«, seufzte es. John Cloud war so verblüfft, dass er überhaupt keinen Ton herausbrachte. Was ihn erschreckte, war das Gefühl der Vertrautheit, das er diesen fremden Kindern, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, entgegenbrachte. Er wusste, dass sie Jared und Marie hießen und ihn vergötterten, auch wenn er selten daheim war. Eine Frau tauchte im gegenüber befindlichen Türrahmen auf, ihr Gesicht lag im Halbschatten. Er konnte nicht erkennen, wie sie aussah, aber er nahm wahr, wie sie ironisch eine wundervoll gebogene Augenbraue hob. Es war nicht Scobee, das wusste er sofort. Diese Frau war kleiner und zierlicher, sie besaß nicht die durchtrainierte Figur und die wohlgefälligen Rundungen der GenTec. Trotzdem kannte er sie, wusste nur nicht ihren Namen, der wollte ihm nicht einfallen. »Nun, John, du hattest es so eilig, dass du sogar deine Arbeitskleidung mit nach Hause nimmst?«, sagte die Frau mit spöttischer, aber
angenehm klingender Stimme. John wusste, dass er diese Frau abgöttisch liebte, mehr als alles andere. Doch wie hieß sie? Warum kam sie nicht aus dem Lichtschatten heraus, damit er ihr Gesicht sehen konnte? Er streckte die Arme aus. »Bekomme ich keine Umarmung von dir?« Sie schüttelte den Kopf, lächelte (seltsam, dass er dies alles sehen konnte, nur ihr Gesicht nicht). »Nicht in dieser Montur, da kann ich dich nicht richtig spüren. Außerdem bist du in diesem Anzug John Cloud, der Weltraum-Abenteurer, und nicht mein Mann. Du weißt, wie ich zu deiner Arbeit stehe.« »Das hatten wir doch alles schon«, sagte Cloud. Hatten wir? »Ich weiß, dass du meine Arbeit ablehnst …« Weiß ich das? »… aber es ist mein Beruf, meine Berufung, das habe ich dir von Anfang an gesagt.« Das ist richtig, ich könnte es nicht aufgeben. Nicht einmal für die Familie. »Ich lehne es nicht ab«, erwiderte sie. »Es macht mich nur traurig, weil du so oft weg von zu Hause bist – und in Gefahr. Ich bin allein, und ich habe immer Angst um dich. Du hast zwei Kinder und Verantwortung.« »Ich finde es rattenscharf, was Dad tut!«, plapperte Jared dazwischen. »Wenn ich mal groß bin –« Doch er wurde unterbrochen: »Kommt essen, Kinder, und du auch, John.« Seine Frau winkte, und die Kinder stürmten mit ihr nach nebenan. John folgte langsam, ging durch den Vorraum, betrachtete die Garderobe, die Möbel, versuchte sich zu erinnern. Er erkannte nichts wieder. Nebenan empfing ihn helles Sonnenlicht, das durch die großen Fenster hereinfiel. Die Küche war in den Essraum integriert, von da aus führte eine Stufe hinunter zum Wohnzimmer, immer an der riesigen Fensterfront entlang. Draußen die Terrasse, die grandiose Aussicht auf den verwunschenen Garten mit den exotischen Pflanzen. »Träumst du?« Ihre Stimme war ganz nah, doch als er den Kopf wandte, saß sie bereits am Tisch und verteilte einen – wunderbar
duftenden, dampfenden Eintopf auf Teller. Die Kinder zappelten vor Ungeduld. Ihr Gesicht … war immer noch – verdeckt. Er konnte die Schönheit nur erahnen. »Setz dich doch«, bat sie und wies auf den einzigen freien Stuhl. John setzte sich, wieder hatte er ein Gefühl des Déjà-vu, doch es verflog rasch. »Warum legst du nicht endlich den Anzug ab?« In ihrer Stimme schwang ein kritisierender Tonfall mit. »So kannst du doch nicht essen.« »Ich … es tut mir Leid, aber ich kann nicht«, stammelte er. »Ich muss mich erst akklimatisieren … ich komme von sehr weit her, und ich habe ein sehr bizarres Erlebnis hinter mir …« »Ja, du wirkst ein wenig verwirrt. Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten dich abgeholt. Seltsam, dass sie dich überhaupt zu uns gelassen haben, wenn du den Anzug noch brauchst …« »Glaubst du, du hast 'nen Weltraumvirus oder so?«, fragte Jared aufgeregt. »Nein, nein, nichts dergleichen. Es geht um die Luft und die Druckverhältnisse.« »Wieso, bist du dort ohne Anzug rumgelaufen?«, fragte Marie verdutzt. John schüttelte den Kopf. »Dann brauchst du ihn hier doch nicht«, unterstützte seine Frau die Fragen der Kinder. John blickte auf seinen Teller. »Es ist … nicht so einfach …«, sagte er leise. Die Kinder hörten auf zu essen. »Sag es uns«, bat seine Frau ruhig. »Ich … versteht ihr, es ist für mich …« Hilflos blickte er seine Familie an. »Ich bin immer noch dort«, brachte er schließlich zögernd hervor. Die Kinder starrten ihn an. Die Stille war lähmend. John sah, wie seine Frau sich die Stirn rieb. Sie sammelte ihre Ge-
danken, versuchte so behutsam wie möglich zu sein. Sie litt. Es tat ihm weh, das wollte er nicht. »John … du bist hier. Bei deiner Familie, die dich liebt. Wir haben lange auf dich gewartet, dass du nach Hause kommst. Es war schon öfter schlimm. Manchmal hast du Tage gebraucht, bis du dich wieder eingewöhnt hattest. Es wird also wieder besser, keine Bange.« Seine Stimme war nur noch ein kraftloses Flüstern: »Das glaube ich nicht …« »Was ist es?« Ihre Stimme zitterte, und er sah ein Glitzern in ihren überschatteten Augen. Wie Tau auf einem Blütenblatt, bevor er herabrollte und zu Boden tropfte. »Ich sollte mich vielleicht einfach hinlegen. Tut mir Leid, dass ich euch so durcheinander bringe …« »John …«, hauchte sie. »Was ist los mit dir?« Er schwieg. »Du machst es nur noch schlimmer, wenn du versuchst, uns zu schonen«, fuhr seine Frau nach einer Weile fort. »Ich habe wirklich viel Geduld gehabt, auch als du nie mit zur Therapie gegangen bist, aber ich kann so nicht mehr weitermachen. Du bist traumatisiert, das weiß ich, und ich habe für alles Verständnis. Aber du brauchst professionelle Hilfe. Du solltest dich sehen, wie du hier sitzt … wie ein Außerirdischer …« »So komme ich mir auch vor«, sagte er verzweifelt. »Verstehst du, ich weiß, dass meine Kinder Jared und Marie heißen, sie sind sechs und acht Jahre alt. Ich weiß, dass ich dich abgöttisch liebe, dass du die einzige Frau für mich bist. Aber …« Die Kinder waren blass geworden. Maries Unterlippe zitterte. »… aber …«, echote seine Frau erstickt. »Ich weiß nicht, wer ihr seid«, gestand John. »Ich … ich kenne euch nicht. Ich kenne dieses Haus nicht. Ich weiß nicht einmal, auf welchem Planeten ich mich befinde.« Marie fing an zu weinen. Jared starrte seinen Vater fassungslos an, seine Miene verzog sich vor Wut und Angst gleichermaßen. »Aber du weißt, dass wir deine Familie sind, wie deine Kinder heißen, und dass du mich liebst?«
»Ja. Auf eine befremdliche Art und Weise … ja. Da ist eine unglaubliche Vertrautheit, ein Gefühl vieler Jahre.« Die Frau legte ihre zusammengeknüllte Serviette zur Seite. »Du hast so die Namen der Kinder betont. Was ist mit mir?« John fühlte sich hundeelend, der Schmerz dieser Menschen, deren Leben er gerade zertrümmerte, war für ihn körperlich spürbar. »Ich kenne deinen Namen nicht«, wisperte er. »Du wolltest die Wahrheit … was soll ich noch sagen …« Jared sprang auf, Tränen liefen über sein Gesicht, und er wollte zu brüllen anfangen, sich mit geballten Fäusten auf seinen Vater stürzen – oder auf den Fremden, denn sein Vater würde sich niemals so verhalten. Aber seine Mutter packte seinen Arm und zog ihn energisch zu sich. »Jared, Marie, holt euch ein Eis. Oder eine Schokolade. Was ihr wollt. Ihr müsst vom Eintopf nichts mehr essen. Geht dann spielen, ich sehe später nach euch.« Die Kinder zögerten, warfen ängstliche und misstrauische Blicke zu ihrem Vater. Doch dann gehorchten sie. John stand auf. »Ich werde jetzt besser gehen. Es tut mir so Leid. Ich kann nicht erklären, was passiert ist.« »Hältst du dich wenigstens noch für John Cloud? Und erinnerst dich an deinen Namen?« Die Stimme seiner Frau wehte wie ein kalter Hauch zu ihm herüber. »Ja, und ich bin Kommandant«, antwortete er. »Mein Schiff ist die RUBIKON, die dort draußen irgendwo auf mich wartet. Ich weiß jetzt, ich sollte nicht hier sein. Ich muss gehen.« Sie stand ebenfalls auf und kam langsam um den Tisch herum. Für eine Sekunde glaubte er, ihr Gesicht sehen zu können. »Einfach so? Du schneist herein, ohne uns vorher Bescheid zu geben, sprichst wirre Worte, verdirbst den Kindern die Wiedersehensfreude, machst ihnen Angst – und gehst dann wieder?« John nickte. »So sieht es aus. Ich habe noch etwas zu erledigen, etwas sehr Wichtiges. Ich darf es nicht aufschieben.« »Und wir, deine Familie? Sind wir etwa nicht wichtig? Wir sind doch keine Möbelstücke, die du nach Belieben hin- und herschieben
kannst! Du kannst jetzt nicht gehen, John! Wir müssen –« »Nein.« Er hob eine Hand. »Nein. Es tut mir Leid. Aber ich weiß, dass das hier nicht stimmt. Nicht der Zeitpunkt, nicht … ich weiß auch nicht. Aber es ist einfach nicht richtig.« Er wollte sich zur Tür wenden, als er Geräusche von draußen hörte. Stimmen und sich nähernde Schritte. »Wer ist das?« »Was weiß ich?« Seine Frau vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen. »Vielleicht deine Alien-Freunde, um dich abzuholen? Oder Freunde, Nachbarn, weil sie glauben, John Clouds Rückkehr bemerkt zu haben?« John widerstand dem Impuls, sie zu berühren, in die Arme zu nehmen. Er wusste, dass er das nicht durfte, dass es alles nur noch schlimmer gemacht hätte. »Leb wohl«, sagte er leise. »Ich gehe besser hinten raus.« Er wandte sich ab und ging auf die gegenüberliegende Tür zu. »Verlass mich nicht, John, bitte!«, flehte seine Frau mit herzzerreißender Stimme. »Wir können es gemeinsam schaffen, das weiß ich! Ich liebe dich, ich will dich nicht verlieren! Ich würde alles in Kauf nehmen, nur damit du bei mir bleibst!« Er antwortete nicht, drehte sich auch nicht mehr um. Er schlüpfte durch den Türbogen auf den schmalen Gang, öffnete die Tür zum Seitentrakt (erstaunlich, dass er das wusste) und lief auf den hinteren Ausgang zu. Dabei kam er an einem Zimmer vorbei, dessen Tür weit offen stand, das Fenster mit einem Sonnenschutz halb verhangen. Unwillkürlich hielt John an und warf einen Blick hinein. Ein Schrank, eine Kommode, ein Sessel und ein Bett. In dem Bett lag ein alter Mann, das Gesicht wie Pergament, der Atem mühsam und rasselnd, und wartete auf den Tod. Er schien zu spüren, dass jemand bei ihm war. Der Alte drehte den Kopf in den Kissen und öffnete die Augen. »John?«, flüsterte er. Eine innere Stimme ermahnte Cloud, weiterzugehen, durch die zweite Tür. Doch stattdessen betrat er das Zimmer, trat an das Bett des alten Mannes und blickte auf ihn herunter. »Ja«, antwortete er. »Ich habe immer auf dich gewartet«, hauchte der Greis. Sein Kopf
war fast haarlos. »Ich habe dich niemals aufgegeben, obwohl sie sagten, du würdest nie zurückkehren …« »Old John, bist du das?«, wisperte Cloud in einer plötzlichen Eingebung, in Erinnerung an ein anderes bizarres Erlebnis. Der Sterbende lächelte und stieß ein kurzes, keuchendes Lachen aus. »Wer von uns ist im Delirium?«, fragte er. »Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Du kennst mich nicht.« »Aber du kennst mich …« »Natürlich. Ich habe dich immer bewundert, und ich wünschte mir sehr, dir zu begegnen, und jetzt … kurz vor dem Tod … ich danke dir.« »Wer bist du? Warum bist du hier?«, fragte Cloud. Der Greis lächelte. Er hob eine knochige, schon fast skelettierte Hand, berührte John am Arm. »Lass dich nicht zu sehr auf sie ein«, wisperte er. »Verliere den Weg nicht aus den Augen. Wenn es sein muss, geh in der Dunkelheit. Aber du musst gehen, hörst du? Verweile nirgends lange, das ist gefährlich.« Er verstummte, hielt den Kopf schräg, als würde er lauschen. »Sie sind gleich hier, John. Geh jetzt. Ich kann in Frieden sterben …« »Alles Gute für dich, alter Mann«, sagte Cloud leise. Rasch verließ er das Zimmer und eilte den Gang entlang, zum Hinterausgang, während die Stimmen hinter ihm immer näher kamen. Die Tür ließ sich leicht öffnen, und dann war er draußen.
John Cloud öffnete die Augen. Zuerst hatte es geblendet, dann folgte die Dunkelheit. Für einen Moment desorientiert, ging er zwei zaghafte Schritte nach vorn und blieb dann stehen. Sah sich um. Er war nicht mehr auf dem Planeten – vielleicht nie dort gewesen. Er stand in einer großen, düsteren Halle. Vereinzelte, hoch oben befestigte Lampen warfen scharfe Lichtkreise auf den Boden. Wie das Scheinwerferlicht einer Bühne. Dazwischen lag Dunkelheit. John Cloud blickte sich um, sah hinter sich die Tür, durch die er hereingekommen war. Sie war geschlossen. In der Halle gab es keine Einrichtung, zumindest konnte er keine
Umrisse irgendwelcher Gerätschaften erkennen, während er langsam weiterging. Probeweise aktivierte er den Funk und das Peilsignal. Der Funk war tot, das Peilsignal wurde gesendet. Ob es jedoch empfangen werden konnte, war sehr fraglich. Aber Cloud wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendwo waren seine Freunde – und Fontarayn. Er musste seinen Weg fortsetzen.
»Wer bist du?« Die Stimme schallte durch den Saal, und Cloud blieb stehen. »John Cloud«, antwortete er. »Wer bist du?«, wiederholte die körperlose Stimme. »Ein Mensch von einem Planeten namens Erde, weit von hier entfernt. Ich bin auf der Suche nach –« »Wer bist du?«, fragte die Stimme zum dritten Mal. »Jemand, der allmählich die Geduld aufgrund zu häufig wiederholter blödsinniger Fragen verliert«, sagte John ärgerlich und ging weiter. »Wohin willst du?«, wechselte die Stimme unerwartet zu einer neuen Frage. Sie klang mechanisch, kalt und ohne Timbre. »Ich suche meine Freunde«, antwortete er kurz angebunden. »Was suchst du?« »Ich glaube, das habe ich gerade gesagt. Mir steht nicht der Sinn nach einer philosophischen Debatte, und die Frage nach dem Sinn des Lebens stelle ich mir übrigens auch nicht.« Cloud nahm an, dass hier irgendein uraltes Programm automatisch abgespult wurde. Manches an dieser Station schien noch intakt zu sein. Das surreale Erlebnis mit seiner »Familie« mochte dazu gehören, ähnlich wie ein interaktiver Holofilm, der sich an den Gehirnwellenmustern orientierte und individuell anpasste. Wozu das alles wohl ursprünglich mal gedient hatte? Und vor allem: Wieso funktionierte die Verständigung so reibungslos? Da trat aus dem Schatten plötzlich jemand in einen Lichtkreis, auf ihn zu. Cloud blieb stehen.
