Terra Astra 339
Der Zeit-Herrscher
von PETER TERRID Die Abenteuer der Time -Squad 7. Roman Die Hauptpersonen des Roman...
10 downloads
808 Views
394KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Terra Astra 339
Der Zeit-Herrscher
von PETER TERRID Die Abenteuer der Time -Squad 7. Roman Die Hauptpersonen des Romans: Kurthan — Ein junger Krieger wird zum Mächtigen Demeter Carol Washington — Chefin der Time-Squad Tovar Bistarc — Ein Zeitagernt in einem fremden Körper Hucurnax — Kurthans Vertrauter Ardamor — Valcarcels Gefährte
1. Der Märchenerzähler sagte: „Weit, weit im Westen liegt sie, die große Stadt, deren Tore gewaltiger sind als die Berge des nahen Indrigar. Unzählige Menschen wohnen hinter den unübersteigbaren Mauern, und ihr Reichtum ist Legende. Thaei, thaei, vor langer, langer Zeit wurde die große Stadt gegründet. Der heilige Adler setzte sich auf einen Felsen und stieß einen Schrei aus, und siehe, der Fels öffnete sich, und aus dem Spalt quoll Wasser, das den Boden netzte und dem großen Fürsten, dem ersten dieser großen Stadt, die Erquickung bereitete. Und weil die große Stadt von Göttern gegründet wurde, deren Altäre noch heute von Blut triefen, kann niemand diese Stadt erobern. Der Zorn der Götter würde ihn treffen und verderben. Besser ist es, den Rücken zu beugen, als den Kopf zu heben. Einen gebeugten Rücken kann man nicht abschlagen.“ „Aber zerbrechen, Alter“, warf Kurthan ein. „Niemals werde ich mich den Fürsten der großen Stadt beugen. Ich werde ein gewaltiger Krieger werden, und mit meinem Heer werde ich die Stadt angreifen und nehmen. Ich werde im Palast des großen Fürsten wohnen, aus seinem Becher trinken, sein Weib in seinem Bett besitzen und die Zinnen der Palastmauern mit den Köpfen seiner Kebsen und Kinder zieren. Das sage ich, Kurthan, und ich habe noch immer mein Wort gehalten!“
Die anderen Jugendlichen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Kurthan war nur wenige Jahre älter als sie. „Lacht nur!“ rief Kurthan. „Ihr werdet es erleben, und du, Burthegai, wirst in der ersten Reihe der Krieger sein, die ich gegen die Mauern der Stadt jagen werde, und wehe dir, wenn du die Mauer nicht ersteigst. Hörst du meine Worte!“ Der Märchenerzähler runzelte die Stirn und wartete, bis Kurthan geendet hatte, dann fuhr er fort: „Es heißt, daß eines Tages, hudai, hudai, in weit entfernter Zeit, ein Krieger entstehen wird, der die große Stadt nehmen wird. Dieser Krieger wird dem Stamm der Kökö entspringen...“ „Was habe ich gesagt?“ rief Kurthan, aufspringend. „... und sein Geist wird nicht von dieser Welt sein. Er wird ein großer Herr werden, größer als jener, den diese Welt gesehen hat. Aber auch dieser KhaKhan, der Oberste Herrscher aller Obersten Herrscher, wird ein Ende finden. Er wird noch erleben, daß Fremde von den Sternen kommen, um sich diese Welt Untertan zu machen und unter ihr grausames Gebot zu zwingen!“ „Unfug!“ protestierte Kurthan. „Du bist vorlaut“, stellte der Märchenerzähler fest. Seine nachtdunklen Augen funkelten verärgert. „Verzeih!“ sagte Kurthan. Wenn man davon absah, daß er stets der beste, schnellste, tapferste sein wollte, war Kurthan ein wackerer junger Kökö, stets bereit, seine Arbeit zu machen, voller Respekte gegenüber den Alten und Schwachen, eifrig im Befolgen der göttlichen Gebote, die das Leben regelten. Kurthan war für einen Kökö ungewöhnlich groß, seine Haut war von der Sonne stark gegrünt, ein Zeichen dafür, daß er sich am liebsten im Freien aufhielt, um dort jagen und fischen zu können. Kurthan galt als bester Bogenschütze des Gebietes, und mancher war sicher, daß er der beste Schütze überhaupt war. Sein Mut stand außer Zweifel, seine Besonnenheit ließ allerdings noch manchmal zu wünschen übrig. „Morgen werde ich euch mehr von der großen Stadt berichten“, versprach der Märchenerzähler und erhob sich. Die Jungen legten die Hände vor das Gesicht und verbeugten sich respektvoll. Sie sahen dem Märchenerzähler nach, als er durch die staubige Straße zwischen den Zelten schritt. Vor dem Gästezelt verharrte er, band seinen Guran los und schwang sich in den Sattel. Wenige Minuten später hatte er den Hügelkamm erreicht und verschwand dahinter. Kurthan stand auf und reckte die Glieder. „Märchen!“ sagte er geringschätzig. „Ich will keine Märchen mehr hören, ich will wissen, was unsere Krieger gegen die Mariten ausgerichtet haben. Wenn Vater nur endlich zurückkehren würde!“ Die Mehrzahl der erwachsenen Männer war vor etwas mehr als einer Woche zu einem Raubzug aufgebrochen, der sie in das Land der Mariten führen sollte. Die Mariten hatten reiche Herden mit einer Unzahl fetter Lither, außerdem war ihr Stamm reich an wertvollem Schmuck und schönen Mädchen, die als Sklavinnen sehr begehrt waren. Als Krieger taugten sie nach allgemeiner
Auffassung nur wenig, sie pflegten sich meist nur symbolisch gegen die Überfälle benachbarter Stämme zu wehren, vertrauten sie doch darauf, danach für längere Zeit unbelästigt zu bleiben. Keinem Stamm im weiten Umkreis wäre es eingefallen, die Mariten entscheidend zu schlagen oder gar zu vernichten. Woher sonst hätte man die Frauen und die Lithen holen können, wenn nicht von den Mariten? Kurthans Vater, den man Bagdon, den Prächtigen, genannt hatte, war der Anführer der Kökö, ein gewaltiger Krieger. Obwohl er nur noch ein Auge besaß, galt er als hervorragender Schwertkämpfer und Bogenschütze. „Kurthan!?“ Der junge Kökö ärgerte sich, daß er so dumm gewesen war. vor dem Zelt der Mutter vorbeizugehen, aber der Respekt vor den Eltern ließ nicht zu, daß er sich einfach davonstahl. „Ich brauche noch geronnene Guran-Milch. Bringe mir davon!“ Kurthan machte die vorgeschriebene Verbeugung und begab sich auf den Weg. Das Gehege mit den Zuchtguran, die zur Milchgewinnung abgesondert worden waren, lag weit außerhalb des eigentlichen Lagers. Kurthan fing sich einen frischen Guran von der Koppel, schnallte den Sattel auf, schwang sich hinein und gab dem Tier die Sporen. Der Ausritt machte Kurthan Freude. Als Sohn des gegenwärtigen Anführers hatte er zwar nicht die Stellung eines Thronfolgers - bei den Kökö war das Wahlrecht der Anführer uralt und heilig - aber er betrachtete alles, was er sehen konnte, als sein Eigentum. Irgendwann würde er sich dies alles verschaffen, und es würde auch eine Zeit kommen, da würde ihm mehr gehören, als er an einem Tag würde ansehen können. Soweit der Huf eines Guran kommen konnte, soweit würden Land, Tiere und Menschen ihm botmäßig sein. Kurthan summte ein Lied, eine uralte Heldenballade, die mehr als tausend Sonnenumläufe zählte. Vom sagenhaften Stammvater der Kökö und von den vielen anderen Steppenvölkern war darin die Rede, von seinen Taten, seinem kriegerischen Mut und Aussehen. Kurthan hatte dieser Sagenheld geheißen, und der junge Kökö nahm es als Omen, daß man auch ihm diesen Namen gegeben hatte - obwohl er sehr gut wußte, daß im näheren Umkreis mindestens dreißig Jünglinge diesen Namen trugen. Die Guran-Herde kam in Sicht. Sorgfältig dressierte Hunde hielten sie bei Tag und Nacht zusammen. Die Stuten hatten halbgefüllte Euter. Die Milch wurde gesammelt, in lederne Beutel geschöpft und solange geschlagen, bis sich die Molke abgesetzt hatte. Die weitere Verarbeitung richtete sich nach dem Bestimmungszweck. Die festeren Bestandteile wurden gesäuert und getrocknet. Nach einigen Tagen waren sie knochenhart und hielten sich in diesem Zustand jahrelang. In kühlen Winternächten brauchte man nur ein Stück dieser festen Masse in einem Krug mit heißem Wasser aufzulösen, um ein scharf riechendes, wohlschmeckendes und vor allem sättigendes Getränk zu bekommen. Die verbliebene Flüssigkeit hingegen wurde von den Frauen nach geheimen
Rezepten vergoren und ergab nach Ablauf eines Jahres einen wasserhellen Schnaps, ein Gebräu, so scharf und betäubend, daß man es nur in Tropfen genießen konnte. An dem Schnaps, Symuk genannt, war Kurthan nicht interessiert. Er verabscheute die Trunkenheit, sie war eines Kökö-Kriegers nicht würdig. Aber die geronnene, steinharte Guran-Milch, das Standardgetränk auf allen Feldzügen, dessen stechender Geruch in der Kleidung eines jeden Kriegers hing, war genau nach Kurthans Geschmack. „Ob Vater heute heimkommt?“ überlegte er halblaut. Die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen. Bis zu den Mariten mußte man sieben Tage lang reiten, und Bagdon war erst vor zehn Tagen aufgebrochen. Nein, noch war mit seiner Rückkehr nicht zu rechnen. Außerdem hätten sich die Frauen im Lager anders benommen. Obwohl zum größten Teil selbst verschleppte Sklavinnen, waren sie dennoch eifersüchtig, wenn die Männer von ihren Raubzügen mit jüngeren und reizvolleren Weibern zurückkehrten. Bagdon war einer der wenigen Kökö, der sich mit einer Frau zufrieden gegeben hatte. Allerdings hatte er sich auch eine besondere Frau erworben jedenfalls behauptete er das. Wann, wo und wie er Echeloen gewonnen hatte, darüber bewahrten beide Ehegatten strengstes Stillschweigen, was der allgemeinen Gerüchteküche neue Nahrung lieferte. Kurthan schwang sich von seinem Guran. Er hatte die Höhle erreicht, in deren schattiger Tiefe es immer kühl war, der beste Platz, die Vorräte an geronnener Guran-Milch aufzubewahren. Auf eine Fackel glaubte Kurthan verzichten zu können. Er war schon oft in der Höhle gewesen, und vor der Finsternis fürchtete er sich nicht. So stapfte er also über den felsigen Boden in die Höhle hinein. Es war dieser Felsboden, der ihm zum Verhängnis wurde. Es gab darauf keine Schrittgeräusche, wenn man fellbespannte Schuhe trug. Kurthan hörte nur noch ein feines Sausen, dann krachte etwas mit großer Wucht auf seinen Schädel. Der junge Kökö wurde sofort bewußtlos. * Als Kurthan wieder zu sich fand, mußte er ergrimmt feststellen, daß er in einem grobleinenen Sack steckte und an Händen und Füßen bronzene Ketten mit breiten Bändern an den Gelenken trug. Gefangen, hinterrücks übertölpelt - Kurthan schäumte vor Wut. Das hätte ihm nicht passieren dürfen. Wenn seine Kameraden herausbekamen, wie leicht er es seinen Feinden gemacht hatte, ihn einzufangen wie ein dummes Füllen, würden sie ihn jahrelang mit ihrem Spott verfolgen. „Er ist zu sich gekommen“, hörte Kurthan eine rauhe Männerstimme sagen, in der hörbare Erheiterung mitschwang. Kurthan stellte fest, daß man ihn samt dem Sack auf dem Rücken eines Guran festgebunden hatte, und zwar hinter dem Sattel. Der Sprecher, den Kurthan gehört hatte, saß vor dem Gefangenen im Sattel.
Kurthan konnte zwar nicht entkommen, aber wenigstens noch seine Beine bewegen. Er versuchte, trotz seiner mißlichen Lage, einigermaßen genau zu zielen und trat zu. Er grinste zufrieden, als er am Fuß ein weiches Stück Fleisch spürte und den wütenden Schrei des Getroffenen vernahm. „Nimm dich in acht, Jurteh!“ sagte ein anderer Reiter kichernd. „Das ist kein normaler Kökö-Junge, das ist Bagdons Sohn, der junge Kurthan, allgemein bekannt als das Größte aller Großmäuler in der gesamten Steppe!“ Kurthan biß voller Wut die Zähne zusammen. „Wie heißt du, der du mich Großmaul genannt hast?“ brüllte er. „Hör dir die Ratte an“, sagte jemand kichernd. „Du hast ihn geärgert, Lonhad, er wird dir das Gesicht auf den Rücken drehen dafür!“ Der Angesprochene lachte, dann hörte Kurthan das Geräusch einer Reitpeitsche, und im nächsten Augenblick spürte er einen brennenden Schmerz auf seinem Rücken. Kurthans Körper versteifte sich. Verspottet oder veralbert zu werden, gehörte zum Leben. Es mochte ärgerlich sein, aber es traf früher oder später jeden. Aber als Sohn Bagdons einen Schlag mit der Reitpeitsche hinnehmen? Eine solche Beleidigung war unerhört. Ohne ein Wort zu sagen oder seinen Schmerz durch ein Muskelzucken zu verraten, nahm Kurthan den Schlag hin, und in dem Maß, in dem das Brennen auf seinem Rücken nachließ, wuchs in ihm die finstere Entschlossenheit, diese Schmach mit dem Blut des Beleidigers zu tilgen. * Der Ritt schien kein Ende nehmen zu wollen. Anfangs hatte Kurthan geglaubt, versprengte Mariten hätten ihn überrascht, um ihn gegen Bagdons Beute austauschen zu können. Dann aber hatte er feststellen müssen, daß der kleine Zug die Grenze des Maritenlandes längst überschritten hatte. Unablässig ging es nach Süden, durch Täler mit wildschäumenden Flüssen, durch Gebirgspässe, in denen selbst der Wind vor Kälte zu klirren schien, durch Wüsten, in denen der feingemahlene Staub das Lied des Wahnsinns sang. Tag um Tag wurde geritten, und nur an jedem zweiten oder dritten Tag erhielt Kurthan Nahrung und Wasser. Man behandelte ihn wie ein Stück Vieh. Nicht ein einziges Mal hatte man ihm die Fesseln abgenommen; man hatte ihn nicht einmal aus dem Sack herausgelassen. Man schob ihm lediglich Brot und Flüssigkeit hinein und holte die leeren Schüsseln nach einiger Zeit wieder ab. In dieser Zeit hatte Kurthan das Sprechen verlernt. Aber er hatte sich geschworen, keine Schmach, keine Beleidigung, keinen Schimpf ungerächt zu lassen. Und rächen wollte er sich nicht allein an den Männern, die ihn verschleppt hatten. Vor allem galt seine Rache dem Anfuhrer, der dieses Räuberkommando auf die Reise geschickt hatte. Es hatte sich gelohnt für die Wegelagerer. Aus dem Jammern, Bitten und Betteln der Gefangenen hatte Kurthan schlußfolgern können, daß man außer ihm mindestens zehn weitere junge Männer der verschiedensten Stämme
geraubt hatte. Dazu kamen sechs junge Weiber, deren Wehklagen kein Ende zu haben schien - und eine siebte Person. Der Art nach zu schließen, in der die weiblichen Gefangenen und die Wachen mit ihr redeten, mußte es sich bei dieser Person ebenfalls um eine junge Frau handeln. Auch sie machte den Mund nicht auf und behandelte die Räuber mit offener Verachtung, das ging jedenfalls aus den Bemerkungen der Entführer hervor. Kurthan versuchte, sich die junge Frau vorzustellen. Er hatte viel Zeit für dieses Spiel, denn außer dem Sackleinen vor seinen Augen bekam er fast nichts zu sehen. Nach einer Woche in der Gesellschaft der schweigenden Gefangenen war Kurthan fest entschlossen, diese junge Frau zu seinem Weib zu machen. * Acht Wochen waren vergangen seit jenem Tag, an dem Kurthan ohne Fackel die Höhle betreten hatte. In seinen Eingeweiden wühlte der Hunger, ihm schmerzten alle Gelenke, und ein quälender Durst peinigte ihn. Um ihn herum war es warm, wesentlich wärmer, als Kurthan es aus den Steppengebieten kannte. Vor allem war die Luft in dieser Gegend mit Feuchtigkeit geschwängert, das machte die brütende Hitze besonders schwer erträglich. Seit es so warm geworden war, hatte man Kurthan einige Freiheiten eingeräumt. Er durfte nun reiten, sogar auf seinem eigenen Guran, den er an der Verzierung des Sattelknaufs rasch identifiziert hatte, außerdem schnürten die Räuber den Sack nicht mehr an seinen Fußknöcheln, sondern am Hals zu. Die Hände waren ihm zusammengekettet worden, immerhin konnte er damit die Zügel halten. An den Gesprächen der Räuber merkte Kurthan, daß sich die Reise dem Ende zuneigte. Offenbar war der Raubzug von diesem Land ausgegangen, von dem Kurtha n noch nie etwas gehört hatte. Daß es im Westen große und berühmte Städte gab, Länder mit vielen Menschen, großen Herden und unschätzbaren Reichtümern, war allen Kökö bekannt. Die Märchenerzähler sorgten allerorts dafür, daß niemand die Pracht und die Herrlichkeit dieser Städte vergaß. Aber im Süden? War dies nicht das Land, in dem es so heiß war, daß alles Wasser verkochte? In dem die Erde schwarzgebrannt war und keine Früchte mehr trug? In dem Menschen nur in tiefen, schattenspendenden Höhlen ein elendes Leben fristen konnten? Daß es mörderisch heiß war, spürte Kurthan am eigenen Leib. Schweiß lief ihm in dicken Tropfen am Körper herab. Aber von kochenden Seen und Flüssen konnte nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Selbst durch das grobe Gespinst des Sackes drangen die Gerüche des Landes, betäubende Düfte, wie sie in der Steppe völlig unbekannt waren. Kurthan begann zu ahnen, daß er keineswegs in die Hände von Barbaren gefallen war. Dieses Land schien
überreich an Früchten aller Art zu sein, und ein Volk, das so wenig Arbeit für seine Nahrung aufwenden mußte, konnte eigentlich nur sehr reich und gebildet sein. Plötzlich änderte sich die Geräuschkulisse um Kurthan. Schon seit mehr als einer Stunde durchquerte der Zug eine dichtbevölkerte Stadt. Der Lärm der Händler war nicht zu überhören gewesen, auch nicht der veränderte Klang der Hufschläge, als die Guran die großen Stadttore passierten. Kurthan hatte genau aufgepaßt. Jetzt schlugen die Hufe auf Stein, auf eine besondere Art von Stein. Wenn der Klang stimmte, dann mußte dieser Stein nicht sehr hart, dafür aber sehr glatt sein. Dann stoppte der Zug. „Nun wirst du erleben, wo du gelandet bist“, sagte Lonhad. Kurthan hatte längst gelernt, seine Bewacher anhand der Stimmen zu unterscheiden. „Freust du dich?“ Kurtha n gab keine Antwort. Er spürte, wie sich ein Mann an ihm zu schaffen machte, um die bronzenen Handfesseln zu lösen. Der stinkende Sack wurde hochgezogen. Kurthan blinzelte, als das helle Sonnenlicht in seine Augen stach. Vor ihm ragten weißglänzende Mauern in die Höhe, mit schlanken Türmen, deren Zinnen im Licht der Sonne golden glänzten. Weiß glänzend war auch der steinerne Boden, auf dem die Guran standen und unruhig scharrten. Kurthan sah viel Grün, durchsetzt von den vielen Farben der Blüten. Darüber spannte sich ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel. Wären die schwerbewaffneten Räuber nicht gewesen, hätte Kurthan sich im Paradies gewähnt. „Was sagt ihr nun, ihr Steppenwanzen?“ erkundigte sich Lonhad spöttisch und fordernd. „Habt ihr jemals so etwas gesehen?“ Kurthan drehte sich langsam nach dem Sprecher um. So schön das Land auch sein mochte, so verlockend die Düfte, die den Blumen entströmten, noch spürte Kurthan den Peitschenhieb auf seiner Seele brennen. Er wollte sich das Gesicht des Beleidigers genau einprägen, damit seine Rache nicht etwa einen Unschuldigen treffe. Neben Lonhad stand eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, einige Jahre jünger als Kurthan. Langsam ging Kurthan auf das Mädchen zu. „Ich werde Kurthan genannt“, sagte er laut. „Wie heißt du?“ „Nenne mich Byrte“, bat das Mädchen. Sie schien genau zu wissen, wer Kurthan war. Kurthan nahm ihre rechte Hand, ging vor ihr in die Knie und legte sich die Rechte des Mädchens auf die Stirn. Byrte zögerte sekundenlang, dann kniete sie ebenfalls nieder. Unter dem schallenden Gelächter wurde so eine Ehe geschlossen, der Kinder entspringen sollten, die jedes Kind kennen und fürchten würde.
2.
„Glauben Sie, daß das Experiment gelingen wird?“ fragte Don Slayter besorgt.
Demeter Carol Washington, Chefin der Time-Squad, zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „In einigen Wochen werden wir es wissen.
Immerhin, Tovar Bistarc ist unser bester Agent.“
Halten Sie es für notwendig, für einen solc hen Auftrag ausgerechnet den
besten Mann abzustellen?“
Warum nicht, es gibt genug Gründe, die dafür sprechen. Zunächst einmal ist
für uns jede Information wichtig. Da Bistarc der Leiter des nächsten
Großunternehmens sein wird, halte ich es nur für logisch, wenn er die
Informationen am Zielort und in der Zielzeit sammelt. Vor allem ist es
wichtig, daß er dieses Wissen jederzeit abruf bereit hat.“
„Wieso?“ fragte Slayter knapp.
„Versuchen Sie einmal, eine Fremdsprache zu lernen, Slayter. Ich gebe Ihnen
Jahre dafür Zeit - und dann reisen Sie in das betreffende Land. Selbst wenn Sie
das gesamte Wörterbuch in dieser Sprache vorwärts und rückwärts aufsagen
können, wird man Sie früher oder später als Ausländer identifizieren.
