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Saki Der unsägliche Bassington Roman Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen
scanned by macska
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ö 2001
Insel ...
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Saki Der unsägliche Bassington Roman Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen
scanned by macska
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ö 2001
Insel Verlag
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Die englische Originalausgabe erschien 1912 unter dem Titel The Unbearable Bassington
Erste Auflage 1986 © der deutschen Ausgabe bei Insel Verlag Frankfurt am Main 1986 Alle Rechte vorbehalten Druck: Thiele & Schwarz, Kassel Printed in Germany
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Anmerkung des Autors: Diese Geschichte hat keine Moral. Wenn sie denn auf ein Übel hinweist, so schlägt sie zumindest keinerlei Abhilfe vor.
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Erstes Kapitel Francesca Bassington saß im Salon ihres Hauses in der Blue Street, W., und erfreute sich und ihren ehrenwerten Bruder Henry mit chinesischem Tee und Kresseschnittchen. Die Mahlzeit war elegant maßvoll auf jene Weise, die sowohl das Augenblicksbedürfnis angemessen trifft als auch glückliche Erinnerungen an ein befriedigendes Mittagessen und selige Erwartung eines späteren opulenten Dinners weckt. In jüngeren Jahren war Francesca als »die schöne« Miss Greech bekannt gewesen; mit vierzig war sie, obschon sich viel von der früheren Schönheit erhalten hatte, bloß noch »unsere liebe« Francesca Bassington. Niemand hätte im Traum daran gedacht, sie »süß« zu nennen, etliche aber, die sie kaum näher kannten, achteten penibel darauf, das Wörtchen »lieb« anzubringen. Ihre Feinde hätten in ehrlicheren Momenten eingestanden, daß sie anmutig war und sich zu kleiden verstand, hätten jedoch Francescas Freunden zugestimmt, die behaupteten, sie habe keine Seele. Stimmen Freund und Feind in der Beurteilung irgendeines Charakterzugs überein, haben sie gewöhnlich unrecht. Hätte man Francesca selbst überraschend dazu gedrängt, ihre Seele zu beschreiben, sie hätte wahrscheinlich ihren Salon beschrieben. Nicht etwa in der Meinung, das eine habe dem anderen sein charakteristisches Gepräge gegeben, so daß sich bei genauem Hinschauen ihre markanten und selbst ihre verborgenen Züge offenbaren könnten, sondern weil sie vielleicht dunkel erkannt hätte, daß ihr Salon ihre Seele war. Francesca gehörte zu den Frauen, für die das Schicksal die besten Absichten zu haben scheint, sie aber nie in die Tat umsetzt. Bei all den Vorteilen, über die sie verfügte,
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hätte man wohl annehmen dürfen, daß ihr Anteil am weiblichen Glück überdurchschnittlich ausfallen würde. So vieles, was Verdruß, Enttäuschung und Entmutigung ins Leben einer Frau bringen kann, war ihr aus dem Weg geräumt, und mit gutem Recht hätte man sie darum für die vom Schicksal begünstigte Miss Greech oder später für die glückliche Francesca Bassington halten können. Und sie gehörte auch nicht zu jener Schar Abartiger, die aus ihrer Seele einen Steingarten machen, indem sie all den versteinerten Kummer und die unbehausten Sorgen, die sie ringsum finden, heranschleppen. Francesca hebte die bequemen Wege und die angenehmen Stätten des Lebens, sie wollte nicht nur gern die Sonnenseite des Lebens betrachten, sondern dort auch ständig wandeln. Und daß die Dinge das ein oder andere Mal schlecht für sie gelaufen waren und sie um einige ihrer früheren Illusionen ärmer gemacht hatten, ließ sie jetzt, da sie offenbar einen ruhigeren Lebensabschnitt erreicht hatte, desto stärker am ihr verbliebenen Glück festhalten. Freunden ohne Scharfblick mochte sie wie eine ziemlich selbstsüchtige Person vorkommen, doch war es bloß die Selbstsucht einer Frau, die die Sonnen- und die Schattenseite des Lebens kennengelernt hatte und bis zum äußersten auskosten wollte, was ihr von ersterer geblieben war. Das Auf und Ab des Lebens hatte sie nicht verbittert, sie vielleicht aber in dem Sinne engstirnig werden lassen, daß sie ihre Zuneigung gern jenen Dingen schenkte, die ihr unmittelbar gefielen und Spaß machten oder ihr die angenehmen und erfolgreichen Ereignisse vergangener Tage ins Gedächtnis zurückriefen und ihnen Dauer verliehen. Und es war eben besonders ihr Salon, der die Andenken und Zeugnisse entschwundenen und gegenwärtigen Glücks verwahrte. In diesen behaglichen Raum, ungewöhnlich in der
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Form mit seinen Winkeln, Erkern und Nischen, waren wie in einen Hafen jene kostbaren persönlichen Besitztümer und Trophäen eingesegelt, die den Windstößen und Stürmen eines nicht gerade ruhigen Ehelebens widerstanden hatten. Wohin auch immer sie blicken mochte, sah sie die greifbaren Erfolge ihrer Mühen, ihrer Sparsamkeit, ihrer glücklichen Hand, ihrer klugen Taktik oder ihres guten Geschmacks. Die Schlacht war mehr als einmal ungünstig für sie ausgegangen, stets jedoch hatte sie es irgendwie fertiggebracht, ihren Troß zu retten, und ihr Blick konnte zufrieden von einem Gegenstand zum anderen schweifen, Siegesbeute oder Bergungsgut einer ehrenhaften Niederlage. Die herrliche Fremiet-Bronze auf dem Kaminsims war der Hauptgewinn eines GrandPrix-Rennens vor langer Zeit; eine Meißner Porzellangruppe von beträchtlichem Wert war ihr von einem diskreten Verehrer hinterlassen worden, der seinen sonstigen Wohltaten auch noch seinen Tod hinzufügte; eine weitere Porzellangruppe hatte sie sich selbst gegönnt, erworben in seligem und ewigem Angedenken an den wundervollen Sieg in einem neuntägigen Bridgeturnier bei einer Gesellschaft auf dem Lande. Es gab alte Perserteppiche und Bucharas und Worcester-Teeservices in leuchtenden Farben und kleine Kostbarkeiten aus antikem Silber, von denen jede einzelne außer ihrem Eigenwert noch eine Geschichte oder eine Erinnerung barg. Zuweilen fand sie es unterhaltsam, der Künstler und Handwerker aus vergangenen Zeiten zu gedenken, die in weit entfernten Ländern und Jahrhunderten gehämmert, gewirkt und gewoben hatten, um die wunderbaren und schönen Dinge herzustellen, die auf irgendeine Weise in ihren Besitz gelangt waren. Handwerker in den Ateliers mittelalterlicher Städte Italiens und des einstigen Paris, in den Basaren von Bagdad und Mittelasien, in den
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frühenglischen Werkstätten und in deutschen Manufakturen, in den sonderbarsten verborgenen Winkeln, wo die Geheimnisse des Handwerks eifersüchtig gehütet wurden; namenlose, vergessene Männer, und Männer, deren Namen weltberühmt und unsterblich waren. Über all ihren Kostbarkeiten, und in ihrer Wertschätzung alles andere im Raum beherrschend, thronte der bedeutende Van der Meulen, ein Bild, das ihr als Teil ihrer Mitgift von väterlicher Seite zugefallen war. Es paßte genau in die Täfelung an der Hauptwand über dem Boule-Kabinettschrank und nahm in der Komposition und Harmonie des Raums genau den richtigen Platz ein. Wo man auch saß, schien es die Umgebung zu beherrschen. Eine gefällige Heiterkeit ging von der großen, pompösen Schlachtszene aus mit ihren feierlichen Kriegern, die mit vornehm gespreizten Beinen auf ihren stark tänzelnden Rossen saßen, den grauen, scheckigen oder schwärzlichbraunen, alle tiefernst, und doch entstand der Eindruck, als wäre dieser Feldzug nichts anderes als eine ausgedehnte, feierliche Picknickpartie, arrangiert im großen Stil. Francesca konnte sich ihren Salon nicht ohne das krönende, so gut plazierte stattliche Bild vorstellen, genausowenig, wie sie sich selbst in einer anderen Kulisse als in diesem Haus in der Blue Street vorstellen konnte, mit seinem übervölkerten Pantheon verehrter Hausgötter. Und hier nun sproß einer jener Dornen und drängte durch den rosenblättrigen Damast, der ansonsten Francescas Seelenfriede hätte sein können. Das Glück liegt immer eher in der Zukunft als in der Vergangenheit. Bei aller Hochachtung vor der anerkannten lyrischen Autorität läßt sich wohl behaupten, daß es die ›Sorgenkrone der Sorgen‹ sei, unglücklichere Dinge im voraus zu erleben. Das Haus in der Blue Street war ihr von ihrer alten
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Freundin Sophie Chetrof überlassen worden, doch nur bis zu dem Zeitpunkt, da sich deren Nichte Emmeline Chetrof verheiratete, wo es ihr dann als Hochzeitsgeschenk übergeben werden sollte. Emmeline war jetzt siebzehn und leidlich hübsch, und nicht mehr als vier oder fünf Jahre ließen sich mit einiger Sicherheit für die Beibehaltung des Jungfernstandes veranschlagen. Dahinter lauerte das Chaos, würde Francesca jäh und gewaltsam von der trauten Wohnstatt getrennt, die zu ihrer Seele geworden war. Allerdings hatte sie sich im Geiste eine Brücke über den Abgrund geschlagen, eine Brücke mit einem einzigen Bogen. Besagte Brücke war ihr Sohn Comus, ein Schüler, der gerade irgendwo in einer südlichen Grafschaft seine Erziehung erhielt; oder vielleicht sollte man besser sagen, daß die Brücke in seiner möglichen Heirat mit Emmeline bestand, in welchem Falle sich Francesca auch weiterhin als Herrin betrachten durfte, ein wenig eingeschränkt und inkommodiert vielleicht, aber immerhin noch Herrin des Hauses in der Blue Street. Der Van der Meulen erhielte auf seinem Ehrenplatz weiterhin das erforderliche Nachmittagslicht, die Fremiet und das Meißner und das Old Worcester blieben ungestört in ihren Stammnischen. Emmeline könnte das behagliche Zimmer im japanischen Stil, wo Francesca manchmal nach dem Abendessen ihren Kaffee trank, als separaten Salon haben und dort ihre eigenen Sachen aufstellen. Die Einzelheiten des Brückenbaus waren alle sorgfältig überlegt. Nur - es war ein unglücklicher Umstand, daß ausgerechnet Comus der Bogen sein sollte, auf dem alles ruhte. Francescas Mann hatte darauf bestanden, dem Jungen jenen seltsamen heidnischen Namen zu geben, und hatte nicht lange genug gelebt, um die An- oder Unangemessenheit seiner Bedeutung zu beurteilen. In siebzehn
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Jahren und ein paar Monaten hatte Francesca ausgiebig Gelegenheit gehabt, sich eine Meinung über die Eigenarten ihres Sohnes zu bilden. Das elementar Heitere, das man mit dem Namen verbindet, tobte sich zweifellos in dem Jungen aus, aber es war eine mutwillige, verquere Art von Heiterkeit, an der Francesca selten die humorvolle Seite sehen konnte. Mit ihrem Bruder Henry, der dasaß und so feierlich Kresseschnittchen verspeiste, als wären sie nach einem uralten Regelbuch konsekriert, hatte das Schicksal ihr offensichtlich einen Gefallen getan. Wie leicht hätte er irgendein hübsches, hilfloses Frauchen heiraten und in Notting Hill Gate wohnen und Vater einer langen Reihe von blassen, gescheiten, unnützen Kindern sein können, die Geburtstag gehabt hätten und jene Krankheiten, bei denen man Trauben schicken soll, und die alberne Sachen in South-Kensington-Manier gemalt hätten als Weihnachtsgabe an eine Tante, deren räumliches Fassungsvermögen für Plunder beschränkt war. Statt diese unbrüderlichen Taten zu begehen, die in Familien so häufig vorkommen, daß sie beinahe schon brüderlich genannt werden könnten, hatte Henry eine Frau geheiratet, die sowohl Geld als auch Sinn für Ruhe hatte; und ihr einziges Kind besaß die herausragende Tugend, nie etwas zu sagen, was auch nur seine Eltern der Wiederholung wert erachten könnten. Außerdem hatte er sich ins Parlament wählen lassen, womöglich mit dem Gedanken, etwas Farbe in sein fades Familienleben zu bringen; jedenfalls rettete das seine Karriere vor der schieren Bedeutungslosigkeit, denn niemand, dessen Tod im Nachrichtenaushang die Notiz »Neue Nachwahl« mit sich bringt, kann eine völlige Null sein. Kurzum, Henry, der ihr zur Last und zur Qual hätte werden können, hatte es vorgezogen, Freund und Berater zu sein, notfalls glich er zuweilen sogar ihren prekären Kontostand aus; Fran-
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cesca ihrerseits, mit der Voreingenommenheit, die eine intelligente und zum Müßiggang neigende Frau oft für einen verläßlichen Dummkopf zeigt, suchte nicht nur seinen Rat, sondern befolgte ihn auch häufig. Paßte es ihr, zahlte sie überdies noch seine Darlehen zurück. Dieser Gefälligkeit des Fatums, sie mit Henry als Bruder zu versorgen, konnte Francesca mit Recht die verflixte Tücke entgegenhalten, ihr Comus zum Sohn gegeben zu haben. Der Junge war einer jener unzähmbaren jungen Meister des Aufsässigen, die - mit einem Maximum an Getöse, Wirbel und Wirrwarrstiften und einem Minimum an Lernarbeit - durch Kindergarten-, Vorschul- und Public-Schoolzeiten hindurch Possen treiben, Reibereien erzeugen und irgendwie, mit einem Lachen, ganze Katastrophenreihen überstehen, die jeden anderen Betroffenen in Tränen auflösen oder zu kassandraähnlichen Prophezeihungen treiben. Manchmal beruhigen sie sich später im Leben und werden uninteressant, vergessen, daß sie überhaupt jemals einer Sache Meister waren; manchmal spielt ihnen das Schicksal königlich in die Hände, und sie tun Bedeutsames in großangelegter Manier, wofür sie den Dank des Parlaments und der Presse ernten und freudig von der Festtagsmenge begrüßt werden. Aber in den meisten Fällen beginnt ihre Tragödie nach Verlassen der Schule, wenn sie auf die Welt losgelassen werden, die zu zivilisiert und zu voll und zu stumpf geworden ist, um sie aufzunehmen. Und es gibt ihrer reichlich. Henry Greech hatte genug von den Schnittchen geknabbert, und wie ein Staubsturm mit neuer Kraft nahm er eines der aktuellen Salonthemen auf: Verhütung von Armut. »Ein Problem, das man im Augenblick erst anknabbert, sozusagen beriecht«, bemerkte er, »aber eines, das
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demnächst unsere ernsteste Aufmerksamkeit und Überlegung beanspruchen muß. Zuallererst müssen wir von der dilettantischen und akademischen Art und Weise wegkommen, mit der wir uns dem Thema nähern. Wir müssen unumstößliche Fakten sammeln und uns aneignen. Es ist ein Thema, das alle Denkenden berühren sollte, und dennoch, du weißt ja, finde ich es erstaunlich schwierig, andere dafür zu interessieren.« Francesca gab eine einsilbige Antwort, ein mitfühlendes Grunzen, um so anzudeuten, daß sie ihm, bis zu einem gewissen Grade, zuhörte und beipflichtete. In Wirklichkeit sann sie darüber nach, daß es Henry wohl bei jedem Thema, über das er sich ausließ, schwer hatte, andere dafür zu interessieren. Seine Begabung ging so eindeutig dahin, uninteressant zu sein, daß er vermutlich selbst einem Augenzeugenbericht vom Massaker der Bartholomäusnacht den Ruch des Langweiligen angehängt hätte. »Ich habe gerade neulich in Leicestershire über dieses Thema gesprochen«, fuhr Henry fort, »und ziemlich ausführlich auf eine Sache hingewiesen, die nur wenige recht eigentlich bedenken —.« Francesca schloß sich unverzüglich, aber mit Anstand, der Mehrheit an, die nicht recht eigentlich bedenken will. »Hast du zufällig dort einen von den Barnets getroffen ? « unterbrach sie ihn. »Eliza Barnet setzt sich doch wahrlich für all diese Themen ein.« Unter den sozial engagierten Propagandisten herrschen, wie auf anderen Kampfstätten und Schauplätzen des Lebens, häufig der heftigste Wettstreit und die schärfste Rivalität gerade zwischen eng verwandten Klassen und Spezies. Eliza Barnet teilte viele politische und gesellschaftliche Auffassungen von Henry Greech, sie teilte aber ebenfalls seinen Hang, die Dinge ziemlich
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ausführlich herauszustellen; es hatte Veranstaltungen gegeben, wo sie die strikt bemessene Zeitspanne ausgiebig beansprucht hatte, die der öffentlichen Redekunst einer ganzen Gruppe von Sprechern eingeräumt war, zu der unter anderen auch der ungeduldige Henry Greech zählte. Selbst wenn er mit ihr in den wichtigsten Tagesfragen übereinstimmte, trug er doch gegen ihre schätzenswerten Eigenschaften beharrlich geistige Scheuklappen, und ihren Namen zu erwähnen war ein raffinierter Köder, ausgeworfen auf seinem Gesprächspfad. Und wenn Francesca schon seiner eloquenten Rede über irgendein Thema zuhören mußte, dann zog sie das Herziehen über Eliza Barnet dem Thema ›Verhütung von Armut‹ vor. »Ich zweifle nicht daran, daß sie es gut meint«, sagte Henry, »aber es wäre recht erfreulich, wenn man sie dazu bewegen könnte, ihre eigene Person etwas mehr im Hintergrund zu halten und sich nicht einzubilden, sie sei der unerläßliche Wortführer allen progressiven Denkens in der Gegend. Ich nehme an, Kanonikus Besomley muß sie vor Augen gehabt haben, als er sagte, daß einige geboren werden, um Weltreiche zu erschüttern, und andere, um Zusatzanträge zu stellen.« Francesca lachte ehrlich belustigt. »Vermutlich ist sie wirklich bestens bewandert auf allen Gebieten, über die sie spricht«, lautete ihr provozierender Kommentar. Henry wurde sich möglicherweise der Tatsache bewußt, daß man ihn zum Thema Eliza Barnet lotste, und wandte seine Aufmerksamkeit sogleich einer persönlicheren Sache zu. »Aus dem Eindruck allgemeiner Stille hier im Haus schließe ich, daß Comus wieder in Thaleby ist«, bemerkte er.
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»Ja«, sagte Francesca, »er ist gestern zurückgefahren. Natürlich habe ich ihn sehr gern, doch halte ich auch die Trennung gut aus. Wenn er hier ist, kommt es einem beinahe so vor, als hätte man einen tätigen Vulkan im Haus, einen Vulkan, der in seinen ruhigsten Phasen unablässig Fragen stellt und starkes Duftwasser benutzt.« »Es bleibt nur eine vorläufige Frist«, sagte Henry, »in ein oder zwei Jahren verläßt er die Schule, und was dann?« Francesca schloß die Augen mit der Miene eines Menschen, der sich bemüht, eine bedrückende Vision auszuschließen. Sie mochte es nicht, sich in Gegenwart eines anderen allzu gründlich mit der Zukunft zu befassen, besonders wenn die Zukunft in den Farben recht Ungewisser Auspizien drapiert war. »Und was dann?« insistierte Henry. »Dann wird er mir vermutlich auf der Tasche liegen.« »Genau.« »Sitz nicht da wie auf einem Richterstuhl. Ich bin durchaus willens, mir Vorschläge anzuhören, wenn du welche zu machen hast.« »Ginge es um einen ganz normalen Jungen«, sagte Henry, »könnte ich eine Menge Vorschläge machen, wie er zu einer geeigneten Beschäftigung kommt. So wie wir Comus kennen, wäre es aber für uns beide reine Zeitverschwendung, Ausschau nach einem Posten zu halten, auf den er keinen Blick verschwenden würde, falls wir ihm dazu verholfen hätten.« »Er muß etwas tun«, sagte Francesca. »Natürlich muß er; aber er wird niemals. Zumindest wird er nie bei irgend etwas bleiben. Am aussichtsreichsten wäre, ihn mit einer Erbin zu verheiraten. Das würde die finanzielle Seite seines Problems lösen. Wenn er unbeschränkt Geld zur Verfügung hätte, könnte er ir-
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gendwo im Busch auf Großwildjagd gehen. Ich werde wohl nie erfahren, wegen welcher Taten eigentlich das Großwild so etwas verdient hat, jedenfalls hilft es, die destruktiven Energien von wenigstens ein paar gesellschaftlichen Versagern abzulenken.« Henry, der nie etwas Größeres oder Wilderes als eine Forelle tötete, gab sich beim Thema Großwildjagd spöttisch überlegen. Francescas Miene hellte sich bei dem Heiratsvorschlag auf. »Mir ist nichts von einer Erbin bekannt«, sagte sie nachdenklich. »Da ist natürlich Emmeline Chetrof. Man kann sie kaum als Erbin bezeichnen, aber sie hat ein eigenes komfortables kleines Einkommen, und vermutlich bekommt sie noch etwas von ihrer Großmutter. Außerdem erbt sie, wie du weißt, das Haus hier, wenn sie heiratet.« »Das wäre äußerst praktisch«, sagte Henry und folgte damit sicherlich einem Gedankengang, den seine Schwester schon vor ihm Hunderte von Malen getrottet war. »Kommen Comus und sie denn überhaupt gut miteinander aus?« »Oh, nicht übel, wie eben Junge und Mädchen«, sagte Francesca. »Ich muß dafür sorgen, daß sie einander in Zukunft häufiger sehen. Übrigens, ihr kleiner Bruder Lancelot, in den sie so vernarrt ist, kommt dieses Trimester nach Thaleby. Ich werde Comus schreiben, daß er besonders nett zu ihm sein soll; das ist der sichere Weg zu Emmelines Herzen. Comus ist ja zum Präfekten gewählt worden. Der Himmel weiß warum.« »Das kann nur sein, weil er sich als Spaßvogel so hervortut«, sagte Henry naserümpfend, »ich glaube, wir können Leistung und Benehmen mit Sicherheit dabei aus dem Spiel lassen.« Comus war nicht seines Onkels Liebling.
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Francesca hatte sich ihrem Schreibtisch zugewandt und kritzelte einen Brief an ihren Sohn, in dem sie ihm die zarte Gesundheit, das schüchterne Wesen und andere naturgegebene Eigenschaften des Neulings zur Kenntnis brachte und diesen seiner Fürsorge empfahl. Als sie den Umschlag versiegelt und frankiert hatte, rückte Henry mit einer verspäteten Warnung heraus. »Vielleicht wäre es insgesamt doch klüger, Comus nichts über den Jungen zu sagen. Er ist nicht immer empfänglich für Belehrung, wie du weißt.« Francesca wußte es und war schon mehr als zur Hälfte der Meinung ihres Bruders; aber die Frau, die eine saubere, unbenutzte Ein-Penny-Briefmarke opfern kann, muß wahrscheinlich erst geboren werden.
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Zweites Kapitel Lancelot Chetrof stand am Ende eines langen, kahlen Flurs, sah nervös auf seine Uhr und wünschte sich inbrünstig, er wäre eine halbe Stunde älter und eine gewisse schmerzliche Erfahrung bereits im Register der Vergangenheit verzeichnet; leider jedoch gehörte sie noch der Zukunft an, und was weit schrecklicher war: der unmittelbar bevorstehenden. Wie so viele Neulinge an einer Schule hatte er eine ungesunde Leidenschaft entwickelt, Vorschriften zu befolgen und Anforderungen Genüge zu tun, und sein diesbezüglicher Eifer war ihm zum Verhängnis geworden. In seiner Hast, zwei oder drei achtenswerte Dinge auf einmal zu erledigen, hatte er es unterlassen, dem Schwarzen Brett mehr als einen flüchtigen Blick zu widmen, weshalb er ein Fußballtraining verpaßt hatte, das extra für die Neuzugänge angesetzt war. Seine Mitjunioren, die ihm ein Trimester voraus waren, hatten ihn anschaulich über die unausweichlichen Folgen seines Vergehens aufgeklärt; die Angst, die sich vor Unbekanntem regt, hatte sich angesichts seines herannahenden Geschicks ganz verflüchtigt, auch wenn er im Augenblick kaum dankbar war für das Wissen, das ihm so übermäßig beflissen zur Verfügung gestellt wurde. »Du kriegst sechs erstklassige, über die Stuhllehne«, sagte einer. »Sie verpassen dir natürlich einen Kreidestrich, ist doch klar«, sagte ein anderer. »Einen Kreidestrich?« »Freilich. Damit jeder Hieb auch genau dieselbe Stelle trifft. So tut es viel mehr weh.« Lancelot versuchte die schwache Hoffnung zu nähren, daß bei dieser ungemütlich realistischen Schilderung ein wenig Übertreibung mit im Spiel wäre.
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Unterdessen saßen im Präfektenzimmer am anderen Ende des Flurs Comus Bassington und ein zweiter Präfekt und warteten auf denselben Zeitpunkt, aber in weit angenehmerem Vorgefühl. Comus war einer der jüngsten in der Kaste der Präfekten, doch keineswegs der unbekannteste, und außerhalb des Lehrerzimmers genoß er schwankende Popularität oder jedenfalls Bewunderung. Beim Fußball war er zu unberechenbar, um ein wirklich exzellenter Spieler zu sein, doch griff er den Gegner so an, als wäre das schwungvolle Zu-Fall-Bringen bereits ein sinnliches Vergnügen, und trug er einmal selbst Verletzungen davon, wurden seine wüsten Flüche eifrig von denen gesammelt, die das Glück hatten, sie zu hören. Überhaupt legte er im Sport sichtbare Brillanz an den Tag, und obwohl noch wenig vertraut mit den Aufgaben eines Präfekten, hatte er sich schon den Ruf eines tüchtigen und geschickt mit dem Stock hantierenden Meisters erworben. Äußerlich entsprach er genau seinem kuriosen heidnischen Namen. Seine großen graugrünen Augen schienen ständig koboldhaft vor Mutwillen und Ausgelassenheit zu funkeln, und die geschwungenen Lippen hätten einem boshaft lachenden Faun gehören können; beinahe erwartete man, daß ihm Hörner wüchsen, die sein glatt glänzendes, schwarzes Haar durchstießen. Das Kinn war fest, man suchte jedoch vergeblich nach einem ausgleichenden Anflug von böser Reizbarkeit in dem hübschen, halb spöttischen, halb übermütigen Gesicht. Mit einer Dosis Herbheit hätte Comus vielleicht zu etwas Schöpferischem und Meisterhaftem geformt werden können; das Schicksal hatte ihn mit einem gewissen launischen Charme ausgestattet und ihn ganz ohne Rüstzeug für die größeren Vorhaben des Lebens gelassen. Wohl niemand hätte ihn als liebenswert bezeichnet, aber in vielerlei Hinsicht war er zu bewun-
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dern, wenngleich in jeglicher Hinsicht zweifellos ein Verdammter. Rutley, sein Kumpan in diesem Augenblick, saß da und beobachtete ihn, wobei er sein enorm durchschnittliches Hirn regelrecht zermarterte, ob er ihn eigentlich mochte oder haßte; beides war leicht möglich. »Eigentlich bist du gar nicht mit Prügeln dran«, sagte er. »Das ist mir schon klar«, sagte Comus und befingerte einen sehr tauglich aussehenden Rohrstock so liebevoll, wie ein Geiger voll Ehrfurcht seine Stradivari in die Hand nehmen mochte. »Ich habe Greyson Pfefferminzschokolade spendiert, um mit einem Münzwurf auszumachen, ob er oder ich prügeln darf, und ich habe gewonnen. Es war ziemlich anständig von ihm, daß er mir die Hälfte der Schokolade zurückgegeben hat.« Die drollige Unbekümmertheit, die Comus Bassington so große Popularität bei seinen Mitschülern verschaffte, trug nicht eben dazu bei, ihn bei der Galerie von Lehrern, mit denen er im Lauf seiner Schulzeit in Berührung kam, lieb Kind zu machen. Er belustigte und reizte diejenigen Lehrer, die mit rettendem Humor begnadet waren, aber wenn er ihrer unmittelbaren Verantwortung entzogen war, klang ihr Seufzen eher erleichtert als bedauernd. Die aufgeklärteren und erfahreneren unter ihnen begriffen, daß er außerhalb des Wirkungsbereichs stand, für den sie zuständig zu sein hatten. Jemanden, der Stürme vorauszusehen, zu meistern und in ihren Folgen abzuschwächen gelernt hat, wird man entschuldigen, wenn er eine gewisse Abneigung verspürt, sich mit einem Tornado zu messen. Menschen mit beschränkterem Horizont und entsprechend größerem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wären bereit, sich dem Tornado zu stellen, hätten sie nur ausreichend Zeit dafür.
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»Ich glaube, ich könnte den jungen Bassington zähmen, wenn ich wie Sie die Gelegenheit hätte«, bemerkte ein Klassenlehrer einmal zu einem Kollegen, dessen Haus die peinliche Auszeichnung zuteil geworden war, Comus zu seinen Insassen zu zählen. »Gott bewahre, daß ich das je versuchen sollte«, antwortete der Hausleiter. »Aber warum denn?« fragte der Reformer. »Weil der Natur jegliche Einmischung in ihre eigenen Anordnungen verhaßt ist, und fängt man damit an, das offensichtlich Unbezähmbare zu zähmen, lädt man sich eine furchtbare Verantwortung auf.« »Unsinn; Jungen sind der Rohstoff der Natur.« »Millionen von Jungen, ja. Es gibt aber einige wenige, und Bassington ist einer davon, die während der Schuljungenphase höchst ausgereifte Produkte der Natur sind, und wir, die wir angeblich Rohstoff formen, sind völlig hilflos, wenn wir es mit ihnen zu tun haben.« »Was passiert aber mit ihnen, wenn sie erwachsen werden?« »Sie werden eben nie erwachsen«, sagte der Hausleiter, »das ist ihre Tragödie. Bassington wächst sicherlich nie über seinen augenblicklichen Reifestand hinaus.« »Das klingt ja ganz nach Peter Pan«, sagte der Klassenlehrer. »Ich denke aber nicht in der Art von Peter Pan«, sagte der andere. »Bei aller Achtung vor dem Autor jenes Meisterwerks: er hat - meine ich - ein erstaunliches und behutsames Einfühlungsvermögen in die kindliche Phantasie bewiesen und doch rein gar nichts von Jungen verstanden. Um nur eins bei besagtem Opus kritisch anzumerken: Können Sie sich eine Bande englischer Jungen vorstellen, oder Jungen irgendeines beliebigen Landes, die sich damit zufriedengeben würden, in einer
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unterirdischen Behausung Kinderspiele zu spielen, wo sie, wenn sie nur wollten, Wölfe und Piraten und Indianer auf der anderen Seite der Falltür haben könnten?« Der Klassenlehrer lachte. »Ganz offensichtlich meinen Sie, daß ›der Junge, der nicht großwerden wollte‹ von einem Erwachsenen, der nie Junge sein konnte‹ stammen muß. Vielleicht ist das die Bedeutung von dem ›Niemands-Land‹. Sie werden wohl recht haben mit Ihrer Kritik, dennoch stimme ich Ihnen nicht zu, was Bassington betrifft. Er ist eine richtige Plage, wie jeder weiß, der mit ihm zu tun hat; hätte man jedoch nicht tausend und abertausend Dinge am Hals, ich bliebe bei meiner Meinung, daß man ihn zähmen könnte.« Und er ging seines Weges, nachdem er das unveräußerliche Privileg eines Klassenlehrers gewahrt hatte, im Recht zu sein. Im Präfektenzimmer war Comus damit beschäftigt, die Position des in der Mitte aufgepflanzten Stuhls genau festzulegen. »Ich glaube, alles ist fertig«, sagte er. Rutley schaute auf die Uhr mit der Miene eines römischen Dandys im Circus Maximus, der blasiert der Begegnung eines erwarteten Christen mit einem erwartungsvollen Tiger entgegensieht. »Der Kleine ist in zwei Minuten fällig«, sagte er. »Es wäre ratsam für ihn, nicht zu spät zu kommen«, sagte Comus. Comus, gewitzigt durch die vielen schmerzhaften Züchtigungen aus früheren Schultagen, konnte bis ins letzte die panische Angst auskosten, von der sein prädestiniertes Opfer jetzt erfüllt sein mußte, das wahrscheinlich in diesem Augenblick vor der Tür draußen herumstrich. Aber schließlich war das Teil des Spaßes bei der ganzen
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Sache, und die meisten Dinge haben ihre amüsante Seite, wenn man sie nur zu finden weiß. Es klopfte, und Lancelot folgte der herzhaft freundlichen Aufforderung ›Herein‹ und trat ein. »Ich bin da, um die Stockhiebe zu bekommen«, sagte er atemlos; zur Identifizierung fügte er noch hinzu: »Ich heiße Chetrof.« »Das ist schon schlimm genug«, sagte Comus, »aber wahrscheinlich kommt noch Schlimmeres. Du verschweigst uns offensichtlich etwas.« »Ich habe ein Fußballtraining verpaßt«, sagte Lancelot. »Sechs«, sagte Comus bündig und nahm den Rohrstock auf. »Ich habe die Notiz auf dem Schwarzen Brett nicht gesehen«, riskierte Lancelot in einem verzweifelten Unterfangen. »Es macht uns immer Spaß, Entschuldigungen anzuhören, wir berechnen dafür zwei Extrahiebe. Macht zusammen acht. Da hinüber.« Und Comus zeigte auf den Stuhl, der unheilvoll isoliert in der Mitte des Raums stand. Noch nie war Lancelot ein Möbelstück so hassenswert vorgekommen. Comus konnte sich gut an die Zeit erinnern, wo ein mitten in einem Zimmer aufgepflanzter Stuhl ihm als eins der gräßlichsten Dinge erschienen war, die Menschenhand hergestellt hat. »Leih mir ein Stück Kreide«, bat er seinen Mitpräfekten. Lancelot erkannte schmerzlich die Wahrheit der Kreidegeschichte. Comus zog den erwünschten Strich mit jener beflissenen Genauigkeit, die er beim Erstellen eines Euklidischen Schaubilds oder beim Markieren der russisch-persischen Grenzen verschmäht haben würde.
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»Beug dich etwas weiter vor«, sagte er zu seinem Opfer, »und nicht so lasch. Bemüh dich nicht, freundlich auszusehen, ich kann dein Gesicht sowieso nicht sehen. Es klingt vielleicht unorthodox, aber das hier tut dir mehr weh als mir.« Es folgte eine sorgfältig bemessene Pause, und dann mußte Lancelot unmittelbar am eigenen Leibe spüren, wozu ein guter Rohrstock fähig ist, wenn er wirklich geschickt gehandhabt wird. Beim zweiten Hieb schnellte er in die Höhe. »Jetzt bin ich rausgekommen«, sagte Comus, »wir müssen ganz von vorn anfangen. Geh bitte in dieselbe Position zurück. Wenn du wieder abhebst, bevor ich fertig bin, wird Rutley dich drüberhalten, und du kriegst ein Dutzend.« Lancelot kehrte zum Stuhl zurück und wurde wieder dem Geschmack des Vollstreckers entsprechend plaziert. Er harrte dort aus - irgendwie -, während Comus acht genau gezielte und quälend wirkungsvolle Hiebe auf die Kreidelinie verabreichte. »Übrigens«, sagte er, nachdem die Züchtigung vorbei war, zu seinem keuchenden, nach Luft schnappenden Opfer, »hast du nicht Chetrof gesagt? Ich glaube, man hat mich gebeten, nett zu dir zu sein. Als Anfang kannst du heute nachmittag mein Arbeitszimmer reinigen. Paß nur höllisch auf, wenn du das alte Porzellan abstaubst. Solltest du irgend etwas zerbrechen, brauchst du gar nicht damit anzukommen, geh einfach irgendwo ins Wasser und ersauf; das erspart dir ein schlimmeres Schicksal.« »Ich weiß nicht, wo dein Arbeitszimmer ist«, brachte Lancelot unter Stocken heraus. »Es wäre besser, du findest das heraus, oder ich muß dich schlagen, dann aber wirklich hart. Hier, behalt die
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Kreide in deiner Tasche, wir können sie bestimmt noch gebrauchen. Halt dich nicht damit auf, mir für alles zu danken, was ich getan habe, das macht mich nur verlegen.« Da Comus kein Arbeitszimmer besaß, verbrachte Lancelot fieberhaft eine halbe Stunde damit, das herauszufinden, und verpaßte infolgedessen ein weiteres Fußballtraining. »Alles ist hier bestens«, schrieb Lancelot an seine Schwester Emmelme. »Die Präfekten können einem, wenn sie wollen, regelrecht die Hölle heiß machen, aber die meisten von ihnen sind schon in Ordnung. Einige sind Bestien. Bassington ist Präfekt, allerdings nicht der höchste. Mehr Bestie als er kann man nicht sein. So scheint es mir wenigstens.« Die Verschwiegenheit eines Schuljungen erlaubte nicht mehr, Emmeline jedoch ergänzte das Fehlende mit der üppigen Großzügigkeit weiblicher Einbildungskraft. Francescas Brücke stürzte krachend in den Abgrund.