Es war ein sehr großer, weit über zwei Meter langer, sehr schmaler Humanoider, augenscheinlich ein Mann. Seine Gliedmaßen waren überproportional lang und spindeldürr. John Cloud hatte die Assoziation zu einer Stabheuschrecke, als er den Fremden auf sich zukommen sah. Er trug ein Gewand aus … Federn? Es sah aus wie ein Frack, doch wie ein sehr schlecht sitzender. Seine Brust war spitz nach vorn gewölbt und rosafarben, mit gelben Pusteln. Kein Hemd, wie John Cloud zuerst annahm, sondern nackte Haut. Auf dem dürren Hals saß ein langer schmaler Kopf mit einer Gockelhaube und einem spitz vorgewölbten Mund, ähnlich wie ein Schnabel. Er bewegte sich wie auf Stelzen, und einige Federn rieselten von ihm herab, sobald er seine Arme bewegte. »Ich dachte, ich wäre allein«, sagte der vogelartige Fremde mit rauer, von Schnalzlauten begleiteter Stimme. »Ich irre schon so lange hier herum, hätte nie gedacht, dass ich mal jemandem begegne.« »Ich habe es auch nicht erwartet«, versetzte John Cloud. »Wieso verstehen wir uns?« Die seitlich liegenden, handtellergroßen dunklen Augen drehten sich nach vorn. In Abständen von jeweils etwa fünfzehn Sekunden huschte eine Nickhaut kurzzeitig über die Iris. »Multisynchros«, schnarrte der Vogelmann. »Sind hier überall. Beherrschen alle Sprachen, oder so gut wie. Bin mal einem begegnet, dessen Sprache überhaupt niemand mehr kannte, und das will was heißen.« »Sagtest du nicht gerade, dass ich der Erste bin, dem du begegnest?« »Sagte ich das?« Das Fremdwesen wippte auf und ab. »Wenn du es sagst, wird es so sein. Ich vergesse immer mal was, bin schon sehr lange hier unterwegs.« Er deutete nach oben. »Ist verflixt groß, das Teil. Schon auf dem Promenadendeck gewesen?« »Nein«, fing John verwirrt an, »kannst du –« »Ja, ich muss dann mal weiter, alter Freund. Bis dann.« Das eigenartige Wesen stelzte an John Cloud vorüber, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Er sah ihm kopfschüttelnd hinterher und wollte gerade weitergehen, doch da sah er sich Auge in Auge mit einem zähnestarrenden,
sabbernden Untier, dessen lohgelbe geschlitzte Pupillen sich gerade zu schmalen Funken sprühenden Strichen zusammenzogen. John Cloud war vor Schrecken so erstarrt, dass er nicht einmal nach Luft japsen konnte. Er hatte die Annäherung dieses Tieres nicht gehört; wie aus dem Boden gewachsen stand es von einer Sekunde zur nächsten vor ihm. Das riesige, katzenähnliche Wesen, das einen Hirsch wahrscheinlich mit zwei Bissen verschlingen konnte, knurrte leise. Sein Schwanz zuckte und schlängelte sich durch die Luft. Es schnüffelte Cloud von oben bis unten ab, der es vorzog, sich weiterhin ganz ruhig zu verhalten, egal, wie laut sein Herz auch schlagen mochte. Er konnte ohnehin nichts tun; bis er seine Waffe gezogen, entsichert und abgedrückt hatte, hatte das Katzenmonster ihn mit einem einzigen Hieb seiner achtkralligen Pranke mundgerecht in feine Streifen zerschnitten. Das Biest duckte sich zum Sprung. Vielleicht erwartete es, dass Cloud endlich davonlief, damit es seine Beute noch ein wenig jagen konnte; das machte vermutlich mehr Spaß. Cloud verharrte weiterhin reglos, vielleicht verlor das Raubtier dann das Interesse an ihm und verkrümelte sich, ohne ihn in Stücke zu reißen. Allerdings duckte er sich erschrocken, als das Katzenwesen mit einem gewaltigen Satz über ihn hinwegsetzte und lospreschte. »Huuu …«, hörte John. »Huuu … uhhhh … uuhh …« Und da sah er auch schon den Vogelmann ein gutes Stück entfernt in weiten Sätzen durch die Lichtkreise davonspringen, verfolgt von dem Raubtier. Der Abstand zwischen ihnen wurde rasch kleiner. Cloud riss seinen Blaster heraus, entsicherte, aktivierte und legte an; doch da – Das Untier hatte den Fliehenden fast erreicht. – lösten sie sich auf. Spurlos. Mitten in einem Lichtkreis. »Ich sehe Gespenster«, brummte John, steckte die Waffe wieder ein und ging weiter. Nach etwa zwanzig Metern entdeckte er zwei halb skelettierte Mumien auf dem Boden, verblichene Überreste von Wesen, die vor sehr
langer Zeit hier gestorben waren. Es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, wer hier lag. Cloud erschauerte. Er hatte wirklich Gespenster gesehen! Immer noch lief ihre Jagd ab, vielleicht seit Äonen schon, ohne jemals zu einem Ende zu kommen. »Arme Kreaturen.« Cloud seufzte mitleidig. So ein Schicksal war ihm hoffentlich nicht beschieden.
Die Halle nahm ein Ende, es war kaum zu glauben. Cloud hatte sich eigentlich darauf eingerichtet, hier längere Zeit herumirren zu müssen. Doch er sah eine Wand und ein Schott, wie ein Zahnrad geformt. Als er nur noch zwei Meter entfernt war, rollte es ganz automatisch zur Seite, und er betrat eine Art Zwischendeck mit mehreren Treppen, Schächten, die vielleicht als Aufzüge fungierten, übergeordneten Galerien und vielen Zugängen in andere Sektionen. Wie erwartet, gab es keinerlei Informationen darüber, wohin diese Korridore und Schotte führten. Keine Symbole, fremde Schriftzeichen, farbige Kennzeichnung. Wer hier lebte, musste sich offensichtlich bestens auskennen – und verließ vermutlich nie die Sektion, in der er arbeitete. Es war allerdings alles staubig und verlassen. Es sah nicht so aus, als ob hier vor kurzem noch jemand gewesen wäre. Immerhin funktionierten die Zugangs Systeme noch, was erstaunlich war, wenn sie nie gewartet wurden. Woher wohl die Energie bezogen wurde, um diese gigantische Station am Laufen zu halten? Cloud musste sich jedenfalls entscheiden, eine Wahl treffen unter mindestens dreißig Optionen, wie er schätzte. Wenn es nur irgendeinen winzigen Hinweis auf ein System gäbe! Damit er wusste, ob er sich weiter zum »Herz« der Station bewegte oder davon entfernte. Fontarayn befand sich bestimmt irgendwo im Kern, in der Hauptsteuerzentrale, oder in der Nähe davon. Wo sollte er sonst hinwollen in diesem riesigen Gebilde? John Cloud besaß leider keinen »Kompass« und auch sonst keinen
Richtungsweiser. Er musste sich wie bisher auf sein Gefühl verlassen; was er im Standarduniversum niemals getan und für einen schlechten Witz gehalten hätte. Das Problem war nur: Sein Gefühl wusste auch nicht, wohin er sich wenden sollte. Also wieder einmal versuchen, per Funk die anderen zu erreichen, das Peilsignal abzusetzen und dann Zentimeter für Zentimeter nach einem Hinweis zu suchen. Oder einem versteckten elektronischen Leitsystem, das aktiviert werden konnte. Irgendetwas! Er wandte sich nach rechts. Das Schott, durch das er gekommen war, schloss sich summend und rastete hörbar ein. Vielleicht fand er Spuren im Staub. Oder einen Zugang, der nicht so heruntergekommen war. Es gab schon einige Möglichkeiten, die bei der Entscheidungsfindung halfen. Doch das Problem wurde schneller als erwartet gelöst. Nur nicht so, wie Cloud es sich vorgestellt hatte.
Ein Schott auf der linken Seite öffnete sich plötzlich. Cloud wirbelte herum und zog seine Handwaffe. Doch er gab keinen Schuss ab. Aus der Öffnung strömte ein halbes Dutzend Roboter herein, plumpe schwebende Geschöpfe, aber mit deutlich erhobenen Waffenarmen. Dahinter kam ein Mann zum Vorschein. Er war um gut einen Kopf kleiner als Cloud und trug einen dunkelvioletten Anzug. Sein völlig haarloser langschädeliger Kopf war albinotisch weiß, in den Augen lag ein rötliches Schimmern. Als er den Mund öffnete, sah Cloud seine pechschwarzen, spitz zugefeilten Zähne, und eine ebenso schwarze Zunge. »Welch eine Freude, Sie endlich wiederzusehen, John Cloud«, sagte er mit hoher fistelnder Stimme. »Wir wussten, dass Sie letztendlich wieder zu uns zurückfinden würden. Sie finden alle zurück. Das ist die Bestimmung.« John Cloud ließ die Waffe sinken. »Was …«, begann er, aber der Mann winkte ihm mit überlangen Spinnenfingern. Statt Nägeln hat-
te er lange schwarze Krallen. »Kommen Sie, mein Freund, Sie müssen hungrig sein und durstig nach dem langen Weg. Wir haben etwas für Sie vorbereitet. Kommen Sie!« Es klang überaus freundlich und einladend, aber Cloud zweifelte keinen Moment daran, dass es keineswegs zuvorkommend gemeint war. Die Roboter hielten ihn nach wie vor mit ihren Waffenarmen in Schach. Widerstand war zwecklos, das schien klar. Diese Leute, wer immer sie waren, waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie ihn nicht einmal entwaffneten. Er steckte den Blaster wieder weg und folgte dem Mann. »Wollen Sie sich zuerst ausruhen? Sie werden müde sein«, sagte der Albino unterwegs. »Ich möchte lieber wissen, was hier los ist«, erwiderte Cloud. Sie bewegten sich durch einen Gang, der sich in nichts von den anderen unterschied. Nüchtern, metallisch, glatt. »Ts, ts.« Der Mann wedelte mahnend mit einem erhobenen Zeigefinger. »Das hatten wir doch alles schon. Fangen Sie bitte nicht wieder damit an, allmählich wird es ermüdend. Sie stellen Gilberts Geduld auf eine harte Probe.« Er verhielt vor einer Tür, drehte sich um und lächelte Cloud an. »Na, mich geht das ja nichts an. Es ist Ihre Sache, und meinen Rat nehmen Sie sowieso nicht an, haben Sie noch nie getan. Deswegen lasse ich es diesmal. Vielleicht kommen Sie von irgendwann selbst drauf.« Der Mann öffnete eine Tür, und Cloud betrat einen etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum. Es befand sich nichts darin außer einem länglichen Arbeitstisch, einem freien Stuhl auf der einen Seite, einem besetzten auf der anderen und einer Lampe, die schummriges kaltes Licht verströmte. »Möchten Sie nicht zuerst etwas essen und ein wenig ruhen, Cloud?«, fragte der Albino, der immer noch schmierig grinsend in der Tür stand. »Nein, danke«, lehnte er ab.
»Ihre Entscheidung«, meinte der Mann achselzuckend. »Ist gut, Boris«, sagte der Mann, der im Raum war. John Cloud sah, wie der als »Boris« Angesprochene sich anspannte. Um seine Augen lag auf einmal ein nervöses Zucken. Seine Angst vor dem anderen war deutlich zu erkennen und ebenso seine Erleichterung, als der Mann hinzufügte: »Du kannst gehen.« »Ja, Sir Gilbert, danke«, stieß Boris erleichtert hervor. Im Gehen klopfte er Cloud auf die Schulter. »Bis zum nächsten Mal, Freund.« Er schob Cloud in den Raum, und die Tür schloss sich. John sah sich allein mit dem Mann, dessen Gesicht hinter dem Lichtschein der Lampe verborgen lag. Seine Gestalt war klein und unscheinbar. »Setzen Sie sich bitte, Cloud.« Die Stimme des Mannes klang nicht einmal unangenehm. Bariton, relativ neutral. Cloud entschied sich, das Spiel mitzumachen und ließ sich auf dem freien Stuhl nieder. Sein Gegenüber beugte sich leicht vor, und jetzt erblickte Cloud ein langes, wachsbleiches Gesicht, mit einer schmalen, spitzen Nase und einem nahezu lippenlosen Mund. Die Augen lagen tief in den Höhlen; es war nur ein eiskaltes Glitzern darin zu erkennen. Clouds Hand glitt behutsam zur Seite. Die Augen des Mannes folgten seiner Bewegung, und er lächelte. »Denken Sie im Ernst, wir hätten es vergessen? Sie haben es schon einmal versucht, Cloud, und sind kläglich gescheitert. Ihre Waffe kann nichts gegen uns ausrichten, das wissen Sie doch.« »Wo bin ich hier?«, fragte Cloud langsam. Der Mann stützte sein Kinn auf eine Hand. »Ah, versuchen Sie es wieder einmal so herum.« »Hören Sie auf damit, ich bin zum ersten Mal hier!«, widersprach Cloud. »Ich habe absolut keine Ahnung, was hier vor sich geht!« Der Mann namens Gilbert seufzte. »Immer dasselbe, John Cloud. Sie fangen an, mich zu langweilen. Wollen wir erst das ganze Programm abspulen, oder sind wir diesmal vielleicht flexibler und kommen gleich zum Kern der Sache?«
»Das, was Sie von mir wollen, kann ich Ihnen nicht geben«, sagte Cloud. »Ich weiß nicht, worum es sich handelt. Foltern Sie mich, wenn es Ihnen Spaß macht –« »Spaß!« Der Mann unterbrach Cloud mit einem scharfen Zischen. »Es geht hier nicht um das Vergnügen, Cloud, sondern um bedeutende Dinge, deren Zentrum Sie sind! Hören Sie auf, mich zu verhöhnen oder für dumm zu verkaufen, ich habe genug davon!« John Cloud lehnte sich zurück und verschränkte provokativ die Arme vor der Brust. »Sie haben es bisher nicht aus mir rausgekriegt, also wird es nie funktionieren«, meinte er gelassen. »Ich habe keine Ahnung, wie oft wir dieses Spiel hier schon gespielt haben, aber es funktioniert nicht, egal, was Sie mit mir anstellen.« Statt einer Antwort drückte Gilbert auf eine Taste der vor ihm befindlichen Schalttafel, und ein Holo baute sich auf. »Kommen die Ihnen wenigstens bekannt vor?« Cloud sah seine Familie, seine Frau, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte, und die beiden Kinder Marie und Jared. Sie standen gefesselt in einem Raum ähnlich diesem und hatten offensichtlich große Angst. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er zögernd. »Ich glaube, das ist meine Familie … aber … ich kenne diese Leute nicht …« »Sie halten sich wohl für raffiniert, was?« Gilbert zeigte ein kaltes Lächeln. »Die letzten beiden Male haben Sie das auch behauptet, doch diesmal konnten Sie es nicht aushalten. Sie sind schnurstracks nach Hause gelaufen zu Ihrer Familie, um zu sehen, dass sie alle wohlauf sind. Was für ein törichter Narr! Denken Sie, wir würden es nicht herausfinden?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, flüsterte Cloud. »Ich bin auf dieser Station. Dann gehe ich durch die Tür und bin zu Hause. Ich gehe durch die nächste Tür und bin wieder hier …« »Klar, Sie gedankenloser Mistkerl, Sie haben die Transmitter benutzt! Keine Ahnung, wie Sie es geschafft haben, dass Ihre Kennung akzeptiert wurde. Doch letztendlich kommen Sie ja doch immer wieder zurück. Sie verstricken sich in irgendein Gedankenchaos und landen hier. Zum dritten Mal schon. Wir können die Uhr nach Ihnen
stellen. Wir brauchen Sie nicht einmal mehr einfangen, Sie kommen von selber.« »Ich war noch nie hier«, erklärte Cloud entschieden. »Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Sind Sie sicher, dass Sie den richtigen John Cloud haben? Ich habe den Eindruck, dass da noch so ein Kerl herumläuft, vielleicht aus einem Paralleluniversum, und dass ich den Hals für ihn hinhalten soll!« Gilbert winkte ab. »Sie wiederholen sich, Cloud. Ich glaube, Sie werden doch allmählich müde. Noch so ein Ausflug, und Sie sind reif. Dann werden Sie mir freiwillig alles erzählen, und ich erspare mir einen Haufen Arbeit und Zeit. Ich mache diesen Job hier auch nicht gerne, wissen Sie? Es gibt tausend schönere. Aber so bin ich nun mal eingeteilt.« Nun war es an Cloud zu lächeln. »Damit können Sie mich überhaupt nicht beeindrucken. Ich kenne alle diese psychologischen Spielchen. Und ich kann Ihnen nur immer wieder versichern, dass ich nicht weiß, worum es geht, was Sie von mir wollen.« Gilbert seufzte. »Ich wiederhole mich nicht mehr, Cloud, Sie wissen, dass ich das hasse. Und Sie wissen, was ich von Ihnen will. Wollen wir diese Farce nicht endlich beenden? Geben Sie mir, was ich will, und ich bin zufrieden. Ich werde Ihre Familie freilassen und dafür sorgen, dass sie gesund und sorgenfrei lebt. Und Sie … na, da wird uns etwas einfallen.« »Hören Sie auf mit dem Schwachsinn! Sie sind es, der mich für dumm verkaufen will!« Cloud sprang auf. »Sie können mich hier nicht einfach festhalten! Ich habe nichts getan!« »Ja, das behaupten alle. Was glauben Sie? Wenn die Wände sich jedes Mal erhitzen würden, wenn einer das hier drin sagt, sie wären längst geschmolzen.« Gilbert hob die Arme. »Es ist Ihre Entscheidung. Ich habe Zeit. Und Ihre Familie.« »Das … ist nicht meine Familie …« »Ach nein? Dafür sehen Sie aber reichlich oft auf das Holo und bekommen ein besorgtes Gesicht.« »Die Kinder sind unschuldig«, murmelte Cloud. »Sicher doch. Sie sind der strahlende Held, der keine Ungerechtig-