Was Wörterbücher enthalten, ist der Sinn eines Wortes in der fremden Sprache
- aber nicht... lassen Sie mich es den Geschmack dieser Worte nennen. Was Sie da an den Beinen tragen, wird jeder normale Mensch einfach als Hosen bezeichnen. Ein Butler klassischer Schule würde Sie morgens vielleicht fragen, welches Paar Beinkleider er für Sie bereitlegen darf, und eine verknöcherte alte Jungfer würde dieses peinliche Kleidungsstück vornehm als die „Unaussprechlichen“ umschreiben. Jeder meint dasselbe, nur die Worte sind verschieden. Diese Unterschiede kann man nur an Ort und Stelle lernen. Genau das soll Tovar tun, er soll das Zielgebiet fast buchstäblich wie seine Westentasche kennenlernen.“ „Ich sehe ein, daß Bistarc für diesen Auftrag der geeignetste Mann ist. Aber warum dauert dieser Versuch so entsetzlich lange? Wir könnten mit unseren technischen Mitteln das Verfahren ganz erheblich abkürzen!“ „Auf den ersten Blick sieht es so aus, Slayter“, gab D. C. zu. „Aber zunächst einmal vergeht ohnehin ziemlich viel Zeit, bis die zweite Großexpedition zusammengestellt und ausgerüstet ist. Während dieser Zeit ist Tovar sehr wohl entbehrlich. Und außerdem...“ * Die Stadt hieß Jurthapat, ihr Herrscher wurde Indro genannt, mit den Beinamen der Prächtige, der Herrliche, der Unüberwindliche. Kurthan hatte ausgiebig Gelegenheit, festzustellen, wie weitgehend diese Beinamen zutrafen. Prächtig war Indro allerdings, er glich einem mit Juwelen behängten Ausstellungsstück. Herrlich war er ebenfalls, wenn man vor das Wort die
kleine Silbe selbst setzte. Was es mit der Unüberwindlichkeit auf sich hatte, konnte Kurthan noch nicht herausfinden, aber er war sicher, daß zumindest er eines Tages in der Lage sein würde, den unglaublich fetten, kurzatmigen und gewalttätigen Herrscher Jurthapats zu überwinden. Indro hatte sich ein raffiniertes System einfallen lassen, seine Herrschaft zu sichern. In den weit entfernten Städten der Provinzen stationierte er Soldaten des Kernlandes, in seiner Hauptstadt taten Soldaten Dienst, die er sich aus allen bekannten Ländern hatte rauben lassen. Eines dieser Opfer war Kurthan. Auch er wurde nach kurzer Zeit einer der Stadtwachen zugeteilt. Dort erkannte er jeoch bald, daß sein künftiges Leben alles andere als angenehm sein wurde. Die ausländischen Soldaten des Herrschers waren bei der Bevölkerung Jurthapats verhaßter und gefürchteter als Pest, Brand und Hungersnot. Einen ähnlich guten Ruf genossen die Truppen in den Provinzen - auch sie waren der Bevölkerung fremd und revanchierten sich für Unfreundlichkeiten mit Peitschenhieben, Folter und Tod. Dieses Kreislaufsystem funktionierte in beiden Bereichen ganz vorzüglich. Ob in Jurthapat oder in den Provinzstädten, die Krieger hatten stets nur einen Rückhalt - die Macht und die Gnade ihres Herrschers. Bevor Kurthan den Soldaten zugeteilt wurde, mußte er zunächst einmal zehn Tage in Einzelhaft zubringen. Am Ende dieser zehn Tage spielte Kurthan folgsam den gebrochenen Mann, der künftig keinen Widerstand mehr leisten würde. Er unterdrückte auch jede Frage nach Byrte, die man in den Harem des Thronfolgers gesteckt hatte, wo sie darauf warten durfte, daß der Prinz zum Mann wurde. Einstweilen wurde er noch gefüttert und spielte mit Hunden und Katzen, denen er zum Spaß die Schwänze zusammenband. Kurthan schätzte, daß ihm knapp fünf Jahre Zeit blieben, wenn er hoffen wollte, Byrte unversehrt aus dem Harem zu befreien. Fünf Jahre waren viel Zeit, dachte er. Am Morgen des elften Tages, die Sonne war gerade erst aufgegangen, wurden die Rekruten von schrillen Fanfarenstößen geweckt. Kurthan, der damit gerechnet hatte, erschien als erster auf dem Appellplatz, gekleidet in die Rüstung, die am Vorabend ausgegeben worden war. An den Füßen trug er Sandalen aus dreifachem Rindsleder, von ledernen Bändern am Unterschenkel gehalten. Fußgelenk, Schienbein und Knie wurden von bronzenen Blechen geschützt, in die das Zeichen des Herrschers eingehämmert war. Die Oberschenkel waren frei, darüber trugen die Soldaten einen Rock aus grünem Tuch, der an der Taille von einem breiten Ledergurt gehalten wurde. An diesem Gurt hingen die Scheiden für das zweischneidige Messer mit der gebogenen Spitze und das Schwert, weiter gab es Haken für Brotbeutel, Geldkatze und persönliche Habseligkeiten. Den Oberkörper bedeckte ein Hemd aus grüner, roher Seide, darüber lag ein Kettenhemd, in umständlicher und langwieriger Handarbeit aus Tausenden von Bronzeringen hergestellt. Kurthan wußte längst, wozu das Seidenhemd gut war. Das Kettenhemd aus Bronze bot nur einen mäßigen Schutz gegen Pfeile. Schlug
ein solches Geschoß durch die Ringe, dann drang es zwar noch in den Körper ein, aber nur Pfeile, die aus allernächster Nähe abgeschossen wurden, brachten es zuwege, die Rohseide zu durchtrennen. Geschickte Wundärzte waren in der Lage, abgebrochene Pfeile mit Hilfe der fast unzerreißbaren Seide aus den Wunden zu entfernen. Es war äußerst selten, daß ein Pfeil im Körper verblieb und den Getroffenen durch Wundbrand hinwegraffte. Das Kettenhemd reichte nur bis an die Ellenbogen, darunter saßen, wie an den Unterschenkeln, bronzene Schutzbleche. Die Ausrüstung wurde vervollständigt durch einen nicht sonderlich guten Bogen, Pfeile und einen langschäftigen Speer mit Bronzespitze. Der Kopf wurde bedeckt von einem Bronzehelm; die Haar- und Federbüschel darauf kennzeichneten die einzelnen Dienstgrade. Angetan mit dieser Ausrüstung stand Kurthan auf dem Appellplatz und wartete auf das Erscheinen seiner Leidensgefährten. Insgesamt einhundert junge Männer waren in den letzten Monaten von den Soldaten Indros gefangengenommen worden, junge Männer aus fast allen Teilen der Erde. Da gab es Steppenbewohner mit der typischen hellgrünen Hautfarbe, dann Südländer, deren Grün fast zu gelb verblaßt war, und Nordländer mit dem unverkennbaren Dunkelton der Haut. Und einer der Gefangenen stammte sogar aus dem sagenumwobenen Land im Westen, von dem noch keiner wiedergekehrt war. Hucurnax hieß dieser Gefangene, ein hochgewachsener Mensch mit überaus kräftigen Muskeln. Als einziger im Lager konnte er nicht nur lesen, sondern sogar schreiben, ja, es hieß, er sei sogar fähig, Karten zu zeichnen und Musik zu komponieren. Außerdem sagte man ihm allerhand Teufelskünste nach, mit denen er seine Umwelt beherrsche und jeden, der ihm zu widerstreben wage, meuchlings vergifte. Letzteres fand Kurthan einigermaßen absurd. Ein Mensch, der solches zuwege brachte, hatte es nicht nötig, sich von den Schergen Indros festnehmen und verschleppen zu lassen, von dem unverschämten Gebaren der Unteroffiziere einmal ganz zu schweigen. Deren größtes Vergnügen bestand darin, die neuen Soldaten zu schinden, bis sie zusammenbrachen. Als einzigem gelang es Kurthan, dieses Verfahren zu unterlaufen. Er sagte sich, daß die Unteroffiziere ebenso gerne in Tavernen saßen und ihren Sold mit Karten, Wein und Weibern vergeudeten, wie alle anderen auch. Wenn sie also Kurthan nachdienen ließen, brachten sie sich selbst um das ersehnte Vergnügen und schnitten sich ins eigene Fleisch. So gelang es Kurthan, sich den Ruf zu erwerben, ein wenig verrückt zu sein, und dem Narren ließ man seine Eigenheiten, solange er seinen Dienst im wesentlichen ordnungsgemäß versah. So wurde aus Kurthan, dem Sohn Bagdons, dem jungen Steppenreiter, der Bogenschütze und Speerträger Indros, der der Prächtige gena nnt zu werden liebte. Noch war die Zeit weit entfernt, da niemand mehr von Indro reden würde, an dessen Fleisch sich die Hyänen gütlich getan und dessen Knochen das
Gewürm des Bodens benagt hatte, da alle reden würden von Kurthan, den man
groß und erhaben nennen würde.
Indes war die Zeit noch nicht reif dafür.
* Auf einem Stück weichen Holzes markierte Kurthan an jedem Morgen, sofort nach dem Erwachen, den neuen Tag. Eine größere Kerbe machte er zusätzlich für jedes Mal, da sich der Mond gerundet hatte, einen Strick band er um das Holz; wenn sich ein Sonnenumlauf vollendet hatte. Kurthan zählte drei Sonnenumläufe, sechs Vollmonde und acht Tage, dann legte er das Kerbholz zurück in das kleine Fach, das seine privaten Habsellgkeiten enthielt. Obwohl tüchtig, tapfer, wendig und zielsicher, war Kurthan noch immer einfacher Schütze. Hucurnax, der ebenfalls noch immer den gleichen Rang bekleidete, stand auf der Schwelle und lächelte vergnügt. „Was zählst du die Tage, Wochen und Monde, Freund“, sagte er sanft, „da doch jeder Tag der letzte sein kann? Was nützt es, zu wissen, wie lange man gelebt hat, wenn man vergaß, wie man gelebt?“ „Spar dir deine Philosophien auf für die wilden Tiere und die Pfeilschützen des Herrn von Ögüply. Morgen soll der Marsch beginnen, Phat hat es mir verraten.“ Phat war der Unteroffizier, offiziell Kurthans Vorgesetzter, Insgeheim aber derart bei Kurthan verschuldet, daß er Kurthan in allem Folge leisten mußte. „Ögüply?“ wiederholte Hucurnax nachdenklich. „Das ist weit entfernt von Jurthapat. Heißt es nicht, daß es dort Zauberer gibt, winzige Dämonen und berückend schöne Hexen?“ „Ich denke, du bist selbst ein Hexenmeister“, gab Kurthan zurück, während er eine neue Sehne auf seinen Bogen spannte. Es war ein gewaltiger Reflexbogen, entsprechend der Tradition der Steppe. Niemand außer Kurthan hätte eine solche Waffe herstellen, niemand außer ihm sie bedienen können. „Ehre deine Götter, ich ehre meine“, erklärte Hucurnax. „Ein jeglicher kehre vor seiner eigenen Tür, sagt ein Sprichwort in meiner Heimat.“ Kurthan sah auf. „Wenn in deiner Heimat jedermann aufgefordert wird, vor seiner eigenen Tür zu kehren“, überlegte Kurthan laut, „dann muß in der Heimat deines Volkes auch jedermann eine eigene Tür, mithin ein eigenes Haus haben. Es muß also stimmen, daß dein Volk das reichste von allen ist.“ Hucurnax zuckte mit den Schultern. „Was ist Reichtum?“ meinte er leichthin. „Reich ist nicht, wer wohlhabend stirbt, sondern wer zufrieden stirbt.“ In nahezu jeder Lebenslage brachte er es fertig, einen Spruch zu erfinden, der angeblich weise war, aber meist nur die Wirkung hatte, daß sich Leute darüber in die Haare gerieten.
„Stimmt es, daß es bei euch viele Hexen und Zauberer gibt?“ fragte Kurthan nun offen; es war schwierig, die neue Sehne einzuspannen, aber es gelang ihm. „Reden wir nicht davon“, wehrte Hucurnax ab. Kurthan sah ihn an. „Eines Tages“, sagte er laut und mit der ruhigen Sicherheit, die bei solchen Anlässen alle Zuhörer erstaunte und nicht selten frösteln ließ, „werde ich ohnehin dein Herr und Herrscher sein. Also sprich schon jetzt, sonst wirst du später bereuen, mir nicht geantwortet zu haben. Mein Zorn wird fürchterlich sein.“ Hucurnax lächelte verhalten. „Vielleicht gelingt es dir, jedes Volk auf dieser Welt dir untertänig zu machen, aber nicht mein Volk. Und es wäre auch nicht gut für dich, dies versuchen zu wollen. Mehr werde ich nicht sagen.“ „Du hast den Mut, mir zu trotzen?“ fragte Kurthan verwundert. „Gut, du wirst sehen, daß ich Mut zu schätzen weiß. Wenn ich die Macht haben werde, dich töten zu lassen, werde ich dir einen schnellen Tod gönnen vorausgesetzt, du gibst mir dann Antwort auf meine Fragen.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt. * Am nächsten Morgen, der Hahn hatte noch nicht gekräht, rückte die Truppe aus. Ögüply war weder reich noch mächtig, lediglich einen vorlauten Fürsten besaß es, und nun sollte das Land für diesen Fürsten sühnen. Angesichts der offenkundigen Gefahrlosigkeit dieses Feldzugs und der Qualität der Bogenschützen und Speerschleuderer von Jurthapat führte der große Fürst Indro seine Truppe selbst an. Acht sorgfältig ausgesuchte Guran mit Fellen, die so weiß waren wie frischgefallener Schnee, schleppten eine Sänfte, in der der hohe Herr gemütlich in der Mitte des Heerzugs befördert wurde, vor und hinter sich die Bogenschützen und Speerträger, die seinen Leib zu hüten und zu bewahren hatten. Daß die meisten seiner Soldaten den aufgeschwemmten Herrscher haßten und in tiefster Seele verabscheuten, störte Indro nicht. Er wußte, daß die Truppen ganz allein von seiner Gnade abhängig waren. Mochten sie ihn hassen, wenn sie nur aus Angst um die eigene Haut jeden seiner Befehle ausführten. Zwei Abteilungen Reiterei begleiteten den Heerzug, Vor- und Nachhut, jeweils zweihundert Schwer- und einhundert Leichtgepanzerte. Nach Indros Schätzung war diese Streitmacht allein Gewähr genug für ein erfolgreiches Ende des Feldzugs gegen den unverschämten Fürsten von Ögüply. Kurthan marschierte unmittelbar hinter der Sänfte des Herrschers, neben ihm setzte Hucurnax mechanisch einen Fuß vor den anderen und summte dabei leise ein Lied seiner Heimat. Es war erstaunlich, unter welchen Umständen Hucurnax es noch schaffte, seine gute Laune zu behalten. Es war, als wisse er ganz genau, daß ihm nichts geschehen konnte. „Wie lange, glaubst du, wird dieser Feldzug dauern?“ fragte Kurthan leise. Es war zwar nicht verboten, während des Marsches zu reden, aber unmittelbar hinter dem Herrscher entsprach es dem Gebot der Vorsicht, die Stimme zu
dämpfen. Hucurnax zuckte mit den Schultern. „Einen Monat, vielleicht auch zwei“, sagte er. „Das wird davon abhängen, wieviel es dort zu plündern gibt und wie willig die Mädchen sind.“ Kurthan unterdrückte einen Fluch. Seit mehr als einem Jahr hatte er Byrte nicht mehr gesehen. Das letzte, was er von ihr gehört hatte, war einigermaßen beruhigend gewesen. Byrte hatte es mit List geschafft, zu niedrigen Arbeiten angestellt zu werden, bei denen sie schmutzig wurde und sich die Kleider zerstörte. Das, so hoffte sie, würde ihr helfen, keinem hohen Herren als Schönheit aufzufallen - bis zu dem Tag, an dem Kurthan sie, wie er es versprochen hatte, befreien und in sein Zelt führen würde. Einstweilen waren die Aussichten auf ein solches Ende des Abenteuers alles andere als gut. Ein Reiter kam herangesprengt. Kurthan erkannte seinen Unteroffizier aus der Vorhut. „Der Paß ist gesperrt, Herr!“ berichtete der Reiter. „Die Rebellen haben Hindernisse aus angespitzten Hölzern für die Pferde ausgestreut. Wenn wir versuchen, den Paß zu stürmen, werden wir viele Guran verlieren. Indro verzog mißmutig das Gesicht. Die Lage erforderte ganz offenkundig eine Entscheidung, und Entscheidungen waren, von Todesurteilen abgesehen, nicht Indros Sache. „He, du!“ Kurthan fand sich angesprochen und trat hastig vor. Nachlässig musterte Indro seinen Gefolgsmann. „Du trägst keinen vorgeschriebenen Bogen“, stellte er fest. In seiner augenblicklichen Laune konnte dieser Mangel Kurthans Tod bedeuten. „Ich kann mit dieser Waffe besser umgehen, Herr“, versetzte Kurthan ruhig. „Und was letztlich zählt, ist der Erfolg.“ Über das feiste Gesicht Indros flog ein Lächeln. „Beweise mir, was du kannst. Nimm dir ein paar Männer mit und säubere den Paß von Feinden. Sollte es dir nicht gelingen, trotz deines Wunderbogens, dann wird es für dich besser sein, wenn die Feinde mein Heer von dir säubern!“ Während sich Indro vor Lachen über dieses famose, ungeheuer geistreiche Wortspiel ausschüttete, suchte sich Kurthan eilig einige Männer seiner Abteilung zusammen. Hucurnax war selbstverständlich auch dabei; Kurthan wählte ihn nicht zuletzt seines Glückes wegen. Schon immer hatte er den Verdacht gehabt, Hucurnax stehe in unmittelbarer Verbindung zu allen Göttern und Götzen, die dem Menschen Glück bringen konnten. Der kleine Trupp, knapp vierzig Männer, bewegte sich an der Sänfte Indros vorbei und schlängelte sich den steilen Pfad hinauf bis zur Paßhöhe. Die Vorhut hatte sich vorsichtshalber in Sicherheit gebracht, vor allem, um die wertvollen Guran vor den Speeren, Pfeilen und Schleudersteinen der Männer von Ögüply zu bewahren. Kurthan übersah die Lage. Der Paß war verteufelt
schmal. Er bot gerade Platz für zwei Reiter, die eng nebeneinander reiten mußten. Rechts und links ragten steile Felswände in die Höhe, von deren Spitzen aus sich mühelos Pfeile und Speere versenden ließen. Zur Not hätte Kurthan diesen Engpaß allein halten können, genügend Pfeile vorausgesetzt. „Heller Wahnsinn, hier durchbrechen zu wollen“, knurrte Kurtha n. „Wir hätten dem Oberlauf des Zynite folgen sollen, dann hätten wir es bequemer und sicherer gehabt.“ „Aber es hätte länger gedauert“, warf Hucurnax ein. „Unser hoher Herr ist zwar faul, aber Sänftenreisen liebt er dennoch nicht!“ Der Paß wurde von knapp fünfzig Männern gesichert. Das genügte, um diese Engstelle monatelang zu sperren. Wenn jetzt noch eine Truppe irgendwo in der Nähe darauf wartete, das Heer Indros von hinten anzugreifen und in den Engpaß hineinzudrücken, war Indros gesamte Streitmacht verloren. Der Boden des Passes war mit zusammengebundenen unterarmlangen Stöcken übersät, deren Spitzen sorgfältig geschärft und - an der dunklen Farbe zu erkennen vergiftet worden waren. Für Reiter gab es hier kein Durchkommen. Ein Pfeil schlug neben Kurthan auf den Felsboden und brach. Die Metallspitze schlug einige Funken aus dem Stein. „Feuer her!“ befahl Kurthan. Er hatte eine Idee. Jemand brachte Werg und eine brennende Fackel. Kurthan umwickelte eine Pfeilspitze mit dem Werg und spannt den Bogen. „Wenn ich jetzt sage, hältst du die Fackel an das Werg!“ befahl er Hucurnax. „Und ihr, Burschen, zielt sorgfältig auf die Höhen. Sobald sich dort ein Kopf zeigt, schießt ihr, und wehe euch, wenn ihr nicht trefft!“ „Jetzt!“ Kurthan wartete noch einen Augenblick lang, bis das Werg Feuer gefangen hatte, dann ließ er den Pfeil davonschwirren. Er flog auf eines der vorderen Hindernisse zu, prallte kurz davor auf den Boden und zerbrach. Der Schaft flog in Splittern davon, aber die brennende Spitze rutschte unter das Hindernis. Die Flammen züngelten in die Höhe, und nach kurzer Zeit stand das erste Hindernis in Brand. „Jetzt zielt, Freunde, wen ihr nicht trefft, der wird euch treffen!“ Der Wind wehte auf den Paß zu, und er trug die Flammen tiefer in den Engpaß hinein. Genau das hatte Kurthan beabsichtigt. Die Verteidiger erkannten ziemlich bald, daß das Feuer die Hindernisse für die Reiter rasend schnell aufzehrte, und sie setzten alles daran, dieses Feuer zu löschen. Kurthan grinste und zielte sehr sorgfältig. Der Pfeil schwirrte davon und holte einen Verteidiger von der Spitze der Felswand, ein zweiter brach, von Hucurnax’ Pfeil getroffen, neben ihm zusammen. In verzweifelter Anstrengung versuchten die Verteidiger, die Flammen zu löschen, aber es gelang ihnen nicht. Wer immer versuchte, seinen Wassersack in die Tiefe zu werfen, war kurze Zeit später ein Opfer der präzise gezielten Pfeile der Angreifer. „Jetzt wird es kritisch!“ murmelte Kurthan.
Er winkte den Offizier der Vorhut heran; ein ungeheuerliches Dienstvergehen, daß ein Gemeiner einen Offizier einfach mit einer Handbewegung zu sich befahl, aber der Offizier hatte begriffen, daß der Gemeine ihm vorerst das Leben gerettet hatte, und darum zögerte er nicht, dem Wink zu folgen. „Kennt ihr das Gelände?“ erkundigte sich Kurthan. „Wie sieht das Land auf der anderen Seite des Passes aus?“ Der Offizier knirschte leise mit den Zähnen. „Wären wir auf der anderen Seite, hätten wir diese Burschen längst zu Paaren getrieben. Dieser Höhenzug ist nur auf unserer Seite steil und fast undurchdringlich!“ Kurthan nickte zufrieden. „Wir werden versuchen, Euch und Eure Reiter zu decken. Wenn ich ein Zeichen gebe, dann prescht ihr durch den Paß. Kümmert Euch nicht um das, was hinter Euch geschieht. Ihr müßt nur, sobald Ihr den Paß hinter Euch gelassen habt, die Verteidiger des Passes angreifen. Verstanden?“ Die Frage allein war Kurthans Kopf wert, aber der Offizier nickte nur. An seine Bogenschützen gewandt, fuhr Kurthan fort: „Nun geht es um eure Köpfe. Wir teilen uns in zwei Gruppen. Jede Gruppe nimmt die Wand unter Feuer, die ihr gegenüberliegt. Dann können die Verteidiger keine Steine herunterwerfen. Und noch etwas wenn diese Sache hinter uns liegt, werde ich den Fürsten bitten, die beiden Gruppen gleichgroß zu machen. Jeder herabgeworfene Stein, der einen aus der Gegengruppe tötet, bringt auch einem von euch den Tod!“ Die Männer nickten zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. Kurthan führte die Gruppe auf der linken Seite, Hucurnax die auf der rechten. Beide Gruppen setzten sich in Bewegung. Am Anfang kamen sie nur langsam voran, aber nach kurzer Zeit hatten sich die Männer an das Zusammenspiel gewöhnt. Während eine Gruppe vorwärts stürmte, gab die zweite ihr Deckung durch Hagel von Pfeilen. Auf diese Weise schaffte es Kurthan, den Paß nach einer halben Stunde halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Dann gab er dem Offizier der Vorhut das vereinbarte Zeichen. Die Schwergepanzerten setzten sich in Bewegung, und während sie in donnerndem Galopp durch den Engpaß jagten, sicherte Kurthan mit seinen Bogenschützen ihre Flanken. Die Vorhut brach durch den Paß, schwärmte auf der anderen Seite aus und griff die Verteidiger nun von hinten an. Nach insgesamt einer Stunde Kampf war der Paß in der Hand der Soldaten von Jurthapat. Als der Fürst an Kurthan vorbeigetragen wurde, drückte er Kurthan einen Beutel in die Hand, in dem es verheißungsvoll klimperte - es sollte sich später herausstellen, daß das Klimpern die eigentliche Belohnung gewesen war, denn der Beutel enthielt lediglich Kupferlinge -, und ernannte ihn zum Offizier einer Bogenschützenkompanie, deren Männer Kurthan sich selbst aussuchen durfte. Es war der neunte Tag im sechsten Monat des dritten Jahres seiner Gefangenschaft, da Kurthan dies alles tat und sich einen Namen machte, doch
sollte dies nur die geringste unter seinen Taten sein.