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Drittel Kapitel Am Abend eines Novembertages, zwei Jahre nach den eben berichteten Ereignissen, bahnte sich Francesca Bassington einen Weg durch die Menge, welche die Wohnung ihrer Freundin Serena Golackly bevölkerte. Sie nickte hier und da jemand in vagem Wiedererkennen zu, doch der Blick war offensichtlich darauf aus, eine ganz bestimmte Person ins Visier zu bekommen. Das Parlament hatte sich noch einmal zu einer Herbstsitzung aufgerafft, und in dem Gedränge waren die beiden politischen Parteien recht gut vertreten. Serena hatte eine unschuldige Art, eine Anzahl mehr oder weniger bekannter Männer und Frauen des öffentlichen Lebens in ihr Haus einzuladen, in der Hoffnung, daß ein salon entstünde, ließe man sie nur lange genug beisammen. Demselben Instinkt folgend, pflanzte sie in die Blumenrabatte ihres Wochenendhauses auf dem Lande, in Surrey, eine kunterbunte Mischung von Zwiebeln ein und nannte das Ergebnis dann einen holländischen Garten. Man kann sich zwar brillante Redner ins eigene Heim holen, nur lassen sich diese leider nicht immer dazu bringen, brillant zu reden oder überhaupt etwas zu reden; schlimmer noch, man kann den Wortschwall jener spatzenschnattrigen Dummköpfe nicht eindämmen, die anscheinend über jedwedes Thema so vieles zu sagen haben, das am besten ungesagt bliebe. Eine Gruppe, an der Francesca vorbeikam, unterhielt sich gerade über einen spanischen Maler, der dreiundvierzig Jahre alt war und in jungen Jahren bereits Tausende Quadratmeter Leinwand bemalt hatte, von dem aber bis vor wenigen Monaten noch niemand in London etwas gehört hatte; jetzt schien das Spatzengezeter entschlossen, von fast nichts anderem zu reden. Drei Frauen wußten, wie man
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seinen Namen aussprach, eine andere hatte beim Betrachten seiner Bilder immer das Gefühl, sie müsse in den Wald gehen und beten; einer anderen war aufgefallen, daß in seinen späteren Kompositionen ständig Granatäpfel auftauchten, und ein Mann mit einem unmöglichen Kragen wußte, was die Granatäpfel ›bedeuteten‹. »Was ich so großartig an ihm finde«, sagte eine beleibte Dame mit herausfordernd lauter Stimme, »ist die Art, wie er allen Konventionen der Kunst trotzt und doch all das beibehält, für das die Konventionen stehen.« »Hm, aber haben Sie bemerkt -«, warf der Mann mit dem gräßlichen Kragen ein, und Francesca drängte verzweifelt weiter, sich leise verwundernd, was die Menschen so unerträglich daran fanden, mit Taubheit geschlagen zu sein. Aufgehalten wurde sie einen Augenblick lang durch ein Paar, das in ein ernstes und wortreiches Gespräch über ein schwelendes Tagesproblem vertieft war; ein dünner, bebrillter junger Mann mit fliehender Stirn, die so oft himmelstürmende Fortschrittlichkeit anzeigt, unterhielt sich mit einer bebrillten jungen Frau mit ähnlicher Kopfform und äußerst ungepflegtem Haar. Ihr Ehrgeiz im Leben war es, für eine russische Studentin gehalten zu werden, und sie hatte Wochen geduldigen Nachforschens hinter sich, um herauszufinden, wohin genau die Teeblätter im Samowar kamen. Sie war einmal einer jungen Jüdin aus Odessa vorgestellt worden, die in der Woche darauf an Lungenentzündung gestorben war; dieses Erlebnis, so unbedeutend es auch sein mochte, ließ die bebrillte junge Dame in den Augen ihres engsten Zirkels zu einer Autorität für alles werden, was russisch war. »Reden hilft, Reden ist notwendig«, sagte der junge Mann gerade, »aber wir müssen das Thema aus der Furche bloßen Geredes aufnehmen und es auf die Tenne praktischer Erörterung legen.«
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Die junge Frau nutzte die rhetorische Pause aus, um mit einer Bemerkung vorzupreschen, die sie schon auf der Zunge hatte. »Wenn wir die Sklaven der Armut befreien, müssen wir darauf achten, daß wir die Fehler vermeiden, in die das bürokratische Regierungssystem Rußlands verfiel, als die Sklaven des Ackerbodens befreit wurden.« Sie machte ihrerseits um der deklamatorischen Wirkung willen eine Pause, kam aber schnell genug wieder zu Atem, um mit dem jungen Mann gleichzuziehen, der sich bereits in seine nächste Tirade gestürzt hatte. ›Diesmal haben sie einen guten Start erwischt‹, sagte sich Francesca, ›vermutiich gilt ihr gemeinsames Mühen der Verhütung von Armut. Was in aller Welt würde aus diesen lieben guten Seelen werden, wenn irgendeiner einen Kreuzzug zur Verhütung von Mittelmäßigkeit unternähme ?‹ Auf halbem Weg durch einen der kleineren Räume, noch immer auf der Suche nach jener sich entziehenden Persönlichkeit, erblickte sie jemanden, den sie kannte, und ein Schatten von Mißbilligung huschte über ihr Gesicht. Gegenstand ihres kaum merklich signalisierten Verdrusses war Courtenay Youghal, der sich seine Sporen in der Politik verdiente und einer Generation, die nie etwas von Pitt gehört hatte, lächerlich jung vorkam. Es war Youghals Ehrgeiz - vielleicht auch sein Steckenpferd -, dem Grau modernen politischen Lebens etwas von der Farbe eines Disraelischen Dandytums beizumengen, gemildert durch die Korrektheit angelsächsischen Geschmacks und mit den Glanzlichtern des Witzes, der unzertrennlich von seinem keltischen Erbe war. Sein Erfolg war nur etwas Halbes. Die Öffentlichkeit vermißte an ihm jene Spur von Protzerei, die sie bei ihren kommenden Männern erwartet; die dekorative Glätte
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seines kastanienbraunen Haars und das Feuerwerk seiner Epigramme wurden ihm positiv angerechnet, der dezente Luxus seiner Westen und Krawatten hingegen war vergeudete Mühe. Hätte er seine Zigaretten immerzu mit korallenrosa Mundstück geraucht oder Gamaschen aus Mackenzie-Tartan getragen, wären ihm wohl die uneingeschränkte Zuneigung des Wählers und die schwärmerischen Ergüsse der Zeitungsartikler gewiß gewesen. Die Kunst des öffentlichen Lebens besteht zum großen Teil darin, genau zu wissen, wie weit man gehen darf, und einen Schritt darüber hinaus zu tun. Nicht Youghals Mangel an politischer Klugheit war es, der diesen flüchtigen Mißfallensausdruck in Francescas Gesicht hervorgerufen hatte. Tatsache war, daß Comus, der nun kein Schuljunge mehr war, sondern ein gesellschaftliches Problem, sich seit kurzem zu den Verbündeten und Bewunderern des jungen Politikers gesellt hatte, und da der Junge nichts von Politik verstand und nichts darauf gab, bloß Youghals Westen nachahmte und, weniger erfolgreich, seine Konversation, fühlte sich Francesca berechtigt, diesen vertrauten Umgang zu beklagen. Für eine Frau, die sich mit sozusagen keinem Jahreseinkommen gut kleidete, war es eine bange Erfahrung, einen Sohn zu haben, der sich mit wirklich keinem verschwenderisch kleidete. Dem Schatten, der ihr beim Anblick des anstößigen Youghals über das Gesicht gehuscht war, folgte sogleich ein Lächeln der Genugtuung angesichts der Verbeugung, mit der sie ein stattlicher Gentleman mittleren Alters begrüßte, der bestrebt schien, sie in die nicht allzu große Gruppe einzuschließen, die er um sich versammelt hatte. »Wir sprachen gerade über meinen neuen Posten«, erklärte er jovial und schloß in das »wir« seine recht deprimiert aussehenden Zuhörer ein, die nach höchst
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menschlichem Ermessen überhaupt nichts geäußert hatten. »Ich habe ihnen gerade gesagt, und es interessiert Sie vielleicht zu hören, daß -« Francesca trug mit spartanischem Stoizismus weiterhin ein gewinnendes Lächeln zur Schau, auch wenn sie in diesem Augenblick die sprichwörtliche Natter, die nicht hören will und sich die Ohren verstopft, bewunderte. Sir Julian Juli war Abgeordneter im Unterhaus gewesen, das sich durch seinen hohen Grad an gutinformierter Mittelmäßigkeit auszeichnet, und er hatte sich so innig seiner Umgebung angepaßt, daß der aufmerksamste Beobachter parlamentarischer Vorgänge kaum hätte sagen können, auf welcher Seite des Hauses er eigentlich saß. Der Titel des Baronets, der ihm schließlich von der Regierungspartei verliehen wurde, räumte zumindest diesen Zweifel aus; einige Wochen darauf war er zum Gouverneur einer westindischen Kolonie ernannt worden - ob nun als Belohnung dafür, daß er den Baronetstitel angenommen hatte, oder als Nutzanwendung der Theorie, daß die Westindischen Inseln die Gouverneure bekommen, die sie verdienen, hätte man schwer sagen können. Für Sir Julian war die Ernennung zweifellos ziemlich wichtig; während der Zeitspanne seiner Statthalterschaft konnte möglicherweise ein Mitglied der königlichen Familie oder zumindest ein Tornado der Insel einen Besuch abstatten, und in beiden Fällen würde sein Name in die Zeitung kommen. Für die Öffentlichkeit war die Angelegenheit gänzlich belanglos; ›wer ist der, und wo ist da s?‹ hätte präzise den öffentlichen Wissensstand hinsichtlich der persönlichen und geographischen Aspekte des Falles zusammengefaßt. Francesca jedoch hatte, kaum war ihr die Möglichkeit der Ernennung zu Ohren gekommen, ein tiefes und lebhaftes Interesse für Sir Julian entwickelt. Als Paria-
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mentsabgeordneter hatte er in ihrem Leben keinerlei dringliches gesellschaftliches Bedürfnis gestillt, und bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie auf der Regierungsterrasse ihren Tee trank, pflegte sie sich verzückt in den Anblick des St. Thomas-Hospitals zu versenken, wann immer sie ihn in Grußweite erblickte. Als Gouverneur einer Insel aber würde er selbstverständlich einen Privatsekretär benötigen, und als Freund und Kollege von Henry Greech, dem er wegen vieler kleiner Akte politischen Beistands zu Dank verpflichtet war (sie hatten einmal gemeinschaftlich einen Änderungsantrag aufgesetzt, der für regelwidrig erklärt worden war) - was war da natürlicher und schicklicher, als daß seine Wahl auf Henry Greechs Neffen Comus fi ele? Henry bezweifelte zwar im stillen, daß der Junge die Art von Sekretär abgäbe, die ein Mann der Öffentlichkeit als wertvolle Stütze erachten würde, doch fand er es ganz wie Francesca höchst vortrefflich und erwünscht, jenes lästige junge Tier aus dem allzu begrenzten und allen Blicken offenen Gebiet mit Zentrum im Stadtteil St. James in irgendeinen entlegenen Winkel der britischen Überseekolonien umzusiedeln. Bruder und Schwester hatten sich zusammengetan, um just an dem Tag, wo Sir Julians Ernennung offiziell bekanntgegeben wurde, ein opulentes und gleichzeitig trauliches kleines Mahl für ihn zu geben, und das Thema der Sekretärsstelle war angeschnitten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit beharrlich weitergeführt worden, bis nur noch, um die Sache endgültig zu regeln, eine formelle Unterredung zwischen Seiner Exzellenz und Comus nötig war. Der Junge war von Anfang an von der Aussicht, verschickt zu werden, sehr wenig entzückt. Auf einer fernen, haifischumflossenen Insel zu leben, wie er es ausdrückte, mit der JuliFamilie als wichtigstem geselligem Hort und Sir Julians
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Konversation als täglich wiederkehrendem Programmpunkt, das erfüllte ihn nicht gerade mit derselben Begeisterung wie offensichtlich seine Mutter und seinen Onkel, die schließlich das Experiment nicht machen mußten. Selbst die Notwendigkeit einer gänzlich neuen Ausstattung reizte seine Phantasie nicht in dem Maß, wie man es wohl hätte erwarten können. So matt seine Einwilligung zu dem Vorhaben auch sein mochte, Francesca und ihr Bruder waren offensichtlich entschlossen, es ihrerseits nicht an Geschick und Ausdauer fehlen zu lassen, um den Erfolg des Ganzen nicht zu gefährden. Sir Julian sollte an sein Versprechen erinnert werden, sich am nächsten Tag mit Comus zum Lunch zu treffen und die Frage des Sekretärsposten zum definitiven Abschluß zu bringen - nur deshalb erduldete Francesca jetzt die Qual einer langatmigen Rede über den Wert der Westindischen Inselgruppe als imperialer Errungenschaft. Andere Zuhörer sonderten sich nach und nach unauffällig ab, doch Francescas Geduld überdauerte selbst Sir Julians Schwall von Gemeinplätzen, und ihre Treue wurde durch eine erneute Bestätigung der LunchEinladung und ihres speziellen Zwecks gebührend belohnt. Sie drängte sich durch die Menge der spatzenschnattrigen Schwätzer zurück, gestärkt vom Bewußtsein eines wohlverdienten Sieges. Die unsinnigen salons der heben Serena dienten letztlich doch einem guten Zweck. Francesca war keine Frühaufsteherin, und das Frühstück am nächsten Morgen wurde gerade auf dem Tisch bereitgestellt, als ihr von einem Extraboten aus dem Haus ihres Bruders eine Kopie der Times aufs Zimmer gebracht wurde. Ein breiter Blaustiftstrich lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen an prominenter Stelle abgedruckten Brief mit der ironischen Schlagzeile: ›Julian Juli, Prokonsuk Inhalt des Schreibens war die grausame Ausgrabung von ein paar einfältigen und längst vergessenen Reden, die Sir Julian vor
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nur wenigen Jahren vor seinen Wählern gehalten hatte, in denen der Wert einiger unserer Kolonialbesitzungen, besonders gewisser Westindischer Inseln, in einer Mischung aus Prahlerei, Unwissenheit und erstaunlich billiger Komik herabgesetzt wurde. Die Zitate an sich waren schon nichtssagend und dümmlich, aber der Briefschreiber hatte sie mit eigenen Kommentaren gespickt, die vor ironischem Scharfsinn sprühten, der in seiner geschliffenen Grausamkeit an Cervantes denken ließ. In Erinnerung an die Pein des vorherigen Abends erlaubte sich Francesca, als sie die erbarmungslosen, hinterhältigen Angriffe auf den frisch ernannten Gouverneur las, so etwas wie Belustigung zu empfinden; dann kam sie am Ende des Briefs zu der Unterschrift, und das Lächeln gefror ihr auf den Lippen. ›Comus Bassington‹ sprang ihr in die Augen, von der zittrigen Hand Henry Greechs mehrmals dick mit Blaustift unterstrichen. Comus konnte ein solches Schreiben ebensowenig ersonnen haben, wie er einen bischöflichen Hirtenbrief an irgendeine Diözese aufsetzen konnte. Ganz offensichtlich war es das Werk von Courtenay Youghal, und Comus hatte ihn eindeutig für eigene Zwecke beschwatzt, dieses eine Mal auf den Stolz der Urheberschaft für eine geschickte politische Satire zu verzichten und statt dessen seinen jungen Freund Pate stehen zu lassen. Es war ein gewagter Streich, und sein Erfolg stand außer Frage; die Stelle des Sekretärs und die ferne haifischumflossene Insel entschwanden am Horizont des Unmöglichen. Francesca vergaß die goldene Strategieregel, die eine sorgfältige Wahl des Standorts und des richtigen Zeitpunkts vorschreibt, bevor man Feindseligkeiten eröffnet, und eilte schnurstracks zur Badezimmertür, wo munteres Geplätscher verriet, daß Comus mit seiner Toilette zumindest begonnen hatte.
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»Du böser Junge, was hast du bloß gemacht?« rief sie vorwurfsvoll aus. »Mich wasch grade«, kam es in fröhlichem Pidgin zurück, »mich wasch von Hals runter bis Pfeffer und Salz, und jetzt mich wasch runter von Pfeffer und Salz bis —« »Du hast deine Zukunft ruiniert. Die Times hat den unglückseligen Brief mit deiner Unterschrift veröffentlicht.« Ein lauter Freudenjuchzer ertönte aus dem Bad. »Oh, Mutti! Laß sehn!« Man hörte Laute, als entstiege ein triefender, sich streckender Körper hastig der Badewanne. Francesca flüchtete. Man kann einem nassen, neunzehnjährigen Jungen, der nur mit einem Badetuch und einer Dampfwolke bedeckt ist, nicht wirksam die Leviten lesen. Ein weiterer Bote kam, noch bevor Francesca mit ihrem Frühstück fertig war. Dieser brachte einen Brief von Sir Julian Juli, der sich entschuldigte, sein LunchVersprechen nicht einhalten zu können.
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Viertes Kapitel Francesca brüstete sich damit, die Dinge vom Standpunkt anderer betrachten zu können, was, wie gewöhnlich, hieß, daß sie ihren eigenen Standpunkt aus unterschiedlicher Sicht betrachten konnte. Comus' Handeln und Nichthandeln beherrschten ihr Denken im Augenblick ganz außerordentlich. Und sie hatte sich im Geiste derart genau ausgemalt, wie seine Lebenseinstellung sein sollte, daß gerade sie besonders ungeeignet war, den Lauf seiner Gefühle zu verstehen oder die plötzlichen Regungen, die ihn überfielen. Das Schicksal hatte sie mit einem Sohn ausgestattet; indem sich die Ausstattung auf einen einzigen Sprößling beschränkte, hatte das Schicksal sich zweifelsohne gemäßigt, was Francesca bereitwilligst und mit Dankbarkeit anerkannte; andererseits aber, wie sie einer zufriedenen Freundin gegenüber betonte, die fröhlich eine Ausstattung von einem halben Dutzend männlicher Nachkommen plus einem oder zwei Mädchen ertrug, sei ihr einziges Kind eben Comus. Numerische Mäßigung wurde in besagtem Fall durch die Extravaganz seiner Eigenarten mehr als ausgeglichen. Francesca verglich ihren Sohn im Geiste mit Hunderten von anderen jungen Männern aus ihrer Umgebung, die stetig und wohl auch glücklich am eigenen Umformungsprozeß vom netten Jungen zum nützlichen Bürger arbeiteten. Die meisten von ihnen hatten einen Beruf oder waren eifrig dabei, sich für einen zu qualifizieren; in ihren Mußestunden rauchten sie Zigaretten einer preiswerten Marke, saßen auf den billigeren Plätzen im Variete, schauten gelegentlich mit offenkundigem Interesse einem Spiel auf dem Lord's Cricket Ground zu, erfuhren einen Großteil der spektakulären Weltereignisse mittels eines Kinematographen und tauschten beim Ab-
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schied gewöhnlich die sichtlich überflüssige Ermahnung ›hübsch brav zu bleiben‹ aus. Die gesamte Bond Street und etliche der Nebenstraßen von Piccadilly hätten von der Bildfläche des modernen Lebens hinweggefegt werden können, ohne daß dadurch ihre täglichen Bedürfnisse in irgendeiner Weise darunter leiden müßten. Als Bekannte wären sie sicherlich fad, als Söhne dagegen außerordentlich beruhigend gewesen. Mit wachsender Verärgerung verglich Francesca diese verdienstvollen jungen Männer mit ihrem eigenen störrischen Sprößling und fragte sich, warum das Schicksal gerade sie als Elternteil eines solch leidigen Abweichlers von dem sonst angenehmen und wünschenswerten Typus ausgesucht hatte. Was seine Erwerbsfähigkeit betraf, ahmte Comus mit gefährlicher Treue die Sorglosigkeit der Lilie auf dem Feld nach. Auch er blickte wie seine Mutter voll Sehnsucht und Verärgerung auf das Beispiel, das die Gleichaltrigen boten, doch konzentrierte sich seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die reicheren Kreise seiner Bekanntschaft, junge Männer, die sich mit der Unbekümmertheit, mit der er sich eine Nelke für sein Knopfloch kaufen mochte, Autos und Polopferde zulegten und Ausflüge nach Kairo oder ms Tigris-Tal unternahmen, was sie weniger Mühe und Geld kostete als ihn der Plan eines Wochenendes in Brighton. Ein fröhliches Naturell und gutes Aussehen hatten Comus erfolgreich und im ganzen glatt durch die Schulzeit und die wiederkehrende Abfolge von Ferien gebracht; dieselben angenehmen Vorzüge standen ihm noch immer zu Gebote, um ihn auf seinem Weg voranzubringen, aber es war eine verwirrende Erfahrung, festzustellen, daß man kraft ihrer nicht jederzeit überall hin und beliebig weit kommen konnte. Im Dschungel der Welt, in dem überdies ein bestialischer Wettbewerb herrschte,
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brauchte man etwas mehr als das dekorative Sichgehenlassen der Lilie auf dem Feld, und es war genau das ›etwas mehr‹, das Comus anscheinend nicht aus eigenen Stücken geben konnte oder wollte; genau wegen dieses fehlenden ›etwas mehr‹ haderte er mit dem Schicksal ob der zahlreichen Pannen und Hindernisse, die ihn bei seinem erwarteten triumphalen, zumindest ungehemmten, Vorwärtskommen aufhielten. Francesca mochte ihn auf ihre Weise mehr als sonst jemand auf der Welt, und hätte er irgendwo östlich von Suez seine Haut von der Sonne bräunen lassen, sie hätte wahrscheinlich jeden Abend vor dem Schlafengehen sein Bild mit echter Inbrunst geküßt; ausbrechende Cholerapanik oder Gerüchte von einem Eingeborenenaufstand in den Spalten ihrer Tageszeitung hätten erregte Besorgnis bei'ihr ausgelöst, und im Geiste hätte sie sich mit einer spartanischen Mutter verglichen, die ihren Liebling auf dem Altar der Staatsnotwendigkeit opfert. Da aber der Liebling sich unter ihrem Dach installiert hatte und übermäßig viele Quadratmeter und tägliche Opfer verlangte, statt selbst Rohmaterial für eins zu sein, war in ihren Gefühlen mehr Gereiztheit als Zuneigung zu spüren. Sie hätte Comus großherzig sogar schwere Missetaten vergeben, wären diese nur auf einem anderen Kontinent begangen worden; nie jedoch konnte sie die Tatsache übersehen, daß er sich von einer Platte mit fünf Kiebitzeiern mit Sicherheit drei stibitzte. Der Abwesende mag immer unrecht haben, ist aber selten in der Lage, rücksichtslos zu sein. So war allmählich eine Wand aus Eis zwischen Mutter und Sohn gewachsen, eine Barriere, über die hinweg sie Konversation machen konnten, die aber selbst ihrem lebhaftesten Wortgeplänkel einen frostigen Unterton gab. Der Junge besaß das Talent, wenn ihm der Sinn danach
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stand, unwiderstehlich amüsant zu sein, und nach einer langen Reihe von trübsinnigen oder unharmonischen Tischsitzungen brach gewöhnlich eine Sturzflut von Tratsch, Skandalgeschichten und maliziösen Anekdoten aus ihm heraus, zum Teil wahr, zum größeren Teil erfunden, der Francesca mit genießerischer Anerkennung lauschte, was desto schmeichelhafter für ihn war, als es nur so widerwillig geschah. »Würdest du dir deine Freunde aus einem etwas achtbareren Kreis wählen, wärest du zweifellos weniger amüsant, aber die Vorteile würden schon für einen Ausgleich sorgen.« Francescas gereizte Bemerkung fiel eines Tages beim Mittagessen, wo ihr Lächeln um eine Spur breiter ausgefallen war, als es die Umstände ihres Verhältnisses zu Comus in ihren Augen rechtfertigten. »Ich werde mich heute abend in durchaus respektabler Gesellschaft bewegen«, antwortete Comus mit stillvergnügtem Lachen. »Ich werde nämlich dich und Onkel Henry und lauter nette, langweilige, gottesfürchtige Leute beim Abendessen treffen.« Francesca stöhnte ein wenig auf vor Überraschung und Arger. »Du willst doch nicht etwa sagen, daß Caroline dich heute abend eingeladen hat ?« sagte sie, »und das natürlich, ohne mir etwas zu sagen. Wie außerordentlich typisch für sie!« Lady Caroline Benaresq hatte jenes Alter erreicht, wo man tun und sagen kann, was einem gefällt, ungeachtet der größten Empfindlichkeiten und gehätschelten Antipathien anderer. Nicht, daß sie ihr gegenwärtiges Alter abgewartet hätte, um diese Verhaltensweise an den Tag zu legen; sie kam aus einer Familie, deren einzelne Mitglieder von der Kinderstube bis ins Grab mit soviel Takt und
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Rücksicht durchs Leben gingen wie ein Igelkaktus, wenn er durch ein überfülltes Badezelt marschierte. Eine ausgleichende Barmherzigkeit sorgte dafür, daß sie untereinander weit mehr uneins waren als mit der Außenwelt; jede bekannte Spielart und Variante von Religion und Politik war zum Dienst in der Familie herangezogen worden, um auch nur ja jede Möglichkeit der Übereinstimmung in den wesentlicheren Dingen des Lebens auszuschließen; und so unerwartete Vorkommnisse wie die Spaltung der Autonomiebewegung, das plötzliche Aufkommen der Schutzzollpolitik und der Kreuzzug der Suffragetten wurden dankbar als Gelegenheiten für weitere Differenzen und Grenzziehungen aufgegriffen. Lady Carolines Lieblingsvorstellung von Gastfreundschaft war es, grell widerstreitende Elemente in enge Berührung zu bringen und mitleidslos gegeneinander auszuspielen. »Man erhält viel bessere Ergebnisse unter diesen Umständen«, bemerkte sie oft, »als wenn man Leute einlädt, die sich sowieso gern sehen. Wenige Menschen reden so geistreich, um einem Freund zu imponieren, wie sie es tun, um einen Feind zu deprimieren.« Sie gestand ein, daß ihre Theorie jämmerlich versagte, wenn man sie auf die Parlamentsdebatten anwandte. An ihrer eigenen Tafel aber bestätigte sich meist auf triumphale Weise ihre Richtigkeit. »Wer kommt sonst noch ?« fragte Francesca voll banger Ahnung, die verständlich war. »Courtenay Youghal. Er sitzt wahrscheinlich direkt neben dir, denk dir also im voraus einen Stapel vernichtender Bemerkungen aus. Und Elaine de Frey.« »Von der habe ich, glaube ich, noch nicht gehört. Wer ist sie?« »Nichts Besonderes, aber sieht - ein bißchen ernst zwar - recht gut aus und ist fast unanständig reich.«
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›Heirate sie‹, lautete der Rat, der sich Francesca unwillkürlich auf die Zunge drängte, doch sie schluckte ihn mit einer gesalzenen Mandel hinunter in der so seltenen Einsicht, daß uns die Worte manchmal gegeben sind, um unsere Absichten zu vereiteln. »Caroline hat sie wahrscheinlich für Toby im Auge oder für einen der Großneffen«, sagte sie lässig. »Ein bißchen Geld in die Richtung täte ganz gut, meine ich.« Comus zog die Unterlippe ein mit genau der Spur von Kampfgeist, die sie sehen wollte. Eine vorteilhafte Heirat war so offenkundig der vernünftigste Kurs, den er steuern konnte, daß sie kaum zu hoffen wagte, er werde es ernstlich tun; dennoch bestand die winzige Chance, daß er, käme es bis zum Stadium des Flirtens mit einem anziehenden (und ihrerseits von ihm angezogenen) Mädchen, das dazu noch Erbin war, aus purer Halsstarrigkeit bis zur direkten Brautwerbung gehen könnte, sei es auch nur, um andere, aufrichtiger verliebte Bewerber aus dem Feld zu schlagen. Es war eine verzweifelte Hoffnung; so verzweifelt, daß ihr sogar plötzlich der Einfall kam, sich der Gnade Courtenay Youghals, ihrer bete noire, auszuliefern und zu versuchen, seinen offensichtlichen Einfluß auf Comus auszunutzen, um ihren so prompt gefaßten Plan zu fördern. Immerhin, das Abendessen versprach interessanter zu werden, als sie anfänglich erwartet hatte. Lady Caroline war, in der Politik, eine erklärte Sozialistin, offenbar hauptsächlich, um auf diese Weise der Mehrheit der Liberalen und Konservativen und zudem allen Sozialisten des Tages widersprechen zu können. Ihr Sozialismus durfte jedoch nicht bis zu den Küchenräumen vordringen; ihre Köchin und ihr Butler wurden geradezu ermuntert, ausgesprochene Individualisten zu sein. Francesca war eine scharfzüngige und intelligente
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Feinschmeckerin und hegte bezüglich der Küche und des Weinkellers ihrer Gastgeberin keinerlei Befürchtungen; einige menschliche Beilagen zu der Festlichkeit verursachten ihr mehr Unbehagen. Courtenay Youghal würde vermutlich durch seine Schweigsamkeit brillieren; ihr Bruder Henry höchstwahrscheinlich genau durch das Gegenteil. Die Abendgesellschaft war groß, und Francesca kam spät an, mit nur wenig Zeit, die Gäste einer vorläufigen Prüfung zu unterziehen; ein Kärtchen mit dem Namen ›Miss de Frey‹ direkt ihrem eigenen Tischplatz gegenüber zeigte ihr indes den Sitz der Erbin an. Charakteristischerweise las Francesca zuerst die Menukarte sorgsam von oben bis unten; dann widmete sie sich ebenso sorgsam, wenn auch weniger offen, der Erforschung des ihr gegenübersitzenden Mädchens, jenes Mädchens, das nichts Besonderes war, deren Einkommen aber nichts zu wünschen übrig ließ. Sie war unaufdringlich hübsch, wie eine Haselnuß, und ihr ernst-nachdenklicher Gesichtsausdruck verbarg wahrscheinlich ein grüblerisches, unruhiges Gemüt. Ihre Haltung war, wollte man kritisch sein, eine Idee zu absichtlich lässig. Sie trug einige herrlich eingefaßte Rubine mit jener undefinierbaren Miene des Mehr-davon-zu-Hause-Habens, die man nicht so leicht aufsetzen kann. Francesca war sichtlich angetan von ihrer Prüfung. »Sie scheinen sich für Ihr vis-a-vis zu interessieren«, sagte Courtenay Youghal. »Ich glaube beinahe, ich habe sie schon einmal gesehen«, sagte Francesca; »ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.« »Die schmale Galerie im Louvre: Leonardo da Vinci zugeschrieben«, sagte Youghal. »Aber natürlich«, sagte Francesca und schwankte zwi-
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sehen dem Gefühl der Befriedigung, eines flüchtigen Eindrucks habhaft geworden zu sein, und dem Verdruß, daß Youghal ihr dabei geholfen hatte. Noch stärkerer Verdruß überkam sie, als sie auf einmal die Stimme von Henry Greech mit peinlicher Deutlichkeit an Lady Carolines Tafelende erschallen hörte. »Ich habe gestern einen Besuch bei den Trudhams gemacht«, verkündete er. »Sie wissen ja, sie hatten gerade Silberne Hochzeit; genauer, vorgestern. Eine Riesenmenge von Silbergeschenken, überwältigender Anblick. Natürlich gab's da sehr viel doppelt, aber dennoch, nett, sowas zu haben. Ich glaube, sie waren hocherfreut, so viel zu bekommen.« »Wir dürfen ihnen nicht den Anblick ihrer Geschenke neiden nach ihren fünfundzwanzig Ehejahren«, sagte Lady Caroline freundlich; »es ist der Silberstreifen an ihrem Horizont.« Ein Drittel der anwesenden Gäste war mit den Trudhams verwandt. »Lady Caroline fängt ja gut an«, murmelte Courtenay Youghal. »Ich würde fünfundzwanzig Ehejahre kaum als ›Horizont‹ bezeichnen«, sagte Henry Greech lahm. »Sprechen wir doch nicht über das Eheleben«, sagte eine große, stattliche Frau, die aussah, wie ein moderner Maler sich die Kriegsgöttin Bellona vorstellt: »Es ist mein Unglück, daß ich ewig über Ehemänner und verheiratete Frauen und ihre Varianten schreiben muß. Mein Publikum erwartet das von mir. Ich beneide die Journalisten regelrecht, die über Seuchen und Streiks, anarchistische Komplotte und sonstige Nettigkeiten schreiben können, statt immer nur auf das eine abgedroschene alte Thema fixiert zu sein.« »Wer ist die Frau, und was hat sie geschrieben?« fragte
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Francesca Youghal; sie erinnerte sich dunkel daran, sie auf einer von Serena Golacklys Gesellschaften gesehen zu haben, wo sie von einer kleinen Schar Bewunderer umgeben gewesen war. »Ich vergesse ständig ihren Namen; sie hat eine Villa in San Remo oder in Mentone oder sonstwo, wo man seine Villa eben hat, und sie ist eine außerordentlich gute Bridgespielerin. Sie hat auch den Ruf - was recht selten bei Ihrem Geschlecht vorkommt -, sich bewundernswert gut in Weinen auszukennen.« »Aber was hat sie geschrieben?« »Etliche Romane der Sorte ›Spiel mit dem Feuer‹. Ihr letzter Roman, Die Senora, die sich nach Samstag sehnte, ist aus allen Büchereien verbannt worden. Ich nehme an, Sie haben ihn gelesen.« »Ich wüßte nicht, wie Sie zu der Annahme kommen können«, sagte Francesca kalt. »Ach nur, weil mir Comus gestern Ihr Exemplar geliehen hat«, sagte Youghal. Er warf den markanten Kopf zurück und sah sie spöttisch-amüsiert von der Seite an. Ihm war bewußt, daß ihr sein vertrauter Umgang mit Comus verhaßt war, und insgeheim war er stolz auf seinen Einfluß auf den Jungen, so seicht und unheilvoll er auch, wie er wußte, war. Er seinerseits hatte diesen vertraulichen Umgang nicht gesucht, der wahrscheinlich in dem Augenblick abbrechen würde, wo er ernsthaft versuchte, die Rolle des Mentors zu übernehmen. Der Umstand, daß die Mutter von Comus diese Freundschaft unverhohlen mißbilligte, gab ihr in den Augen des Jungpolitikers vielleicht den Hauptreiz. Francesca wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Bruder am Tafelende zu. Henry Greech war bereitwillig der Aufforderung gefolgt, das Ehelebensujet aufzugeben, und hatte sich unverzüglich auf das gleichfalls abgedro-
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schene Thema der Tagespolitik gestürzt. Er war bei öffentlichen Versammlungen nicht eben sehr begehrt, und das Parlament zeigte keine große Ungeduld, seine Ansichten über aktuelle Fragen zu hören; die Ungeduld des Hohen Hauses äußerte sich vielmehr eher in entgegengesetzter Richtung. Daher neigte Henry Greech dazu, sich seiner angesammelten politischen Weisheit zu entledigen, sobald die Gelegenheit sich bot - manchmal allerdings bemächtigte er sich einer Gelegenheit, die dem baren Verstand kaum als solche ersichtlich war. »Unsere Gegner mühen sich in einem aussichtslosen Kampf den Berg hinauf, was sie nur zu gut wissen«, zirpte er keck. »Sie sind wie die Gergesener Säue besessen von einer ganzen Legion von . . .« »Die Gergesener Säue stürmten gewiß doch den Abhang hinunter?« unterbrach Lady Caroline mit freundlich fragender Stimme. Henry Greech ließ eilends von dem Gleichnis ab und verlegte sich wieder auf Platitüden und unverfänglichere Sachverhalte. Francesca betrachtete die Ansichten ihres Bruders über die Staatskunst nicht im Licht des Evangeliums oder der Offenbarung; wie Comus einmal bemerkt hatte, legten sie einem in der Regel eher den Exodus nahe. Vom gegenwärtigen Fall lenkte sie ein erneutes Studium des Mädchens ihr gegenüber ab, das nur mäßig an den Konversationsversuchen ihrer Kavaliere beiderseits interessiert schien. Comus, der blendend aussah und redete, saß am anderen Ende der Tafel, und Francesca stellte rasch fest, in welche Richtung die Blicke des Mädchens immerzu schweiften. Ein paarmal trafen sich die Augen der jungen Leute, und freudiges Erröten und ein halbes Lächeln, das von gutem Einvernehmen sprach, zeigten sich auf dem Gesicht der Erbin. Auch ohne die Fähigkeit
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der herkömmlichen Intuition ihres Geschlechts vermochte Francesca zu erraten, daß das Mädchen mit dem verführerischen Bankkonto bereits stark von dem lebhaften jungen Heiden angezogen war, der die Kunst beherrschte, Bewunderung zu erregen, wenn es ihm darauf ankam. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Monaten sah Francesca die Aussichten ihres Sohnes in rosigem Licht, und sie begann sich unwillkürlich zu fragen, wieviel Besitz wohl in der bedeutungsvollen Bezeichnung ›fast unanständig reich‹ zusammengefaßt war. Eine Ehefrau mit wirklich reichlichem Vermögen und der entsprechend großen Mitgift an Charakter und Ehrgeiz könnte vielleicht Erfolg haben, die latenten Energien von Comus ins richtige Fahrwasser zu lenken, was ihn, wenn schon nicht mit einer Karriere, doch zumindest mit einer Beschäftigung versorgen würde, und das junge, ernsthafte Gesicht ihr gegenüber sah aus, als ermangelte es seiner Besitzerin weder an Charakter noch an Ehrgeiz. Francescas Spekulationen nahmen eine persönlichere Wendung. Aus den wohlgefüllten Schatzkammern, mit denen ihre Phantasie liebäugelte, könnte schließlich eine geringfügige Summe zur Miete, eventuell sogar zum Kauf des Hauses in der Blue Street abgezweigt werden, wenn das augenblickliche praktische Arrangement sein Ende finden sollte, und Francesca und der Van der Meulen müßten sich kein neues Quartier suchen. Eine Frauenstimme, die in diskret gedämpftem Ton an der anderen Seite von Courtenay Youghal sprach, unterbrach sie bei ihrem Brückenbau. »Geld wie Heu und wirklich sehr annehmbar. Genau die Frau für einen jungen aufsteigenden Politiker. Auf in den Kampf und erobern Sie sie, bevor irgendein Mitgiftjäger sie sich schnappt.« Youghal und seine Lehrmeisterin in Weltklugheit
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blickten geradewegs über den Tisch auf das Leonardoda-Vinci-Mädchen mit den ernsten, nachdenklichen Augen und der zu demonstrativ gezeigten Entspanntheit. Francesca fühlte, wie sich rasch Unwillen gegen ihre ehestiftende Nachbarin regte. Warum, fragte sie sich, müssen manche Frauen, ohne für sie selbst ersichtlichen Zweck - außer dem Vergnügen, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen -, sich in solch ein Ränke- und Komplottschmieden stürzen, wo es schließlich um das Glück von mehr als einer Person geht? Und deutlicher als je zuvor wurde ihr bewußt, wie abgrundtief sie Courtenay Youghal verabscheute. Sie hatte seinen schlechten Einfluß mißbilligt, der ihrem Sohn sowohl ein Beispiel für großspurigen Ehrgeiz bot, dem dieser nicht im mindesten folgen würde, als auch das Vorbild eines extravaganten Dandytums, das er nur allzu gewiß nachahmen würde. Im Grunde wußte sie, daß Comus sich genauso sicher auf seinen gegenwärtigen Kurs müßiger Selbstliebe eingelassen haben würde, wenn er nie etwas von Youghals Existenz gehört hätte, aber sie zog es vor, diesen jungen Mann als den bösen Genius ihres Sohnes zu betrachten, und jetzt schien er mehr denn je den Ruf zu rechtfertigen, den sie ihm zugedacht hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Comus den Eindruck, als habe er die Absicht, sich vernünftig zu benehmen und die eigenen Möglichkeiten zu einem gewissen Grade zu nutzen, und fast im selben Augenblick erschien Courtenay Youghal als potentieller und äußerst gefährlicher Rivale auf der Bühne. Gegen das gute Aussehen und die launische Macht, andere in seinen Bann zu ziehen, die Comus ins Feld führen konnte, vermochte der junge Politiker ein halbes Dutzend blendender Eigenschaften auszuspielen, genug, ihn in den Augen einer Frau von Welt zu empfehlen, ganz zu schweigen von denen eines
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jungen Mädchens auf der Suche nach dem Ideal. Auf seine Weise gutaussehend, wenn auch nicht so auffallend wie Comus, stets elegant gekleidet, geistreich, selbstbewußt, ohne anmaßend zu sein, auf dem Weg zu einer glänzenden Karriere als Parlamentarier, und weiß Gott was noch alles vor sich, war Courtenay Youghal gewiß nicht der Rivale, dessen Chancen man als minimal einschätzen konnte. Francesca lachte bei der Erinnerung bitter auf, daß sie vor kurzem noch erwogen hatte, ihn um Hilfe bei Comus' Brautwerbung zu bitten. Zumindest einen Trost gab es für sie: wenn Youghal wirklich einschreiten und versuchen wollte, seinen jungen Freund auszustechen, dann hatte letzterer einen guten Start erwischt. Comus hatte Miss de Frey ganz zwanglos und en passant beim Mittagessen erwähnt; wäre das Gespräch nicht auf die Dinnergäste gekommen, hätte er sie wahrscheinlich überhaupt nicht erwähnt. Aber sie waren offensichtlich schon sehr gut befreundet. Bezeichnend für die angespannte Lage der häuslichen Beziehung in der Blue Street war es, daß Francesca von dieser hochinteressanten Erbin erst durch ein zufälliges Sortieren der Gäste einer Abendgesellschaft erfuhr. Lady Carolmes Stimme unterbrach sie bei ihren Überlegungen; eine leise schnurrende Stimme, die die unheimliche Eigenschaft besaß, selbst an der längsten Dinnertafel ans Ohr zu dringen. »Unser lieber Erzdiakon wird ja so zerstreut. Letzten Sonntag hat er als Erste Lesung eine Liste mit den Namen derer vorgetragen, die eine Opernloge haben, statt der Stämme und der zahllosen Geschlechter, die in Kanaan einzogen. Glücklicherweise hat niemand den Fehler bemerkt.«
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Fünftes Kapitel Auf einer angenehm abgelegenen Bank, gegenüber der Nordfasanerie des Zoologischen Gartens am Regent's Park, saß Courtenay Youghal abgeklärt flirtend mit einer Dame, die, wenn auch in Tat und Aussehen sicherlich noch jung, doch vier oder fünf Jahre älter war als er. Molly McQuade hatte ihn als sechzehnjährigen Schüler höchstpersönlich zum Zoo geführt und ihm anschließend bei Kettner's ein Abendessen spendiert, und wann immer die zwei am Jahrestag jener vergangenen Festlichkeit in London weilten, wiederholten sie andächtig das Programm in seinem vollen Umfang. Selbst an die Speisenfolge hielt man sich so genau wie möglich; die ursprüngliche Wahl des Essens und der Weine, die Schülerüberschwenglichkeit, gedämpft durch Schülerschüchternheit, vor so vielen Jahren festgeschrieben hatte, trat Youghal bei jenen Anlässen wieder entgegen, wie vor einem Ertrinkenden angeblich in den letzten Minuten seines Bewußtseins sein früheres Leben Revue passiert. Die Flirterei, die auf diese Weise Jahre hindurch beim alten Stil blieb, verdankte ihre Langlebigkeit mehr dem unternehmungslustigen Eifer der Miss McQuade als einem bewußten Gefühlsaufwand von seilen Youghals. Molly McQuade war bei ihren Nachbarn in einer kleineren Jagdgrafschaft als scharf reitende junge Frau konventionell-unkonventionellen Typs bekannt, die daher wie natürlich in die Kategorie ›netter Kerl‹ fiel. Sie war gerade genügend hübsch, genügend diskret bei eigenen Krankheiten, wenn sie mal welche hatte, und sie würdigte die Gärten, Kinder und Jagdpferde der Nachbarn genügend, um allgemein beliebt zu sein. Die Mehrheit der Männer mochte sie, und der Prozentsatz an Frauen, die sie nicht mochten, war nicht beunruhigend hoch. Demnächst, so
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glaubte man, würde sie einen Brauer oder einen Obersten Jagdleiter heiraten, und nach kurzer Frist der Welt bekannt sein als Mutter von ein oder zwei Jungen in Malvern oder einer ähnlichen Stätte der Gelehrsamkeit. Von ihrer romantischen Ader hatte man auf dem Lande nicht die geringste Ahnung. Ihre Romanzen liefen meist in Serienform ab und verloren wegen des unzusammenhängenden Verlaufs vielleicht an Leidenschaft, was sie an Dauer hinzugewannen. Ihr zärtliches Interesse an den verschiedenen jungen Männern, die in ihren Herzensangelegenheiten eine Rolle spielten, war völlig aufrichtig, und ganz bestimmt versuchte sie nicht, ihre jeweilige Existenz zu verhehlen oder sie gegeneinander auszuspielen. Auch ließ sich nicht behaupten, daß sie Jagd auf Ehemänner machte, es stand für sie fest, welche Art von Mann sie wahrscheinlich heiraten werde, und ihr Plan unterschied sich nicht wesentlich von dem, was sich ihre ortsansässigen Bekannten ausgedacht hatten. Sollte sich ihr Eheleben als Fehlschlag erweisen, so waren ihre diesbezüglichen Erwartungen auch nur recht bescheiden gewesen. Ihre Liebesaffären ruhten auf einem ganz anderen Fundament, und offensichtlich waren sie das Ein und Alles in ihrem Leben. Sie verfügte über das glückliche Naturell, das Mann oder Frau befähigt, ›Pluralist‹ zu sein und der weisen Vorsichtsregel zu folgen, nicht alles auf eine Karte zu setzen. Ihre Ansprüche waren nicht zu hoch; sie verlangte von ihrem Wahlverwandten bloß, daß er jung sein sollte, gutaussehend und wenigstens leidlich unterhaltsam; sie hätte es lieber gehabt, wenn er unveränderlich treu bliebe, aber das eigene Beispiel vor Augen, rechnete sie mit der fast schon an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, daß er nichts dergleichen sein würde. Die gelassene Lebensphilosophie aus ›Kamas Garten‹ war
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der Kompaß, mit dem sie ihren Kahn steuerte, und war sie auch Stürmen und heftigen Stößen ausgesetzt, war es ihr bis jetzt doch geglückt, wenigstens keinen Schiffbruch zu erleiden oder in eine Flaute zu treiben. Courtenay Youghal war von Natur aus nicht dafür geschaffen, die Rolle eines leidenschaftlichen und ergebenen Liebhabers auszufüllen, und er respektierte gewissenhaft die von der Natur gesetzten Grenzen. Für Molly jedoch empfand er eine gewisse einfühlende Zuneigung. Sie hatte ihn immer deutlich bewundert, ohne ihn mit plumper Schmeichelei zu überhäufen; ihre Liebelei hatte sich über so viele Jahre hinweg hauptsächlich deshalb bewährt, weil sie nur in passenden Abständen zu Leben entflammt wurde. In einer Zeit, wo das Telefon fast jede Festung menschlichen Ungestörtseins unterminiert hat und die Heiligkeit einer vie privee oft von der Fähigkeit eines Klubpagen abhängt, sich taktvoller Lügen zu bedienen, schätzte Youghal den Umstand gebührend, daß seine Schöne den Großteil des Jahres damit verbrachte, Füchse zu jagen, statt ihn zu verfolgen. Auch das freimütige Bekenntnis, daß sie bei ihrer Menschenjagd auf mehr als nur eine Beute aus sei, ließ das unvermeidliche Abbrechen der Beziehung zu einer Angelegenheit werden, der beide ohne das Vorgefühl drohender Peinlichkeit und gegenseitiger Schuldzuweisung entgegensehen konnten. Sollte die Zeit des Rosenpflückens vorbei sein, konnte keiner den anderen anklagen, sein oder ihr Leben zerstört zu haben. Schlimmstenfalls ein Wochenendarrangement geriete durcheinander. Nachdem an diesem bestimmten Nachmittag alte Erinnerungen belebt und der Klatsch der verflossenen Monate gebührend erzählt worden war, entstand eine hartnäckig spürbare Gesprächspause. Molly hatte schon geahnt, daß die Dinge in eine neue Phase gleiten wollten;
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die Affäre war längst überreif, und naturgemäß müßte dem Vergehen eine neue Phase folgen. »Du bist ein schlaues Tier«, sagte sie plötzlich mit einer Miene liebevollen Bedauerns. »Ich habe immer gewußt, daß du es im Parlament zu etwas bringen würdest, aber ich habe kaum damit gerechnet, daß du so schnell in den Vordergrund trittst.« »Ich bin gerade dabei, in den Vordergrund zu treten«, korrigierte Youghal unparteiisch, »das Problem ist nur, werde ich da bleiben können? Wenn nicht bald etwas in finanzieller Hinsicht geschieht, sehe ich nicht, wie ich überhaupt im Parlament bleiben kann. Sparsamkeit kommt überhaupt nicht in Frage. Es würde den Leuten ganz schön die Augen öffnen, wenn sie wüßten, auf welcher schmalen Basis ich zur Zeit existiere. Und ich lebe so weit über mein Einkommen, daß sich beinahe sagen ließe, wir beide lebten getrennt.« »Es muß also eine reiche Frau sein«, sagte Molly langsam. »Das Schlimmste am Erfolg ist ja, er stellt so viele Bedingungen. Mir war natürlich von deinem Verhalten her klar, daß es dich dahin treibt.« Youghal sagte nichts, was dem widersprach; er starrte unverwandt auf das Vogelhaus vor ihm, als wären exotische Fasane im Augenblick die fesselndsten Studienobjekte auf der Welt. In Wirklichkeit konzentrierte er sich auf das Bild von Elaine de Frey mit ihren ruhigen, klaren Augen und ihrem Leonardo-da-Vinci-Ausdruck. Er fragte sich, ob es wahrscheinlich sei, daß er ihretwegen in einen Gemütszustand geriete, der dem Sichverlieben zumindest ähnelte. »Das wird mir zu schaffen machen«, fuhr Molly nach einer Pause fort, »aber ich habe natürlich immer gewußt, daß soetwas eines schönen Tages passieren würde. Wenn ein Mann in die Politik geht, gehört seine Seele nicht mehr ihm selbst, und vermutlich sein Herz auch nicht.«
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»Die meisten, die mich kennen, würden dir sagen, daß ich kein Herz habe«, sagte Youghal. »Ich habe oft dazu geneigt, ihnen zuzustimmen«, sagte Molly, »und dann glaube ich hin und wieder, daß du irgendwo wohlversteckt doch eins hast.« »Das hoffe ich«, sagte Youghal, »denn eben möchte ich dir mitteilen, daß ich glaube, ich bin dabei, mich in jemand zu verlieben.« Molly McQuade wandte sich ruckartig ihrem Begleiter zu, der noch immer geradeaus auf den Fasanenauslauf starrte, um ihn anzusehen. »Willst du mir weismachen, daß du den Kopf verlierst wegen einer unnützen Person, ohne Geld?« sagte sie. »Ich glaube, das könnte ich nicht verkraften.« Einen Augenblick fürchtete sie, Courtenays Selbstsucht habe eine ganz unerwartete Richtung genommen, der Ehrgeiz habe einer Augenblicksneigung den Platz geräumt. Womöglich opferte er seine Parlamentskarnere für ein Leben müßigen Stumpfsinns in nur vorübergehend anziehender Gesellschaft? Er belehrte sie schnell eines Besseren. »Sie hat massenhaft Geld.« Molly grunzte vor Erleichterung. Ihre Zuneigung für Courtenay hatte die Besorgtheit ihrer ersten Frage hervorgerufen, natürliche Eifersucht trieb sie zur nächsten. »Ist sie jung, hübsch und all sowas, oder ist sie einfach ein nettes Geschöpf mit einem sympathischen Wesen und freundlichen Augen? Normalerweise geht das Hand in Hand mit viel Geld.« »Jung und recht gut aussehend auf ihre Art, mit einem ausgeprägt eigenen Stil. Manche würden sie schön nennen. Als Politikergattin und Gastgeberin könnte ich sie mir großartig denken. Ich bin wohl ziemlich in sie verliebt.«
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»Und ist sie in dich verliebt?« Youghal warf den Kopf leicht mit jener selbstsicheren Bewegung zurück, die Molly kannte und mochte. »Ich denke, sie ist ein Mädchen, das sich ziemlich stark auf ihr Urteil verläßt. Und ohne dreiste Einbildung wage ich zu behaupten, ihr kann Schlimmeres passieren, als sich mir an die Brust zu werfen. Ich bin jung, sehe recht gut aus und mache mir gerade im Parlament einen Namen; sie kann morgens beim Frühstück alle möglichen Nettigkeiten und Gemeinheiten über mich in der Zeitung lesen. Ich kann zuweilen brillant unterhalten, kenne aber auch den Wert des Schweigens; es besteht kein Grund zur Befürchtung, daß ich je zu jenem gräßlichen Etwas degenerieren werde: einem munteren redseligen Ehemann. Für ein Mädchen mit Geld und gesellschaftlichen Ambitionen halte ich mich für genau den Richtigen.« »Du bist sicherlich verliebt, Courtenay«, sagte Molly, »aber es ist die alte Liebe und nicht eine neue. Ich bin direkt froh. Ich hätte es gehaßt, wenn du dich Hals über Kopf in eine hübsche Frau verliebt hättest, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Du wirst so viel glücklicher sein. Und ich will meine ganzen Gefühle zurückstellen, ich sage dir nur: auf in den Kampf. Du mußt eine reiche Frau heiraten, und wenn sie nett ist und eine gute Gastgeberin dazu, um so besser für alle. Du wirst in deiner Ehe glücklicher sein als ich in meiner, wenn's soweit ist; du hast dann noch andere Interessen, die dich fesseln. Ich werde bloß den Garten haben und die Meierei und die Pflanzschule und die Leihbücherei, haargenau wie die Gärten und Meiereien und Pflanzschulen Hunderte von Meilen ringsum. Du wirst dir nicht soviel aus deiner Frau machen, daß du dich jedesmal ängstigst, tut ihr mal ein Finger weh, du wirst ihr gerade so gewogen sein, daß du
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dich freust, wenn du ihr manchmal in deinem eigenen Haus begegnest. Es sollte mich nicht wundern, wenn du sehr glücklich wirst. Sie wird sich wahrscheinlich jämmerlich fühlen, doch das würde jede Frau, die dich heiratet.« Es entstand eine kleine Pause; beide starrten auf die Fasanenkäfige. Dann sprach Molly wieder mit dem raschen nervigen Ton eines Generals, der für einen strategischen Rückzug eilends die Aufstellung seiner Streitkräfte verändert. »Bist du erst mal sicher verheiratet und hast die Flitterwochen und all diesen Kram hinter dir und hast deiner Frau alle Gangarten einer politischen Gastgeberin beigebracht und ist mal keine Parlamentssitzung, dann mußt du alleine rauskommen und ein bißchen mit uns auf Jagd gehen. Ja ? Es wird zwar nicht ganz dasselbe sein wie in alten Zeiten, immerhin aber etwas, worauf ich mich freuen kann, wenn ich die ellenlangen Artikel über deine vornehme politische Heirat lese.« »Du blickst reichlich weit in die Zukunft«, lachte Youghal. »Die Dame teilt vielleicht deine Ansichten über das vermutliche Elend einer gemeinsamen Zukunft mit mir, und vielleicht muß ich mich mit einem kargen politischen Junggesellenstand begnügen. Wie dem auch sei, die Gegenwart ist noch unser. Wir essen doch heute abend bei Kettner's, nicht?« »Natürlich«, sagte Molly, »auch wenn mir jedenfalls der Schmaus mehr oder weniger im Hals steckenbleiben wird. Wir werden auf das Wohl der zukünftigen Mrs. Youghal trinken müssen. Übrigens charakteristisch für dich, daß du mir nicht gesagt hast, wer sie ist, und ebenso für mich, daß ich nicht danach gefragt habe. Und nun sei ein lieber Junge, verzieh dich und laß mich allein. Dir muß ich ja noch nicht Lebewohl sagen, aber von der
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Fasanerie werde ich mich in Stille verabschieden. Wir zwei haben uns doch auf dieser Bank prächtig unterhalten, nicht wahr? Und ich weiß so gut wie sicher, daß dies das letzte Mal ist. Also auf heut abend, acht Uhr, so pünktlich wie möglich.« Sie schaute seiner entschwindenden Gestalt mit langsam sich trübendem Blick nach; er war ein so famoser Freund gewesen, und sie hatten wunderschöne Zeiten miteinander erlebt. Ihre Wimpern wurden feuchter, als sie den vertrauten Treffpunkt musterte, wo sie sich so oft, seit dem Tag ihrer ersten Begegnung hier, ein Stelldichein gegeben hatten, er ein Schuljunge und sie gerade erst zwanzig. Einen Augenblick lang quälte sie ein wirklicher Kummer. Danach stürzte sie sich mit der bewundernswerten Energie eines Menschen, der nur vierzehn schnell vergehende Tage in der Stadt ist, davon, um mit einem weltumsegelnden Verehrer aus der Marine in seinem Klub Tee zu trinken. Pluralismus ist ein gnädiges Narkotikum.
