Als Dr. Walter Sherwood in dem Motel-Zimmer erwachte, wußte er nicht mehr, wie er hierhergekommen war oder wer die Frau...
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Als Dr. Walter Sherwood in dem Motel-Zimmer erwachte, wußte er nicht mehr, wie er hierhergekommen war oder wer die Frau sein könnte, die neben ihm im Bett lag. Nur an seinen Namen erinnerte er sich, aber auch in diesem Fall kamen ihm Zweifel, als er seine Brieftasche öffnete und feststellte, daß alle Dokumente auf einen ganz anderen Namen ausgestellt waren. Es dauerte nicht lange, da erfaßte sein Geist die ganze entsetzliche Wahrheit. Er war Walter Sherwood, hieß aber jetzt anders und konnte sich an die letzten elf Jahre seines Lebens nicht mehr erinnern. Er hatte sein Gedächtnis verloren. Seine Nachforschungen, Gespräche mit Bekannten und Kollegen, die ihm völlig fremd waren, ließen seinen Verdacht zu eisiger Gewißheit werden: sein Gedächtnis war mit Absicht zerstört worden. Aber von wem und aus welchem Grund ...?
Ullstein Buch Nr. 3564 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE TIME DISSOLVER Aus dem Amerikanischen übersetzt Umschlagillustration: Blair Wilkins Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten © Jerry Sohl 1957 Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 03564 7
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sohl, Jerry: Der Zeitauflöser: Science-fictionRoman / Jerry Sohl. Hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1979. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 3564: Ullstein 2000) Einheitssacht.: The time dissolver
ISBN 3-548-03564-7
Jerry Sohl
Der Zeitauflöser SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Walter Evan Sherwood, der bisher den ermunternden Geräuschen des erwachenden Tages widerstanden hatte, entschloß sich verdrossen, einen Blick in den neuen Morgen zu riskieren. Durch die schmalen Schlitze seiner Lider betrachtete er das schwarze Haar der Frau und die weiche Rundung ihrer Schultern. Wenn es Wirklichkeit war, dann eröffnete ihm dieser Tag angenehmere Aussichten als je ein vorhergehender. Er lag ruhig da, um die Illusion des schwarzen Haares auf dem Kopfkissen nicht zu zerstören. Die schöngeschwungene Linie des Rückens ist so echt, dachte er, ich müßte sie fast berühren können. Seine Lider waren jetzt nicht mehr zu engen Schlitzen zusammengekniffen, sein Herz hatte nicht mehr den regelmäßigen Schlag der Nachtruhe, als er seine Augen von dem schwarzen Haar, von dem Nacken und den verlockenden Schultern auf die vollkommen fremde Umgebung richtete. Die Decke des Zimmers war weiß und rauh, die Wände grau, an den Fenstern befanden sich Jalousien, im Zimmer stand neben anderen Möbelstücken auch ein Schreibtisch. Sherwood stieg geräuschlos aus dem Bett, betrachtete die schlafende Frau, die Ende Zwanzig sein
mochte. Auf einem Stuhl bemerkte er Männerkleidung; blaue Shorts, weiße Unterwäsche, graue Hosen, ein weißes Hemd, braune Krawatte, eine zu der Hose passende Jacke, braune Socken und schwarze Schuhe. Er konnte sich nicht erinnern, daß ihm diese Sachen gehörten, und zögerte zunächst, sie anzuziehen. Wo war ich gestern abend? fragte er sich, während er sich anzog. Wie bin ich hierher gekommen, ich war doch gestern mit Marion aus und bin dann schlafen gegangen, wie komme ich jetzt hierher? Ich kenne diese Frau überhaupt nicht, habe sie noch nie im Leben gesehen, aber sie ist hübscher als Marion. Die Sachen paßten ausgezeichnet. Er drehte sich um, sah wieder auf die Frau und erschrak, als er bemerkte, daß sie wach war. Sie saß im Bett. Ihre erschreckten blauen Augen sahen ihn an, mit ihren kleinen Fäusten hatte sie die Decken bis unter das Kinn hochgezogen. Nur die Rundung ihrer Schultern war sichtbar. Mein Gott, dachte er, aus ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, gehöre ich nicht hierher. Sollte ich mich verirrt haben und in dem Glauben gewesen sein, daß ich mich in meiner Wohnung befände? Nein, aber ich kann nicht hier bleiben. Ich will auch nicht hier bleiben. Gleich wird sie schreien, dann gibt es Schwierigkeiten, und ich weiß nicht einmal, wo die Tür ist.
In einer kleinen Nische fand er die Tür, trat rasch ins Freie, in den hellen Sonnenschein, blinzelte und versuchte sich zu orientieren. Er war noch niemals hier gewesen. Er stand auf einer kleinen Terrasse aus rotem Beton mit einem schmiedeeisernen Geländer, von der drei Stufen auf eine mit Kies bestreute Einfahrt hinabführten. Rechts, entlang der Einfahrt, befanden sich ähnliche Türen mit kleinen Terrassen und Geländern, an der linken Seite sah er das gleiche. Vor ihm versperrte ihm ein weißer größerer Holzbau die Sicht. Sherwood ging den Weg entlang bis zu dem größeren Gebäude, dort mündete der Weg in eine breite Straße. Sie sah aus wie der Colorado Boulevard. Er drehte sich um und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Das große, weiße Gebäude hatte Glasfenster und ein Neonschild, das es als Coronado Motel bezeichnete. Er entschloß sich, die Straße entlang zu gehen, bis er in eine bekannte Gegend käme. Er überquerte die Straße und ging weiter, bis er an eine bekannte Einfahrt kam. Diese Stelle war drei Häuserblocks von der Kreuzung entfernt, wo er immer vom Colorado Boulevard in den Dahlia Drive einbog. Von der Einfahrt eilte er an den dazwischenliegenden Straßen vorbei. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß sich die Umgebung verändert hatte, aber er versuchte, es nicht zu
beachten, bis er schließlich an die Garage kam, wo er seinen Wagen für die Nacht eingestellt hatte. Auf dem Gehsteig blieb er zögernd stehen, unentschlossen, ob er hineingehen sollte, denn auch die Garage hatte sich verändert. Was war denn bloß los? Dann sah er sein Spiegelbild in dem Fenster der Garage und zuckte überrascht zusammen. Soll das ich sein? Er zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, während er sein Spiegelbild betrachtete. Der Mann, der ihm entgegenstarrte, war schwerer als er, aber er war zweifellos Walter Evan Sherwood, ein Mann ohne Hut, mit vollem Haar und einem Anzug, der ihm nicht gehörte. Der Mann war anders als der Walter Evan Sherwood, den er gewohnt war, im Spiegel zu sehen. Er ging näher heran, betrachtete sein Spiegelbild sorgfältig. Und plötzlich wußte er, was sich verändert hatte. Er war älter geworden. Aber diese Veränderung konnte doch nicht in einer einzigen Nacht vor sich gegangen sein. Kein Mensch konnte sich so schnell verändern. Aber seine Überlegungen schafften das Bild vor seinen Augen nicht aus der Welt. Zutiefst bestürzt und erschrocken wandte sich Sherwood von dem Fenster ab. Er schritt nicht mehr so munter aus. Er beobachtete den Straßenverkehr und bemerkte, daß auch die Autos anders waren.