3. Der Arzt machte eine sorgenvolle Miene. „Mir will das gar nicht gefallen“, murmelte er. D. C. nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas mit Gemüsesaft. „Berichten Sie, Doktor!“ sagte sie dann. „Es ist so, Chefin. Wir versuchen im Augenblick, zwei Prozesse auf einen Nenner zu bringen, die - so meine jedenfalls ich - völlig unvereinbar sind. Da ist zum einen die Aufgabe, die Sie Tovar Bistarc gestellt haben, eine unausgesprochene Langzeitaufgabe. Sie verlangen aber, daß wir ihm zur Bewältigung dieser Aufgabe in der Realzeit nur einige Tage geben. Wie soll Bistarc das, was er in Jahren an Informationen als Beobachter gesammelt hat, binnen weniger Tage integrieren, diese Informationen in sein Gehirn einarbeiten?“ „Ich dachte, zur Beantwortung dieser Aufgabe wären Sie da, Doktor?“ „Wir wissen aber keine Antwort, Chefin. Wir haben nicht einmal den Ansatz einer Antwort. Wir wissen überhaupt nicht, wie Denken, Lernen und ähnliche Prozesse hirnpsychologisch ablaufen. Ist Ihnen Arturo Toscanini ein Begriff?“ „Der berühmte Dirigent?“ „Genau der. Es heißt von ihm, er sei in der Lage gewesen, Richard Wagners ,Die Meistersinger von Nürnberg’ auswendig zu dirigieren. Das bedeutet, daß er für ein riesiges Orchester samt Sängern und Chor jede einzelne Note im Kopf hatte - und diese Oper dauert sechs Stunden.“ „Eine phänomenale Gedächtnisleistung“, erklärte D. C. Aus einer Dose füllte sie Gemüsesaft nach, während der Arzt sich die vierte Zigarette dieser Stunde anzü ndete. „Wir sind in der Lage, einem solchen Gedächtnisgenie eine Droge einzugeben, die den Betreffenden alles vergessen läßt. Aber wenn wir wirklich wüßten, wie Geist und Körper zusammenarbeiten, wie das Zusammenspiel zwischen Verstand und Gehirn funktioniert, denn müßten wir - zumindest in der Theorie - in der Lage sein, in Toscaninis Schädel den Punkt herauszufinden, wo ein ganz bestimmter Takt dieser Oper im Gedächtnis verankert ist. Wir müßten das Gehirn so beeinflussen können, daß Toscanini in der gesamten Partitur nur dieser eine Takt fehlt.“ „Und das kann man nicht?“ „Wir können nicht einmal die Stelle finden, wo die Partitur steckt, und das ist ein Riesenwälzer, mindestens doppelt so schwer wie ein normales Gehirn. Verstehen Sie jetzt, was ich meine? Bistarc soll die riesige Datenfülle, die er gesammelt hat, binnen weniger Tage in seinem Gehirn einsortieren. Ich glaube nicht, daß er das kann. Ich glaube nicht einmal, daß ein Mensch das überhaupt kann.“ „Sie befürchten also... ?“ „Jawohl, Chefin, genau das befürchten wir!“
*
„Laß den Unfug!“ wehrte Kurthan ab, als Hucurnax ihn grüßte, so wie es die Vorschrift verlangte. „Wenn du mir eine Freude machen willst, dann halte deinen Bogen in Ordnung und triff alles, was du sehen kannst.“ „Ist dir dein plötzlicher Ruhm nicht zu Kopf gestiegen?“ „Ruhm“, schnaubte Kurthan. „Was habe ich davon. Wie sieht es im Lager aus?“ Hucurnax stand im Eingang des spitzen Zeltes, das dem Offizier einer Bogenschützenabteilung zustand, und drehte sich halb um. „Alles ruhig“, berichtete er. „Die Wachen patrouillieren auf den Wällen auf und ab, Indro säuft und schäkert mit einer seiner Kebsen, und die Soldaten verwürfeln den Sold, den sie noch nicht haben, und die Weiber, deren Männer sie erst noch erschlagen müssen. Alles wie immer.“ „Komm herein“, murmelte Kurthan. Es war kalt und feucht draußen, aber das Kohlenbecken auf dem Bronzefuß lieferte Wärme genug, um das Zelt behaglich zu machen. Hucurnax rieb sich zufrieden und wohlig die Hände über der glimmenden Holzkohle. „Es wird Zeit, daß ich verschwinde“, stellte Kurthan fest. „Meine Vorräte gehen zur Neige!“ Er hatte einige Brocken harter, geronnener Guranmilch in eine Schale getan und goß nun heißes Wasser darauf. Die Soldaten hatten dem Getränk, seines steinharten Ausgangsmaterials wegen, den treffenden Namen Ziegeltee gegeben. „Mein Ziegeltee wird nur noch für einige Monate reichen“, seufzte Kurthan. „Was danach kommt, wage ich mir nicht auszumalen. Es wird die Hölle sein.“ Hucurnax lächelte zurückhaltend. „Wir sind zwölf Tage marschiert“, sagte er langsam, „ohne daß wir einen Feind gesehen hätten. Ich fürchte, der Fürst von Ögüply hat seine gesamte Streitmacht in der Nähe seiner Hauptstadt versammelt.“ „Wer seinen Kopf einzubüßen droht“, murmelte Kurthan, „tut gut daran, alle seine Kräfte zu sammeln. Wann werden wir die Hauptstadt erreichen?“ „In drei Tagen“, sagte Hucurnax und schlürfte geräuschvoll aus der Schale mit dem Ziegeltee. „Wir werden diese Schlacht verlieren“, sagte Kurthan plötzlich. „Wir?“ Der spöttische Unterton in Hucurnax’ Stimme war nicht zu überhören. Kurthan grinste breit. „Indro wird sie verlieren, und sein Leben dazu. Ich werde sie gewinnen!“ Hucurnax kicherte leise. „Und wie willst du das anstellen?“ „Komm mit, wenn du es erleben willst!“ forderte Kurthan ihn auf. Er stellte die Schale mit dem Ziegeltee beiseite und griff nach dem Mantel, der bis an die Knie herabreichte. Auf den Kopf stülpte er eine flache, pelzgefütterte
Haube, die Kälte und Pfeile gleichermaßen gut abhielt. Vor dem Zelt stand die Wache und grüßte. „Du kannst hineingehen, dich wärmen und den Ziegeltee austrinken“, sagte Kurthan beiläufig und schritt an der verdutzten Wache vorbei. Es war später Abend, am Horizont stand der Mond, aber sein Licht reichte wie üblich nur aus, um grobe Umrisse sichtbar werden zu lassen. Nur Menschen wie Kurthan, der über den Gesichtssinn einer ausgehungerten Raubkatze verfügte, vermochten mehr zu erkennen. Die beiden Männer durchquerten das Lager und gingen zu Indros Prachtzelt hinüber. „Dienst des Fürsten“, sagte Kurthan mit erhobener Stimme, als er vor dem Eingang angelangt war. Die Wache präsentierte den Speer und wiederholte den Ruf. „Eintreten!“ hörte Kurthan aus dem Innern Indros weinselige Stimme klingen. Schnell schlug er das Eingangstuc h beiseite und betrat das Zelt. Wie es einem hohen Fürsten zukam, bestand dieses Zelt aus feinster Seide, mit prachtvollen Stickereien verziert. Jetzt, wo es draußen kalt war, war über diese Pracht eine etwas größere Konstruktion aus Filz gezogen worden. Der Boden war mit erlesenen Teppichen bedeckt, darauf lagen leere Becher, aus purem Gold getrieben. Rechts und links von Indro hockten je drei spärlich bekleidete Mädchen, ein siebtes saß auf seinem Schoß. Hucurnax grinste kaum merklich, während sich Kurtha ns Gesichtszüge nicht änderten. „Sieh an, der Offizier meiner neuen Bogenschützenabteilung. Was willst du, bist du nicht zufrieden mit dem, was ich dir gab?“ „Herr“, sagte Kurthan knapp. „Ich bitte um die Erlaubnis, zwei Guran. satteln und mit meinem Kameraden einen Erkundungsritt machen zu dürfen.“ Indro stieß das Mädchen von seinem Schoß. Dann sagte er: „Ich habe heute bereits vier Spähtrupps losgeschickt, die mir nichts zu berichten hatten. Glaubst du, daß du mehr finden wirst - bei dieser Finsternis, die fast so dick ist wie ich selbst?“ Er schlug sich mit der flachen Hand auf den speckigen Bauch. „Herr“, fuhr Kurthan fort. „Ich habe eine Idee, und ich möchte noch in dieser Nacht versuchen, ob sich mein Plan verwirklichen läßt. Aber ich möchte lieber, daß man mich einen Narren schimpft, weil ich mir eine kostbare Nacht mit einem nutzlosen Erkundungsritt um die Ohren geschlagen habe, als daß man mich einen Wahnsinnigen nennt, der seinen Fürsten mit unausgegorenen Plänen behelligt.“ „Gut gesprochen“. Indro kicherte,während er seinen Krug nachfüllte. Die Pfütze auf dem Teppich unmittelbar vor ihm vergrößerte sich. „Willst du trinken?“ Hucurnax schloß die Augen. Wenn Kurthan es wagte... „Ich brauche meinen Verstand, um meinem Fürsten dienen zu können“, sagte Kurthan ruhig. „Da ich den Weingenuß nicht gewohnt bin, würde selbst ein wenig davon meinen Verstand beeinträchtigen.“ Hucurnax wünschte sich, ohnmächtig zu werden, aber die Tortur war noch
nicht vorüber. Indro lachte laut und fragte dann weiter: „Sage mir, welches
Mädchen soll ich dir nach deiner Rückkehr in dein Zelt schicken? Wähle frei
und offen, ich habe genug von der Sorte!“
Wieder lachte er laut und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. „Ein
gehorsamer Diener im Heer seines Fürsten darf nur an eines denken, an den
Sieg, den er für seinen Herrn erstreiten will. Der Fürst mag sich vergnügen,
der Soldat hat seine Pflicht zu tun. Bekomme ich die Pferde?“
„Nimm, was du brauchst, und wenn du zurückkehrst, melde dich bei mir. Du
machst mir Spaß.“
„Ihr, Herr, seid gleichermaßen mein Entzücken“, erklärte Kurthan und
verneigte sich. Danach führte er den kalkweißen Hucurnax aus dem Zelt.
„Bist du...“, Hucurnax war derart schockiert, daß er den Satz nicht beenden
konnte.
„Keineswegs“, erklärte Kurthan gelassen. „Ich habe nur eine alte Regel meines
Volkes befolgt. Nichts verträgt ein Tyrann besser als eine offen
ausgesprochene Wahrheit, die haarscharf an ihm vorbeigeht. He, du!“
Die Wache vor dem Zelt des Fürsten zuckte zusammen. Sie mußte alles gehört
haben, was im Zelt gesprochen worden war. Der Soldat grüßte Kurthan, als sei
er der Thronfolger selbst.
„Komm mit, du mußt dem Guranmeister den Befehl des Fürsten bestätigen!“
Obwohl die Wache eigentlich den Befehl des Fürsten hätte abwarten müssen,
folgte sie Kurthan. Die drei Männer gingen langsam durch das Lager. Längst
hatte der Lagermeister mit dem Schwert über die Zapfen der Weinfässer
gestrichen und damit das Zeichen zum Schlafen gegeben. Es war ruhig, man
hörte nur ab und zu ein Guran schna uben und stampfen.
Auf einem freien Platz hielt Kurthan plötzlich an und faßte die Wache beim
Arm.
„Mann, glaubst du, daß Indro die Schlacht gewinnen wird?“
Der Posten erbleichte, er wagte nicht zu sprechen.
„Indro wird am Tag der Schlacht ebenso bezecht sein, wie er es gestern war,
heute ist und morgen sein wird. Er wird die Schlacht verlieren, und viele brave
Männer werden ihr Leben lassen müssen. Das wird Indro sehr wütend machen,
denn dies ist die erste Schlacht, die er selbst führen wird. Weißt du, was er tun
wird?“
Stumm schüttelte der Soldat den Kopf.
„Er wird seine Soldaten dafür büßen lassen, und die Soldaten, die ihm am
nächsten sind, stehen vor seinem Zelt. Sieh dich also vor!“
Unwillkürlich nickte der Posten.
„Und noch etwas. Ich werde diese Schlacht gewinnen. Merke dir das und
sprich mit deinen Kameraden darüber. ICH werde die Schlacht gewinnen
vorausgesetzt, daß Indro stirbt. Und nun komm!“
* Der Guranmeister weigerte sich zunächst, zu so später Stunde noch zwei
Guran zu satteln und herauszugeben, aber der Posten von Indros Zelt setzte den Befehl schließlich durch, obwohl er reichlich konfus war, wie der Guranmeister feststellte. Hucurnax und Kurthan schwangen sich auf die Tiere. Kurthan wartete noch einen Augenblick und sah hinter der Zeltwache her, die, tief in Gedanken versunken, zu ihrem Wachplatz zurückging. Dann erst gab er seinem Guran die Sporen und trabte durch die Lagerpforte. „Ich bedanke mich“, sagte Hucurnax, als das Lager außer Sichtweite war. „Wofür?“ erkund igte sich Kurthan, während er seinen Bogen zurechtrückte. „Wenn dein Spiel mit dem Posten bekannt wird, wird man mich ebenso wie dich aufknüpfen, enthaupten oder von Tieren zerreißen lassen. Was fällt dir eigentlich ein, mich so in deine selbstmörderischen Pläne einzubeziehen?“ „Eines Tages wirst du mir Dank dafür wissen“, sagte Kurthan selbstsicher. „Du wirst an meiner Seite sitzen, und dein einfaches Wort wird Befehl sein für meine Völker. Wenn es dir aber an Mut fehlt, dann kehre um und schlafe.“ „Oho!“ machte Hucurnax. „Mit einem Volk ist der große Kurthan nicht zufrieden, nein, es müssen gleich mehrere sein, die er...“ „Du irrst“, unterbrach ihn Kurthan schroff. „Nicht mehrere - alle!“ Diese Eröffnung verschlug Hucurnax fürs erste die Sprache. Er war vo n Kurthan allerlei gewöhnt, aber so viel Anmaßung überstieg sein Begriffsvermögen. Schweigend ritten die beiden Männer durch die Nacht. Hucurnax fiel auf, daß Kurthan die Tiere auf die Stadt zulenkte, die Indro in den nächsten Tagen einnehmen wollte. Offenbar wollte der tollkühne Kökö den Löwen in seiner Höhle aufsuchen, um ihn am Bart zu zausen. Stunde um Stunde verging, und erst als am Horizont die Sonne zwischen den Bergen in die Höhe stieg, verlangsamte Kurthan den Ritt. Er zügelte sein Guran und hielt an. Die Art, in der er das vor ihm liegende Land betrachtete, amüsierte Hucurnax im stillen, es sah nach Besitzergreifung aus. „Viel weiter werden wir nicht kommen“, sagte Hucurnax halblaut. In weiter Ferne lag ein kleiner See, dessen Wasser zu den beiden Reitern herüberglänzte. Bauern krochen, wie kleine Ameisen, aus ihren strohgedeckten Häusern und machten sich schlaftrunken an die Arbeit, den Wohlstand ihres Herrn und Gebieters zu mehren. Auf den Weiden wachte das Vieh auf, und die, letzten kleinen Nachtjäger verkrochen sich leise raschelnd im Unterholz. „Bald werden sie auftauchen“, stellte Kurthan fest und nahm seinen Bogen von der Schulter. Der Köcher war wie stets mit hervorragenden Pfeilen gefüllt. „Wer?“ „Die Reiter des Fürsten von Ögüply“, erklärte Kurthan ruhig und spannte prüfend die Sehne. Der Bogen hatte ein wenig unter der Nachtkühle gelitten und mußte erst wieder warm und geschmeidig gemacht werden, bis er unter Kurthans Händen zu einer Waffe wurde, die ihresgleichen suchte. „Wir stehen hier für jeden sichtbar, bald werden sie uns entdeckt haben.“ „Willst du dich von ihnen umbringen lassen?“ fragte Hucurnax, der langsam alles für möglich zu halten begann. Kurthan schüttelte den Kopf, dann schob er ruckartig das Kinn nach vorn.
„Dort sind sie“, sagte er zufrieden. „Kannst du sehen, wieviele es sind?“ Hucurnax strengte seine Augen an. „Dreißig Mann, schätze ich“, murmelte er schließlich. „Vergiß nicht, daß unsere Guran müde sind!“ Kurthan lächelte nur. Die Reiter des Fürsten von Ögüply hatten die beiden Eindringlinge rasch gefunden und ritten auf sie zu. Noch in geraumer Entfernung bildeten sie eine Angriffskette, wie man es ihnen beigebracht hatte. Guran neben Guran, Mann neben Mann, die Zwischenräume so eng wie nur möglich. Wehe dem Fußsoldaten, der diese Wand aus Pferdeleibern, Rüstungen und blitzenden Speerspitzen auf sich zurasen sah. Ihm half nur noch die rasche Flucht. „Nicht schlecht!“ kommentierte Kurthan das Manöver der Ögüplyer. Hucurnax sah ihn in gespielter Verzweiflung an. In aller Ruhe wartete Kurthan ab, bis die Reiter des Fürsten auf Schußweite herangekommen waren, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schwirren, riß seinen Guran herum und trieb ihn an. Wahrend das Tier angaloppierte, sah Kurthan über die Schulter. Sekundenlang klaffte in der Phalanx der Ögüplyer eine Lücke, dann wurde sie wieder geschlossen. Mit diesem Pfeilschuß begann eine denkwürdige Verfolgungsjagd. Kurthan hatte im Lager darauf bestanden, daß man ihm die beiden besten Guran aushändigte, die es in den Gattern gab. Die Tiere der Ögüplyer hingegen waren Durchschnitt. So kam es, daß sich der Zwischenraum zwischen Verfolgern und Verfolgten kaum verringerte. Nur langsam schälte sich heraus, daß einige Tiere in den Reihen der Ögüplyer über mehr Energie verfügten als die ihrer Kameraden. Die Linie der Verfolger begann zu zerfasern, was Kurthan mit einem vergnügten Grinsen zur Kenntnis nahm. Er wartete ab, bis es einen beachtlichen Zwischenraum zwischen dem ersten der Verfolger und der restlichen Gruppe gab. Dann ließ er seinen Guran jäh anhalten und hob den Bogen. Getroffen stürzte der Verfolger aus dem Sattel, und sofort ließ Kurthan sein Tier wieder die Sporen fühlen. In dieser Weise trieb Kurthan das Spiel fort, bis die Verfolger acht Mann eingebüßt hatten. Als dieser achte Mann aus dem Sattel stürzte, trieb Kurthan sein Guran nicht zu rascher Flucht an. Im Gegenteil: Er führte das Tier der Gruppe der Verfolger entgegen. Hucurnax zweifelte zwar an Kurthans Verstand, machte aber das selbstmörderische Manöver mit. Kurthan hatte sich in den Steigbügeln aufgerichtet und stieß jenen langgezogenen Kriegsschrei aus, den die Kökö von alters her auf allen Schlachtfeldern hatten ertönen lassen, um ihre Feinde zu verwirren. Hucurnax traute seinen Augen kaum, als er sah, wie die Ögüplyer ihre Guran nach kurzem Zögern herumrissen und selbst die Flucht ergriffen. In der kurzen Zeit, in der sie diesen Entschluß faßten, holte Kurthan mit zwei Pfeilen zwei weitere Männer aus den Sätteln, und das verstärkte noch die Furcht der Ögüplyer. In panischer Angst suchten sie das Weite. Kurthan sah ihnen minutenlang nach, dann grinste er zufrieden. „Nun können wir zurückkehren“, sagte er fröhlich und ließ seinen Guran antraben.
„Das war alles?“ fragte Hucurnax verblüfft. „Sind wir die Nacht hindurch geritten, um ein wenig Katz und Maus mit einigen Reitern zu spielen?“ „Richtig“, bestätigte Kurthan. „Das war der Sinn der Sache!“ * Drei Tage später entbrannte die erste Schlacht um die Feste Ögüply. Indro hatte sein Heer in weitem Bogen um die Stadt herum gruppiert; er selbst hatte sein Hauptquartier auf dem Hügel aufgeschlagen, von dem aus Kurthan das Land betrachtet hatte. Von diesem Platz aus konnte Indro den Verlauf der Schlacht besonders gut beobachten und seine Entsche idungen treffen so jedenfalls begründete er seinen Entschluß. Kurthan hatte es nicht anders erwartet. Der Fürst von Ögüply nahm die Schlacht an, und er erwies sich als wesentlich geschickter, als Indro jemals gewesen war. Indros Heer zielte auf das Haupttor der Festung, und die Flanken dieser Sturmtruppen wurden von den Reitern rechts und links gedeckt. Aus eben diesem Tor marschierte die Fußtruppe des Fürsten von Ögüply auf das Schlachtfeld, während aus einer Seitenpforte die Reiterei des Fürsten hervorsprengte - um dann zur Freude Indros bereits vor dem Beginn der Schlacht das Weite zu suchen. „Wir haben die Schlacht so gut wie gewonnen!“ jubelte Indro. „Nach diesem Tag wird es keinen Fürsten von Ögüply mehr geben!“ Indro hatte an seine Truppen den Befehl ausgegeben, jeden männlichen Soldaten der Ögüplyer - in ihren Reihen sollten angeblich auch Weiber fechten - auf der Stelle zu töten, denn es war bekannt, daß der Fürst inmitten seiner Truppe zu kämpfen pflegte. Daraufhin machten sich die Reiter Indros sofort auf die Jagd nach den Reitern aus der Stadt, und dann geschah das, womit Kurthan gerechnet hatte. Auf ein Zeichen hin ballten sich die Reiter des gegnerischen Fürsten zusammen und griffen Indros Kavallerie an. Der überraschende Angriff brachte die Truppen aus Jurthapat vollkommen durcheinander, in wilder Flucht stoben sie davon. Damit waren Indros Fußtruppen ohne jeden Flankenschutz. Die Ögüplyer griffen ohne Zögern an, den rechten Flügel an die Festungsmauer gelehnt, den linken in weitem Bogen um die Fußsoldaten herumführend. Indros Fußtruppen waren verloren, diesem Umklammerungsgriff hatten sie nichts entgegenzusetzen. Den Truppen aus Jurthapat drohte die schwerste Niederlage in der Geschichte ihrer Stadt. Kurthan sah, was sich vor den Toren der Stadt abspielte und preßte die Kiefern zusammen. Einen Steinwurf entfernt hockte Indro in seiner Sänfte. Kurthan warf einen Blick hinüber. Neben Indro stand die Wache, mit der Kurthan gesprochen hatte. Der Mann sah Kurthan lange an, dann zog er seinen Dolch und bohrte ihn Indro in die Seite. Der Fürst von Jurthapat starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Kurthan winkte mit der Hand.
Seine Bogenschützen scharten sich um ihn, während Kurthan den Bogen spannte und den Meuchelmörder mit einem gezielten Schuß in den Staub streckte. Die Pfeile der anderen zielten auf die Offiziere, die sich in Indros Nähe aufgehalten hatten. Sie zögerten nur kurze Zeit, dann brachen sie in die Knie, um dem neuen Fürsten von Jurthapat zu huldigen. Kurthan, achtzehnter der Fürsten von Jurthapat, war im dritten Jahr seiner Gefangenschaft, als dies geschah. Sie hatte genau drei Jahre, sechs Monate und fünfundzwanzig Tage gedauert. Am zweiten Tage im ersten Mond im ersten Jahr seiner Herrschaft über Jurthapat nahm Kurthan die Feste Ögüply, indem er den Trick anwandte, den er bereits bei seinem Vorstoß erprobt hatte. Er ließ seine Reiter einen Scheinangriff auf die Reiter des Fürsten von Ögüply führen und diesen Scheinangriff in einer Scheinflucht scheitern. Die wie besessen verfolgenden Ögüplyer verloren bei der Verfolgung den Zusammenhalt und konnten von den überraschend wieder angreifenden Soldaten Kurthans niedergemacht werden. Noch am gleichen Abend hielt Kurthan Einzug in die erste von ihm eroberte Stadt.
4. Demeter Carol Washington sah auf die Uhr. Das Experiment war vier Tage alt. Noch hatte es keine Alarmmeldung gegeben, aber die junge Frau wußte, daß sich dies in Sekundenfrist ändern konnte. Ihre Wohnung in der Nähe der Time-Squad-Zentrale war mit der Überwachungsstation der kleinen Zeitmaschine verbunden; D. C. konnte sofort über jede wichtig erscheinende Veränderung informiert werden. D. C. stellte den letzten schmutzigen Teller in den Spülautomaten, dann schob sie den Geschirrwagen hinein, wählte das Reinigungsprogramm und schaltete das Gerät ein. Ihren Sohn hatte sie bereits zu Bett gebracht, er schlief fest. Dennoch warf Demeter noch einen prüfenden Blick in das Schlafzimmer, bevor sie den Wohnbereich ihrer Unterkunft verließ. Auf der hellen Fläche des Kopfkissens zeichnete sich der verwuschelte dunkle Haarschopf des Jungen deutlich ab, ebenso deutlich wie die Taschenlampe unter der Bettdecke. Leise, um den Jungen nicht zu wecken, entfernte D. C. die brennende Lampe und das aufgeschlagene Buch aus dem Bett und legte beides auf dem Nachttisch ab. Dann zog sie die Bettdecke zurecht und verließ den Raum. Die Nacht war angenehm warm und sternenklar, stellte sie auf der großen Terrasse fest. Der Mond spiegelte sich in dem kleinen See, den die Bewohner das Höllenloch genannt hatten, weil das Wasser verschiedener Bergbäche selbst in der Zeit der Schneeschmelze spurlos in diesem abflußlosen Loch verschwand. Dahinter rockten sich die Ruinen des alten Tempels in den
nachtdunklen Himmel. Mit einer Handbewegung, die mehr der Gewohnheit als dem Nachdenken entsprang, schaltete sie das Video auf der Terrasse so um, daß jeder Anruf bei diesem Apparat endete, ohne die Summer der anderen Geräte erklingen zu lassen. D. C. setzte sich in einen bequemen Korbsessel und knipste die Leselampe an. Auf dem Tisch aus Rohrgeflecht vor ihr lag ein Stapel Akten, darunter die
unvermeidliche Abrechnung der Buchhaltung.