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Sechstes Kapitel Elaine de Frey saß behaglich - jedenfalls körperlich behaglich - in einem niedrigen Korbsessel im Schatten einer Zederngruppe und inmitten eines stattlich großen Gartens, der sich fast schon für Parkdimensionen entschieden hatte. Das flache Steinbecken eines alten Springbrunnens, auf dessen breitem Sockel ein bleierner Otter für ewige Zeiten einen bleiernen Lachs in Fängen hielt, dominierte unübersehbar den Vordergrund. Rund um seinen Rand lief eine lateinische Inschrift, die warnte und mahnte den Sterblichen, daß die Zeit dahinrinne wie Wasser so schnell und daß er seine Stunden aufs sinnvollste nutzen möge. Ungeachtet dieses Moralspruchs aus den Tagen Jakobs I. war er schamlos bemüht, jeden Vorübergehenden zum Müßiggang kontemplativer Ruhe zu verführen. Rundherum erstreckten sich weiche Rasenflächen, die hier und da von zwergwüchsigen Kastanienund Maulbeerbaumgruppen aufgelockert waren, deren Blattwerk und Zweige ein verschlungenes Schattenmuster warfen. Auf einer Seite fiel der Rasen sanft ab zu einem kleinen See, worauf ein Schwanenquartett schwamm, dessen Bewegungen eine gewisse matte Melancholie verrieten, als halte die müde Würde ihrer Kaste sie ab vom froh-geschäftigen Leben der gewöhnlicheren Wasservögel. Elaine stellte sie sich gern als Reinkarnationen von unglücklichen Knaben vor, die das Familieninteresse in die Ämter hoher kirchlicher Würdenträger gezwungen und zu frühreifen Bischöfen gemacht hatte. Eine niedrige Steinbalustrade grenzte einen Teil des Seeufers ein und bildete eine Miniaturterrasse über dem Wasser; hier wuchsen Rosen in üppiger Fülle. Weitere Rosenstöcke, sorgfältig gepflegt und gestutzt, formten kleine Färb- und Duftoasen in dem friedvollen Rasen-
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grün, und in der Ferne bemerkte das Auge den buntscheckigen Glanz einer vielfarbenen Rhododendronhecke. Von solchen bevorzugten Ausnahmen abgesehen, konnte man in diesem wohlgeordneten Garten kaum Blumen entdecken; jene abwegige Tyrannei greller Geranienbeete und umrankter Torbögen ins Nirgendwo, so beliebt beim Vorstadtgärtner, tobte sich hier nicht aus. Prachtvolle Amherstfasane, deren Gefieder den Pfau auf seinem ureigenen Gebiet herausforderte und beinahe übertrumpfte, trippelten mit dem dreist selbstbewußten Stolz eines Sultans auf dem smaragdgrünen Rasen auf und ab. Es war ein Garten, wo der Sommer eher Miteigentümer als flüchtiger Besucher zu sein schien. Neben Elaines Korbsessel im Schatten der Zedern war ein Gartentischchen gedeckt mit allem, was zu einem Nachmittagstee gehört. Ihr zu Füßen, auf Kissen, ruhte Courtenay Youghal, geschmackvoll ausstaffiert, jugendlich elegant, die Verkörperung dekorativer Gelassenheit. Ebenfalls dekorativ, aber mit der Ruhelosigkeit einer glitzernden Libelle, hatte Comus seine flanellgewandete Person über einen beträchtlichen Raum des verfügbaren Vordergrundes ausgestreckt. Die Vertrautheit zwischen den beiden jungen Männern war durch den Umstand, daß sie stillschweigend derselben Dame den Hof machten, nicht unmittelbar erschüttert worden. Es war auch keineswegs eine Vertrautheit aus Freundschaft oder Gleichgestimmtheit des Denkens und Geschmacks; entstanden war sie vielmehr, weil jeder vom anderen amüsiert und angezogen war. Youghal fand Comus, zumindest derzeit, als Rivalen um Elaines Gunst genauso amüsant und interessant wie vordem in der Rolle des Taugenichts, des Junglebemanns; Comus seinerseits wollte den Kontakt zu Youghal nicht verlieren, weil dieser sich neben seinen sonstigen Vorzügen noch durch
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den Bannfluch von Comus' Mutter empfahl. Sie mißbilligte freilich viele Freunde und Gefährten ihres Sohnes, doch dieser eine war ihr durch seine prominente, mehr oder weniger erfolgreiche Rolle im öffentlichen Leben eine besondere und stete Quelle der Irritation. Eine geistreiche und scharfe Attacke auf die Regierung wegen Verschleuderung öffentlicher Gelder zu lesen, konnte einen geradezu zur Verzweiflung treiben, wenn sie von einem jungen Mann stammte, der ihren Sohn in jeder nur denkbaren Extravaganz ermunterte. Das wirkliche Ausmaß von Youghals Einfluß auf den Jungen war nicht der Rede wert; Comus war durchaus fähig, sich zu unbesonnenen Ausgaben und leichtfertiger Unterhaltung von einem Einsiedler ermutigen zu lassen oder von einem East-End-Geistlichen, hätte er nur mit solch einer Person engeren Umgang gehabt. Francesca jedoch nahm sich das Vorrecht einer Mutter zu glauben, daß die Junggesellengefährten ihres Sohnes eifrig dabei waren, seinen Untergang zu betreiben. Darum war ihr der junge Politiker eine Quelle unverhohlenen Ärgers, und in demselben Grade, wie sie ihr Mißfallen über ihn äußerte, war Comus darauf bedacht, den vertrauten Umgang beizubehalten und demonstrativ zur Schau zu stellen. Daß er existierte, beziehungsweise weiterbestand, verwirrte die junge Dame freilich ein wenig, denn hätte nicht deren angestrebte Gunst berechtigterweise Anlaß geboten, ihn eiligst abzubrechen? Mit zwei Bewerbern, die ihr zur selben Zeit den Hof machten und von denen sie zumindest einen ausgesprochen anziehend fand, hätte Elaine eigentlich Grund genug gehabt, mit der Welt und insbesondere mit sich selbst im Einklang zu sein. Glücklich jedoch war sie trotz der nur Gutes verheißenden Situation nicht so recht. Die ernste Ruhe ihres Gesichts verdeckte wie gewöhnlich
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eine gewisse ernsthafte Beunruhigung. Eine Galerie von wohlmeinenden Erzieherinnen und ein großer Vorrat an moralisierenden Tanten mütterlicher- und väterlicherseits hatten ihrem jungen Geist das theoretische Faktum eingeschärft, daß Reichtum große Verantwortung bedeute. Das Bewußtsein ihrer Verantwortung ließ sie ständig grübeln: nicht etwa, ob sie selbst für die ›hohe Aufgabe‹ tauge, sondern über die Motive und Verdienste ihrer Bekanntschaften. Zu wissen, daß sie so viel auf der Welt kaufen könnte, regte zum Nachdenken darüber an, was eigentlich wert war, gekauft zu werden. Mit der Zeit betrachtete sie ihren Verstand als eine Art Berufungsinstanz, bei deren geheimen Sitzungen die Beweggründe und Handlungen, besonders aber die Beweggründe der Welt ganz allgemein, untersucht und beurteilt wurden. In ihrer Schulzeit hatte sie gewissenhaft über die Motive, die Karl VII., Cromwell und Monck, Wallenstein und Savonarola leiteten oder verleiteten, zu Gericht gesessen. Jetzt war sie gleichermaßen damit beschäftigt, die politische Aufrichtigkeit des Außenministers, Treu und Glauben einer honigsüßen, womöglich trotzdem anständigen Kammerzofe und die Uneigennützigkeit eines ganzen Kreises von nachsichtigen und schmeichlerischen Bekannten kritisch zu prüfen. Weit fesselnder und in ihren Augen auch viel dringlicher war nun die Aufgabe, die Charaktere der beiden jungen Männer, die sie mit ihrer Aufmerksamkeit beehrten, zu sezieren und einzuschätzen. Und eben daher kam ihr häufiges Grübeln, ihre Beunruhigung. Youghal zum Beispiel hätte selbst einen erfahreneren Beobachter der menschlichen Natur zu täuschen vermocht. Elaine war zu intelligent, um sein Dandytum mit Geckenhaftigkeit oder Eigenreklame zu verwechseln. Er bewunderte und genoß die Wirkung seiner Kleidung im Spiegel aus ehrlicher Freude über
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einen schönen Anblick genauso wie über den zweier Pferde aus guter Zucht, die gut miteinander harmonieren und gut aufgezäumt sind. Hinter seiner absichtsvollen politischen Frivolität und seinem Zynismus hätte sich wohl auch eine gewisse unbekümmerte Aufrichtigkeit entdecken lassen, die ihn wohl letztlich vor mäßigem Erfolg bewahren und ihn zu einem der glänzenden Versager semer Zeit machen würde. Darüber hinaus war es schwer, Courtenay Youghal genau einzuschätzen, und Elaine, die ihre Eindrücke gerne deutlich etikettierte und einordnete, forschte unablässig hinter seinen herausgekehrten Eigenarten und Worten her, wie ein rastloser Kunstkritiker, der vergeblich unter dem Firnis und den Rissen eines Bildes zweifelhafter Zuschreibung die erhellende Signatur sucht. Der junge Mann verstärkte ihre Verwirrung noch durch seine gezielte Taktik, sich nie in günstigem Licht zu zeigen, selbst wenn ihm sehr viel daran lag, einen vorteilhaften Eindruck zu vermitteln. Er zog es vor, die Leute nach seinen guten Eigenschaften suchen zu lassen, und achtete nur genauestens darauf, daß sie möglichst nie ganz erfolglos blieben; sogar in Sachen Selbstsucht, dem Grundpfeiler seiner Existenz, verstand er es, durch bemerkenswert selbstlose Taten aufzufallen, und zwar mit Recht. Als Herrscher wäre er ziemlich populär gewesen - als Ehemann wahrscheinlich unerträglich. Comus war bis zu einem gewissen Grade ebenso Produkt einer Mystifikation wie Youghal, nur war in diesem Fall Elaine für das verwirrende Rätsel, das er in ihren Augen abgab, zum Teil selbst verantwortlich. Sie hatte eine mehr als flüchtige Neigung zu dem Jungen gefaßt - das heißt zu dem Jungen, der er sein könnte -, und sie weigerte sich strikt, ihn so zu sehen und einzuschätzen, wie er wirklich war. Darum beschäftigte
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sich ihre innere Berufungsinstanz unentwegt damit, Zeugnisse über seinen Charakter auszuwerten, wobei allerdings die meisten auffälligerweise keinerlei Bestätigung für das günstige Urteil erbrachten, woran dem Tribunal doch so herzlich gelegen war. Eine Frau mit größerem Wissen um den Lauf der Welt und ihre Unzulänglichkeiten hätte sich wahrscheinlich mit der Antwort auf die Frage begnügt, ob ihre Zuneigung für den jungen Mann ihre Abneigung gegen seine Eigenarten überwog. Elaine aber nahm ihre Urteile zu ernst, um diese Angelegenheit von einem solch einfachen und zweckdienlichen Standpunkt aus anzugehen. Eben weil sie in Comus weit mehr als nur ein wenig verliebt war, mußte sie bei ihm unbedingt eine liebenswerte Seele entdecken, aber Comus verhalf ihr eingestandenermaßen wenig zu dieser Entdeckung. jedenfalls ist er ehrlich‹, sagte sie sich immer, nachdem er sich freimütig irgendeiner Gewissenlosigkeit bezichtigt hatte, und dann erinnerte sie sich traurig an bestimmte Ereignisse, bei denen er mitgewirkt und denen es auffällig an Ehrlichkeit gemangelt hatte. Was sie als Ehrlichkeit hinzustellen trachtete, seine Offenheit, war vermutlich nichts anderes als zynischer Hohn gegenüber den Gesetzen von Recht und Unrecht. »Sie sehen heute nachmittag nachdenklicher als sonst aus«, sagte Comus zu ihr; »als hätten Sie diesen Sommertag erdacht und versuchten nun, sich Verbesserungen einfallen zu lassen.« »Hätte ich die Macht, an irgendeiner Stelle Verbesserungen anzubringen, dann würde ich wohl bei Ihnen beginnen«, entgegnete Elaine. »Ich bin sicher, es ist besser, mich so zu lassen, wie ich bin«, wandte Comus ein. »Sie sind wie ein Verwandter von mir in Argyllshire, der seine Zeit damit verbringt,
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verbesserte Schaf-, Schweine- und Hühnerrassen zu züchten. Wie herablassend dem Allmächtigen gegenüber, wie provozierend doch wohl auch, der Schöpfung einen allerletzten Schliff geben zu wollen.« Elaine runzelte die Stirn, lachte dann und seufzte schließlich ein bißchen. »Es ist nicht einfach, vernünftig mit Ihnen zu reden«, sagte sie. »Was Sie auch sonst in die Hand nehmen mögen«, sagte Youghal, »diesen Garten dürfen Sie niemals verbessern. Er entspricht genau unserer Vorstellung von Himmel, hätten die Juden ihn nicht für uns nach völlig anderen Richtlinien ersonnen. Es ist schrecklich, daß wir sie als die Impresarios unseres religiösen Traumlandes hinnehmen sollen statt der Griechen.« »Sie mögen die Juden nicht sehr«, sagte Elaine. »Ich bin viel in Osteuropa herumgereist und habe dort gelebt«, sagte Youghal. »Es scheint weitgehend eine Frage der Geographie zu sein«, sagte Elaine. »In England ist niemand wirklich antisemitisch.« Youghal schüttelte den Kopf. »Ich kenne eine Menge Juden, die es sind.« Diener hatten leise, fast ehrfurchtsvoll, Tee und Beiwerk auf den Korbtisch gestellt und sich ebenso leise aus der Landschaft zurückgezogen. Elaine thronte wie eine ernste junge Göttin, die gerade ihren Anbetern einen geheimnisvollen Trank ausschenken will. Ihr Geist saß indes noch über die Judenfrage zu Gericht. Comus rappelte sich hoch. »Es ist zu heiß für Tee«, sagte er; »ich füttere die Schwäne.« Und er trollte sich mit einem Silberkörbchen voller Schwarzbrotschnitten.
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Elame lachte leise. »Typisch Comus«, sagte sie, »sich mit unseren sämtlichen Schnittchen davonzumachen.« Youghal lachte ebenfalls in sich hinein. Jetzt ließen sich zweifellos hervorragend ein paar abschätzige Bemerkungen über Comus anbringen, und Elaine saß wachsam da, bereit zu einem Urteil über den Kritiker, nicht aber, oder noch nicht, über den Kritisierten. »Seine Selbstsucht ist großartig, aber leider völlig vergeblich«, sagte Youghal, »meine Selbstsucht dagegen ist alltäglich, aber immer durch und durch praktisch und berechnend. Er wird die Schwäne nur unter großen Mühen dazu bringen, seine Gabe anzunehmen, und ihm haftet der Makel an, uns in einen brotlosen Zustand versetzt zu haben. Außerdem wird ihm ganz heiß werden.« Elaine hatte wieder das Gefühl, sich gründlich getäuscht zu haben. Wenn Youghal irgend etwas Unfreundliches gesagt hatte, dann nur über sich selbst. »Meine Cousine Suzette«, bemerkte sie mit der Andeutung eines boshaften Lächelns auf den Lippen, »wäre vermutlich in eine Tränenflut ausgebrochen beim Verlust der Schnittchen und hätte Comus auf ewig für eine düstere, zerstörerische und hassenswerte Figur gehalten. Ich weiß eigentlich überhaupt nicht, warum wir den Verlust so ohne Widerrede hingenommen haben.« »Aus zwei Gründen«, sagte Youghal, »Sie haben Comus sehr gern. Und ich - ich habe Schnittchen nicht so sehr gern.« Diese hingeworfene Bemerkung ließ Elaines Herz vor Freude hüpfen. Sie hatte nur zu gut gewußt, daß sie Comus mochte, aber jetzt, da Courtenay Youghal die Tatsache offen als unbestritten und feststehend verkündet hatte, schien das Ganze mit einem Mal eine neue Phase
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erreicht zu haben. Der warme, besonnte Garten verwandelte sich plötzlich in einen Himmel, der das Geheimnis ewiger Seligkeit in sich barg. Jugend und Anmut würden hier stets unter den niedrig hängenden Maulbeerästen wandeln, genauso unveränderlich wie der bleierne Otter, der für alle Zeit den bleiernen Lachs auf dem Sockel des alten Springbrunnens erbeutete, und die Liebenden hätten irgendwie immer Elaines eigene Gestalt und die des Jungen, der da zu den vier weißen Schwänen an der Wassertreppe sprach. Youghal hatte recht; dies war der wahre Himmel der eigenen Träume und Sehnsüchte, unendlich weit entfernt von jenem Rue-de-la-Paix-Paradies, dem man in den tonangebenden Zirkeln abgöttisch huldigte. Elaine trank ihren Tee in glücklichem Schweigen; und Youghal war nicht bloß ein brillanter Redner, sondern verstand auch die seltenere Kunst des gelegentlichen Nichtredens. Comus kam quer über den Rasen zurück und schwenkte das leere Körbchen in der Hand. »Die Schwäne waren sehr angetan«, rief er fröhlich, »und meinten, ich würde das Brotkörbchen hoffentlich als Andenken an eine glückliche Teegesellschaft behalten. Das darf ich doch wirklich?« fügte er in begierigem Ton hinzu, »Knöpfe und Krimskram kommen da rein. Sie brauchen es ja nicht.« »Es trägt das Familienwappen«, sagte Elaine. Ein wenig von dem Glück war aus ihren Augen entschwunden. »Das lasse ich wegkratzen und durch mein eigenes ersetzen«, sagte Comus. »Es ist seit Generationen in der Familie«, protestierte Elaine, die Comus' Ansicht nicht teilte, daß man als Reicher seine geringfügigeren Besitztümer wertlos finden müsse.
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»Ich hätte es so furchtbar gern«, sagte Comus schmollend, »und Sie haben haufenweise andere Sachen für Ihre Brotschnittchen.« Im Augenblick war er von dem überwältigenden Wunsch besessen, das Körbchen um jeden Preis zu behalten; die nackte Habgier stand in seinem Gesicht, und er hatte nicht eine Sekunde lang seinen Griff um das begehrte Objekt gelockert. Elaine war mittlerweile richtig verärgert und redete sich eifrig zu, daß es doch absurd sei, wegen einer solchen Kleinigkeit aus der Fassung zu geraten; aber im gleichen Augenblick sagte ihr Gerechtigkeitssinn, daß Comus hier ziemlich schäbige Selbstsucht vorführte. Und irgendwie lag ihr jetzt vor allem daran, ihren Arger vor den Augen Courtenay Youghals zu verbergen. »Ich weiß, Sie brauchen es nicht wirklich, darum behalte ich es«, insistierte Comus. »Es ist zu heiß, um zu streiten«, sagte Elaine. »Glückliche Herrin des eigenen Geschicks«, lachte Youghal, »Sie können Ihre Kontroversen auf die gewünschte Zeit und Temperatur abstimmen. Ich muß zum Streit antreten, oder, noch schlimmer, mir die Streitreden anderer in einer überhitzten, betäubenden Atmosphäre anhören, die einer kränklichen Eidechse zuträglich sein mag.« »Sie müssen nicht über Brotkörbchen streiten«, sagte Elaine. »Hauptsächlich übers Brot«, sagte Youghal, »unsere Beschäftigung ist vor allem andrer Eeute Brot. Sie verdienen es sich oder backen es, wir jedoch geben uns damit ab, die Regeln aufzustellen, wie man es aufschneiden soll, wie groß die Scheiben sein sollen und wieviel Butter auf wieviel Brot gestrichen werden darf. Das nennt man Gesetzgebung. Könnten wir nur Gesetze
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machen, wie die Butterbrote zu verdauen sind, wir wären überglücklich.« Elaine war dazu erzogen worden, das Parlament als etwas anzusehen, dem mit heiterem Ernst zu begegnen war, wie einer Krankheit oder einem Familientreffen. Youghals leichtfertiges Herabsetzen eines Berufsstandes, dem er selbst angehörte, verletzte trotzdem nicht ihr Schicklichkeitsgefühl. Sie wußte, daß er nicht nur ein lebhafter und wirkungsvoller Redner im Parlament war, sondern sich auch fleißig in den Ausschüssen betätigte. Wenn er seine Arbeit als belanglos hinstellte, so bot er zumindest niemandem sonst die Möglichkeit, das zu tun. Und sicherlich war die Parlamentsatmosphäre an diesem heißen Nachmittag nicht ohne Reiz. »Wann müssen Sie gehen?« fragte sie teilnehmend. Youghal schaute wehmütig auf die Uhr. Bevor er noch antworten konnte, drang ein fröhliches Hupen durch die Luft, gleich einer freudig rufenden Eule, die, in Vorahnung der nahen Nacht, das Sonnenlicht herausfordert. Lachend sprang er auf die Füße. »Hören Sie! Man ruft mich zurück zur Galeere«, verkündete er. »Die Götter haben mir eine Stunde in diesem bezaubernden Garten gewährt, ich darf mich also nicht beklagen.« Dann sagte er mit leiser Stimme, beinahe flüsternd: »Heute abend ist die Persiendebatte.« Dies war bei all dem Wortgeplänkel und Lachen sein einziger Hinweis, daß die kommende Arbeit ihn wirklich stark fesselte; die einzige Spur einer Vertraulichkeit, die Elaine zu verstehen gab, daß es ihn interessierte, was sie über seine Arbeit dachte. Comus, der sein Zigarettenetui geleert hatte, brach bei der Aussicht, vorübergehend ohne etwas Rauchbares auf dem trockenen zu sitzen, in Geschrei aus. Youghal nahm
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seine letzte Zigarette aus dem eigenen Etui und brach sie feierlich in zwei Teile. »Freundschaft könnte nicht weiter gehen«, bemerkte er, als er die eine Hälfte dem keineswegs ganz beruhigten Comus gab und sich die andere ansteckte. »Es gibt jede Menge Zigaretten in der Halle«, sagte Elaine. »Das war nur wegen des Sankt-Martin-Effekts«, sagte Youghal, »ich hasse es, zu rauchen, wenn ich durch die Lüfte jage. Auf Wiedersehn.« Der davoneilende Galeerensklave trat ins Sonnenlicht, strahlend und des Erfolgs gewiß. Wenige Minuten später konnte Elaine seinen weißen Wagen an den Rhododendronbüschen vorbeiblitzen sehen. Der freit am besten, der zuerst fortgeht, besonders wenn er in eine Schlacht zieht oder in das, was den Anschein einer Schlacht hat. Irgendwie hatte sich Elaines Bild von einem Garten Ewiger Jugend schon getrübt. Die umherwandelnde Mädchengestalt blieb deutlich erkennbar und unverändert sie selbst, ihr Begleiter aber war verschwommener und unbestimmter, wie ein Bild, das von einem anderen überlagert wird. Youghal fuhr sehr zufrieden mit sich stadtwärts. Morgen würde Elaine, so überlegte er, in ihrer Zeitung seine Rede lesen, und er wußte im voraus, daß sie nicht zu seinen schlechtesten gehörte. Er wußte fast genau, wo die Lachsalven und Beifallsstürme sie unterbrechen würden, er wußte, daß emsige Finger in der Pressegalerie jede spöttische oder polemische Bemerkung, die er dem unerschütterlichen Minister, seinem Opponenten, entgegenschleuderte, aufschrieben und daß die Erwählte seines Herzens durchaus beurteilen konnte, was für ein junger Mann da seinen Nachmittag in ihrem Garten verbracht hatte, träge sich und seine Welt veralbernd.
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Und mit einem belustigten Auflachen dachte er weiter, daß sie nun tagelang, wenn sie ihren Nachmittagstee trank und die Butterschnittchen in einem ungewohnten Silberkörbchen liegen sah, lebhaft an Comus erinnert würde.
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Siebtes Kapitel An einem heißen Nachmittag gegen vier trat Francesca aus einem Geschäft auf der Bond Street, nicht weit von Piccadilly, und rannte fast in die Arme von Merla Blathlington. Der Nachmittag schien schlagartig heißer zu werden. Merla war eine jen er menschlichen Fliegen, die ständige herumsurren; in belebten Straßen, auf Märkten und bei warmem Wetter erreichte sie das Ausmaß einer menschlichen Schmeißfliege. Lady Caroline Benaresq hatte öffentlich geweissagt, daß für ihre Unterbringung im Jenseits ein spezieller Fliegenfänger bereitgehalten werde; andere jedoch vertraten die Meinung, sie werde sich im zukünftigen Leben wundersam vermehren, und vier oder noch mehr Merla Blathlingtons, je nach Verdienst, würden auf ewig und beharrlich jeder verlorenen Seele aufwarten. »Da hoppeln wir doch«, summte sie eifrig und glücklich, »die Geschäfte rein und raus wie die Kaninchen; nur eben hoppeln Kaninchen nicht sonderlich oft die Geschäfte rein und raus.« Offensichtlich hatte sie einen ihrer Schmeißfliegentage. »Lieben Sie nicht auch diese Bond Street?« plapperte sie weiter. »Sie hat sowas Ungewöhnliches und Besonderes; keine andere Straße sonstwo kommt ihr gleich. Sie kennen doch diese Statuen und Bilder und Dingsda, die hier und dort in Europa verstreut auftauchen und die angeblich St. Lukas oder Zacheus oder sonstwer gemalt oder geschnitzt hat, je nachdem; ich stelle mir immer gern vor, daß eine angesehene Persönlichkeit aus dieser Zeit die Bond Street entworfen hat. Vielleicht St. Paulus. Er ist viel gereist.« »Allerdings nicht in Middlesex«, sagte Francesca. »Da kann man nicht so sicher sein«, beharrte Merla.