Als er den Colorado Boulevard überquerte und zum Dahlia Drive kam, fühlte er sich wieder etwas sicherer, denn hier hatte sich nicht viel geändert. Es waren die gleichen hellen Häuser, die gleichen gepflegten Rasenflächen, Bäume und Palmen. Schließlich stand er vor dem Haus und starrte es ungläubig an. Es hatte sich stark verändert. Der Kiesweg, den sie immer betonieren wollten, war zu einer breiten Betonstraße geworden, das Haus war braun, mit weißen Verzierungen – wie war es denn eigentlich vorher gewesen? Pastellgrün mit weißen Verzierungen? Die Rosenbüsche im Vorgarten waren verschwunden, die Blumenkästen an den Fenstern fehlten, und das Dach war in einem tristen Grau gestrichen. Das waren keine Veränderungen, die über Nacht geschehen konnten, sagte er sich, er wollte gar nicht daran denken, wie viele Nächte dazu notwendig waren. Sherwood war im Begriff, das Haus zu betreten und eine Erklärung zu verlangen, als er ein kleines Kind im Haus weinen hörte. Es war ein kurzes, wimmerndes Weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer das sein sollte. Langsam ging er auf die Tür zu und griff nach dem Türknopf. Doch dann zog er die Hand zurück. Die Veränderungen hier waren zu groß, als daß er ohne weiteres hätte eintreten können. Eine Frau, die er noch nie gesehen hatte, kam auf die Veranda. Sie trug Pantoffeln und ein verwasche-
nes blaues Hauskleid. Sie war etwa dreißig Jahre alt und mochte vor zehn Jahren ein hübsches Mädchen gewesen sein. Jetzt war ihr Gesicht ausdruckslos und aufgeschwemmt, unter ihrem Kinn hingen Falten, und sie sah aus, als ob sie keinen Wert auf ihr Äußeres legte. »Ja?« fragte sie gleichgültig. »Ist – ist Mrs. Sherwood zu Hause?« fragte er. Er kam sich lächerlich vor. Am liebsten hätte er gebrüllt, was, zum Teufel, haben Sie in meinem Haus zu suchen. »Wer?« »Mrs. Sherwood, verdammt noch mal!« schrie er. Er war wütend über die Veränderungen. Nach einer Weile fügte er hinzu. »Sie ist meine Mutter.« »Ihre Mutter?« Sie betrachtete ihn mißtrauisch und zog sich etwas weiter zurück, während sie fragte: »Ich kenne keine Mrs. Sherwood. Sind Sie sicher, daß Sie an der richtigen Adresse sind?« »Ich – ich habe hier gewohnt«, stammelte er. »Ich bin weg gewesen.« Sie betrachtete ihn weiterhin argwöhnisch, sagte aber nichts. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Wohnen die Thompsons noch nebenan?« »Eine Mrs. Thompson wohnt da. Vielleicht fragen sie dort mal.«
»Danke«, sagte er geistesabwesend. Im nächsten Haus hatte sich wenig geändert. Er läutete am rückwärtigen Eingang des Hauses. Als ihn Mrs. Thompson erblickte, rief sie aus: »Walter Sherwood!« und öffnete die Tür. »Ich habe Sie schon durch das Fenster beobachtet, dachte doch, daß Sie es sein müßten. Kommen Sie herein, kommen Sie herein.« Erfreut trat er durch die Tür. »Nehmen Sie Platz, setzen Sie sich«, lud sie ihn ein und rückte einen Stuhl zurecht. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Sie machte eine kleine Pause. »Wollen Sie sich denn nicht setzen?« »Ja, danke.« Er hatte sie betrachtet und war erschrocken. Jetzt nahm er Platz und sah sie wieder an. Mrs. Thompson war alt geworden. Ihr Haar, das nur von einigen Silberfäden durchzogen gewesen war, glänzte jetzt vollkommen weiß, und ihre rosigen Wangen, früher ein charakteristisches Merkmal der Frau, waren blaß und eingefallen. Immer wieder ging es ihm durch den Kopf: Mein Gott, was ist denn geschehen? »Sie haben sich nicht sehr verändert, Walter«, sagte sie, als sie sich ihm gegenübersetzte. Sie lächelte traurig. »Sie müßten mal Jimmy sehen. Der ist aufgeblüht. Kann nie genug zu essen kriegen, behauptet er.« Sie lachte vor sich hin.
Jimmy war sein Jugendfreund. Sie waren zusammen aufgewachsen. Aus reiner Höflichkeit fragte er: »Wo ist Jimmy?« »Der ist in der Arbeit. Kommt um halb sechs nach Hause. Können Sie so lange bleiben?« »Nein, leider nicht.« »Oh, das ist aber schade. Jimmy wird es sehr leid tun, daß er Sie nicht getroffen hat.« »Mrs. Thompson«, begann er, direkt auf sein Ziel lossteuernd. »Können Sie sich erinnern, wann wir uns zum letzten Mal gesehen haben? Ich weiß es nicht mehr genau.« »Wann wir uns gesehen haben?« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich weiß es jetzt tatsächlich selbst nicht. War es nicht, als das Haus ... nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das hat der Grundstücksmakler erledigt. Wissen Sie das nicht mehr?« »Nein.« Sie war noch nachdenklicher geworden. »Ich weiß es auch nicht mehr. Ich habe doch sonst kein so schlechtes Gedächtnis.« Sie schloß die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Plötzlich riß sie die Augen weit auf. »Ich weiß, es war beim Begräbnis.« »Beim Begräbnis?« Sherwood schluckte. Sie nickte und preßte die Lippen zusammen. »Ja, ich kann mich genau erinnern, es war beim Begräbnis.« Sherwood legte seine Hände auf den Tisch, preßte
die Handflächen auf das Tischtuch, feuchtete seine Lippen an und fragte leise: »Wessen Begräbnis?« Sie sah ihn überrascht an. »Das Ihrer Mutter natürlich.« Sie schlug die Augen nieder. »Es hat uns so leid getan. So kurz nach Ihrem Vater.« Ihre Augen sahen ihn verwirrt an. »Sie erinnern sich doch daran?« Sherwood starrte auf seine Hände auf dem Tisch. Sein Geist versuchte den Tod seiner Mutter zu verarbeiten, er fühlte eine große Leere im Innern. Gestern war sie noch so lebendig gewesen und heute tot. Nur daß dieses Gestern anders war als das Gestern von Mrs. Thompson. Ihm fehlte das Gefühl für den Ablauf der Zeit, die den Schmerz lindert. »Wann ist sie gestorben?« »Wann? Nun, ein Jahr, nachdem Sie aus der Armee entlassen wurden. Sie war ganz allein, das arme Ding. Aber das müssen Sie doch wissen.« »Ich kann mich an nichts erinnern.« Mrs. Thompson fragte langsam: »Was ist denn mit Ihnen passiert?« »Ich weiß es nicht, Mrs. Thompson.« »Ihr Vater –«, sagte sie und schwieg. Er sah sie an. »So hat es mit meinem Vater angefangen. Wollten Sie das sagen?« »Nun, ich ...« Sie faßte sich mit der Hand an den Hals, wandte den Blick ab.