Die Time-Squad kostete Geld, viel Geld sogar. Schon zum Betrieb der kleinen
Zeitmaschinen war es nötig gewesen, einen großen Funktionsreaktor in dieses
Tal zu stellen, und jeder neue Einsatz verursachte neue Kosten.
Unterhalten wurde die Time-Squad aus dem Etat des Innenministeriums,
Abteilung Polizei. Wie jeder Etatposten mußte auch dieser vom Parlament
genehmigt werden, und das war bisher auch immer geschehen. Nun aber hatte
der Kampf der Time-Squad völlig neue Dimensionen erreicht. Milliarden
waren nötig, wenn man dem Gegner im Dunkel die Stirn bieten wollte, und
dies waren Beträge, die man nicht einfach unter der Rubrik „Geheime
Forschungsaufgaben“ im Polizeietat verstecken konnte, wo sie nur einige
Eingeweihte zu sehen bekamen. Beträge in der Größenordnung, wie sie die
Time-Squad-Experten für nötig erachteten, waren so auffällig, daß man sie
nicht mehr geheimhalten konnte.
Was geschah, wenn das Geheimnis der Existenz der Time-Squad der breiten
Öffentlichkeit bekannt wurde, wagte sich kein Eingeweihter
auszumalen.Öffentlichkeit und Presse hätten zweifellos revoltiert, hätten sie
erfahren, welche Machtfülle in den Händen einer jungen Frau lag.
Mit einem leisen Seufzer legte D. C. den Aktenordner auf den Tisch zurück,
dann schaltete sie das Video ein. Die Verbindung zur Zeitmaschine war binnen
einer Zehntelsekunde hergestellt. Das Gesicht, das auf dem Bildschirm
auftauchte, gehörte zu einem Mediziner und war von Müdigkeit gezeichnet.
„Keine Schwierigkeiten?“ erkundigte sich D. C.
„Bislang nicht“, antwortete ihr Gesprächspartner. „Aber glauben Sie nicht, daß
wir deswegen ruhig schlafen könnten.“
„Ich weiß“, sagte D. C. sanft und lächelte. „Was zeige n die Hirnstromwerte?“
Der Mediziner zuckte mit den Schultern.
„Es tut sich etwas in seinem Gehirn, aber wir haben nicht die leiseste Ahnung,
was sich in Tovar Bistarcs Schädel abspielt. Der Geist, den Bistarc
übernommen hat, regt sich allmählich.“
D. C. nickte langsam.
„Das habe ich befürchtet“, murmelte sie.
* Wie eine gigantische graubraune Schlange wälzte sich das Heer durch das Gebirge. Es zog nach Nordosten, den Steppen entgegen. Drei Tuman waren es, die sich durch die engen Pässe quälten, Brücken bauten,
Regen und Hagelschlag ertrugen und dabei Tag für Tag etliche Meilen hinter sich brachten. Drei Tuman, Kurthans beste Truppen. Man schrieb den achten Tag im sechsten Monat des zweiten Regierungsjahres. Kurthan, der sich nun Kurthan-Khan nannte, wie es die Väter getan hatten, gebot über den gesamten Süden. D’hin war ihm Untertan, und die Fürsten von Lomundar hielten ihm die Gewänder, wenn er seinen Thron bestieg. In Jaropy zeugten zwei Pyramiden, gebaut aus achtzigtausend Schädeln, davon, was es hieß, dem großen Khan zu trotzen. Nichts gab es, was sich Kurthans Heeren hätte in den Weg stellen können. Er hatte die Heere völlig neu organisiert. Je zehn Mann teilten sich ein Zelt und wählten aus ihren Reihen einen Anführer. Zehn Zeltführer wiederum wählten sich je einen Hundertschaftführer, und so fort bis hinauf zu den Tuman, den Zehntausendschaften, die von den Oerlok befehligt wurden, die der Kahn selbst ernannte. Hucurnax war einer dieser Oerlok, und er besaß das Privileg, auf dem Marsch links neben Kurthan reiten zu dürfen. „Was versprichst du dir davon?“ wollte Hucurnax wissen, als er bei Kurthan die Gelegenheit erkannt hatte, auf das Ziel des Marsches zu sprechen zu kommen. „Ich will meine Heimat wiedersehen“, erklärte Kurthan. Nichts hatte sich geändert seit jenem Tag, da er den Mörder Indros mit eigener Hand getötet hatte. Noch immer trug er die gleiche Tracht, noch immer ritt er seinen Guran selbst, anstatt sich in einer Sänfte tragen zu lassen. Das Problem der Nachkommenschaft hatte er auf ebenso einfache wie wirkungsvolle Weise gelöst. Die erbberechtigten Söhne des Indro hatte er sammeln lassen und ihnen ein halbes Jahr lang zu jeder Mahlzeit Kirthel-Saft servieren lassen. Nach Ablauf dieser Frist hatte der Saft seine Schuldigkeit getan; Indros Nachkommenschaft würde auf diese Generation von Knaben beschränkt bleiben. Kurthan hatte danach dafür Sorge getragen, daß sich weitere Probleme gar nicht erst ergeben konnten. Die Knaben wurden, sobald sie wehrfähig waren, verheiratet und in das Heer gesteckt. Verheiratet hatte Kurthan sie mit ihren Halbschwestern oder anderen Frauen aus dem Harem Indros. Im Heer hatte er eigens für die Prinzen die Tausendschaft der Helden geschaffen, die in jeder Schlacht die Vorhut bilden durfte. Auf diese Weise war dafür gesorgt, daß das Haus Indro nicht nur ohne Nachkommen blieb, sondern auch ziemlich bald ausstarb. „Wüste und Steppe, so weit das Auge reicht“, sagte Hucurnax geringschätzig. „Was ist daran interessant?“ Kurthan lächelte. „Dort leben Menschen“, verkündete er, „die einiges können, was andere nicht fertigbringen. Meine Kökö können nicht nur reiten, nicht nur hervorragend mit dem Bogen umgehen - sie können beides gleichzeitig. Dies sind die Truppen, mit denen ich den Rest der Welt unterwerfen werde.“ „Bist du mit dem Unterwerfen immer noch nicht fertig?“ fragte Hucurnax kopfschüttelnd. „Noch nicht“, sagte Kurthan ruhig. „Meine Gelehrten haben mir gezeigt, daß
unsere Welt rund ist wie eine Kugel, und sie haben mir auch gesagt, daß ich noch nicht einmal ein Vie rtel dieser Kugel beherrsche. Erst wenn sich den Hufen meiner Guran keine Grenze mehr in den Weg legt, die nicht die Natur selbst gesetzt hat, werde ich mich zufriedengeben eher nicht.“ Hucurnax schüttelte verzweifelt den Kopf. „Freund!“ sagte er beschwörend. „Hüte dich. Hüte dich vor falschen Freunden, hüte dich vor den Mächten des Schicksals - und hüte dich vor allem vor dir selbst und deiner Gier. Hast du nicht alles, was du begehrst? Ein prachtvolles Weib, ein mächtiges Heer, ein großes, reiches, prächtiges Land?“ Kurthan schüttelte den Kopf. Als Hucurnax sein Weib erwähnte, drehte er sich unwillkürlich um und suchte Byrte, die einige hundert Schritt hinter ihm ritt, vor dem Zug der Sänften und Lasttiere, der den fürstlichen Haushalt schleppte - Zelte, Küchengeräte. Vorräte und zahlreiche Sklaven und Sklavinnen.
Entgegen den Bräuchen von Jurthapat hatte Kurthan nur eine Frau genommen,
eben Byrte. Sie war einer der wichtigsten Gründe für Kurthan, in die Heimat
zurückzukehren. Erst wenn Byrte ihm von der Mutter in aller Form als Herrin
seines Zeltes zugeführt worden war, hatte die Ehe nach den Sitten der Väter
Bestand, und Kurthan dachte nicht daran, von den Bräuchen der Väter
abzuweichen.
Kurthan hatte nun drei Tuman auf den Marsch in seine Heimat mitgenommen;
er wollte, beiläufig gleichsam, die Länder und Völker unterwerfen, die er vor
Jahren, in einen Sack eingehüllt, durchquert hatte. Zwei dieser Völker hatte er
sich bereits botmäßig gemacht, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß
er dies auch mit den anderen Völkerschaften so halten werde.
„Wie weit ist es noch bis zu deinen geliebten Steppen?“ fragte Hucurnax.
„Fünf Tage“, erklärte Kurthan, dem die Vorfreude deutlich anzumerken war.
„Die Späher haben schon den Rand des großen Graslandes gesehen.“ Er
grinste Hucurnax an. „Ich bin gespannt, was meine Kökö sagen werden, wenn
ich überraschend mit einem Heer zurückkomme!“
„Wenn sie so hervorragende Krieger sind, wie du behauptest, werden sie die
Tuman angreifen und vernichten.“
Kurthan lachte laut. Er lachte auch noch, als einer der Späher herangesprengt
kam.
„Herr!“ stieß er hervor, nachdem er das Tier vor Kurthan zum Stehen gebracht
hatte. „Die Vorhut wird aufgehalten!“
Kurthan runzelte die Stirn. „Sitzt vielleicht ein großer Hund mit gefletschten
Zähnen auf dem Weg?“ fragte er spöttisch. „Zahle ich meinen Offizieren Sold,
damit sie sich aufhalten lassen?“
Der Bote schien unter Kurthans Blick förmlich zu schrumpfen.
„Herr, es ist ein alter Mann, der den Weg nicht freigeben will. Sein Blick,
Herr... er läßt die Guran scheuen, und von den Pfeilen, die man auf ihn
abgeschossen hat, traf nicht ein einziger. Der Offizier der Vorhut schickt
mich...“
„Ich weiß“, sagte Kurthan unwillig und winkte ab. „Willst du mitkommen?
Vielleicht sind das die Mächte des Schicksals, die du mich fürchten lehren
wolltest!“ „Spotte nicht, Kurthan-Khan!“ warnte Hucurnax leise, und nur der Bote konnte sehen, daß diese Warnung von einem ausgesprochen wurde, der die Macht dazu besaß. „An das Schicksal legt niemand Hand!“ Kurthans Guran befand sich schon in vollem Galopp. An dem ganzen langen Heerzug vorbei jagte der Khan, von Hucurnax gefolgt, auf die Vorhut zu, die Spitze des Menschenwurms, der sich durch das Gebirge mit seinen schneebedeckten Spitzen wälzte. Er brauchte eine halbe Stunde, bis er den Anführer der Vorhut erreicht hatte. Der Mann stammte aus dem Fürstentum Ögüply, dessen Thron inzwischen von Hucurnax gehalten wurde; Kurthan kannte den Mann, seine Tapferkeit war über jeden Verdacht erhaben. Und doch war das Gesicht dieses Mannes nicht nur mit den Narben bedeckt, die er in einem halben Dutzend verwegener Feldzüge erworben hatte, es zeigte auch einen Anflug von Furcht, ja, Entsetzen. Niemals hätte Kurthan dies von diesem Mann erwartet. Eine Weile sah Kurthan dem Mann - Lopther hieß er, und sein Rücken war frei von Narben - ins Gesicht, dann erst riehtete er den Blick auf den Pfad. Schmal war der Weg, der sich durch die Felsen schlängelte, von spitzen Steinen übersät und überzogen mit den spiegelnden Flächen gefrorener Bäche. Auf einem dieser vereisten Bäche stand, unscheinbar wie der Fels ringsum, ein Mann. Alt war dieser Mann, mindestens acht Jahrzehnte hatten ihm das Haar gebleicht und das Gesicht zerfurcht; seine Haut war mit bräunlichen Flecken bedeckt. Ein langfallendes Gewand aus grobgesponnener Wolle umhüllte die ausgemergelten Glieder. Dem Grabe war der Mann näher als dem Leben, einem Leichnam ähnlicher als einem Menschen. Nur in seinen Augen war Leben. Leben und Leere. Wer in diese dunklen Augen sah, mußte Angst haben, sich darin zu verlieren. In ihrem Hintergrund schien die Weite vieler Jahrhunderte zu schlummern, die Grenzenlosigkeit des Himmels. Kurthan trieb sein Guran näher an den Mann heran, aber das Tier scheute. Es trotzte Zaum und Zügel, stieg auf der Hinterhand in die Höhe und gebärdete sich so wild und unwillig, daß Kurthan gezwungen war, aus dem Sattel zu steigen. Verärgert und beeindruckt zugleich ging Kurthan auf den Alten zu, der noch immer fast regungslos auf dem Weg stand. „Alter“, sagte Kurthan halblaut. „Was versperrst du uns den Weg. Ist dies dein Berg, daß du uns aufhältst? Verlangst du Zoll?“ „Ich sehe dich , Kurthan, der du dich Khan von Jurthapat nennen läßt, und ich warne dich. Ich weiß, du willst dir den ganzen Erdkreis untertan machen.“ „Zunächs t einmal diesen Paß“, erklärte Kurthan grinsend. „Das genügt mir für heute.“ „Kehre um, Kurthan-Khan. Kehre um, bevor du deiner Welt den Untergang bereitest, bevor die Herren des Himmels Besitz von ihr ergreifen, ihre Bewohner versklaven und verschleppen. Es wird deine Schuld sein, wenn dies
geschieht. Kehre dich also ab, Kurthan- Khan. Lasse dein gewaltiges Heer sich
zurückziehen in das Land, das du bereits beherrschst.“
„Alter!“ schrie Kurthan erregt. „Du wagst es, mir zu drohen? Soll ich dich
einen Kopf kürzer machen lassen?“
„Versuche es nur, Kurthan-Khan!“
Rasend vor Wut griff Kurthan-Khan an den Gürtel, riß das breite Schwert aus
der Scheide. Die Klinge durchschnitt pfeifend die Luft, ein metallischer Blitz,
ein dumpfer Aufschlag; das Haupt des Alten rollte über den Boden.
Kurthan wischte das Blut von der Klinge seines Schwertes und steckte es
zurück in die Scheide. Noch immer stand der Leichnam des Alten kopflos auf
dem Weg. Kurthan machte zwei Schritte und stieß ihn an, um ihn in den
Abgrund zu stürze n.
Der Leichnam rührte sich nicht. Kurthan verstärkte den Druck seiner Hand,
aber der Körper rührte sich nicht.
Kurthan trat einen Schritt zurück. Seine Soldaten wichen schreckerfüllt in
sichere Deckung und versuchten vergebens, die rasenden Guran zu beruhigen.
„Teufelsspuk!“ flüsterte Kurthan, dessen Gesicht die Farbe von Wachs
angenommen hatte. „Dieser Alte war ein Zauberer!“
Er wollte sich die blutverschmierte Hand abwischen, aber das Blut klebte fest.
Hucurnax trat vorsichtig näher. Er ging an Kurthan vorbei und auf den Kopf
des Alten zu. Die Augen standen offen, und es schien, als spiele ein Lächeln
um die eingef allenen Züge.
Behutsam griff Hucurnax nach dem Kopf und hob ihn hoch. Dann ging er
langsam zu dem Leichnam hinüber, hob die Hände und setzte den Kopf auf
den Hals. Kurthan starrte den Alten an.
„Du hast gesehen, was deine Macht vermag, Kurthan-Khan. Ich gebe dir den
Weg frei, aber ich warne dich noch einmal. Kehre nicht in deine Heimat
zurück, du wirst unermeßliches Unheil über dein Volk bringen.“
„Wer bist du?“ fragte Kurthan stockend. Er schien zu begreifen, daß er einer
Macht gegenüberstand, gegen die alle seine Tuman nichts vermochten.
„Du wirst mich nicht mehr sehen, Khan“, sagte der Alte, und Kurthan wußte,
daß er keines dieser Worte jemals vergessen würde. „Es wird dir nichts nützen,
zu wissen, wie ich heiße.“
„Ich möchte es dennoch erfahren“, beharrte Kurthan. Der Alte lächelte. „Du
möchtest? Du bittest, gebietest nicht? Nun, wohlan ich heiße Ardamor!“
Der Alte drehte sich um und ging langsam den Pfad entlang. Der Weg führte
den Berg hinauf und bog nach wenigen hundert Schritt um eine Felsnadel.
Wider Willen, wie gebannt, verharrte Kurthan, bis Ardamor die Krümmung
erreicht hatte und hinter dem Fels verschwunden war. Dann erst kam wieder
Leben in den Khan. Er schwang sich in den Sattel seines Guran und
galoppierte dem Alten nach.
Als er aber die Krümmung erreichte, war der Alte verschwunden.
*
„Was nun?“ fragte Hucurnax. Er war Kurthan nachgeritten, dessen Guran neben der Felsnadel stand und vor Kälte leise zitterte. Kurthan starrte mit angestrengtem Gesicht in die Ferne. „Dort drüben“, sagte der Khan leise. „Siehst du die kleine, glitzernde Fläche? Dort habe ich oft gebadet, dort fiel ich zum ersten Mal von einem Guran, schnitzte den ersten Pfeil. Dort ist meine Heimat, dort lebt mein Volk. Dies ist das Land der Kökö, dies ist mein Land.“ Er wandte sich zu Hucurnax um und fuhr mit steigender Stimme fort: „Mein Land, hörst du, Hucurnax? Er will mir verbieten, in mein Land zurückzukehren! Was gibt ihm das Recht dazu? Gegen den Ratschluß welcher Götter verstoße ich, welches Gesetz übertrete ich, das der Himmel schuf, wenn ich vor ihrem Tode noch einmal meine Eltern umarmen, meine Geschwister lachen sehen möchte? Was gibt dem Alten das Recht, mir das Land meiner Väter zu verbieten?“ „Es liegt an dir, ob du das Verbot achtest“, sagte Hucurnax kalt. „Und glaube mir, Freund. Wer seinen Kopf so gut zu wahren weiß wie Ardamor, der weiß auch, wie er den deinen bekommt, wenn es ihm danach gelüstet.“ In respektvoller Entfernung verharrten die Tuman, als Kurthan mit sich zu Rate ging auf der Höhe des Felsens. Hucurnax zog sich zu den Kriegern zurück und überließ Kurthan sich selbst, seinen Gedanken, Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten. Und während die Sonne langsam über den wolkenlosen Himmel zog, reifte in dem Khan ein Entschluß. Er traf die Entscheidung, das Schicksal selbst herauszufordern. Nur seinem eigenen Willen wollte er Untertan sein, keinen Herren über sich anerkennen als das unergründliche Schicksal selbst, den Ratschlag der ewig unsichtbaren Götter. Die Sonne wies auf Mittag, als der Khan seinen Vertrauten und Ratgeber Hucurnax zu sich winkte. „Gib den Befehl zum Aufbruch“, sagte Kurthan, als Hucurnax bei ihm angelangt war. „Die Tuman sollen sich marschfertig machen!“ „Jurthapat?“ fragte Hucurnax. Kurthan sah ihn an. „Nein!“ verkündete er. „Ich kehre zurück in das Land, in dem ich geboren wurde, das die Götter mir zum Leben geschenkt haben. Mögen sich auch noch so viele Dämonen mir in den Weg stellen, ich werde sie überwinden. Ich werde dieses Land nun teilen, für alle Zukunft, und es zugleich einigen. Dies, was du hier siehst, wird die Mitte des Reiches sein. Ich setze zu ihrem Fürsten ein den Sohn, den mein Weib unter dem Herzen trägt.“ „Es könnte eine Tochter werden“, wagte Hucurnax einzuwenden, aber Kurthan ging darüber hinweg. „Alles Land, was im Norden des Kökö-Landes liegt, soll meinem ältesten Bruder Untertan sein und nach ihm seinen Söhnen. Und was an das KököLand im Süden anschließt, darüber setze ich dich zum Herrscher, solange du in meiner Gunst bist. Sterbe ich jung, dann sollst du der Vormund sein für meinen Sohn, bis er seinen ersten Feind in ehrlichem Kampf getötet hat. Dies
bestimme ich, und du wirst es aufschreiben und dem Volk verkünden.“ „Das werde ich tun“, sagte Hucurnax und schauderte leicht, denn er erschrak vor so viel Vermessenheit. Man schrieb den sechsten Monat im zweiten Jahr seiner Regierung, und es war der achte Tag dieses Monats, als Hucurnax, den man später den Verräter nannte, dies alles hörte und aufschrieb, damit das Volk sich an die Gebote des Khans halte und aus seinem Handeln lerne.
5. Zunächst war da nur ein Funke, nicht mehr. Der Funke wuchs, entwickelte sich zu einer sanften Glut. Die Glut hieß Leben. Zu diesem Leben gehörte Bewußtsein, und dieses Bewußtsein war es, das sich langsam entwickelte. Es tauchte in ein Meer von Informationen; Erinnerungen, Erfahrungen, leerem Wissen und leidvollen, selbsterlebten Einsichten. Da waren Gerüche, Farben, Stimmen und Klänge. Der Funke versuchte auf diese Welt überzugreifen. Viel Zeit verblieb dem Funken nicht, aber das konnte der leise glimmende Bewußtseinsfunke nicht wissen. Auch die Wissenschaftler wußten es nicht. Durch ein Medium, das sich ihrem Begriffsvermögen gänzlich entzog, führte eine Nabelschnur, eine Verbindung zwischen einem nur als Keim vorhandenen Bewußtsein und dem Körper, der unabhängig von diesem Bewußtsein ebenfalls zu wachsen begonnen hatte. Zwei Körper, zwei Geister, aber mit völlig voneinander unterschiedlichen Ausgangspunkten und Grundzuständen. Dort: ein hoch trainierter Körper mit einem leistungsfähigen Verstand, der sich in einem noch ungeprägten Gehirn festzusetze n begann, sich Schritt für Schritt vorwärtsarbeitete. Nur ein Bruchteil der geistigen Kapazität des Verstandes fand in dem neuen Gehirn Platz; und dieser Bruchteil wurde auch noch von außen bearbeitet. Er verlor viel dabei von seiner Unabhängigkeit, die Wertsysteme gerieten ins Wanken, und schließlich wußte die neugeschaffene Persönlichkeit weder, woher sie kam, noch wohin ihr Weg führen sollte. Hier: ein Embryo, der zum Feten wurde, geboren wurde, wuchs und zunahm an körperlicher und... An geistiger Kraft konnte das Wesen nicht zunehmen, denn noch bevor sich sein Geist entwickeln konnte, war da ein anderer, stärkerer Geist, der ihn verdrängte und in eine Landschaft warf, in der sich nur schwer zurechtfinden ließ. Dort: der Agent der Time-Squad, der den Geist eines noch Ungeborenen übernahm. Er fand nur wenig, an das er sich halten konnte, verlor den Zusammenhang und bald auch fast die Erinnerung an das Milieu, aus dem er gekommen war.