keit zulassen kann und jeden verteidigt, der unschuldig ist, ob Angehöriger oder nicht. Verschonen Sie mich bitte damit!« »Dann lassen Sie sie frei! Sie nützen Ihnen gar nichts.« Gilbert stieß ein trockenes Lachen aus. »Sie bekommen Gewissensbisse, lieber Freund, und das zehrt ganz schön an Ihnen. Das gefällt mir. Ihre Fassade bröckelt ab. Nur weiter so! Der Durchbruch ist nicht mehr fern. Endlich, wenn ich mal so sagen darf.« John Cloud fühlte sich in die Enge getrieben wie ein Tier. Er hatte das Bedürfnis, auf seinen Peiniger einzuschlagen, ihm die Wahrheit in sein ignorantes und arrogantes Gesicht zu prügeln, damit er endlich begriff. Doch er wusste, es hatte keinen Sinn. Er kannte solche Situationen nur zu gut, glücklicherweise bisher aus Berichten oder Erzählungen anderer. Aber das half ihm kein bisschen, sich jetzt anzupassen, seine Angst niederzukämpfen und darauf zu vertrauen, dass alles wieder ins Lot käme. Wenn er nur wüsste, worum es ging! Und was war das mit seiner Familie? Trotz aller Erklärungen leuchtete ihm nicht ein, wieso er sich einfach nicht erinnern konnte, trotz dieses beängstigenden Gefühls des Vertrauten! Litt er etwa unter Amnesie? Hatte es ein schreckliches Erlebnis gegeben, das ihn aus der Bahn geworfen hatte, und er kam erst jetzt so nach und nach wieder zu sich? Clouds Selbstbewusstsein schwand immer mehr dahin, er begann, an sich selber zu zweifeln. »Das ist gut«, hörte er Gilbert zufrieden sagen. »Endlich fangen Sie an, mitzumachen. Das wird Ihnen alles erleichtern, glauben Sie mir. Noch ein paar kleine Schritte, ein Ruck, und alles kommt raus. Danach wird es Ihnen endlich wieder gut gehen.« »Werden Sie mir helfen?« »Ich helfe Ihnen schon die ganze Zeit. Ich helfe Ihnen, Sie helfen mir, das ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Glauben Sie mir, an Ihrer Person bin ich nicht im mindesten interessiert. Wenn Sie mir alles gegeben haben, was ich brauche, können Sie gehen, dort durch die Tür hinaus, und sind ein freier Mann. Kehren Sie zu Ihrer Familie zurück, oder verschwinden Sie im All, ich überlasse es Ihnen. Sie
können uns nicht mehr schaden.« Cloud horchte auf. »Das heißt, ich begehe Verrat, um meine Haut zu retten?« Gilbert verschränkte die Hände ineinander. »Das ist der Deal. Es ist immer der Deal. Und natürlich retten Sie so nebenbei auch noch das Leben von Millionen – und das Ihrer Familie.« »Denken Sie wirklich, das würde ich jemals tun?« Jetzt war es an Cloud zu lachen, zum ersten Mal. »Haben Sie mein Charakterprofil nicht genug studiert, um das nicht zu erkennen? Selbst wenn ich es wüsste, ich würde Ihnen gar nichts verraten, um keinen Preis der Welt!« »Auch nicht um das Leben Ihrer reizenden Kinder?« »Das sind nicht meine Kinder. Vermutlich haben Sie die rührselige Szene daheim nur inszeniert, um mich zu verunsichern. Aber das funktioniert nicht! Ich habe keine Frau, keine Kinder.« Gilbert bedachte Cloud mit einem langen nachdenklichen Blick. »Mein armer Freund, allmählich fange ich an, Ihnen zu glauben. Denn Sie glauben an das, was Sie faseln! Ernsthaft, von Mann zu Mann: Das ist Ihre Familie. Leibhaftig.« Cloud schüttelte den Kopf. »Sie sind kein Mensch, demzufolge auch kein Mann«, flüsterte er. Gilbert lehnte sich zurück. »Machen Sie sich nicht lächerlich, John«, sagte er gelassen. »Natürlich sind wir keine Menschen! Und wir heißen auch nicht Gilbert oder Boris, wir unterhalten uns per Translator, und dieser Raum hier ist eine holographische Illusion. Aber …« Er tippte gegen seine Stirn. »Das, was in dieser Larve steckt, ist echt, Mister Cloud. Ich bin real, und ich habe den Auftrag, alle Informationen aus Ihnen herauszuholen, die Sie besitzen. Dieses Ambiente haben wir geschaffen, weil es etwas Vertrautes für Sie ist, zugleich aber auch furchteinflößend. Wir beherrschen Ihre Psychologie, mein Freund. Und wir kriegen jeden klein. Auch Sie. Es mag lange dauern, aber wir schaffen es.« »Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Cloud müde. »Ich muss nämlich mal für Königstiger.«
John Cloud erwachte in der Dunkelheit. Es war keine vollkommene Finsternis, wie er sie schon erlebt hatte; es gab immer noch Restlicht, das von irgendwoher kommen mochte. Seine Augen gewöhnten sich langsam daran, doch das brachte ihm nicht viel. Denn da war nur … nichts um ihn her. Er war gefesselt und aufgehängt. Ja, wie im Netz einer Spinne. Die Gliedmaßen ausgestreckt, bis zum äußersten gespannt. Er trug keinen Anzug mehr. Überhaupt keine Kleidung. Doch er konnte atmen. Und es war einigermaßen wohltemperiert, er fror nicht. Noch nicht. Was haben sie mit mir gemacht?, dachte er. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, da waren nur noch vage Gedankenfetzen. Wie lange er schon hier drin war, wusste er nicht. Wie sie ihn gefangen hatten, wie seine Häscher ausgesehen hatten; wo sie ihn gefangen hatten … nichts wusste er. Was war nur geschehen? Sein Kopf war schwer, ihm schwindelte. In seinem Magen war ein flaues Gefühl, seine Lippen waren trocken und rissig, als er mit der Zunge darüber fuhr. Nahrungsentzug, und das schon eine ganze Weile. Keine Kleidung, um ihm die Würde zu nehmen. Isolation, um das Selbstbewusstsein zu zertrümmern. Um jegliches Zeitgefühl zu nehmen. Um ihn nach und nach vergessen zu machen, wer er war. Um ihn zu einem wimmernden, halbidiotischen nackten Wesen verkommen zu lassen, das am Ende völlig gebrochen war, keinen Willen mehr besaß und alles tun würde, was seine Peiniger von ihm verlangten. Nein. Das gelingt ihnen nicht. Nicht mit mir. Es gibt so viel, an das ich mich halten, mich festklammern kann. Ich habe Freunde. Scobee, die jemand ganz Besonderes für mich ist. Sie steht mir so nahe wie niemand sonst mehr. Ich weiß, wie sie aussieht. Sie hat violettschwarze schulterlange Haare. Sie ist durchtrainiert und hat eine atemberaubende Figur, die mich manchmal vergessen lässt, wer ich bin. Statt Augenbrauen hat sie Tattoos. Und ihre Augen … ihre wunder-
vollen Augen, die manchmal grün sind, wenn sie ganz entspannt ist, und pechschwarz wenn sie zornig ist, und türkis, wenn sie freudig erregt ist. Ich sehe sie vor mir. Ich höre ihre Stimme. Ich weiß, dass sie an mich denkt, dass sie alles für mich tun würde, so wie ich für sie. Sie würde mich hier herausholen. Sie würde nicht zulassen, dass so etwas mit mir geschieht. »Sie sagten, du hast eine Familie«, hörte er eine Stimme flüstern. Erst nach einer Weile merkte er zu seinem Schrecken, dass es seine eigene war. Er brabbelte vor sich hin! So weit hatten sie ihn bereits gebracht … Aber was machte das schon, dann hörte er wenigstens etwas in dieser schrecklichen Stille. Hier drin gab es nichts, kein Geräusch, außer seinem eigenen Atem oder seiner Stimme. Es war so bedrückend still, wie er es noch nie erlebt hatte. Er konnte nicht schätzen, wie groß das Behältnis war, in das sie ihn gesperrt hatten. Eine Pralinenschachtel, hätte jemand gesagt, den er gut kannte, aber dessen Name ihm jetzt nicht gleich einfiel. Ein … Würfel, ein Kubus, ja, das war es. Er sah die Ecken, es sah alles gleichmäßig aus. »Jarvis …«, hauchte er in die Stille hinaus. »Ja, das war der Name …« Wozu das Ganze? Hatte er sich das schon mehrmals gefragt? Ein Gefühl von Déjà-vu setzte ein. Sie tun es wegen der Halluzinationen, dass ich nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann, dass ich völlig desorientiert bin und dem Wahnsinn nahe, und der Verzweiflung, um mich zu zerbrechen, ja, zu zerstören … aber das wird ihnen nicht gelingen, niemals … »Du wiederholst dich«, kicherte seine Stimme in die Düsternis. Sie klang dünn und zerbrechlich, als glaubte sie selbst nicht mehr daran, was sie von sich gab. »Nein … nein …«, stöhnte Cloud und hörte seine Stimme diesmal besser, klarer, deutlicher. »Ich gebe nicht auf … wie sieht Scobee aus … beschreibe sie …«
Ein schemenhaftes Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf, doch das war nicht Scobee, sondern seine Frau, und sie lächelte, und – »Nein, das ist gelogen!«, schrie Cloud. »Ich habe keine Familie. Ich bin nie dort gewesen, in jenem Haus, das nicht meines ist, und diese Kinder sind nicht meine! Das sind eingepflanzte Erinnerungen, das wollen sie mich glauben machen!« Fühlt sich so ein Klon?, stellte er sich eine interessante Frage, die ihn eine ganze Zeit lang beschäftigte und seinen Verstand klar und bei Laune hielt. Jedenfalls so lange, bis der Würfel anfing zu kippen.
John Cloud wurde es sterbenselend, aber er konnte nichts tun. Er hatte seine Albträume der letzten Zeit schrecklich gefunden? Lächerlich! Das war der reinste Mückenschiss gegen das hier! Der Kubus begann zu schaukeln. Vor und zurück, hin und her. Cloud hatte das Gefühl, von einem Ende zum anderen zu sausen, und jedes Mal, wenn er sich festhalten wollte, wurde er weitergeschleudert, in eine andere Ecke. Dabei bewegte er selbst sich ja gar nicht wirklich, denn schließlich hing er an den Schnüren in der Mitte des Würfels fest. Aber es wurde ihm so suggeriert, durch das schwache Licht, die uneinheitlichen Bewegungen … da war kein Rhythmus drin, kein System … Die Kippbewegungen bekamen eine Ergänzung, als der Würfel sich auch noch zu drehen anfing. Mal mit, mal gegen den Uhrzeigersinn, mal vertikal, mal horizontal. Die Achse kippte und verschob sich, und John Cloud übergab sich, obwohl gar nichts mehr in seinem Magen war. Aber er konnte nicht dagegen an, es würgte und würgte und würgte ihn, und er begann zu schreien, laut und immer lauter, seine ganze Qual und Not und Pein brüllte er hinaus. Er hätte jeden Schmerz willkommener geheißen als diese Folter, die unbeschreiblich war, die er nicht einmal Reuben Cronenberg gönnte, obwohl der doch sein schlimmster Feind war und der abscheulichste Mensch, den er je getroffen hatte. Der aus Scobee eine willenlose Puppe gemacht hatte.
»Erinnere dich!«, schrie Cloud hinaus. »Wie sieht sie aus? Welche Haarfarbe hat sie? Beschreibe Scobee, denn sie ist dein Halt, dein Anker in diesem Wahnsinn!«
»Sie haben da Speichel am Mund«, sagte Gilbert und reichte Cloud ein Tuch. »Danke«, sagte er und wischte sich den Mund ab. Dann durchfuhr ihn eisiger Schrecken. »Wann haben Sie mir den Anzug ausgezogen?« »Nun machen Sie aber halblang, lieber Freund«, versetzte Gilbert milde. »Erinnern Sie sich daran etwa auch nicht mehr? Sie haben hyperventiliert, es wurde beinahe ein epileptischer Anfall. Sie stürzten vom Stuhl, haben gezuckt und geschäumt und mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wir haben also diesen Raum hier mit einer verträglichen Atmosphäre geflutet, damit Sie es besser überstehen.« John Clouds Hand zitterte leicht, als er sein Gesicht betastete. »Nein, ich … bin wirklich desorientiert«, gestand er. »Ihre Methode scheint tatsächlich Wirkung zu zeigen, Gilbert. Macht Ihnen meine Atmosphäre übrigens gar nichts aus?« »Mir macht nichts etwas aus, Mister Cloud, denn ich bin nur ein Hologramm, das wissen Sie doch. Ihre Waffe, richtig? Sie haben beim ersten Mal auf mich geschossen. Natürlich gab es durch das energetische Sperrgitter Querschläger, und beinahe hätten Sie sich selber ausradiert, wenn Sie mir den flapsigen Ausdruck gestatten.« »Warum ließen Sie mir die Waffe?« »Vielleicht wollen wir feststellen, wann Sie das erste Mal versuchen werden, sich umzubringen, um uns zu entkommen.« Gilbert grinste. »Es wird Ihnen natürlich nicht gelingen, denn wir können jederzeit Ihre Waffe neutralisieren. Aber das gehört nun einmal zum Profil.« Er breitete die Hände aus. »Wie ist es, wollen wir nun fortfahren?« »Womit?«, entgegnete Cloud. »Nun, Sie kamen gerade so richtig in Erzählfluss. Wenn Sie so weitermachen, werden wir heute noch fertig, und dann ist alles vorbei, und Sie können sich endlich schlafen legen.« Gilbert presste die Fin-
gerspitzen aneinander und formte ein Dach, auf das er das Kinn legte. »Ich bin ganz Ohr, mein Freund. Und sehr müde. Wenn wir also ohne Unterbrechungen fortfahren könnten …« »Ich muss auf die Toilette«, sagte Cloud.
Er wachte auf. Alles wirbelte um ihn her, drehte sich im Kreis. Cloud schrie sich den Rachen wund. Er war kein Mensch mehr, nur noch ein zuckendes Etwas, das bat, flehte, wimmerte, es möge aufhören, man möge ihn endlich sterben lassen und in Ruhe, ein für alle Mal. »Ich weiß nichts ich weiß nichts ichweißnichts …«, leierte er unzählige Male herunter, völlig monoton. Das Gehirn in seinem Kopf schien angeschwollen zu sein, denn er hatte das Gefühl, jeden Moment zu platzen. Noch nie hatte er sich so schlecht, so jämmerlich, so erbärmlich gefühlt. Und es gab kein Entrinnen, kein Entkommen. Er war ganz allein in diesem grauen Kubus, seiner kleinen Würfelwelt, mit der er verbunden war, auf alle Zeit, schaukelnd und kreiselnd, und manchmal ganz still, was aber kaum besser war, denn in seinem Verstand rotierte es weiter. »Er-innere … dich …«, winselte er. »Wie … sieht … sie … aus …?« Aber er konnte sie nicht mehr vor sich sehen. Und er wusste nicht mehr ihren Namen. Er wusste auch nicht mehr seinen Namen. Da war noch ein verborgenes Echo tief in ihm, aber mehr nicht. Er konnte ihn nicht mehr aussprechen, so weit wagte sich der Name nicht mehr hervor aus den Tiefen seines Gedächtnisses. Er hatte sich versteckt, dort drin, und wollte nicht mehr heraus. Es war das letzte bisschen, das noch von ihm übrig war. Und auch das würde bald verwehen wie ein frischer Hauch in der Wüste. »Ich und du …«, sang er, während der Kubus leise hin- und herschwang, wie ein Pendel, »… ganz allein …« Er merkte, wie es dunkel in ihm wurde, wie nacheinander die Lichter ausgingen, der Strom an Leben langsam zum Versiegen
kam, der Pulsschlag sank. »Str-Strom-aus-fall …« Er kicherte, während sein Kopf nach unten sank, und Speichel rann aus seinem Mundwinkel, der Vorbote von dem, was nachfolgen würde, aus ihm herausdrängte, endgültig.