»Welches Jahr haben wir?« »Welches Jahr?« Mrs. Thompsons Gesicht hatte die Farbe verloren. »Neunzehnhundertsiebenundfünfzig«, sagte sie mit schriller Stimme. »Siebenundfünfzig? – Welchen Monat haben wir?« »Juli.« Die Stimme zitterte. »Tag?« »Den Fünfzehnten.« »Das ist der Tag nach meinem Geburtstag, Mrs. Thompson. An Ihrem gestrigen Tag war ich siebenunddreißig Jahre alt, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern, was auf den fünfzehnten Mai neunzehnhundertsechsundvierzig folgte, denn das ist für mich Gestern.« »Oh!« Mrs. Thompson sah aus, als ob sie jeden Augenblick flüchten wollte. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er und stand auf. Mrs. Thompson nickte und starrte ihn an, ohne jede freundliche Geste. Ich war verrückt, hierherzukommen, dachte er, als er rasch die Straße entlang schritt. Ich hätte die Frau im Bett fragen sollen, statt davonzulaufen. Sie hätte mir sagen können, wo ich sie getroffen habe, wie wir in das Motel kamen und wo ich diese Kleidungsstükke her habe. Schon vorhin hatte er festgestellt, daß er über eine gewisse Entfernung hinaus nicht gut sehen konnte,
und überlegte, ob er vielleicht in eine Schale eingeschlossen sei, hinter der alle Dinge aufhörten zu existieren, eine Hülle, die sich vor ihm aufbaute und sich hinter ihm wieder auflöste, immer abhängig von der Richtung, in der er sich bewegte. Das ist gar nicht so phantastisch, überlegte er. Wenn man bedenkt, daß ich über Nacht von fünfundzwanzig auf siebenunddreißig Jahre gealtert bin, dann ist alles möglich.
2 Sherwood ging langsamer, als er sich dem Coronado Motel näherte. Als er die Auffahrt erreichte, die er vor zwei Stunden verlassen hatte, blieb er stehen. Mit gemischten Gefühlen stand er im Schatten des Bürogebäudes. Plötzlich hatte er Verlangen nach einer Zigarette. Zum erstenmal, seit er das Motel verlassen hatte, durchsuchte er die Taschen seines Anzugs. Sie waren leer. Er wollte die Frau dringend sprechen, aber der Gedanke, daß er weder etwas von ihr noch über sich selbst wußte, hielt ihn zurück. Während er überlegte, fuhr er mit dem Finger über sein Kinn und fühlte die Bartstoppeln. Gleichzeitig merkte er, daß er Hunger hatte. Der Kies knirschte unter seinen Sohlen, als er über die Einfahrt ging. Er stieg die Stufen hinauf. Die Tür war verschlossen. Er sah sich ratlos um, überzeugte sich, daß er an der richtigen Tür war. Dann bemerkte er den Klingelknopf und drückte den Daumen darauf. Aber niemand kam an die Tür. Sherwood stieg die Stufen wieder hinab und überlegte sich den nächsten Schritt. Ob die Frau vielleicht eingeschlafen war? Oder ob sie einfach nicht an die Tür kam? Vielleicht war sie ausgegangen.
»Was ist los, Mr. Fisher, haben Sie den Schlüssel vergessen?« Sherwood drehte sich um und blickte in die lustigen Augen eines großen, hageren Mannes, der über die Auffahrt auf ihn zukam. »Ich bin nicht –« Sherwood wollte sagen, daß er nicht Fisher sei, überlegte es sich aber noch rechtzeitig anders. Aus irgendeinem Grunde mußte er dem Mann diesen Namen angegeben haben. »Ich weiß nicht, wo ich ihn hingetan habe«, antwortete er. Der Mann war alt. Sein Gesicht wies tiefe Furchen auf, aber er hatte noch eine beachtliche Elastizität. Mit leichten Schritten kam er heran und steckte einen Schlüssel in das Schloß. »Es ist erstaunlich, wie viele Leute ihre Schlüssel vergessen«, sagte der Motel-Angestellte. »Es passiert immer wieder. Immer vergessen sie etwas. Sie würden überrascht sein, was die alles liegenlassen.« Er drehte sich um und spuckte über das Geländer. Als Sherwood Anstalten machte hineinzugehen, fragte er: »Ist alles in Ordnung, Mr. Fisher?« »Es ist alles in Ordnung«, versicherte ihm Sherwood. »Well, sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.« Sherwood schloß leise die Tür hinter sich. Drinnen war es dunkel, und er brauchte eine Weile, bis sich
seine Augen daran gewöhnt hatten, aber schon zuvor merkte er, daß sie nicht mehr da war. Man hörte keinen Laut, sah kein Licht oder sonstige Anzeichen eines Bewohners. Er ging in das kombinierte Wohn-Schlaf-Zimmer, sah, daß das Bett gemacht war, aber von der Frau war keine Spur zu erkennen. Er sah sich im Zimmer um. Sein Schlafanzug lag zusammengefaltet auf einem Stuhl. Hatte sie das getan? Oder war es die Putzfrau gewesen? Er öffnete eine Schranktür, sah einen Herrenanzug, Sportjacke und Hosen, die dort hingen. Auf dem Boden standen zwei Paar Schuhe und ein Paar Pantoffeln. Auch zwei Koffer standen dort. Sie trugen die Initialen MDF in Gold. Er öffnete sie. Beide waren leer. Dann zog er die Schubladen heraus, fand Hemden, Socken, Unterwäsche und Krawatten, untersuchte die Gegenstände, die obenauf lagen. Brieftasche, Straßenkarten von Kalifornien, ein Scheckheft, eine Brille in einem Futteral, ein schmutziges Taschentuch, ein Schlüsselbund, ein Kamm, ein Feuerzeug und ein Päckchen Zigaretten. Sherwood nahm eine Zigarette und zündete sie an. Er tat einen tiefen Zug und wandte sich den anderen Gegenständen zu. Die Brille – würde sie ihm passen? Er zog sie aus dem Futteral. Sie hatte dicke Hornränder und schien nicht sehr stark zu sein. Da fiel ihm etwas ein. Er ging in das Badezimmer und betrachtete
sein Gesicht im Spiegel. Auf der Nase bemerkte er zwei leichte Eindrücke. Dann setzte er die Brille auf. Sie paßte tadellos, und er konnte klar damit sehen. Ich trage also eine Brille, dachte er, als er wieder in das Wohnzimmer trat. Das heißt, wenn ich der Mann bin, dem all dies gehört, und ich zweifle kaum noch daran. Ich hätte die Brille aufsetzen sollen, als ich wegging. Dann hätte ich wahrscheinlich besser gesehen. Sherwood nahm die Brieftasche. Sie enthielt einen Führerschein, ausgestellt in Illinois. Überrascht starrte er auf den Namen. Morley Donn Fisher. Adresse: 1213 Summit Avenue. City: Wester. County: Macon. Geschlecht: männlich. Größe: Ein Meter achtzig. Gewicht: 170 Pfund. Geburtsdatum: 14. Juli 1920. Haarfarbe: schwarz. Augen: blau. Der Führerschein galt bis 10. Januar 1958. Die Beschreibung paßte haargenau, nur der Name stimmte nicht. Er nahm die übrigen Papiere aus der Brieftasche. Sozialversicherungskarte für Morley Donn Fisher, Nummer 320-01-7129. Er konnte sich an seine Nummer nicht erinnern, aber er bezweifelte, daß es diese war. Ein Schein über seine ehrenvolle Entlassung aus der Armee in einer Plastikhülle. Wieder lautete er auf Mr. Fisher. Wagenpapiere für Mr. Fisher. Er fuhr einen 1956er Chevrolet. Er wunderte sich, ob er wohl in der Garage neben dem Motel stand. Er war tatsächlich dort.