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»Wenn man soviel herumgereist ist wie er, wird man ganz konfus und vergißt, wo man gewesen ist. Ich kann mich nie erinnern, ob ich zweimal in Tirol und einmal in Sankt Moritz war oder umgekehrt; ich muß immer mein Mädchen fragen. Und da ist etwas in dem Namen New Bond Street, das auf St. Paulus hinweist; hat er nicht viel über den ›neuen Bund‹ und sowas geschrieben?« »Ich bilde mir ein, er hat Hebräisch oder Griechisch geschrieben«, wandte Francesca ein, »das Wort hätte nicht die geringste Ähnlichkeit.« »Wie rücksichtslos, seine Erbauungsschriften ungeniert in so bizarren Sprachen abzufassen«, beklagte sich Merla. »Das macht diese Leute so schwer faßbar. Kaum will man sie auf eine bestimmte Aussage über irgend etwas festnageln, wird einem gesagt, daß ein entscheidendes Wort fünfzehn verschiedene Bedeutungen im Original hat. Warum legen sich eigentlich unsere Kabinettsminister und Politiker nicht so eine Art Küchenlatein oder Esperanto für ihre Reden z u? Wie wenig müßten sie später wieder zurücknehmen! Aber um auf unsere Bond Street zurückzukommen - nicht, daß wir sie verlassen hätten . . .« »Leider muß ich sie jetzt verlassen«, sagte Francesca und schickte sich an, in die Grafton Street einzubiegen. »Auf Wiedersehn.« »Müssen Sie gehen ? Trinken wir doch zusammen Tee. Ich kenne ein kleines gemütliches Cafe, wo man ungestört reden kann.« Francesca unterdrückte ein Schaudern und gab eine dringende Verabredung vor. »Ich weiß, wohin Sie gehen«, sagte Merla mit dem gereizten Gebrumm einer Schmeißfliege, die sich durch den kalten und blinden Widerstand einer Fensterscheibe behindert fühlt. »Sie wollen bei Serena Golackly Bridge spielen. Sie lädt mich nie zu ihren Bridgeparties ein.«
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Francesca schauderte diesmal ganz ungeniert; die Aussicht, in unmittelbarer Nähe von Merlas Stimme Bridge spielen zu müssen, konnte nicht mit normaler Gelassenheit hingenommen werden. »Auf Wiedersehn«, wiederholte sie mit fester Stimme und verschwand außer Hörweite; es war, als verließe man die Maschinenabteilung einer Industrieausstellung. Merlas Angabe ihres Bestimmungsortes war richtig gewesen; Francesca ging langsam durch die heißen Straßen in Richtung von Serena Golacklys Haus auf der anderen Seite des Berkeley Square. Der glücklichen Gewißheit, zu einem Bridgespiel zu kommen, fügte sie noch hoffnungsvoll die Möglichkeit hinzu, Bruchstücke von womöglich interessanten und aufschlußreichen Neuigkeiten zu erfahren. Und Aufschluß über eine bestimmte Angelegenheit, die sie brennend persönlich interessierte, brauchte sie dringlichst. Comus hatte sich in letzter Zeit über sein Tun und Lassen provozierend zurückgehalten; teils vielleicht, weil er von Natur aus provozierte, teils aber auch, weil der tägliche Streit über Gelddinge allmählich andere Formen der Unterhaltung erstickte. Francesca hatte ihn gelegentlich im Park in der erwünschten Begleitung von Elaine de Frey gesehen, und von Zeit zu Zeit hörte sie, daß die jungen Leute zusammen auf Gesellschaften getanzt hatten; andererseits hatte sie genausoviele Belege beisammen, um den Namen der Erbin mit dem von Courtenay Youghal zu verbinden. Über dieses magere und quälend widersprüchliche Wissen hinaus ging ihre Kenntnis des augenblicklichen Stands der Dinge nicht. Wenn einer der beiden jungen Männer ernsthaft ›das Rennen machte‹, würde sie wahrscheinlich von einer der tratschsüchtigen Freundinnen Serenas einen heimlichen Hinweis erhalten oder einen direkten Kommentar hören, ohne sich selber besonders um das Thema bemühen zu
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müssen und damit unnötig ihre eigene Unwissenheit zu bekunden. Und eine Bridgepartie, bei der um nicht allzu hohe Punkte gespielt wurde, bot reichlich Vorwand, in angenehmes Schweigen zu versinken; wurden die Fragen peinlich inquisitorisch, könnte man immer noch seine Zuflucht bei einem schützenden Pik suchen. Der Nachmittag war zu warm, um Bridge zu einer allgemein beliebten Zerstreuung zu machen, und Serenas Gesellschaft war vergleichsweise klein. Nur ein Tisch war unvollständig, als Francesca auf der Szene erschien; an ihm saß Serena selbst, ihr gegenüber Ada Spelvexit, die von jedermann immer als ›eine von den Cheshire Spelvexits‹ beschrieben wurde, als ob jede andere Variante unerträglich wäre. Ada Spelvexit gehörte zu jenen von Natur aus trägen Menschen, die ein grenzenloses Vergnügen an den sogenannten ›Bewegungen‹ haben. »Die wirklich entscheidenden Lehren haben mir die Armen erteilt«, lautete eine ihrer Lieblingsbehauptungen. Eine entscheidende Lehre hätten ihr die Armen ohne Ausnahme gern erteilt: daß nämlich ihre engen Küchen und Krankenstuben ihr nicht unbegrenzt als private Vortragssäle zur Verfügung stünden; aber dies hatte sie nie begreifen können. Sie gab ihnen unentwegt bereitwillig Ratschläge, wie man den Wolf der Armut von der Schwelle abhalten könne; aber sie ihrerseits gestattete sich die wahrhaft eindringliche Gewalt eines Ostwindes oder Staubsturms. Ihre Besuche bei ihren reicheren Bekannten waren ebenso ausgedehnt und eingreifend, aber kaum willkommener; bei Gesellschaften in Landhäusern pflegte sie die angebotene Gastfreundschaft in vollen Zügen zu genießen und sich gleichzeitig in Moralpredigten über die Sünden der Muße und des Luxus zu ergehen, was sie bei ihren Mitgästen nicht sonderlich beliebt machte. Gastgeberinnen betrachteten sie abge-
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klärt als eine Art gesellschaftlicher Masern, die jeder einmal gehabt haben mußte. Die dritte Spielerin, die Francesca ohne besondere Begeisterung zur Kenntnis nahm, war Lady Caroline Benaresq. Lady Caroline war alles andere als eine überragende Bridgespielerin, aber sie dominierte gnadenlos jeden Tisch, den sie mit ihrer Gegenwart beehrte, und im allgemeinen gelang es ihr auch, zu gewinnen. Ein dominierender Spieler pflegt gewöhnlich den eigenen Partner am heftigsten zu kränken und zu demoralisieren; Lady Carolines besondere Leistung war es, Partner und Gegner gleichermaßen zu zermürben und zu demoralisieren. »Schlecht zu schlecht«, verkündete sie mit ihrer sanften Stimme, als sie durch Abheben der Karten ihre Gastgeberin zur Partnerin bekam; »vermutlich ist es besser, wenn wir nur fünf Shilling bei Hundert spielen.« Francesca wunderte sich über den so niedrig benannten Einsatz der alten Dame, da sie ihre Vorliebe für risikofreudiges Spiel und ihr übliches Glück bei Karten kannte. »Mir ist es egal, wie hoch wir spielen«, sagte Ada Spelvexit mit einer unvorsichtigen Demonstration vornehmer Gleichgültigkeit; tatsächlich war sie innerlich erleichtert und froh über die maßvolle Summe, die Lady Caroline vorgeschlagen hatte; sicherlich hätte sie Einwände erhoben, wenn ein höherer Einsatz vorgeschlagen worden wäre. Sie war nicht eben eine erfolgreiche Spielerin, und beim Kartenspiel verlorenes Geld bedeutete für sie immer einen schmerzhaften Verlust. »Da Sie also nichts dagegen haben, erhöhen wir auf zehn Shilling bei Hundert«, sagte Lady Caroline mit dem befriedigten Kichern eines Fängers, der sein Netz in Sichtweite des Vogels ausgeworfen und die Nutzlosigkeit dieses Verfahrens widerlegt hat. Es wurde eine zähe, heiß umkämpfte Runde, wobei
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die etwas stärkeren Karten meist auf Francescas Seite waren, aber das Spielglück meist den anderen Weg ging. Sie war eine zu begeisterte Spielerin, um nicht nach dem Start ziemlich darin aufzugehen; aber heute wußte sie sich von einem anderen Interesse abgelenkt, das mit der momentanen Wichtigkeit von Vorhand und Abwerfen und Ansage konkurrierte. Das bißchen Klatsch, das beim Kartengeben abfiel, war ihrer wachen Aufmerksamkeit genauso sicher wie das Spiel selbst. »Ja, eine recht kleine Gesellschaft heute nachmittag«, sagte Serena als Antwort auf eine scheinbar beiläufige Bemerkung Francescas, »und einige Nichtspieler, was für einen Mittwoch ungewöhnlich ist. Der Kanonikus Besomley war gerade hier, bevor Sie kamen; Sie wissen, der große Prediger.« »Ich habe ihn ein paarmal das Menschengeschlecht tadeln hören«, sagte Francesca. »Ein starker Mann mit einer wunderbar starken Botschaft«, sagte Ada Spelvexit in eindrucksvollem und kategorischem Ton. »Die Sorte des populärer Kanzelpredigers, der auf die personifizierten Laster seines Jahrhunderts eindrischt und anschließend mit ihnen zum Lunch geht«, sagte Lady Caroline. »Kein eben faires Fazit von Mann und Arbeit«, protestierte Ada. »Ich habe ihn oft gehört, wenn ich niedergedrückt und mutlos war, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie tief mich seine Worte beeindruckt haben . . .« »Zumindest können Sie uns sagen, was Sie als Trumpf vorschlagen wollen«, unterbrach Lady Caroline sie sanft. »Karo«, verkündete Ada nach einer ziemlich hastigen Durchsicht ihrer Karten. »Kontra«, sagte Lady Caroline mit gesteigerter Sanft-
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mut, und wenige Minuten später notierte sie sich mit Bleistift 24 Punkte zu ihren Gunsten. »Ich habe vorigen Mai bei seiner Familie in Herefordshire gewohnt«, sagte Ada und kehrte zu dem noch unerledigten Kanonikus-Thema zurück. »Was für ein gepflegter Ruhesitz auf dem Lande, wie friedlich und besänftigend für die Nerven. Richtig ländliche Kulisse; Apfelblüten überall.« »Doch wohl nur auf den Apfelbäumen!« sagte Lady Caroline. Ada Spelvexit gab den Versuch auf, die dekorative Umwelt des häuslichen Lebens jenes Kanonikus wiederzugeben, und kam zurück auf den schwachen, aber praktischen Trost, den 13. Stich zu machen, als die Gegnerin Coeur ansagte. »Hätten Sie am Anfang Ihren höchsten Treff ausgespielt statt der Neun, hätten wir den Stich retten können«, bemerkte Lady Caroline zu ihrer Partnerin in einem Ton kühlen Tadels. »Zwecklos, meine Liebe«, fuhr sie fort, als Serena verwirrt eine stockende Entschuldigung vorbrachte, »bringt nicht das Geringste, an einem Tisch Bridge spielen und gleichzeitig mitbekommen zu wollen, was an zwei oder drei anderen Tischen vor sich geht.« »Im allgemeinen kann ich mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen«, sagte Serena tollkühn. »Ich glaube, ich habe so etwas wie ein Doppelhirn.« »Ökonomischer wäre ein wirklich gutes«, äußerte Lady Caroline. »La belle äame sans merci, die wie üblich den ein oder anderen mündlichen Stich macht«, sagte ein Spieler an einem Nebentisch in diskret gedämpftem Ton. »Habe ich Ihnen erzählt, daß Sir Edward Roan zu meiner nächsten Abendgesellschaft kommt?« fragte Se-
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rena übereilt, um sich vielleicht so ein wenig in ihrer Selbstachtung aufzurichten. »Der gute, liebe, arme Sir Edward! Mit welchem Trumpf haben Sie gestochen?« fragte Lady Caroline im gleichen Atemzug. »Treff«, sagte Francesca; »und bitte, warum diese Adjektive des Mitleids?« Francesca war aus Familiensinn regierungstreu und geneigt, bei der angedeuteten Verunglimpfung des Außenministers in den Kampf einzugreifen. »Er amüsiert mich ungemein«, schnurrte Lady Caroline. Sie pflegte sich zu amüsieren wie eine Katze bei der Jagd, wenn sie die Gymnastik einer völlig erschöpften, ganz und gar ratlosen Maus beobachtet. »Ach ja ? Er hat bekanntlich ganz ungewöhnlichen Erfolg im Außenministerium«, sagte Francesca. »Er erinnert einen stark an einen Zirkuselefanten - unendlich klüger als seine Dompteure, doch ganz zufrieden damit, seinen Fuß immer wieder auf Befehl aufzusetzen oder hochzuheben, ganz unbekümmert darum, ob er auf ein Baiser tritt oder in ein Hornissennest, dieweil er an den gewünschten Platz geht.« »Wie können Sie so etwas sagen?« protestierte Francesca. »Ich kann's nicht«, sagte Lady Caroline, »Courtenay Youghal hat es gestern im Parlament gesagt. Haben Sie nicht die Debatte in der Presse verfolgt? Er war wahrlich in Höchstform. Selbstverständlich teile ich seinen Standpunkt keineswegs; aber einige von seinen Aussprüchen enthalten gerade genug Wahrheit, um nicht bloß geistreich zu wirken; zum Beispiel wie er die Regierungspolitik gegenüber unserem lästigen Kolonialreich in dem Seufzer komprimiert ›Glücklich das Land, das keine Geographie hat‹.«
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»Was für eine absurde Ungerechtigkeit!« warf Francesca ein: »Mag sein, daß der oder jener aus unserer Partei zu der oder jener Zeit besagte Haltung eingenommen hat, aber jederman weiß, daß Sir Edward im Grunde seines Herzens überzeugter Imperialist ist.« »Die meisten Politiker sind irgend etwas im Grunde ihres Herzens, aber niemand wäre so unbesonnen, einen Politiker gegen Herzversagen zu versichern. Insbesondere, wenn er zufällig im Amt ist.« »Wie dem auch sei, ich sehe nicht, daß die Oppositionsführer im fraglichen Fall anders gehandelt hätten«, sagte Francesca. »Man sollte immer mit Bedacht von den Oppositionsführern sprechen«, sagte Lady Caroline mit ihrer freundlichsten Stimme. »Man weiß nie, was ein Situationswechsel ihnen bringt.« »Sie meinen, sie könnten eines Tages die ganze Sache leiten ?« fragte Serena lebhaft. »Ich meine, sie könnten eines Tages die Opposition tatsächlich führen. Man kann nie wissen.« Lady Caroline hatte sich gerade rechtzeitig daran erinnert, daß ihre Gastgeberin auf der Oppositionsseite stand. Francesca und ihre Partnerin gewannen vier Treffstiche; das Spiel stand jetzt unentschieden bei 24 für alle. »Wären Sie dem vorzüglichen lyrischen Rat gefolgt, den Lord Byron dem Mägdelein von Athen gegeben hat, und hätten mein Cceur retourniert, dann hätten wir zwei weitere Stiche gemacht und das Spiel gewonnen«, sagte Lady Caroline zu ihrer Partnenn. »Mr. Youghal scheint sich in jüngster Zeit nach vorn zu drängen«, bemerkte Francesca, als Serena die Karten aufnahm, um zu geben. Da der Name des jungen Politikers in der Unterhaltung gefallen war, durfte die
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Gelegenheit, das Gespräch direkt auf ihn und seine Angelegenheiten zu bringen, nicht ungenutzt bleiben. »Ich glaube, er hat eine Karriere vor sich«, sagte Serena. »Das Haus füllt sich immer, wenn er spricht, und das ist ein gutes Zeichen. Außerdem ist er jung und eine recht anziehende Persönlichkeit, was ja immer etwas ist in der politischen Welt.« »Sein Mangel an Geld wird ihm ein Handicap sein, es sei denn, er sucht sich eine reiche Frau oder kann jemanden bereden, zu sterben und ihm ein üppiges Legat zu hinterlassen«, sagte Francesca. »Seit die Abgeordneten zu Gehaltsempfängern geworden sind, müssen sie erwartungsgemäß viel mehr Aufwand treiben als früher.« »Ja, das Unterhaus bleibt immer noch so ziemlich das genaue Gegenteil vom Reich Gottes, was die Zulassungsqualifikation betrifft«, merkte Lady Caroline an. »Youghal sollte keine Mühe haben, ein Mädchen mit Geld zu angeln«, sagte Serena. »Mit seinen Aussichten würde er für jede Frau mit gesellschaftlichem Ehrgeiz einen vorzüglichen Ehemann abgeben.« Und sie seufzte leicht, als bedauere sie es fast, daß ein früheres Heiratsabkommen sie daran hinderte, sich selbst am Wettbewerb zu beteiligen. Francesca, die mattes Interesse vortäuschte, lauerte auf ein Zeichen von Lady Caroline, die doch sicher von Youghals Werbung um Miss de Frey wußte und nur nichts verraten wollte. »Wen heiratet man, und wer wird verheiratet?« Die Frage kam von George St. Joseph, der, angelockt von den Gesprächsfetzen, die an sein Ohr drangen, von einem Nebentisch herübergeschlendert war. St. Joseph war einer jener flinken, vogelartigen, scheinaktiven Menschen, die man sich seit Menschengedenken immer im selben mittleren Alter vorstellt. Ein kurzge-
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schnittener Spitzbart verlieh seiner Erscheinung eine gewisse Würde - eine Leihgabe, die seine sonstigen Gesichtszüge und sein Gehabe mit beharrlichem Erfolg zurückwiesen. Sein Beruf, falls er einen hatte, ging in seinem privaten Steckenpferd auf: Vorschußhändler zu sein für kleine oder mögliche Ereignisse, die der Gesellschaftswelt unmittelbar bevorstanden oder bevorzustehen schienen; er fand eine stete, nie nachlassende Befriedigung darin, jedwelche herumschwirrenden Gerüchte oder Neuigkeiten, insbesondere ehelicher Natur, die ihm zu Gehör kamen, sich anzueignen und wieder abzusetzen. Gab es nur die dürre offizielle Verlobungsankündigung, so pflegte er diese sofort mit allen möglichen Einzelheiten anzureichern, wahren oder zumindest doch glaubhaften Einzelheiten, die seiner eigenen Phantasie entsprangen oder einer ähnlich exklusiven Quelle. Die Morning Post mochte sich mit der bloßen Mitteilung der baldigen Hochzeit begnügen, St. Josephs atemloses Stimmchen jedoch verkündete jedem, den es vielleicht, und vielen, die es nicht interessierte, wie sich die Vertragspartner zuerst beim Lachsfischen kennengelernt hatten, warum die Guard's Chapel nicht benutzt werde, warum ihre Tante Mary anfangs die Heirat nicht befürwortet hatte, wie man in der Frage der religiösen Erziehung der Kinder zu einem Kompromiß gefunden hatte, etc., pp. Außer wegen seiner fleißigst erworbenen Überlegenheit in dieser speziellen Sparte des Nachrichtendienstes war er vor allem wegen seiner Frau bemerkenswert, die als größte und dünnste Frau der Grafschaften um London herum galt. Man sah die beiden manchmal zusammen in der Gesellschaft, wo sie unter dem biblischen Sammelbegriff Joseph und die große Dürre‹ liefen. »Wir versuchen gerade, eine reiche Frau für Courtenay
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Youghal zu finden«, antwortete Serena auf St. Josephs Frage. »Ah, da sind Sie leider ein wenig zu spät«, bemerkte er, errötend vor der Bedeutsamkeit der bevorstehenden Enthüllung. »Leider sind Sie ein wenig zu spät«, wiederholte er und beobachtete die Wirkung seiner Worte, wie ein Gärtner das Gedeihen eines sorgfältig gezogenen Spargelbeets. »Ich glaube, der junge Gentleman ist Ihnen zuvorgekommen und hat schon selbst eine reiche Gemahlin ins Auge gefaßt.« Während er sprach, senkte er die Stimme, nicht um seiner Aussage etwas eindringlich Geheimnisvolles zu verleihen, sondern weil es andere Tischgruppen in Hörweite gab, die er ebenfalls in Kürze mit seiner Enthüllung zu beehren hoffte. »Meinen Sie damit . . . ?« begann Serena. »Miss de Frey«, platzte St. Joseph heraus, aus Furcht, man könnte seiner Enthüllung selbst durch Mutmaßung zuvorkommen. »Geradezu eine ideale Wahl, genau die Frau für jemand, der sich in der Politik einen Namen machen möchte. Vierundzwanzigtausend im Jahr, mit Aussicht auf mehr, und einen hübschen Landsitz nicht allzu weit von der Stadt entfernt. Genau die Art von Mädchen, die eine vorzügliche politische Gastgeberin abgibt, Köpfchen, ohne doch Blaustrumpf zu sein. Ganz das Richtige. Natürlich wäre es voreilig, im Augenblick eine definitive Ankündigung zu machen . . .« »Es wäre kaum voreilig, wenn meine Partnerin ankündigen würde, was Trumpf sein soll«, unterbrach Lady Caroline mit derart drohender Sanftmut in der Stimme, daß St. Joseph hastig an seinen Tisch zurückstürzte. »Oh, bin ich dran? Entschuldigung. Ich passe«, sagte Serena. »Danke. Kein Trumpf«, erklärte Lady Caroline. Das
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Spiel war erfolgreich, und die Runde fiel schließlich an sie mit reichlich vielen Honneurs. Die gleichen Spielerinnen hoben die Karten ab, und diesmal war die Blattstärke eindeutig gegen Francesca und Ada Spelvexit, und gegen Ende der Spielrunde waren sie mit einer hoch angehäuften Punktezahl auf der Gegenseite konfrontiert. Francesca war sich bewußt, daß eine gewisse Unberechenbarkeit in ihrem eigenen Spiel das Ergebnis zumindest beeinflußt hatte. St. Josephs Einbruch in die Unterhaltung hatte sich als recht starke Ablenkung für ihr sonst zuverlässiges Bridgekönnen erwiesen. Ada Spelvexit entnahm ihrer Geldbörse mehrere Goldstücke und setzte eine dementsprechende Überlegenheitsmiene auf. »Ich muß jetzt gehen«, verkündete sie. »Ich esse früh zu Abend. Anschließend muß ich vor ein paar Putzfrauen eine Rede halten.« »Warum?« fragte Lady Caroline mit beunruhigender Direktheit, die zu ihren fürchterlichsten Eigenschaften zählte. »Nun, ich habe ihnen einiges mitzuteilen, was sie wahrscheinlich gern hören werden«, sagte Ada mit dünnem Eachen. Ihre Erklärung wurde mit einem Schweigen aufgenommen, das tiefe Skepsis hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit andeutete. »Ich bin ziemlich oft bei den Frauen der Arbeiterklasse«, fügte sie hinzu. »Es hat zwar noch keiner gesagt«, bemerkte Lady Caroline, »aber es ist doch schmerzlich wahr, daß die Armen stets und ständig mit uns rechnen können.« Ada Spelvexit verabschiedete sich eilig; die verpatzte Wirkung ihres Abgangs setzte noch das i-Tüpfelchen auf ihr Mißgeschick beim Bridgespiel. Aber womöglich er-
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laubte ihr gerade die Ansammlung von Niederlagen, sich die Sorgen der Putzfrauen heiterer anzuhören. Von ihnen hatte zumindest keine den Nachmittag mit Lady Caroline verbracht. Francesca sprang an einem anderen Tisch als Partnerin ein, und mit mehr Glück auf ihrer Seite gelang es ihr, den größten Teil ihrer Verluste wettzumachen. Als sie sich von ihrer Gastgeberin verabschiedete, überwog bei ihr eindeutig das Gefühl der Befriedigung. St. Josephs Klatsch oder vielmehr die Art und Weise, wie er aufgenommen wurde, bedeutete Information über den wirklichen Stand der Dinge; mochte sie auch noch so spärlich und ungesichert sein, sie wies zumindest in die gewünschte Richtung. Hatte sie zutiefst befürchtet, eine endgültige Ankündigung hören zu müssen, also ihrer Hoffnungen Todesstoß, so schloß sie aus dem Fortgang der Rede, der einfach jegliches noch so winzige beglaubigte Detail fehlte, womit St. Joseph sonst so gern aufwartete, daß es sich bloß um gewitzte Mutmaßungen handelte. Und hätte Lady Caroline wirklich an die Geschichte von Elaine de Freys Verlobung mit Courtenay Youghal geglaubt, so hätte sie sich ein hämisches Vergnügen daraus gemacht, St. Joseph in seinen Vertraulichkeiten zu ermuntern und sich dabei an Francescas Unglück zu weiden. Die Gereiztheit, mit der die alte Dame dem Vortrag ein plötzliches Ende bereitet hatte, verriet, daß ihres Wissens jedenfalls Comus und nicht Courtenay Youghal das Feld behauptete. Und in diesem besonderen Fall kam Lady Carolines Wissen der Wahrheit wahrscheinlich näher als St. Josephs vertrauliches Gerede. Francesca spendete immer dem ersten Straßenkehrer oder Streichholzverkäufer, dem sie nach einer erfolgreichen Bridgepartie begegnete, einen Penny. An diesem
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Nachmittag war sie mit etwa fünfzehn Shilling im Minus aus dem Gefecht gekommen, dennoch spendete sie einem Straßenkehrer an der Nordwestecke des Berkeley Square zwei Pennies als eine Art Dankopfer für die Götter.
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Achtes Kapitel Ein frischer, regenreuiger Nachmittag folgte einem Morgen, der abwechselnd schwül und wolkenbruchartig naß gewesen war: die Sorte Nachmittag, an der es die Menschen drängt, sich huldvoll über den Regen zu äußern, der ja wirklich gut getan habe, während sie sein Hauptverdienst wahrscheinlich in der Kunst der Mäßigung sehen. Ein Nachmittag zudem, der nach der Mattigkeit der vorangegangenen Tagesstunden zu körperlicher Bewegung einlud. Elaine hatte sich unwillkürlich zum Reiten umgezogen und Anweisung an die Ställe gegeben — eine glückliche Oase, die in einer Welt des Benzingestanks noch angenehm nach Pferd und Heu und Reinlichkeit roch -, und jetzt ließ sie ihre Stute in scharfem Trab über eine Reihe langer Feldwege laufen. Irgendwann am späteren Nachmittag würde sie auf einer Gartengesellschaft erwartet, doch entschlossen ritt sie in die entgegengesetzte Richtung. Erstens würden weder Comus noch Courtenay auf der Gesellschaft auftauchen, was wohl jeden nur erdenklichen Grund, sich dorthin zu begeben, hinfällig machte; zweitens würden sich dort an die hundert menschliche Wesen versammeln, und Menschenansammlungen waren im Moment weiß Gott nicht ihr dringlichster Wunsch. Seit dem letzten Treffen mit ihren Verehrern unter den Zedern im eigenen Garten hatte sie begriffen, daß sie entweder überglücklich war oder todunglücklich, sie konnte sich nur nicht recht entscheiden, was von beidem. Was sie sich am meisten auf der Welt wünschte, schien ihr zu Füßen zu liegen, und doch war sie in nachdenklicheren Augenblicken furchtbar unsicher, ob sie wirklich die Hand ausstrecken wollte, um es zu nehmen. Es war alles wie in einer Märchensituation aus Tausendundeiner Nacht oder einer
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Geschichte aus dem klassischen Griechenland, wieviel verwirrender und beunruhigender also für ein Mädchen, das nach den methodischen Grundsätzen Viktorianischen Christentums erzogen war. Ihre Berufungsinstanz mußte in den letzten Tagen dauernd tagen, kam aber zu keinem Urteil, zumindest keinem, dem sie Beachtung schenkte. Und der schnelle Ritt auf ihrer leichtfüßigen jungen Stute, allein, auf den frisch riechenden, von Blattwerk gesäumten Wegen in unbekanntes Land hinaus, schien im Augenblick genau das Richtige für sie zu sein. Die Stute tat ein klein wenig straßenscheu, nicht mit der grellen dümmlichen Art von Zaudern und Scheuen bei jedem auffälligen Gegenstand am Wegrand, sondern mit der nervösen Aufgeregtheit eines phantasievollen Tieres, die sich nur als rasche Kopfbewegung und schnelleres Vorwärtsdrängen zeigt. Die Stute hätte die Geisteshaltung des unsterblich gewordenen Peter Bell so paraphrasieren können: Ein Korb wohl unter einem Baum Ist mir ein gelber Tigertraum Wenn er nichts Schlimmres ist. Wirklich besorgniserregende Vorfälle auf der Straße, das Hupen und Vorbeisausen eines Autos oder das laute, vibrierende Gedröhn einer Dreschmaschine, wurden mit Gleichgültigkeit übergangen. Als Elaine aus einem engen, von Dickicht gesäumten Weg auf eine breitere Landstraße hinauskam, die sich allmählich auf eine Anhöhe hinaufschwang, sah sie in nicht allzu großer Entfernung eine Kette gelbgestrichener Frachtwagen, die größtenteils von scheckigen oder gesprenkelten Pferden gezogen wurden, auf sich zukommen. Etwas Liederliches an diesen herannahenden Fahrzeugen verriet, daß sie einer reisenden Raubtierschau angehörten, und sie zeigten Aufbauten in ungeniert knalli-
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gen Farben, die dem kindlichen Geschmack so sehr zusagen, bevor ihm der künstlerische Wert von matten Tönen eingetrichtert worden ist. Es war eine unerwartete und höchst unwillkommene Begegnung. Die Stute hatte bereits mit den Nüstern, Augen und den feingespitzten Ohren die sechsfache Prüfung begonnen; das eine Ohr machte rasche kleine Bewegungen nach hinten, um zu hören, was Elaine über die vollkommene Harmlosigkeit und Ehrbarkeit der sich nähernden Karawane verlauten ließ, doch selbst Elaine hatte das Gefühl, sie werde unmöglich für die Elefanten und Kamele, die mit Sicherheit Bestandteil der Prozession bildeten, einleuchtende Erklärungen abgeben können. Umzukehren sähe ziemlich feige aus, und die Stute könnte bei dem Wendemanöver erschrecken und durchgehen. Ein halb offen stehendes Tor, Zugang zu einem Gutshof, bot sich als bequemer Ausweg aus den Schwierigkeiten an. Als Elaine sich gerade hindurchzwängte, bemerkte sie einen Mann, der hinter dem Gatter stand und eine Vorwärtsbewegung machte, um das Tor ganz für sie zu öffnen. »Vielen Dank. Ich versuche gerade einer Raubtierschau zu entwischen«, erklärte sie, »meine Stute hat nichts gegen Autos und Traktoren, doch bei Kamelen vermute ich - hallo!« Sie brach ab, da sie in dem Mann einen guten Bekannten wiedererkannte. »Ich habe schon gehört, daß Sie sich irgendwo auf einem Bauerngut niedergelassen haben. Aber daß ich Ihnen hier begegne!« In ihrer nicht allzu fernen Kleinmädchenzeit war Tom Keriway jemand gewesen, den man mit gewisser Ehrfurcht und mit Neid betrachtete; in der Tat hätte der Zauber seines erfolgreichen Vagabundenlebens die Phantasie vieler junger Engländer beflügeln und sehnsüchtiges Verlangen, es ihm gleich zu tun, wecken können. Es
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schien die erwachsene Verwirklichung all der Spiele zu sein, denen man an Winterabenden in dunklen Zimmern beim Feuerschein gefrönt, und der Träume, die man über seinen Lieblingsabenteuerbüchern geträumt hatte. Er hatte Wien zu seinem Hauptsitz gemacht, fast zu seinem Zuhause, und war von hier aus nach Herzenslust durch die Länder des Nahen und Mittleren Ostens gestreift, so genüßlich und ausgiebig, wie zahme Gemüter wohl Paris erkunden mögen. Er war über ungarische Pferdemärkte gestapft, hatte auf einsamen Bergabhängen im Balkan verschlagene Bestien gejagt, sich wie ein Kieselstein in den unbewegten Menschenteich eines bulgarischen Klosters plumpsen lassen, sich durch das seltsame Rassengemisch in Saloniki geschlängelt, mit amüsierter Höflichkeit den hohlen ultramodernen Ansichten eines geschwätzigen Herausgebers oder Rechtsanwalts in irgendeiner abgelegenen russischen Stadt gelauscht oder den weisen Aussprüchen eines Zufallsbekannten in einem Wirtshaus, eines winzigen Teilchens im geschäftigen Ameisenstrom von Mensch und Ware, der unermüdlich rund um die Küsten des Schwarzen Meeres wogte. Und wie weit er auch herumziehen mochte, immer gelang es ihm, in häufigen Abständen in der lebensfrohen Hauptstadt der Habsburger wieder aufzutauchen, bei Bällen und Abendessen oder im Theater, in seinen Lieblingscafes und den Weinkellern, wo er seine bevorzugten Nachrichtenblätter überflog, alte Bekannte und Freunde begrüßte, vom Botschafter bis hinunter zum Schuster unten auf der Gesellschaftsskala. Er sprach selten von seinen Reisen, doch könnte man sagen, seine Reisen sprachen von ihm; er hatte etwas Eigenes an sich, das ein deutscher Diplomat einmal mit der Wendung umschrieb: ›ein Mann, an dem Wölfe geschnobert haben‹. Und dann passierten zwei Dinge, die auf seiner Route nicht vorgesehen waren: Eine schlimme Krankheit kostete
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ihn fast das Leben und beraubte ihn seiner ganzen Kraft, und ein schwerer Geldverlust brachte ihn beinahe an den Rand des Elends. Etwas von dem Impuls, der ein verwundetes Tier von seinen Artgenossen wegtreibt, beherrschte wohl auch Tom Keriway, als er seinen Lieblingsplätzen, wo ihm soviel Glück beschieden gewesen war, den Rücken kehrte und sich in den Schutz eines einsamen Bauernhofes zurückzog; mehr denn je wurde er für Elaine zu einer Person, die sie nur vom Hörensagen kannte. Und jetzt hatte das Zufallstreffen mit der Karawane sie über die Schwelle seiner Zufluchtsstätte geweht. »Was für ein bezauberndes kleines Versteck Sie da haben!« rief sie mit unwillkürlicher Höflichkeit aus und schaute sich dann forschend um und entdeckte, daß sie die Wahrheit getroffen hatte; ein wirklich bezaubernder Flecken. Der Bauernhof hatte jenes erzenglische Aussehen, das man selten außerhalb der Normandie findet. Über der ganzen Szenerie von Mietenhof, Garten, Außengebäuden, Pferdeschwemme und Obstbäumen lag jene Atmosphäre, die rechtmäßig zu abgelegenen Gütern zu gehören scheint, eine Atmosphäre wachsamer Verträumtheit, die darauf schließen läßt, daß hier Mensch und Vieh und Vogel so früh wach wurden, daß die übrige Welt sie nie eingeholt hat und auch nie einholen wird. Elaine stieg ab, und Keriway führte die Stute zu einer kleinen Koppel neben einer mächtigen grauen Scheune. Am Ende des Weges konnten sie die Prozession vorbeiziehen sehen, die Kette von rumpelnden Wagen und mächtig ausschreitenden großen Tieren, die das unendliche Schweigen der Wüste zu verbinden schien mit den Geräuschen, den Sehenswürdigkeiten und den Gerüchen, dem flackernden Petroleumlicht, den Reklamewänden und den zertrampelten Orangenschalen einer endlosen Folge von Städten.
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»Es ist besser, wenn Sie die Karawane ein gutes Stück weiterziehen lassen, bevor Sie sich wieder auf die Straße wagen«, sagte Keriway, »der Tiergeruch könnte Ihre Stute beim Heimritt nervös und bockig machen.« Hierauf rief er einem Jungen zu, der sich mit einer Hacke zwischen trotzig wucherndem Unkraut abmühte, der Dame ein Glas Milch und eine Scheibe Korinthenbrot zu bringen. »Ich weiß nicht, ob ich je etwas derart Bezauberndes und Friedliches gesehen habe«, sagte Elaine und setzte sich in eine Mulde, die ein Birnbaum zuvorkommend in der bizarren Krümmung seines Stammes hatte wachsen lassen. »Bezaubernd, gewiß«, sagte Keriway, »aber zu angespannt von seinem eigenen kleinen Lebenskampf, um friedlich zu sein. Seit ich hier lebe, habe ich erfahren, was ich bereits immer vermutet habe. Ein ländlicher Bauernhof, für sich genommen in seiner eigenen Welt und mit all seinen ineinander verwobenen Vorkommnissen und Tragödien, ist eines der wunderbarsten Studienobjekte, die man sich nur denken kann. Er gleicht einer alten Chronik des mittelalterlichen Europas zu der Zeit, als so etwas wie geregelte Anarchie herrschte zwischen den Feudalherren, den Oberherren, Burggrafen, Äbten mit Mitrawürde und den Fürstbischöfen, zwischen Raubrittern und Kaufmannsgilden und Kurfürsten und so weiter, wo sich alle unter einem obskuren Kodex von nur leichthin angewandten Regeln bekämpften und stritten, Gegenschläge ersannen oder vereitelten und einander ständig belauerten. Hier sieht man mit eigenen Augen ein getreues Abbild, wie auf einer modrigen Seite in Frakturschrift, die zu Eeben erwacht ist. Schauen Sie sich einen kleinen Ausschnitt davon an, das Leben des Federviehs auf einem Hof. Haushühner, stumpfe Eiermaschinen, bei denen
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aufgezeichnet wird, wieviel Unzen Futter sie fressen und wieviel Pfennig ihre Eier einbringen, geben Ihnen keine Vorstellung von dem Wunderleben dieser Bauernhofhühner; ihre Fehden und Eifersüchteleien und ihre erbittert verteidigten Vorrechte, ihre schonungslos tyrannische Grausamkeit, ihr abwägender Mut und ihre gespielte Tapferkeit oder ihre beharrlich verheimlichte Feigheit: das alles könnte auch ein Kapitel sein aus den Annalen des alten Rheinlandes oder des mittelalterlichen Italien. Und dann gibt es da außer ihren eigenen kriegerischen Zwisten und Feindseligkeiten die grimmigen Feinde, die aus den Waldungen kommen und sich mit ihnen anlegen; der Habicht stürzt sich mitten unter sie wie unsere Straßenräuber damals an der englisch-schottischen Grenze und weiß nur zu gut, daß eine Schrotladung ihn jederzeit in Stücke reißen kann. Und dann das Wiesel, ein schleichender brauner Pelzstreifen von knapp vier Finger Länge, einzig und allein - und unaufhaltsam - auf Blut aus. Und der Rotfuchs, durch Hunger ein Meister aller Schliche, der vielleicht den halben Nachmittag auf seine Chance gewartet hat, während die Hühner unter der Hecke ihr Staubbad nehmen, und gerade als sie sich zur Abendfütterung in Richtung Hühnerhof wenden, bleibt eine Henne einen Augenblick lang stehen, um sich die Federn ein letztes Mal zu schütteln, und trifft den Tod, der ihr an die Kehle springt. Wissen Sie«, fuhr er fort, während Elaine sich und der Stute Stückchen vom Korinthenbrot abbrach, »ich glaube nicht, daß mich in der Literatur irgendeine Tragödie, die mir zufällig in die Hand geraten ist, je so beeindruckt hat wie die erste, die ich mir selbst mühsam aus ein- und zweisilbigen Wörtern zusammenbuchstabierte: Der böse Fuchs hat die rote Henne gekriegt. Etwas so dramatisch Abgerundetes lag darin; die Schlechtigkeit des Fuchses, zusätzlich zu der
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traditionellen Listigkeit seiner Art, schien das Entsetzliche des Hennenschicksals noch zu steigern, und das Wort ›gekriegt‹ deutete so meisterhaft Tücke an. Man hatte das Gefühl, selbst Heerscharen bewaffneten Landvolks könnten diese Henne nicht aus den Fängen des bösen Fuchses retten. Die Leute meinten immer, ich sei ein schwerfälliger, etwas blöder Leser, weil ich mit meiner Lektion nicht vorankam, aber ich saß immer da und stellte mir die rote Henne vor, die mit ihren Flügeln hilflos schlug, gellend in erschrockenem Protest schrie, oder vielleicht, wenn er sie am Hals gepackt hatte, mit weitoffenem Schnabel, stumm und mit starrenden Augen, während sie den Hof für ewig verließ. Ich habe Blutvergießen und Zubodenschlagen und gemeines Niederwerfen zu meiner Zeit erlebt, doch die rote Henne ist mir als Archetyp einer ausweglosen Tragödie im Gedächtnis haften geblieben.« Einen Augenblick lang schwieg er, als dächte er wieder über das kurzsilbige Wörterdrama nach, das seine kindliche Phantasie derart gefesselt hatte. ›Erzählen Sie mir etwas von dem, was Sie zu Ihrer Zeit erlebt haben‹, drängte sich als Bitte Elaine auf die Lippen, doch sie beherrschte sich schnell und nannte eine andere. »Erzählen Sie mir bitte noch mehr von dem Bauernhof.« Und er erzählte ihr von einer in sich geschlossenen Welt, vielmehr von mehreren ineinandergefügten Welten, abseits in dieser verschlafenen Mulde zwischen Hügeln, vom überlieferten Wissen über wilde Tiere, über die Kunst der Jagd und über Äcker, Saaten und Vieh, wobei er zuweilen fast die Grenze zum Magischen streifte - aber eben dann mit großer Leichtigkeit, nicht mit dem bohrenden Eifer des Ignoranten, sondern mit dem abgewandten Blick desjenigen, der fürchtet, zuviel zu sehen.
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Er erzählte ihr von jenen Kreaturen, die sich bei Einbruch der Dunkelheit zum Schlafen legen, und von jenen, die dann umherstreifen, von wildernden fremden Katzen, von den Schweinen in ihren Koben und dem Stallvieh, von den Landleuten selbst, die auf ihre Art genauso merkwürdig und entrückt waren in ihren Vorstellungen und Ängsten, ihren Bedürfnissen und Tragödien wie das Vieh und das Gefiederte, um das sie sich kümmerten. Elaine schien es, als wäre ein modriger Stapel von Kinderbüchern vergangener Tage aus einer verstaubten Rumpelkammer heruntergeholt und zu Leben erwacht. Wie sie so dasaß auf der kleinen Pferdekoppel, die von hohem Unkraut und wildem Gras überwuchert war, im Schatten der alten, verwitterten, grauen Scheune, und dieser Chronik wundersamer Ereignisse lauschte, halb phantastisch und halb sehr real, konnte sie es kaum glauben, daß nur wenige Meilen entfernt eine Gartengesellschaft in vollem Gange war, in eleganter Kleidung und elegant plaudernd, mit Erfrischungen ä la mode und Musik ä la mode, begleitet von einer fieberhaften Unterströmung aus gesellschaftlicher Geltungssucht und Verachtung. Kamen ihm, der an ihrer Seite saß und dieses herrliche Zauberland entdeckt oder ersonnen hatte, fragte sie sich, Wien und das Balkangebirge und das Schwarze Meer genauso unendlich fern und schwer vorstellbar vor? War es vom Schicksal und vom Leben gütig und weise verfügt, daß die Gegenwart den Nachgeschmack des Vergangenen verdrängte? Hier war einer, der vieles von dem, was unbezahlbar ist, in der hohlen Hand gehalten und alles verloren hatte, und er war glücklich und kräftig in Anspruch genommen und durchaus zufrieden in dem verborgenen stillen Winkel, in den er sich verkrochen hatte. Und Elaine, die soviel Wünschenswertes in der hohlen Hand hielt, konnte sich nicht entscheiden, auch
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nur ein klein wenig glücklich zu sein. Sie wußte nicht einmal, ob sie dieses Kindheitsidol von seinem Podest stoßen oder es noch höher erheben sollte; an der Vorstellung, Krankheit und Unglück könnten einen vormals kühnen, rastlosen Geist derart unterwerfen und zähmen, stieß sie sich eher, als daß sie sie gutheißen konnte. Die Stute verriet Zeichen vornehmer Ungeduld; die Koppel mit ihren lästigen Insekten und der sehr mäßigen Weide hatte nicht das Bild ihrer eigenen bequemen Box mit dem reichlichen Heu auslöschen können. Elaine schüttelte von ihrem Reitkostüm die Brotkrumen ab und schwang sich behend in den Sattel. Als sie langsam den Weg dahinritt - Keriway begleitete sie bis zum Tor -, schaute sie ringsum auf das, was ihr noch vor einer Weile nur wie ein malerisches altes Gehöft vorgekommen war, ein Ort für Bienenstöcke und Stockrosen und gieblige Karrenschuppen; jetzt war es in ihren Augen eine verzauberte Stadt, unter deren Zauberschleier sich Wirklichkeit regte. »Sie sind zu beneiden«, sagte sie zu Keriway, »Sie haben sich ein Wunderland erschaffen und leben selbst darin.« »Zu beneiden ?« Er hatte die Frage mit plötzlicher Bitterkeit abgefeuert. Sie blickte hinab und sah den wehmütigen Ausdruck in seinem Gesicht. »Einmal«, sagte er, »habe ich in einer deutschen Zeitung eine Kurzgeschichte über einen zahmen, hinkenden Kranich gelesen, der im Park eines Städtchens lebte. Ich weiß nicht mehr, was in der Geschichte sonst passierte, aber da gab es eine Zeile, die ich nie vergessen werde: ›Er war lahm, darum war er zahm‹.« Er hatte sich ein Wunderland erschaffen, doch ganz gewiß lebte er nicht darin.