Hier: der Geist des Ungeborenen, jählings unterstützt von einem Ozean von Informationen, aus dem es kein Entrinnen gab. Sechs Wochen hatten die Wissenschaftler der Time-Squad für dieses Experiment angesetzt. Sechs Wochen blieben dem Geistesfunken, um eine Persönlichkeit zu werden... * Wohlgefällig musterte Kurthan die Heerschar. Die Anführer der Tuman hatten sich um ihn geschart, vierzig Männer, jeder einzelne ein erprobter Kämpfer und gewandter Heerführer. Jahrelang hatte Kurthan auf diesen Tag gewartet. Genau zwölf Tage, sieben Monate und dreizehn Jahre waren vergangen, seit Kurthan seine Herrschaft angetreten hatte. Viel war in dieser Zeit geschehen. Kurthans Heere waren ausgeschwärmt, Jahr für Jahr, um immer neue Gebiete für ihren Herrn zu unterwerfen, immer neue Völkerschaften seinem Reich einzuverleiben. Nichts hatte sie aufhalten können, ein Volk nach dem anderen war dem Ansturm von Kurthans Heeren erlegen. Nicht einmal die Merkiten, das Volk, dem seine Frau entstammte, hatte Kurthan ausgenommen, allerdings hatte er - ausnahmsweise den Fürsten des Landes, Byrtes Vater, am Leben gelassen und auch ihre Brüder und Schwestern geschont. Wohin der Huf des Guran reichen konnte, galt Kurthans Gesetz. Hucurnax, der zweite im Reich nächst Kurthan, hatte die Gesetze aufgeschrieben und angeschlagen, damit sie im Volke nicht in Vergessenheit geraten konnten. Zu nichts anderem waren die Männer ihrem Fürsten verpflichtet als zum Kriegsdienst, und ihren Weibern war die Aufgabe zugefallen, dafür zu sorgen, daß die Männer an jedem Tag, zu jeder Stunde aufbrechen konnten. Stets mußten mindestens fünf Guran für jeden Krieger bereitstehen - zwei, die seine Ausrüstung trugen, drei, auf denen er sich beim Reiten abwechseln konnte, in vollem Galopp. Das gab Kurthans Heerführern die Möglichkeit, in Räumen zu operieren, an die andere Führer nicht einmal zu denken wagten. Die Oerlök konnten zwanzig Tuman zerstreut reiten und plündern lassen und waren doch in der Lage, dieses riesige Heer binnen weniger Tage an einem Fleck zu sammeln, um jeden Feind mit der geballten Macht der Tuman niederwerfen zu können. Ermöglicht wurde diese beispiellose Schnelligkeit durch eine Einrichtung, die an Rang über den höchsten Fürsten stand - den Pfeil-Boten. Die Kuriere des Khans hatten den Leib bandagiert, um die Strapazen der Ritte ertragen zu können. Alle vierzig Meilen entlang der Straßen in Kurthans Bereich gab es Guran-Stationen, die bei Tag und Nacht besetzt waren. Die Kurier-Guran trugen helle Glocken am Gurtzeug, und sobald der Wächter einer Station diesen Klang in der Ferne hörte, hatte er sein bestes Tier einzufangen und zu satteln. Der Pfeil- Bote wechselte in vollem Galopp und ritt Stunde um Stunde, Tag um Tag, oft genug bis an die Grenze des Todes. Jeder
Untertan Kurthans mußte Platz machen, wenn er die Schellen eines PfeilBoten hörte, und selbst die ranghöchs ten Prinzen und Oerlök mußten ihre besten Guran abgeben, wenn der Bote sie forderte. Nichts geschah in Kurthans Reich, von dem er nicht bald wußte. Er pflegte die Boten reich zu beschenken und strich ihren Rang heraus. So fand er immer genug junge Männer, die sich um den Ruhm stritten, ein Pfeil- Bote zu sein. Auf den Straßen und im Felde herrschten die Männer, das Zelt jedoch war Herrschaftsbereich der Frau. Sie verwaltete, was der Mann an Beute mitbrachte aus den Feldzügen, sie gab den Sklaven die Befehle. Ihre einzige Pflicht bestand darin, stets für die Kriegsbereitschaft ihres Mannes zu sorgen. Sein Bogen mußte tadellos sein, das Gurtzeug gefettet, und in den Satteltaschen wurden in regelmäßigen Abständen die Vorräte erneuert getrocknetes Fleisch und Ziegeltee. Kurthan-Khan sah seine Truppen und erfreute sich an dem Anblick. Nur er, der alles wußte, was im Reich geschah, dessen Augen und Ohren in Gestalt der Pfeil-Boten allenthalben waren, wußte, daß es außer diesen vierzig Tuman noch weitere zwanzig Tausendschaften gab, die seinem Gebot gehorchten. Diese Truppen wollte der Khan in der Heimat belassen, um gegen innere Revolten jederzeit gefeit zu sein. „Du kannst zufrieden sein mit dem, was du erreicht hast“, sagte Byrte leise. Sie stand neben Kurthan, an der Hand den jüngsten von sechs Söhnen, die sie Kurthan geschenkt hatte. Zwei davon waren inzwischen gestorben. „Das ist noch nicht alles“, gab Kurthan leise zurück. Noch immer brannte in ihm der Ehrgeiz, nur hatte sich das lodernde Feuer der Jugend allmählich in ein beharrliches Brennen verwandelt. Kurthan ging seine Ziele ruhiger, bedächtiger an als früher. An diesem Tag hatte Kurthan-Khan seine Oerlök versammelt, um eine weitere wichtige Entscheidung zu treffen. Die Frage war, ob die Heere des Khans gerüstet waren, nach Westen vorzudringen, um auch dort alles Land zu erobern. Vierzig Tuman stellten eine gewaltige Streitmacht dar, aber tief in seinem Innern spürte der Khan sehr wohl, daß auch dieses Heer noch nicht der Gipfel aller möglichen Machtentfaltung war. Was an Nachrichten Auskunft gab über die Länder des Westens, war sehr wenig, weit weniger als das, was Kurthan für gewöhnlich wußte, wenn er einen Kriegszug begann. Kurthan schnippte mit den Fingern. Eine Sklavin erschien und reichte dem Khan einen hölzernen Becher mit vergorener Guranmilch. Der Sitte der Väter gemäß opferte Kurthan einen Teil davon den Göttern, einen Schluck nahm er selbst, dann gab er den Becher an die Oerlök weiter. Die Männer tranken, einer nach dem anderen. Ihre Augen hingen an Kurthan-Khan. Was plante der Herrscher? „Holt Hucurnax!“ befahl Kurthan schließlich. Er hatte es stets vermieden, seinen Freund und Waffengefährten nach Einzelheiten seines Landes auszufragen; in keinem Fall hatte er unvermittelt gefragt, und auf Andeutungen war Hucurnax nicht eingegangen.
Minuten verstrichen, während Offiziere von Hucurnax’ Tuman nach ihrem Befehlshaber suchten. Hucurnax, der noch immer über alle südlichen Länder herrschte - wenn auch nur im Namen und Auftrag des Khans -, sollte an diesem Tag sprechen, beschloß Kurthan. Er wollte seinen alten Gefährten nicht zwingen, sein Land zu verraten, aber er mußte Hucurnax vor die Wahl stellen - entweder mit dem Khan oder ohne ihn. Noch immer tauchte Hucurnax nicht auf. Kurthan begann ärgerlich zu werden. Als ein Offizier herangestürzt kam, hatte sich auf der Stirn des Khans bereits eine deutliche Falte gebildet, Zeichen seines beginnenden Unmuts. „Khan, der Oerlök Hucurnax ist verschwunden“, sprudelte der Offizier hervor. „Seine besten Guran fehlen, auch er selbst ist nirgends zu finden. In seinem Zelt fanden wir dies!“ Er übergab Kurthan eine versiegelte Rolle. Der Khan zog die Brauen in die Höhe und besah die Ro lle. Das Siegel war das Reichssiegel, das erste in der Geschichte der Kökö, eine Idee von Hucurnax. „Verstehst du das?“ fragte er halblaut, zu Byrte gewandt. Byrte nickte. „Ich habe es nicht anders erwartet“, sagte sie ruhig. „So, wie du ohne Zögern dein Leben opfern würdest, um dein Reich zu retten, so hat sich Hucurnax nun gegen dich und für seine Heimat entschieden. Du hast zuviel von ihm verlangt.“ Kurthan lächelte verhalten. „Du irrst zwar, wenn du dich unter das Reich stellst, aber...“ Er brach das Siegel auf und entrollte den Brief. Auf den ersten Blick erkannte Kurthan Hucurnax’ Handschrift, die klaren, sauberen Schriftzüge, die auf allen wichtigen Dokumenten des Reiches zu finden waren. „Hucurnax aus dem Westen an Kurthan-Khan, den Gebieter des Ostens und des Südens, der mein Bruder war. Du willst meine Heimat deinem Reich einverleiben, darum verlasse ich dich. Versuche nicht, dich oder mich täuschen zu wollen; ich kenne deine Pläne, Kurthan-Khan! Du kannst niemals von mir verlangen, daß ich dir helfe, mein Volk zu unterwerfen; ich werde vielmehr alles daran setzen, mein Volk vor deiner Herrschaft zu bewahren, denn deine Herrschaft, Kurthan-Khan, wird nicht von langer Dauer sein. Denke an den Alten im Gebirge! Was willst du beginnen, wenn die Welt dir Untertan ist? Welches Ziel willst du deinem wahnwitzigen Ehrgeiz noch setzen? Ziele, die kein lebendes Wesen erreichen kann? Denke an den Alten im Gebirge! Ich bin neben dir geritten, Kurthan-Khan, viele Jahre lang. Ich habe dir deine Feinde gefesselt zu Füßen gelegt, ihre Schätze und ihre Weiber in deine Zelte geschafft - aber du kannst nicht von mir verlangen, daß ich dir das eigene Gold, die eigene Schwester überlasse. Weder Drohung noch Verlockung können meinen Sinn ändern; deine Herrschaft, Kurthan-Khan, wäre nicht gut für mein Volk.
Denke an den Alten im Gebirge!
Und denke an Hucurnax, der dir ein Freund war, solange er dir Freund sein
konnte!
Wir sehen uns in meinem Land, Kurthan-Khan.
Dann spätestens wirst du an den Alten im Gebirge denken!“
Kurthan-Khan schloß die Augen und preßte die Kiefer zusammen. Das
Pergament mit Hucurnax’ Botschaft zerknüllte er und warf es auf den
staubigen Boden.
„Das wagt er, zu schreiben“, knirschte Kurthan-Khan. „Mir, seinem Herrn!
Mir, der ich sein Freund war! Lä nder habe ich ihm geschenkt, Reiche habe ich
ihm angeboten - und er verläßt mich.“
Als er die Augen wieder öffnete, sah er die Oerlök reglos stehen.
„Das Land und die Städte des Westens sollen dem gehören, der mir das
zuckende Herz des Verräters Hucurnax bringen kann!“ rief der Khan weithin
hallend. Dann winkte er einen Soldaten herbei und befahl: „Bringt mir
Burthegai!“
Minuten später stand der Gesuchte vor ihm, gekleidet in die Rüstung eines
Offiziers.
„Erinnerst du dich meiner Prophezeiung, Burthegai?“ fragte Kurthan halblaut.
Der Krieger nickte.
„Ich habe kein Wort vergessen, Khan. Ich werde in der Reihe der ersten
Krieger stehen, wenn es darum geht, die Hauptstadt des Westens zu stürmen,
und ich werde die Mauern dieser Stadt als erster ersteigen. Das schwöre ich!“
„Wenn dir das gelingt“, sagte Kurthan langsam, „dann sollst du den Platz von
Hucurnax einnehmen an meiner Seite. Und nun geh!“
Gehorsam zog sich der Offizier zurück.
„Meine Oerlök, Vertraute meines Rates, helft mir“, rief Kurthan so laut, daß
das ganze Heer ihn hören konnte. „Ich brauche euren Rat. Ihr alle kennt
Hucurnax, der mein Freund und Gefährte gewesen ist. Er sollte wie stets zu
meiner Rechten reiten auf diesem Zug gegen den Feind.“ Kurthan verschwieg
weislich, wer dieser Feind sein sollte. „In diesem Brief hier schreibt Hucurnax,
daß er hinfort mein Gefährte nicht länger sein will. Von Hucurnax fehlt jede
Spur, außerdem sind einige besonders wertvolle Guran verschwunden. Ich
frage euch, ihr Oerlök, stellt dies eine Beleidigung eures Khans dar?“
„Eine ungeheuerliche Beleidigung“, sagte Kurthans ältester Sohn sofort.
„Ist es recht, wenn ich vom Fürsten der westlichen Länder die Auslieferung
des Beleidigers und Verräters fordere?“
„Es ist Rechtens“, erklärte der Chor der Oerlök.
„Dann wollen wir gen Westen ziehen, damit ich die Beleidigung an dem
Verräter sühnen kann. Wer begleitet mich auf dieser Reise?“
Ohrenbetäubendes Gebrüll drang an seine Ohren. Einstimmig stießen die
Soldaten die Speere in die Höhe und stimmten den Kriegsruf der Kökö an, und
über jeden Tuman flatterte plötzlich die Kriegsfahne im Wind, die
neunzipflige Thug.
„Zuvor aber“, verkündete Kurthan seinem Heer, „wollen wir jagen!“
Diese Ankündigung rief erneut begeisterten Jubel hervor. Sofort sprengten die ersten Reiter los, um nach einem geeigneten Jagdgebiet Ausschau zu halten. Da es unmittelbar im Anschluß an dieses Vergnügen nach Westen gehen sollte, ritten die Wildsucher nach Westen, gefolgt von der ersten Schar der Treiber. In langsamem Zug folgte dann das ganze Heer, eine Tuman nach der anderen, in der ehernen Ordnung, die Kurthan-Khan noch in Friedenszeiten zum Gesetz erhoben hatte. Kein Heer hatte es bisher geschafft, die Ordnung dieses Heeres zu stören. Unerschütterlich war der Glaube der Tuman in ihre eigene Unbesiegbarkeit. * Das Jagdgebiet war gefunden. Zehn Tuman hatte Kurthan-Khan vorausgeschickt, um das Jagdgebiet genau zu untersuchen und vorbereiten zu lassen. Nach dieser Prüfung hatten sich die Soldaten an die Arbeit gemacht. Jedes Tier, das in dem vorher bestimmten Waldgebiet gelebt hatte, war sorgfältig festgestellt und gezählt worden. Kein Nest, kein Bau war unentdeckt geblieben. Sobald die Jagd eröffnet worden war, ritten die Tuman los. Sie kreisten das Gebiet ein und trieben die Tiere auf den vorher bestimmten Jagdplatz zu. Keine Katze, kein Hornwild, nichts durfte den Treibern entgehen. Anfangs war das Treiben einfach. Die Tiere wurden aufgescheucht und suchten das Weite. Dabei flohen sie naturgemäß die Reihen der herannahenden, schreienden und stockschwingenden Menschen. Dann aber wurde der Ring immer enger. Tag um Tag verging, und in jeder Stunde verkleinerte sich das Gebiet. In der Nacht trugen die Soldaten Fackeln, die ihnen den Weg erleuchten und das Wild zurückscheuchen sollten. Und je enger der Kreis wurde, in dem die Tiere hineingetrieben wurden, um so dichter wurde der Ring. Die Männer trugen keinerlei Waffen, nur dicke Schilde aus Rohrgeflecht. Kein Tier, und war es noch so wild, durfte aus dem Kreis ausbrechen, und keines durfte bei einem abgewiesenen Ausbruchsversuch zu Schaden kommen. Mit List, Gewandtheit, Körperkraft und Mut allein mußte der Ring gehalten werden. Sinn dieser Jagd war nicht nur, dem Khan ein Vergnügen zu bereiten. Diese Art Jagd zwang die Soldaten zu größter Aufmerksamkeit und lehrte sie, mit jedem nur denkbaren Gelände fertig zu werden, bei Tag und bei Nacht, im Winter und im Sommer. Auf diese Weise vergingen Wochen, oft Monate. Der Ring verdoppelte sich, wurde vierfach, fünffach, und noch immer durfte es keinem Tier gelingen, den tödlichen Kreis zu durchbrechen. Nachts wurden nun große Feuer angezündet, um die gefangenen Tiere beieinander zu halten. Hinter dem Ring der Kökö aber war der Wald leer und stumm. Endlich, wenn der Ring so verkleinert war, daß die größten Feinde Schulter an Schulter standen und sich kaum noch rühren konnten, kam es zur eigentlichen Jagd. Der Ring wurde geöffnet, und der Khan ritt mit seinen höchsten
Würdenträgern in den Kreis. Er hatte als erster das Recht zur Jagd, tötete hier
einen Bären, dort einen starken Keiler. Hatte er seine Jagdlust gesättigt,
überließ er das Feld den Oerlök, die dann wiederum einfacheren Offizieren
Platz machten.
Kurthan-Khan hatte sich auf seinen Thron zurückgezogen, den man in der
Nähe des Jagdplatzes aufgebaut hatte. Von dort aus konnte er seine Männer
beobachten, die Ungeschickten tadeln und den Tapferen Belohnungen
gewähren.
Erst als der Großteil der Tiere erlegt war, ließen die Kökö Gnade walten. Sie
öffneten den Kreis und gaben dem Rest des Wildes die Freiheit zurück.
In dieser Weise vertrieben sich die Kökö die Zeit, während sie auf den Beginn
des Kriegszugs warteten.
Warten mußte auch der Khan.
Niemals hätte er einen Kriegszug nach der Art eines ehrlosen Räubers
eröffnet. Selbst wer den Krieg wollte und ihn suchte, mußte die Form wahren.
Kurthan-Khan hatte an den Fürsten des Westens einen Brief geschrieben und
um die Auslieferung des flüchtigen Hucurnax ersucht.
„Sechs Monde sind vergangen, seit du die Boten abgeschickt hast“, erinnerte
Dschelme, Kurthans Erstgeborener, seinen Vater. „Sie hätten längst wieder bei
uns sein müssen!“
Kurthan zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Oerlök in seinem Zelt
versammelt, um mit ihnen zu beratschlagen.
„Niemand weiß, wie groß das Reich des Westens wirklich ist“, sagte er leise.
„Es heißt, die große Stadt liege zwanzig Tagreisen von uns im Westen, aber
mehr wissen wir nicht. Vielleicht ist das Land größer, als wir annehmen.“
„Um so besser“, warf einer der Oerlök ein. „Dann ist die Beute größer!“
Kurtha n lachte, dann hob er den Kopf.
„Schellengeläut“, sagte er halblaut. „Ein Pfeil- Bote!“
Minutenlang herrschte Stille im Zelt. Die Männer horchten. Sie hörten den
Boten herangaloppieren, hörten ihn vom Pferd springen und einen winzigen
Augenblick lang zögern, bevor er das Zelt des Khans betrat. Pfeil-Boten hatten
bei Kurthan-Khan jederzeit Zutritt.
Der Reiter war zu Tode erschöpft.
„Berichte“, sagte Kurthan ruhig.
„Nachricht von deinem Gesandten, Khan“, sagte der Bote. „Der Fürst des
Westens läßt dir melden, daß er mit dir nichts zu schaffen habe. Er lehnt es ab,
einen seiner Untertanen, sei er hoch oder niedrig geboren, dir auszuliefern. Im
übrigen empfiehlt er dir, schnellstens in dein Land zurückzukehren, bevor die
Götter dich verderben.“
Kurthan zog eine Braue in die Höhe.
„Ist das alles?“
Der Bote biß sich auf die Unterlippe.
„Der Fürst des Westens hat den Anführer deiner Gesandtschaft töten lassen,
Khan! Den anderen ließ er Haupt- und Barthaar scheren und schickte sie so
zurück. Die Gesandten bitten um die Gnade, nicht derart beschimpft vor dir
erscheinen zu müssen.“
Kurthan-Khan war aufgesprungen.
„Das hat der Fürst des Westens gewagt?“
Der Khan war fassungslos. Ein Gesandter war heilig, unantastbar, das war
Brauch bei den Kökö und allen anderen Völkern, die Kurthan kannte.
Leise aber bestimmt sagte Kurthan: „Man sende einen Boten an den Fürsten
des Westens. Man sage dem Fürsten diese Botschaft von mir: Du hast den
Krieg gewählt. Der Himmel allein weiß, wie die Sache zwischen uns ausgehen
wird!
6. Der Leiter des Wissenschaftlerteams sah zuerst auf den reglosen Körper auf
der Transportplattform der Zeitmaschine, dann wanderte sein Blick zu D. C.
hinüber.
Demeter Carol Washington sah auf die Uhr an der Stirnwand des Raumes.
Es ging auf Mittag zu; es war der zweiundvierzigste Tag des Experiments.
Nach dem Zeitplan der Time-Squad war das Experiment damit abgeschlossen.
Die Frage hieß, ob sich die Wirklichkeit an den Zeitplan der Time-Squad
halten würde.
„Fangen Sie an, Doktor!“
D. C. sprach leise, sie flüsterte fast.
„Schalten Sie aber das Feld langsam herunter!“
Der Geist des Mannes, dessen Körper reglos auf der Transportplattform lag,
weilte in anderen Zeiten und räumlichen Bezügen, aber er müßte das
Schwächerwerden des Zeitfeldes spüren können. Das sollte für ihn das Signal
sein, in seine Zeit zurückzukehren - genauer gesagt sollte es ihm ankündigen,
zu welchem Zeitpunkt er in seiner ursprünglichen Zeit ankommen sollte.
„Der Puls beschleunigt sich“, teilte eine leidenschftslose Stimme mit.
„Blutdruck steigt an.“
D. C. ballte die Fäuste. Das Experiment mußte gelingen! Wenn die Time-Squad in diesem Augenblick
einen ihrer besten Agenten verlor, würde dies ein lähmender Schlag sein, der
die Arbeit von Jahren zunichte machen konnte.
Es durfte einfach keinen Fehlschlag geben.
„Erhöhte Hirnstromwerte!“ gab der Arzt bekannt. „Der Mann scheint unter
Schockwirkung zu stehen... !“
Demeter Carol Washington schloß die Augen.