Als er von der Garage zurückkam, setzte er sich aufs Bett, um die Sache in Ruhe zu überlegen. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe. Das Ungeheuerliche dieser Probleme und das Fehlen jeder Erklärung kamen ihm jetzt klar zum Bewußtsein. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, meldete sich auch wieder der Hunger. Die Brieftasche enthielt kein Geld, auch kein Kleingeld, das schien ihm seltsam. Er erinnerte sich wieder an die Frau. Er mußte ihr vertraut haben, vielleicht zu sehr vertraut. Dann nahm Sherwood die Reiseschecks. Es befanden sich Schecks über achthundert Dollar in dem Heft. Die Unterschrift würde keine Schwierigkeiten bieten. Sie war genauso, wie er sie selbst auch schreiben würde, eine einfache, exakte, leicht schräge Handschrift. Er steckte das Scheckheft in die Tasche und verließ das Motel. Vorher überzeugte er sich noch davon, daß einer der Schlüssel in das Schloß paßte, dann ging er den Colorado Boulevard entlang und betrat das erste Restaurant. Als er bei seiner Mahlzeit saß, der ersten, an die er sich seit elf Jahren erinnern konnte, fiel ihm auf, daß ihn sein Nachbar dauernd anstarrte. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich nicht darum gekümmert, denn Los Angeles wimmelte von Menschen, die die Gesichter anderer Leute studierten, aber unter diesen besonde-
ren Umständen wollte Sherwood feststellen, warum ihn der Mann betrachtete. Er hielt es für das beste, dieser Herausforderung offen zu begegnen. Sherwood wandte sich dem Mann zu. Der Fremde war kräftig gebaut, mit grauem Haar, vollen Wangen und fliehendem Kinn. Er trug einen zerknitterten blauen Sommeranzug; der Kragen seines dunklen Hemdes war geöffnet und zeigte einen runzeligen Hals. Als Sherwood sich wieder seiner Mahlzeit zuwandte, fühlte er den Blick des Fremden auf sich gerichtet. Er drehte sich zu ihm um, diesmal etwas schneller. »Verzeihen Sie«, sagte der Mann mit einer dünnen, ausdruckslosen Stimme. »Warum?« fragte Sherwood. »Ich glaube, ich habe Sie mit jemandem verwechselt.« »Für wen hielten Sie mich denn?« »Haben Sie jemals bei Paramount gearbeitet?« »Nicht daß ich wüßte.« »Sie sehen aus wie jemand, den ich dort kenne.« »Wie heißt er?« »Gil Weston. Sind Sie sicher, daß Sie es nicht sind?« »Ich werde doch meinen eigenen Namen kennen, oder nicht?« »Gewiß, gewiß. Es ist wirklich erstaunlich«, sagte er. »Sie und Gil könnten als Brüder gelten.«
»Er tut mir leid.« »Oh, Gil ist ein netter Kerl. Aber ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Möchte bloß wissen, was aus ihm geworden ist.« »Keine Ahnung.« Einige Minuten aßen sie schweigend weiter, dann fing der Mann wieder an. »Ich heiße Allerby, Hank Allerby.« Sherwood dachte, das ist die sicherste Methode, meinen Namen zu erfahren. »Wenn ich Ihnen sage, daß ich Walter Sherwood heiße, was würden Sie da sagen?« »Was soll ich denn sagen? Freut mich.« »Aber ich heiße nicht Walter Sherwood.« »Nein?« Allerby betrachtete ihn skeptisch. »Wenigstens im Augenblick heiße ich nicht Walter Sherwood. Ich heiße Morley Donn Fisher.« »So, so.« Sherwood nickte. »Sagt Ihnen der Name etwas?« »Nein.« »Ihr Name bedeutet mir auch nichts.« »Das tut mir leid.« Allerby schien richtiggehend enttäuscht. Dann hellte sich sein Gesicht auf; er griff in die Tasche. »Was machen Sie denn heute nachmittag?« »Heute nachmittag?« »Ja. Hier.« Er zeigte Sherwood zwei Eintrittskarten.
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie Gil sind, weil ich zwei Karten für das Spiel habe. Wollen Sie mitkommen?« »Auch wenn ich nicht Gil bin?« »Natürlich.« Sherwood trank seine Milch aus. »Vielleicht ist er mein Bruder.« »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.« »Nehmen wir einmal an, er sei eines Morgens aufgewacht und konnte sich an nichts erinnern, was in den letzten elf Jahren vorgegangen ist.« Allerby lächelte. »Gil nicht, der macht so was nicht.« »Aber nehmen wir an, es ist trotzdem passiert. Sie scheinen ein intelligenter Mensch zu sein, Mr. Allerby. Was glauben Sie, soll ich ihm raten?« Allerby schürzte die Lippen. »Mein Gott, das weiß ich auch nicht. Vielleicht soll er einen Psychologen konsultieren. Aber kann das Gil wirklich zugestoßen sein?« »Möglich, Mr. Allerby. Es passiert jeden Tag, daß Menschen das Erinnerungsvermögen verlieren.« Allerby stierte auf sein Essen. »Ich hoffe nur, daß Gil das nicht passiert ist. Sind Sie sicher, daß Sie nicht Gils Bruder sind?« »Nein«, sagte Sherwood und stand auf. Er ging, und der Mann in dem hellen Sommeranzug starrte hinter ihm her.
Es war noch früh am Nachmittag, und Sherwood ging zur nächsten Bibliothek, um seine Erinnerung aufzufrischen. Außer der Bibliothekarin war niemand im Leseraum. Die Frau beobachtete ihn, als würde sie jeden Augenblick erwarten, daß er mit ein oder zwei Bänden unter der Jacke verschwände. Warum starren mich alle Leute an, grübelte er. Oder bilde ich es mir nur ein? »Kann ich Ihnen helfen?« fragte ihn schließlich die Bibliothekarin. Sie war an den Zeitungsstand getreten, wo er die Überschriften studierte, von denen die meisten für ihn keinen Sinn ergaben. Sie war ein mageres Geschöpf mit einem Haarknoten im Nacken und dicken Brillengläsern, die ihre Augen eulenhaft aussehen ließen. Er hätte ihr am liebsten gesagt, daß sie für eine Filmrolle als Bibliothekarin wie geschaffen sei. »Ja, vielleicht können Sie mir helfen.« Sherwood betrachtete mißmutig die Zeitungen. »Es scheint, daß elf Jahre aus meinem Leben verschwunden sind.« »Wie bitte?« »Haben Sie ein Archiv aller Zeitungen von Los Angeles, angefangen mit dem sechzehnten Mai neunzehnhundertsechsundvierzig, bis heute?« »Leider nicht. Wir behalten Sie nur einen Monat. Aber Sie finden einen Mikrofilm in der Stadtbibliothek.«
»Danke.« »Suchen Sie eine bestimmte Zeitungsmeldung? Vielleicht finden Sie etwas im Verzeichnis der New York Times.« »Ich möchte mich nur über alle Neuigkeiten der letzten elf Jahre orientieren.« Sie sah ihn so verständnislos an, daß er hastig hinzufügte: »Wir kommen der Sache näher, wenn Sie sich vorstellen, daß ich die letzten elf Jahre in Einzelhaft verbracht habe.« Sie starrte ihn noch immer an, ihr Blick drückte jetzt Verachtung aus. Dann faßte sie einen raschen Entschluß. Sie ging an ein Regal und brachte ihm einen großen braunen Band. »Hier haben Sie den WeltAlmanach, er enthält ein chronologisch geordnetes Verzeichnis aller Ereignisse.« Sie öffnete das Buch und legte es auf die Lehne des Ledersessels, in dem er saß, dann zeigte sie auf einen bestimmten Absatz. »Neunzehnhundertsechsundvierzig beginnt gleich hier, das Verzeichnis reicht bis zum letzten Jahr.« »Ich danke Ihnen.« »Nichts zu danken!« Die Verkörperung äußerster Tüchtigkeit ging wieder an ihren Platz. Sherwood sah die Meldungen durch. In leicht verdaulicher Kürze waren die wichtigsten Ereignisse dargestellt. Schließlich legte er das Buch weg und lehnte sich nachdenklich in seinen Ledersessel zurück. Eigentlich hatte der letzte Krieg gar nichts ge-