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Neuntes Kapitel Auf der langen, schattigen Sandbahnstrecke mit dem Kiesweg und den Rhododendronsträuchern, liebevoll als Die Straße bekannt, herrschten an einem warmen Spätvormittag im Juni monotone Bewegung und muntere Stagnation, wie sie der Tageszeit und dem Ort eigen sind. Der Gesundheitsapostel, der Geltungssüchtige und der eingeschworene Reiter waren als Typus jeweils gut auf der Reitbahn vertreten; auf der Promenade mit den Stühlen und Bänken tummelten sich Londoner, deren unterschiedlichste Neigungen und Antriebe selbst den forschesten Typenforscher verwirrt hätten. Die Kinder, an der Hand geführt oder im Wagen geschoben, konnte man von Neigung und Antrieb freisprechen; sie wurden dorthin gebracht. Angenehm inmitten einer Schar unscheinbarer Reiter, die vor dem Zuschauergedränge am Geländer im Schritt ritten, fiel Courtenay Youghal mit seinem schönen rötlichbraunen Wallach Anne de Joyeuse auf. Dieses anmutig tänzelnde Tier hatte in Islington einen Preis davongetragen und beinah auch das Leben eines ihm nicht genehmen Stallburschen, doch zweifellos berechtigten es sein gutes Aussehen und die damit verbundene hohe Meinung von sich selbst am meisten zu Ruhmesglanz. Youghal glaubte offensichtlich an völlige Übereinstimmung zwischen Pferd und Reiter. »Bitte halten Sie, nur ein paar Worte«, sagte eine leise, lockende Stimme von der anderen Seite des Geländers, und Youghal zog die Zügel an und begrüßte Lady Veula Croot. Lady Veula hatte in eine Familie von kaufmännischer Solidität und kühner politischer Farblosigkeit geheiratet. Sie hatte einen ergebenen Ehemann, ein paar blonde, gelehrige Kinder und in den Augen einen Aus-
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druck unsagbarer Müdigkeit. Sah man sie am Treppenaufgang inmitten kostspieligen Blumendekors die Gäste ihres Mannes empfangen, konnte man an einen Dressurakt auf einer Varietebühne glauben. Man redet sich immer ein, das Tier mag es, und weiß immer, es mag es nicht. »Lady Veula ist eine eifrige Befürworterin des Freihandels, nicht?« bemerkte einmal jemand zu Lady Caroline. »Ich überlege«, sagte Lady Caroline mit ihrer sanft fragenden Stimme. »Eine Frau, deren Kleider in Paris genäht werden und deren Ehe im Himmel geschlossen ist, könnte doch ebensogut für wie gegen den freien Import sein.« Lady Veulas Blick bedachte Youghal und sein Reittier mit einer ausführlichen kritischen Würdigung, und in ihrer Stimme schwangen milder Spott und Wehmut. »Ihr zwei Hübschen, ich würde euch beide gern streicheln, ich bin mir aber nicht sicher, wie Joyeuse das aufnehmen würde. Ich gebe euch statt dessen Streichelworte. Ich habe Ihren Angriff auf Sir Edward ungeheuer bewundert, obwohl ich natürlich keinem Wort davon zustimme. Ihre Darstellung, wie er den deutschen Reichskuckuck mit einer Hecke umgeben will, in der Hoffnung, ihn so zu isolieren, war ganz köstlich. Aber ernsthaft, ich betrachte ihn als eine Stütze der Regierung.« »Ich ebenfalls«, sagte Youghal. »Das Unglück ist nur, daß er bloß ein Zeltdach abstützt. Es ist allein seine bedauerliche Solidität und Rechtschaffenheit, die ihn so ungeheuer gefährlich macht. Der Durchschnittsbrite urteilt über Roans Art von Außenpolitik ebenso wie irgendein Omar über den Umgang des Höchsten Wesens mit der Welt: ›Er ist ein lieber Kerl und wird's schon recht machen‹.«
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Lady Veula lachte leicht. »Meine Partei ist an der Macht, ich darf also von dem Vorrecht Gebrauch machen, optimistisch zu sein. Wer hat Sie da eben gegrüßt?« fuhr sie fort, als ein düsterer junger Mann mit Bauchansatz an ihnen vorbeischritt. »Ich habe ihn in letzter Zeit ziemlich oft gesehen. Er war ein paarmal auf meinen Tanzgesellschaften.« »Andrei Drakoloff«, sagte Youghal, »er hat gerade ein Theaterstück herausgebracht, das ein Riesenerfolg in Moskau ist und sicherlich in ganz Rußland ungemein populär werden wird. In den drei ersten Akten glaubt man, die Heldin sieche an Schwindsucht dahin; im letzten Akt stellt sich dann heraus, daß sie an Krebs stirbt.« »Sind die Russen wirklich ein so schwermütiges Volk?« »Der Schwermut zugeneigt, aber nicht im geringsten trübsinnig. Sie empfinden nur ihre Traurigkeit als etwas Angenehmes, so wie man uns den Vorwurf macht, wir empfänden unsere Freuden als etwas Trauriges. Haben Sie bemerkt, daß jener entsetzliche Jung-Klopstock in immer kürzeren Abständen an uns vorbeikommt? Er wird uns ansprechen, wenn er Ihre Aufmerksamkeit erregt.« »Ich kenne ihn bloß flüchtig. Ist er nicht auf einem landwirtschaftlichen College oder so etwas Ähnlichem?« »Ja, er studiert, so hat er mir gesagt, wie man gentleman farmer wird. Ich habe nicht gefragt, ob beide Studienfächer obligatorisch sind.« »Sie sind wirklich gräßlich«, sagte Lady Veula und bemühte sich, so dremzusehen, als meinte sie das auch, »vergessen Sie nicht, vor dem Angesicht des Herrn sind wir alle gleich.« Für einen Prediger nützlicher Wahrheiten mangelte es ihrer Stimme an Überzeugungskraft. »Wenn ich und Ernst Klopstock vor dem Angesicht des HERRN wirklich gleich sein sollten«, sagte Youghal äußerst
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selbstgefällig, »würde ich dem HERRN empfehlen, einen Augenspezialisten zu konsultieren.« Sand spritzte mächtig auf, und das schmatzende Geräusch von Sattelleder ertönte, als der Jung-Klopstock sich schwerfällig zum Geländer hinbewegte und in lautstarke fröhliche Begrüßungsworte ausbrach. Joyeuse legte die Ohren weit zurück, als der plumpe gedrungene Braune und sein dazu passender Reiter neben ihm stehenblieben; sein Urteil ward durch Youghals kühl starrenden Blick aufgenommen und nachdrücklich bestätigt. »Ich habe eine famos himmlische Zeit gehabt«, legte der Neuankömmling voll lärmender Begeisterung los, »ich war letzten Monat in Paris drüben und habe dort eine Menge Erdbeeren gegessen, dann hatte ich noch eine Menge mehr davon in London, und jetzt habe ich gerade die letzte Ernte in Herdfordshire gehabt, also reichlich viel dieses Jahr.« Und er lachte, wie jemand, der sich um etwas verdient gemacht hat und vom Schicksal belohnt worden ist. »Der Reiz dieser Geschichte besteht darin«, sagte Youghal, »daß sie in jedem Salon erzählt werden kann.« Er schwenkte den breitkrempigen Hut zu Lady Veula hin und führte die ungeduldige Joyeuse in dem fließenden Strom von Pferden und Reitern davon. ›Die Dame erinnert mich an ein paar Verszeilen, die ich mit Vergnügen gelesen habe‹, dachte Youghal, als Joyeuse in einen leichten prahlerischen Galopp fiel und damit der Existenz beobachtender Menschenwesen auf der Seitenpromenade vollen Tribut zollte. ›Ah, ich hab's.‹ Und er zitierte beinahe laut, wie es die Beschwingtheit eines Galopps mit sich bringt: ›Wie habe ich es so geliebt: Du lächeltest, selbst tiefbetrübt,
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Ein Lächeln wie von Frühlingswind Und Sonnenschein. Und doch sprach dieses Lächeln dein Von Müdheit, die nicht Worte findt.‹ Und nachdem er zu seiner Zufriedenheit Lady Veula ein Zitat verpaßt hatte, verbannte er sie aus seinen Gedanken. Sie, mit der Beharrlichkeit ihres Geschlechts, dachte bis in den späten Nachmittag an ihn, an sein gutes Aussehen, an seine Jugend und an seine Spottlust. Während Youghal Joyeuse unter den Ulmen auf der Straße alle Gangarten vorführen ließ, spielte sich nur wenige hundert Meter weiter ein kleines Drama ab, das von unmittelbarem Interesse für ihn war. Elaine und Comus gönnten sich im Park Stühle für zwei Penny Gebühr, ein klein wenig absentiert von den dichten Reihen der Sitzenden, die wie Beetpflanzen über etwa ein Morgen Land ausgesetzt waren. Comus befand sich im Augenblick in angriffslustiger Stimmung und schüttete über jene Spaziergänger und Bummler, die er persönlich oder vom Sehen kannte, eine Fülle boshaft pointierter Bemerkungen und unbarmherziger Anekdoten aus. Elaine war stiller als gewöhnlich, und heute morgen kam die ernste Ruhe des Leonardo-da-Vinci-Portraits stärker zum Vorschein. Comus hatte sich bei seinem lässigen Werben fast ausschließlich auf seine physische Anziehungskraft, seine geistreichen Emfälle und seinen Schwung verlassen, und diese Attribute hatten ihn in Elaines Augen tatsächlich begehrenswert und auch liebenswert erscheinen lassen. Aber er hatte nicht bedacht, welche Ungnade er sich ständig durch seine unverhohlene Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen und Wünschen anderer, zuweilen auch Elaines, einhandeln konnte und gelegentlich auch zuzog. Und je mehr sie spürte, daß sie ihn mochte, desto stärker verärgerte sie
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seine Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber. Ohne zu erwarten, daß jeder Wunsch von ihr zum Gesetz erhoben würde, hätte sie zumindest gern gehabt, wenn er wenigstens formell in die Zweite Lesung gekommen wäre. Auch einen anderen wichtigen Faktor hatte er bei seinem Vorgehen nicht bedacht, nämlich die Anwesenheit eines zweiten Bewerbers am Schauplatz des Geschehens, der ebenfalls Jugend und Geist ins Feld führen konnte und dem es gewiß nicht an physischer Ausstrahlung fehlte. Comus, sorglos durch unbekanntes Land marschierend, um den schon als sicher geltenden Sieg davonzutragen, beging den Fehler, die Existenz eines ungeschlagenen Heers an seiner Flanke zu übersehen. Elaine hatte heute das Gefühl, daß die Zuneigung zwischen ihr und Comus, auch wenn sie nicht offen gestritten hatten, ein wenig nachgelassen hatte. Die Schuld lag, wie sie wußte, kaum bei ihr; tatsächlich konnte man vom wohlwollendsten Standpunkt aus nicht bestreiten, daß sie fast ganz allein ihm zuzuschreiben war. Der Vorfall mit dem silbernen Brotkörbchen hatte nicht einmal den Reiz des Neuen gehabt, er war nur einer von einer ganzen Reihe gewesen, die einander alle frappierend ähnelten. Es hatte kleine, nicht zurückgezahlte Darlehen gegeben, wogegen Elaine an sich nicht gemurrt hätte, wenn sie auch auf die entsprechenden Bitten mit einem Anflug von Widerwillen reagierte; mit der Verdrehtheit, die anscheinend nicht von seinem Handeln zu trennen war, hatte Comus immer einen Teil des geborgten Geldes für irgendwelche prahlerische Extravaganz von eklatanter Nutzlosigkeit verschleudert, was allen Grundsätzen ihrer Erziehung Hohn sprach und ihm nicht die geringste denkbare Befriedigung verschaffte. Bei diesen wiederholten Entmutigungen war es daher nicht verwunderlich, daß sich ein wenig von ihrer Zuneigung verflüchtigt
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hatte, doch sie war an diesem Vormittag mit der uneingestandenen Hoffnung in den Park gekommen, sich sanft in die Stimmung glücklichen Vergessens zurücklocken zu lassen, die ihr nur allzusehr am Herzen lag. Es lohnte sich fast, auf Comus böse zu sein, allein um des Vergnügens willen, sich von dem Charme, den er so geschickt auszuspielen verstand, zum Wiederliebsein schmeicheln zu lassen. Es war einfach herrlich hier unter den Bäumen an diesem vollkommenen Junimorgen, und Elaine genoß die beseligende Gewißheit, daß die meisten Frauen im Umkreis sie um die Begleitung des gutaussehenden, vergnügten Jünglings an ihrer Seite beneideten. Besonders zufrieden betrachtete sie ihre Cousine Suzette, die sich selbstbewußt, doch nicht eben freudig erregt, in den Aufmerksamkeiten ihres Verlobten sonnte, eines ernst aussehenden jungen Mannes, Verwalter irgendeiner gemeinnützigen Behörde oder sonstwas am Südufer der Themse, dessen Kleidung, so das Diktum von Comus, weniger nach dem letzten Schrei als nach dem letzten Seufzer aussah. Für die meisten Freuden des Lebens muß man zahlen, und der Stuhlkartenverkäufer auf der Suche nach Pennies erschien zu gebührender Zeit. Comus gab ihm das Geld aus einem reichhaltigen Sortiment an Münzen und wiegte dann den Rest in der hohlen Hand. Elaine ahnte auf einmal, daß etwas Unangenehmes bevorstand, und ein roter Fleck auf ihren Wangen verstärkte sich. »Vier Shilling, ein Fünf-Pence-Stück und ein halber Penny«, sagte Comus nachdenklich. »Das ist eine lächerliche Summe, wenn ich damit die nächsten drei Tage auskommen soll, und dazu muß ich noch eine Kartenschuld von über zwei Pfund zahlen.« »Ach ja ?« bemerkte Elaine trocken und offensichtlich uninteressiert an der Darlegung seiner Finanzen. Er kann
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doch nicht so dumm sein, überlegte sie fieberhaft, und ein weiteres Darlehen ansprechen. »Die Kartenschuld ist richtig unangenehm«, fuhr Comus mit fatalistischer Beharrlichkeit fort. »Sie haben letzte Woche doch sieben Pfund gewonnen, oder?« fragte Elaine. »Verwenden Sie Ihren Gewinn denn nicht dazu, die Verluste auszugleichen?« »Die vier Shilling, das Fünf-Pence-Stück und der halbe Penny stellen die Nachhut der sieben Pfund dar«, sagte Comus, »der Rest ist abhanden gekommen. Wenn ich die zwei Pfund heute zahlen kann, bin ich mir sicher, etwas mehr zu gewinnen, um weiterzumachen; ich habe gerade jetzt recht gute Karten. Aber wenn ich nicht bezahlen kann, werde ich mich natürlich nicht im Klub zeigen. Sie sehen also meine Klemme.« Elaine nahm keine Notiz von diesem indirekten Appell. Die Berufungsinstanz trat eiligst in Aktion, um das neue Beweismaterial zu sichten, und zwar diesmal, um möglichst schnell zu einem definitiven Beschluß zu kommen. Die Unterhaltung entfernte sich für einige Augenblicke von dem verhängnisvollen Thema, und dann brachte Comus sie vorsätzlich zurück in die Gefahrenzone. »Es wäre furchtbar nett von Ihnen, Elaine, wenn Sie mir einen Fünfer für ein paar Tage leihen könnten«, sagte er rasch, »wenn Sie ablehnen, weiß ich wirklich nicht, was ich tun soll.« »Wenn Sie Ihre Kartenschuld wirklich so beunruhigt, schicke ich Ihnen am frühen Nachmittag die zwei Pfund per Boten.« Sie sprach ruhig und mit großer Entschiedenheit. »Ich werde heute abend nicht auf dem Connor's Ball sein«, fuhr sie fort, »es ist zu warm zum Tanzen. Ich gehe jetzt nach Hause; bitte, machen Sie sich nicht die Mühe, mich zu begleiten, ich möchte ausdrücklich allein gehen.«
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Comus sah ein, daß er ihre Gutmütigkeit überstrapaziert hatte. Klugerweise versuchte er nicht sofort, ihre Gunst wiederzuerlangen. Er würde warten, bis sich ihr Unwille etwas gelegt hatte. Seine Taktik wäre ausgezeichnet gewesen, hätte er nicht das ungeschlagene Heer an seiner Flanke vergessen. Elaine de Frey hatte nur zu gut gewußt, welche Eigenschaften sie in Comus sehen wollte, und sie hatte trotz all ihres Bemühens, sich selbst zu täuschen, gewußt, daß ihm dazu weiß Gott allerhand fehlte. Gern hatte sie ihre moralischen Anforderungen entsprechend heruntergeschraubt, da sie den Jungen mochte, aber es gab eine Grenze, die sie nicht überschreiten würde. Er hatte ihren Stolz verletzt und außerdem ihre Besonnenheit auf den Plan gerufen. Suzette, auf die sie gern und mit gutem Gewissen herabsah, hatte wenigstens einen aufmerksamen und rücksichtsvollen Liebsten. Elaine spazierte zum Parkeingang mit dem Gefühl, daß Suzette etwas Wesentliches besaß, das ihr versagt worden war, und traf am Tor auf Joyeuse und seinen schmucken jungen Reiter, die sich gerade auf den Heimweg machen wollten. »Werden Sie Joyeuse los, und führen Sie mich dann irgendwohin zum Lunch«, forderte Elaine. »Wie reizend!« sagte Youghal. »Gehen wir zum Corridor Restaurant. Der Oberkellner ist ein alter Wiener Freund von mir und kümmert sich immer rührend um mich. Ich war noch nie mit einer Dame dort, und er wird mich sicherlich später auf seine väterliche Art fragen, ob wir verlobt seien.« Das Mittagessen war in jeder Hinsicht ein Erfolg. Das Orchester spielte gerade so, daß die Unterhaltung dezent umrahmt und nicht erschlagen wurde, und Youghal war ein aufmerksamer und anregender Gastgeber. Durch eine offene Tür konnte Elaine das Lesezimmer des Restau-
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rants sehen mit seiner imponierenden Auswahl von Neue Freie Presse, Berliner Tageblatt und anderen fremdländischen Zeitungen, die an der Wand hingen. Sie schaute zu dem ihr gegenübersitzenden jungen Mann hinüber, der einem den Eindruck vermittelte, als hätte die größte geistige Anstrengung seiner Toilette und dem Essen gegolten, und erinnerte sich an einige schmeichelhafte Äußerungen der Presse über seine jüngsten Reden. »Werden Sie denn nicht eingebildet, Courtenay«, fragte sie, »wenn Sie auf all die ausländischen Zeitungen hier blicken und wissen, daß die meisten von ihnen Aufsätze und Artikel über Ihre Persien-Rede gebracht haben?« Youghal lachte. »Der Gedanke, daß darunter einige womöglich das eigene Bild bringen, wirkt immer wie ein dämpfendes Korrektiv. Wenn Sie z. B. einmal das eigene Konterfei im Matin schludrig abgedruckt gesehen haben, dann werden Sie sich wünschen, für den Rest des Lebens als verschleierte Türkin herumzulaufen.« Und Youghal starrte als Gegenmittel zu möglichen Demutsanwandlungen in der Portraitgalerie des Ruhms lange und liebevoll sein Bild im nächsten Spiegel an. Elaine fühlte eine gewisse stille Befriedigung darüber, daß dieser junge Mann, dessen Wohlinformiertheit über den Mittleren Osten den Ministern in Fragestunden und bei Debatten peinlich war, sich ebenso versiert auf dem Gebiet ihrer kulinarischen Vorlieben und Abneigungen zeigte. Hätte man Suzette als Zeugin am Nebentisch plazieren können, sie hätte sich noch glücklicher gefühlt. »Hat der Oberkellner gefragt, ob wir verlobt seien?« erkundigte sich Elaine, als Courtenay die Rechnung beglichen und sie ihren Sonnenschirm, ihre Handschuhe und sonstiges Gepäck aus den Händen diensteifriger Geister in Empfang genommen hatte.
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»Ja«, sagte Youghal, »und er schien sehr niedergeschlagen zu sein, als ich ›nein‹ sagen mußte.« »Es wäre furchtbar, ihn zu enttäuschen, nachdem er sich derart reizend um uns gekümmert hat«, sagte Elaine. »Sagen Sie ihm, wir sind.«
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Zehntes Kapitel In der Rutland-Galerie, besonders in der Nähe des TeeBüffets, drängte sich die elegante Welt der Kunstmäzene, um eine Auswahl von Mervyn Quentocks Gesellschaftsportraits in Augenschein zu nehmen. Quentock war ein junger Künstler, dessen Begabung von den Kritikern soeben die gebührende Anerkennung erhielt; daß die Anerkennung nicht überfällig war, verdankte er zum großen Teil seiner Einsicht, daß, wenn man sein Licht unter den Scheffel stellt, man tunlichst darauf achtet, jedermann auf besagten Scheffel hinzuweisen, unter dem es versteckt ist. Man kann auf zweierlei Art Anerkennung finden: Entweder läßt man sich erst so spät nach dem Ableben entdecken, daß die eigenen Enkelkinder an die Zeitungen schreiben müssen, um ihre Verwandtschaft nachzuweisen; oder man zeigt sich wie das Kind Moses unmittelbar zu Beginn seines erfolgreichen Wirkens. Mervyn Quentock hatte die letztere und glücklichere Art gewählt. In einem Zeitalter, wo viele aufstrebende junge Männer ihre Waren anpreisen, indem sie ihnen die allerschrägste Absurdität anhängen, schuf Quentock ein Werk von gefällig vornehmer Zurückhaltung und verstand es trotzdem, seine Erzeugnisse mit einem gewissen Fanfarenstoß persönlicher Exzentrizität anzukündigen und somit eine Beachtung zu erzwingen, die sonst womöglich seinem Atelier nicht widerfahren wäre. Vom Auftreten her war er der ordentliche, gepflegte junge Engländer; nur seine Augen verhießen eine Prachtausgabe von Tausendundeiner Nacht; seine Kleidung paßte zu seinem Auftreten und verriet keinerlei bewußt arrangierte negligence, mittels deren der Bourgeois aus der Vorstadt und dem Quartier Latin geflissentlich seine innere Verwandtschaft zu Kunst und Geist kundzutun
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sich bemüht. Seine Exzentrizität äußerte sich darin, daß er bestimmten gerade herrschenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten die Stirn bot, aber stets als Reaktionär, niemals als Reformer. Er rief in eleganten Kreisen Seufzer atemloser Bewunderung hervor, als er sich weigerte, Schauspielerinnen zu malen — ausgenommen natürlich jene, die dem anspruchsvollen Bühnendrama den Rücken gekehrt hatten, um zwischen dem Einbanddeckel des Adelskalenders zu erscheinen. Er lehnte es strikt ab, Portraits von Amerikanern zu malen, es sei denn, sie meldeten sich aus gewissen Staaten, für die er eine Vorliebe hatte. Seine ›betont aparte Farbgebung‹, wie es eine New Yorker Zeitung ausdrückte, brachte ihm eine Fülle böser Kritiken ein und eine Unmenge an Aufträgen aus Übersee; und Kritik und Aufträge waren die Dinge, die sich Quentock am meisten wünschte. »Natürlich hat er völlig recht«, sagte Lady Caroline Benaresq, während sie gelassen eine Platte voller Kaviarschnittchen aus der unmittelbaren Nähe eines Kleeblatts von jungen Damen rettete, das sich hoffnungsvoll in ihre Reichweite plaziert hatte. »Kunst«, fuhr sie fort und wandte sich an Hochwürden Poltimore Vardon, »ist im Geographischen immer exklusiv gewesen. London mag ja in vielerlei Hinsicht bedeutender sein als Venedig, aber die Kunst des Portraitmalens, die sich nie mit einem Oberbürgermeister abgeben würde, kriecht vor den Dogen geradezu im Staub. Als Sozialistin bin ich gehalten, das Recht Ealings anzuerkennen, sich mit Avignon zu vergleichen, aber man kann nicht erwarten, daß die Musen beide auf dieselbe Stufe stellen.« »Exklusivität«, sagte Hochwürden Poltimore, »ist die Rettung der Kunst gewesen; und daß es heute an ihr mangelt, ist der Untergang der Religion. Meine Amtsbrüder gehen umher und verkünden mit großem Eifer die
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Tatsache, daß das Christentum dieser oder jener Konfession Unmengen bekehrter Heiden an sich zieht aus allen möglichen Rassen und Stämmen, von denen man kaum je etwas gehört hatte, es sei denn aus Besprechungen von Reisebüchern, die keiner liest. Dergleichen war ja schön und gut, als die Welt noch dünner besiedelt war, aber heutzutage, wo es auf ihr von Menschen nur so wimmelt, ist niemand übermäßig davon beeindruckt, daß etliche Millionen - so genau kommt's nicht darauf an - bekehrter Halbwilder die Lehre einer ganz bestimmten Religion übernommen haben. Es dämpft nicht nur die eigene Begeisterung, es erschüttert geradezu die eigene Überzeugung, wenn man hören muß, daß Burjaten, Samojeden und Kanaken mit höchster Zustimmung von Dingen reden, an deren Wahrheit zu glauben man erzogen worden ist.« Hochwürden Poltimore Vardon hatte früher einmal eine Ähnlichkeit zwischen sich und Voltaire festgestellt und seither mit diesem Vergleich gelebt. »Kein Kult und keine Mode unserer Zeit«, fuhr er fort, »könnte durch statistische Überlegungen gewinnen; sich vorzustellen, man übernähme einen gewissen Hutstil oder Mantelschnitt, nur weil er mit Vorliebe in Lancashire oder in den Midlands getragen wird; sich vorzustellen, man bevorzugte eine gewisse Champagnermarke, weil sie in hohem Maße in deutschen Sommerkurorten favorisiert wird! Kein Wunder, daß die Religion in diesem Land bei solch methodischen Irrwegen außer Gebrauch kommt.« »Sie können es nicht verhindern, daß die Heiden sich bekehren lassen, wenn ihnen der Sinn danach steht«, sagte Lady Caroline, »wir leben im Zeitalter der Toleranz.« »Das könnten Sie immer abstreiten«, sagte Hochwür-
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den Poltimore, »wie die Belgier das mit den bedauerlichen Vorfällen im Kongo tun. Aber ich würde noch weiter gehen. Ich würde die schwindende Begeisterung für das Christentum in diesem Land anfachen, indem ich es zum exklusiven Besitz einiger weniger Privilegierter ausriefe. Könnte man zum Beispiel die Herzogin von Pelm zu der Behauptung verleiten, der Eintritt ins Himmlische Königreich sei, was die Britischen Inseln betrifft, streng beschränkt auf sie selbst, auf zwei Untergärtner in Pelmby und möglicherweise, nicht aber mit Sicherheit, auf den Dekan von Dunster, so würde sich die Einstellung der Öffentlichkeit zur religiösen Überzeugung und zu religiösem Handeln unverzüglich ändern. Verbreitet sich der Gedanke erst einmal, daß die christliche Kirche weit exklusiver ist als der Rasen von Ascot, so würde das religiöse Leben so spürbar Wiederaufleben, wie es diese Generation noch nie zuvor erlebt hat. Aber solange die Geistlichkeit und die religiösen Institutionen für ihren Glauben nach dem Motto werben: Jeder sollte an uns glauben: Millionen tun es bereits‹, kann man nichts als Gleichgültigkeit und nachlassende Frömmigkeit erwarten.« »Die Zeit ist auf ihre Art ebenso exklusiv wie die Kunst«, sagte Lady Caroline. »Auf welche Art?« fragte Hochwürden Poltimore. »Ihre witzigen Bemerkungen über die Religion hätten recht klug und fortschrittlich in den frühen Neunzigern geklungen. Heute haben sie etwas furchtbar Aufgewärmtes. Das ist der große Irrtum von euch bemüht fortschrittlichen Satirikern; ihr meint, ihr könntet euch einige Jahrzehnte lang behaglich ausruhen und dreiste oder bestürzende Dinge über euer Zeitalter sagen, das seine Mängel haben mag, aber zweifellos nicht stillsteht. Die ganze Sherard-Blaw-Schule für diskursives Drama
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läßt mich an frühviktorianische Möbel in einem Wanderzirkus denken. Ihr werdet jedoch stets Nachrücker aus den Vorstädten haben, die der Spottdrossel von gestern lauschen und ehrlich glauben, sie sei der Vorbote von etwas Neuem und Revolutionärem.« » Würden Sie so freundlich sein, mir die Platte mit den Schnittchen zu reichen«, bat eine der jungen Damen aus dem Kleeblatt, vor Hunger kühn geworden. »Mit Vergnügen«, sagte Lady Caroline und händigte ihr mit elegantem Schwung die fast leere Platte mit den Butterschnittchen aus. »Ich habe die Platte mit den Kaviar-Schnittchen gemeint. Tut mir so leid, Sie behelligen zu müssen«, beharrte die junge Dame. Ihre Sorge war unangebracht; Lady Caroline hatte ihre Aufmerksamkeit einem Neuankömmling zugewandt. »Eine sehr interessante Ausstellung«, sagte Ada Spelvexit gerade, »makellose Technik, soweit ich Technik beurteilen kann, und eine ausgesprochene Meisterschaft in den Posen. Aber haben Sie bemerkt, wie rein sinnlich seine Kunst ist? Er scheint die Seele aus seinen Portraits verbannt zu haben. Fast hätte ich geweint, als ich unsere liebe Winifred sah, die schlicht als gutaussehende gesunde Blondine wiedergegeben ist.« »Ich wünschte, Sie hätten's«, sagte Lady Caroline. »Das Schauspiel einer starken tapferen Frau, die bei einer Vernissage in der Rutland-Galerie weint, wäre die Sensation gewesen. Es wäre bestimmt in einer der nächsten Bühnennummern auf der Drury Lane zu sehen gewesen. Und ich habe immer so ein Pech; nie bin ich Zeuge solcher sensationellen Begebenheiten. Ich hatte nämlich eine Blinddarmentzündung, als Lulu Braminguard bei einem Staatsbankett auf Windsor nach siebzehnjähriger Entfremdung ihrem Mann auf dramatische Weise Verzei-
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hung gewährte. Die Queen war ungehalten darüber. Sie sagte, es sei unhöflich dem Koch gegenüber, bei einem solchen Anlaß an so etwas zu denken.« Lady Carolines Erinnerungen an Dinge, die sie am Hof der Königin nicht selbst erlebt hatte, pflegten von berüchtigter Deutlichkeit zu sein; genau wegen dieser weitverbreiteten Angst, sie könne eines Tages so ihre Memoiren aufschreiben, achtete man sie allgemein. »In seinem lebensgroßen Bild von Lady Brickfield«, fuhr Ada fort und versuchte, so gut es ging, Lady Carolines Kommentar zu ignorieren, »scheint sich der ganze Ausdruck vornehmlich in den Füßen zu sammeln; schöne Füße, kein Zweifel, dennoch wohl schwerlich der charakteristischste Teil des Menschen.« »Die richtigen Personen am falschen Ende zu malen mag zwar exzentrisch sein, doch kaum indiskret«, verkündete Lady Caroline. Eines der Portraits, das mehr als nur flüchtige Aufmerksamkeit auf sich zog, war eine Kostümstudie von Francesca Bassington. Francesca hatte dem jungen Künstler einige höchst wünschenswerte Gönner verschafft, und er hatte dafür ihr Pantheon persönlicher Besitztümer mit einem raffinierten Kunstwerk bereichert, in das er ungewöhnlich viele phantasievolle Einzelheiten eingearbeitet hatte. Er hatte sie in einem historischen Kostüm aus der glanzvollsten Zeit Ludwig XIV. gemalt und vor einen Wandteppich gesetzt, der in der Gesamtkomposition so dominierte, daß man ihn kaum einen Hintergrund nennen konnte. Blumen und Obst in exotischer Hülle und Fülle gaben den Ton an; Quitten, Granatäpfel, Passionsblumen, Riesenwinden, prächtige mauverötliche Rosen und Trauben, die bereits von heiteren Amoretten in einer arkadisch-ausgelassenen Weinernte gekeltert wurden, hoben sich vom Gewebe beson-
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ders ab. Ein verwandtes Motiv kehrte im geblümten Satinrock der Dame wieder und im Granatapfelmuster des Brokats, der über die Couch drapiert war, auf der sie saß. Der Künstler hatte sein Gemälde ›Recolte‹ betitelt. Und hatte man alle Einzelheiten des Obstes, der Blumen und des Blattwerks, denen die Komposition ihren Namen verdankte, aufgenommen, bemerkte man die Landschaft, die sich am linken Bildrand durch ein weit offenes Fenster zeigte. Es war eine Landschaft unter der Herrschaft des Winters: nackt, öde, im strengen Frost; ein Winter, in dem alles erstarb und der kein Wiedererwachen kannte. Sollte das Bild die Ernte symbolisieren, so war es eine Ernte künstlicher Früchte. »Es überläßt doch recht viel der Phantasie, nicht?« sagte Ada Spelvexit, die sich aus der Reichweite von Lady Carolines scharfer Zunge fortgestohlen hatte. »Jedenfalls kann man sagen, wer damit gemeint ist«, sagte Serena Golackly. »O ja, es ist ein gelungenes Abbild unserer lieben Francesca«, gab Ada zu, »natürlich ist es geschmeichelt.« »Auch das ist ein Fehler der Portraitmalerei, der eher zu ihren Gunsten zählt«, sagte Serena. »Schließlich, wenn einen die Nachwelt in kommenden Jahrhunderten betrachten wird, ist es nur freundlich und vernünftig, daß man um eine Spur besser aussieht als in seiner Glanzzeit.« »Wie merkwürdig unausgeglichen der Stil des Künstlers ist!« fuhr Ada fort, als hegte sie persönlichen Groll gegen ihn. »Ich stellte gerade fest, daß es seinen meisten Portraits an Seele mangelt. Die liebe Winifred, die, wie Sie ja wissen, so schön und einfühlsam bei meinen Versammlungen für alte Frauen spricht, läßt er geradezu wie ein gewöhnliches blondes Milchmädchen aussehen; und Francesca, die wirklich die herzloseste Frau ist, die ich je kennengelernt habe, der hat er reichlich viel . . .«
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»Pst!« sagte Serena. »Der junge Bassington ist genau hinter Ihnen.« Comus stand da und betrachtete das Portrait seiner Mutter mit dem Gefühl, als begegnete er ganz unerwartet in unvertrauter Umgebung einer einst vertrauten, halbvergessenen Bekannten. Sie war zweifellos gut getroffen, aber der Künstler hatte einen Ausdruck in Francescas Augen eingefangen, den wenige je gesehen hatten. Den Ausdruck einer Frau, die für einen kurzen Augenblick vergessen hat, sich von den Kümmernissen und Aufregungen ihres Lebens in Anspruch nehmen zu lassen, von den Geldsorgen und kleinen Gesellschaftsintrigen, und Zeit gefunden hat, irgendeinem anwesenden Gleichgestimmten einen Blick halbwehmütiger Freundlichkeit zu schenken. Comus konnte sich an diesen Ausdruck im Blick seiner Mutter, immer unvermutet und flüchtig, erinnern, als sie einige Jahre jünger war, bevor ihre Welt zu einer solchen Bewilligungsausschuß stelle für Mittel und Wege geworden war. Er entsann sich, fast war es eine Wiederentdeckung, daß sie einst seinem jungenhaften Geist als ›ganz famos‹ gegolten hatte, eher geneigt, bei einem Unfug das Komische zu sehen, als sich im Tadeln zu ergehen. Daß das Gefühl der Kameradschaft, zerstört, der Vergangenheit angehörte, war, wie er wußte, wahrscheinlich zum großen Teil sein Werk. Aber es war möglich, daß sich die alte Freundlichkeit noch unter der Oberfläche regte, bereit, sich erneut zu zeigen, wenn er es wollte, denn heutzutage machten sich die Freunde rarer als die Feinde. Angesichts des Bildes mit seinem wehmütigen Hinweis auf eine längst vergangene Kameradschaft verstand Comus, daß er sich von Herzen danach sehnte, die Verhältnisse in ihren früheren Stand zurückzuversetzen und auf dem Gesicht seiner Mutter wieder den Ausdruck zu sehen, den der Künstler eingefangen und in
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seinem Vorüberhuschen für immer festgehalten hatte. Käme die geplante Hochzeit mit Elaine zustande - und trotz seines ungeschickten Verhaltens neulich war er sich dessen sicher -, dann würden sich viele unmittelbare Anlässe für die Entfremdung zwischen ihm und seiner Mutter erledigen, zumindest leichter erledigen. Gestützt auf Elaines Geld, so versprach er sich, würde er eine Beschäftigung suchen, die ihn vom Vorwurf befreite, ein Verschwender und Müßiggänger zu sein. Eine Menge Karrieren, sagte er sich, standen einem Mann mit solidem finanziellem Hintergrund und guten Beziehungen offen. Vielleicht kamen noch frohe Zeiten, in denen seine Mutter ihren hübschen Anteil haben würde an allem Guten, was sich tat, und der ewig besorgte Henry Greech mit seinen dünnen Lippen und andere von Comus' Verleumdern könnten sich mit ihren sauertöpfischen Mienen und ihrem Gerede außer Sicht- und Hörweite begeben. So schmiedete Comus seine Pläne, während er auf das Bild starrte, als studierte er es in jeder Einzelheit, und eigentlich nur jenes wehmütig freundliche Lächeln wahrnahm, und er traf seine Vorkehrungen für einen Kampf, der bereits gefochten und verloren war. Die Menge in der Galerie wurde immer dichter und duldete fröhlich dieses Gedränge, das sie in einem Zugabteil äußerst übelgenommen hätte. Nahe am Eingang unterhielt sich Mervyn Quentock gerade mit Ihrer Durchlaucht, einer Dame, die ein Leben von eindringlicher Nützlichkeit führte, das ihr weitgehend durch ihre gutmütige Unfähigkeit, ›nein‹ zu sagen, auferlegt wurde. »Diese Frau erzeugt mit der Zahl von Basaren, die sie ständig eröffnet, einen regelrechten Luftzug«, hatte einmal ein lästerzüngiger Ex-Kabinettsminister bemerkt. Im Augenblick gab sie sich launig zerknirscht. »Wenn ich an die Legionen gutmeinender junger
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Männer und Frauen denke, denen ich Preise verliehen habe für ihre Leistung in einem Akademiekurs, habe ich das Gefühl, ich sollte mich in einer Gemäldegalerie nicht mehr blicken lassen. Ich stelle mir immer vor, daß meine Strafe im Jenseits ewiges Bleistiftanspitzen und Palettensäubern für eine nicht endenwollende Staffel irregeführter junger Leute sein wird, die ich willentlich in ihrem künstlerischen Wahn ermutigt habe.« »Glauben Sie, Durchlaucht, daß wir alle im Jenseits die angemessenen Strafen für unsere Sünden im Diesseits bekommen werden?« fragte Quentock. »Nicht so sehr für unsere Sünden als für unsere Unbesonnenheiten ; sie sind ja die Ursache schlimmster Schäden und größter Schwierigkeiten. Ich bin mir sicher, daß Christoph Kolumbus die unablässige Marter erdulden muß, von Gruppen amerikanischer Touristen entdeckt zu werden. Sie sehen, ich bin in meinen Vorstellungen über die Schrecken und Unannehmlichkeiten der zukünftigen Welt recht altmodisch. Und jetzt muß ich davoneilen; ich muß irgendwo eine Volksbücherei einweihen. Sie wissen )a, was da so passiert - man enthüllt die Büste von Carlyle und hält eine Rede über Ruskin, und dann kommen die Leute zu Tausenden und lesen Rasender Rudolph oder Ob er sie gehissen hat f Bitte vergessen Sie nicht, ich will das Medaillon mit dem fetten Cupido haben, der auf der Sonnenuhr sitzt. Und noch eins - vielleicht sollte ich Sie nicht darum angehen, aber Sie haben so liebe, freundliche Augen, Sie ermutigen einen, die kühnsten Bitten vorzutragen: Würden Sie mir das Rezept für jene köstlichen Sandwiches mit Kastanie und Hühnerleber zuschicken? Ich kenne natürlich die Zutaten, aber es kommt gerade auf die richtige Mischung an - wieviel Leber zu wieviel Kastanie, und welche Menge von rotem Pfeffer und sonstigem. Vielen herzlichen Dank. Ich muß jetzt wirklich gehen.«
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Mit unbestimmtem leichtem Lächeln auf alle in Grußnähe blickend, hatte Ihre Hoheit den für sie typischen Abgang, von dem Lady Caroline behauptete, er lasse sie immer an ein Rührei denken, das von einer Toastscheibe abgleitet. Am Eingang blieb sie einen Augenblick stehen, um einige Worte mit einem jungen Mann zu wechseln, der gerade erschienen war. Aus einer Ecke, wo er zeitweilig von einer Gruppe teetrinkender vornehmer Witwen eingeklemmt war, erkannte Comus im Neuankömmling Courtenay Youghal und begann sich langsam seinen Weg zu ihm zu bahnen. Youghal war zwar im Moment nicht die Person, nach deren Gesellschaft ihn am meisten gelüstete, zumindest aber bestand die Möglichkeit, daß sich mit seiner Hilfe ein Bndgespiel arrangieren ließ, was zur Zeit sein dringlichster Wunsch war. Der junge Politiker war bereits von einem Freundes- und Bekanntenkreis umringt, und ganz offensichtlich galt das Salvenfeuer von Glückwünschen ihm - vermutlich, so folgerte Comus, wegen seiner letzten Auftritte in der Außenpolitikdebatte. Aber anscheinend verkündete Youghal selbst das Ereignis, dem die Gratulationen folgten. War die Regierung von irgendeiner dramatischen Katastrophe heimgesucht worden? fragte sich Comus. Und dann, als er vorwärtsdrängte, verrieten ihm ein aufgeschnapptes Wort, die Verbindung zweier Namen die Nachricht.
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Elftes Kapitel Nach dem folgenschweren Mittagessen im Corridor Restaurant war Elaine, innerlich von widersprüchlichsten Empfindungen zerrissen, zum Manchester Square zurückgegangen, wo sie bei einer ihrer zahlreichen Tanten wohnte. Vor allem fühlte sie sich erleichtert. In einem ungestümen Augenblick, wenn auch ein wenig verstimmt, hatte sie ein Problem gelöst, dem ihr stundenlanges Grübeln und ihre ernste Sinneserforschung nicht hatten zu Leibe rücken können. Und wenn sie auch ein klein wenig erschrocken war über die überstürzte Art und Weise, so zweifelte sie jetzt kaum noch daran, daß ihre endgültige Entscheidung richtig war. Tatsächlich staunte sie inzwischen darüber, daß sie so lange hatte zweifeln können, welcher ihrer Bewerber wirklich ihren aufrichtigen Beifall fand. Sie war in diesen vielen vergangenen Wochen in einen imaginären Comus verliebt gewesen, aber jetzt, da sie für immer ihr Traumland verlassen hatte, sah sie, daß beinahe alle Eigenschaften, die für ihn eingenommen hatten, dem realen Comus fehlten oder nur sporadisch bei ihm anzutreffen waren. Und nun, da sie Youghal die erste Stelle in ihrer Zuneigung angewiesen hatte, hatte dieser auch sogleich in ihren Augen einige der ihrer Meinung nach wichtigsten Eigenschaften erworben. Wie der sprichwörtliche Käufer besaß sie die glückliche weibliche Neigung, den Wert ihres Besitzes zu erhöhen, sobald sie ihn erworben hatte. Und Courtenay Youghal gab Elaine durchaus das berechtigte Gefühl, weise gewählt zu haben. So egoistisch und zynisch, wie er auch zuweilen erscheinen mochte, er war doch vor allem unfehlbar liebenswürdig und rücksichtsvoll ihr gegenüber. Was für sie stets großes Gewicht bei der Beurteilung eines Mannes gehabt hätte, gewann in
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diesem Fall durch den Vergleich mit dem Benehmen des anderen Bewerbers erheblich an Bedeutung. Und Youghal zeichnete sich in ihren Augen noch durch den Ruhmesglanz aus, den der Kampf, selbst der Kampf mit Worten und Intrigen, dem Kämpfenden verleiht. Er stand in vorderster Reihe eines Kampfes; wie sorgfältig inszeniert, wie triefend von persönlicher Heuchelei und berechnet nach außen hin das Pseudopathos auch sein mochten, der Kampf war tatsächlich von Bedeutung, zählte für Wohl und Wehe der Nation und für die Weltgeschichte. Gewiefte parlamentarische Beobachter hätten sie warnen können, daß Youghal es in der politischen Welt nie viel höher als zum gegenwärtigen Zeitpunkt bringen würde: als brillanter Unabhängiger in der Opposition, der lebhafte und ziemlich folgenlose Attacken gegen die fade und ziemlich planlose Außenpolitik einer Regierung ritt, die man für ihre Durchführung der auswärtigen Angelegenheiten kaum recht verantwortlich machen noch beglückwünschen konnte. Der junge Politiker besaß weder die Stärke des Charakters noch die der Überzeugungen, die einen Menschen wie selbstverständlich an vorderster Front des Geschehens hält und seine Ratschläge so überaus wertvoll macht; andererseits ging seine Heuchelei nicht tief genug, als daß er sich geschickt und erfolgreich als Führer der Menschheit und Gestalter der Zeiten aufspielen durfte. Im Augenblick jedoch war seine Stellung im öffentlichen Leben genügend herausgehoben, um ihm eine sichere Basis in jener Welt zu geben, wo die Menschen noch als einzelne und nicht als Herde zählten. Die Frau, die er heiratete, würde gleichfalls die Möglichkeit haben, wenn sie den Willen besaß und das Geschick, als Einzelperson zu zählen. Diese Überlegung war Balsam für Elaine, doch ver-
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mochte sie nicht ganz das Gefühl der Kränkung zu vertreiben, das Comus mit seiner geringschätzigen Auffassung von ihr als praktischer Bargeldquelle für Notlagen hervorgerufen hatte. Es befriedigte sie ein wenig, ihrem Versprechen vom Vormittag dieses ereignisreichen Tages gewissenhaft nachzukommen, und sie schickte per Boten das vereinbarte Darlehen. Die Reue folgte als Gegenreaktion auf dem Fuße, und sie ermahnte sich, ihrem abgewiesenen Bewerber wenigstens aus Fairneß so freundlich wie möglich die Nachricht schriftlich mitzuteilen, bevor sie von anderer Seite auf ihn niederprasselte. Gewiß, sie waren mehr oder weniger im Streit geschieden, aber keiner hatte die Endgültigkeit, den Bruch für alle Zeit zwischen ihnen vorausgesehen; Comus könnte selbst jetzt noch glauben, ihm sei halbwegs vergeben, und das Erwachen würde sehr grausam sein. Das Schreiben dieses Briefes jedoch gestaltete sich keineswegs einfach; nicht nur zeigten sich Schwierigkeiten eigener Art, es krankte auch an dem immer stärkeren Wunsch, etwas viel Angenehmeres zu tun, als erklärende Abschiedssätze zu formulieren. Elaine wurde von dem ungewöhnlichen, aber unwiderstehlichen Verlangen gepackt, ihre Cousine Suzette Brankley zu besuchen. Sie trafen sich nur selten im jeweiligen Zuhause und noch seltener woanders, und Elaine ihrerseits hatte nie das Gefühl gehabt, als seien die Gelegenheiten für ihren Umgang in numerischer Hinsicht unzulänglich. Suzette zeigte ihr gegenüber genau die leicht gönnerhafte Art, deren sich ein mäßig wohlhabendes und unmäßig langweiliges Mädchen gewöhnlich einer Bekannten gegenüber zu befleißigen sucht, die als reich gilt und im Verdacht steht, Köpfchen zu haben. Elaine ihrerseits wappnete sich mit jener speziellen Scheinbescheidenheit, die so furchtbar irritierend sein kann, wenn sie richtig ausgespielt wird. Kein nennenswerter Streit
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stand zwischen ihnen, und man hätte sie eigentlich nicht als Feindinnen bezeichnen können, nur legten sie in Gegenwart der jeweils anderen nie die Waffen ab. Geschähe einer von ihnen ein wirkliches Unglück, so würde es die andere aufrichtig bedauern; irgendein kleineres Mißgeschick hätte hingegen fast so etwas wie ein Gefühl der Befriedigung ausgelöst. Die menschliche Natur kennt Millionen dieser irrationalen kleinen Fehden, die entstehen und gedeihen, ohne sich auf irgendwelche rassischen, politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Ursachen zu stützen, als Hinweis vielleicht für eingefleischte, blindgläubige Altruisten, daß Feindschaft genauso ihren Platz und ihren Zweck in der Welt hat wie Güte. Elaine hatte Suzette nicht persönlich beglückwünscht zu der offiziellen Bekanntmachung ihrer Verlobung mit dem jungen Mann, dessen bizarre Kleidung nicht dem Üblichen entsprach. Der Drang, auf der Stelle aufzubrechen, bezwang ihr Pflichtbewußtsein, daß sie Comus eine Erklärung schuldete. Der Brief befand sich noch im blanken Stadium des Ungeschnebensems, eine ungeordnete Folge von Sätzen, die sich in ihrem Kopf formte, als sie den Wagen bestellte und sich rasch, aber wohlüberlegt umzog und in ihr kostbarstes schlichtes Nachmittagskleid schlüpfte. Suzette, dessen war sie sich einigermaßen sicher, würde noch das Kostüm vom Vormittag im Park tragen, ein Kostüm, das auf sorgfältige Ausarbeitung im Detail zielte und darin zu übermäßigem Erfolg verdammt war. Suzettes Mutter begrüßte ihre unerwartete Besucherin mit deutlicher Genugtuung. Die Verlobung ihrer Tochter, erklärte sie, sei vom gesellschaftlichen Standpunkt aus nicht so glänzend, wie es einem Mädchen von Suzettes Reizen und Vorzügen berechtigterweise zugestanden hätte, aber Egbert sei ein durch und durch lobenswerter
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und zuverlässiger junger Mann, der in Kürze höchstwahrscheinlich zum Mitglied im Grafschaftsrat aufsteigen würde. »Von dort stünde ihm natürlich der Weg zu Höherem offen.« »Ja«, sagte Elaine, »er könnte Stadtrat werden.« »Hast du ihr gemeinsames Photo schon gesehen?« fragte Mrs. Brankley und ließ das Thema von Egberts voraussichtlicher Karriere fallen. »Nein; bitte, zeig es mir«, sagte Elaine und bekundete ein schmeichelhaftes Interesse. »Ich habe dergleichen noch nie gesehen. War es nicht einmal Mode für verlobte Paare, sich gemeinsam aufnehmen zu lassen?« »Es ist gerade jetzt hochmodern«, sagte Mrs. Brankley mit Nachdruck, aber die Zufriedenheit in ihrer Stimme hatte spürbar nachgelassen. Suzette betrat das Zimmer in dem Kostüm, das sie am Vormittag im Park getragen hatte. »Natürlich hast du bereits alles von Mutter über die Verlobung gehört«, rief sie aus und begann dann gewissenhaft das Thema von neuem zu beackern. »Weißt du, wir sind uns in Grindelwald begegnet. Er nennt mich immer seine Eisjungfer, weil wir uns auf der Schlittschuhbahn kennengelernt haben. Richtig romantisch, nicht? Wir haben ihn dann einmal zum Tee eingeladen und sind uns danach immer vertrauter geworden. Dann hat er mir einen Heiratsantrag gemacht.« »Er war nicht als einziger von Suzette hingerissen«, beeilte sich Mrs. Brankley einzuwerfen, damit Elaine nicht glauben sollte, Suzette sei Egbert einfach in den Schoß gefallen. »Es gab da einen amerikanischen Millionär, der war sehr angetan von ihr, und einen polnischen Grafen aus einer uralten Familie. Ich kann dir versichern, bei einigen unserer Teegesellschaften habe ich Ängste ausgestanden.«
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Durch Mrs. Brankley hatte Grindelwald für den großen Kreis ihrer nicht weitgereisten Freundinnen einen sinistren, wenn auch verlockenden Ruf bekommen als ein Ort, wo die Anmaßung von Geburt und Reichtum eben noch in Schranken gehalten werden konnte, um nicht in rüdeste Szenen auszuarten. »Meine Heirat mit Egbert wird natürlich meinen Lebensbereich ungemein erweitern«, kam Suzette wieder auf ihr Thema zurück. »Ja«, sagte Elaine, wobei ihre Augen skrupellos die Einzelheiten der Toilette ihrer Cousine registrierten. Es heißt, nichts ist trauriger als der Sieg, außer der Niederlage. Suzette spürte auf einmal, daß das Tragische von beidem sich in ihrem neuen Stand konzentrierte, der ihr so ungetrübte Genugtuung verschafft hatte, bis Elaine ihren Auftritt hatte. »Eine Frau kann einem Mann, der eine Karriere anstrebt, gesellschaftlich immens nützlich sein. Und ich bin so froh, daß wir eine Menge gemeinsamer Vorstellungen haben. Jeder von uns hat eine Liste aufgestellt mit den, unserer Meinung nach, hundert besten Büchern, und eine große Zahl davon war identisch.« »Er sieht wie ein Büchermensch aus«, sagte Elaine mit kritischem Blick auf das Photo. »Oh, er ist überhaupt kein Bücherwurm«, sagte Suzette schnell, »auch wenn er furchtbar belesen ist. Er ist ein Mann der Tat.« »Geht er auf die Jagd?« fragte Elaine. »Nein, zum Reiten hat er nicht viel Zeit und Gelegenheit.« »Jammerschade!« kommentierte Elaine. »Ich glaube nicht, daß ich einen Mann heiraten könnte, der nicht gern reitet.« »Das ist selbstverständlich eine Frage des Ge-
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schmacks«, sagte Suzette steif. »Pferdenarren sind normalerweise nicht mit allzuviel Hirn ausgestattet, oder?« »Der Unterschied zwischen einem Pferdekenner und einem Pferdenarren ist genauso groß wie der zwischen einem gutangezogenen Herrn und einem herausgeputzten«, sagte Elaine sentenziös, »und du hast vielleicht bemerkt, wie selten eine herausgeputzte Frau es wirklich versteht, sich zu kleiden. Wie eine alte Dame aus meiner Bekanntschaft neulich geäußert hat: Einige Leute haben ein angeborenes Gefühl dafür, sich zu kleiden, andere lernen es, andere sehen aus, als wären ihnen die Kleider wahllos übergeworfen worden.« Sie bedachte Lady Caroline mit den ihr zustehenden Anführungszeichen, das spontane Zartgefühl aber, mit dem sie vom Kleid ihrer Cousine wegblickte, war ganz allein ihr Einfall. Ein junger Mann, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat, bot Suzette eine höchst willkommene Ablenkung. »Hier kommt Egbert«, verkündete sie mit der Miene unterdrückten Triumphes; zumindest war es eine Befriedigung, den Gefangenen ihrer Reize lebendig und in guter Verfassung vorführen zu können. Elaine mochte so krittelig sein, wie ihr beliebte, ein leibhaftiger Liebhaber stach alle gutangezogenen, in bester Haltung reitenden Kavaliere aus, die nur als ferner Traum von einem ParadeEhemann existierten. Egbert war einer dieser Männer, die mit kleinen Plaudereien nicht dienen können, dafür aber über einen unerschöpflichen Vorrat an gewichtigeren Themen verfügen. In welcher Gesellschaft auch immer er sich befand, besonders in unmittelbarer Nähe eines Nachmittagsteetisches mit einer begrenzten Zuhörerschaft weiblichen Geschlechts: er machte überall den Eindruck, als hielte er
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eine öffentliche Ansprache und wäre glücklich, etwaige Fragen anschließend zu beantworten. Ein Dunst von gaslichterhellten Missionssälen, nassen Regenschirmen und maßvollem Beifall schien ihn überallhin zu begleiten. Er war unter anderem ein Verfechter des Neuen Denkens, wie er es nannte, das sich anscheinend bestens für den häufigen Gebrauch ziemlich abgestandener Phrasen eignete. Wahrscheinlich war er im Laufe seines rund dreißigjährigen Lebens nie von bemerkenswertem Nutzen für Mann, Frau, Kind oder Tier gewesen, aber es war seine mit Festigkeit verkündete Absicht, die Welt in besserem, glücklicherem und edlerem Zustand zu hinterlassen, als er sie vorgefunden hatte. Vorkehrungen zu treffen gegen die Gefahr eines Rückfalls in frühere Verhältnisse, sollte er die Bühne verlassen müssen, stand natürlich außerhalb seiner Macht. Sterblich ist, was Sterbliche haben, und Egbert war zugegebenermaßen sterblich. Elaine fand ihn ungewöhnlich unterhaltsam und hätte sich gewiß bemüht, ihn zum Reden zu verlocken, wäre solch eine Maßnahme überhaupt notwendig gewesen. Sie lauschte seinem Gespräch mit der gefälligen Anerkennung, die man einer Tragödie im Theater zollt, deren Jammer und Elend man sich jederzeit durch das einfache Verfahren des Sich-vom-Sitz-Erhebens entziehen kann. Als er schließlich den Fluß semer Äußerungen anhielt, indem er hastig seine Uhr befragte und erklärte, er müsse woanders hin, erwartete Elaine fast, gleich würden ihm Dankesbezeugungen dargebracht oder man fordere sie dazu auf, durch Handheben für irgendeine Resolution zu stimmen. Nachdem der junge Mann sich mit raschem, geschäftigem Gruß von der Gesellschaft verabschiedet hatte, von Suzette mit dem genau dosierten Maß an zärtlicher Vertrautheit, die aus Schicklichkeit weder zu gering noch übertrieben ausfallen durfte, wandte Elaine sich ihrer
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erwartungsvollen Cousine mit der Miene aufrichtiger Beglückwünschung zu. »Er ist genau der Ehemann, Suzette, den ich für dich gewählt hätte.« Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag fühlte Suzette, wie ihre Begeisterung für eines ihrer Besitztümer dahinschwand. Mrs. Brankley spürte den ironischen Ton des Glückwunsches im Urteilsspruch ihrer Besucherin. ›Vermutlich meint sie, er entspricht nicht ihrer Vorstellung eines Ehemannes, aber er ist gut genug für Suzette‹, sagte sie sich mit einem Nüsternschnauben, das rein innerlich blieb. Danach holte sie lächelnd und mächtig gönnerhaft zu ihrer Idee eines vernichtenden Gegenschlags aus. »Und wann, meine Liebe, werden wir von deiner Verlobung hören?« »Jetzt«, sagte Elaine ruhig, doch mit elektrisierender Wirkung. »Ich bin hergekommen, um es euch mitzuteilen, aber ich wollte zuerst alles über Suzette erfahren. In einigen Tagen wird es offiziell in den Zeitungen stehen.« »Wer ist es denn? Ist es der junge Mann, mit dem du heute morgen im Park zusammenwarst?« fragte Suzette. »Laß mich nachdenken, mit wem ich heute morgen im Park war. Ein sehr gut aussehender, schwarzhaariger Junge? O nein, nicht Comus Bassington. Jemand, den ihr jedenfalls vom Namen her kennt und dessen Photo ihr vermutlich in den Zeitungen gesehen habt.« »Ein Flieger?« fragte Mrs. Brankley. »Courtenay Youghal«, sagte Elaine. Mrs. Brankley und Suzette hatten jeder für sich oft im Geiste die Szene durchgespielt, wie Elaine käme, um ihrer verlobten Cousine persönlich zu gratulieren. Nie hatte es sich so abgespielt wie jetzt.