»John«, erklang eine Stimme in der Dunkelheit. »John Cloud.« Und da war etwas Sanftes in ihm, etwas Behutsames, das ihn umhüllte und wiegte, wie man ein Kind wiegt. Sei unbesorgt, Freund. Es wird alles gut. Dir kann nichts mehr geschehen. Und dann wachte er auf.
10. Kapitel »Wach auf! Bitte komm zu dir!« Scobee fuhr hoch. »Was ist passiert?« Jelto, Cy und Aylea umringten sie. Ihre Gesichter waren sehr besorgt. »Das wollten wir dich fragen«, antwortete Jelto. »Wir versuchen seit über einer Stunde, dich wach zu bekommen.« »Über eine Stunde? Aber … die RUBIKON, was ist mit dem Schiff?« Scobee schob Aylea beiseite, starrte auf die Holosäule. »Wir … sind wieder zurück? Haben angedockt? Sesha, wie hast du den Weg gefunden?« »Unpräzise Frage«, sagte die Schiffs-KI. »Scob, was –«, fing Aylea an, doch Scobee hob den Zeigefinger, und das Mädchen verstummte. Jelto und Cy schwiegen ebenfalls. »In Ordnung. Also deutlicher: Als wir von der Station weggerissen wurden, was ist danach geschehen?« »Wir wurden nicht weggerissen.« »Aber da war doch dieser Sturm und dieser … Wirbel …« »Ich habe keinen Sturm aufgezeichnet, Scobee.« Die Frau rieb sich die Stirn, sie kämpfte sichtlich um ihre Fassung. Dann sah sie ihre Gefährten an. »Ist wenigstens einer von euch aufgewacht und hat etwas mitbekommen?« Die drei sahen zuerst einander (zumindest nahm sie das bei Cys schwankenden Knospen an), dann Scobee an. Cy übernahm diesmal die Antwort: »Keiner von uns hat geschlafen, Scobee. Wir waren die ganze Zeit wach. Aber du hast dich auf einmal wie eine Schlafwandlerin benommen.« »Ja, das stimmt«, bestätigte Aylea. »Du hast einen ganz glasigen Blick bekommen, und dein Mund hat sich bewegt, aber keiner von uns konnte hören, was du gesagt hast. Wir haben gleich versucht,
dich wachzurütteln, aber es war schon zu spät. Dein Geist war Lichtjahre weit weg …« »Wir haben Angst um dich bekommen, als du dich plötzlich verändert hast«, fuhr Jelto fort. »Du bist leichenblass geworden und ganz steif, und in deinen Augen stand nackte Angst. Wir wollten dich auf die Krankenstation bringen, aber Sesha hat uns versichert, dass deine Vitalfunktionen alle in Ordnung seien.« »Aber in deinem Kopf ging es drunter und drüber«, fuhr Cy fort. »Nur, da konnte Sesha nichts machen, wie sie behauptete. Also haben wir dich erst mal hier gelassen und alles versucht, um dich zurückzuholen.« Scobee schüttelte den Kopf. »Aber nein, ihr irrt euch, das ist alles ganz anders! Ihr seid es, die völlig weggetreten wart. Ich habe alles versucht, euch aber nicht wach bekommen. Und dann brach dieser furchtbare Sturm los, und die Fraktalen kämpften gegeneinander, dadurch wurde dieser Wirbel ausgelöst, der uns verschlang … und an mehr kann ich mich nicht erinnern.« »Natürlich, denn da haben wir dich endlich wach bekommen!«, meinte Aylea. »Was du da erzählst, reicht für eine ganze Stunde Albtraum.« »Es war kein Albtraum!«, beharrte Scobee. »Ich bin absolut sicher, dass es sich genau so zugetragen hat, wie ich es erzähle!« Jelto runzelte die Stirn. »Hör mal, Scobee, wir sind zu dritt einer Meinung. Denkst du, wir haben alle genau dieselbe Wahnvorstellung gehabt? Das ist doch wohl eher unwahrscheinlich.« Scobee beruhigte sich allmählich, ihr klarer Verstand gewann die Oberhand. »Ja«, gab sie zu. »Aber ich denke, dass wir unterschiedliche Wirklichkeiten erlebten.« »Du meinst, wieder so eine Verschiebung der Perspektive? Das wäre aber ganz schön krass«, stieß Aylea hervor. »Warum nicht?« Sie schaute wieder zur Holosäule. »Wir waren schon in einem Paralleluniversum. Stellt euch vor, dass dieser Ort hier … wie ein Bindeglied ist, ein Zwischenkontinuum, auf das alle Universen zugreifen, eine gemeinsame Schnittstelle. Da wäre es doch nur natürlich, wenn einiges durcheinander kommt. Ihr wart in
der einen Realität, ich in einer parallelen. Bei euch ist nichts weiter passiert, während ich den Untergang der RUBIKON miterlebte. Irgendwo ist jetzt vielleicht gerade eine Scobee umgekommen.« »Wow«, stieß Aylea beeindruckt hervor. »Ganz schön kühne Theorie.« »Und genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie alles andere hier«, bemerkte Jelto. Cy knisterte: »Aber es klingt wirklich gut. Es würde uns auf alle Fälle die Sicht der Dinge erleichtern und unsere Überlegungen. Damit fischen wir nicht mehr ganz im Trüben.« Scobee verzichtete darauf, Sesha nach einer Berechnung über die Richtigkeit ihrer Theorie zu fragen. Da war zu viel Hypothetisches dabei, es gab allzu viele Unbekannte und keine einzige Konstante. Immerhin konnte sie sich mit dieser Theorie anfreunden, sie hatte tatsächlich etwas Tröstendes. Es bedeutete zumindest, dass jeder von ihnen Recht hatte und dass sie nicht alle dabei waren, durchzudrehen. Es gab endlich eine Erklärung, ob nun wahr oder nicht – man konnte sich daran festklammern. »Lasst ihr mich kurz in Ruhe alles kontrollieren?«, bat sie ihre Gefährten. »Ihr könnt bleiben, es ist nach wie vor besser, wenn wir uns gegenseitig beobachten, denn wer weiß, wo mein Geist jetzt wäre, wenn ihr mich nicht unentwegt beackert hättet.« »Klar«, sagte Aylea. Die drei kehrten auf ihre Plätze zurück, unterhielten sich leise. Möglicherweise machten sie sich Gedanken darüber, ob Scobee tatsächlich noch ganz richtig im Kopf war und hatten ihr vorhin nur deswegen nicht widersprochen, weil man das mit Geisteskranken besser nicht tun sollte. Das brauchte sie jetzt nicht zu kümmern. Immerhin konnten die drei keine Meuterei anzetteln, denn niemand konnte die RUBIKON fliegen, und Sesha würde auch niemandem sonst gehorchen. Scobee forderte Sesha über die Handkontrollen in ihren Armlehnen zu diversen Systemchecks auf, sowie zur Analyse der Situation draußen.
Wie sich herausstellte, hatte die RUBIKON sich tatsächlich nicht von der Stelle gerührt. Auch die Haltung der Andockklammern und das Energiefeld waren unverändert. Zuletzt wollte Scobee einen Eintrag über die Ergebnisse ins Schiffslogbuch machen. Als Anlage wollte sie die Aufzeichnungen der letzten beiden Stunden anfügen. Und da fiel es ihr auf. Dass sie nicht gleich darauf gekommen war! Die Aufzeichnungen würden beweisen, was tatsächlich geschehen war, warum hatte niemand daran gedacht? Scobee schickte einen verstohlenen Blick zu den drei Gefährten, die ihr schräg gegenübersaßen. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft, deuteten zwischendurch auf die Holosäule und diskutierten weiter. Gut, es würde also niemand auf sie achten. Scobee schaltete auf Abspielen, aber ohne Ton. Für eine Weile war alles so, wie sie es in Erinnerung hatte. Aylea, Jelto und Cy kamen in die Zentrale, kurz darauf auch Scobee selbst. Sie unterhielten sich … Scobee beschleunigte den Vorgang. Und dann, plötzlich, der Sprung zu ihrer »Erweckung«. Was …. dachte die GenTec verblüfft, was ist da passiert? »Wo ist der Rest, Sesha?«, fragte sie leise. »Bitte präzisieren.« »Da ist ein Sprung in den Aufzeichnungen. Ich setze mich gerade hin, um eine Stunde zu warten, bis wir uns neue Aktionen zur Rettung von John und den anderen überlegen wollen, und im nächsten Bild sind die anderen gerade dabei, mich wachzuschütteln!« »Ich habe nichts anderes.« »Hast du zwischendurch abgeschaltet?« »Nein. Gemäß deines Befehls habe ich lückenlos aufgezeichnet.« Scobee war nun mehr als verwirrt. »Und was ist nun genau in der Zeit dazwischen passiert? Man sieht doch, dass das nicht innerhalb von einer Minute geschehen sein kann!« »Augenblick, ich rekonstruiere …«, sagte Sesha – und dann: »Ich
habe keine weiteren Aufnahmen. Es ist genau so kontinuierlich aufgezeichnet worden, wie es verlangt wurde.« Scobee grübelte. Die anderen waren immer noch mit sich beschäftigt. Dann stellte sie eine neue Frage: »Woran kannst du dich erinnern, Sesha?« »Bitte präzisieren.« »Das nervt! Okay, ich werde deutlicher. Kannst du dich daran erinnern, dass ich auf einmal weggetreten war und die anderen versucht haben, mich zu wecken?« »Ja.« »Wie lange hat das gedauert?« »Etwa zwei Minuten acht Sekunden Standard-Bordzeit.« Scobee kniff die Augen zusammen. Sie kam der Sache langsam näher. Zwei Minuten. Die anderen hatten gesagt, sie hätten es über eine Stunde versucht! »Kannst du dich ebenso daran erinnern, dass ich versucht habe, die anderen drei zu wecken, weil draußen ein Sturm ausbrach?« »ja.« Wahnsinn! »Wie lange hat das gedauert?« »Zwei Minuten acht Sekunden Standardzeit.« Scobee nickte. »Das dachte ich mir.« Sie rieb sich den Oberschenkel. »Sesha, kannst du dich an einen Sturm erinnern, an kämpfende Fraktale?« »Nein.« »Es war alles wie gewohnt?« »Ja.« »Gut. Letzte Aufgabe: Nenne mir den exakten Zeitpunkt der Bordzeit, als ich mich hinsetzte, um zu warten – und dem nächsten Bild, als ich geweckt wurde.« Sesha nannte die beiden Zeiten. Es lagen genau 62 Minuten und acht Sekunden dazwischen.
11. Kapitel »Wo bin ich?«, fragte John Cloud. (Er wusste seinen Namen wieder!) Er versuchte, sich aufzurichten, gestützt von Jarvis, dem er sich verdutzt gegenübersah. Neben ihm saß Algorian und strahlte, wie ein Aorii eben strahlen konnte. »Endlich bist du wieder bei uns!«, freute sich der schmächtige Humanoide. »Du hast uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt!« Cloud wollte sich den Kopf reiben, doch seine Hand stieß an den Helm. Verdutzt blickte er an sich herab. Er trug den Anzug, wie gehabt, und daran war überhaupt keine Veränderung. Er sah weder beschädigt noch mitgenommen aus, Waffen, Gürtel, alles vorhanden. Und wenn Cloud es recht bedachte, hatte er auch überhaupt keine Schmerzen, kein Unwohlsein, kein Kopfweh, nichts! Es war alles fort, wie weggewischt, er war in ausgezeichneter Verfassung und fühlte sich auch so. Bis auf die Erinnerungen. »Was hast du durchgemacht, John?«, fragte Jarvis. »Du bist ganz blutleer … und in deinen Augen ist ein Ausdruck, den ich bei Aylea sah, als ich sie kennen lernte.« »Ich habe Furchtbares durchgemacht«, antwortete Cloud und stand ächzend auf. »Eine Fortsetzung meiner Albträume, aber zugleich auch ein Höhepunkt. Ich hätte niemals gedacht, was mit einem Schreckliches passieren kann, und selbst als Halluzination ist es so grauenvoll, dass ich das niemandem wünsche. Und vermutlich in der nächsten Zeit nicht so gerne an Schlaf denken werde.« »Noch ein Päckchen mehr, das du mit dir herumtragen musst«, sagte Jarvis mitfühlend. »Ich kann dich besser verstehen, als du glaubst.« »O ja«, bestätigte Algorian. »Jarvis ist nämlich völlig zerflossen, und es hat nicht viel gefehlt, da hätte ich ihn in einem Einmachglas mitnehmen können.«
Cloud starrte den ehemaligen Klon an. »Ein Glück, dass du wieder zu dir gefunden hast.« »Ja, ich habe mich wieder versammelt«, meinte Jarvis ironisch. »Deine Halluzinationen können wir dir übrigens erklären: Du bist in eine Falle gestolpert.« Er blinzelte. »Eine Falle?« »Allerdings.« Algorian deutete auf einen chaotischen Schrotthaufen aus Metallteilen, Kabeln und Verbindungselementen. Cloud sah sich jetzt erst um. Er befand sich in einer großen Halle, vermutlich eine automatische Fabrik, den Förderbändern nach zu urteilen. Die Fabrik funktionierte allerdings nicht mehr. Bauteile, Fertigungsroboter, Maschinen, alles war größtenteils zerstört und chaotisch verteilt. Energieleitungen, Rohre, größtenteils auseinander gerissen, von Pfosten oder Verbindungsstegen herabhängend; alles in allem ein wüstes Durcheinander. »Aber ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wie ich hierher gekommen bin!«, sagte Cloud erstaunt. »Das ist kein Wunder, nach allem, was wohl mit dir angestellt wurde«, erwiderte Jarvis voller Mitgefühl. »Deine richtigen Erinnerungen wurden durch die falschen nicht nur verschoben, sondern ersetzt. Und zwar von dieser Maschine da, die nun nur noch aus Einzelteilen besteht.« »Als wir dich fanden«, berichtete Algorian, »lagst du steif wie ein Brett auf dem Boden, und das mechanische Mistding hockte auf dir, sein Rüssel steckte in deinem externen Anschlussport. Es hat sich in dein Anzugsystem gehackt und von dort aus in dein Hirn.« »Zumindest haben wir diese Schlussfolgerung aus dem gezogen, wie du dich verhalten hast …«, ergänzte Jarvis. »… und aus dem reizüberfluteten Wahnsinn in deinem Gehirn, den ich vorfand, als ich mal kurz telepathisch nachsehen wollte«, schloss Algorian. »Hast du meine Gedanken lesen können?«, fragte Cloud langsam. »Nein, ich wurde von dem Chaos sofort wieder herausgeschleudert«, gestand Algorian. »Dein Glück«, murmelte Cloud. »Du musst das nicht auch noch
ertragen müssen.« Jarvis setzte den Bericht fort: »Wir haben das Ding ausgestöpselt, woraufhin du eine Art Kollaps erlitten hast. Daraufhin mussten wir dich reanimieren – physisch und psychisch, aber du warst nur wenige Sekunden total weggetreten. Zu kurz, um sich Gedanken über den Tod zu machen.« »Das hätte uns gewurmt«, bemerkte Algorian. »Nach all der Mühe, die wir hatten, dich zu finden …« »Und wie habt ihr mich überhaupt gefunden?« »Ich hab dich gehört, hier drin.« Der Aorii tippte an den Helm. »Du hast so laut geschrien, selbst ein mittelklassiger Telepath wie ich konnte das nicht überhören.« »Tatsächlich ist Algorian der Einzige, der bisher unbeschadet durch die Perle Chardhin stolpert.« Jarvis klopfte dem Aorii auf die schmächtige Schulter, der ging daraufhin deutlich in die Knie. »Vielleicht ist dies ja mein Traum, und im Gegensatz zu euch habe ich eben einen schönen Heldentraum«, scherzte Algorian. »Alles, nur das nicht! Wir sollten weitergehen, du Held«, unterbrach Jarvis. Cloud nickte. »Hoffen wir, dass nicht wieder etwas dazwischenkommt. Wenigstens sind wir jetzt drin …« »Ja, und wie es aussieht, funktioniert einiges noch, anderes ist dagegen totaler Schrott«, stellte Jarvis fest. »Diese Maschine, die dein Gehirn in Matsch verwandeln wollte, ich vermute, dass sie ebenso wie Algorian deine Impulse empfangen und sich dir an die Fersen geheftet hat, bis sie dich hier in einem unachtsamen Augenblick überfallen konnte. Eine wandelnde Falle vielleicht, für unbefugte Schnüffler gedacht. Algorian und ich haben auf dem Weg hierher einige solcher Hallen durchquert, auf zwei verschiedenen Decks. Und es wird immer interessanter, je weiter wir kommen. Ich denke, wir nähern uns tatsächlich dem Zentrum.«
Als sie weitergingen, hing Cloud noch einige Zeit seinen Überlegun-
gen nach. Dieser Gedankenroboter, der ihn überwältigt hatte, hatte Dinge in ihm wachgerufen … Er hatte natürlich keine eigenen Bilder einspeisen können, sondern aus Clouds Unterbewusstsein eine Menge Wünsche, Sehnsüchte, Träume, auch Ängste herausgeholt und sie zu einer Geschichte verwoben, die beinahe real schien. Ja, sehr real war. Und diese Familie, die Cloud so vertraut war … war dies eine Zukunftsvision, versteckt in seinem Innersten, die vielleicht einmal wahr wurde? Dann dieses furchtbare Verhör, die Folter in dem Kubus … Dies alles war ihm suggeriert worden, doch der Grundstoff dazu war in ihm gewesen; wahrscheinlich nur in einzelnen Fetzen, die nicht in Zusammenhang miteinander standen. Doch mit dieser Manipulation war daraus eine neue Erfahrung entstanden, die so niemals stattgefunden hatte. Aber deswegen nicht weniger realistisch war. Vielleicht wurde dieses Grauen mit Absicht suggeriert, um tatsächlich Informationen aus ihm zu holen? Hatten die früheren Herren der Station diese Foltermethode bei unerwünschten Subjekten angewandt? Vielleicht war dieser Roboter ein verirrtes Überbleibsel aus der Zeit, das paradoxerweise immer noch funktionierte und ständig auf der Suche nach »Opfern« war, um seine Programmierung zu erfüllen? Und wie perfekt es funktionierte! Der Delinquent nahm keinerlei körperlichen Schaden dabei, obwohl sein Geist dies so empfand und in seiner ganz persönlichen Hölle litt. Eine grausame Methode, die ihresgleichen suchte … Und die möglich geworden war, seit John Cloud über die Schwelle getreten war. Da werde ich in langweiligen Momenten eine Menge zum Grübeln haben, dachte er. Doch jetzt schiebe ich es beiseite und konzentriere mich auf den Einsatz und nichts sonst. Das darf nicht noch einmal passieren!