nützt. Unruhen, Gewalttaten und Aufstände waren damit nicht beseitigt worden. Aber es gab auch Anzeichen der Besserung. Sherwood überflog flüchtig die Schlagzeilen der Zeitungen. Morgen würden diese Schlagzeilen Geschichte sein, dachte er, als er seinen Kopf zur Seite wandte. Sein Blick fiel auf einen Artikel in der New York Times. Im einzelnen hieß es, daß ein gutgekleidetes Mädchen in ein Polizeirevier in New York gekommen war und daß sie sich nicht an ihren Namen erinnern könne. Auch alle sonstigen Angaben über ihre Person hatte sie vergessen. Sie war ins Bellevue-Krankenhaus gebracht worden. Dort sollte sie bleiben, während die Ärzte die Ursache der Gedächtnislücke festzustellen versuchen. Die Polizei bemühte sich inzwischen, ihren Namen zu erfahren. Sherwood war besonders an dem folgenden Absatz interessiert: »Dr. Harald Aspinal sagte letzten Donnerstag, daß das Mädchen einen Schlag gegen die rechte Schläfe erhalten habe, der den Gedächtnisschwund vielleicht verursacht habe, allerdings sei die Verletzung kaum feststellbar. Er sagte weiterhin, daß es nicht ungewöhnlich sei, wenn es Wochen oder gar Monate dauerte, bis die Patientin das Gedächtnis wiedererlange.« Sherwood lehnte sich zurück und überlegte, was er
mit dieser Information anfangen könne. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und betastete jede Stelle. Eine Verletzung, das war die Lösung. Ein Schlag – gegen die rechte Schläfe, hieß es in dem Bericht. Er untersuchte die rechte Schläfe, dann die linke, tastete mit den Fingern über den ganzen Kopf, auf der Suche nach einer anderen Stelle. Aber er fand keine Wunde. Dann fiel ihm ein, daß in dem Zeitungsbericht von einer kaum merkbaren Verletzung die Rede war und er drückte kräftig auf seinen Kopf. Er war so in sein Tun vertieft, daß er sie nicht herankommen hörte. Erst als ein Paar Frauenschuhe in seinem Blickfeld auftauchten, wurde er ihrer Anwesenheit gewahr. »Fehlt Ihnen etwas?« fragte die Bibliothekarin kühl. »Es sind nur die Läuse«, antwortete er. Entsetzt flüchtete sie hinter ihren Schreibtisch und starrte ihn an. Er kämmte sich das Haar und erwiderte ihren starren Blick. Weil sie ihre Augen nicht von ihm wandte, stand er auf. Mit einem dumpfen Schlag fiel der WeltAlmanach zu Boden. Langsam ging er auf sie zu. Es amüsierte ihn, als er bemerkte, wie sich ihre Augen weiteten und ihr Gesicht leichenblaß wurde. Als er an dem Schreibtisch angelangt war, fragte er langsam: »Haben Sie ein Telefonbuch?«
Sie schob es ihm über den Schreibtisch zu. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er, während er in dem Buch blätterte. »Ich will nur einen Psychiater anrufen.«
3 Dr. Trefethen war einer der erfolgreichsten Psychiater von Los Angeles. Von seinen Freunden wurde er als eine Kapazität auf seinem Gebiet bezeichnet. Seine Feinde hingegen, mit denen er sich nie einigen konnte, hielten ihn für das schwarze Schaf ihres Berufes. Seine Empfangssekretärin hörte, wie die Tür zum Wartezimmer geschlossen wurde; sie drückte auf den Knopf des Summers. Dr. Trefethen schaltete ein. »Ja?« »Ein Mister Sherwood möchte sie sprechen, Doktor«, meldete die Sekretärin. »Er wartet bereits seit einer Stunde. Ich sagte ihm, daß Sie ihn vielleicht jetzt empfangen würden. Darf ich ihn hineinschicken?« »Ja. Schicken Sie ihn herein.« Dr. Trefethen setzte seinen Stolz darein, jeden Patienten beim Betreten seines Sprechzimmers zu analysieren. Diese ersten Sekunden bestimmten sein weiteres Verhalten dem Patienten gegenüber. Sherwood trat ein. Dr. Trefethen sah einen Mann von etwa dreißig Jahren; vielleicht ein oder zwei Jahre darüber, breitschultrig, mit sorglosen ehrlichen blauen Augen, sauber gekleidet und beherrscht. Er reichte ihm die Hand und nahm in einem Sessel Platz. Der Händedruck war fest, die Handfläche nicht
feucht, seine Augen wichen nicht von dem Gesicht des Arztes, während er ihm mit klarer Stimme seinen Namen nannte. Zuerst glaubte Trefethen, er hätte den Mann schon irgendwo gesehen, hätte seinen Namen gehört, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Diagnose: Dem Mann fehlt nichts. »Was haben Sie für Beschwerden?« fragte Trefethen. Weil er keinen Anhaltspunkt hatte, wie er sich verhalten sollte, blieb er ganz natürlich. »Ich brauche vor allen Dingen eine Auskunft«, begann Sherwood. »Ich will Sie gern für den Zeitaufwand bezahlen.« »Es fehlt Ihnen also nichts. Stimmt's?« Sherwood lächelte. »Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich Sie um eine Auskunft bitten.« »Schön, wie Sie wollen. Aber das ist ziemlich regelwidrig.« »Sind Sie verpflichtet, die Polizei bei einem Fall von Gedächtnisverlust zu verständigen?« Trefethen war von der Frage überrascht; er runzelte die Stirn, betrachtete Sherwoods Gesicht. »Nein, nicht unbedingt, Mr. Sherwood. Nicht, wenn so ein Fall von fähigen Ärzten behandelt wird. Kennen Sie einen solchen Fall?« »Ja, ich kenne einen solchen Fall. Aber bevor ich weitere Angaben mache, möchte ich eine umfassende Auskunft über Amnesie.«
Trefethen lachte. »Aber Mr. Sherwood, umfassend?« »Es ist nicht ganz so schlimm, wie es vielleicht klingt. Ich will damit sagen, daß ich nichts darüber weiß und mich gern orientieren möchte. Vielleicht könnte ich dann feststellen, ob es sich um Amnesie handelt.« »Sie möchten mit meiner Hilfe eine Diagnose stellen.« »Na ja –« »Was möchten Sie eigentlich wissen?« »Eine ganze Menge. Kann Gedächtnisverlust durch einen Schlag auf den Kopf verursacht werden?« »Eine ganze Menge Schäden können durch einen Schlag auf den Kopf entstehen«, sagte der Arzt trokken. »Amnesie ist nur einer davon.« Sherwood rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Kann Amnesie auch noch eine andere Ursache haben?« »Amnesie ist nicht kompliziert«, sagte der Arzt. »Wir können uns einfach an unangenehme Dinge weniger gut erinnern als an angenehme. Bis zu einem gewissen Grad leiden wir alle unter Amnesie.« »Aber wenn ein Mensch alles vergißt, sogar die angenehmen Dinge, die sich in einem bestimmten Zeitraum zugetragen haben?« Trefethen zuckte die Achseln. »Wenn ein Erlebnis