* Der Himmel allein weiß, wie die Sache zwischen uns ausgehen wird! Damit war der Krieg zwischen den Kökö und dem Fürsten des Westens
offiziell erklärt. Kein Priester, kein Schamane konnte Kurthan-Khan jetzt noch einen Vorwurf machen. Auf Gesandtenmord gab es nur diese eine Antwort. Während die Männer auseinanderspritzten, um ihre Einheiten marschfertig zu machen, sah sich Kurthan nach seinem Weib um. Byrte hielt den Jüngsten auf dem Arm und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Angst?“ erkundigte sich Kurthan mit leisem Spott. Byrte sah ihm voll ins Gesicht. „Kennst du einen Fürsten, dessen Machtfülle sich mit der deinen vergleichen ließe?“ Kurthan lachte, während er den Kopf schüttelte. „Du hast eine Botschaft an den Fürsten des Westens geschickt“, sagte Byrte ruhig. „Du hast diese Botschaft so ausgewählt, daß nahezu jede mögliche Antwort des Fürsten dir einen Vorwand gegeben hätte, einen Krieg mit ihm zu beginnen.“ „Richtig“, stimmte Kurthan zu. „Jetzt haben wir den Krieg.“ Byrte nickte düster. „Es wird Krieg geben“, wiederholte sie. „Aber nicht, weil du ihn wolltest, Kurthan! Der Fürst des Westens hat dir mit dem Gesandtenmord gar keine andere Wahl gelassen! Verstehst du mich? Du wolltest ihm einen Krieg aufzwingen, aber jetzt hat er dich gezwungen, die Waffen sprechen zu lassen. Hältst du das für ein Zeichen von Schwäche? Sieht dies nicht vielmehr danach aus, als habe der Fürst nur darauf gewartet, daß du ihn herausforderst?“ Kurthan schwieg betroffen. „Was weißt du, wie groß das Land im Westen ist, wie groß die Städte dort sind, wieviele Krieger dort leben und welche Waffen sie führen? Immer hast du den Gegner sehr gut gekannt, bevor du sein Land mit Krieg überzogst. Jetzt bist du in den Krieg gezwungen, und du weißt nichts. Der Fürst des Westens aber kennt dich und dein Heer wie sich selbst, denn er braucht nur Hucurnax zu fragen.“ Kurthan schüttelte den Kopf. „Das würde Hucurnax niemals tun“, wehrte er ab, aber er wußte, daß er sich selbst betrog, wenn er dies glaubte. „Narr!“ schimpfte Byrte leise und faßte ihren Sohn fester. „Nun, du Held, geh hin und sieh zu, daß du diesen Krieg auch gewinnst.“ Mit einem Mal kam Kurthan sein Sieg nicht annähernd so sicher vor, wie es ihm bisher erschienen war. Zum ersten Mal, seit er über ein Heer gebot, fühlte er Zweifel in sich aufsteigen. Der Himmel allein... * Noch niemals war Kurthan so vorsichtig gewesen, noch niemals hatte er seine Vorhut derart massiert ausschwärmen lassen, um das Gelände zu sondieren. Zehntausende von Reitern waren unterwegs, und sie drehten beinahe jeden Stein um, bevor sie ins Lager zurückkehrten und Kurthan berichteten, was sie
gesehen hatten. Kurthan wußte vom Land des Westens wirklich nicht viel. Es war bekannt, daß es in einer Ebene lag, und für Ebenen, auf denen er die Fähigkeiten seiner Reiter voll ausschöpfen konnte, hatte Kurthan von jeher viel übrig gehabt. Aber zwischen dieser herbeigesehnten Ebene und Kurthans Ausgangslager ragte eine Gebirgskette in die Höhe, die Kurthan und seine Soldaten vor extreme Schwierigkeiten stellte. Während Kurthan das Hauptheer selbst geradlinig durch das Gebirge führen wollte, gab er einem seiner Oerlök, Dschelme war es, den Auftrag, mit vier Tuman einen Versuch zu unternehmen, das Gebirge zu umreiten. Kurthan wußte: Wenn diese Aufgabe zu lösen war, Dschelme würde sie lösen. Dann begann Kurthans Heer mit dem Aufstieg ins Gebirge. Es war ein Marsch, der Menschen und Tiere das Äußerste abverlangte. In der Höhe wurde die Luft entsetzlich dünn, und nachts wurde es so kalt, daß den Guran die Hufe platzten. Obwohl die Lebensmittel von Tag zu Tag knapper wurden, trieb Kurthan seine Soldaten unerbittlich vorwärts. Es war ein Marsch gegen die Zeit - hatte das Heer nicht binnen eines Monats das Gebirge überwunden, würde der Zug mitten im Fels stehenbleiben und dort umkommen. Aber obwohl der Marsch gnadenlos schwer und schier undurchführbar schien, behielt Kurthan die Verbindung zu Dschelme. Das Nachrichtensystem der Pfeil-Boten versagte nie. Obwohl sich die beiden Heersäulen immer weiter voneinander entfernten, riß die Verbindung nie ab, und so wußte Kurthan nach dreißig Tagen, daß Dschelme tatsächlich einen Weg gefunden hatte, das Gebirge an einer niedrigen Stelle zu übersteigen. „Mir gegenüber“, so ließ Dschelme melden, „steht der Fürst des Westens mit seinem ersten Heer. Es sind etwa achtzigtausend Mann, und sie sind frisch und ausgeruht. Ich habe von meinen vier Tuman sechs Tausendschaften verloren, und meine Männer sind sehr müde.“ Kurthan-Khan dachte geraume Zeit über diese Botschaft nach, dann gab er einem Pfeil-Boten einen Befehl für Dschelme auf den Weg. „Greife den Fürsten des Westen unverzüglich an und besiege ihn!“ lautete der Befehl, und weiter hieß es: „Wenn sich der Fürst zur Flucht wendet, dann wirst du ihm mit allen deinen Kriegern folgen. Kümmert euch nicht um Städte und Festungen, beachtet die Heere des Fürsten nicht. Jagt ihn, laßt ihm nicht eine Stunde Pause. Macht nieder, was sich zwischen ihn und euch stellt; verschont, was sich ergibt und euch den Weg freimacht. Fangt den Fürsten des Westens, wohin er sich auch wendet!“ Sechs Tage vergingen, nachdem Kurthan-Khan diese Botschaft an Dschelme gesandt hatte. Am siebten Tag sah die Vorhut von Kurthans Heer das erste Grün des Landes im Westen und berichtete dem Khan darüber. Und gleichzeitg traf auch ein Pfeil-Bote von Dschelme ein. „Dein Befehl wurde befolgt!“ lautete Dschelmes knappe Nachricht. Der Pfeil- Bote hatte den Ausgang der Schlacht abgewartet, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte, und er wußte zu berichten, daß Dschlme das Heer des
Fürsten vernichtend geschlagen hatte. Wieder einmal hatten die Kökö erfolgreich den Trick der Scheinflucht angewandt, der die Reihen des Feindes auseinanderriß und es den geschlossen operierenden Tuman der Kökö erlaubte, die einzelnen Abteilungen des Gegners nacheinander anzugreifen und zu vernichten. Kurthan schickte einen dankbaren Blick zum Himmel, als er diese Nachricht hörte. Er wußte jetzt, daß der Fürst des Westens verloren war. Der Khan kannte seinen Bluthund Dschelme. Er würde dem Fürsten auf den Fersen bleiben, ihn ohne Unterlaß bei Tag und Nacht verfolgen. Der Fürst würde nicht die Zeit haben, auch nur eine Ansprache an seine Soldaten zu halten, wenn er überhaupt noch Krieger fand, die es wagten, sich dem Sturmwind der Kökö entgegenzustellen. Kurthan wußte genau, daß er den Fürsten nicht leicht schlagen konnte. Er ahnte bereits, daß der Fürst ein Heer nach dem anderen würde aufstellen können, Tuman nach Tuman, bis die Kökö sich zu Tode gesiegt hatten. Wenn es dem Fürsten gelang, seine Untertanen zu mobilisieren, dann war er im Vorteil - er konnte überall ein Heer aufstellen, während Kurthan mit seinen Truppen viele Tagesreisen von den eigenen Hilfsquellen entfernt war. Anders lag der Fall, wenn Dschelme den Fürsten nicht zur Ruhe kommen ließ. Tauchte der Bedrängte in einer seiner Städte auf, mit schaumbedecktem Guran, mit allen sichtbaren Anzeichen der Erschöpfung, wenn er seinen Untertanen zeigen mußte, daß er gejagt wurde wie ein wildes Tier - dann war es mehr als zweifelhaft, ob sich ein Heer unter seiner Fahne zusammenfinden würde. Und während Dschelme den Fürsten des Westens hetzte, hatte Kurthan-Khan Zeit genug, das Land des Fürsten zu erobern. * „Morgen!“ verkündete Kurthan-Khan seinen Oerlök. „Morgen werden wir die Stadt stürmen!“ Er wußte, warum er noch nicht zum Sturmangr iff ansetzen ließ. Noch immer wanden sich Teile seines Heeres durch die letzten Ausläufer des Gebirges. Kurthan-Khan wollte erst sein gesamtes Heer vor der Stadt versammelt haben, bevor er zum Angriff die Trommeln schlagen ließ. Auf all seinen Kriegszügen hatte der Khan noch nie eine so gewaltige Stadtanlage zu sehen bekommen. Er machte mit seinen Oerlök einen Ritt um die gesamte Stadt herum und bestaunte gleich ihnen die gewaltigen Ausmaße der Stadtmauern und der zinnenbewehrten Tore. „Wenn die Bewohner dieser Stadt alle waffenfähige Männer zusammenrufen“, stellte Burthegai fest; er hatte es inzwischen ebenfalls bis zum Oerlök gebracht, wußte aber genau, daß seine eigentliche Bewährungsprobe noch ausstand, „werden sie mehr Krieger zählen, als wir je werden töten können. Hinter den Mauern können einhundert Tuman stehen.“
Kurthan runzelte die Stirn. Einhundert Tuman, das war soviel, wie er in seinem gesamten Reich zur Not hätte aufbieten können, aber dann wären keine Reserven geblieben. Und dies hier war nur eine Stadt. „Wir brauchen Gefangene“, forderte Kurthan, nachdem er den Rundritt beendet hatte. „Auch diese Stadt ist zu nehmen, wir müssen nur einen Weg finden, die Mauern zu überwinden.“ Seine Krieger brauchten weniger als eine Stunde, um eine Hundertschaft von Gefangenen zusammenzutreiben und vor den Khan zu führen. Kurthan-Khan sah sich die Soldaten des Fürsten genau an. Es war Sommer, und daher waren die Oberkörper der Soldaten unbedeckt. Ihre Haut war wesentlich dunkler als die eines Kökö, auch waren die Männer etwas kleiner. Um die Hüften trugen sie einen Lendenschurz aus hellem Leinen, an den Füßen ähnliche Sandalen, wie sie auch Kurthans Soldaten im Sommer zu tragen pflegten. Bewaffnet waren die Soldaten mit erstaunlich schlechten Bögen, deren Schießergebnisse nicht halb so gut waren wie die der Kökö-Bögen, auch die Pfeile ließen sich mit den Geschossen von Kurthans Leuten nicht vergleichen. Um so eindrucksvoller aber wirkten die Schwerter, mit denen die Stadtbewohner kämpften. Auf den ersten Blick sahen die Waffen den Schwertern der Kökö erstaunlich ähnlich, aber mit diesen Äußerlichkeiten hatte es dann auch sein Bewenden. Die Schwerter der Stadtsoldaten bestanden aus einem gräulich schimmernden Metall, und in die Klingen waren mit Hilfe eines unbekannten Verfahrens Kristallsplitter eingelassen worden. Auf den ersten Blick fand Kurthan diese Konstruktion lächerlich, aber dann besann er sich eines Besseren. Wenn die Soldaten des Fürsten die Klingen ihrer Schwerter mit spröden Kristallsplittern besetzten, gab es sicherlich auch dafür einen Grund. Kurthan machte die Probe aufs Exempel. Die Schwerter der Stadtsoldaten waren besser, daran gab es keinen Zweifel. Sie waren nicht nur entschieden härter als die Waffen der Kökö, sie besaßen zudem eine Schärfe, die mit nichts zu vergleichen war. Mit einem einzigen wuchtigen Schlag konnte Kurthan eine Rüstung der Länge nach spalten. Während er das Schwert nachdenklich auf den Knien wiegte, fragte Kurthan einen der Gefangenen: „Wieviele Soldaten liegen in der Festung?“ Der Gefangene zuckte mit den Schultern. „Willst du nicht reden, oder kannst du nicht reden?“ herrschte Kurthan den Soldaten an. „Ich will nicht“, sagte der Gefangene trotzig. Kurthan zog die Brauen in die Höhe. „Sage nur, man kennt bei euch keine Verfahren, Gefangene gesprächig zu machen?“ drohte er. Über das Gesicht des Gefangenen huschte ein Lächeln „Wir tennen solche Methoden, aber wir gebrauchen sie nicht. Außerdem könnte ich deine Frage,
Khan, beim besten Willen nicht beantworten. Ich weiß nicht, wieviele Köpfe unser Heer in Kildar zählt.“ „Kildar heißt diese Stadt?“ „Ja, Herr. Sie ist die Verwaltungshauptstadt einer Unterprovinz des gleichen Namens.“ Kurthan verzog keine Miene, aber seinen Oerlök war der Schreck an den Gesichtern abzulesen. Eine Stadt dieses Ausmaßes, und sie war ohne besondere Bedeutung. Etliche solcher Städte gab es in jeder Unterprovinz, jede Provinz wiederum in drei Unterprovinzen ge gliedert, und jedes Land, das der Fürst des Westens beherrschte, zerfiel wiederum in zahlreiche Provinzen. Kurthan schloß die Augen und holte tief Luft. Er wußte nicht, ob alles stimmte, was der Gefangene von sich gab, aber wenn davon auch nur die Hälfte sich als Wahrheit herausstellen sollte, dann war dieser Kriegszug für die Kökö verloren, bevor er richtig begonnen hatte. Eine List war es gewesen, daß der Fürst die erste Schlacht gegen Dschelme verloren hatte. Vier Tuman waren niemals in der Lage, den Fürsten des Westens so durch sein ganzes Land zu hetzen, wie Kurthan es sich vorgestellt hatte. Vier Tuman verloren - vermutlich hetzte Dschelme seine Reiter blindlings in eine Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Aber Kurthan dachte nicht an Aufgabe. Noch hätte er zurückweichen können, aber in ihm bäumte sich der Stolz auf. Vielleicht würde er besiegt werden, aber ein Rückzug, ohne daß auch nur eine große Schlacht geschlagen worden war? Undenkbar! „Wann habt ihr das letze Mal gekämpft?“ wollte Kurthan wissen. Die Gefangenen zuckten mit den Schultern. „Seit Menschengedenken hat niemand mehr versucht, unser Land anzugreifen“, erklärte einer der Gefangenen. Jetzt lächelte Kurthan. Mit ungeübten Stadtsoldaten mußten seine kampferprobten Kökö fertig werden, auch dann, wenn die Stadtsoldaten in der Überzahl waren. „Wie steht es mit der Reiterei?“ fragte Kurthan weiter. Die Gefangenen machten betretene Gesichter, und Kurthan lächelte erneut. Die Männer hatten Angst vor den Guran, und das verbesserte noch Kurthans Aussichten und die seiner Soldaten. Bei einem geschlossenen Angriff seiner Reiter mußte selbst die beste Fußtruppe der Welt weichen. Nichts gab es, was einem solchen Anstrum hätte standhalten können. Mochte der Fürst des Westens noch so viele Heere aus dem Boden stampfen, Kurthan würde sie vernichtend schlagen. Innerhalb von zehn Tagen konnte er seine Tuman im Umkreis von fünfhundert Kilometern zusammenrufen und an einem Punkt vereinigen. Und abermals zehn Tage später konnte er mit den gleichen Tuman an einer ganz anderen Stelle auftauchen und ein zweites Heer des Fürsten besiegen. Die Schnelligkeit seiner Reiter gab Kurthans Heer mindestens die doppelte Stärke; eine Tuman zur rechten Zeit am rechten Ort war besser als einhundert Tuman, die im entscheidend en Augenblick nicht zur Hand waren. Kurthan wußte nun, daß er fast gemütlich eine Tuman nach der
anderen seines Gegners von seinen Reitern erledigen lassen konnte - bevor der Fürst in der Lage war, ein Ersatzheer herbeizuschaffen, waren Kurthans Truppen längst verschwunden, um an anderer Stelle vernichtend zuzuschlagen. „Ihr könnt in eure Stadt zurückkehren“, sagte Kurthan nach einigem Nachdenken. Die Gefangenen, die ihre Köpfe bereits vor ihren Füßen gesehen hatten, rissen die Augen auf, und auch die Oerlök staunten. „Meldet eurem Gouverneur“, sagte Kurthan, „daß ich einen Tribut von ihm fordere. Er soll mir zehntausend Katzen und einhunderttausend Vögel schicken lassen. Andernfalls werden meine Krieger die Mauern seiner Stadt ersteigen und ihre Zinnen mit den Köpfen seiner Lieben verzieren.“ Ohne sich um die fassungslosen Gesichter in seiner Umgebung zu kümmern, verließ Kurthan den Platz. Die Gefangenen waren mindestens so entgeistert wie die Oerlök, aber während die Ratgeber Kurthans wie erstarrt standen, machten sich die Gefangenen eilends aus dem Staube. * „Du solltest mir sagen“, bat Byrte bekümmert, „was du im Schilde führst, denn deine Oerlök sehen aus, als planten sie einen Aufstand. Und auch die Soldaten beschweren sich, sie seien zum Kämpfen in dieses Land gekommen, nicht aber, um dort Katzen zu bändigen und Vögel einzusperren.“ „Sie sind hergekommen, um meinen Befehlen zu gehorchen“, stellte Kurthan fest. „Wer dies nicht tun will, wird mit dem Schwert des Henkers Bekanntschaft machen.“ Kurthan hatte es sich in seinem Zelt bequem gemacht. Er lag auf einem Bett, das mit weichen Fellen bedeckt war, auf dem flachen Tisch vor ihm stand ein Gefäß mit Symuk, und im Nachbarzelt spielten Musikanten von Jurthapat. Im Eingang von Kurthans Zelt stand das kleine Feuerbecken aus Bronze. Die darin glimmende Holzkohle sollte die Luft und jeden Eintretenden symbolisch reinigen. Ein Soldat erschien im Eingang und wartete, bis Kurthan ihm erlaubte, näher zu treten. „Es fehlen noch einige hundert Katzen“, berichtete der Soldat. Seine Hände waren von Kratzern übersät, und auch sein Gesicht hatte einiges abbekommen. „Wieviele Vögel die Stadtleute geliefert haben, Khan...“ In einer Geste der Hilflosigkeit breitete der Soldat die Hände aus. „Das Zählen fällt schwer“, meinte Kurthan amüsiert. „Vor allem, weil die Katzen immer wieder den einen oder anderen Vogel fressen“, seufzte der Soldat. „Rufe Dschutschi ins Zelt!“ befahl Kurthan. Der Soldat nickte, zog sich zurück und eilte durch das Lager. „Wie sieht es aus?“ wollte Kurthan wissen, nachdem Dschutschi an seiner Seite Platz genommen und sich Symuk eingeschüttet hatte. „Wir haben deine Befehle ausgeführt“, erklärte der Oerlök und nahm einen
tiefen Schluck aus dem hölzernen Becher. „Ist es bereits dunkel?“ „Man kann kaum mehr die Hand vor Augen sehen, Khan!“ Kurthan lächelte zufrieden. „Meine Soldaten?“ „Haben sich bei den Toren der Stadt aufgestellt, außer Reichweite der Pfeile von den Zinnen natürlich.“ Kurthan schüttete den letzten Schluck Symuk hinunter, dann stand er auf und verließ sein Zelt. Von seinen Soldaten war nichts zu sehen, nur die Lagerfeuer bewiesen, daß sie in der Nähe waren. Hätte nicht das Kreischen der Katzen und das schrille Pfeifen der vielen Vögel die Luft erfüllt, wäre es totenstill gewesen. „Sind meine Befehle befolgt worden?“ erkundigte sich Kurthan. Dschutschi wies die zerkratzten Hände vor. „Sie wurden befolgt, Khan“, seufzte er. „Dann los!“ rief Kurthan laut. Überall im Heer wurden fast gleichzeitig Fackeln in die Flammen der Wachfeuer ge senkt. An Tausenden von Wachfeuern loderten die Fackeln auf. Seit die Dämmerung hereingebrochen war, hatten Kurthans Soldaten nichts anderes getan, als geflucht und den Tieren aus der Stadt dünne Fäden an Beine oder Schwänze gebunden. Am Ende eines jeden Fadens hing ein Bündel teergetränkter Stoff, und fast gleichzeitig wurden die Bündel angesteckt. Die Soldaten warteten sekundenlang, bis feststand, daß die Anhängsel auch wirklich brannten, dann ließen sie die Käfige aufgehen. Kurthan begann zu kichern, und seine Oerlök fielen sofort ein. Jetzt erst begriffen sie, mit welcher List Kurthan sich die Stadt zu erobern ‘gedachte. Das Feuer, das sie hinter sich schleppten, versetzte die Tiere naturgemäß in Panik, und entsprechend ihren Instinkten, versuchten sie sofort, ihre schützenden Quartiere zu erreichen. Keine noch so gute Wache auf den Mauern der Stadt wäre imstande gewesen, die Heerschar vor Angst wahnsinniger Katzen aufzuhalten, die mit unglaublicher Geschwindigkeit an den Mauern in die Höhe kletterten. Kurthan konnte sehen, wie die kleinen Feuerbälle an den Wällen der Stadt aufstiegen. Er hörte das Schreien und Rufen der Wachen, und nach kurzer Zeit sah er die ersten Wachtürme in Flammen stehen. Gleichzeitig waren die Vögel in höchster Eile in ihre Nester zurückgekehrt. Wenn nicht schon auf dem Weg die Flammen die dünnen Fäden durchschmoren ließen, verloren die Vögel ihre brennenden Anhängsel spätestens an den Schlupflöchern ihrer Nester. Ein Dachstuhl nach dem anderen ging in Flammen auf, und gegen Tausende von gleichzeitig ausbrechenden Feuern war kein Kraut gewachsen. Haus um Haus ging in Flammen auf, und bald war der Himmel taghell erleuchtet. Den Bewohnern der Stadt blieb nur eines, wenn sie nicht in den Flammen umkommen wollten - sie mußten die Tore öffnen und sich ins Freie flüchten, den Soldaten Kurthans auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert.
Kurthan konnte hören, wie seine Soldaten zu lachen begannen, als die Tore geöffnet wurden und die ersten Gestalten ins Freie stolperten, die wenigen geretteten Habseligkeiten unter den Armen. Kildar war für Kurthans Truppen kein Hemmnis mehr. Die erste Stadt des Fürsten des Westens war gefallen, und Kurthan war überzeugt, daß dies nicht die letzte sein würde. Er irrte sich.
7. „Bistarc, werden Sie wach! Können Sie uns hören?“
Bistarc? Wer war das? Ich vielleicht?
Ich tauchte aus einem Etwas auf, das ich nicht begriff, und ich rutschte dabei
in ein Kontinuum hinein, von dem ich noch weniger verstand. Wer war
Bistarc? Oder was?
„Der Puls ist sehr schwach, Chefin. Wir müssen stützen.“
„Tun Sie, was Sie für richtig erachten. Können Sie mich verstehen, Tovar?“
Ich verstand, daß Fragen gestellt wurden. Fragen an mich? War ich ein Tovar,
oder ein Bistarc, oder ein Puls, der sehr schwach war und gestützt werden
mußte? Ich kam aus einem Nebel und tauchte in einen zweiten Nebel ein. Mir
war überhaupt nichts klar, ich wußte nur gerade noch, daß es mich gab, mehr
nicht.
Plötzlich spürte ich etwas. Ein Gefühl. Irgend etwas geschah mit meinem
Körper. Richtig, ich besaß einen Körper. Übergangslos wußte ich wieder, was
ein Körper war, und dann wußte ich auch, daß jenes Gefühl von meinem
rechten Oberarm ausging.
Was hatte man mit mir gemacht? War ich dem Fürsten des Westens erlegen?
Wo waren meine Oerlök? Hatte ich sie zu meinen Ratgebern ernannt, damit sie
mich in schweren Stunden allein ließen.
„Ruft den Schamanen“, stammelte ich. Meine Stimme hörte sich überaus
merkwürdig an, völlig fremd.
„Er ist noch nicht ganz in der Wirklichkeit“, hörte ich eine Stimme sagen. Sie
kam mir irgendwie bekannt vor.
Byrte vielleicht?
Ich versuchte, meine Muskulatur zu bewegen. Ich war der beste Heiler meines
Volkes und sein bester Bogenschütze. Ich mußte wieder Gewalt über meinen
Körper bekommen - vor allem aber mußte ich mich wieder darauf besinne n,
wer ich überhaupt war.
„Wachen Sie auf, Tovar!“
Ich grinste leicht. Daß sich D. C. derartige Sorgen um mich machte, wie ihre
aufgeregte Stimme verriet...
Ich bewegte den Kopf.
Die Gestalt neben mir sah unglaublich häßlich aus. Die Haut war hell wie die
einer Wasserleiche, den Schädel hatte ein widerlicher, roter Pilz überwuchert.
Die Gestalt öffnete den Mund und zeigte dabei häßliche weiße Zähne, die
völlig verfault sein mußten.
„Verschwindet, ihr Ausgeburten der Hölle!“ brüllte ich. Und dann rief ich
nach Byrte, aber sie kam nicht. Auch die Oerlök kamen nicht. Hatte mich der
Fürst des Westens etwa erschlagen? War ich bereits im Jenseits, im Bereich
der Geister?
Das konnte nicht sein, denn um mich herum waren nur böse Geister, und ich
hatte es nicht verdient, dort leben zu müssen. Meine Freunde hatte ich mit
Geschenken überschüttet, das Beste aus jedem Kriegszug hatte ich ihnen
überlassen. Meinen Feinden hatte ich die Köpfe vor die Füße gelegt; niemand
konnte mir etwas vorwerfen. Warum also sollte ich bei den bösen Geistern...
„Sie... sehen... zauberhaft aus, D. C. !“
„Gott sei Dank“, murmelte die Chefin und lächelte. „Er ist wieder bei Sinnen.
Verstehen Sie mich, Tovar?“
Warum nannte sie mich eigentlich nur dann beim Vornamen, wenn ich auf des
Sensenmanns Schippe lag? Sobald ich herunter war, hieß ich wieder Mr.
Bistarc.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Übel, Chefin, sehr übel. Ich hatte einen Traum...“
Ich mußte träumen, dies war Wahnwitz. Die Geister redeten mit mir, und ich
gab ihnen Antworten. Merkwürdigerweise verstand ich sogar ihre Sprache.
Aber ich wollte nicht unter den Geistern leben, ich wollte zurück in mein
Land. Ich wollte mein Weib sehen, die Krieger, die mir gehorchten, die Städte
und Landschaften, die mir gehorsam waren.
Gerade erst hatte ich...