12. Kapitel Nun entdeckten sie wirklich die fantastische Welt der Perle Chardhin. Natürlich nur einen kleinen Ausschnitt, aber das war gewaltig genug. Sie wanderten durch eine Sektion mit Hallen, die bis unter die Decke mit Technik angefüllt waren. Ein wunderliches Sammelsurium halb oder vollständig demontierter Roboter, ehemaliger automatischer Fertigungen, mit riesigen Schmelzöfen, deren Feuer schon lange erloschen war, und einem Gewirr an Kabelleitungen und Rohren. Hinzu kamen Aggregatblöcke, Container und noch einiges mehr. Ein Wunderland zum Entdecken für Erfinder, Bastler und Techniker. Immerhin kam jetzt ein wenig Farbe in die Angelegenheit, die Maschinen zeigten sich von sattem Gelb über Rostrot bis zu Tiefschwarz. Die Roboter wiesen verschiedene Silberschattierungen in Verbindung mit Rot, Gelb und Blau auf bis zu Türkis. Auch die Hallen waren mit farbigen Verkleidungen ausgelegt. Nur fanden sich nach wie vor keinerlei Symbole oder fremdartige Schriftzeichen; und damit kein Hinweis auf die geheimnisvollen Erbauer. »Teilweise ist es wie ein gigantischer Friedhof«, stellte Algorian fest. »Und dann wieder funktionieren irgendwelche Gerätschaften, die ohne Sinn irgendetwas produzieren, das niemand mehr braucht. Bizarr!« Tatsächlich durchquerten sie Produktionshallen, in denen der eine oder andere Fertigungsroboter noch in Betrieb war und unentwegt Löcher in Metallplatten stanzte oder verschiedene Teile miteinander verschweißte. Wenn kein Nachschub da war, produzierten sie einfach ins Leere, bohrten, sägten und schweißten so lange, bis der ganze Bereich zusammenbrach und die Roboter sich selbst verstümmelten, bis ihre Energiezellen aufgebraucht oder das interne System zerstört war. Andere Hallen hatten wohl als Lager gedient. Dort transportierten
Roboter unverzagt Fertigungsteile zwischen verschiedenen Haufen hin und her, nahmen hier etwas weg, um es dort aufzuhäufen. Brach ein Haufen zusammen, kehrte sich der Spaß um. Es war geradezu ein tragikomischer, fast rührender Anblick. »Warum wurden sie nicht stillgelegt?«, fragte Jarvis. »Ist diese Station etwa so plötzlich verlassen worden? Hat es eine Katastrophe gegeben?« »Bisher haben wir keine organischen Überreste gefunden«, meinte Algorian. »Allerdings, wenn Fontarayns Volk die Erbauer waren, haben sie sich vielleicht einfach aufgelöst. Ich habe ehrlich gesagt keine Vorstellung, wie Energiewesen sterben. Ich verstehe noch nicht einmal, wie sie existieren.« Cloud glaubte, eine Erklärung zu haben: »Eine Station dieser Größe entwickelt mit der Zeit eine Eigendynamik. Überlegt einmal, bei hundert Kilometern Durchmesser könnten ganze Generationen auf einem einzigen Deck heranwachsen, ohne dass sie etwas vom Rest der Perle wüssten. Ein Deck für sich ist ja schon kaum überschaubar, es gibt sehr viele verschiedene Sektionen und Einsatzmöglichkeiten. Ich schätze, diese armseligen Blechgeschöpfe sind einfach vergessen worden. Man hat nicht daran gedacht, sie zu deaktivieren. Vielleicht hatte man sie schon vergessen, als die Station noch in Betrieb war.« »Ich schlage vor, dass wir versuchen, höhere Ebenen zu erreichen«, sagte Algorian. »Die Erbauer der Perle werden nicht unbedingt diesem Kontinuum entstammen, sondern wohl unserem Standarduniversum. Das bedeutet, dass sie die Station nach uns vertrauten Gesetzmäßigkeiten konstruiert haben. Daraus folgere ich, dass sich die Maschinendecks unterhalb der Lebenssphären und Steuerzentralen befinden. Auf all meinen Reisen bin ich immer wieder auf diese Systematik gestoßen.« »Du hast Recht«, stimmte Cloud zu. »Das wiederholt sich bei vielen Intelligenzen, so fremdartig sie auch sein mögen. Es gibt eine gewisse universelle Ordnung im Chaos; Konstanten, die sich überall wiederholen.« »Wenn es ein längliches Objekt wäre, hätten wir auch die extremen Orientierungsschwierigkeiten nicht«, sagte Jarvis. »Was mir
auffällt: Hier unten haben wir keine Probleme mit der verschobenen Wahrnehmung, oder zumindest kaum. Woran liegt das?« Cloud blickte sich um. »Ich vermute, dass hier in diesem Quadranten noch ein Schutzfeld aktiv ist. Das könnte sich natürlich wieder ändern, sobald wir den Weg nach oben einschlagen.« »Darauf lassen wir es ankommen.« Algorian schritt munter voran. Dies hier war vertrauteres Gelände als auf der Außenhülle oder auf der Galerie, und er war energiegeladen. Auf dem Weg hatten sie darüber beratschlagt, was sie wegen der RUBIKON unternehmen wollten. John Cloud hatte natürlich besorgt reagiert, als er hörte, dass Algorian und Jarvis sie beim letzten Ausflug an die Oberfläche nicht mehr gesehen hatten. Andererseits war auch dies möglicherweise auf eine Perspektivenverschiebung zurückzuführen, wie der Spiegeltrick eines Zauberers, der optische Täuschungen hervorrief. »Es könnte eine Falle sein wie die, in die ich geraten bin«, hatte Cloud eine Vermutung geäußert. »Es kann sein, dass sich die Erbauer oder sonst jemand die Auswirkungen dieses Kontinuums zunutze gemacht haben, um unwillkommene Eindringlinge fern zu halten oder gleich ganz auszuschalten.« »Oder, es ist nur das Kontinuum – und die dritte Möglichkeit, die RUBIKON ist tatsächlich weg«, hatte Jarvis erwidert. »Frage: Wollen wir nach der RUBIKON suchen, oder bleiben wir bei dem ursprünglichen Ziel, Fontarayn zu finden?« Cloud fällte als Commander die Entscheidung; sie fiel ihm leicht. »Wir sind endlich im Inneren gelandet, also bringen wir unsere Mission auch zu Ende. Scobee und die anderen können auf sich selber aufpassen, außerdem ist da immer noch Sesha. Ganz hilflos sind sie also nicht.«
Immerhin konnten sie sich jetzt verteilen, wenn mehrere Möglichkeiten an Gängen angeboten wurden, was die Suche erheblich verkürzte. Jarvis entdeckte als Erster einen Weg, der erkennbar nach oben ging. Sie kamen in einer Verteilerstelle heraus, ähnlich der, die John in
einer anderen Sektion entdeckt hatte. Doch diese hier war größer und noch unübersichtlicher, sie erstreckte sich über fünf Etagen und hatte nicht weniger als fünfzehn offene und geschlossene Gänge pro Etage. »Wer das gebaut hat, war ein Labyrinth-Fanatiker«, brummte Jarvis. »Es wäre sicherlich auch ein sehr viel einfacheres System möglich gewesen.« »Es ist vor allem ziemlich sinnlos für ein Volk, das aus Energie besteht«, bemerkte Cloud. »Sie müssen jede Menge Hilfsvölker gehabt haben.« »Ähnlich wie bei den Foronen in Tovah'Zara …«, ließ Jarvis einfließen. Cloud nickte. »Genau. Bei diesem riesigen Konstrukt hier kein Wunder. Vielleicht haben sich die Energiewesen oben in der goldenen Sphäre aufgehalten, und die Arbeiter mitsamt der Technik hier unten. Dazu würde auch passen, dass sie da oben nicht von den Einflüssen des Kontinuums abgeschirmt sind, das hält Neugierige als natürlicher Schutzwall ab.« »Aber wo sind die alle?«, fragte Algorian. »Man findet keine Lebensbereiche – gut, die haben wir vielleicht noch nicht erreicht –, aber auch sonst keine Hinterlassenschaften! Überhaupt nichts, was auf die Anwesenheit organischer Wesen hindeuten würde … oder meinetwegen auch anorganischer!« »Wir wissen nicht, wie lange die Station schon leer steht«, erwiderte Cloud. »Vielleicht haben irgendwelche Reinigungsroboter im Lauf der Zeit alles beseitigt.« »Eine komische Angelegenheit ist es jedenfalls schon«, murmelte Algorian vor sich hin. »Ich habe was entdeckt!« Jarvis hatte es irgendwie geschafft, ein Schott zu öffnen. Jetzt winkte er ihnen. Cloud sah einen Schacht, der senkrecht nach oben und unten führte. Jarvis zog einen ausgefahrenen Tentakel ein. »Ich spüre einen starken Luftzug«, sagte er. »Ich glaube, das ist ein Antigravlift oder so was, und er scheint noch zu funktionieren.«
»Damit würden wir schneller vorankommen und könnten die Decks in kürzeren Abständen untersuchen«, freute sich Algorian. »John, wenn du einverstanden ist, werde ich ihn zuerst testen«, schlug Jarvis vor, und Cloud nickte. Der ehemalige Klon sprang in den Lift – und sackte in beachtlicher Geschwindigkeit nach unten; so schnell, dass Cloud und Algorian ihn nach wenigen Sekunden aus den Augen verloren. »Alles in Ordnung, macht euch keine Sorgen!«, klang Jarvis' Stimme herauf. »Mir ist fast das Herz stehen geblieben!«, schimpfte Algorian. »Immer muss er solche Sachen machen!« Cloud grinste. »Bist du neidisch?« Etwa eine halbe Stunde später kam Jarvis gemütlich nach oben geschwebt und stieg bei ihnen aus. »Ich glaube, ich habe den Trick raus«, erklärte er. »Die linke Hälfte geht abwärts, und zwar umso schneller, je weiter du vom Ausstieg weg bist. Rechts geht es nach demselben Prinzip aufwärts. Was ich so auf die Schnelle gesehen habe, sollten wir uns wirklich nach oben orientieren. Da unten geht es weiter mit Hallen voller Schrott. Teilweise liegt alles im Dunkeln oder ist ganz zusammengestürzt. Es gibt übrigens Lift-Abzweigungen in andere Bereiche, man kann sich also auch horizontal bewegen. Wahrscheinlich erstreckt sich dieses Netz durch die ganze Kugel.« Sie betraten den Lift, und nach mehreren wackligen Versuchen hatten auch Cloud und Algorian den Dreh raus. Sie nahmen den langsamen Weg und schwebten an weiteren Decks voller Gerümpel vorbei. Sehr entgegenkommenderweise wurde bei Erreichen einer neuen Etage ein Hologramm eingeblendet, das einen groben Wegweiser durch das betreffende Deck enthielt. Endlich einmal ein Lichtblick, wie sie sich zurechtfinden konnten! »Wartet, hier steigen wir aus!«, sagte Cloud plötzlich, der die Holos sorgfältig studierte. Mit diesen Worten sprang er bereits aus dem Schacht.
Das Schott hatte sich automatisch geöffnet, und die drei Gefährten betraten eine ganz neue Sektion. Hier war alles leer. Wenn es einmal Technik gegeben hatte, war sie fortgeschafft worden. Hier und da fanden sich vergessene Maschinenteile und viel Staub auf dem Boden. Die Wandverkleidungen waren nicht mehr eintönig in Grau gehalten, sondern hatten einen zarten Goldton und verbreiteten ein helles, freundliches Licht. Es war ein offener Bereich, mit einer Galerie in schätzungsweise zwanzig Metern Höhe. »Ich komme mir auf einmal ganz klein vor«, sagte Algorian mit unwillkürlich gedämpfter Stimme, als sie durch die weitläufige Sektion gingen. John Cloud sah auf seine Anzeige. Hier herrschten dieselben Bedingungen wie überall. Die Anzüge waren weiterhin vonnöten. »Seltsam«, bemerkte Jarvis. »Obwohl es hier so öde und verlassen ist, habe ich auf einmal das Gefühl von Erhabenheit.« »Das ist diese himmelstürmende Bauweise«, erwiderte Cloud. »Wie Algorian schon sagte, man fühlt sich unwillkürlich ganz klein. Wieder einmal eine verschobene Perspektive … die für uns jedoch ganz verständlich, eigentlich alltäglich ist.« Sie bewegten sich auf ein riesiges goldenes Tor zu. Es hatte eine Höhe von mindestens acht Metern und war mittig geteilt. Jede Torhälfte war gut drei Meter breit. Das Portal war in eine mattsilberne Wand gesetzt, und zum ersten Mal waren am Rahmen Verzierungen erkennbar, verschnörkelte Muster, die etwas bedeuten mochten oder auch nicht. »Und wie kriegen wir das auf?«, fragte Algorian ratlos. »Für wen wurde es gebaut?«, stellte Jarvis eine andere Frage. John Cloud erinnerte sich plötzlich an seine erste verborgene Tür und den geheimen Schalter … Daraufhin nahm er die Verzierungen des Rahmens in Augenschein, tastete sie ab, drückte beiderseits des Tores dagegen. »Seht euch genau die Muster an, sucht nach Unterschieden oder irgendetwas Auffälligem«, forderte er die Freunde auf. Zu dritt suchten sie, der eine ganz nah, der andere aus der Entfer-
nung. »Soll ich versuchen zu diffundieren?«, schlug Jarvis vor. »Nein, spar dir deine Kräfte«, lehnte Cloud ab. »Es hat dich die letzten Male ziemlich mitgenommen – wir versuchen es zuerst auf die herkömmliche Weise.« »Mir ist da was aufgefallen«, erklang Algorians Stimme, der die Muster mit Abstand betrachtete. Als Cloud zu ihm kam, deutete er auf ein Symbol auf der rechten Seite, in etwa zweieinhalb Metern Höhe. »Schau mal, das passt nicht zu den anderen.« Cloud musste die Systemoptik in Anspruch nehmen und heranzoomen, um auch nur ansatzweise erkennen zu können, was Algorian ohne technische Hilfsmittel entdeckt zu haben meinte. »Stimmt«, sagte er dann. Es war ein winziges, kaum hervorgehobenes Dreieck mit dünnen Linien. Ausgerechnet dieses scharfwinklige geometrische Objekt hätte man an einem Ort wie diesem nicht vermutet. »Das probier ich aus.« Jarvis streckte sich in die Länge, ihm bereitete das weiter keine Schwierigkeiten. »Der Türöffner muss ziemlich groß gewesen sein«, bemerkte der Aorii. »Das bedeutet, von den unten angesiedelten Hilfsvölkern ist keiner je hier oben gewesen, denn dort unten sind die Zugänge für uns fast zu niedrig und zu schmal.« Jarvis fummelte eine Weile an dem Dreieck herum. Dann hörte man ein lautes Klicken, und gleich darauf schwangen die Torflügel leise auf. Algorian zappelte vor Ungeduld, aber Cloud mahnte zur Ruhe. Erst wollte er sehen, was sich dahinter offenbarte, bevor sie vorstürmten. »Jetzt bin ich aber gespannt!« Es war eher unspektakulär, aber Algorian war dennoch nicht enttäuscht. »Das sind Hangars!«, behauptete er, als sie den Bereich hinter dem goldenen Portal betraten. Diese Sektion hier war noch größer und weitläufiger als der Zugang und zur Hälfte in mehrere Abschnitte unterteilt. Jetzt endlich waren auch so etwas wie Terminals zu er-
kennen, Kabinen, bis oben voll gestopft mit Steuer- und Schaltvorrichtungen. Aber auch hier nur noch wenige Überreste. Der Großteil der Einrichtung musste fortgeschafft worden sein, so verlassen wie es aussah. Warum einiges stehen geblieben war, war wie alles andere in der Perle Chardhin rätselhaft. Die Hangars waren leer. John Cloud ließ es sich nicht nehmen, sie der Reihe nach abzuschreiten. »Das bedeutet, wir sind schon wieder sehr nah an der Außenhülle«, stellte Algorian fest. »Das finde ich eine äußerst positive Entwicklung, denn es erleichtert uns die Orientierung!« »Vielleicht sind es doch keine Hangars, sondern irgendetwas anderes, wir gehen ja lediglich von unserem Vorstellungsvermögen aus«, wandte Jarvis ein. Cloud, der ein Stück weit vorausgegangen und fast um die nächste Kurve verschwunden war, sagte: »Doch, es sind Hangars.« Seine beiden Gefährten holten zu ihm auf und sahen, was er meinte. Hier musste eine Katastrophe stattgefunden haben. Hinter der Biegung war der Blick auf viele weitere Hangars freigegeben, und diese waren nahezu vollständig zerstört. Als hätte es eine ungeheure Explosion gegeben, war fast der gesamte Bereich geschwärzt und das Metall zu bizarren Formen zerschmolzen; selbst der Boden war in Mitleidenschaft gezogen. Trümmer und Bruchstücke lagen verstreut herum – von Wänden, technischen Einrichtungen, Aggregaten. An manchen Stellen war der Boden aufgerissen und zeigte tiefe, ebenfalls schwarz verkohlte Löcher. In einem der ausgebrannten Hangars lagen die Überreste eines Kugelschiffes. Es war nicht so groß wie das von Fontarayn, aber einige unbeschädigte Stellen zeigten goldschimmernde Stellen. Das Schiff war aufgebrochen, das Innere völlig ausgebrannt und zerstört, es war nicht mehr erkennbar, wie es einst ausgesehen haben mochte. Bruchstücke aus wie Gebirge aufragendem, geschmolzenem Metall versperrten den Zugang nach innen. »Sie waren in jedem Fall schon einmal hier«, stellte Jarvis fest.