besonders unangenehm war, vergißt ein Mensch manchmal unbewußt diese Unannehmlichkeiten bis zu diesem Zeitpunkt, einschließlich dieses Erlebnisses. Verstehen Sie das?« Sherwood nickte, glaubte aber immer noch an eine gewaltsame Einwirkung. »Wenn ein Mensch verletzt wird, ohne daß man eine Spur davon bemerkt, wäre es auch dann möglich, daß Amnesie eintritt?« »Möglich. Es könnte eine Verletzung der Gehirnzellen oder eine Beeinträchtigung des Kreislaufs sein, ohne eine sichtbare Verletzung. Gift könnte zum Beispiel diese Wirkung haben.« »Gift?« Sherwood griff den Gedanken gierig auf; er setzte sich zurecht. »Ja.« Trefethen sah Sherwood ausdruckslos an. »Hat diese Person bereits Amnesie, oder wollten Sie dafür sorgen, daß sie davon befallen wird? Ist es eine Frau?« Sherwood lächelte. »Ich bin kein Verbrecher.« »Warum hat Sie dann der Gedanke an Gift so interessiert?« »Er hat mich nicht interessiert, wenigstens nicht so, wie Sie denken. Ich bin nur neugierig.« »Warum sind Sie zu mir gekommen?« »Ich sagte Ihnen ja; ich bin neugierig. Wie verhält es sich also mit dem Gift?« Trefethen lehnte sich zurück. »Gift kann unmittel-
bar auf die Nerven wirken und Amnesie verursachen. Aber dann zeigen sich auch noch andere Symptome.« »Oh.« Sherwood ließ sich wieder in den Sessel zurücksinken. Gift war es also nicht. »Die Veränderung in den Gehirnzellen, die altersbedingt ist, verursacht Vergeßlichkeit und manchmal Amnesie. Ist diese Person alt?« »Nein.« »Ist diese Person etwa fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter achtzig groß, mit blauen Augen und dunklen Haaren?« »Ich möchte darüber keine Auskunft geben«, antwortete Sherwood unwillig. »Ich liebe keine Ratespiele und möchte mich auch nicht über einen Phantompatienten unterhalten. Wenn Sie glauben, daß einem Menschen etwas fehlt, dann sollten Sie ihn zu einem Arzt bringen. Das kann man nicht durch einen Vermittler machen.« »Wie hoch ist Ihr Honorar?« »Fünfundzwanzig Dollar die Stunde.« Sherwood nahm fünfundzwanzig Dollar aus der Brieftasche und legte sie vor dem Arzt auf den Schreibtisch. »Und jetzt sagen Sie mir, was Sie sonst noch über Amnesie wissen.« Trefethen schnippte mit den Fingern. »Nur so aus dem Handgelenk, wie?« Er sah auf das Geld, dann auf Sherwood, und machte eine Bewegung, als wolle
er es vom Tisch fegen. Seufzend lehnte er sich wieder zurück. »Schön, Mr. Sherwood, ich will Ihnen kurz sagen, was ich darüber weiß.« »Das klingt schon besser.« »Das freut mich. Es gibt zwei Arten von Amnesie; sie kann organisch oder funktionell sein. Die organische Form tritt häufiger auf, sie macht sich in nervöser Schwäche bemerkbar, die das Gehirn so beeinflußt, daß es sich an keine Eindrücke erinnern kann. Verstehen Sie das?« »Ja.« Sherwood hatte es sich bequem gemacht und steckte sich eine Zigarette an. »Das kann verschiedene Ursachen haben«, fuhr der Arzt fort. »Durch akute Infektion, durch einen epileptischen Anfall oder, na, sagen wir, durch eine metabolische Konvulsion. Können Sie mir folgen?« »Es geht noch.« »Gut. Die funktionelle Art der Amnesie zeigt verschiedene Formen. Sie wird aber in allen Fällen durch eine gefühlsmäßige Sperre verursacht. Dann kommt der Zustand, den wir mit Fuge bezeichnen, das sind die drei Stadien, die unweigerlich folgen, obwohl deren Dauer nicht einheitlich ist. Das erste Stadium ist ein völliges Loslösen von der Umgebung des Patienten, ein völliges Vergessen, ein Zustand, der dem Somnambulismus gleicht; das zweite ist ein leichteres Stadium des Vergessens, das sich nur auf gewisse Er-
eignisse beschränkt, eine teilweise Amnesie; das dritte ist ein vollkommenes Funktionieren des Bewußtseins. Das kann ganz plötzlich kommen und stellt die Erinnerung an alle vergangenen Ereignisse wieder her. Am leichtesten wird ein Psychoneurotiker von Amnesie befallen. Er ist manchmal unfähig, sich mit der harten Wirklichkeit abzufinden. Die Ursache ist meist in den Komplexen seiner Vergangenheit verkapselt.« »Im Unbewußten, Doktor?« »Es gibt nichts Unbewußtes«, knurrte der Psychiater. »Also im Unterbewußtsein.« »Es gibt auch kein Unterbewußtsein. Das ist alles dasselbe. Es gibt auch kein Id, Ego oder Super-Ego. Das sind alles Hirngespinste.« Der Arzt schaukelte indigniert in seinem Stuhl. Seine Augen waren auf die Wand hinter Sherwood gerichtet. »Genügt das, was ich Ihnen sagte?« Sherwood schüttelte den Kopf. »Nein, ich fürchte, es genügt nicht.« »Warum?« fragte Trefethen überrascht. »Es erklärt nicht, weshalb ich mich an nichts erinnern kann, was in den letzten elf Jahren geschehen ist.« Der Arzt stellte sein Schaukeln ein. »Dann sind Sie es also doch selbst.« Er langte in die Schublade und holte eine unbeschriebene Karte heraus. »Dieser Na-
me – Walter Sherwood – scheint mir irgendwie bekannt. Ich nehme an, daß Sie sich seiner nur bedient haben. In Wirklichkeit wissen Sie nicht, wer Sie sind, nicht wahr?« »Nein, ich bin Walter Sherwood. Ich kann mich an alles erinnern bis zum fünfzehnten Mai neunzehnhundertsechsundvierzig. Heute bin ich in einem Motel aufgewacht und stellte fest, daß wir das Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig schreiben. Elf Jahre fehlen.« »Wieso sind Sie so sicher, daß Sie Walter Sherwood sind? Können Sie sich einwandfrei daran erinnern?« »Natürlich. Ich kann mich an jede Einzelheit aus meiner Kindheit erinnern.« »So?« Trefethen lächelte. »Ich wette, daß Sie sich nicht mehr an Ihren Lehrer in der dritten Klasse erinnern können.« »Natürlich kann ich mich erinnern. Es war Miss Bush.« »Mmm, und wie hieß der Direktor?« »Mr. Snearly. Oscar Snearly. Er war es bis zur fünften Klasse. Dann kam Spencer Brewer.« »Welche Noten hatten Sie in Englisch in der ersten Hochschulklasse?« »Ich hatte eine drei.« Trefethen warf ihm einen Blick zu. »Hatte Ihre Familie ein Auto?«