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Bei der Rückkehr von ihrem genußvollen Nachmittagsbesuch fand Elaine einen Eilbrief vor. Er war von Comus, der ihr für das Darlehen dankte - und es zurückgab. ›Vermutlich hätte ich Sie niemals darum bitten sollen‹, schrieb er, ›aber Sie sind immer so herrlich ernst bei Gelddingen, daß ich nicht widerstehen konnte. Habe gerade die Nachricht von Ihrer Verlobung mit Courtenay gehört. Gratuliere Ihnen beiden. Ich bin viel zu abgebrannt, um Ihnen ein Hochzeitsgeschenk kaufen zu können, ich gebe Ihnen statt dessen das Brotkörbchen zurück. Glücklicherweise ist noch Ihr Wappen darauf. Ich mag die Vorstellung sehr, daß Sie und Courtenay für den Rest des Lebens Schnittchen daraus essen werden.‹ Das war alles, was er zu der Angelegenheit zu sagen hatte, über die Elaine willens gewesen war, einen langen und freundschaftlichen Brief zu schreiben, um damit ein gewichtiges Kapitel in ihrem und seinem Leben zu beenden. Es gab nicht die Spur eines Bedauerns oder Vorwurfs in seinem Brief; er hatte sich aus ihrem gemeinsamen Zauberland so eilends entfernt wie sie auch, und allem Anschein nach weit unbekümmerter. Das Geschriebene immer wieder von neuem lesend, konnte Elaine zu keinem Schluß kommen, ob es sich hierbei um die tapfere Verspottung einer Niederlage handelte oder ob es zeigte, wie Comus die Sache wirklich einschätzte, die er verloren hatte. Und sie würde es nie erfahren. Wenn Comus ein unnützes Talent in Vollkommenheit besaß, dann war es die Begabung, über das Schicksal zu lachen, selbst wenn es ihn mit größter Härte geschlagen hatte. Eines Tages vielleicht verstummten Spott und Gelächter auf seinen Lippen, und das Schicksal hätte den Vorteil, zuletzt zu lachen.
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Zwölftes Kapitel Eine Tür schloß sich, und Francesca saß allein in ihrem vielgeliebten Salon. Der Besucher, der die Gastlichkeit ihres Nachmittagstees genossen hatte, hatte sich soeben verabschiedet. Das Tete-á-tete war kein angenehmes gewesen, jedenfalls nicht für Francesca, zumindest aber hatte es ihr die Information gebracht, hinter der sie hergewesen war. Ihre Rolle als Zuschauerin aus diskreter Distanz hatte sie über den Ausgang des so bedeutsamen Freiens zwangsläufig etwas im dunkeln gelassen; während der letzten Stunden aber hatte sie, gestützt auf geringe, jedoch ungemein sprechende Anhaltspunkte, ihre angenehme Hoffnung gegen die Überzeugung getauscht, daß etwas schiefgelaufen war. Sie hatte den Abend zuvor im Hause ihres Bruders verbracht und Comus an diesem seinen Geist und seine Stimmung nicht eben beflügelnden Ort natürlich nicht zu Gesicht bekommen; auch am nächsten Morgen hatte er sich nicht am Frühstückstisch blicken lassen. Sie war ihm um elf in der Diele begegnet, er war an ihr vorbeigeeilt und hatte bloß mitgeteilt, daß er erst zum Abendessen zurück sein werde. Er sprach im düstersten Ton, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Niederlage, schwach kaschiert durch die trotzige Miene; es war nicht der Trotz eines Mannes, der im Begriff steht zu verlieren, sondern eines Mannes, der bereits verloren hat. Francescas Überzeugung, daß die Angelegenheit zwischen Comus und Elaine de Frey schiefgelaufen war, wurde, je weiter der Tag vorrückte, immer stärker. Sie lunchte bei Freunden, doch spezielle Gesellschaftsnachrichten von Belang ließen sich dort wohl nicht frühzeitig ergattern. Statt der begehrten Neuigkeiten mußte sie sich läppischen Klatsch und Mutmaßungen über Flirtereien und
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›Fälle‹ und ›Affären‹ von Bekannten anhören, deren Heiratsprojekte sie etwa so brennend interessierten wie der Nestbau der Wildenten im St. James' Park. »Natürlich«, sagte ihre Gastgeberin mit dem gebührenden Nachdruck eines privilegierten Chronisten, »haben wir immer Ciaire als diejenige von der Familie betrachtet, die heiratet; als dann Emily uns mitteilte, ›ich habe eine Nachricht für euch‹, haben wir alle gesagt, ›Claire hat sich verlobt !‹ ›Nein‹, sagte Emily darauf, ›nicht Ciaire dieses Mal, sondern ich.‹ Dann mußten wir raten, wer der Glückliche ist. ›Es kann nicht Captain Parminter sein‹, haben wir alle gesagt, ›weil der immer hinter Joan her war.‹ Und dann hat Emily gesagt . . .« Die protokollierende Stimme rasselte den Katalog von albernen Bemerkungen mit einer beharrlich schnurrenden Zufriedenheit herunter, die zu keinerlei Hoffnung auf einen baldigen Themenwechsel berechtigte. Francesca saß da und fragte sich, warum sie für die arglose Annahme von einem Rippenstück und einem Glas mittelmäßigem Ciaret so unbarmherzig gestraft werden mußte. Der anschließende Spaziergang durch den Park nach Hause brachte auch keinen weiteren Aufschluß über das, was ihr so auf den Nägeln brannte; schlimmer noch, er brachte sie ohne Fluchtmöglichkeit in Rufweite von Merla Blathmgton, die sich mit der Begeisterung einer einsamen Tsetsefliege, die einen Vorposten der Zivilisation erspäht hat, an sie heftete. »Denken Sie doch nur«, summte sie zusammenhanglos, »meine Schwester in Cambridgeshire hat dreiunddreißig weiße Orpington-Küken in ihrem Brutkasten ausgebrütet!« »Was für Eier hat sie denn hineingelegt?« fragte Francesca. »Eine ganz besondere Sorte weiße Orpington.«
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»Dann allerdings sehe ich nichts Verwunderliches an dem Ergebnis. Hätte sie Krokodileier hineingelegt und weiße Orpingtons ausgebrütet, wäre das etwas gewesen, was man dem Country Life hätte mitteilen können.« »Was sind das für faszinierende Gegenstände, diese kleinen grünen Parkstühle«, stürzte Merla sich auf ein neues Thema. »Sie sehen immer so merkwürdig und wissend aus, wenn sie so paarweise abseits unter den Bäumen stehen, als hätten sie eine offene Aussprache oder unterhielten sich gerade über eine sehr intime Skandalgeschichte. Wenn sie doch nur reden könnten, was für Tragödien und Komödien könnten sie uns erzählen, von was für Liebeleien und Heiratsanträgen!« »Seien wir aufrichtig dankbar, daß sie es nicht können«, sagte Francesca, die sich mit Schaudern an die Unterhaltung vom Mittagstisch erinnerte. »Natürlich würde man sehr vorsichtig werden, in dem, was man angesichts ihrer sagen würde - vielmehr angesäß ihrer«, plapperte Merla weiter, und dann, zu Francescas unsagbarer Erleichterung, erspähte sie eine andere Bekannte, die in ungeschützter Einsamkeit dasaß und eine weit ausdauerndere Zuhörerin zu sein versprach als ihre augenblickliche, schnell dahinschreitende Begleiterin. Francesca war frei, zu ihrem Salon in der Blue Street zurückzukehren, um mit der ihr möglichen Geduld das Kommen eines Besuches zu erwarten, der vielleicht in der Lage wäre, Licht auf eine Sache zu werfen, die sie verwirrte und beunruhigte. Die Ankunft von George St. Joseph ließ schlechte Nachrichten ahnen, aber immerhin Nachrichten, und sie begrüßte ihn fast herzlich. »Nun, wie Sie sehen, lag ich gar nicht so falsch mit Miss de Frey und Courtenay Youghal, nicht?« zirpte er los, noch bevor er sich hingesetzt hatte. Francesca sollte jedweder weiter andauernde Zustand der Ungewißheit
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erspart bleiben. »Jetzt ist es offiziell bekanntgegeben«, fuhr er fort, »und morgen soll es in der Morning Post erscheinen. Ich habe es heute in der Früh von Oberst Deel erfahren, und er hat es direkt von Youghal selbst. Ja, bitte ein Stückchen; ich gehe, wie Sie wissen, nicht mit der Mode.« Er hatte diese Bemerkung über den Zucker seit mindestens dreißig Jahren mit treuer Regelmäßigkeit gemacht. Moden in Zucker sind offensichtlich beständig. »Wie es heißt«, redete er hastig weiter, »hat er ihr den Antrag auf der Parlamentsterrasse gemacht, und die Klingel zur Abstimmung ertönte, und er mußte davoneilen, bevor sie Zeit fand, ihm ihre Antwort zu geben, und als er dann zurückkam, sagte sie schlicht und einfach: ›Der Antrag ist angenommen^« St. Joseph hielt in seinem Bericht inne, um ein anerkennendes Kichern von sich zu geben. »Genau die Art von albernem Geschwätz, das gewöhnlich die Runde macht«, bemerkte Francesca mit Genugtuung, sich bewußt, daß ihre Kritik unmittelbar beim Urheber selbst, dem Erfinder besagten albernen Geschwätzes, landete. Jetzt, da der Schicksalsschlag sie ereilt hatte und sie das volle Ausmaß kannte, empfand sie gegen den Überbringer der schlechten Nachricht, der so selbstzufrieden dasaß und ihren Teekuchen knabberte und Krumen ermüdenden Geplauders zu ihren Füßen verstreute, nichts als aufrichtigen Widerwillen. Für die Neigung orientalischer Despoten, die Überbringer von Hiobsbotschaften mit dem Tode zu belegen oder schmählichst zu bestrafen, empfand sie Sympathie, sie konnte sie zumindest verstehen, und St. Joseph wußte so genau wie sie selbst, daß sich ihre Hoffnungen und Wünsche auf die Möglichkeit konzentriert hatten, Elaine zur Schwiegertochter zu bekommen; jede hingeschnurrte Äußerung, die zur Unterhaltung beizusteuern ihn seine gemeine
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kleine Seele drängte, hatte einen leicht erkennbaren boshaften Unterton. Zum Glück für ihre Fähigkeit höflichen Ertragens, die an diesem Tag schon wiederholt auf solch harte Probe gestellt worden war, hatte St. Joseph sich einen kleinen geschäftigen Zeitplan mit Nachmittagsbesuchen ausgearbeitet, bei denen er jeweils seine selbstauferlegte Aufgabe, den Pressemitteilungen über die Youghal-de Frey-Verlobung zuvorzukommen und sie auszuschmücken, eilig, doch sorgfältig erledigen würde. »Sie werden bestimmt eines der bestaussehenden und interessantesten Paare der Saison sein, nicht wahr?« rief er schon beim Abschiednehmen aus. Die Tür schloß sich, und Francesca saß allein in ihrem Salon. Bevor sie sich dem bitteren Luxus, über das Zerschlagen ihrer Hoffnungen nachzugrübeln, hingeben konnte, ergriffe sie klugerweise Vorsichtsmaßnahmen gegen unwillkommene Störenfriede. Nachdem sie das Mädchen zu sich gerufen hatte, das gerade St. Joseph verabschiedet hatte, gab sie die Anweisung: »Ich bin für Lady Caroline Benaresq heute nachmittag nicht zu sprechen.« Bei nochmaliger Überlegung weitete sie die Achtung auf alle etwaigen Besucher aus und hinterließ eine telephonische Nachricht für Comus in dessen Club, er möge sobald er könne, noch bevor es Zeit zum Umkleiden fürs Abendessen sei, zu ihr kommen. Dann setzte sie sich hin, um nachzudenken, und ihrem Nachdenken war die Erleichterung durch Tränen nicht vergönnt. Sie hatte sich ein Schloß aus Hoffnungen gebaut, und es war kein Luftschloß gewesen, sondern ein Gebäude durchaus im Rahmen des Möglichen. Es hatte ein solides Fundament gegeben. Miss de Freys Vermögen war unzweifelhaft und frei verfügbar, ihre Zuneigung für Comus war offenkundig gewesen; sein Werben um sie
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ernstzunehmende Wirklichkeit. Die jungen Leute hatten sich viel zusammen in der Öffentlichkeit gezeigt, und ihre Namen waren wie selbstverständlich in den zirkulierenden Heiratsspekulationen in Verbindung gebracht worden. Der einzige ernste Schatten, der sich über die Szene gelegt hatte, war die ständige Anwesenheit von Courtenay Youghal im Vorder- und Hintergrund gewesen. Und jetzt mit einem Mal wurde der Schatten zur Realität, und das Schloß aus Hoffnungen war bloß noch eine Ruine, eine häßliche Demütigung aus Staub und Trümmern, mit dem noch immer sichtbaren Rohbau seiner Zimmer, um den in seinen Plänen verhinderten Erbauer zum Gespött werden zu lassen. Die tägliche Sorge um Comus, seine Extravaganzen und Eigensinnigkeiten, hatte allmählich nachgelassen bei der Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat, die aus einem Tunichtgut und Abenteurer einen wohlhabenden Müßiggänger gemacht hätte. Er hätte sogar durch den geschickten Einfluß einer ehrgeizigen Frau zu einem Menschen mit einem festumrissenen Ziel im Leben geformt werden können. Diese Aussicht hatte sich nun mit grausamer Plötzlichkeit zerschlagen, und die Ängste drängten sich wieder auf, hartnäckiger denn je. Der Junge hatte seine Chance auf dem Heiratsmarkt gehabt und sie verspielt; sollte er seine Aufmerksamkeit einem anderen wohlsituierten Mädchen zuwenden, würde er sofort als Mitgiftjäger abgestempelt, und das bedeutete für den einnehmendsten Bewerber ein schweres Handicap. Seine Sympathie für Elaine war offensichtlich auf seine Art echt gewesen, wenn es auch unvorsichtig gewesen wäre, ein tieferes Gefühl hineinlesen zu wollen, aber selbst mit dem Ansporn seiner eigenen Neigung war es ihm nicht gelungen, den Preis zu erringen, der so verlockend in Reichweite schien. Und im Zunichtewerden seiner Hoffnungen sah Francesca ihre
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eigenen bedroht. Die alte Besorgnis über ihr gefährdetes Wohnrecht im gegenwärtigen Domizil nahm wieder die vertraute Schreckgestalt an. Eines Tages, in furchtbar naher Zukunft, wie sie voraussah, käme George St. Joseph die Treppe hinaufgetrippelt mit der atemberaubenden Nachricht, daß sich Emmeline Chetrof mit jemandem aus der Garde oder aus dem Staatsarchiv verheiraten werde oder sonstwem, und dann würde sie aus dem Leben in dieser Zufluchtsstätte, ihrem Heim in der Blue Street, herausgerissen und müßte in irgendeine billige, unglückselig weit entfernte Behausung ziehen, wo der stattliche Van der Meulen und die begleitende Schar schöner, angenehmer Gegenstände in eine seelenlose Umgebung hineingepfropft würden, wie vornehme emigres, die in Unglück geraten sind. Unausdenkbar, doch das Schlimme war, daß man darüber nachdenken mußte. Und hätte Comus seine Karten gut gespielt und wäre aus einem lästigen Anhang zu einem Sohn mit verfügbarem Besitz geworden, hätte die ihr drohende Tragödie vielleicht abgewandt, schlimmstenfalls auf leicht erträgliche Ausmaße verringert werden können. Mit Geld in der Hand spitzte sich das Wohnungsproblem bloß noch auf die einfache Frage zu, wo man denn leben möchte, und eine reiche Schwiegertochter hätte bestimmt dafür gesorgt, daß sie nicht die Quadratmeile ihres Mekkas verlassen und in die Wüstenei aus Ziegelstein und Mörtel wandern müßte. Hätte man sich nicht über das Haus in der Blue Street einigen können, so gäbe es andere wünschenswerte Wohnsitze, die Francesca für ihr verlorenes Paradies zu entschädigen vermocht hätten. Und jetzt war der verhaßte Courtenay Youghal mit seinem spöttischen Blick und dem Ausdruck jugendlichen Zynismus dazwischengetreten und hatte diese glücklichen Hoffnungen und Pläne vereitelt, deren Nichtverwirklichung einen solchen Wandel für ihre Zukunft bedeutete. Sicherlich hatte sie Grund zur
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Bitterkeit gegen jenen jungen Mann, doch war sie nicht geneigt, deswegen nachsichtig gegenüber Comus' eigenem glücklosem Agieren in der Angelegenheit zu sein. Ihre Begrüßung, als er schließlich auftauchte, entbehrte des Mitleids. »Du hast also deine Chance bei der Erbin vertan«, bemerkte sie schroff. »Ja«, antwortete Comus kühl. »Courtenay Youghal hat sie seinen anderen Erfolgen hinzugefügt.« »Und du hast sie deinen anderen Fehlschlägen hinzugefügt«, fuhr Francesca gnadenlos fort; ihre Geduld war an diesem Tag überstrapaziert worden. »Ich habe gemeint, du verstündest dich so gut mit ihr«, hängte sie noch an, da Comus verschlossen blieb. »Wir sind glänzend miteinander ausgekommen«, sagte Comus und setzte mit absichtlicher Grobheit hinzu, »vermutlich ist ihr ziemlich übel geworden, als ich Geld von ihr geliehen habe. Sie meinte wohl, das sei alles, was ich wollte.« »Du hast Geld von ihr geliehen!« sagte Francesca. »Du warst blödsinnig genug, Geld von einem Mädchen zu leihen, das dir wohlgesonnen war, mit Courtenay Youghal im Hintergrund, darauf lauernd, einzuspringen und dich zu verdrängen!« Francescas Stimme zitterte vor Schmerz und Wut. Dieses unglaubliche Glück, das ihnen in den Schoß zu fallen schien, war durch eine einzige törichte Handlung oder durch mehrere leichtfertige, schäbige Handlungen verscherzt. Das Geldschiff mußte untergehen wegen des sprichwörtlichen gesparten Groschens für Teer. Comus hatte irgendeine dringliche Schneider- oder Tabakwarenrechnung mit einem Darlehen bezahlt, das ihm nur widerwillig von der Umworbenen zur Verfügung gestellt worden war, und hatte die Möglichkeit verschenkt, sich
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eine reiche und in jeder Hinsicht wünschenswerte Braut zu sichern. Elaine de Frey und ihr Vermögen hätten Comus' Glück sein können, aber wie üblich hatte es ihn getrieben, sein eigenes Verderben herbeizuführen. Beruhigung wollte sich in diesem Fall durch Nachdenken nicht einstellen; je mehr Francesca darüber sinnierte, desto aufgebrachter wurde sie. Comus ließ sich in einen niedrigen Sessel fallen und beobachtete sie in ihrer Demütigung ohne jede Spur von Bestürztheit oder Besorgnis. Er war voll Selbstmitleid und im bitteren Bewußtsein seiner Niederlage zu ihr gekommen, und sie hatte ihn höhnisch, ohne die geringste Anteilnahme empfangen; er entschied sich, sie sollte qualvoll an dem Wissen leiden, welch dumme Lappalie zwischen der Verwirklichung und dem Scheitern ihrer Hoffnung für ihn gestanden hatte. »Und sich vorzustellen, daß Courtenay Youghal sie sich erobert!« sagte Francesca verbittert. »Ich habe immer deine Vertrautheit mit diesem jungen Mann beklagt.« »Es ist wohl kaum meine Vertrautheit mit ihm, die Elaine ihm ihr Jawort hat geben lassen«, sagte Comus. Francesca erkannte die Vergeblichkeit weiterer Vorwürfe. Durch die Zornestränen, die in ihren Augen standen, blickte sie zu dem gutaussehenden Jungen hin, der ihr gegenüber saß und sein eigenes Unglück verspottete, seltsam gleichgültig gegen seine Torheit und anscheinend fast gleichgültig gegen ihre Folgen. »Comus«, sagte sie ruhig und müde, »du bist die genaue Umkehrung von dem, was von der Büchse der Pandora erzählt wird. Du hast all den Charme und die Vorzüge, die sich ein Junge zum Vorwärtskommen in der Welt nur wünschen kann, und dahinter steckt nichts als die unheilbringende Gabe völliger Hoffnungslosigkeit.«
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»Ich glaube«, sagte Comus, »das ist die beste Beschreibung, die ich je von mir gehört habe.« Einen Augenblick lang herrschte Einklang und soetwas wie offene Zuneigung zwischen Mutter und Sohn. Sie schienen gerade jetzt sehr einsam auf der Welt zu sein, und im gemeinsamen Scheitern der Hoffnungen und Pläne regte sich die zarte Möglichkeit, daß jeder dem anderen die Hand ausstreckte und die tote alte Liebe ins Leben zurückrief, die das beste und stärkste Gefühl war, das beide gekannt hatten. Aber der Stachel der Enttäuschung war zu scharf, und die Woge des Grolls ging auf jeder Seite zu hoch, als daß diese Möglichkeit länger als einen Augenblick währen konnte, um dann dahinzuschwinden. Der ewige Anlaß für Entfremdung zwischen ihnen drängte sich erneut auf, die Frage der unmittelbaren Geldbeschaffung, und Mutter und Sohn standen sich wieder als Gegner auf dem heißumstrittenen Feld gegenüber. »Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Francesca mit einer Geste tragischer Ungeduld, die die Philosophie ihrer Worte Lügen strafte; »es lohnt sich nicht, über verschüttete Milch zu jammern. Da ist die Gegenwart und auch die Zukunft, die bedacht sein wollen. Man kann nicht für alle Zeit Dauerpächter im Schlaraffenland sein.« Dann riß sie sich zusammen und verkündete ein Ultimatum, welches länger zurückzuhalten die Macht der Umstände verbot. »Es hat nicht viel Zweck, mit dir über Geld zu reden, wie ich aus langer Erfahrung weiß, doch ich kann dir nur dies sagen, daß ich vermutlich schon in der Mitte der Saison gezwungen sein werde, die Stadt zu verlassen. Und du, fürchte ich, mußt genau so bald England verlassen. Henry hat mir neulich gesagt, daß er dir in Westafrika etwas beschaffen kann. Du hast deine Chance
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gehabt, finanziell gesehen, zu etwas Besserem zu kommen, und du hast sie vertan, bloß um dir etwas Bargeld zu leihen für deine Luxusartikel, und jetzt mußt du nehmen, was du kriegen kannst. Die Bezahlung wird zuerst nicht gerade üppig sein, aber das Leben da draußen ist auch nicht teuer.« »Westafrika«, sagte Comus nachdenklich, »ist eine Art moderner Ersatz für das veraltete oubliette, eine nützliche Verwahranstalt für lästige Personen. Der liebe Onkel Henry mag ja über die Bürde des Britischen Weltreiches jammern, offensichtlich aber erkennt er dessen Nutzen als Müllschlucker.« »Mein lieber Comus, du sprichst über das Westafrika von gestern. Während du deine Schulzeit vertrödelt hast, ärger noch als dein Herumtrödeln im West End, haben sich andere um die Erforschung der tropischen Krankheiten gekümmert, und das Küstengebiet Westafrikas entwickelt sich rasch von einem Sterbezimmer zu einem Sanatorium.« Comus lachte spöttisch. »Was für ein kunstvolles Stück Rhetorik! Es erinnert einen an das Buch der Psalmen, noch mehr an die Werbebroschüre einer Aktiengesellschaft. Wärest du ehrlich, müßtest du zugeben, daß du es direkt aus einem Kautschuk- oder Eisenbahnprojekt hast, das zur Förderung ansteht. Im Ernst, Mutter, wenn ich mich schon für meinen Unterhalt abrackern muß, warum dann nicht in England? Ich könnte zum Beispiel ins Braugewerbe gehen.« Francesca schüttelte entschieden den Kopf; sie konnte sich die Sorte regelmäßiger Arbeit vorstellen, die Comus wohl vorschwebte, mit dem Magnet Stadt und den kleineren Attraktionen wie Rennplätzen und ähnlichen Lustbarkeiten, die ihn ständig in bequemer Nähe lockten.
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Doch abgesehen davon gab es für all seine Berufspläne im Inland ein finanzielles Hindernis. »Brauereien und dergleichen brauchen Startgeld; man muß Prämien bezahlen oder Kapital in das Unternehmen investieren und so weiter. Und da wir kein verfügbares Geld haben und im Augenblick kaum unsere Schulden zahlen können, hat es keinen Sinn, darüber zu spekulieren.« »Können wir nicht etwas verkaufen?« fragte Comus. Er machte keinen konkreten Vorschlag, was geopfert werden sollte, doch blickte er direkt auf den Van der Meulen. Einen Augenblick lang hatte Francesca ein erstickendes Gefühl von Schwäche, als hörte ihr Herz zu schlagen auf. Dann setzte sie sich auf dem Stuhl weiter vor und sprach mit Entschiedenheit, fast Grimm. »Wenn ich tot bin, können meine Sachen verkauft und in alle Winde verstreut werden. Solange ich lebe, ziehe ich es vor, sie bei mir zu haben.« In ihrer heiligen Stätte mit all ihren in Ehren gehaltenen Besitztümern war dieser furchtbare Vorschlag gemacht worden! Einige ihrer geliebten Hausgötter, Souvenirs und Andenken vergangener Tage, würden auf einer Auktion vielleicht keine sehr nennenswerte Summe bringen, andere hatten wohl ihren erheblichen Eigenwert, aber für Francesca waren sie alle kostbar. Und der Van der Meulen, den Comus mit ruchlos taxierendem Blick angesehen hatte, war ihr Allerheiligstes. Wenn Francesca von einer Reise zurückkehrte oder sich vom Krankenbett wieder erhob, galt ihr erster Blick immer diesem großen Gemälde mit seiner imposanten, feierlichen Darstellung einer Schlachtenszene aus längst vergangener Zeit, gemalt, um einem Schmeicheleien liebenden Soldatenkönig zu schmeicheln, der selbst in seinen Schlachten würdevoll
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aussah. Bei Feueralarm hätte sie sich als erstes um seine Sicherheit geängstigt. Und Comus hatte fast angedeutet, man sollte sich von ihm trennen, wie wenn man Eisenbahnaktien verkaufte oder sonstiges seelenloses Zeug. Mit Comus schimpfen, das wußte sie längst, hieß, sinnlos Zeit und Kraft vergeuden, aber an diesem Abend zügelte sie ihre Zunge nicht, weil es ihre angespannten Gefühle erleichterte. Er saß da und hörte kommentarlos zu, auch wenn sie mit Bedacht Bemerkungen fallenließ, von denen sie hoffte, sie könnten ihn zu Selbstverteidigung oder Widerspruch anstacheln. Es war eine schonungslose Anklage, um so verletzender, als sie unleugbar stimmte, um so tragischer, als sie vielleicht von dem einzigen Menschen kam, an dessen Meinung ihm je gelegen war. Und er blieb während des Ganzen still und anscheinend unbewegt, als hätte sie eine Rede für eine Gesellschaftskomödie geprobt. Nachdem sie sich ausgesprochen hatte, antwortete er nicht mit Sanftmut, die den Zorn von hinnen jagt, sondern mit Gleichmut, der ihn speichert: »Ziehen wir uns zum Abendessen um.« Die Mahlzeit verlief, wie so viele, die Francesca und Comus letzthin zusammen eingenommen hatten, in Schweigen. Nun, da die volle Tragweite des Unglücks ausgiebig erörtert worden war, gab es nichts mehr zu sagen. Jeder Versuch, die Situation zu ignorieren und zu weniger kontroversen Themen überzugehen, wäre Hohn und Verstellung gewesen, was beide nicht der Mühe wert befunden hätten. So schleppte sich das Mahl dahin in der trostlosen Vertrautheit zweier Menschen, die durch einen Abgrund von Bitterkeit getrennt und deren Herzen von Groll gegeneinander verhärtet sind. Francesca fühlte sich erleichtert, als sie dem Mädchen anordnen konnte, ihren Kaffee oben zu servieren. Comus
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machte ein verdrießlich düsteres Gesicht, doch blickte er hoch, als sie aufstand, um aus dem Zimmer zu gehen, und ließ sein kleines halbspöttisches Lachen ertönen. »Du brauchst nicht so tragisch dreinzuschauen«, sagte er. »Du sollst deinen Willen haben. Ich verziehe mich in dieses westafrikanische Loch.«
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Dreizehntes Kapitel Comus fand seinen Platz im Parkett des Straw Exchange Theaters und begann den Strom von mehr oder weniger herausragenden Besuchern zu mustern, deren Anwesenheit bei einer Premiere auf dem Höhepunkt der Saison eine schlichte Selbstverständlichkeit war. Parterre und oberster Rang waren schon dicht mit einer munteren Menge bevölkert, die das Heben des Vorhangs mit der lebhaften Ungeduld eines Terriers erwartete, der die zaudernde Vorbereitung für einen tüchtigen Spaziergang beobachtet. Parkett und Logen füllten sich langsam und zögernd mit einer Menge, deren distinguierte Mitglieder sich überwiegend bewußt schienen, daß sie wahrscheinlich genauso interessant waren wie jedes Theaterstück, das es zu sehen gäbe. Herrschaften ohne besonderen Eigenwert erhielten durch unmittelbare Nachbarschaft zu offenkundigen Notabihtäten ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Würde; wenn man schon selbst nicht die Anerkennung finden konnte, empfand man doch ein unbestimmtes Vergnügen dabei, Berühmtheiten in allernächster Nähe ausmachen zu können. »Wer ist die Frau dort mit dem kastanienbraunen Haar und dem eindrucksvoll kriegerischen Glanz in den Augen?« fragte ein Mann, der genau hinter Comus saß. »Sie sieht aus, als hätte sie die Welt in sechs Tagen erschaffen, um sie dann am siebten zu zerstören.« »Den Namen habe ich vergessen«, sagte sein Nachbar; »sie schreibt. Sie ist die Verfasserin von Die Senora, die sich nach Samstag sehnte, wissen Sie. Es gab dereinst die Regel, Schriftstellerinnen sollten plump und unelegant sein; jetzt haben wir das andere Extrem, die Losung: so extravagant und so schick wie möglich.« Ein anerkennendes Murmeln stieg aus den Vorderrei-
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hen des Parterre, begleitet vom Halsrecken der Leute auf weniger günstigen Plätzen. Es verriet die Ankunft von Sherard Blaw, dem Dramatiker, der sich selbst entdeckt und so großzügig seine Entdeckung der Welt weitergegeben hatte. Lady Caroline, die bereits aus ihrer Loge kleinere Verbalattacken ritt, blickte für einen Augenblick freundlich auf den Neuankömmling und wandte sich dann dem silbergrauen Erzdiakon an ihrer Seite zu. »Es heißt, der Ärmste sei von der Angst geplagt, er werde während allgemeiner Wahlen sterben und die Nachrufe auf ihn müßten durch den Platz, den die Wahlergebnisse beanspruchen, womöglich bedeutend eingeschränkt werden. Aus seiner Sicht ist es der Fluch unseres Parteiensystems, daß es so viel Raum in der Presse einnimmt.« Der Erzdiakon lächelte mild. Als Mensch war er so hochgradig weltlich gesonnen, daß er ganz und gar den Namen Himmlischer Weitung verdiente, den ihm eine bewundernde Herzogin verliehen hatte, und obendrein war sein Wesen durchwirkt von so echter Heiligmäßigkeit, daß man das Gefühl hatte, wer auch sonst die Schlüssel zum Paradies verwahrte, er jedenfalls besaß einen eigenen zu jeder Wohnung darin. »Ist es nicht bezeichend für die veränderte Ordnung der Dinge«, bemerkte er, »daß die Kirche, wie sie durch mich repräsentiert wird, mit der Botschaft von Sherard Blaw sympathisiert, während weder der Mann noch seine Botschaft Beifall bei Ungläubigen finden wie z. B. bei Ihnen, Lady Caroline?« Lady Caroline zwinkerte mit den Augen. »Mein verehrter Erzdiakon«, sagte sie, »niemand kann heutzutage ungläubig sein. Die christlichen Apologeten haben einem nichts übrig gelassen, das sich bezweifeln ließe.« Der Erzdiakon erhob sich mit einem vergnügten
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Lachen. »Das muß ich gleich De la Poulett erzählen«, sagte er und zeigte auf einen Kleriker in der dritten Parkettreihe, »er predigt unentwegt von der Kanzel, der Ruhm des Christentums bestehe eben darin, daß man dessen Erfindung inzwischen für notwendig hält, selbst wenn es nicht wahr ist.« Die Tür der Loge öffnete sich, und Courtenay Youghal trat ein, zusammen mit dem leichten Duft von Chaminade und dem Knistern politischer Spannung. Die Regierung war bei einer Gruppe ihrer Anhänger in Ungnade gefallen, und jene, die nicht Bescheid wußten, waren nun eifrig dabei, eine ernste Krise wegen einer bevorstehenden Ausschußabstimmung über eine wichtige Regierungsvorlage vorauszusagen. Es war Samstagabend, und hätte zwischen dem jetzigen Zeitpunkt und Montagnachmittag Überredungskunst nicht den gewünschten Erfolg, liefen einige Minister offenbar Gefahr, eine Niederlage einstekken zu müssen. »Ah, da kommt Youghal«, sagte der Erzdiakon, »er wird uns sagen können, was sich in den nächsten achtundvierzig Stunden tut. Ich habe gehört, der Premier erklärt die Angelegenheit zu einer Gewissenssache, und mit ihr stehe oder falle die Regierung.« Seine Hoffnungen und Sympathien galten, wie allgemein bekannt, der Regierungsseite. Youghal begrüßte Lady Caroline und ließ sich elegant in einen Logensessel von schöner Sichtbarkeit fallen. Ein anerkennendes Murmeln lief in langsamen Wellen durch das Theater. »Sollte die Regierung ausgerechnet über eine Gewissenssache stürzen«, sagte er, »wäre das wie bei einem Mann, der sich mit einem Sicherheitsrasierapparat schneidet.« Lady Caroline gab ein sanftes Schnurren der Zustimmung von sich.