»Jetzt bin ich sicher, dass Fontarayns Volk mit den Erbauern der Perle identisch ist. Aber wo sind sie alle hin?« »Mich würde vielmehr interessieren, was hat Fontarayn jetzt hier zu suchen, nachdem die Station lange aufgegeben wurde – vor wie langer Zeit wohl?«, sagte Cloud und sah sich um. »Die Angreifer müssen ein enormes technisches Know-how haben, wenn sie dieses Raumschiff so zurichten konnten«, sagte Algorian, während er in weitem Bogen um das Wrack herumging. »Der Schwarm der grünen Schiffe konnte Fontarayns Schiff zerstören, vergiss das nicht«, erwiderte Jarvis. »Vielleicht waren das dieselben Typen? Eine uralte Feindschaft, wie wir sie bei den Foronen und den Virgh erlebt haben …« »Die Station scheint sich aber ihrem Zugriff zu entziehen, sonst hätten die längst Schluss damit gemacht.« Cloud wandte sich einem der Terminals zu, das noch unversehrt aussah. »Die wirkten nicht so, als wenn sie halbe Sachen machen würden. Das bedeutet, sie schaffen den Weg hier herein nicht – oder sie wissen nicht mehr, dass es die Perle Chardhin gibt.« Er brachte das Ding nicht zum Laufen, es war und blieb dunkel. Auf den Sensorfeldern waren nüchterne geometrische Symbole eingezeichnet, die Cloud nichts weiter sagten, aber das hatte er auch nicht erwartet. Algorian blieb plötzlich stehen. Er legte den Kopf leicht schief, als würde er lauschen. »Ich werd verrückt«, sagte er dann verblüfft. Cloud und Jarvis waren sofort alarmiert und kamen auf ihn zu. Algorian fing an zu schwanken, und Cloud stützte ihn gerade noch, bevor er umfiel. Der Aorii klammerte sich an Clouds Arm, seine Augen waren verdreht, die Lider flatterten. »Ja …«, flüsterte er. »Ich bin sicher …« Cloud gab Jarvis ein Zeichen, sich still zu verhalten, damit Algorian nicht aus seiner Konzentration gerissen wurde. Es schien sehr anstrengend für ihn zu sein, sein hageres Gesicht war verzerrt und bleich. Schließlich kam der Aorii wieder zu sich und blickte Cloud an. »Ich kann Fontarayn hören«, sagte er. »Er ruft um Hilfe … ich weiß
nicht, wie lange schon. Er wirkt schwach – und offensichtlich kann er meine telepathischen Impulse nicht empfangen. Ich wollte ihn fragen, wo er ist.« »Konntest du ihn lokalisieren?«, fragte Cloud. »Nur sehr vage.« Algorian deutete über sich. »Wir waren tatsächlich auf dem richtigen Weg, er ist irgendwo da oben. Vielleicht kann ich ihn besser lokalisieren, wenn wir uns ihm annähern. Aber versprechen will ich nichts.« »Zumindest wissen wir, dass er noch lebt«, sagte Cloud erleichtert. »Was immer das bei einem seiner Art heißt … Der Rest dürfte jetzt auch noch zu bewältigen sein.« »Ein Kinderspiel gegen das Bisherige«, brummte Jarvis. »Soll ich dich ein Stück tragen, Freundchen? Du bist ziemlich wacklig auf den Beinen.« »Ich schaffe das schon«, versetzte Algorian stolz.
13. Kapitel Scobee wanderte in der Zentrale der RUBIKON auf und ab. Ihre Sorge wuchs von Stunde zu Stunde, da sie keine Nachricht von Cloud und den anderen erhielt. Außerhalb des Schiffs war alles ruhig. Kein Sturm in Sicht, keine besonders aufregenden Farbenschlieren oder Fraktalzusammenstöße … Jelto, Aylea und Cy waren gegangen. Der Florenhüter meinte, er müsse etwas tun, sonst würde er noch verrückt werden, und Aylea und Cy wollten ihm dabei helfen. Es war auch dringend notwendig, denn im Garten hatte ein großes Pflanzensterben begonnen. Zumindest das war keine Einbildung: Dieses Kontinuum setzte Jeltos Schützlingen zusehends zu. Und das bedeutete wohl auch für Menschen und Außerirdische, dass sie nicht auf Dauer hier verweilen sollten. Der Florenhüter konnte sicherlich einiges tun, dank seiner ganz speziellen Begabung, und Cy als Pflanzenwesen mochte ihm ein wertvoller Assistent sein. Aylea wollte sich wenigstens irgendwie nützlich fühlen, außerdem konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, dass der Garten irgendwann nicht mehr da wäre. Scobee sah zu diesem Zeitpunkt kein Problem mehr darin, allein zu bleiben. Sie hatte ihre Theorie weiterentwickelt und sich überlegt, dass die Halluzinationen oder Phänomene möglicherweise durch den eigenen Gemütszustand verstärkt, wenn nicht sogar hervorgerufen wurden. »Es ist so«, sprach Scobee in ihr persönliches Bordtagebuch, »von dem Zeitpunkt an, als ich mir alle möglichen Gefahren ausmalte, die John eine Rückkehr zur RUBIKON unmöglich machten, fing der ganze Schlamassel an. Als würden sich umgehend meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten. Als ich in die Trance fiel, bekamen die anderen drei es mit der Angst zu tun und malten sich nun ihrerseits ein Schreckensszenario aus.
Infolgedessen fehlt uns an Bord eine ganze Stunde, die auch Sesha nicht nachvollziehen kann. Auch sie hat diese Lücke, obwohl das unmöglich erscheint. Es bleibt also die Frage offen, ob die Folgen nun real wurden oder weiterhin eine Einbildung von uns allen waren – wobei jeder in seiner eigenen Vorstellung gefangen blieb. Ich tendiere dazu, dass unsere Halluzinationen Wirklichkeit wurden. Beweisen werde ich es nie können. Aber das bedeutet, dass wir uns ab jetzt vorsehen müssen. Das ist durch die Wahrnehmungsverschiebung natürlich nicht einfach, aber zumindest ich werde versuchen, mir ab sofort kein Horrorszenario mehr auszudenken, sondern emotional möglichst unbeteiligt zu bleiben. Sesha muss mich dabei unterstützen. Sonst endet das wirklich noch alles in Paranoia, und wir bringen uns gegenseitig um, bis John zurückkehrt. Dann findet er nur noch ein Leichenschiff vor.« Scobee beendete ihre Aufzeichnung und wandte sich der Holosäule zu. »Sesha, hältst du es für wahrscheinlich, dass John und die anderen zusammen mit Fontarayn zurückkehren?« »Solche Prognosen kann ich anhand mangelnder Parameter nicht stellen. Und im Gegensatz zu dir besitze ich keine Gefühle, dementsprechend auch keine Hoffnung, Optimismus oder Träume. Ich kann mich nur an Tatsachen halten.« »Die hier kaum mehr von Bedeutung sind.« »Ja, das ist allerdings eine unangenehme Erfahrung für mich. Es ist wie ein defektes Programm, das alle anderen Abläufe stört, aber dessen Fehler nicht behoben werden kann. Den Großteil meiner Kapazität beschäftige ich auch mit diesem Problem. Doch eine Lösung ist nicht in Sicht, und das hat es noch nie gegeben.« »Ja, einmal ist immer das erste Mal, und auch eine KI stößt an ihre Grenzen«, meinte Scobee. Es tröstete sie sogar etwas. »Aber ich sage dir, Sesha, es kommt alles wieder in Ordnung. Wenn meine Imaginationen reale Auswirkungen haben, dann sollen sie ab sofort nur noch positiv sein.« Und ansonsten blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten.
14. Kapitel Sie schwebten mit dem Antigrav weiter nach oben. Jarvis und Cloud hatten Algorian in die Mitte genommen, der sich ununterbrochen konzentrierte, um Fontarayn zu lokalisieren. Es war schwer, das konnte man ihm ansehen. Der Aorii litt sichtlich mit dem Goldenen, dessen Hilferufe schwach und verzweifelt waren. »Ich kann meine emotionale Beteiligung immer noch nicht abstellen«, gestand er. »Ich glaube, Fontarayn ist gefangen, Schmerzen hat er wohl keine, aber große Furcht. Mir kommt es so vor, als ob er diesen Zustand nicht kennt.« »Ich verstehe, was er empfindet«, murmelte Cloud und dachte fröstelnd an den Kubus. »Dann sollten wir uns besser mal beeilen, wie?«, sagte Jarvis. »Wir haben schon genug Zeit damit vertrödelt, uns gegenseitig zu retten. Also streng dich an, Dünner, es ist deine Heldengeschichte!« »Alles, was du willst, Nanoklumpen.« Es wurde immer goldener um sie herum, heller und »sphärischer«. Cloud sah auf den Hologrammen zumeist leere Bereiche, aber zwischendurch gab es doch noch ein paar Überreste technischer Einrichtungen. Und diese sahen gar nicht so übel aus, trotz ihres Verfalls, sondern sehr viel liebevoller konstruiert; nicht nur funktional, auch ästhetisch ansprechend. Die Gebilde wurden lichter, nicht mehr so schwer, grob und klotzig, durchaus filigran. »Wir nähern uns dem Steuerbereich«, wies Cloud die anderen auf die Veränderung hin. »Hier befinden sich die Mechanismen, die die großen Klötze unten zum Laufen bringen. Die Überwachung, die Steuerung, die Programmierung. Es gibt auch keine Schotte und vielfach verzweigte Gänge mehr, sondern offene weitläufige Sektoren. Passend für Energiewesen.« »Müsste interessant aussehen, sie hier herumwabern zu sehen«
meinte Jarvis. »Aber von denen scheint auch keiner mehr übrig zu sein.« »Fragt sich nur, was Fontarayn da gefangen hält.« »Wir werden es bald wissen.« »Stimmt!«, rief Algorian. »Ich glaube, beim nächsten Ausstieg gehen wir raus! Ich fühle den Impuls näher kommen.« John Cloud machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich frage mich, wie das geht, du kannst doch keine Entfernungen …« »Doch, kann ich sehr wohl«, unterbrach Algorian. »Es vergeht Zeit zwischen der Kontaktaufnahme und dem Echo. Die wird kürzer, je näher ich komme. Außerdem werden die Rufe lauter und klingen nicht mehr so weit entfernt hallend. Ich kann's dir nicht erklären, John, es ist einfach so. Vertrau mir.« »Du bist unser Lotse, daran besteht kein Zweifel«, beschwichtigte er. »Ohne dich hätten wir überhaupt keine Chance, Fontarayn jemals zu finden.« Es wurde trotzdem eine Tortur für den schmächtigen Aorii. Als sie den Ausstieg erreichten, blieben sie stehen, und er lauschte. Dann entschied er, dass er sich geirrt hatte. Es war noch nicht so weit, von hier aus führte kein Weg weiter. Also zurück in den Schacht, und sie schwebten höher. Algorian führte sie kreuz und quer durch das dicht verzweigte Antigravnetz, bis weder Jarvis noch Cloud eine Vorstellung hatten, welche Richtung sie eigentlich ansteuerten. Auf alle Fälle hatten sie sich von der Außenhaut Richtung Zentrum bewegt, und immer noch ging es aufwärts. Nun ja, selbst wenn es nur zwanzig Kilometer waren, die sie zurücklegen mussten, dauerte es bei diesem Tempo eine ganze Weile. Das Innere der Perle war fast unvorstellbar groß, das musste Cloud sich immer wieder vor Augen halten. Etwa vergleichbar damit, dass er mit einem langsamen Gleiter auf der Erde in Washington startete, um einen Freund auf den Galapagos-Inseln zu suchen. Und dennoch würden sie Fontarayn finden. Algorian strahlte zwar Müdigkeit, vor allem aber auch Zuversicht aus. Sie schienen sich unbeirrbar dem Ziel zu nähern.