»Warum?« »Wie lautete die Autonummer?« Sherwood dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: »Ich glaube, es war vier, drei, fünf, sieben, zwo.« »Aber, Mr. Sherwood, oder wie immer Sie heißen, Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen das glaube?« »Sie haben mich gefragt, und ich habe geantwortet. Dachten Sie, ich könnte mich nicht erinnern?« »Ja.« »Warum?« »Weil sich kein Mensch an solche Kleinigkeiten erinnern kann«, sagte Trefethen ruhig, während er sich über das Kinn strich und Sherwood aufmerksam beobachtete. »Schon gar nicht ein Mensch mit Amnesie. Was beabsichtigen Sie eigentlich, Mr. Sherwood?« »Wollen Sie mir sagen, daß ich nicht weiß, was ich weiß? Es ist schon schlimm genug, daß ich mich an die elf Jahre nicht erinnern kann, und Sie wollen mir den Rest auch noch abstreiten.« Trefethen sah ihn drohend an. »Hören Sie auf, mich zum Narren zu halten. Sie leiden nicht an Amnesie. Wenn Sie sich an all die Dinge erinnern können, dann müssen sie ein Hyper-Mnemoniker sein.« »Ein Hyper- was?« »Ach, was. Es ist das Gegenteil von Amnesie, eine übersteigerte Fähigkeit, sich zu erinnern.« Er seufzte
und sagte verdrossen: »Welcher hervorragende Kollege hat Sie denn dazu angestiftet? Ich möchte den Witz auch gern kennen.« »Witz?« fragte Sherwood verständnislos. »Ja, Witz.« Trefethen sah ihn wieder an, plötzlich leuchteten seine braunen Augen. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte er. »Glauben Sie mir, Doktor«, sagte Sherwood ernst, »für mich ist das kein Witz.« »Das kann ich mir vorstellen. Ich weiß auch, wo ich den Namen Walter Sherwood gelesen habe. Ihr zweiter Name ist wohl Evan?« »Ja, woher wissen Sie das?« »Ha!« rief Trefethen. Er war aufgestanden. »Was soll das heißen?« »Das heißt, daß Sie verschwinden sollen.« »Warum?« »Weil Sie unmöglich Walter Evan Sherwood sein können.« »Aber ich bin es doch.« »Gut, beweisen Sie es.« Sherwood sank in seinen Sessel zurück. »Das kann ich nicht. Als ich heute aufwachte, fand ich Personalpapiere, die auf den Namen Morley Donn Fisher lauten.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Dr. Trefethen, den die Sache nicht mehr interessierte. Er warf einen
Blick auf die Uhr. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Fischer, ich habe eine andere Verabredung.« Er schob ihm die fünfundzwanzig Dollar über den Tisch. »Das können Sie wieder mitnehmen.« Sherwood stand auf. »Woher wußten Sie, daß mein zweiter Name Evan ist?« »Wollen Sie jetzt, bitte, gehen?« »Ich will es wissen.« »Ich habe eben zufällig ein gutes Gedächtnis, das ist alles.« Trefethen öffnete ihm die Tür. »Machen Sie mir jetzt keine weiteren Scherereien. Gehen Sie.« »Aber es ist wichtig für mich! Ich will es wissen, ich muß wissen, was ich in den letzten elf Jahren getan habe.« »Sie haben den Spaß weit genug getrieben, Mr. Fisher. Gehen Sie jetzt, bevor ich andere Maßnahmen ergreifen muß.« Es blieb ihm keine andere Wahl. Er nahm das Geld und verließ das Sprechzimmer.
4 Der Wasserbeutel, den Sherwood in Los Angeles aus Sicherheitsgründen für die Fahrt durch die MojaveWüste gekauft hatte, hing noch immer an der Kühlerfigur, als er auf dem Parkplatz des Verwaltungsgebäudes des Illinois Midwest College in Farrell hielt. Die Fahrt von der Westküste war kurz und ereignislos gewesen, sie wurde von seinem Wunsch nach einer Klärung der Lage beschleunigt. Den letzten Abschnitt, von Hastings, Nebraska, nach Farrell hatte er ohne Unterbrechung zurückgelegt. Er war kurz nach Mitternacht aufgebrochen. Weil er nicht schlafen konnte und sich nur im Bett herumwälzte, sagte er sich, daß er ebensogut auf der Straße sein konnte; zum Schlafen hatte er später Zeit genug, wenn er erst festgestellt hatte, was er mit den letzten elf Jahren seines Lebens getan hatte. Er kam nach Farrell wie ein Fremder. Niemand winkte ihm zu. Niemand schien ihn zu kennen, auch als er nach dem Weg zum Campus fragte, zeigte sich kein Schimmer einer Erinnerung in den Augen der Befragten. Er hatte es auch kaum erwartet, aber schließlich war er doch vor nicht allzulanger Zeit in Farrell gewesen. Auch wenn ihn die Einwohner nicht erkannten, sollte es doch einen unter den vielen Studenten
geben, der sich an ihn erinnerte, zumal ihn doch ein Akademiker wie Trefethen offenbar kannte. Das Verwaltungsgebäude war offensichtlich der älteste Bau auf dem Campus. Die Front war vollständig von Efeu überwuchert, nur für die Fenster war ein Viereck ausgespart. Hinter den großen Doppeltüren, die sich leise seufzend hinter ihm schlossen, war es kühl. Er betrachtete die kleinen Schilder über den Türen, bis er das Aufnahme- und Personalbüro fand. Die Frau in dem Büro stand auf, setzte ihre Brille, die an zwei blauen Bändern um ihren Hals hing, auf die Nase, und kam auf ihn zu. »Kann ich Ihnen helfen«, erkundigte sie sich freundlich. »Ich möchte gern meine Unterlagen einsehen«, sagte Sherwood ohne Zögern. »Ich heiße Walter Evan Sherwood.« Sie lächelte. »Wollen Sie nicht lieber eine Abschrift? Das ist schnell erledigt, die meisten ziehen das vor. Auf diese Art brauchen Sie nicht zu warten. Wir machen eine Fotokopie und senden sie an jede gewünschte Adresse. Es kostet nur fünfzig Cents.« »Nein, ich möchte bloß nachsehen und einige Notizen machen.« »Das kommt selten vor«, sagte sie, als sie auf einen großen Karteikasten zuging. »Die meisten Leute schikken nur einen Brief mit einer Geldanweisung oder ei-
nem Scheck. Nicht viele kommen her, um persönlich nachzusehen.« »Ich bin neunzehnhundertsechsundvierzig eingetreten«, half er ihr weiter. Dann fiel ihm ein: wenn ich nun keine Unterlagen hier finde, wenn ich hier gar nicht zur Schule gegangen bin? »Das ist nicht wichtig. Wir legen alle Personalakten nach dem Alphabet ab. Sherwood, sagten Sie? Wollen mal sehen.« Sie zog eine Schublade heraus. »Sheldon, Sheldon, Shelley, Shenton ... Mmmm ... Sheridan. Jetzt kommen wir schon näher heran. Ich wußte nicht, daß wir so viele Shermans haben. Hier. Nein. Das ist Perry Sherwood. Ah, hier ist es. Walter Sherwood, Walter Evan Sherwood!« Sie holte den Hefter heraus und kam damit an das Pult. »Ich nehme an, Sie haben inzwischen Ihren Doktor gemacht.« »Danke.« Er nahm die Akte entgegen, ohne auf ihre Frage einzugehen. Walter Evan Sherwood hatte sein erstes Semester 1946–47 begonnen. Chemie, Physik und Mathematik. Seine Noten waren glänzend. Das zweite Semester 1946–47 war fast genau wie das erste. Er suchte nach dem ersten Semester 1947– 48, statt dessen fand er das Sommersemester 1947. Ich habe also auch da nicht geruht, dachte er. Warum hatte ich es bloß so eilig?