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»Ich fürchte, er hat recht, Erzdiakon«, sagte sie. Niemand kann eine Regierung wirkungsvoll verteidigen, wenn diese schon seit Jahren im Amt ist. Der Erzdiakon nahm seine Zuflucht zu leichten Scharmützeln. »Ich glaube, Lady Caroline findet in Ihnen, Youghal, das Zeug zu einem großen sozialistischen Staatsmann«, bemerkte er. »Große sozialistische Staatsmänner werden zwar gezeugt, sind aber Totgeburten«, erwiderte Youghal. »Wovon handelt das Stück heute abend?« fragte eine blasse junge Frau, die sich nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte Lady Caroline, »aber hoffentlich ist es langweilig. Wenn es irgendeinen geistreichen Dialog enthält, werde ich in Tränen ausbrechen.« In der Vorderreihe des zweiten Rangs erörterte eine Frau mit unermüdlicher Spatzenschnattrigkeit das Werk eines zur Zeit gerade beliebten Komponisten vor allem in Beziehung zu ihren eigenen Gefühlen, von denen sie zu glauben schien, sie könnten von Allgemeininteresse für ihre Umgebung sein. »Immer wenn ich seine Musik höre, habe ich das Bedürfnis, in die Berge zu steigen, um zu beten. Können Sie das nachempfinden?« Das Mädchen, dem sie ihre Empfindungen offenbarte, schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich habe seine Musik hauptsächlich in der Schweiz gehört, und da waren wir ohnehin die ganze Zeit im Gebirge, es wäre also egal gewesen.« »In dem Fall«, sagte die Frau, die anscheinend Gefühle in petto hatte, die zu allen geographischen Lagen paßten, »wäre ich am liebsten in einer weiten stillen Ebene mit einem dahineilenden Fluß gewesen.«
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»Was ich so großartig an seiner Musik finde . . .«, begann eine andere Spatzenstimme, die den Einwurf des Mädchens nicht gehört hatte. Wie Schafe bei aufkommendem Sturm schnell noch ein tüchtiges Stück abgrasen, so schien es das Spatzenvolk zu einer Sonderanstrengung zu treiben, da die drohenden vier Aufzüge ihre Schnäbel zu einer unnatürlichen Pause zwingen würden. In der hinteren Reihe des ersten Ranges hatte sich eine Zuspätkommende nach flüchtigem Blick aufs Programm behaglich an eine Geschichte gemacht, die offenbar den Faden eines unvollendet gebliebenen Taxifahrtmonologs wiederaufnahm. »Wir haben alle gesagt, ›es kann nicht Captain Parminter sein, weil er immer hinter Joan her war‹, und dann hat Emily gesagt . . .« Der Vorhang ging hoch, und Emilys Beitrag zur Debatte mußte bis zur Pause verschoben werden. Das Stück versprach ein Erfolg zu werden. Sein Urheber war der Gefahr, geistreich zu sein, sicher ausgewichen, er hatte sich aufs Interessante verlegt und sich eingedenk dessen, daß sein Stück eine Komödie war, redlich um Unterhaltsamkeit bemüht. Vor allem hatte er sich daran erinnert, daß es in der Symmetrie von Stücken nach alten Bühnengesetzen zulässig und allgemein wünschenswert ist, daß der Part größer als das Ganze ist; folglich war er sorgsam darauf bedacht gewesen, der Hauptdarstellerin eine solch eindeutig führende Rolle vor den übrigen Charakteren zu geben, daß es für alle anderen unmöglich war, je mit ihr gleichzuziehen. Der Handlungsverlauf des Stückes wurde dadurch gelegentlich verzögert, aber die Dauer seiner Laufzeit verlängerte sich damit beträchtlich. Der Vorhang fiel nach dem ersten Akt, begleitet von einer ersten Rate ermutigenden Beifalls, und das Publi-
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kum wandte der Bühne den Rücken zu, um sich von neuem ganz sich selbst zu widmen. Die Verfasserin des Romans Die Senora, die sich nach Samstag sehnte war wie ein kräftesammelnder Wirbelwind noch etwas matt, aber durchaus Heftigkeit versprechend, in die Loge von Lady Caroline geweht. »Ich bin soeben beim Aufstehen von meinem Platz mit vollem Gewicht auf den Fuß eines berühmten Verlegers getreten«, rief sie laut lachend vor Begeisterung aus. »Er hat hinreißend reagiert; ich habe gesagt, hoffentlich habe ich Sie nicht verletzt, und er darauf, vermutlich meinen Sie, wer seine Interessen im Geschäftlichen mit Nachdruck durchsetzt, sollte auch seinen Fuß mit Nachdruck setzen‹. Das war doch reizend wie ein Lämmlein von ihm, nicht?« »Ich bin noch nie auf ein Lämmlein getreten«, sagte Lady Caroline, »ich habe also keine Ahnung, wie es sich unter diesen Umständen verhält.« »Sagen Sie mir doch«, bat die Autorin und trat an die Logenbrüstung, um das Haus besser mustern zu können, und vielleicht auch mit dem barmherzigen Gedanken, es jenen leicht zu machen, die sich verzeihlicherweise wünschten, sie zu mustern, »sagen Sie mir bitte, wo sitzt das Mädchen, das mit Courtenay Youghal verlobt ist?« Man zeigte ihr Elaine, die Comus quer gegenüber in der rechten Parkettreihe auf der anderen Seite des Hauses saß. Einmal während der Pause hatte sie sich ihm zugewandt, um ihn freundlich zu grüßen, als er in einem Wandelgang stand, doch er war gerade darin vertieft, sich in einer Glasscheibe zu betrachten. Die ernsten braunen Augen und die spöttisch graugrünen hatten zum letzten Mal einen tiefen Blick gewechselt. Für Comus bildete dieser Premierenabend mit seiner glanzvollen Ansammlung von Zuschauern, seinen Grup-
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pen und erlesenen Zirkeln von animiert Redenden, selbst mit den öden Schwätzern als Kontrast dazu, mit der Atmosphäre von ineinandergreifendem Bühnen- und Gesellschaftsgeschehen und mit seiner durchdringenden Unterströmung von politischer Erregtheit eine Tragödie, deren Hauptdarsteller er war. Es war das Leben, das er kannte, liebte und in dem er gedieh, und es war das Leben, das er verlassen sollte. Es würde sich immer wieder reproduzieren: mit seinem Bühnen- und Gesellschaftsinteresse und seinen Interessen von außen her, mit derselben munter plaudernden Menge, wo Leute berühmte Leute, die sie erkannt hatten, jenen Leuten zeigten, die sie nicht erkannt hatten - alles ginge mit unerschöpflicher Angeregtheit, mit sprühendem Witz und Vergnügen weiter; doch für ihn wäre es ganz zu Ende. Er würde irgendwo in namenloser sonnenversengter Wildnis leben, wo Einheimische und Pariahunde und heiser krächzende Krähen wie zum Spott ringsum die Einsamkeit säumten, wo man in drückender Hitze Meile um Meile ritt, um vielleicht einem Steuereinnehmer oder einem Polizeibeamten zu begegnen, mit denen man bei näherer Bekanntschaft höchstwahrscheinlich kaum zwei Vorstellungen gemeinsam hätte, wo weibliche Gesellschaft, wenn überhaupt, durch irgendeine Missionarin oder die Frau eines Beamten repräsentiert wäre, wo Essen, Krankheit und Tierheilkunde schließlich zu den drei allesbeherrschenden Themen würden, bei denen der Geist sich festsetzte, vielmehr versackte. Solch ein Leben sah er voraus und fürchtete es als seine Zukunft. Für einen Jungen, den es aus der Dumpfheit irgendeines ländlichen Pfarrhauses dorthin verschlug, aus einer Gegend, wo die Blumenschau und das örtliche Kricketmatch die gesellschaftlichen Höhepunkte des Jahres bildeten, wäre das Bewußtsein des Exils nicht allzu nieder-
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schmetternd, verlöre sich womöglich im Gefühl von Abwechslung und Abenteuer. Aber Comus hatte zu intensiv im Mittelpunkt des Geschehens gelebt, um das Leben in der Odnis anders denn als Stagnation betrachten zu können, und Stagnation in der Jugend betrachtete er mit Recht als ein Vergehen wider die Natur und die Vernunft, das der bösen Verhöhnung gleichkommt, altersschwache Invaliden unter größter Mühsal auf Weltreise zu schicken und Panther in enge Käfige zu sperren. Er wurde abgelagert wie ein Wein, jedoch um zu verderben, statt im Lauf der Jahre an Wert zu gewinnen, um die Blütezeit seiner Jugend und Gesundheit und seines guten Aussehens in einer Welt zu verlieren, wo Jugend, Gesundheit und gutes Aussehen viel zählen und wo die Zeit verlorene Besitztümer niemals zurückerstattet. Und so spürte Comus jedesmal, wenn sich der Vorhang nach einem Akt senkte, wie sich Niedergeschlagenheit und ein Gefühl des Verlustes auf ihn selbst senkten; mit Bitterkeit sah er zu, wie sich sein letzter Abend in festlicher Gesellschaft dem Ende zuneigte. In weniger als einer Stunde wäre er vorbei; in wenigen Monaten nur noch eine unwirkliche Erinnerung. Als er sich in der dritten Pause gerade das plaudernde Publikum anschaute, berührte ihn jemand am Arm. Es war Lady Veula Croot. »Ich vermute, in einer Woche schon sind Sie auf hoher See?« sagte sie. »Ich werde zu Ihrem Abschiedsdinner kommen; Ihre Mutter hat mich eben eingeladen. Ich will Ihnen nicht den üblichen Unsinn erzählen, wie sehr es Ihnen dort gefallen wird und dergleichen. Ich denke manchmal, einer der Vorzüge der Hölle wird sein, daß niemand die Frechheit besitzen wird, einen darauf hinzuweisen, um wieviel besser man immerhin dran sei als dort oder dort. Was halten Sie von dem Stück? Natürlich ahnt
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man schon das Ende; sie wird ihrem Mann verkünden, daß sie das heißersehnte Kind bekommt, und das bügelt dann alles aus. Wie praktisch und wirkungsvoll ist es doch, eine Komödie mit dem Beginn einer neuen Tragödie enden zu lassen. Und alle Welt sagt beim Weggehen, ›wie bin ich froh, daß es gut ausgegangen ist‹.« Lady Veula ging zurück zu ihrem Platz mit dem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen und dem Ausdruck unendlicher Müdigkeit im Blick. Die Pause, die letzte, näherte sich dem Ende, und das Haus wandte sich mit nervöser Aufmerksamkeit der Entwicklung der Schlußphase auf der Bühne zu. Francesca saß in der Loge von Serena Golackly und lauschte Oberst Springfields Geschichte, was mit dem Taubenschlag auf seinem indischen Grundstück bei Poona passiert war. Jeder, der den Obersten kannte, mußte sich diese Geschichte unzählige Male anhören, aber Lady Caroline hatte der Plage etwas von ihrer Lästigkeit genommen und sie sogar mit einer gewissen sportlichen Note versehen, indem sie demjenigen, der die Geschichte im Lauf der Saison am häufigsten zu hören kriegte, einen Preis verhieß, wobei sich die Teilnehmer an die faire Übereinkunft halten mußten, den Gesprächsgegenstand nicht selbst herbeizuwinken. Ada Spelvexit und ein junger Mann aus dem Auswärtigen Amt führten im Augenblick die Liste an mit jeweils fünf Vorträgen, aber erstere wurde verdächtigt, sich nicht ganz an die Regeln und den Geist des Wettbewerbs gehalten zu haben. »Und dann, Verehrteste«, schloß der Oberst seinen Bericht, »lagen die elf toten Tauben da. Was aus dem Beuteldachs wurde, hat keiner je erfahren.« Francesca dankte ihm für seine Geschichte und schrieb zufrieden die Zahl vier auf den Rand ihres Theaterprogramms. Fast im selben Augenblick vernahm sie George
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St. Josephs atemlose Stimme, die zur Erbauung von Serena Golackly und aller, die ihm zuhören mochten, das Neueste herunterrasselte. Francesca horchte schlagartig auf. »Emmeline Chetrof mit einem Burschen aus der Indischen Forstverwaltung. Er hat nur sein Gehalt, und vor vier oder fünf Jahren können sie nicht ans Heiraten denken: eine lachhaft lange Verlobungszeit, nicht wahr? In patriarchalischen Zeiten mochte das ja angehen, sieben Jahre auf die Ehefrau zu warten, wenn man sicherlich andere Frauen hatte, an die man sich in der Zwischenzeit halten konnte, und man lange genug lebte, um die eigene Dreihundertjahrfeier mitzuerleben, aber unter neuzeitlichen Bedingungen scheint mir das eine törichte Vereinbarung.« St. Joseph sprach fast schon mit Groll. Ein Heiratsvorhaben, das all die diesbezüglichen hübschen kleinen Klatschgeschichten über Brautjungfern und Flitterwochen und widerspenstige Tanten und so weiter womöglich auf Jahre hinaus blockierte, schien in seinen Augen geradezu unanständig, außerdem versprach ihm die frühe Kenntnis von einem in weiter Ferne liegenden Ereignis wie die Präsidentenwahl oder der Wechsel des Vizekönigs - wenig Genugtuung oder Ansehen. Aber bei Francesca, die bei der Erwähnung von Emmeline Chetrofs Namen erschrocken aufgemerkt hatte, löste die Nachricht eine Woge der Erleichterung und Dankbarkeit aus. Außer wenn Emmeline ins Kloster eingetreten und Zölibatsgelübde abgelegt hätte - zweckdienlicher konnte sie kaum handeln, als sich an einen Liebsten zu binden, dessen Verhältnisse erst eine Heirat in ferner Zukunft erlaubten. Für vier oder fünf Jahre war sich Francesca des ungestörten Hausbesitzes in der Blue Street sicher, und danach, was mochte da nicht alles geschehen? Die Verlobung
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könnte sich unendlich lang hinziehen, sie könnte sogar unter der Last der sich summierenden Jahre in die Brüche gehen, wie manchmal bei diesen in die Länge gezogenen Verlobungsaffären. Emmeline könnte ihre Zuneigung für den abwesenden Liebsten verlieren und würde ihn vielleicht nie durch einen anderen ersetzen. Die glückliche Möglichkeit immerwährenden Wohnens in ihrem gegenwärtigen Heim spukte Francesca wieder einmal durch den Kopf. Solange Emmeline auf dem Heiratsmarkt nicht vergeben war, hatte stets die drohende Wahrscheinlichkeit bestanden, daß in Verbindung mit ihrem Namen die gefürchtete Notiz auftauchte ›die Hochzeit ist beschlossen und wird in Kürze stattfinden^ Und jetzt war die Hochzeit beschlossen und würde nicht in Kürze stattfinden, vielleicht überhaupt nie. St. Josephs Information stimmte diesmal wahrscheinlich; er hätte niemals eine Ehe-Meldung erfunden, die ihm so wenig Spielraum für seine geliebten Zusätze bot.' Francesca sah dem vierten Akt zu und sang im Geiste eine Dankes- und Jubelhymne. Es war, als hätte ein gottgesandter Kunstfertiger mit festem Strang den roßhaardünnen Faden verstärkt, an dem das Damoklesschwert über ihrem Kopf hing. Ihre Liebe für ihr Zuhause, für ihre häuslichen Schätze und für ihr angenehmes gesellschaftliches Leben konnte in der gegenwärtigen Sicherheit neu aufblühen und sich in Zukunftshoffnung wiegen. Sie war noch jung genug, vier oder fünf Jahre als eine lange Zeit zu betrachten, und heute abend war sie durchaus optimistisch, Gutes für die Zukunft danach zu prophezeien. Vom vierten Akt mit seiner sorgfältig verzögerten, jedoch offensichtlich kurz bevorstehenden Versöhnung zwischen den Hauptpersonen bekam sie wenig mit, nur dunkel verstand sie, daß er glücklich endete. Als die Lichter angingen, schaute sie mit vorwiegend freundlichen Gefühlen auf das sich
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zerstreuende Publikum; selbst der Anblick von Elaine de Frey und Courtenay Youghal, die zusammen das Theater verließen, erfüllte sie nicht mit einem Zehntel des Verdrusses, den ihr Erscheinen ihr bereitet hatte. Serenas Einladung, hinterher zum Abendessen ins Savoy zu gehen, paßte genau zu ihrer heiteren Stimmung. Ein passender und angemessener Abschluß eines verheißungsvollen Abends. Das kalte Huhn und die bescheidene Chablissorte, die zu Hause auf sie warteten, sollten einem festlichen Bankett weichen. Im Gewühl des Vestibüls wurden Freunde und Feinde, persönliche und politische, im gemeinsamen Bemühen, sich mit der zeitweilig enteigneten Garderobe wiederzuvereinen und sich der Dienste rarer Fahrzeuge zu versichern, im wahrsten Sinne zusammengeschweißt. Lady Caroline sah sich auf engstem Raum dem ehrenwerten Henry Greech gegenüber und empfand etwas von der Freude, die einen heimwärtsziehenden Jäger anwandelt, wenn sich ihm ein Zufallsschuß für seine restlichen Patronen anbietet. »Demnach wird die Regierung also doch klein beigeben«, sagte sie, wobei sie provokativ geheimes Wissen über das Thema voraussetzte. »Ich versichere Ihnen, die Regierung wird nichts dergleichen tun«, antwortete der Parlamentarier mit angemessener Würde. »Der Premierminister hat mir gestern abend gesagt, daß unter keinen Umständen . . .« »Mein lieber Mr. Greech«, sagte Lady Caroline, »wir wissen alle, daß die Premiers mit der Wahrheit verheiratet sind, aber wie andere verheiratete Paare leben sie manchmal getrennt.« Für sie jedenfalls hatte die Komödie ein glückliches Ende gehabt. Comus verließ langsam schlendernd das Parkett, so
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langsam, daß die Lichter bereits gelöscht und große grabtuchähnliche Staubdecken über die goldverzierte Dekoration gehüllt wurden. Die lachende, schwatzende, gähnende Menge hatte sich aus dem Vestibül abgesetzt und verlief sich in Gruppen von Nachzüglern auf der Treppe vor dem Theater. Eine ungeduldige Garderobenfrau überreichte ihm seinen Mantel und schloß den Raum ab. Comus trat aus der Vorhalle hinaus; er blickte auf die Plakate mit der Ankündigung des Theaterstücks, und im Geiste konnte er schon andere Plakate sehen, die seine zweihundertste Aufführung anzeigten. Zweihundert Aufführungen - bis dahin käme ihm das Straw Exchange Theater so fern und unwirklich vor, daß es kaum je existiert zu haben schiene, außer in seiner Phantasie. Und der lachenden, schwatzenden Menge, die durch jene Vorhalle zur zweihundertsten Aufführung strömte, wäre er - für die, die ihn gekannt hatten - genauso fern und nicht existent. »Der hübsche Bassington-Junge? Oh, der ist tot oder pflanzt Kautschuk an oder züchtet Schafe oder sonstwas.«
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Vierzehntes Kapitel Das Abschiedsessen, das Francesca zu Ehren ihres abreisenden Sohnes eilig organisiert hatte, drohte von Anfang an eine nicht allzu erfolgversprechende Feier zu werden. Zum einen ging es dabei, wie Comus insgeheim bemerkte, sehr wenig um ihn selbst, dafür um so mehr um Abschied. Seine persönlichen Freunde waren nicht vertreten. Courtenay Youghal stand nicht zur Debatte; und obgleich Francesca Zugeständnisse gemacht und einige seiner anderen Gefährten, die ihr wohl kaum genehm waren, willkommen geheißen hätte, war er selbst dagegen gewesen, auch nur einen einzuladen. Zum anderen hatte es Francesca, da Henry Greech Comus nicht nur diesen Posten, sondern auch noch einen Teil des Geldes für die notwendige Ausstattung verschaffte, für ihre Pflicht gehalten, ihn und seine Frau zum Dinner zu bitten; die Stumpfheit, die manchen Menschen lebenslänglich wie ein Gewand anzuhängen scheint, ließ Mr. Greech die Einladung annehmen. Als Comus von der Sachlage erfuhr, lachte er laut und unbändig heraus; seine Stimmung schien sich, wie Francesca beobachtete, je näher die Abfahrtsstunde heranrückte, mehr und mehr zu heben. Zu den weiteren Gästen zählten Serena Golackly und Lady Veula, letztere war bei der Theaterpremiere in einer spontanen Eingebung eingeladen worden. Auf der Höhe der Saison war es nicht leicht, innerhalb kurzer Zeit eine repräsentative Auswahl an Gästen zusammenzubekommen, und Francesca hatte erfreut Serenas Vorschlag zugestimmt, Stephen Thorle mitzubringen, der angeblich, so die unbestimmte weibliche Ausdrucksweise, »ganz im Bilde war« über das tropische Afrika. Seine Reisen und Erlebnisse in jenen Regionen erstreckten sich wahrscheinlich nur auf ein kleines Gebiet und einen
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kurzen Zeitraum, aber er gehörte zu den Menschen, die schon nach wenigen Tagen in einer Küstenstadt einen Kontinent so gründlich und apodiktisch beschreiben können, wie der Paläontologe ein ausgestorbenes Säugetier anhand eines vereinzelten Schienbeins rekonstruiert. Er hatte die laute, durchdringende Stimme und die vorstehenden, durchdringenden Augen eines Mannes, der nicht wie andere einfach mit den Ohren zuhört, sondern bei dem die Augen das Zuhören übernommen haben. Seine Eitelkeit machte ihn nicht zwangsläufig unerträglich, es sei denn, man mußte viel Zeit in seiner Gesellschaft verbringen, und weil ihn nach großen Zuhörerkreisen und Bewunderung verlangte, dehnte er glücklicherweise sein Wirken auf weite Sphären menschlichen Lebens und Strebens aus. Außerdem zwang ihn sein Bedürfnis nach aufmerksamen Zuhörern dazu, sich für eine wunderbare Vielfalt von Themen zu interessieren, über die er gewandt und mit einem gewissen Anschein von Fachwissen zu parlieren verstand. Die Politik mied er; das Terrain war allzu bekannt, und auf jedes definitive Nein ließ sich ein definitives Ja vorbringen. Außerdem lag ausführliches Argumentieren nicht seinem Naturell, er neigte eher zu ungehindertem Vortragsfluß, der gelegentlich durch nützliche Fragen umgeleitet wurde, die Ausgangspunkte für neue Nebenflüsse des Wortstroms bildeten. Die Förderung der Heimarbeit, das Verhindern des jugendlichen Straßenhändlertums, der Ausbau der Borstal-Besserungsanstalten, die Unterstützung konfusredseliger religiöser Bewegungen, das Herbeiführen rassenverbindender ententes: all das fand in ihm einen unermüdlichen Exponenten, einen gewandten und unterhaltsamen, wenn auch vielleicht nicht sehr überzeugenden Befürworter. Für die eigentliche Triebkraft hinter diesen unterschiedlichen Angelegenheiten hatte er nur
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sehr wenig Sinn; im Vergleich zu den Spatenarbeitern, die die jeweiligen »Bewegungen« mit harter Arbeit vorwärtsbrachten, war er der Arbeiter mit der Kelle, der leichthin an der Oberfläche herumkratzt, aber sich darauf versteht, unverhältnismäßig viel Zeit für das Anpreisen seines Vorankommens und seiner Leistung aufzuwenden. So war Stephen Thorle, Kindermädchen aller Schwärmereien, die in Chelsea laufen lernten, ein geschickter Schaufensterdekorateur im Warenhaus seiner eigenen Persönlichkeit und - überflüssig zu sagen - flüchtig beliebt bei einem großen, doch wechselnden Bekanntenkreis. Sein Ruf als gesellschaftlich weitgereistes Individuum mit maßgeblichen Erfahrungen wuchs, und er verkehrte in den meisten der besten Familien — zweimal. Ihn zu dieser besonderen Abendgesellschaft einzuladen war kein sehr glücklicher Einfall. Er neigte dazu, Comus mit derselben Herablassung zu behandeln wie den afrikanischen Kontinent, und das bei noch geringerer Bekanntschaft. Mit Ausnahme von Henry Greech, dessen Gefühle für seinen Neffen durch jahrelange offene Feindseligkeit versauert waren, herrschte unter den Anwesenden der unangenehme Eindruck, daß das Thema des Schwarzen-Schaf-Exports, wie Comus es selbst ausgedrückt hätte, ungebührlich dominierte bei dem, was ein festliches Abschiedsbankett hätte sein sollen. Und Comus, zu dessen Ehren die Feier stattfand, trug nicht viel zu ihrem Gelingen bei; wenn er auch aufgedreht wirkte, glich seine Fröhlichkeit doch eher der Fröhlichkeit eines zynischen und amüsierten Zuschauers als der eines Menschen, der durch die Ausgelassenheit seiner Freunde angesteckt wird. Manchmal lachte er bei irgendeiner zufälligen Bemerkung, die kaum Anlaß zu Heiterkeit gab, still vor sich hin, und Lady Veula, die ihn genau beobachtete, fand in seiner äußeren Munterkeit eine Spur
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von Angst. Einige Male hatte er ihren Blick über den Tisch hinweg aufgefangen, und Einklang schien sich zwischen ihnen einzustellen, als schauten sie beide - und zwar bewußt — einer erbärmlichen Komödie zu, die vor ihren Augen inszeniert wurde. Ein unglücklicher kleiner Zwischenfall hatte den Auftakt des Essens gezeichnet. Bei einem nicht sehr großen Stilleben, das über dem Büfett hing, war die Schnur gerissen, und mit beunruhigendem Getöse war das Bild auf die volle Anrichte darunter gerutscht. Das Bild selbst war kaum beschädigt, aber bei seinem Absturz klirrte zerbrochenes Glas. Es stellte sich heraus, daß ein Likörglas zersprungen war, eins aus einem Siebener-Satz, der nicht wieder zu ergänzen war. Francescas fast mütterliche Liebe zu ihren Besitztümern ließ sie ihren Verdruß über das Unglück besonders stark empfinden, doch wandte sie sich Mrs. Greech zu, um höflich ihrer Beschreibung eines Mißgeschicks zuzuhören, in dem vier Suppenteller eine Rolle spielten. Mrs. Greech war keine brillante Plauderin, und sie wurde rasch von Stephen Thorle ausgeschaltet, der eine Begebenheit aus dem Elendsviertel schilderte, bei der zwei vielköpfige Familien ihre kargen Mahlzeiten allesamt aus einem angeschlagenen Suppenteller aßen. »Die Dankbarkeit jener armen Geschöpfe, als ich ihnen jeweils einen Satz Tafelgeschirr schenkte, die Tränen in ihren Augen und in ihren Stimmen, als sie mir dankten, wären unmöglich zu beschreiben.« »Dennoch vielen Dank, daß Sie's beschrieben haben«, sagte Comus. Thorles lauschende Blicke liefen schnell rund um den Tisch, um sich Klarheit zu verschaffen, wie diese einigermaßen empörende Bemerkung aufgenommen worden war, doch seine Stimme fuhr ununterbrochen fort, des langen und breiten Geschichten von East-End-Dankbar-
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keit zu erzählen, ohne dabei die Großtaten der eigenen selbstlosen Nächstenliebe zu vergessen, die Dankbarkeit hervorgerufen hatten, und zwar durchaus begründete. Mrs. Greech mußte die interessante Fortsetzung ihres Zerbrochenen-Geschirr-Berichtes unterdrücken, das heißt, wie sie später dann die demolierten Suppenteller durch neue, genau entsprechende von Harrod's ersetzt hatte. Einer importierten Pflanzenspezies gleich, die zuweilen außerordentlich üppig gedeiht und tut, als ob sie zu Hause wäre, während die gesamte einheimische Flora daneben verkümmert und in den Schatten gestellt wird, dominierte Thorle die Abendgesellschaft und verdrängte ein wenig deren ursprüngliche Bedeutung. Serenas Gesicht zeigte nach und nach einen Ausdruck hilfloser Zerknirschung. Es war darum im ganzen eine Erleichterung, als das Füllen der Sektgläser Francesca den Vorwand lieferte, die Dinge auf ihren eigentlichen Anlaß zurückzuführen. »Wir müssen alle«, sagte sie, »auf das Wohl von Comus trinken, meinem lieben Jungen; auf deine sichere und glückliche Reise, auf Erfolg und Gedeihen im Leben dort draußen und auf eine sichere und glückliche Rückkehr zur rechten Zeit . . .« Ihre Hand machte, als sie das Glas erheben wollte, unfreiwillig einen Ruck, und der Champagner ergoß sich in goldperligem Schaum über das Tischtuch. Dieses Dinner wollte sich einfach nicht reibungslos und verheißungsvoll gestalten. »Meine liebe Mutter«, rief Comus aus, »du mußt schon den ganzen Nachmittag auf mein Wohl getrunken haben, daß deine Hand so zittrig ist.« Er lachte belustigt und augenscheinlich sorglos, doch wieder spürte Eady Veula einen Anflug von Furcht in seinem Lachen. Mrs. Greech beschrieb Francesca mit
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praktischer Anteilnahme zwei gute Verfahren, wie man Sektflecken aus dem Tischtuch entfernt. Für Mrs. Greech waren zwar all die kleinen Kniffe und Winke für die tüchtige Hausfrau ein unnötiges Wissensgebiet, sie hatte sie sich aber so sorgsam und gewissenhaft eingeprägt wie ein englisches Kind, das im Flachland lebt und nicht herauskommt, die exakte Höhe der wichtigsten Berggipfel der Welt. Einige Frauen mit demselben Naturell und Temperament kennen die Lieblingsfarben, Lieblingsblumen und Lieblingskirchenlieder aller Mitglieder der Königlichen Familie auswendig; Mrs. Greech hätte wahrscheinlich in solch einer Prüfung versagt, aber sie wußte, was man mit Mohren macht, die man zu lange gelagert hat. Francesca versuchte sich nicht in einer neuen Ansprache. Alle Anstrengungen, Feststimmung aufkommen zu lassen, schienen von Frost befallen, und sie begnügte sich damit, ihr Glas erneut zu füllen und ohne große Worte auf das Wohl ihres Sohnes zu trinken. Die anderen folgten ihrem Beispiel, und Comus trank sein Glas mit einem bündigen »Vielen Dank allerseits« aus. Trotz der Befangenheit, die auf der Gesellschaft lastete, gab es aber keine peinliche Flaute im Gespräch. Henry Greech war einer jener wenigen Denker, die lieber laut denken; das Schweigen, das sich im Unterhaus wie ein Mantel auf ihn senkte, war eine Amtstracht, deren er sich im Privatleben so rasch wie möglich entledigte. Er wünschte nicht, das Abendessen als bloßer Zuhörer von Mr. Thorles Privatberichten über philantropische Regungen und Erfahrungen zu verbringen, sondern ergriff die erste Gelegenheit, um sich in einer Flut von satirischen Bemerkungen über das aktuelle politische Geschehen zu ergehen. Lady Veula war in ihrem häuslichen Kreis an dergleichen gewöhnt und lauschte mit der stoischen Gelassenheit, mit der wohl
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ein Eskimo das Wüten noch eines Schneesturms im Laufe des arktischen Winters hinnimmt. Serena Golackly fühlte eine gewisse Erleichterung darüber, daß der von ihr eingeführte Gast schließlich doch nicht das Gesprächsmonopol innehatte. Aber letzterer war eine zu bestimmte Persönlichkeit, als daß er es zulassen durfte, viele Minuten lang von dem redseligen Abgeordneten ins Abseits gedrängt zu werden. Henry Greech hielt einen Augenblick inne, um über einen seiner eigenen spöttischen Pfeile zu kichern, und sogleich peitschte Thorles durchdringende Stimme über den Tisch. »Ach, ihr Politiker!« rief er in wohliger Überlegenheit. »Ihr streitet ständig darum, wie die Dinge getan werden sollten, und folglich seid ihr nie in der Lage, irgend etwas zu tun. Möchten Sie hören, was ein unitarischer Pferdehändler in Brindisi mir über Politiker erzählt hat?« Ein unitarischer Pferdehändler in Brindisi hatte den ganzen Reiz des Unerwarteten. Henry Greechs Witzeleien auf Kosten der führenden Oppositionspolitiker sollten ebensowenig fortgesetzt werden wie die Schilderung seiner Frau von den zerbrochenen Suppentellern. Thorle war mit einer so großen Auswahl an Geschichten und Themen versorgt, die hauptsächlich von Armut, Verschwendung, Bekehrung, reformierten Menschen und dergleichen handelten, daß er damit fast ununterbrochen den Rest des Abendessens bestritt. »Ich möchte die Leute zum Denken bringen«, sagte er und richtete seine quellenden Augen auf seine Gastgeberin, »es ist so schwer, die Leute zum Denken zu bringen.« »Jedenfalls geben Sie ihnen die Gelegenheit«, sagte Comus dunkel. Als die Damen aufstanden, um den Tisch zu verlassen, ging Comus auf die andere Seite und hob Lady Veula einen Handschuh auf, der auf den Boden gefallen war.
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»Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Hund haben«, sagte Lady Veula. »Haben wir auch nicht«, sagte Comus, »es gibt keinen im Haus.« »Ich hätte schwören können, daß Ihnen heute abend einer durch die Diele gefolgt ist«, sagte sie. »Ein schwarzes Hündchen wie ein Schipperke?« fragte Comus leise. »Ja, genau.« »Ich selbst habe es heute abend gesehen; es rannte hinter meinem Stuhl hervor, als ich mich gerade setzen wollte. Sagen Sie den anderen nichts davon; es würde meine Mutter nur erschrecken.« »Haben Sie es schon einmal gesehen?« fragte Lady Veula rasch. »Einmal, als ich sechs Jahre alt war. Es lief hinter meinem Vater die Treppe hinunter.« Lady Veula sagte nichts. Sie wußte, daß Comus seinen Vater im Alter von sechs Jahren verloren hatte. Im Salon murmelte Serena nervös eine Entschuldigung für ihren redseligen Freund. »Wirklich, ein recht interessanter Mann, wissen Sie, und bis über die Ohren in allen möglichen Bewegungen drin. Genau die Sorte Mensch, die man auf eine feierliche Veranstaltung losläßt oder hinaus zu einer Missionshalle irgendwo tief in der Provinz schickt. Vorausgesetzt, da gibt's eine Rednertribüne und ein Harmonium und irgendeine Adlige im Vorsitz, dann ist er rundum glücklich; ich muß gestehen, ich hatte mir nicht klar gemacht, wie beherrschend er bei einer intimen Abendgesellschaft sein könnte.« »Ich meine, ein hervorragender Mann«, sagte Mrs. Greech; sie hatte die Verstümmelung ihrer Suppentellergeschichte vergeben.
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Die Gesellschaft löste sich früh auf, da die meisten Gäste noch anderweitigen Verpflichtungen nachkommen mußten. Erst verspätet des Abschiedscharakters der Veranstaltung bewußt, sagten die Gäste beim Adieu kleine Liebenswürdigkeiten zu Comus, prophezeiten ihm wie üblich Wohlergehen und hofften auf eine schließlich glückliche Rückkehr. Selbst Henry Greech unterdrückte für einen Augenblick seine Abneigung gegen den Jungen und machte einige joviale Scherze über dessen Heimkehr, die nach Ansicht des älteren Mannes in mutmaßlich erfreulicher Ferne lag. Allein Lady Veula erwähnte die Zukunft nicht; sie sagte nur einfach: »Leben Sie wohl, Comus«, aber ihre Stimme war am freundlichsten, und er schenkte ihr einen dankbaren Blick. Die Müdigkeit in ihren Augen war ausgeprägter denn je, als sie sich gegen die Kissen ihres Wagens zurücklehnte. »Was für eine Tragödie das Leben doch ist!« sagte sie sich laut. Serena und Stephen Thorle gingen als letzte, und Francesca stand einen Augenblick allein am oberen Treppenabsatz und beobachtete, wie Comus lachend und plaudernd die Gäste zur Tür begleitete. Die Wand aus Eis begann angesichts der baldigen Trennung zu schmelzen, und noch nie hatte er in ihren Augen so bewundernswert gut ausgesehen, nie schienen ihr sein munteres Lachen und seine gern mutwillige Fröhlichkeit ansteckender zu sein als an diesem Abend seines Abschiedsessens. Sie freute sich durchaus, daß er aus diesem müßigen, ausschweifenden und allzu verführerischen Leben fortkam, doch regte sich der Verdacht, daß sie, wenigstens für eine kurze Weile, den lebhaften Jungen vermissen würde, der in seinen besseren Stimmungen so anziehend sein konnte. Impulsiv wollte sie ihn jetzt, nach dem Weggang der Gäste, zu sich rufen, um ihn noch einmal zu umarmen
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und ihre Wünsche für Glück und Erfolg in der Fremde zu wiederholen und ihr Versprechen, ihn in nicht allzu ferner Zukunft wieder in dem Land, das er verließ, willkommen zu heißen. Sie beide sollten, fand sie, die Monate gereizten Gezänks und scharfer Debatten vergessen, die Monate kalter Zurückhaltung und Gleichgültigkeit und sich nur daran erinnern, daß er ihr geliebter Comus war wie damals, bevor sich aus dem schlimmen Früchtchen ein anstrengendes Problem entwickelt hatte. Aber sie fürchtete einen Zusammenbruch, und sie wollte am Vorabend seiner Abreise seine unbeschwerte Fröhlichkeit nicht trüben. Sie beobachtete ihn einen Augenblick lang, als er in der Diele stand und sich die Krawatte vor dem Spiegel zurechtrückte, und ging dann still zurück in ihren Salon. Die Tischgesellschaft war nicht sehr gelungen, und als Nachgeschmack blieb nur ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Mit einer schmissigen Musicalmelodie auf den Lippen und einem Ausdruck von Elend im Auge ging Comus aus dem Haus, um seine Lieblingsstätten aufzusuchen, die er so bald verlassen mußte.
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Fünfzehntes Kapitel Elaine Youghal saß beim Lunch im Speisesaal eines der teureren Wiener Hotels. Der Doppeladler mit seiner »k.u.k«-Inschrift war allgegenwärtig und verkündete die kaiserliche Gunst, deren sich das Etablissement erfreute. Mehrere Ellen gelben Tuchs mit einem weiteren Doppeladlerabbild flatterten am höchsten Flaggenstock über dem Gebäude und verrieten dem Kundigen, daß sich ein russischer Großherzog irgendwo in dem weitläufigen Komplex verborgen hielt. Durch kein heraldisches Symbol angekündigt, doch infolge naturgegebener Prachtentfaltung nicht zu verbergen, waren einzelne Staatsbürgerund -bürgerinnen aus der großen Republik der westlichen Welt. Ein paar Mitglieder des britischen Parlaments, Anhänger des Freihandels und mit der nützlichen Aufgabe betraut, nachzuweisen, daß die Lebenshaltungskosten in Wien phantastisch hoch seien, huschten mit gedämpfter Wichtigtuerei durch ein Land, dessen Überfluß sie auszukundschaften suchten; jeder Betrag auf ihrer Rechnung, von dem sie vermuteten, er sei übertrieben, war ihnen willkommen als ein weiterer Nagel zum Sarg ihrer fiskalischen Opponenten. Das ist das Großartige an Demokratien, daß man sie zwar irreführen kann, aber niemals zu etwas zwingen. Hier und da strahlten und leuchteten wie Heldentaten in einer trübgemusterten Welt die Prachtuniformen von Vertretern der österreichischen Militärklasse auf. Dann und wann, in diskreten Abständen, tauchten versprengte Einheiten des semitischen Stammes auf, die neunzehn Jahrhunderte europäischer Mißachtung nicht hatten vergessen machen können. Elaine saß mit Courtenay an einer üppig-elegant gedeckten Mittagstafel, auf der hochstielige Kelche aus
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böhmischem Glas glitzerten. Elaine war inzwischen zu dreifacher Erkenntnis gelangt. Erstens, und sehr enttäuschend: wenn man in den kostspieligeren Hotels in Europa absteigt, gleichgültig, in welchem Land man sich aufhält, muß man darauf gefaßt sein, eine bedrückende internationale Ähnlichkeit zwischen ihnen festzustellen. Zweitens, und sehr erleichternd: niemand erwartet, daß man in modernen Fhtterwochen sentimentale Verliebtheit demonstriert. Drittens, und höchst bestürzend: Courtenay Youghal schien keineswegs zu erwarten, daß sie im Privatleben ausgesprochen liebevoll war. Jemand hatte ihn, nach ihrer Heirat, als einen der von Natur aus junggeselligen Männer beschrieben, und ihr leuchtete allmählich ein, wie passend diese Beschreibung war. »Werden denn diese Deutschen zu unserer Linken niemals still sein?« fragte sie, als ein nicht endenwollender teutonischer Redefluß über Teppichstreifen hinweg zu ihnen herüberschrillte und dröhnte. »Seit wir hier sitzen, hat nicht eine der drei Frauen für eine Sekunde den Mund gehalten.« »Das werden sie gleich tun, wenn auch nur für einen Augenblick«, sagte Courtenay, »sobald nämlich dem bestelltes Essen aufgetragen wird, entsteht tödliche Stille am Nebentisch. Kein Deutscher kann zusehen, wie ein Gericht jemand anderem serviert wird, ohne daß ihn eine Riesenfurcht befällt, es könnte womöglich leckerer sein oder mehr fürs gleiche Geld als das, was er sich selbst bestellt hat.« Das überschwengliche teutonische Geplapper wurde vom ändern Saalende her durch eine noch aufdringlichere Unterhaltung von einer unermüdlichen Gruppe Amerikaner ausgeglichen, die über die jeweilige Küche des Landes, das sie gerade bereisten, zu Gericht saßen und nur wenige mildernde Umstände fanden.