»Jetzt«, sagte der Aorii plötzlich. Sie stiegen aus … … und standen in einem Wald aus filigranen gläsernen Bäumen. Kaum mehr als armdicke Stämme, die etwa zehn Meter emporragten und sich ab einer Höhe von etwa vier Metern vielfach verzweigten, mit dünnen, rechtwinklig geknickten Ästen. Vereinzelt glühten die Astenden in einem zauberisch funkelnden Licht. Die Bäume verteilten sich über eine große Fläche und wurzelten im goldenen Boden. Während sie weitergingen, hörte John Cloud hier und da ein leises Klirren und sah, dass manche Bäume so etwas wie Blätter oder Früchte trugen – hauchfeine Zapfen, kristallklar wie Eis –, die von den höchsten Zweigenden herabhingen und sich in einem kaum spürbaren Luftwirbel bewegten und leise klirrend aneinander rieben. Staunend bewegten sich die Gefährten durch diesen Zauberwald. »Als er noch aktiv war, muss es hier nur so gefunkelt und geleuchtet haben«, sagte Jarvis fast andächtig. »Oder was denkst du, John? Das ist doch irgendeine Technik, ein Computer, oder ein Archiv … oder vielleicht sogar eine Steuerung.« »Es ist die Steuerzentrale«, bestätigte Algorian. »Ich kann endlich mit Fontarayn kommunizieren, jetzt kann er mich hören. Wir befinden uns in der Hauptsteuerzentrale der Perle Chardhin, und dies hier ist nur ein kleiner Ausschnitt. Der ganze Sektor umspannt umgerechnet auf eure Maßeinheiten etwa zwei Quadratkilometer. Es muss hier noch viel fantastischere Dinge geben. Aber zur Erkundung haben wir keine Zeit.« »Ja, schade«, bedauerte Jarvis. »Wenn wir sie nur früher entdeckt hätten …« »Los, weiter«, drängte Cloud. Er wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was ihnen da entging. Algorian führte sie durch das Labyrinth des Waldes; nun konnte
er präzise den Anweisungen Fontarayns folgen. »Er schnappt halb über vor Freude, dass wir ihn gefunden haben«, berichtete er. »Allerdings stürzt es ihn gleichzeitig in tiefe Depression, denn er ist ziemlich sicher, dass wir ihn nicht befreien können.« »Warten wir ab, so gut kennt er uns schließlich nicht«, erwiderte Cloud. Es ging kreuz und quer, und dann kamen sie plötzlich zu einer Art Raum, der optisch durch halbrunde Wände etwas abgetrennt wurde. Er besaß ein gläsernes, mattgold schimmerndes Kuppeldach. »Die Kommandozentrale«, erläuterte Algorian, nachdem er telepathisch mit Fontarayn kommuniziert hatte. »Da ist er drin.« Jarvis zögerte. »Können wir gefahrlos passieren? Nicht, dass wir in eine Falle tappen …« Algorian winkte ab. »Keine Sorge, die Fallen hier sind nur für Fontarayns Art gedacht, und er hat sich ja auch prächtig drin verfangen.« »Aber vielleicht sollte ich vorangehen …« Jarvis kam nicht dazu, überhaupt auszureden, da war Cloud bereits in den Raum gegangen … … und wie angewurzelt stehen geblieben. Er griff sich unwillkürlich an die Brust, weil ihm fast das Herz stehen blieb. Er musste ein Stöhnen unterdrücken, so machtvoll stürmten Erinnerungen auf ihn ein, und fast geriet er in Panik, weil er glaubte, jeden Moment wieder zu erwachen und festzustellen, dass es erneut alles nur ein Traum gewesen war, und dass die Wirklichkeit drinnen war, im Würfel, der ihn nie wieder freigeben würde … Denn es war ein Kubus, in dem Fontarayn gefangen gehalten wurde, genauso grau, genauso eckig, genau so, wie John Cloud ihn in Erinnerung hatte, nur von innen, und jetzt betrachtete er den Schreckenswürfel von außen. Plötzlich glaubte er, Fontarayns Furcht und Leid zu spüren, mitzuerleben, denn es war exakt das, was auch er erlebt hatte, in jener suggerierten Eingebung aus Qual und Folter. Eine Hand berührte seinen Arm, und er zuckte zusammen. Algorian stand vor ihm, und Mitleid stand auf seinem fremdarti-
gen Gesicht geschrieben. Cloud kannte den Aorii inzwischen gut genug, um sein Mienenspiel interpretieren zu können. »Es ist vorbei«, sagte er leise. »Du bist frei. Du wirst nie wieder dort drin sein. Sei ganz ruhig.« Cloud spürte, wie sich das Chaos in seinem Verstand lichtete. Algorians beruhigende telepathischen Impulse verfehlten ihre Wirkung nicht. Oder war er dazu gar nicht in der Lage? Egal, es tat gut. Er war nicht allein. Und dort in dem Kubus war ein Wesen gefangen, das genauso litt wie er, und dem geholfen werden musste.
Cloud sah sich um. Die Kommandozentrale war in desolatem Zustand. Zum Teil war die Technik entfernt worden – alles andere war deaktiviert, teilweise halb demontiert. Der graue Kubus passte überhaupt nicht hierher. War er von einer fremden Macht zurückgelassen worden, als Falle für Wesen wie Fontarayn? »Was tun wir jetzt?«, fragte der Kommandant laut. »Hat Fontarayn eine Idee?« »Er dankt uns, dass wir gekommen sind, aber wir können ihm nicht helfen und sollten wieder verschwinden, bevor es uns auch noch erwischt«, ratterte Algorian herunter. »Ich glaube, er ist ziemlich durchgedreht. Er wird uns keine Hilfe sein.« Jarvis wanderte um den drei mal drei mal drei Meter messenden Quaderblock. »Wenn wir versuchen, ihn zu sprengen, könnte Fontarayn Schaden nehmen. Ich sehe keine Fuge, kein Scharnier, nichts, wo wir einen Hebel ansetzen könnten, um ihn mechanisch aufzubekommen oder auseinander zu nehmen. Das Ding sieht aus wie aus einem Stück gegossen.« »Und wenn wir versuchen, ein Loch reinzubrennen?«, schlug Algorian vor. John Cloud nahm seinen Handlaser, zielte auf eine Stelle und drückte ab. Nichts passierte.
Er stellte auf höchste Intensität und fixierte einen Punkt, gab Dauerbeschuss – nichts tat sich. Es entstand nicht einmal Dampf. Cloud studierte die Messanzeigen seines Anzugs. »Möglicherweise abgeschirmt, aber ich kriege wie immer keine eindeutigen Werte. Schwierig.« Er überlegte. Algorian presste sich an die Wand des Kubus, als wolle er ins Innere lauschen. »Was ist das, das ein Energiewesen festhalten kann?« »Wir könnten versuchen, ihn so, wie er ist, an Bord der RUBIKON zu schaffen«, sprach John Cloud einen Gedanken aus. »Fontarayn könnte über dich, Algorian, vielleicht die Steuerung des Schiffes unterstützen. Wir verlassen dieses Kontinuum, das uns bald alle durchdrehen lässt, und versuchen es in unserem Standarduniversum. Da haben wir genug Zeit und vielleicht mehr Möglichkeiten.« Algorian lauschte eine Weile nach innen. Dann schüttelte er den Kopf. »Er sagt, es geht nicht.« »Was geht nicht?« »Du kannst den Kubus nicht transportieren. Du kriegst ihn von hier nicht weg. Er ist in dieses Medium eingepasst oder so, und Fontarayn sagt, du kannst kaum dieses ganze Kontinuum hochheben und an Bord der RUBIKON schleppen – außerdem würde es nicht hineinpassen.« Cloud musste anerkennen, dass Fontarayn nicht ganz so fremd war, wie es schien. Ähnlich wie ein Mensch entwickelte er in einer aussichtslosen Situation Galgenhumor. »Dann muss eben ich wieder ran«, sagte Jarvis plötzlich. »Was meinst du?«, fragten Cloud und Algorian unisono. »Na, ich muss eben wieder diffundieren«, erklärte der ehemalige Klon. »Das müsste klappen! Fontarayn ist schließlich ein Energiewesen und damit kein so schwerer, unflexibler organischer Klops wie ihr.« Cloud runzelte die Stirn. »Du denkst ernsthaft …?« »Klar, wieso nicht? Ich habe es jetzt schon ein paar Mal gemacht, und es hat jedes Mal funktioniert. Dieser Kubus besteht aus ganz ähnlichem Material wie die Perle, und er ist in das Kontinuum eingebettet, sagt Fontarayn. Da müsste ich diffundieren können! Oder
zumindest damit verschmelzen, vergiss nicht, mein Körper besteht aus Nanopartikeln.« Jarvis hob auffordernd die Hände. »Also, Commander? Dein Befehl?« Cloud ließ sich nicht lange Zeit mit der Entscheidung, sie hatten gar keine andere Wahl. »Tu es.« »Ich überwache telepathisch«, sagte Algorian. Jarvis trat an den Block und legte seine Hände flach dagegen. »Pass auf dich auf, Freund«, murmelte der Aorii. Für Cloud war es bizarr, zuzusehen, wie Jarvis plötzlich seine Form verlor und regelrecht in den Metallblock hineinfloss. »Ein Glück, dass er vorher üben konnte«, murmelte er. »Ich kann seine Gedanken hören, er findet es ganz leicht«, berichtete Algorian. »Ah … jetzt hat er Fontarayn entdeckt. Der ist völlig … na ja, ›aus dem Häuschen‹ zu sagen, wäre hier grundlegend falsch. ›Außer sich‹ passt auch nicht.« »Ist doch egal«, knurrte Cloud nervös. Der Aorii grinste. Doch dann wechselte sein Gesicht übergangslos zu Besorgnis. »Der Block setzt sich gegen Jarvis zur Wehr! Er … er entzieht ihm alle Kräfte, das wird knapp …« »Was hat er vor?« Cloud musste Algorian stützen, der durch die telepathisch miterlebten Vorgänge im Kubus ebenfalls geschwächt wurde. »Fontarayn soll durch ihn hindurchgleiten, so kommt er raus …« Dann konnte Algorian nicht mehr weiterreden. Erschöpft sank er halb in Clouds Armen zusammen. Voller Besorgnis musste Cloud abwarten, was weiter geschehen würde. Er konnte es kaum fassen, als an der Stelle, wo Jarvis sich aufgelöst hatte, plötzlich ein Schimmern sichtbar wurde, ein sanft goldenes Leuchten, das wie ein feiner Nebel heraussickerte und sich nach einer Weile zu einem entfernt menschenähnlichen Umriss zusammenfügte. Schließlich formierte sich Fontarayns androgyne haarlose Gestalt. Aus der Metallwand tropfte es unterdessen, wurde zu einem Rinnsal, rann schließlich herab und bildete eine Pfütze. »Das kennen wir schon«, sagte Algorian, lauschte nach innen und
nickte. »Es geht ihm gut, er ist nur total geschwächt und braucht ein wenig Zeit zur Wiederherstellung. Die Prozedur hat ihm alles abverlangt, umso mehr, weil er … ein Geschenk hinterlassen hat?« Fragend blickte er Fontarayn an. Der Goldene hatte inzwischen feste Form angenommen und sagte: »Ich habe ihn gebeten, das Ding zu zerstören. Er meinte, von innen heraus könnte es vielleicht klappen, und hat etwas abgelegt, kurz bevor ich durch ihn nach draußen glitt.« John Cloud konnte sich keine Vorstellung darüber machen, was in dem Kubus geschehen war. Jarvis hatte da eine unglaubliche Leistung vollbracht, und der Kommandant speicherte den Gedanken in sich, dass dies vielleicht auch mit ihm gelingen könnte, wäre er jemals darin gefangen … »Sollten wir nicht besser Sicherheitsabstand nehmen?«, fragte er. »Nein«, antwortete Fontarayn, »es ist eine andere Art Zerstörung, keine Explosion. Die Nanokörper verrichten eine langwierigere, aber nicht minder vernichtende Arbeit.«
Fünf Minuten später war Jarvis wieder »ganz der Alte«. »Diese Falle schnappt sich keinen mehr«, grinste er. »Wie bist du überhaupt da hineingeraten?«, wollte Cloud an Fontarayn gewandt wissen. »Ich will lieber nicht darüber sprechen«, antwortete der Goldene. »Es genügt die Demütigung, dass es überhaupt geschah. Es ist eine höchst wirkungsvolle Falle. Ohne euch – wäre ich da nie wieder herausgekommen. Wie habt ihr es überhaupt geschafft, bis hierher zu gelangen, bei all den Fallen und Abwehrmechanismen?« John Cloud hob die Schultern. »Offen gestanden, keiner von uns weiß genau, was passiert ist. Unsere Erinnerungen sind lückenhaft, da wir von Halluzinationen, Wahrnehmungsverschiebungen und verschiedenem anderem heimgesucht wurden. Aber irgendwie konnten wir uns durchkämpfen.« »Vielleicht, weil ihr Organische seid«, meinte Fontarayn nachdenklich. »Das hat der Fallensteller natürlich nicht bedacht, weil da-
mit nicht zu rechnen war. Euer Auftreten in dieser Geschichte war völlig unvorhersehbar und unkalkulierbar. Was mein Glück ist.« »Weißt du, von wem die Falle gestellt wurde?«, fragte Algorian. Fontarayn seufzte. »Ich weiß leider nicht viel. Außer, dass meine Mission völlig fehlgeschlagen ist. Ich habe versucht, die Perle zu reparieren, ihre Isolation aufzuheben und sie wieder ins universale Netzwerk einzugliedern. Aber es ist mir nicht gelungen. Die Technik ist zu stark beschädigt oder nicht mehr vorhanden, ich allein kann das unmöglich schaffen. Und dann geriet ich in die Falle …« Der Goldene wirkte sehr niedergeschlagen, was Cloud beunruhigte. An diesem Fontarayn war nichts mehr überlegen und göttlich, er wirkte einfach nur müde und apathisch, als hätte man ihm den Sinn seines Lebens gestohlen. »Können wir dir helfen?« »Nein«, antwortete das Energiewesen. »Ich bin gescheitert. Es ist unverzeihlich.« John Cloud überlegte. Dann sagte er: »Wir sollten auf die RUBIKON zurückkehren, und dann erzählst du uns alles, Fontarayn. Dann entscheiden wir, wie es weitergehen soll. Einverstanden?« Der Goldene nickte. »Ja, es wird Zeit. Ich muss euch so schnell wie möglich hier wegbringen, denn ihr könnt nicht mehr lange in diesem Kontinuum bleiben. Ihr müsst zurück ins Universum.«
15. Kapitel »Ich orte Energiemuster«, sagte Sesha plötzlich, und Scobee schoss förmlich hoch. »Ist das wieder eine Halluzination von mir?« »Du bist aktiv, deine Gehirnwellenmuster dem Ereignis angemessen«, erwiderte die KI. »Die Energie ist ansteigend, sie kommt von der Station, ungefähr von der Stelle, wo John Cloud und die anderen verschwunden sind.« Scobee starrte auf die Holosäule. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und sie unterdrückte einen Jubelschrei, als ein Flimmern über der Perle entstand, in dem sich bald menschliche Umrisse abzeichneten. 1 … 2 … 3 … 4! Fontarayn war mit dabei! Sein Energiemuster war es also, das Sesha angemessen hatte! Voller Freude gab Scobee eine Rundmeldung heraus und wartete dann aufgeregt in der Zentrale auf die Rückkehr der Abenteurer.