Ich lächelte. Endlich erinnerte ich mich, ich wußte wieder, wer ich war und
was geschehen war. Richtig, Kildar war gefallen, und dann waren wir...
* Vier Tage und Nächte lang wurden die Einwohner der Stadt vor uns her getrieben. Die besten Handwerker und Künstler hatten wir bereits am Morgen nach dem großen Brand aussortiert. Zusammen mit den schönsten der jungen Frauen waren sie auf dem Weg in das Kököland, wo sie für mich arbeiten sollten. Ich wußte, daß der Trick mit den Tieren kein zweites Mal verfing. Bei der nächsten Stadt, würde ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen, und dieser Einfall war mir auch schon gekommen. Neben meinem Guran trabte schnaufend der Gouverneur von Kildar, ein vierschrötiges Etwas aus viel Fett und wenig Fleisch, aufgedunsen und kurzatmig. Der Trab würde ihm guttun. „Wo liegt die Hauptstadt dieses Landes?“ fragte ich den Gouverneur. Er hatte ungeachtet seines Äußeren eine besonders schöne Frau gehabt. „Suchst du die größte Stadt des Landes oder den Ort, an dem der Fürst
wohnt?“ keuchte der Gouverneur. „Gibt es zwei Hauptstädte?“ „Dort liegt die größte Stadt des Landes“, ächzte der Gouverneur, während er eine Hand ausstreckte und nach vorne wies, wo sich die Spitze des Heerzuges durch die Landschaft wand. „Der Fürst lebt meist in einer wesentlich kleineren Stadt im Gebirge, wo es kühler ist im Sommer. Man nennt diese zweite Stadt für gewöhnlich die Goldene Residenz, weil sie über alle Maßen schön und prächtig ist.“ „Genau das Richtige für mich!“ sagte ich lachend. Noch während dieser Äußerung beschlich mich ein Gefühl des Unbehagens. Irgend etwas stimmte nicht mit mir; ich stellte fest, daß ich ohne ersichtlichen Grund nervös wurde, plötzlich mit meinem Guran nicht mehr zurechtkam und manchmal erschreckend viel Zeit brauchte, um einen meiner Oerlök zu erkennen - obwohl diese Männer seit Jahren zu meinem unmittelbaren Lebenskreis gehörten. Aber ich fand nichts, was diese merkwürdigen Veränderungen hätte erklären können, noch weniger ein Mittel, wie dem abzuhelfen sei. Alles in mir schien zu brennen, auf eine Entscheidung hinzuarbeiten. Ich spürte, daß in den nächsten Tagen irgend etwas geschehen mußte so oder so. Was dieses Etwas war oder sein würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Vorhut signalisierte zu mir hinüber. Die ersten Reiter hatten die Stadt zu Gesicht bekommen, in der ich den Fürsten des Westens vermutete. Vor zwei Tagen war nämlich Dschelme wieder bei mir eingetroffen, begleitet von vier ziemlich erschöpft aussehenden Tuman. Dschelme hatte auf den Befehl seines Pfeilboten hin die Verfolgungsjagd abgebrochen. Nach seinen letzten Informationen hielt sich der Fürst des Westens in seiner Hauptstadt auf jetzt fragte es sich, welche seiner beiden Residenzen damit gemeint sein mochte. Ich ließ meinen Guran schneller gehen. Als ich die Paßhöhe erreicht hatte, konnte ich unter mir die Stadt sehen. Es war ein beeindruckender Anblick. Ceztanax hieß die Stadt, erbaut auf vier der sieben Inseln, die in dem System der drei Bergseen lagen. Der Fürst des Westens - oder einer seiner Vorgänger - hatte seiner Hauptstadt eine strategisch hervorragende Lage gegeben. Auf den Inseln war die Stadt kaum anzugreifen, und die langen Brücken mit den zahlreichen Steinbögen, die die Inseln untereinander und die Stadt mit dem Festland verbanden, waren mit transportablen Durchlässen versehen. Auf einer der Brücken, in der Abendsonne sehr gut zu erkennen, sah ich insgesamt vier solcher Sperren. Es handelte sich um hölzerne Behelfsbrücken, die nach Belieben in die Zwischenräume der steinernen Brückenteile eingelegt werden konnten. Im Gefahrenfalle wurden diese Behelfsbrücken einfach entfernt, und der Feind stand dann vor der wenig angenehmen Aufgabe, seinerseits Notbrücken heranzuschaffen, und das unter dem Pfeilregen vo n den Zinnen der Stadtbefestigung herab. Ceztanax machte einen überaus wehrhaften Eindruck, aber ich hatte mit sicherem Auge die Schwachstelle auch dieser Verteidigungsanlagen gefunden. Ohne Grund ließ ich die ehemaligen Bewohner der niedergebrannten Stadt
Kildar nicht mitführen und sogar ernähren.
Ich war gewillt, diese prächtige Stadt meinem Reich einzuverleiben, und
bisher hatte ich meinen Willen stets durchsetzen können.
Byrte, die neben mir ritt, unseren jüngsten Sohn auf ihren Hü ften sitzend, sah
mich fragend an.
„Wenn du diese Stadt erobert hast“, wollte sie wissen, „wirst du dich dann
zufriedengeben?“
„Wenn ich mit dieser Stadt den Fürsten des Westens in meine Hand bringen
kann“, sagte ich, „dann ja, sonst nicht.“
Byrte seufzte leise.
* Die Insellagc der Stadt Ceztanax hatte Vor- und Nachteile, und das gleichermaßen für den Belagerer wie für den Belagerten. Die raffinierte Konstruktion der Brücken machte es dem Angreifer überaus schwer, in die Stadt hineinzukommen - sie erschwerten aber auch den Stadtbewohnern die Flucht. Das gleiche galt für die Wasserfront: Um verhindern zu können, daß der Feind auf Booten, Prahmen oder Flößen übersetzte, war eine Mauer gebaut worden, die den gesamten Stadtbereich umgab - und auch die Bewohne r hinderte, ihrerseits auf Booten die umkämpfte Stadt zu verlassen. Ich hatte meine Tuman geordnet, und meine Soldaten strahlten vor Angriffslust. Der Großteil meines Heeres überwachte die Seeufer. Ich sah mich um. Die Krieger standen bereit, den Guran zitterten die Flanken vor Eifer. Im Hintergrund setzten sich die früheren Bewohner Kildars in Bewegung. Seit Tagen hatten sie nichts anderes getan, als eine Behelfsbrücke nach der anderen anzufertigen. Jetzt schleppten sie die schweren Konstruktionen über den kiesigen Boden, der unter ihren Füßen knirschte. Ich hatte den Befehl gegeben, die austauschbaren Brückenteile besonders stabil zu bauen, entschieden stärker als die Konstruktionen der Städter. Deren Brückenteile mochten normalen Anforderungen genügen, aber mein Plan sah vor, sobald ein Stadttor gefallen war, ohne Rücksicht auf Verluste, eine halbe Tuman Reiterei nach vorne zu werfen, um jeden Eroberungsversuch der Ceztanax-Bewohner im Keim zu ersticken. Ob deren Brücken es verkraftet hätten, wenn sich eine dichtgeschlossene Masse schwergepanzerter Reiter darüber hinwegbewegte, war mehr als zweifelhaft. „Schneller!“ rief ich. „Ich will den Kopf des Fürsten sehen, bevor noch der Mond aufsteigen kann.“ Die Kildarer setzten sich wieder in Bewegung. Sie ächzten und stöhnten nicht unter dem Gewicht der Brückenteile; dafür hatte ich zuviele Kildarer eingesetzt, dafür waren auch die Teile nicht schwer genug. Die Städter stöhnten, weil sie mein Befehl den Zinnen von Ceztanax entgegentrieb. Dort
waren die Bogenschützen, Speerwerfer und Steinschleuderer des Fürsten deutlich zu erkennen. Die Helmbüsche auf ihren Bronzehelmen leuchteten. Unterhalb der Zinnen erkannte man die häßlichen Mäuler der Pechspeier, daneben Bleinasen und die Öffnungen, aus denen den Belagerern kochendes Wasser über die Köpfe geschüttet wurde. Ich lächelte. Mochten sich die Bewohner der Hauptstadt zur Wehr setzen, mochten sie siedendes Pech, geschmolzenes Blei und stinkende Kadaver über die Angreifer verstreuen - sie würden zunächst einmal die früheren Kildarer damit verderben. Wahrscheinlich gab es vielfältige Beziehungen zwischen den Städten. Mir konnte das nur lieb sein - dann zielte der Pfeil des Vaters auf den Sohn, der Speer aus der Hand eines Belagerten mußte den angreifenden Bruder durchbohren, das heiße Pech ergoß sich über Bräute, Enkel, Großeltern. Das wußten sowohl die Angreifer als auch die Krieger auf den Zinnen der Stadtmauern. Unter die Belagerer hatte ich die besten Bogenschützen gemischt, deren Pfeile den Entschluß der Ceztanaxer, sich zurückzuziehen, nachdrücklich unterstützen würde. Einer dieser Angreifer war sogar ein Oerlök. Zwar hatte ich Burthegai von seinem Versprechen entbunden, aber er hatte darauf bestanden, in vorderster Linie zu kämpfen. Neben mir hielt Dschelme auf seinem Lieblingsguran. Er wandte seine Augen nicht von dem Geschehen, und ich konnte sehen, wie sie glänzten. „Kannst du etwas erkennen?“ fragte ich ihn. Dschelme hatte die besten Augen, die jemals ein Kökö besessen hatte. Er lachte halblaut. „Dein Trick scheint zu funktionieren, Vater“, sagte er heiter. „Ich sehe, daß ein Tor geöffnet wird, und jetzt...“ Ich gebot ihm Schweigen. Die weiße Fahne, die jetzt auf dem Mast des Turmes gehißt wurde, dessen Tor geöffnet worden war, konnte ich sogar sehen. Bot der Fürst des Westens seine Unterwerfung an? Oder versuchte er, um den Preis dieser Unterwerfung zu feilschen? Ich schnippte mit den Fingern, und sofort eilte einer der Pfeil- Boten herbei. Stets stand eine Hundertschaft dieser Reiter in meiner Nähe, um meine Befehle auch während der Schlacht schnellstens zu den Oerlök bringen zu können. „Stellt den Kampf ein!“ gebot ich. „Ich will wissen, was der Fürst des Westens zu sagen hat!“ Der Bote wartete einen Augenblick, dann war er sicher, daß ich ihm nichts mehr zu sagen hatte. Er stieß seinem Guran die Sporen in die Weichen und jagte davon. In bemerkenswert kurzer Zeit hatte er Burthegai erreicht. „Burthegai läßt den Kampf stoppen“, berichtete mir Dschelme. „Ich kann auch sehen, daß im Tor der Stadt eine Gesandtschaft bereitsteht. Burthegai gibt ihnen ein Zeichen, sie setzen sich in Bewegung.“ Gemessen kam die Abordnung auf mich zu. Ein Reiter in einer herrlichen, goldüberzogenen Rüstung ritt voran und trug in der Hand eine weiße Fahne. Sein Guran war eines der wertvollsten, das ich je gesehen hatte.
Ich wies mit dem Kopf auf das Tier, und Dschelme grinste. Er. wußte, daß ich ihm damit den Befehl gegeben hatte, das Tier des Fahnenträgers sicher zu stellen, wenn es zum Sturm auf die Stadt kam. Keiner meiner Soldaten würde es wagen, Hand an eine Beute zu legen, die der Khan bereits vorher für sich beansprucht hatte. Der Fürst des Westens schien zu wissen, was sich gehörte. Andererseits war es aber auch vielleicht ein Zeichen von Dummheit, daß er seine Gesandten in so kostbarer Aufmachung zu mir schickte. Der Abgesandte des Fürsten wurde in einer Sänfte getragen, die aus edelstem Holz bestand. Die Verzierungen aus kostbaren Atelnen funkelten in der Sonne. Voll Ungeduld wartete ich darauf, daß der Zug mich erreichte. Es waren mehr als fünfzig Personen, größtenteils Panzerreiter des Fürsten. Da der Zug die Standarte des Fürsten nicht bei sich führte, konnte in der Prunksänfte nicht der Fürst selbst sitzen, sondern nur sein Gesandter. Wenn dieser Mann schon so herausgeputzt wurde, mit welchem Aufwand mochte sich dann der Fürst selbst fortbewegen? Endlich hatte der Zug mich erreicht. Meine Soldaten schlossen ihn sofort ein, wahrten aber den Abstand, den die Höflichkeit vorschrieb. Der vorderste Reiter rammte den Schaft der Fahnenstange in den Boden und stieg dann ab. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, es wurde von dem bronzenen Helm fast vollständig verdeckt. Der Soldat ging zu der Sänfte hinüber, schob den Vorhang zur Seite und ließ den Abgesandten des Fürsten aussteigen. Der Botschaftsführer war ein älterer Mann mit sonnenverbrannter Haut, gleichmäßigen, noch sehr geschmeidigen Bewegungen und viel körperlicher Anmut. „Seid Ihr jener Herrscher, den man Kurthan-Khan nennt?“ erkundigte er sich höflich bei mir. Ich nickte nur, und er fuhr fort: „Dann darf ich Euch als Willkommensgabe meines Herrn das hier überreichen!“ Mit diesen Worten übergab er mir ein Schild, ein kreisrundes Gebilde aus mehreren Schichten - Holz, Metall, Leder, überzogen mit einem herrlichen Federmosaik. Verwundert stellte ich fest, daß dieses Mosaik mir sehr ähnlich sah. Zufall? „Dein Gebieter ist außerordentlich freundlich“, erwiderte ich. „Ich habe ihm eine Schlacht geliefert und gewonnen. Ich habe eine seiner Städte überfallen und bis auf die Grundmauern eingeäschert - so betrachtet, ist diese Gabe des Fürsten außerordentlich schmeichelhaft. Auf der anderen Seite aber gedenke ich, mich in den Besitz seines gesamten Reiches zu setzen, und dafür ist seine Gabe etwas kümmerlich ausgefallen.“ Über das Gesicht des Botschafters flog ein Lächeln. „Mein Herr“, sagte er leise und in meiner Sprache, „wird Euch alles, was er sein Eigen nennt, zu Füßen legen, wenn Ihr ihm eine bescheidene Bitte erfüllen würdet.“ Ich runzelte die Stirn. Eine Falle? „Was will dein Herr?“ fragte ich. Wieder lächelte der Gesandte, und ich hatte fast den Eindruck, als lächele er
mitleidig - wie eine Katze, die zusieht, wie ihr die Maus in die Falle trippelt. „Mein Herr hat den Entschluß gefaßt, ohne sein Reich nicht länger leben zu wollen. Da ihm seine Religion verbietet, sich selbst das Leben zu nehmen, bittet er Euch um die Gnade, ihm diese Arbeit abnehmen zu wollen. Ihr werdet einsehen, Kha-Khan, daß es nicht angeht, daß ein Fürst seines Namens sich vom nächstbesten Lakaien töten laßt“ Die Anrede Kha-Khan, Herrscher der Herrscher, gefiel mir. Ich beschloß, mich nach dem Sieg offiziell so nennen zu lassen Was der Botschafter aber vorschlug, stank formlich nach Heimtücke „Und wo ist der Haken7 “ fragte ich „Welche List hat sich dein Herr einfallen lassen7 “ Der Botschafter hob abwehrend beide Hände „Ihr könnt meinem Herrn trauen, Kha-Khan“ beteuerte er „Um Euer Mißtrauen vollends zu zerstreuen, hat er seinen Sohn mitgeschickt, der Euch als Geisel dienen soll, wahrend Ihr mit dem Fürsten kämpft.“ „Ich denke, ich soll ihn toten?“ „Nun“, sagte der Botschafter gedehnt, „es wurde auf Euren Ruhm sicherlich schmälernd wirken, wurde ruchbar, daß Ihr mit höchsteigener Hand einem gebrechlichen alten Mann den Kopf abgeschlagen habt Der Fürst wird - mit Sorge um Euren Ruf - daher ein wenig Widerstand gegen seine Enthauptung leisten.“ Ich begann zu lachen. Also ein Zweikampf! Nun, ich hatte nichts dagegen einzuwenden, meine Kräfte und meine Geschicklichkeit einzusetzen Allerdings war dem Botschafter seine Rede bedenklich glatt von den Lippen gegangen „Wo soll dieser - Kampf wollen wir es nicht nennen, bezeichnen wir es als - Vorgang stattfinden7 “ „Im Palast des Fürsten. Ihr seht ihn dort, in der Mitte der Stadt Der Sohn des Fürsten wird in Eurem Lager bleiben, Ihr hingegen könnt Euch von einer Hundertschaft begleiten lassen“ Ich dachte nicht lange nach. „Einverstanden Wo ist der Knabe?“ „Hier!“ Der Fahnenträger nahm den Helm ab und grinste mich an. * „Es tut mir leid, daß es ausgerechnet dein Vater ist, aber Fürst ist Fürst. Ich habe mein Wort gegeben.“ Ich sah meinen Nachbarn um Verzeihung heischend an - jedenfalls sollte es so aussehen In Wirklichkeit wollte ich ihn nur verspotten, und das hauptsächlich, um meiner eigene n Unruhe Herr zu werden „Ich weiß, du pflegst dein Wort zu halten Aber freue dich nicht zu früh!“ Hucurnax - denn er und niemand anderer war der älteste Sohn des Fürsten war ungewöhnlich ruhig, wenn man bedachte, daß ich mich auf dem Weg befand, seinen Vater zu toten Er ritt an meiner Seite, ich wollte ihn in
unmittelbarer Nahe haben, für den Fall, daß der Fürst dennoch einen Hinterhalt plante Sollte es dazu kommen, wurde ich mit Sicherheit noch Kraft genug haben, Hucurnax mein Schwert in den Leib zu stoßen Ich hatte nur zehn Schwerbewaffnete mitgenommen, darunter fünf Oerlok und vier Pfeil- Boten Der letzte Mann war mein Bannerträger Die neunzipflige Tuch flatterte mir voran, wahrend wir über die Brücke in die Stadt hineinritten Eine größere Truppe hatte ich für nicht notwendig erachtet - falls es mir ans Leben ging, hatte mich in dieser Stadt auch eine Tausendschaft nicht gerettet Die Mehrzahl der Straßen in der Stadt war gepflastert, alles sah sehr sauber und wohlgeordnet aus Verglichen mit Ceztanax war Jurthapat nicht mehr als ein verlaustes Provinznest, und Jurthapat stellte eine der Perlen meines Reiches dar. „Der große Tempel“, erklärte mir Hucurnax. Es war eine Pyramide mit rechteckigem Grundriß, sechs Stufen hoch. Die Treppe, die von der Straße in die Höhe führte, war unglaublich steil. Erst beim zweiten Hinsehen fiel mir auf, daß die einzelnen Stufen in den oberen Bereichen langsam ein wenig breiter wurden. Derart perspektivisch entzerrt, wirkten sie noch steiler und bedrohlicher. Wir erreichten den Palast des Fürsten, ein weitgestrecktes Gebäude, aus edelstem Material, reich verziert und geschmückt. Im Augenblick fehlten mir Lust und Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich fieberte dem Kampf mit dem Fürsten entgegen. Ich hielt mein Guran an und band es an einem Pfosten fest. Hucurnax hielt sich, auch ohne daß ich ihn dazu hätte auffordern oder gar zwingen müssen, an meiner Seite, ja, er bewegte sich sogar stets so, daß er mir die ungeschützte Seite seines Körpers zuwandte. „Komm mit“, sagte er und ging voran. Ich achtete nicht auf den reichen Mosaikschmuck an den Wänden, nicht auf die wertvollen Halter aus Bronze, in denen die Fackeln steckten. Ich spürte, daß irgend etwas in mir vorging. Mir war, als würde ich aus unendlicher Ferne gerufen, und fast gla ubte ich, einen Zug zu spüren - als versuche eine unbegreifliche Macht, meine Seele aus meinem Körper zu zerren. Mir wurde schwindlig. Ich lehnte mich gegen eine Marmorsäule. Hucurnax hörte, daß meine Schritte ausblieben und kehrte sofort um. Der Schmerz in meinem Kopf wurde immer schlimmer. Hucurnax konnte sehen, daß er nur auszuholen brauchte. Ich hätte seinem Schwert nicht ausweichen können, aber er griff nicht zur Waffe. „Wir werden dir helfen“, sagte er sanft und griff mir an die Schulter. Er legte meinen linken Arm um seinen Hals und hob mich an. Auf ihn gestützt, schleppte ich mich vorwärts. Meine Begleiter folgten Hucurnax und mir, fassungslos, wie es schien. Dann verlor ich das Bewußtsein.
8. Ich hatte mich verschätzt, gründlich verschätzt.
Mein einziger Trost war, daß sich auch die Wissenschaftler der Time-Squad
geirrt hatten.
Ich richtete mich auf der Platte auf und sah mich um. D. C. stand in meiner
Nähe und lächelte mich an. Ich fand sie erschreckend häßlich, aber ich
verstand, daß sich dieser Eindruck sehr bald legen würde. Vorerst war aber
anderes wichtig.
„Schickt mich sofort zurück“, forderte ich die Bedienungsmannschaft auf.
„Mir fehlen noch Informationen. Beeilt euch, es ist wichtig!“
D. C. legte mir eine Hand auf den Arm. „Wir haben Sie mit Mühe in unsere Zeit zurückgerufen, Tovar“, sagte sie beschwörend. „Die Zeit für das Experiment ist abgelaufen.“ „Ich muß zurück!“ schrie ich erregt. „Ich kann meine Freunde doch nicht allein lassen. Nicht jetzt, nicht in dieser Lage! Los, beeilt euch!“ Etwas wurde an meinen Arm gedrückt. Ein Sedativum wurde in meine Blutbahn geschossen. „Beruhigen Sie sich, Tovar“, bat D. C. „Wir wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden. Wir schicken Sie zurück, glauben Sie mir. Sie werden in der Zielzeit nur ein paar Sekunden verlieren, schlimmstenfalls. Aber vorher müssen Sie uns berichten, was Sie erlebt haben.“ Ich nickte. Das Medikament tat bereits seine Wirkung. Ich versuchte mich zu erinnern, an die wesentlichen Szenen. Huc urnax hatte mich gestutzt und immer weiter geschleppt. Dann war ich ohnmächtig geworden. Als ich wieder zu mir kam... * „Ganz ruhig, Kurthan-Khan, ganz ruhig. Dir wird nichts geschehen, und Weib und Kinder sind gesund. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Aufregung!“ Ich schüttelte den Kopf. Offenbar war ich wieder bei Besinnung. Was war mit mir geschehen? Ich sah, daß sich Hucurnax über mich beugte. Wo waren meine Begleiter? Ich richtete mich auf und sah mich vorsichtig um. Wir waren allein. Ich lag auf einem weichen Bett, auf edlen Fellen, und man hatte mir meine Waffen abgenommen. Ich dachte sofort an eine Falle, einen Hinterhalt. Aber auch Hucurnax trug keine Waffe. Ich griff mit beiden Händen an den Kopf. Was war mit mir geschehen? Ich begriff gar nichts mehr. Wieso hatte mich Hucurnax nicht längst getötet? Er wußte, weil er mich seit vielen Jahren kannte, daß ich seinen Vater auf jeden Fall toten wurde - und bei vertauschten
Rollen hatte ich keine Sekunde gezögert, den ohnmächtigen Angreifer eigenhändig zu erdrosseln. War Hucurnax wahnsinnig geworden, daß er diese Gelegenheit verstreichen ließ? Oder war ich nicht bei Sinnen? Was geschah mit mir? „Bleib liegen und trink das, Kurthan“, sagte Hucurnax sanft. Er hielt mir einen Becher an die Lippen. Ich schmeckte Holz, und mir stieg der Geruch des Symuk in die Nase. Ich wußte, daß die meisten Städter keinen Symuk mochten, und auch Hucurnax hatte ihn stets verabscheut. Warum dann dieses Getränk, warum der hölzerne Becher in diesem goldstrotzenden Palast. Etwa mir zu Gefallen? „Und nun höre mich an, Kurthan“, sagte Hucurnax sehr ernst. „Ich lasse“ dir die Wahl. Du kannst dich mit uns anfreunden. In diesem Fall werden wir dir die Herrschaft über diese Welt überlassen, aber nur zu unseren Bedingungen. Wenn du das ablehnst, werden wir dich töten müssen. Wir werden es nicht gern tun, aber uns wird keine andere Wahl bleiben.“ Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Mir war klar, daß jetzt die Reihe an Hucurnax war, Bedingungen zu stellen, aber zu einem triumphierenden Sieger wollte der Ton seiner Stimme nicht passen. „Erkläre mir das“, bat ich ihn. Hucurnax nahm von einem flachen Tisch eine hölzerne Platte, bedeckt mit Fruchten, Käse und kaltem Braten. Ich aß mit Genuß. „Wir, mein Vater und ich, wissen, daß diese Welt in einer ungeheuren Gefahr schwebt“, erklärte mir Hucurnax. „Wir wissen auch, daß wir wenn überhaupt nur dann eine Chance haben, diese Gefahr zu überstehen, wenn wir alle ein Volk bilden. Alle Bewohner dieser Welt müssen zusammenhalten, müssen in einem Reich, einem Staat leben. Darum, Kurthan, haben wir dich schalten und walten lassen. Wir wußten, daß die alten Prophezeiungen dich meinten, und darum wurde ich nach Jurthapat geschickt, um dein Gefährte zu wenden, deinen Weg zu begleiten und - wo nötig - zu steuern. Du solltest der Herr dieser paradiesischen Welt werden, du solltest die Völker dieser Welt einigen. Aber wir mußten feststellen, daß du unbeherrscht warst. Du hast mehr Blut vergossen, als wir für unvermeidlich hielten. Darum habe ich dich verlassen und meinen Vater aufgesucht, um mit ihm zu beraten, was zu geschehen hat. Er hat vorgeschlagen, dich bis hierher kommen zu lassen und dich dann vor die Wahl zu stellen.“ Nach seiner Rede waren mir die Dinge noch weniger klar als zuvor. „Ich soll also über diese Welt herrschen?“ „Du wirst Kurthan-Kha-Khan sein, der Herrscher über alle Herrscher. Aber du wirst in einigen Punkten tun müssen, was wir dir auftragen.“ „Dann wäret ihr beide, dein Vater und du, die wahren Herrscher dieser Welt!“ „Das mag sein, aber niemand wird es wissen.“ „Und was für eine Gefahr droht unserer Welt?“ „Das wird dir später mein Vater erklären. Nimmst du an?“ Ich kicherte. „Habe ich eine andere Wahl?“ fragte ich. „Was ist mit meinem Heer?“
„Es hält draußen vor der Stadt. Glaube nicht, daß auch nur einer deiner Krieger
diesen Palast erreichen würde. Wir kennen deine Truppen, Kurthan. Ich war
lange genug einer deiner Oerlök.“
„Wer hindert mich, dir jetzt und hier den Hals umzudrehen?“
„Dein Verstand“, sagte Hucurnax kalt. „Du wärst nicht bis hierher gekommen,
wärest du ein Dummkopf. Und du hast immer, selbst da, wo du gehaßt hast,
daran gedacht, deinen Vorteil zu wahren.“ „Es sei“, murmelte ich fatalistisch.