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»Was Mr. Lonkins vorschwebt, ist so ein richtig sattes Kirschpastetchen«, verkündete eine Dame im Brustton aufrechter Überzeugung. »Ja, doch, genau«, bekräftigte ein Gentleman, offenkundig besagter Mr. Lonkins, »ein richtig sattes Kirschpastetchen.« »Wir hatten denselben Ärger schon vorher in Paris«, erklärte eine andere Lady, »der kleine Jerome und die Mädchen wollen keine creme renversee mehr essen. Was gäbe ich dafür, wenn sie ein richtiges Kirschpastetchen bekommen könnten.« »Ein richtig sattes Kirschpastetchen«, pflichtete ihr Mr. Lonkins bei. »Drüben in Ohio haben wir oft Pfirsichpastetchen gegessen, wirklich ausgezeichnet«, sagte Mrs. Lonkins und zapfte ihre Erinnerungen an, die sich sofort in einer Kaskade ergossen. Das Pastetchenthema schien sich für eine unendliche Diskussion zu eignen. »Denken denn diese Leute nur ans Essen?« fragte Elaine, als plötzlich die Qualitäten eines echten Lammbratens zur Sprache kamen und emphatische Anerkennung erhielten, wobei selbst der abwesende Klein-Jerome als Befürworter zitiert wurde. »Ganz im Gegenteil,« sagte Courtenay, »das ist ein weitgereister Klüngel, und der Mann hat eine bemerkenswert interessante Karriere gemacht. Es ist eine Art Heimweh bei ihnen, daß sie die Kochkunst und das Essen bekakeln und beklagen, da sie nie die Muße gehabt haben, daheimzubleiben und in Ruhe zu verdauen. Der Ewige Jude brabbelt wahrscheinlich ständig von irgendeinem Frühstücksgericht, das so lange Zubereitung braucht, daß er nie dazu kommt, es zu essen.« Ein Kellner plazierte die Wiener Nierchen vor Elaine. Im selben Augenblick senkte sich wundersames Schwei-
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gen auf die drei deutschen Damen am Nebentisch, und große Angst flackerte in ihren Augen auf. Danach brachen sie wieder in lärmendes Schwatzen aus. Courtenay hatte sich als verläßlicher Prophet erwiesen. Fast gleichzeitig mit dem Hauptgang erschienen zwei Damen, setzten sich an einen der Nachbartische und grüßten Elaine und Youghal mit würdevoller Herzlichkeit. Es waren zwei der mehr weltlich gesinnten und weitgereisten Exemplare aus Elaines reichem Tantenvorrat, und zufällig waren sie kurz im selben Hotel abgestiegen wie das junge Paar. Sie waren viel zu korrekt und vernünftig, um sich ihrer Nichte aufzudrängen, aber Elaines Meinung über die Heiligkeit des Flitterwochendaseins hatte sich bezeichnenderweise so geändert, daß sie insgeheim die Anwesenheit ihrer beiden Verwandten im Hotel begrüßt und Zeit und Gelegenheit gefunden hatte, ihnen mehr Gesellschaft zu leisten, als sie es noch vor ein paar Wochen für notwendig und wünschenswert gehalten hätte. Die jüngere der beiden konnte sie ganz gut, wenn auch moderat, leiden, wie man einen unprätentiösen Badeort mag oder ein Restaurant, das einen nicht beim Abendessen auch noch musikalisch zu erziehen versucht. Man hatte instinktiv das Gefühl, daß sie bestimmt nie wertvollere Diamanten tragen würde als eine andere Frau im Zimmer und bestimmt nie als einzige Person bei einem Schiffsunglück oder einem Hotelfeuer gerettet werden würde. Als Kind hatte sie bestimmt vorzüglich »Zu Einden, als die Sonne niedrig stand« aufsagen können, doch man konnte sicher sein, daß nichts sie je dazu verleitete. Die ältere Tante, Mrs. Goldbrook, hatte nichts vom Ruhekur-Charakter ihrer Schwester; die meisten fanden sie ziemlich irritierend, hauptsächlich wohl wegen ihrer Gewohnheit, völlig harmlose Fragen mit gewichtigem Ernst zu stellen. Mit
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ihrer Art, sich nach einer leichten Unpäßlichkeit zu erkundigen, gab sie sich mehr am Schicksal der Krankheit interessiert als an einem selbst, und war man die Erkältung glücklich los, so erwartete sie offenbar, daß man ihr deren künftige Anschrift mitteilte. Wahrscheinlich war ihre Art bloß Abwehrtaktik einer angeborenen Scheu, doch sie war nicht die Frau, der man Geheimnisse anvertraute. »Ein Anruf für Courtenay«, kommentierte die jüngere Tante, als Youghal durch den Speisesaal davoneilte. »Das Fernsprechnetz scheint einen sehr wesentlichen Bestandteil im Leben des jungen Mannes zu bilden.« »Das Telefon hat dem Ehestand seinen spitzesten Stachel gezogen«, sagte die ältere; »um wieviel diskreter als die Korrespondenz mit Feder und Tinte, die von den falschen Personen gelesen wird.« Elaines Tanten waren gewissenhaft weltlich eingestellt; sie waren das natürliche Produkt einer Familie, die seit vielen Generationen gewissenhaft puritanisch gewesen war. Elaine hatte sich bis zur Palatschinke durchgegessen, bevor Courtenay zurückkehrte. »Tut mir leid, daß ich so lang weg war«, sagte er, »aber ich habe etwas ganz Nettes für heute abend arrangiert. Es gibt einen recht hübschen Maskenball. Ich habe herumtelefoniert, um dir ein Kostüm zu beschaffen, und es hat geklappt. Es wird dir himmlisch stehen, und ich habe ja meinen Harlekin dabei. Madame Kelnicort, reizende Person das, begleitet dich und wird dich, wann immer du willst, nach Hause bringen; auf mich ist da kein Verlaß, wenn ich erst mal verkleidet bin. Wahrscheinlich feiere ich bis in alle Herrgottsfrühe.« Ein Maskenball in einer fremden Stadt entsprach kaum Elaines Vorstellung von Vergnügen. Vorsätzlich die ei-
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gene Identität in einer Umgebung zu verbergen, wo man völlig unbekannt ist, kam ihr witzlos vor. Mit Courtenay war das natürlich anders; er schien überall Freunde und Bekannte zu haben. Indes war die Sache schon so weit gediehen, daß eine Ablehnung sehr unfreundlich gewirkt hätte. Elame aß ihre Palatschinke auf und zeigte höfliches Interesse für ihr Kostüm. »Was stellen Sie da r ?« fragte Madame Kelnicort am Abend, als sie die Mäntel ablegten und sich bereit machten, den schon vollen Ballsaal zu betreten. »Ich glaube, ich soll Marjolaine de Montfort sein, wer auch immer das war«, sagte Elaine. »Courtenay behauptet, er habe mich nur heiraten wollen, weil ich seinem Ideal von ihr entspreche.« »Aber was für ein Fehler, jemanden darzustellen, von dem man nichts weiß. Um einen Maskenball zu genießen, sollte man das eigene Ich abschütteln und in die Rolle dessen schlüpfen, den man darstellt. Und Courtenay ist schon seit dem halben Abendessen Harlekin; ich konnte den Schelm in seinen Augen sehen. So gegen sechs Uhr früh wird er einschlafen und als britischer Parlamentarier auf Hochzeitsreise aufwachen, doch heute abend ist er uneinge'schränkt Harlekin.« Elaine stand im Ballsaal, umgeben von einer lachenden, sich stoßenden Menge von Pierrots, Jockeys, Schäferinnen ä la Meißnerporzellan, rumänischen Bauernmädchen und all den lebendigen Scheingeschöpfen, die Bestandteil eines Maskenballs sind. Als sie so dastand und zuschaute, überfiel sie ein Überdruß, ein Verdruß vor allem mit sich selbst. Sie assistierte, wie die Franzosen sagen, bei einem der fröhlichsten Ereignisse in Europas fröhlichster Hauptstadt und spürte nur, daß sie von der Fröhlichkeit um sie herum völlig unberührt blieb. Gewiß war es interessant, sich die Kostüme anzuschauen, und ange-
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nehm, der Musik zu lauschen, und das machte ihr auch Freude, aber die Ausgelassenheit des Ganzen steckte sie nicht an. Es war, als beobachtete sie ein Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte und an dessen Verlauf sie nicht interessiert war. Elaine fragte sich, wann sie wohl frühestens Madame Kelnicort dem Vergnügen entreißen konnte, ohne sich der puren Grausamkeit schuldig zu machen. Dann schlängelte sich Courtenay aus dem dichten Gewühl heraus und kam auf sie zu, ein übermütig lachender Courtenay, der jünger und schöner aussah, als sie ihn je gesehen hatte. Sie konnte in ihm an diesem Abend kaum den aufstrebenden jungen Parlamentsredner wiedererkennen, der vor überfülltem Unterhaus die Regierung wegen ihrer Außenpolitik in Verlegenheit bringt. Er bat sie um den nächsten Tanz, der gerade einsetzte, und führte sie geschickt mitten in die walzertanzende Menge hinein. »Du siehst Marjolaine ähnlicher, als ich es je von einer Sterblichen unserer Zeit erwartet hätte«, erklärte er, »nur hat Marjolaine gelegentlich gelächelt. In deinem Gesicht steht eher die Frage, ob du genügend Tee für das Frühstück des Personals zurechtgestellt hast. Mach dir nichts aus meiner Neckerei; ich hebe es, wenn du so aussiehst, und außerdem gibt es einen herrlichen Kontrast zu meinem Harlekin ab - meine Selbstsucht drängt sich, wie du merkst, wieder nach vorn. Aber du solltest wirklich, sobald du dich langweilst, nach Hause gehen; unsere treffliche Kelnicort hat im Winter noch reichlich Tanzmöglichkeiten, opfere sie also ruhig.« Etwas später am Abend ließ Elaine einen Tanz mit einem ernsten jungen Mann von der russischen Botschaft über sich ergehen. »Monsieur Courtenay amüsiert sich blendend, nicht?« stellte er fest, als der so jugendlich aussehende Harlekin
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an ihnen vorbeiflog, einer flirrenden, farbenprächtigen Libelle gleich. »Warum hat der gütige Gott Ihren Landsleuten die Gabe ewiger Jugend geschenkt? Auch einigen Ihrer Landsmänninnen, jedenfalls allen Männern.« Elaine vermochte sich viele ihrer Landsleute vorzustellen, die weder jugendlich waren noch es jemals gewesen sein konnten, aber auf Courtenay traf diese Bemerkung zu. Und die Erkenntnis hatte etwas Bedrückendes. Würde er immer jugendlich bleiben und versessen auf Trubel und Heiterkeit, während sie gesetzter und zurückhaltender wurde? Sie hatte den lebhaft unbändigen Comus aus ihren Gedanken verbannt, wie er sich selbst durch seine Verdrehtheit aus ihrem Herzen verbannt hatte, und sich den brillanten jungen komme d'affaires zum Ehemann gewählt. Er hatte ihr, während er um sie freite, seine selbstsüchtige Seite ehrlicherweise nicht verschwiegen, doch hatte sie sich darauf eingestellt, der Selbstsucht einer öffentlichen Persönlichkeit, deren Karriere vor allem zu bedenken war, die gebührenden Opfer zu bringen? Müßte sie nun auch dem Harlekingeist, der sich jetzt als Grundzug seiner Natur herausschälte, Opfer bringen? Hat man sich erst an die Vorstellung einer bestimmten Art von Aufopferung gewöhnt, ist es höchst irritierend, einer anderen entgegensehen zu müssen. Mancher, der geduldig um des Glaubens willen das Martyrium auf sich nähme, würde sich voller Empörung weigern, zum Neuralgiemärtyrer zu werden. »Ich glaube«, fuhr der junge Diplomat fort, »ihr Engländer mögt unter anderm Tiere so sehr, weil ihr selbst so herrliche seid. Ihr seid lebhaft, weil ihr lebhaft sein wollt, nicht weil man euch anschaut. Monsieur Courtenay ist gewiß ein Tier. Ich meine das als großes Kompliment.« »Bin ich ein Tier?« fragte Elaine.
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»Ich wollte gerade sagen, Sie sind ein Engel«, sagte der Russe etwas verlegen, »aber vermutlich trifft das nicht; Engel und Tiere kämen nie miteinander aus. Um mit Tieren auszukommen, muß man Humor haben, und ich glaube nicht, daß Engel über Humor verfügen; verstehen Sie, sie hätten nichts davon, da sie nie irgendeinen Scherz hören.« »Vielleicht«, sagte Elaine mit einer Spur von Bitterkeit in ihrer Stimme, »vielleicht bin ich ein Gemüse.« »Ich glaube, Sie erinnern mich am meisten an ein Gemälde«, sagte der Russe. Elame hörte den Vergleich nicht zum ersten Mal. »Ich weiß«, sagte sie, »die schmale Galerie im Louvre: Leonardo da Vinci zugeschrieben.« Offenbar beschränkte sich ihre Wirkung bei anderen Menschen auf ihre äußere Erscheinung. Sah Courtenay sie etwa so? Sollte das ihre Aufgabe und ihr Platz im Eeben sein: Kulisse, Dekoration für anderer Leute Triumphe und Tragödien ? Irgendwie hatte sie an diesem Abend das Gefühl, das einen General beschliche, der eindrucksvolle Streitkräfte ins Feld führte und nichts damit ausrichten könnte. Sie war jung, sah gut aus, besaß beträchtlichen Reichtum und hatte sich soeben nach Meinung der Mehrheit ausgesprochen gut verheiratet. Doch schon schien sie abseits zu stehen wie ein Zuschauer, wo sie eigentlich damit gerechnet hatte, eine Hauptrolle zu spielen. »Gefällt Ihnen dergleichen?« fragte sie den jungen Russen, wobei sie zu dem frohen Getümmel der Maskierten hinnickte und eigentlich erwartete, ein belustigtes »Nein« zu hören. »Natürlich, gewiß doch«, antwortete er. »Kostümfeste, Basare, Cafe Chantant, Kasino, alles, was nicht das wirkliche Leben ist, gefällt uns Russen. Das wirkliche
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Leben ist für uns das, womit sich Maxim Gorki befaßt. Es interessiert uns ungemein, aber wir möchten ihm doch gern einmal entwischen.« Madame Kelnicort kam mit einem weiteren möglichen Tanzpartner an, und Elaine verkündete feierlich: Noch einen Tanz und dann zurück ms Hotel. Ohne großes Bedauern zog sie sich von der Lustbarkeit zurück, die Courtenay im Bewußtsein genoß, dies sei das Leben, und der junge Russe in der festen Überzeugung, dies sei es nicht. Am nächsten Morgen frühstückte Elaine fast zur gewohnten Stunde am Tisch ihrer Tanten. Courtenay schlief den Schlaf eines glücklich erschöpften Tieres. Man sollte ihn um elf Uhr wecken, danach nähmen ihn die Neue Freie Presse, die Zeit und seine Toilette in Anspruch, anschließend käme er zum Mittagessen hinunter. Nicht viele Hotelgäste saßen beim Frühstück, als Elaine die Szene betrat, doch schien der Saal wegen einer durchdringenden Stimme, die gerade berichtete, wie himmelweit das Wiener Durchschnittsfrühstück hinter den Erwartungen und Wünschen von Klein-Jerome und den Mädchen zurückbleibe, voller zu sein, als er tatsächlich war. »Sollte Klein-Jerome je Präsident der Vereinigten Staaten werden«, sagte Elaine, »könnte ich der Presse einen überaus informativen Artikel über seine kulinarischen Vorlieben und Abneigungen liefern.« Die Tanten erkundigten sich nur diskret nach der Lustbarkeit vom vorigen Abend. »Wenn Elaine doch bloß einen kleinen Flirt mit jemandem anfinge«, sagte Mrs. Goldbrook, »es würde Courtenay daran erinnern, daß er nicht der einzige attraktive Mann auf der Welt ist.« Elaine erfüllte jedoch ihre Hoffnungen nicht; sie redete
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von dem Ball so gleichgültig, wie sie eine Wohltätigkeitsausstellung von Produkten ländlicher Heimarbeit beschrieben hätte. Unschwer ließ sich aus ihrer Darstellung das Bekenntnis heraushören, daß sie sich leicht gelangweilt hatte. Von Courtenay bekamen die Tanten später am Tag einen viel lebendigeren Eindruck von der Festlichkeit, woran sich nur zu klar zeigte, daß es zumindest ihm gelungen war, sich zu amüsieren. Auch schien seine gute Meinung von der eigenen Anziehungskraft nicht ernstlich gelitten zu haben. Er war sichtlich bester Laune. »Das Geheimnis, wie man seine Flitterwochen genießt«, sagte Mrs. Goldbrook nachher zu ihrer Schwester, »ist es, sich nicht allzuviel vorzunehmen.« »Du meinst. . . ?« »Courtenay begnügt sich damit, eine einzige Person zu amüsieren und glücklich zu machen, und er hat durchschlagenden Erfolg.« »Ich bin mir ganz sicher, daß Elaine nicht sehr glücklich sein wird«, sagte ihre Schwester, »zumindest aber hat Courtenay sie davor bewahrt, den größten Fehler, den sie hätte begehen können, zu machen - jenen jungen Bassington zu heiraten.« »Er hat ihr auch dabei geholfen«, sagte Mrs. Goldbrook, »den zweitgrößten Fehler ihres Eebens zu begehen - Courtenay Youghal zu heiraten.«
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Sechzehntes Kapitel Es war Spätnachmittag am Ufer eines rasch dahinströmenden Flusses, eines Flusses, von dem ein solcher Hitzedunst ausstrahlte, als wäre er ein stickig stehendes Gewässer, und der doch den Eindruck machte, als wirbelte er zielstrebig wie ein Lebewesen dahin, rastlos in seinem Eifer und unbarmherzig, wütend sich auf jedes Hindernis stürzend, das seinen Lauf zu hemmen versuchte; ein unfreundlicher Fluß, dessen Fluten sich anzuvertrauen lebensgefährlich war. Im heißen, windstillen Schatten der Bäume an seinem Ufer stieg jener scharfe, alles durchdringende Geruch auf, der wohl überall in den Tropen anzutreffen ist, ein Geruch wie von einer monströsen modrigen Schnapsbrennerei, in der seit Hunderten von Jahren Krauter und Gewürze zermahlen, destilliert und gelagert worden sind und deren Fenster sich selten öffnen. In der betäubenden Hitze, die noch unangefochten die Szenerie beherrschte, wirkten Insekten und Vögel widernatürlich lebhaft und rege, flitzten in ihrer Farbenpracht durch die Sonnenstrahlen und krabbelten über den ausgetrockneten Boden in Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeit; die Fliegen waren mit Gott weiß was beschäftigt und die Fliegen-Fänger mit den Fliegen. Vieh und Menschen zeigten sich nicht ebenso gleichmütig gegenüber der Temperatur; die Sonne müßte sich noch weiter neigen, bevor die Erde zum geeigneten Schauplatz ihrer neuauflebenden Aktivitäten werden könnte. Im schattigen Parterre einer abgelegenen Rasthütte lag eine Schar einheimischer Träger im Schlaf oder plauderte dösig durch die letzten Stunden der langen Mittagspause; hellwach, doch beinahe regungslos im Bann einer ungeheuren Schlaffheit, saß ihr europäischer Gebieter allein in einem der oberen Räume und starrte
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durch einen Fensterschlitz auf das Eingeborenendorf, das sich in dichten Hüttenansammlungen dahinzog, umgeben weithin von bebautem Land. Es glich einem riesigen menschlichen Ameisenhügel, der alsbald sich regen und von Leben wimmeln würde, als hätte der Sonnengott ihn bei seinem endgültigen Davonschreiten mit einem achtlosen Tritt aufgestört. Noch während Comus hinausschaute, konnte er das Anfangsstadium des erwachenden Abends sehen. Frauen, die vor ihren Hütten hockten, begannen ihren Reis oder Mais für das Nachtmahl zu stampfen, Mädchen griffen sich ihre Wasserkrüge, um damit zum Fluß hinunterzugehen, und kecke Ziegen zwängten sich durch die Öffnungen schadhafter Zäune, um Nachbars Gartenstück zu plündern; ihr hastiger Rückzug verriet, daß zumindest hier jemand treu und aufmerksam Wache hielt. Hinter einer Hütte, die an einem steilen Abhang klebte, genau der Rasthütte gegenüber, waren zwei Jungen mit schläfriger Schaffenskraft dabei, Holz zu spalten; weiter entfernt auf der Dorfstraße steigerte sich eine Hundemeute gemächlich in Raufstimmung hinein. Hier und da streiften grimmig aussehende Schweinehorden auf Nahrungssuche umher, in unerfreulicher Übertretung ihrer auf Abfallbeseitigung begrenzten Vollmachten. Und von den Bäumen, die das Dorf begrenzten und markierten, ertönte das schreckliche, unermüdliche, gehässige Krächzen eisenkehliger Krähen. Comus saß da und beobachtete das alles mit zunehmend schmerzhafter Niedergeschlagenheit. Es war so völlig banal in seinen Augen, so ohne jedwedes Interesse, und dennoch so wirklich, so ernsthaft, so unerbittlich in seiner Fortdauer. Überdruß stellte sich ein bei dem Gedanken an diese ewige Reproduktion. Alles hatte sich immer so abgespielt wie gerade jetzt am Ufer des großen
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dahinwirbelnden Stroms: dieses Ackern und Pflanzen und Ernten, dieses Handeltreiben und Vorrätesammeln, dieses Festefeiern und Götzenanbeten und Sich-Lieben, Begraben und Verheiraten, dieses Kindaustragen und Kindaufziehen, all das hatte sich abgespielt in der flimmernden Gluthitze und in den warmen Nächten, während er noch zur Schule ging und Afrika dunkel als einen Teil der Erdoberfläche gelten ließ, von dem man tunlichst eine flüchtige Ahnung hatte. Es hatte sich schon in all seiner Trivialität, in all seiner ernsthaften Intensität abgespielt, als sein Vater und sein Großvater ihrerseits Schulkinder gewesen waren, es würde sich ebenso unermüdlich abspielen, lange nachdem Comus und seine Generation tot wären, ebenso wie die Schatten länger würden und dahinschwänden unter den Maulbeerbäumen in jenem fern-fernen englischen Garten, der den alten steinernen Springbrunnen umgab, wo ein bleierner Otter für alle Zeit einen bleiernen Eachs in seinen Fängen hielt. Comus stand ungeduldig von seinem Platz auf und ging müde durch die Hütte zu einem anderen Fensterspalt, der eine weite Aussicht auf den Fluß bot. Etwas an dessen unentwegtem Vorwärtsdrängen, seinen Wasserunmassen, die für alle Zeit dahmbrausten, solange das Gesicht der Erde unverändert bliebe, faszinierte und deprimierte alsbald. An seinem ferneren Ufer konnte man in Abständen weitere von Leben wimmelnde Dörfer sehen, mit ihren Streifen bepflanzten Landes und schmalen Buschlichtungen fürs Vieh, ihren beweglichen Flekken, die Rinder, Ziegen, Hunde und Kinder bedeuteten. Und weiter stromaufwärts, verloren im Waldwuchs, der seine Ufer säumte, versteckten sich noch mehr Dörfer, menschliche Herdenplätze, wo gelebt und gearbeitet und Tauschhandel getrieben wurde, wo man sich zankte und Göttern huldigte, Krankheiten bekam und zugrunde
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ging, während der Fluß vorbeizog, unaufhaltsam mit dem brausenden Wirbel seiner glitzernden Fluten. Es war nicht verwunderlich, daß frühe primitive Kulturen dem Geist des großen Stromes, an dessen Ufer sie lebten, Sühneopfer dargebracht hatten. Zeit und Fluß waren die beiden mächtigen Kräfte, die hier stärker schienen als alles andere. Es war fast eine Erleichterung, sich zurück zum anderen Ausblick zu begeben und wieder das Dorfleben zu beobachten, das sich jetzt ernsthaft zu regen begann. Die Prozession der Wasserträgerinnen hatte sich zu einer langen, schwatzenden Kette Richtung Fluß hinunter formiert. Comus fragte sich, wieviele Zehntausendmale sie wohl diese Prozession schon seit den ersten Tagen der Dorfansiedlung gebildet hatten. Sie hatten es getan, als er noch auf dem Cricketplatz seiner Schule spielte, als er die Weihnachtsferien in Paris verbrachte, als er sorglos von Theateraufführung und Tanzveranstaltung zu Abendessen und Kartenpartie zog, genau wie sie es jetzt eben taten; und sie würden es noch tun, wenn niemand mehr lebte, der sich an Comus Bassington erinnerte. Dieser Gedanke kehrte mit schmerzhafter Hartnäckigkeit immer wieder, eine morbide Wucherung, die aus seiner Einsamkeit entstand. Stumm hinausstarrend auf den sich abrackernden, schwitzenden Menschen-Ameisenhügel, wunderte sich Comus, wie missionarische Schwärmer hoffnungsvoll daran arbeiten konnten, ihre Religion mit all den hausgezüchteten Produkten väterlich-engstirnigen Wohlwollens in diese hitzeverdorrte, fiebergeplagte Wildnis zu verpflanzen, wo Menschen wie zum Köder ausgeworfene Maden lebten und wie Fliegen starben. An Dämonen ließe sich noch glauben, wenn man seine Phantasie nicht kräftig zugehe, aber an einen gütigen, alles-lenkenden
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Gott niemals. Irgendwo im Westen von England hatte Comus einen Onkel, der in einem rosenumrankten Pfarrhaus lebte und einen zuträglich mildherzigen Glauben lehrte, der sich sinngemäß in »Lämmlein, sag, wer schuf dich denn?« ausdrückte und getreulich das schöne schlichte Christkindgefühl vom angelsächsischen Europa widerspiegelte. Als was für ein fernes, unwirkliches Märchen erschien das hier in diesem westafrikanischen Land, wo die menschlichen Körper so wenig bedeuteten wie die Blasen auf dem Ölschaum des großen Stroms und wo es üppiger, nichtsnutziger Vorstellungskraft bedurfte, ihnen unsterbliche Seelen zuzuschreiben! Dort, wo er herkam, war Comus daran gewöhnt, den Einzelnen als eine festumrissene, eigenwillige Persönlichkeit anzusehen, die ihren jeweiligen Stempel auf die sie umgebenden Verhältnisse drückte; der Mensch hatte Erfolg oder keinen, meistens war er Mittelmaß und wurde kritisiert, gerühmt, verurteilt, ge- und behindert, toleriert oder gefördert. Jedenfalls hatte der einzelne, ob Langweiler oder herausragende Größe, seinen Wirkungskreis, war der nun klein oder groß. Er herrschte am Frühstückstisch oder rieb die Regierung auf, je nach Fähigkeit oder Gelegenheit, vielleicht besaß er auch nur ein aufreizendes Gehabe. Zumindest war es sehr wahrscheinlich, daß er eine Seele hatte. Hier war der Mensch einfach nur ein Bestandteil einer nicht zu zählenden Bevölkerung, ein unwesentlicher Posten in einer nachlässig aufgestellten Verlustliste. Selbst seine eigene Position als Weißer, deutlich abgehoben von der schwarzen Eingeborenenhorde, bewahrte Comus nicht vor dem niederschmetternden Gefühl der eigenen Nichtigkeit, das sein erster Fieberanfall ihm beschert hatte. Er war ein verlorener, seelenloser Körper in einem großen, gleichgültigen Land; stürbe er, würde ein anderer seinen Platz einnehmen,
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seine wenigen Habseligkeiten würden inventarisiert und zur Küste geschickt werden, jemand anders tränke den Tee oder Whisky, der noch von ihm stammte, zu Ende das wäre alles. Es war schon fast Zeit, zur nächsten Station aufzubrechen, wo er speisen, zumindest etwas essen würde. Aber die ihm vom Fieber hinterlassene Mattigkeit ließ die Langweiligkeit eines Marsches über endlose Urwaldpfade zum Stumpfsinn werden, dem man so lange wie möglich zu entgehen trachtete. Die Träger waren nicht abgeneigt, eine weitere halbe Stunde verstreichen zu lassen, und Comus zog aus seiner Jackentasche einen abgegriffenen Romanpappband. Er handelte von den weitschweifig verschlungenen Liebesabenteuern eines verblüffend uninteressanten Paars, und nicht einmal in seinem beinahe bücherlosen Zustand hatte Comus es fertiggebracht, mehr als Zweidrittel seiner faden Länge zu bewältigen; in den Einband waren jedoch einige Reklameseiten gebunden, und diese studierte der Verbannte mit gieriger Aufmerksamkeit, wie sie die Liebesgeschichte selbst niemals hätte bewirken können. Der Name eines Geschäfts, einer Straße, die Adresse eines Restaurants erinnerten ihn bitter an die verlorene Welt, eine Welt, in der man aß und trank und flirtete, um Geld spielte und ausgelassen war, eine Welt, in der man debattierte und intrigierte und an den Drähten zog, politische Kämpfe ausfocht oder sich auf Kompromisse einigte - und eine Welt, die sich nicht die Spur um ihre Verstoßenen kümmerte, die auf Urwaldpfaden zogen und durch dunstige Sümpfe marschierten oder fiebergeschüttelt daniederlagen. Comus las immer wieder jene wenigen Reklamezeilen, ebenso wie er ein stark zerknittertes Programm einer Premiere im Straw Exchange Theater liebevoll hütete; sie schienen ihm die Vergangenheit, die
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schon so verschwommen und so weit entrückt war, ein wenig näher zu bringen. Für einen Augenblick konnte er sich fast an jene Lieblingsorte zurückversetzt fühlen; dann schaute er um sich und schob überdrüssig das Buch beiseite. Die schwüle Hitze, der Urwald, der dahinbrausende Fluß umzingelten ihn. Die beiden Jungen, die Holz gespalten hatten, hörten mit ihrer Arbeit auf und streckten den Rücken; plötzlich versetzte der kleinere dem anderen mit einer Latte, die er noch in der Hand hielt, einen schallenden Schlag und stürmte mit einem Aufschrei aus Lachen und gespieltem Entsetzen den Abhang hinauf, während ihm der größere Bursche in wilder Verfolgung nachsetzte. Rauf und runter stoben sie den steilen buschbewachsenen Hang, sich drehend und wendend und zur Seite springend, manchmal in einem Wirbel von Gekreisch und Schlägen aufeinanderstoßend und sich wie zwei balgende Kätzchen wälzend, um sich danach loszureißen zu neuer Herausforderung und neuer Verfolgungsjagd. Von Zeit zu Zeit lagen sie schweratmend da, wie es schien, m völliger Erschöpfung, doch dann begann das wilde Umhergesause von vorn, ihre dunklen Körper flitzten durch das Gesträuch, verschwanden unvermutet dort und tauchten ebenso unvermutet an anderer Stelle wieder auf. Mit einem Mal sprangen zwei Mädchen ihres Alters, die vom Wasserholen zurück waren, sie aus dem Hinterhalt an, und die vier tollten übermütig miteinander herum, so daß die schrillen Echos und das Aufblitzen von Armen und Beinen den Abhang zu Leben erweckten. Comus saß da und schaute zu, erst mit belustigtem Interesse, dann überwältigt von einer neuen Welle von Niedergeschlagenheit und bitterem Kummer. Diese wilden Menschenkätzchen verkörperten Lebensfreude, er war der Außenseiter, der einsame Fremde, der bei etwas zuschaute, das
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ihm verwehrt blieb, einem Glück, an dem er keinerlei Anteil hatte. Er ginge schon bald aus dem Dorf fort, und die Füße seiner Träger hinterließen Abdrücke im Staub: das wäre seine nachhaltigste Hinterlassenschaft in dieser kleinen Oase von strotzendem Leben. Und jenes andere Leben, worin er sich einst so überzeugt von der eigenen Unentbehrlichkeit bewegt hatte, wie spurlos war er daraus verschwunden! Für all die lachenden Menschenmengen dort, die Kartenpartien und Rennmeetings und Gesellschaften auf dem Lande war er bloß ein Name, an den man sich erinnerte oder den man schon vergessen hatte: Comus Bassington, der Junge, der fortging. Er hatte sich selbst immer geliebt und sich nie groß darum gekümmert, ob ihn sonst noch jemand wirklich liebte, und jetzt wurde ihm klar, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Und gleichzeitig wußte er, daß er es bei nächster Gelegenheit genauso unbeirrbar verschleudern würde, genauso eigensinnig. Das Schicksal betrog ihn mit falschem Würfelspiel; er würde immer verlieren. Ein einziger Mensch auf der ganzen Welt hatte ihn gern gehabt, länger, als er sich erinnern konnte, hatte ihn vielleicht mehr geliebt, als er es ahnte, liebte ihn vielleicht gerade jetzt. Aber eine Wand aus Eis hatte sich zwischen ihm und ihr aufgetürmt, und über sie hinweg wehte jener frostige Luftzug, der Zuneigung erkalten, ja absterben läßt. Die Worte eines altbekannten Liedes, wehmütige Klage über das Verlorene, klangen mit hartnäckigem Hohn in ihm nach: Größre Liebe findst du nicht! Kommst du niemals wieder? Wenn Liebe ihn zurückbringen sollte, müßte er auf ewig Verbannter bleiben. Seine Grabinschrift hätte bei jenen, die sich seiner erinnerten, den Wortlaut: Comus Bassington, der Junge, der nie wiederkam.
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Und in seiner unaussprechlichen Einsamkeit senkte er den Kopf auf die Arme, um nicht mehr die ausgelassene Balgerei drüben auf dem Hang ansehen zu müssen.
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Siebzehntes Kapitel Die kalte Strenge eines grauen Dezembertages herrschte über den St. James' Park, jenes Heiligtum aus Grünfläche, Baum und See, in das bürgerliche Neuerer immer wieder ehrgeizig hineingestürmt sind, bloß um zu erkennen, daß sie ihre Lackschuhe ausziehen mußten, denn der Boden, auf dem sie standen, ist heiliger Boden. In der einsamen Stunde des frühen Nachmittags, wenn die Arbeiter an ihre Arbeit zurückgekehrt sind und die Spaziergänger sich noch nicht wieder eingefunden haben, ging Francesca Bassington ruhelos über die kiesbestreute Promenade, die am Zierteich entlangführte. Das grenzenlose Elend, das ihr Herz erfüllte und ihr Denken lahmte, fand Widerhall in ihrer Umgebung. Es gibt einen Kummer, der in alten Parks und Gärten gerne verweilt und den geschäftige Straßen festzuhalten nicht die Muße haben; mögen die Toten ihre Toten in Whitehall oder auf der Place de la Concorde begraben, es existieren stillere Orte, wo sie noch ein Stelldichein mit den Lebenden haben können und wo sie den Generationen, die sie beinahe schon vergessen haben, die Erinnerung an ihr vergangenes Selbst aufzudrängen vermögen. Sogar im touristenüberlaufenen Versailles sucht die Trostlosigkeit einer endlosen Tragödie die Terrassen und Springbrunnen heim, wie ein Blutfleck, der sich nicht auswaschen läßt; im Sächsischen Garten zu Warschau schwebt die Erinnerung an längst Dahingegangenes, so alt wie die stattlichen Bäume, die seine Spazierwege beschatten, und die Karpfen, die heute in seinen Teichen schwimmen und sicherlich schon schwammen, als der »Liebe Augustin« noch leibhaftig lebte und nicht bereits ein unsterbliches Couplet war. Und der St. James' Park mit seinen Rasenflächen und
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Promenaden und Wasservögeln bewahrt noch seine Reminiszenzen an eine entschwundene Gesellschaftsschicht von Männern und Frauen, deren Glück und Leid mit seiner Geschichte verwoben sind, matt und verblaßt heute, die einst strahlten und leuchteten, wie ein verblichenes Muster in einer alten Tapisserie. Hierhin hatte Francesca ihre Schritte gelenkt, als die kaum zu ertragende Untätigkeit des Wartens sie aus ihrem Zuhause vertrieben hatte. Sie wartete auf die schlimmste aller Nachrichten, die Nachricht, die nicht die Hoffnung tötet - da es keine gegeben hat -, sondern allein der Spannung ein Ende setzt. Eine frühere Mitteilung hatte besagt, daß Comus krank sei, was viel oder wenig heißen konnte; dann war am Morgen eine Depesche eingetroffen, die nur eines bedeutete; in wenigen Stunden erhielte sie dann nach dieser erst vorläufigen die endgültige Nachricht. Sie wußte bereits, was die erwartete Nachricht ihr sagen würde. Sie wußte, sie würde Comus nie wiedersehen, und sie wußte jetzt auch, daß sie ihn mehr als alles liebte, was die Welt ihr zu geben vermochte. Es war kein plötzlicher Anfall von Mitleid oder Reue, der ihr Urteil trübte oder ihre Erinnerung an ihn verklärte; sie sah ihn, wie er war, den schönen, widerspenstigen, lachenden Jungen mit seiner hoffnungslosen Unvernunft und seinem Eigensinn, mit seiner Grausamkeit, die nicht einmal ihn selbst verschonte; und so wie er war, wie er immer gewesen war, stellte er das einzige dar — das wußte sie —, das i hr vom Schicksal zu lieben bestimmt war. Sie hielt sich nicht damit auf, sich anzuklagen oder zu entschuldigen, daß sie ihn hinausgeschickt hatte zu dem, was sich als sein Tod erweisen sollte. Es war, zweifellos, richtig und vernünftig für ihn gewesen, dorthin zu gehen, wie Hunderte von anderen Männern auf der Suche nach einer Karriere; das Furchtbare daran war, daß er niemals
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zurückkommen würde. Die alte grausame Hoffnungslosigkeit, die stets ihren Stolz und ihre Freude über sein gutes Aussehen, seine Lebhaftigkeit und seinen launischen Charme gedämpft hatte, hatte ihr einen vernichtenden Schlag versetzt; Comus starb irgendwo, Tausende von Meilen entfernt, ohne Hoffnung, wieder gesund zu werden, ohne ein ermunterndes Wort der Liebe; und ohne Hoffnung, ohne jeglichen Trost wartete sie auf die Nachricht vom Ende. Das Ende; jene endgültige Schreckensnachricht, die mit dem Wort »nimmermehr« einen Strich durch sein und ihr Leben ziehen würde. Das geschäftige Treiben in den Straßen war ihr eine unerträgliche Qual gewesen. Nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und die Fröhlichkeit der Festzeit, bloß aufgesetzt oder echt, brach allenthalben durch. Im ganzen Westend wurden Weihnachtseinkäufe getätigt, ängstlich beflissen oder hingebungsvoll egoistisch, und machten die Gehsteige an gewissen favorisierten Stellen kaum passierbar. Stolze Eltern, päckchenbeladen und von ihrem Jungvolk eskortiert, debattierten mit anderen Eltern das Äußere und die Eigenarten ihrer jeweiligen Sprößlinge und flüsterten einander überlaut -Vertrauliches ins Ohr über die jeweiligen Schwierigkeiten und Erfolge ihrer Bemühungen, die passenden Geschenke für jedermann zu finden. Zurufe, wo man diesen oder jenen Gegenstand am besten und billigsten bekommen könnte, vermischten sich mit den Salven von »Frohe Weihnachten«. Francesca die sich wie rasend den Weg durch diesen Glückstrubel bahnte, jenes einsame Totenbett vor Augen, erschien es wie eine stumpfe Verhöhnung ihres Leids; konnten sich denn die Menschen nicht darauf besinnen, daß es auf der Welt neben den frohen Geburtstagen auch die Kreuzigungstage ga b? Jede Mutter, die glücklich in
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Begleitung ihres blühend aussehenden und gutgewachsenen Sohnes an ihr vorbeiging, versetzte ihr aufs neue einen Stich ins Herz, und sogar die Geschäfte weckten schmerzliche Erinnerungen. Dort gab es den Teesalon, wo sie oft miteinander Tee getrunken oder in Zeiten der Entfremdung mit ihren jeweiligen Freunden an jeweils verschiedenen Tischen gesessen hatten. Da gab es die Läden, deren zu unmäßiger Höhe aufgelaufene Rechnungen Anlaß gewesen waren für jene wiederholt sich abspielenden Szenen gegenseitiger Beschuldigung, und dort das Kolonialausstattungsgeschäft, wo er, wie er es mit galligem Spott ausgedrückt hatte, Totengewänder für sein Lebendbegräbnis gekauft hatte. Hierin zumindest war er härter gegen sich gewesen, als es dem Schicksal selbst beliebte; niemals, solange Francesca lebte und bei Verstand war, würde sie vergessen können. Dieses Betäubungsmittel bliebe ihr versagt. Nicht nachlassend, schonunglos würde ihr Gedächtnis für alle Zeit bleiben, um sie an jene letzten Tage der Tragödie zu mahnen. Schon erinnerte sie sich an die Einzelheiten jenes gespenstischen Abschiedsessens und rief sich nach und nach die ominösen Zwischenfälle, die es gekennzeichnet hatten, ins Gedächtnis zurück; wie sie zu siebt am Tisch gesessen hatten und wie ein Likörglas aus einem Siebener-Satz zersprungen war; wie ihr das Glas in der Hand gezittert hatte, als sie es an die Lippen setzte, um Comus eine sichere Heimkehr zu wünschen; und die seltsame stille Hoffnungslosigkeit von Lady Veulas Lebewohl; es fiel ihr jetzt ein, wie es sie damals kalt durchfahren und ihr Angst eingejagt hatte. Der Park füllte sich wieder mit seiner fluktuierenden Bevölkerung von Spaziergängern, und wie von selbst richteten sich Francescas Schritte heimwärts. Etwas schien ihr zu sagen, daß die erwartete Nachricht bereits
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auf dem Tisch in der Diele lag. Ihr Bruder, der sie am frühen Nachmittag hatte besuchen wollen, wäre mittlerweile fortgegangen; er wußte nichts von dieser schlechten Nachricht vom Vormittag - der Instinkt eines verwundeten Tieres, sich zu verkriechen, hatte sie dazu getrieben, ihm ihren Kummer solange wie möglich zu verbergen. Sein Besuch erforderte ihre Anwesenheit nicht, er brachte einen österreichischen Freund mit, der Material für ein Werk über die Französisch-Flämische Schule sammelte und sich den Van der Meulen ansehen wollte, von dem Henry Greech hoffte, er könne vielleicht als Illustration in dem Buch dienen. Sie wurden kurz nach dem Lunch erwartet, und Francesca hatte ein Entschuldigungsbriefchen hinterlassen, das eine dringende anderweitige Verpflichtung vorgab. Als sie die Mall überqueren wollte, um in den Green Park einzubiegen, rief eine sanfte Stimme sie aus einem Wagen an, der gerade am Gehsteig angehalten hatte. Lady Caroline Benaresq hatte dem vielfigurigen Königin-Viktoria-Denkmal einen langen unfreundlichen Blick geschenkt. »In frühgeschichtlicher Zeit«, bemerkte sie, »war es wohl der Stil der großen Führer und Herrscher, eine große Anzahl ihrer Verwandten und Vasallen töten und mit sich begraben zu lassen; in dieser etwas aufgeklärteren Ära haben wir eine ganz neue Art erfunden, einen großen Monarchen dem allgemeinen Bedauern auszusetzen. Meine liebe Francesca«, brach sie plötzlich ab, als sie das Elend entdeckte, das sich in den Augen der anderen eingenistet hatte, »was ist passiert? Haben Sie schlechte Nachrichten von draußen?« »Ich warte auf sehr schlechte Nachrichten«, sagte Francesca, und Lady Caroline wußte sofort, was geschehen war. »Ich wollte, ich könnte das Richtige sagen; ich kann's
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nicht.« Lady Carolines Stimme war rauh und knurrend, wie nur wenige sie je bei ihr gehört hatten. Francesca überquerte die Mall, und der Wagen fuhr weiter. »Möge der Himmel der Ärmsten beistehn«, sagte Lady Caroline, was, ganz überraschend für sie, einem Gebet gleichkam. Als Francesca die Diele betrat, warf sie rasch einen Blick auf den Tisch; verschiedene Päckchen, offenbar ein früher Schub von Weihnachtsgeschenken, lagen dort und einige Briefe. Auf einem Extratablett sah sie die Depesche, auf die sie gewartet hatte. Ein Mädchen, das offenbar nach ihr Ausschau gehalten hatte, brachte ihr das Tablett. Das Personal war sich des furchtbaren Ereignisses wohl bewußt, und Gesicht und Stimme des Mädchens drückten Mitleid aus. »Das ist vor zehn Minuten für Sie gekommen, Ma'am, und Mr. Greech war mit einem anderen Gentleman hier, Ma'am, und hat es bedauert, daß Sie nicht zu Hause waren. Mr. Greech hat gesagt, er würde nochmal in etwa einer halben Stunde vorbeischauen.« Francesca trug das Telegramm ungeöffnet in den Salon und setzte sich, um einen Augenblick nachzudenken. Sie brauchte es nicht schon jetzt zu lesen, sie wußte, was darin stand. Für einige mitleidige Minuten erschiene ihr Comus weniger hoffnungslos verloren, würde sie das Lesen jener letzten Schreckensmitteilung aufschieben. Sie stand auf, ging zu den Fenstern und ließ die Rouleaus hinunter, schloß den zur Neige gehenden Dezembertag aus und nahm erneut Platz. Vielleicht käme im Dämmerlicht ihr Junge und setzte sich eine Weile wieder zu ihr und ließe sie zum letzten Mal sein geliebtes Gesicht sehen; sie konnte ihn nie wieder berühren oder seine lachend herausfordernde Stimme hören, anschauen aber
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dürfte sie ihren Toten doch wohl. Und ihre hungrigen Augen erblickten nur die hassenswerten, gefühllosen Gegenstände aus Bronze, Silber und Porzellan, die sie aufgestellt und als Götter verehrt hatte; wohin sie auch schaute, sie war von ihnen umgeben, den kalt herrschenden Gottheiten des Hauses, das keinen Platz für ihren toten Jungen enthielt. Er hatte sich unter ihnen hin und her bewegt, das hitzige, lebhafte, atmende Geschöpf, das sie hätte lieben sollen, und sie hatte den Blick von dieser jugendlich anmutigen Gestalt abgewandt, um ein Stück bemalter Leinwand anzubeten, muffiges Überbleibsel eines lange toten Künstlers. Und jetzt war er für immer aus ihrer Sicht entschwunden, aus ihrer Reich- und Hörweite. Nicht einmal Gedanken könnten in all den öden Jahren, die sie noch zu leben hatte, zwischen ihnen aufblitzen, und dieser Krempel aus Leinwand und Farbstoff und geschmiedetem Metall bliebe ihr: ihre Seele. Und was hülfe es dem Menschen, daß er seine Seele gewönne und nähme doch Schaden an seinem Herzen? Auf einem Tischchen neben ihr stand ihr Portrait von Mervyn Quentock - ein ahnungsvolles Symbol ihrer Tragödie; die reiche tote Ernte von künstlichen Dingen, die niemals Leben gekannt hatten, und die freudlose Herrschaft des schwarzen, nicht endenwollenden Winters, eines Winters, in dem alles erstarb und kein Wiedererwachen kannte. Francesca schaute auf den länglichen Umschlag in ihrem Schoß; sehr langsam öffnete sie ihn und las die kurze Mitteilung. Dann saß sie lange, lange Zeit starr und still da, vielleicht auch nur wenige Minuten. Henry Greechs Stimme in der Diele, die sich nach ihr erkundigte, brachte sie zu sich. Hastig faltete sie das Papier zusammen und ließ es verschwinden; man mußte es ihm sagen, selbstverständlich, aber noch schien der Schmerz zu überwältigend, um
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offenbart zu werden. »Comus ist tot« war ein Satz, den sie nicht über die Lippen bringen konnte. »Ich habe, so leid es mir tut, schlechte Nachrichten für dich, Francesca«, verkündete Henry. Hatte er es auch schon gehört? »Henneberg war hier und hat sich das Bild angesehen«, fuhr er fort und setzte sich neben sie, »und obgleich er es als Kunstwerk außerordentlich schätzt, hat er mich unangenehm überrascht mit seiner Versicherung, das sei kein echter Van der Meulen. Eine ausgezeichnete Kopie, ja, dennoch leider nur eine Kopie.« Henry hielt inne und blickte seine Schwester an, um zu sehen, wie sie die unerfreuliche Meldung aufgenommen hatte. Selbst im schwachen Licht bemerkte er die Qual in ihren Augen. »Meine liebe Francesca«, sagte er tröstend und legte die Hand liebevoll auf ihren Arm, »ich weiß, das muß eine schlimme Enttäuschung für dich sein, du hast dieses Bild immer so sehr geschätzt, aber du mußt es dir nicht zu arg zu Herzen nehmen. Solche unangenehmen Entdeckungen müssen die meisten Gemäldeliebhaber und -besitzer zuweilen machen. Immerhin fast zwanzig Prozent der angeblichen Alten Meister im Louvre sind vermutlich falsch zugeschrieben. Und es gibt unzählige ähnlich gelagerte Fälle in diesem Land. Lady Dovecourt hat mir neulich erzählt, daß sie es einfach nicht wagen, einen Experten zu sich zu rufen, um die Van Dykes in Columbey begutachten zu lassen, aus Angst vor unliebsamen Offenbarungen. Und außerdem ist dein Bild eine solch exzellente Kopie, daß sie keineswegs ohne Eigenwert ist. Du mußt mit der Enttäuschung fertigwerden, die du ganz natürlicherweise fühlst, und mußt die Sache philosophisch betrachten . . .« Francesca saß schweigend da, in Gram versunken; in
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ihrer Hand preßte sie fest das Papier zusammen und fragte sich, ob denn die dünne, muntere Stimme mit ihrem unbarmherzigen, gräßlichen Hohn von einem Trost nie verstummen wollte.
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