Jelto, Aylea und Cy waren noch vor den Rückkehrern in der Zentrale eingetroffen. Die Begrüßung verlief stürmisch und glücklich. Fontarayn hielt sich dabei im Hintergrund, aber er beobachtete alles. Die drei Rückkehrer übernahmen abwechselnd das Erzählen, in Kurzform natürlich – für eine Langfassung würde später noch Zeit sein, und auch Scobee erstattete einen gerafften Bericht. Dann wandte Cloud sich dem Goldenen zu. »Jetzt bist du an der Reihe, Fontarayn«, forderte er das Fremdwesen auf. Der Goldene stellte sich in die Mitte der Runde, dorthin, wo sonst die Holosäule aufragte, die von Sesha deaktiviert worden war. »Nach allem, was geschehen ist, bin ich euch zu großem Dank verpflichtet, und deshalb werde ich eure Fragen beantworten«, begann er eine erstaunliche Geschichte. Fontarayns Volk waren die Gloriden. Sie waren, wie vermutet, das
»Wartungspersonal« der Perle Chardhin – aber nicht nur dieser einen, hier in der Milchstraße stationierten Perle. Es gab Milliarden von ihnen. Etwa genauso viele, wie es Schwarze Löcher gab, die die Zentren großer Galaxien bildeten. Und sie alle waren miteinander vernetzt. Innerhalb dieses Netzes konnten die Gloriden durch das ganze All reisen, indem sie die Perlen wie einen Transmitter benutzten – ohne Raumschiffe, in Nullzeit … Diese Eröffnung musste die Besatzung der RUBIKON erst einmal verdauen. So etwas war möglich? Damit … schmolz der Kosmos ja zu Vorgartengröße zusammen! »Das ist kaum vorstellbar«, stieß John Cloud atemlos hervor. »Und ihr habt diese geniale Technik erschaffen?« »Nein«, antwortete Fontarayn. »Ich muss dich leider enttäuschen, John Cloud. Wir sind die Nutznießer, und wir halten die Perlen in Schuss. Aber wer sie gebaut hat, und zu welchem Zweck, wissen auch wir nicht.« »Aber wie kommt ihr dann mit der Technik zurecht?«, fragte Scobee fassungslos. »Dies ist eine sehr lange, sehr weit zurückreichende Geschichte, und sie würde an dieser Stelle zu weit führen. Begnüge dich also mit der Kurzfassung«, sagte Fontarayn. »Vor sehr langer Zeit – und ich meine damit nicht ein paar Hunderttausend, sondern viele Millionen Jahre – entdeckte mein Volk die Existenz dieser Perlen. Wir erlernten die Technik, richteten uns in den Perlen ein und übernahmen die Wartung. Gleichzeitig reisten wir.« John Cloud unterließ die Frage, ob dies im Auftrag geschah oder aus eigenem Antrieb. Fontarayn war offensichtlich noch nicht bereit, zu diesem Zeitpunkt mit allen Einzelheiten und der vollen Wahrheit herauszurücken. »… bis ihr festgestellt habt, dass die Milchstraßen-Perle aus dem Netz gefallen ist«, äußerte John Cloud einen Verdacht, den er aus den kürzlich von Fontarayn gemachten Bemerkungen zog. »Richtig«, bestätigte der Gloride. »Sie reagierte nicht mehr. Das ist noch nie vorgekommen, zumindest ist es in unserer Historie so ver-
zeichnet, und das hat uns natürlich entsprechend erstaunt. Ich erhielt den Auftrag, nachzusehen, ging zur nächstgelegenen intakten Perle, deren Sternenumgebung ihr Andromeda nennt, und flog von dort aus mit meinem Schiff zur Milchstraße. Wenn möglich, sollte ich den Schaden so weit beheben, dass die Perle wieder ans Netz gehen konnte.« »Aber du konntest dir denken, dass es mehr als nur ein Schaden war, wenn das hiesige Besatzungspersonal sie nicht reparieren konnte.« »Ich war natürlich sehr beunruhigt, wie du dir vorstellen kannst.« Fragt sich nur, dachte Cloud, wieso die nur einen einzigen Mann schicken, wenn man mit dem Schlimmsten rechnen muss. Immerhin ist das zum ersten Mal vorgekommen, und offensichtlich war die Besatzung von hier aus nicht mehr in der Lage, nach Andromeda zu fliegen und so praktisch »zu Fuß« Meldung zu erstatten. Eine etwas ungeplante Aktion also, aber das kann andererseits bei so perfekten Wesen wie den Gloriden vorkommen, die keine Zwischenfälle gewohnt sind. Fontarayn fuhr fort: »Doch dann wurde ich angegriffen, und ihr kamt in letzter Sekunde dazu, eine unglaublich glückliche Fügung.« »Du hast wirklich keine Ahnung, wer die Angreifer waren?«, wollte Cloud wissen. »Nein, Freund Cloud, nicht die geringste. Aber nach allem, was geschehen ist, nehme ich an, dass es dieselben Feinde sind, die auch die Falle in der Perle zurückgelassen haben. Es muss jemand sein, der mein Volk sehr gut kennt. Die Struktur meines Schiffes, das so vernichtet werden konnte, und meine eigene, da ich mich nicht mehr zu befreien vermochte.« Fontarayn malte ein Bild des Schreckens. Denn es musste sich um jemanden handeln, der über eine noch überlegenere Technik verfügte als die Gloriden. Der noch mächtiger war. Keine schöne Vorstellung. »Vielleicht die Erbauer?«, fragte Cloud nun doch geradeheraus. »Da ihr ihnen nie begegnet seid – vielleicht sind sie zurückgekehrt und nicht eben erfreut über die Inbesitznahme?«
Fontarayn schüttelte den Kopf. »Die Erbauer wollten ein universelles Netzwerk schaffen. Aber die Abschaltung einer Perle bedeutet, dass jemand in Ruhe gelassen werden will. Er will nicht, dass die Milchstraße über diesen Direktweg erreicht werden kann – aus welchem Grund auch immer.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte John Cloud im Namen aller Anwesenden. Die blassen Gesichter ringsum verrieten genug. »Hast du eine Vorstellung, wohin die Besatzung verschwunden ist? Wodurch der Verfall und die Zerstörung herbeigeführt wurden?«, fuhr Cloud weiter mit den Fragen fort. »Anscheinend habt ihr erst sehr spät bemerkt, dass die Milchstraßen-Perle abgeschaltet ist, denn der Verfall dort dauert sicher schon einige zehntausend Jahre.« Nun lächelte der Goldene, »John, ich sagte doch: Es sind Milliarden Chardhin-Perlen. Und das All ist selbst mit so einem Transportweg immer noch gewaltig. Sicherlich ist sehr viel Zeit vergangen, doch das wäre normaleweise kein Problem gewesen, wenn nicht so viel Technik gestohlen oder absichtlich zerstört worden wäre, sodass ich zur Reparatur nicht in der Lage war.« Er machte eine vermutlich hilflose Geste. »Ich nehme an, dass die Besatzung bei dem Überfall vernichtet oder verschleppt wurde. Dann wurde die Falle aufgestellt.« »Und dazwischen vergehen Tausende von Jahren, ohne dass was passiert?«, platzte Aylea dazwischen. »In welchen Dimensionen denkt ihr eigentlich?« »Nicht in so schnelllebigen wie du, Kind«, sagte Fontarayn sanft. »Und das ist gleichzeitig eine gute Überleitung, denn da ist noch etwas, was ich euch sagen muss.« Wenn er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen wollte, so hatte er das geschafft. »Die Chardhin-Perlen«, sagte Fontarayn, »existieren nicht nur hier und jetzt.« »Was – wie …«, stotterte John Cloud. Ratlos starrte er den Gloriden an. »Es ist wichtig, dass ihr versteht, was ich jetzt sage: Die Perlen
existieren permanent.« »Ich kapier nix«, entfuhr es Aylea, sie konnte vor Aufregung kaum mehr still sitzen. »Ich auch nicht«, gab Cloud zu. »Nun«, fuhr Fontarayn fort. »Die Perlen existieren zu jeder Zeit und über alle Zeiten hinweg. Sie bilden die Ewige Kette, die seit Anbeginn der Zeiten und des Universums existiert … und die zugleich Tore nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Natur beinhaltet, die in jede beliebige Epoche dieses Kosmos führen.«
Nach dieser Eröffnung herrschte für einige Zeit lähmendes Schweigen. Man konnte förmlich hören, wie sich die Gedanken durch alle Köpfe jagten, immer im Kreis herum … und dabei jede Menge Zahnräder klackernd zum Rotieren brachten. »Das …«, sagte John Cloud schließlich, als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, »ist noch unvorstellbarer als der erste Teil deiner Geschichte.« »Ich weiß«, sagte Fontarayn. »Selbst wir können das kaum erfassen, obwohl wir schon so lange damit leben. Aber es ist eine Tatsache, das darfst du mir glauben. Gerade deswegen stehe ich hier vor einer Katastrophe und weiß nicht mehr weiter. Die Abschaltung einer Perle, so unmöglich sie auch schien, hätten wir noch irgendwie akzeptieren können. Aber durch fremde Hand, und dann mit so weitreichender Zerstörung, und dann diese Falle … da ist jemand am Werk, der etwas ganz Bedeutendes und Großes vorhat, aber gewiss nichts Gutes …«
16. Kapitel In welche Geschichte sind wir da wieder geraten, dachte Cloud, als er sich für einen Moment zurückgezogen hatte, um in Ruhe nachzudenken. Das, schätze ich, wird diesmal zu groß für uns. Im Milchstraßenzentrum hockt jemand wie eine Spinne in ihrem Netz und wartet auf seine Stunde, spinnt geduldig Faden für Faden, um eines Tages sein Netz auszuwerfen. Nicht auszudenken, wenn er eine Perle nach der anderen erobert! Aber warum hat er die Milchstraßen-Station isoliert? Hat er Sorge, dass man ihn vorzeitig aufspüren könnte? Unwillkürlich stieg wieder die Erinnerung an die Erkundung der Perle in ihm auf. Möglicherweise hatte diese Station einen größeren Schaden erlitten als angenommen. Kamen daher diese Verschiebungen? Waren es Echos vergangener Epochen, die Cloud und die anderen in diese Albträume geschleudert hatten? Ist vielleicht ein Riss entstanden, der auch Auswirkungen auf dieses Kontinuum »hinter dem Horizont« hat?, grübelte John weiter. Nach allem, was Scobee mir erzählt hat, haben sie hier an Bord ganz Ähnliches durchgemacht. Und die Pflanzen, auch sie leiden darunter. Was kann mit uns geschehen, wenn dieser Riss sich … fortsetzt?
Schließlich kehrte Cloud in die Zentrale zurück, wo Fontarayn geduldig wartete. »Habt ihr jemals nach den Erbauern der Kette gesucht?« »Natürlich. Seit der Entdeckung haben wir Expeditionen in die Galaxien ausgesandt. Aber bisher ohne Erfolg, wir haben nicht eine einzige heiße Spur gefunden.« »Wart ihr auch in der Milchstraße?« »Allerdings, vor nicht allzu langer Zeit, relativ gesehen natürlich. Aber wir haben nie wieder etwas von ihr gehört, sie ist verschollen.« John Cloud rieb sich den Nacken, er war völlig verspannt. »Du
sagst das so gleichmütig, kommt das häufiger vor?« Fontarayn nickte. »Durchaus.« »Warum haben sie dich allein geschickt, Fontarayn? Diese Frage geht mir einfach nicht aus dem Kopf.« »Ich war nicht immer allein, John Cloud. Ich bin nur der einzige … Überlebende des feigen Anschlags.« »Verstehe.« Der Kommandant steuerte seinen Sarkophag-Sitz an und ließ sich darauf nieder. »Wie soll es jetzt weitergehen, Fontarayn?« »Zuerst bringe ich euch hier raus«, antwortete der Gloride. »Und dann würde ich gern für eine Weile hier an Bord bleiben und euch begleiten. Ich schulde euch mein Leben und möchte euch gern unterstützen.« Cloud grinste. »Außerdem hast du kein Schiff, mit dem du nach Hause fliegen könntest.« »Das kommt hinzu, ist aber kein wirkliches Problem«, versetzte Fontarayn. »Zunächst aber bringe ich euch sicher dorthin zurück, von wo aus wir aufgebrochen sind.« »Das ist in Ordnung.« Cloud stützte das Kinn auf und blickte sinnierend auf die inzwischen wieder aktivierte Holosäule. »Es sind noch sehr viele offene Fragen da, Fontarayn … eigentlich mehr als zuvor. Aber wenn du bei uns bleibst, werden wir ein andermal Gelegenheit haben, sie zu klären. Jetzt wollen wir uns erst einmal von kosmischen Bedrohungen ab- und uns einer vordringlichen Sache zuwenden: Es gilt, einen Freund zu befreien, den wir auf der unsichtbaren Saskanenwelt verloren haben. Irgendein Schemen hat ihn aus der Luft gepflückt und verschwinden lassen. Das wollen und müssen wir klären, Jiim ist ein Mitglied unserer bunt zusammengewürfelten Crew.« Er fasste Fontarayn schärfer ins Auge. »Wenn man dich dazuzählt, wird es noch exotischer. Eine seltsame Schar sind wir, in der Tat. Willst du uns dabei helfen?« »Wenn ich kann, gerne. Ich sichere dir jede Unterstützung zu, die ich dir geben kann.« Cloud nickte. Diese Verstärkung konnten sie gut brauchen. Wer wusste schon, was sie auf Saskana erwartete und aus wessen Klauen sie Jiim befreien mussten. Aber sie hatten ein Energiewesen gerettet,
da sollten sie auch das noch schaffen. Auf einmal war er von neuer Zuversicht erfüllt, und der Gedanke an die düstere geheime Macht im Zentrum der Galaxis rückte für einige Zeit ab von ihm. Aber eine kleine Sorge erfüllte ihn trotzdem noch. »Fontarayn, wird der Rückflug ähnlich … interessant wie der Herflug? Und benötigen wir wieder eine Anpassungsphase?« Der Goldene nickte. »Es wird in jedem Fall sehr anstrengend, John.« »Gut, dann habe ich eine Bitte.« Cloud stemmte sich aus seinem Kommandosessel. »Du übernimmst ja sowieso Lotsendienste, die Flugsteuerung und alles. Gebraucht werde ich dabei sicher nicht. Also schlage ich vor, du regelst das alles allein, bis wir angekommen sind. Und wir begeben uns derweil in Stase, was uns einen ruhigen, ausgeglichenen traumlosen Schlaf beschert … zugleich kann die Anpassung eingeleitet werden, und wenn wir angekommen sind, können wir uns erfrischt an die Rettung unseres Freundes machen.« Nach all den Fährnissen verspürte Cloud keine Lust auf neue »Schwellenerlebnisse«, Albträume oder Visionen. Was alles geschehen war, würde sich vielleicht niemals restlos erklären und belegen lassen. Aber dabei sollte es auch bleiben, zumindest für die Rückreise. Sie alle brauchten Ruhe und Erholung, mussten wieder zu sich selbst finden und darauf vertrauen, dass sie in eine »normale« Realität zurückkehrten, in der es keine Verschiebungen mehr gab. Fontarayn schien sogar erleichtert über Clouds Vorschlag zu sein. Und wenn er sich verfliegt, oder irgendetwas schief geht, kriegen wir es wenigstens nicht mehr mit, schloss Cloud in Gedanken. Kein Leid mehr. Wenn es schon sein soll, dann friedlich, ohne Angst und Schrecken. Jeder Einzelne hier an Bord hat für die nächste Zeit genug durchgemacht. Diese Pause haben wir uns redlich verdient. Cloud gab über den Bordkanal einen Rundspruch heraus und bereitete alles für den Staseschlaf vor. Jiim, wo auch immer du bist – verlier deine Hoffnung nicht. Wir sind unterwegs zu dir. ENDE
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Scobee Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert: ca. 1,85 m groß, schmales, energisches Gesicht, angedeutete streichholzkurze »Haare«. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er beJohn Cloud
sitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwärtiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 10-jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernte und ins so genannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« – Name, den die Miichstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gaben. Die galaktische Position der Erde war den Außerirdischen lange Zeit unbekannt. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies neben den Jay'nac die so genannte »Wurmlochtechnologie« – über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von denen aus sie ihre aggressiven Vorstöße koordinieren. Verbündet mit der Menschen/Erinjij sind die Jay'nac, auf die auch die Keelon-Master zurückgehen, die das Erinjij-Reich regieren. Protomaterie Von den Luuren, einer im Aqua-Kubus beheimateten Spezies, erschaffene Materie, die aus totem Or-
Jupiter
Die Jay'nac
Die Keelon
ganischen hergestellt wird. Die speziellen geistigen Fähigkeiten der Luuren ermöglichen es, aus diesem Urstoff alles herzustellen, was in Tovah'Zara (die dortige Bezeichnung für den Aqua-Kubus) gebraucht wird – auch hochwertige »Technik« wie etwa die Jadeschiffe. Protopartikel kreisen auch in John Cloud. Nicht zuletzt deshalb wurde er von Sesha, der künstlichen Intelligenz der RUBIKON, als neuer Herr des Schiffes anerkannt. Ehemals größter Planet des irdischen Sonnensystems; verwandelte sich 2041 durch äußere Einwirkung in ein Wurmloch, das von den Keelon und später den Erinjij als Einstein-Rosen-Brücke verwendet wird. Das künstliche Wurmloch ist stabil. Volk aus Anorganischen. Führten Krieg gegen alle Organischen der Milchstraße, fegten über die Allianz CLARON hinweg und entpuppten sich am Ende auch als die Drahtzieher, die einst die Foronen aus ihrer Heimat, der Großen Magellanschen Wolke, verdrängten, sodass sie Exil in der Milchstraße suchten. Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von ehemals friedlichen Forschern wurde scheinbar von den Erinjij ausgelöscht. Darnok begriff sich lange Zeit als einziger Überlebender seiner Art. Inzwischen aber wurde bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, den Residenzen, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Die Keelon werden Master genannt, sind die Führer der Erinjij und gehen in ihrem völkischen Ursprung
auf die Jay'nac zurück, die lange Zeit mit organischem Leben experimentierten, um sich besser gegen ihre Erzfeinde, die Virgh und Satoga, wappnen zu können. Spore Auri Heimat des Aurigen Cy, eines Pflanzenwesens. Die Spore Auri treibt in einem Gasring, der die Heimatsonne Cys ähnlich umkränzt wie wir es von den Ringen des Saturn kennen. Dass in dieser Zone Leben möglich ist, geht auf Artefakte zurück, die dort von den Jay'nac installiert wurden. Die Aurigen sind wie die Keelon Schöpfungen der Jay'nac. Das Septemvirat der Foronen Die Führer des aus der Großen Magellanschen Wolke (Samragh) vertriebenen Foronenvolkes – ihre Namen lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden Letztgenannten sind weiblich; Mont ist nicht mehr am Leben. Seine Rüstung dient inzwischen dem ehemaligen Menschenklon Jarvis als neuer Körper. Die Foronen waren die Götter der im Aqua-Kubus beheimateten Vaaren. Fontarayn Ein geheimnisvolles Lichtwesen, das an Bord der RUBIKON gelangte, nachdem sein goldenes Kugelraumschiff von einer Flotte kleiner grüner Schiffe zerstört wurde. Fontarayns »Dank« für die Rettung besteht darin, die Kontrolle über das Raumschiff an sich zu reißen …
Vorschau Die Perle Chardhin von Alfred Bekker Die RUBIKON nimmt Kurs auf den Raumsektor, von dem aus die erste Expedition nach Saskana aufbrach. John Cloud hat beschlossen, Licht ins Dunkel um das Schicksal des verschollenen Gefährten Jiim zu bringen, ihn – falls irgend möglich – zu retten. Aber es ist ein Kommando, das sich in eine absolute Fremde wagen muss, auch wenn einige Teilnehmer Boreguirs Heimat schon einmal besuchten. Doch der Planet, auf dem Jiim vermisst wird, ist unermesslich größer als das damals erkundete Gebiet des Korallenwaldes. Und niemand vermag vorauszusehen, ob Saskana nicht weitere Opfer fordern wird – oder ob der Narge überhaupt noch unter den Lebenden weilt …