„Ich werde mit deinem Vater reden und mich dann entscheiden. Wer sagt dir,
daß ich meine Entscheidung nicht später ändern werde?“
„Mein Verstand“, antwortete Hucurnax mit einem Lächeln. „Wir
unterschätzen dich nicht, also unterschätze du uns nicht.“
„Was soll ich meinen Kriegern erzählen?“ fragte ich, einer plötzlichen
Eingebung folgend. „Noch niemals in der Geschichte der Kökö ist der Mord
an einem Gesandten ungerächt geblieben.“
„Es wird keine Rache geben“, eröffnete mir Hucurnax. „Dein Gesandter lebt.
Wir haben deine Boten getäuscht - schließlich brauchten wir einen Vorwand,
dich hierherzulocken.“
Ich nickte betrübt. Byrte war schlauer gewesen als ich. Sie hatte sofort gespürt,
daß die - angebliche -Ermordung meines Gesandten kein Akt der Dummheit
war, sondern vielmehr ein Zeichen von Macht und Geschicklichkeit.
„Wann werden wir deinen Vater sehen?“
„Sogleich, wenn du willst.“
* Noch immer war ich nicht vollkommen Herr meiner Sinne und meines Körpers. Der rätselhafte Einfluß war noch nicht völlig geschwunden. Ich fragte mich, was das für Kräfte und Gewalten waren, die nach mir griffen. War der Palast behext? Ich hatte nie an Geister und Dämonen geglaubt, aber dies hier... Wir schritten über kostbaren Marmor, vorbei an Schildwachen mit versteinert wirkenden Gesichtern und eilfertigen Sklaven, die eifrig Tiegel und Schüsseln trugen. Wir brauchten uns dieser nahrhaften Karawane nur anzuschließen, um früher oder später zum Fürsten zu kommen. Er wartete auf uns in einer großen Halle, zusammen mit einigen Dutzend Edler seines Reiches. Während ich an den üppig beladenen Tisch entlang auf den Fürsten zuging, sah ich hinter der halbverhüllten Gestalt an der Rückwand der Halle eine bildliche Darstellung seines Reiches. Was mich erschreckte, war nicht die Tatsache, daß ich noch niemals eine Karte gesehen hatte, die von einem Vogel angefertigt worden sein mußte, denn sie zeigte das Land so, wie es ein Vogel sehen mußte. Mich entsetzte vielmehr die ungeheure Größe seines Reiches, von der ich nicht das mindeste geahnt hatte. Kökö und alle anderen Volker, die ich kannte, hatten eines gemeinsam - eine ziemliche Scheu vor großen Wassermassen. Keines der mir botmäßigen Völker konnte man meererfahren nennen. So hatte folgerichtig auch niemand festgestellt, wie groß
und breit das Meer im Osten meines Reiches war. In dieses Meer hinein erstreckte sich nämlich das Fürstentum des Westens. Hätte ich eine Flotte gehabt und das Meer überquert, ich hätte das Land des Fürsten viel früher erreicht. Bis zu seiner Hauptstadt hätte ich von meinem Ausgangspunkt allerdings in beide Richtungen gleichweit zu reiten gehabt. Der Fürst des Westens gebot über die Hälfte der Welt - die andere Hälfte war mir Untertan, aber meine Hälfte war entschieden ärmer und weniger bevölkert. Aber es waren nicht nur Reichtum und Kopfzahl, die den Fürsten des Westens so überlegen machte. Ich stand vor ihm, nur noch der Eßtisch trennte uns. Ich verharrte wie erstarrt, als der Fürst die Kapuze zurückschlug und sein Gesicht entblößte. Ardamor hieß der Fürst des Westens. Der Alte aus dem Gebirge. Ich wurde blaß. Gegen diesen Gegner hatte ich allerdings niemals eine Chance gehabt. „Setzt Euch, Kurthan-Khan“, sagte Ardamor freundlich. Er bot mir den Platz zu seiner Rechten an, während Hucurnax auf der linken Seite Platz nehmen mußte, das erste Zeichen dafür, wie Ardamor mich einschätzte. „Es freut mich, Euch bei guter Gesundheit zu sehen“, sagte ich eilig, und erst als ich den Satz ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie merkwürdig sich dieser Wunsch ausnehmen mußte. Schließlich hatte ich selbst... ... wie konnte man einem Menschen den Kopf abschlagen und anschließend wieder aufsetzen, als sei nicht das geringste geschehen? Der Gedanke überfiel mich mit plötzlicher Heftigkeit, gleichzeitig machte sich wieder das schmerzliche Ziehen und Zerren bemerkbar. Wurde diese Erscheinung vielleicht dadurch ausgelöst, daß ich einem Zauberer gegenübersaß? „Nun“, sagte Ardamor leise, „wollt Ihr unser Angebot annehmen?“ „Bleibt mir etwas anderes übrig, wenn ich überleben will?“ fragte ich ebenso leise zurück. „Warum erobert Hucurnax nicht die ganze Welt und beherrscht sie selbst?“ „Wir wollen im Hintergrund bleiben“, erklärte mir Ardamor. „Außerdem bin ich der Mächtige in diesem Reich, und Hucurna x ist nur an Sohnes statt angenommen. Würde ich bestimmen, daß er der künftige Herrscher sein sollte, würde das einen Aufstand hervorrufen. Ergebe ich mich aber einem Nomadenherrscher, weil dieser Herrscher stärker zu sein scheint, dann entfällt dieses Problem - vor allem dann, wenn dieser Nomadenherrscher alles daransetzt, die beiden großen Reiche friedlich miteinander zu vereinigen.“ „Und das wird der Nomadenherrscher tun?“ fragte ich mit leisem Spott. „Er wird“, versicherte mir Ardamor freundlich und bestimmt. „Der Nomadenherrscher, der über unser Land herrschen will, wird es tun. Bewerber um diese Macht, die sich weigern, werden sterben müssen.“ „Und was für eine Macht wird dieser Herrscher dann überhaupt noch haben?“ „Genug!“ „Ich werde eine Bedingung stellen“, sagte ich plötzlich. „Erfüllt man mir den Wunsch, werde ich eure Bedingungen annehmen. Wenn nicht, müßt ihr euch
einen anderen Kandidaten suchen.“
Ardamor, der mir von Minute zu Minute verhaßter wurde, auch wenn ich nicht
zu sagen vermochte, warum dies so wahr, runzelte die Stirn.
„Was ist dein Wunsch?“
„Ich möchte den großen Tempel abreißen lassen“, erklärte ich. „Ich lasse jeden
die Götter verehren, die er fürchtet - weil nä mlich niemand einen Gott anbetet,
es sei denn aus Angst vor ihm -, aber ich mag keine Menschenopfer. Götter,
die Blut fordern, sind mir ein Greuel.“
„Ich fürchte“, sagte Ardamor mit eisiger Stimme, „daß wir Euch werden töten
lassen müssen. Eure Bitte ist abgelehnt!“
„Vater!“
Ich hörte die Besorgnis in Hucurnax’ Stimme. Lehnte der Sohn ab, was der
Vater tat?
Noch während ich darüber nachdachte, machte sich wieder das Fremde in mir
bemerkbar. Ich wußte selbst nicht, was mich dazu trieb, aber ich hatte
irgendwie das Gefühl, es wurde mir helfen, als ich fragte: „Der Name
Ardamor berührt mich eigentümlich. Gibt es in Eurer Sprache noch andere
Worte oder Namen mit diesem eigentümlichen Klang?“ Der Alte runzelte die
Stirn. „Einige“, sagte er verwundert. „Beispielsweise...“
* Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde. Als ich wesentlich später - D. C. zu erklären versuchte, was sich in diesem Augenblick in mir abgespielt hatte, brauchte die Time-Squad mehrere hundert Meter Band, um diese Erklärung aufzeichnen zu können. Ich reagierte sofort. Ich, das war in diesem Fall Tovar Bistarc, Mitarbeiter der Time-Squad, Spitzenagent des Time-Intelligence-Corps (TIC). Ich führte den Auftrag aus, auf dem Planeten Ceres ein Intelligenzwesen möglichst früh zu übernehmen und zu kontrollieren. Das hörte sich kompliziert an, war aber in Wirklichkeit einigermaßen einfach, zudem ziemlich gefahrlos. Ich reiste mit einer Zeitmaschine der Time-Squad in die Zukunft - 80 000 Jahre in die Zukunft, um genau zu sein. Aber ich reiste nur als Geist, mein Körper blieb in der Zentrale der Time-Squad zurück. Der Vorteil war, daß ich - gleichgültig, was mir zustieß - jederzeit im Bruchteil einer Sekunde in diesen Körper zurückkehren konnte. So hatte ich also einen Körper übernommen, den Körper eines Ungeborenen. Ich war mit diesem Körper geboren worden, größer geworden und hatte Informationen gesammelt. Der Geist des Ungeborenen hingegen wurde im Augenblick der Übernahme in meinen Körper gezwängt und blieb dort, bis ich zurückkehrte. Geplant war, daß sich die Time-Squad sechs Wochen nach dem Start des Experiments meldete und mich zurückrief, und ich konnte mir dann aussuchen, zu welchem Zeitpunkt ich den übernommenen Körper verlassen
wollte - und das konnten Jahrzehnte sein, weil die Maßstäbe in Vergangenheit und Zukunft dank der Zeitmaschine völlig verschieden waren. In einer Beziehung hatte ich den sorgfältig kalkulierten Plan der Time-Squad allerdings eigenmächtig erweitert. Ich hatte Bewußtseinsteilen des Übernommenen erlaubt, in den eigenen Körper zurückzukehren. Ich hatte allerdings immer dafür gesorgt, daß ich die Kontrolle über den Körper behielt. Die Erzeuger des Körpers hatten ihren Nachkommen Kurthan genannt. Natürlich hatten sie nie auch nur geahnt, was sie im Laufe der Jahre erzogen hatten. Nur dank meiner Eigenmächtigkeit war es möglich, daß es praktisch eine gespaltene Persönlichkeit in Kurthan gab. Der Time-Squad erfaßte sofort, was Ardamor sagte. Aber im Laufe vieler Jahre waren Zeit-Agent und Kökö-Nomade derart miteinander verwachsen, daß sie sich nicht mehr säuberlich trennen ließen. Darum auch war mir D. C. sonst eine der attraktivsten Frauen, die ich je gesehen hatte - bei meinem ersten Erwachen so abstoßend häßlich erschienen. Der Kurthan-Anteil hatte sie mit Byrte verglichen, und für einen Kökö-Geschmack war D. C. wirklich äußerst häßlich. Es war der Time-Squad-Intellekt, der die Information aufnahm, verarbeitete und verstand. Aber es war der in langen Jahren gewachsene Kökö-Charakter, der die Handlung ausführte. * „... beispielsweise Valcarcel...“ Er kam nicht einmal mehr dazu, den Namen auszusprechen, da saß ihm auch schon ein Messer in der Kehle. In einer gedankenschnellen Aktion hatte ich es dem Alten aus dem Gürtel gerissen und zugestoßen. Schreiend sprangen die Gäste auf, während ich nach Hucurnax griff und ihm das Messer an die Gurgel setzte. Noch drangen die Gäste auf mich ein, während ich mich zurückzog, bis ich eine Wand in meinem Rücken spürte. „Zurück“ drohte ich, „oder der Sohn stirbt ebenfalls!“ Ich hätte mich ohrfeigen können. Es war Tovar Bistarc gewesen, den der Name Valcarcel mit alptraumartigem Entsetzen erfüllt hatte; es war der KököKurthan gewesen, der darauf reagiert hatte, indem er zur Waffe griff. Und wieder war es der Kökö, der handelte. Ich zerrte und schob Hucurnax vor mir her. Er leistete, völlig überrascht und entgeistert, keinerlei Widerstand, als ich nach den Gefäßen in meiner Nähe griff. Die entsetzt flüchtenden Sklaven hatten sie dort abgestellt. Hucurnax wehrte sich auch nicht, als ich die Leiche seines Ziehvaters mit dem hochprozentigen Alkohol übergoß und mit einer Fackel in Brand steckte. Normalerweise hätte nur der Alkohol brennen dürfen, er hätte vielleicht noch die Kleider verkohlen können, aber nicht mehr. Die Leiche aber brannte wie Zelluloid, gewaltige Stichflammen stiegen in die Höhe, es zischte und
prasselte, und den Gästen des Fürsten schlugen ätzende Qualmwolken
entgegen.
„Warum?“ sagte Hucurnax plötzlich. „Warum hast du das getan, Kurthan?
Haben wir dir nicht ge zeigt, daß wir Frieden wollen - zum Besten unserer
Völker?“
„Nenne mich nicht Kurthan“, raunte ich ihm ins Ohr. „Ich heiße Tovar, und
ich habe dir viel, sehr viel zu erzählen. Wo können wir miteinander reden?“
„Laß mich los, ich werde es dir zeigen!“
Ich gab ihn frei. Er rannte nicht fort, sondern führte mich tatsächlich, und er
griff mich auch nicht an, als ich das Messer in den Gürtel steckte.
Vor einer Bank blieb er stehen.
„Nun rede“, sagte er leise. „Ich höre!“
* „Ich glaube kein Wort“, sagte er laut. „Das ist Unfug, Geschwätz, Lüge!“ Er kam nicht mehr dazu, seinen Protest fortzusetzen. Ein Bote kam herangestürzt. Sei Gesicht war blaß, von Entsetzen gezeichnet. „Herr!“ schrie er, ohne sich lange damit aufzuhalten, klarzustellen, wen er mit dieser Anrede meinte. „Die Götter steigen herab, sie steigen vom Himmel.“ „Zeige uns einen Weg ins Freie“, rief ich sofort. Ich wußte, daß dieser Augenblick entscheidend war. Natürlich war Ardamor ein Gefährte von Valcarcel gewesen, und nun kamen andere Angehörige dieses Volkes, um den Planeten Ceres zu erobern. Endlich konnte ich mehr über dieses Volk erfahren. Der Bote rannte los, ich folgte ihm, und Hucurnax schloß sich mir an. Nach einigen Minuten hatten wir das Dach des Palastes erreicht. Uns bot sich ein atemberaubendes Schauspiel. * Es waren Kästen, genauer gesagt Würfel. Eckige Gebilde, aus vier gleichseitigen Flächen zusammengesetzt. Als Form für ein Raumschiff sicherlich nicht sehr originell, aber dafür praktisch. Pechschwarz war die Außenha ut dieser Raumschiffe, fast schien es, sie wären schwärzer noch als schwarz, bis ich begriff, daß die Kökö-Augen ein klein wenig anders eingestellt waren als irdische Organe. Aber auch für Menschen waren die Raumschiffe schwarz. Pechschwarze Würfel mit einer Kantenlänge von einhundert Metern. Das ergab einen Rauminhalt pro Würfel von einer Million Kubikmeter, Platz genug für viele Insassen und einen riesigen Maschinenpark. „Siehst du nun, daß ich recht habe!“ schrie ich Hucurnax an. „Hältst du es für Zufall, daß diese Raumschiffe ausgerechnet jetzt hier erscheinen? Ardamor wollte die Bewohner dieses Planeten nur einen, um sie besser ausplündern zu können. Er ist vom gleichen Schlage wie Valcarcel.“
Als ich den Namen aussprach, suchte ich mit den Augen unwillkürlich nach Demeter, dem kleinen Mond, der Ceres umkreiste. Dort hatten wir - die Agenten der Time-Squad - eine Station Valcarcels ausgehoben und vernichtet. Ich wußte nicht, wieviel Zeit in meiner gegenwartigen Realitatsebene zwischen diesen beiden Aktio nen verstrichen war. Vielleicht war der Angriff der Raumschiffe eine Antwort auf die Vernichtung der Station. Stimmte dies, dann trug die Time-Squad die Verantwortung für die absehbare Versklavung von Ceres und seinen Bewohnern. Dann war das erreicht, was wir unter allen Umstanden hatten vermeiden wollen - eine unübersehbare Ausdehnung des Konfliktes zwischen der TimeSquad und ihrem geheimnisvollen Gegner. „Hör zu, Hucurnax“, sagte ich beschwörend. „Wir können nicht hier warten, bis man uns einfangt und töten kann. Gibt es in der Nähe ein Versteck, von dem nur sehr wenige Freunde etwas wissen?“ Hucurnax nickte automatisch. Die Ereignisse hatten ihn formlich überrollt. „Zeige mir das Versteck, und anschließend wirst du deine besten Krieger versammeln und dorthin fuhren. Wir müssen einen Untergrundkampf organisieren!“ „Kampf?“ murmelte Hucurnax. „Gegen die Gotter?“ „Unsinn!“ brüllte ich ihn an. „Das sind keine Gotter, das sind ganz einfach Plünderer, Eroberer. Kökö, nur in größerem, brutalerem Maßstab. Nun los, Hucurnax, die Zeit drangt!“ Hucurnax beschrieb mir den Platz, an dem er sich verstecken wollte, und ich merkte mir jede Einzelheit. „Von nun an, Hucurnax“, sagte ich langsam und feierlich, „sind wir Verbündete. Ich werde dir und deinem Volk helfen, diese Tyrannei abzuschütteln, so wahr ich Tovar Bistarc bin!“ Ich schnitt gewaltig auf, das zeigte mir ein Blick auf die Landschaft. Meine Kökö hatten sich in wilder Flucht abgesetzt, während im Umkreis der Stadt ein Schiff nach dem anderen aufsetzte und seine Ladung ausspie Panzerfahrzeuge, denen die Bewohner des Planeten nichts entgegenzusetzen hatten. Auf den Panzern erkannte ich Kanonen, und die wenigen Schüsse, die nötig waren, um das große Tor der Stadt in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, zeigten mir, daß die Besatzungen weder Training brauchten noch Hemmungen kannten, wenn es um den Einsatz dieser Laserkanonen ging. Ich verließ meinen Standort so rasch wie möglich, und es gelang mir wider Erwarten, mich zu meinen Leuten durchzuschlagen. Der größte Teil meines Heeres war geflohen, und ich nahm es den Männern nicht einmal übel. Ich hatte sie hergeführt, um sie gegen Lanzen und Pfeile kämpfen zu lassen - von Panzerfahrzeugen, Laserkanonen und ähnlichen Waffen war nie die Rede gewesen. „Was ist das, Kurthan?“ fragte mich Byrte. Ich stellte erleichtert fest, daß sie alle Kinder versammelt hatte. „Ich werde es dir später erklären“, versprach ich ihr. „Jetzt aber müssen wir verschwinden, und das schnell. Los, beeilt euch. Ich kenne ein Versteck in den
Bergen. Hucurnax wird dort auf uns warten!“ * „Und jetzt will ich schnell zurückkehren“, setzte ich meinen Bericht fort. „Kurthan kann seinen Körper ja gar nicht richtig kontrollieren. Er weiß vor allem nicht, mit wem er es zu tun hat.“ D. C. nickte zögernd. „Einverstanden“, murmelte sie. „Aber was wollen Sie in der Zukunft erreichen? Wie lange wollen Sie Kurthans Körper noch kontrollieren? Und vergessen Sie nicht, daß er in dieser Zeit nicht lernen kann, weil er von Ihrem Körper ja keinen Gebrauch machen kann.“ Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, aber ich war gewillt, das Wagnis trotzdem einzugehen. Wir brauchten nur wenige Minuten, um mich erneut auf die Reise zu schicken, und ich wiederum brauchte nur wenige Minuten, um in meine Zeit zurückzukehren. Das Zeitfeld schaltete sich bei meiner Ankunft in der Zentrale der Time-Squad sofort aus. „Tovar!“ rief D. C. , als sie mich sah. „Was ist los? Sie sind leichenblaß!“ Tonlos sagte ich: „Ich habe zwei Nachrichten für Sie, Chefin. Zunächst eine angenehme: Kurthan kann sehr wohl seinen Körper beherrschen, er hat sehr viel gelernt, in der Zeit, in der er in meinem Körper steckte. Ich habe festgestellt, daß er und ich auf eine sehr merkwürdige Weise miteinander verwandt sind. Schließlich haben wir sehr viele Erinnerungen gemeinsam.“ „Und die zweite Nachricht?“ „Ich weiß nun, welche Pläne der Gegner hat. In den Raumschiffen, deren Besatzungen die Bewohner von Ceres versklaven wollen, leben keine Artgenossen Valcarcels. Ich konnte die Truppen genau sehen und hören, als sie an Kurthans Versteck vorbeizogen. Die Sprache, die sie benutzten, ist sehr stark mit der unseren verwandt. Ihre Uniformen sind schwarz wie ihre Raumschiffe, und auf den Achselstücken dieser Uniformen tragen diese Soldaten ein Abzeichen.Das Abzeichen stellt eine Kugel dar, einen Planeten. Dieser Planet besitzt große Meere und kleinere Kontinente, daher erscheint der Planet blau. Die Kontinente sind auf dem Abzeichen sehr gut zu erkennen. Die Invasoren der Zukunft sind Menschen, Chefin. Bewohner der Erde haben Ceres überfallen. Ich weiß jetzt, welchen Plan unsere Gegner mit uns verfolgen. Sie wollen die Menschen für ihre Zwecke ausnutzen, sie wollen Söldner aus uns machen. In 80 000 Jahren wird wahrscheinlich die halbe Galaxis vor der Wut, Grausamkeit und Härte der Menschen zittern. Man wird sie die Schlächter der Galaxis nennen.“ Es wurde sehr still in den Räumen der Time-Squad-Zentrale. ENDE