»Haben Sie in der medizinischen Fakultät auch so gut abgeschnitten?« »Oh, ja.« Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und suchte krampfhaft nach einem Mittel, wie er ihr die ersehnte Auskunft entlocken konnte. »Oh, haben Sie auch vermerkt, wo ich dann hinging? Ich meine, nur der Ordnung halber?« Sie blätterte in der Akte und nickte. »Ich bin sicher, daß es eingetragen ist. Ja, hier. Reyerson Medical College in Chicago.« Sherwood dankte ihr und verließ das Gebäude voll Stolz über seinen Erfolg. Der 15. Mai 1946 war nicht mehr das Ende des Walter Sherwood, den er kannte. Er hatte seine Spur bis zum Sommer 1948 verfolgt. Webster, Illinois, lag fast auf dem Weg von Farrell nach Chicago. Sherwood bog von der Autobahn ab und fuhr über eine alte, holprige Straße auf die kleine Stadt zu. Er wäre lieber nach Chicago weitergefahren, aber weil Webster so nahe lag, wollte er doch sehen, wo Morley Donn Fisher wohnte. Sherwood fuhr durch die zwei Straßenzüge, die das Geschäftsviertel darstellten, umkreiste es und fand schließlich die Summit Avenue. Bei der Nummer 508 hörte die Straße auf. Dann kamen nur noch ein Eisenbahngleis und ein Maisfeld. Er fuhr noch eineinhalb Kilometer weiter, aber es gab keine Häuser mehr.
Es gab also keine Nummer 1213 in der Summit Avenue. Er drehte um und fuhr wieder in das Geschäftsviertel zurück. Auch auf der anderen Seite hatte die Summit Avenue keine Fortsetzung. Morley Donn Fisher wohnte nicht in 1213 Summit Avenue, in Webster, Macon County, Illinois, denn es gab keine Nummer 1213. Wahrscheinlich weil es gar keinen Morley Donn Fisher gab. Im Licht des folgenden Tages lag die Ryerson Medical School vor ihm. Es war ein alter, etwas verwitterter Ziegelbau im Norden von Chicago. Ringsum lagen Krankenhäuser. Für die Ausbildung der Studenten war das Wright Memorial-Krankenhaus vorgesehen. Das ganze Gebäude machte nicht den Eindruck einer Universität, man hätte es eher für ein Bürogebäude halten können. Sherwood betrachtete es eine Weile von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Dann ging er über die Straße, stieg die Treppe hinauf und betrat das Gebäude. Er wußte, daß er jetzt kurz vor einer Entdekkung stand, daß man ihn hier vielleicht sogar erkennen würde. »Dr. Sherwood!« Sherwoods Blick wanderte über verschiedene Gesichter, bevor er ihn erblickte. Es war ein mittelgroßer
Mann, schwarzhaarig mit rotbäckigem Gesicht und buschigen Augenbrauen. Er trug eine Brille. In der Brusttasche seines grauen Arbeitsmantels steckten Bleistifte und Instrumente, darunter standen die Worte Max Rankel. Der grinsende Mann reichte ihm seine schlanke Hand, als er auf ihn zukam. »Wo hast du denn gesteckt, Walter? Du bist einfach verschwunden. Wie geht es dir?« »Danke ... Max!« »Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, du siehst gut aus. Deine Arbeit scheint dir gut zu bekommen!« »Es geht mir wirklich gut, und ich freue mich aufrichtig, dich wiederzusehen.« »Und jetzt erzähl mal, was tust du denn eigentlich hier? Die meisten nehmen sich kaum die Zeit, mal wieder herzukommen.« Er lachte. »Wahrscheinlich sind sie froh, wenn sie hier raus sind.« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Sherwood. »Ich wollte mal vorbeikommen und einen Blick auf meine Unterlagen werfen. Das bringt vielleicht die gute alte Zeit wieder in Erinnerung.« »Das kann im Büro jederzeit erledigt werden. Jetzt ist eine Feier fällig.« Er blickte auf die Wanduhr und stöhnte. »Der Tag hat ja erst angefangen. Ich kann jetzt nicht weg. Wo willst du Mittagessen? Wir könnten schnell mal zu Amy –«
»Ich habe noch einige Sachen zu erledigen, Max.« »Ganz der alte Sherwood, immer beschäftigt.« »Vielleicht kannst du mir aber noch einen Gefallen tun, bevor du gehst, Max.« »Natürlich, Walt. Nur heraus damit, alter Junge.« »Welchen meiner alten Lehrer soll ich zuerst besuchen?« »Das soll wohl ein Witz sein? Dem alten Booey hat es fast das Herz gebrochen, als du damals weggingst. Er wollte dich als Assistent haben. Den mußt du unbedingt zuerst besuchen.« »Wo ist er denn jetzt, Max?« »Wo er immer war.« Er warf wieder einen Blick auf die Uhr. »Ich muß jetzt weg.« Er lief den Gang hinab. Über die Schulter rief er Sherwood noch zu: »Also, nicht vergessen.«
5 Er fand Dr. Booey in dem Raum, den ihm eine Frau im Büro angegeben hatte. Natürlich wußte er nicht, daß es Dr. Booey war. Er sah nur einen Mann, der vor einer vollen Klasse einen Vortrag hielt. Hinter seinem Rücken hing eine anatomische Schautafel an der Wand. Der Mann warf ihm einen Blick zu, sagte etwas zu den Studenten, das Sherwood nicht hören konnte, legte den Zeigestab auf den Schreibtisch und kam durch die offene Tür auf ihn zu. »Walter!« rief er. Seine dicken Lippen bewegten sich kaum. Er hatte ein glattes Gesicht, rosige Wangen, über seinem fast kahlen Kopf lagen einige dünne Haarsträhnen. »Dr. Booey?« Seine Augenbrauen, die aus dünnen weißen Haaren bestanden, zogen sich überrascht zusammen. Dann veränderte sich der Blick seiner grauen Augen. Er drehte sich in der Tür um. »Mr. Scott, darf ich bitten.« Ein Mann, der am anderen Ende des Raumes an seinem Pult gesessen hatte, stand auf, ging zu der Anatomie-Karte und setzte den Vortrag fort. »Kommen Sie mit«, forderte er Sherwood auf, als er den Gang entlangschritt. Sherwood folgte ihm in ein kleines Büro, das fast
völlig mit Büchern angefüllt war. Der Arzt schaltete die Kaffeemaschine ein, bevor er ihm das Gesicht zuwandte. Eine Weile betrachtete er ihn aufmerksam, dann bot er ihm einen Stuhl an. Er selbst nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Dann fragte er ernst: »Sie haben mich vorhin nicht erkannt?« Sherwood fühlte eine Kraft von dem Mann ausströmen, eine Stärke, der man vertrauen konnte. Es hatte keine überschwengliche Begrüßung gegeben, kein Händeschütteln, kaum ein Lächeln, und trotzdem fühlte er die Sympathie, die ihm der Arzt entgegenbrachte. »Nein, ich habe Sie nicht erkannt.« Der Blick dieser Augen schien bis ins Innere zu dringen. Sherwood kam sich vor, als ob er seziert würde. »Wann ist es passiert?« fragte der Arzt. »Ich weiß es nicht.« Booey wandte den Blick ab. »Ich wußte, daß es eines Tages passieren würde. Sie waren kaum fertig.« Sherwood errötete. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden?« »Das kann ich mir denken.« Booey seufzte. »Wir haben uns alle gefragt, wie lange Sie durchhalten würden. Sie waren immer so angespannt, so – überempfindlich. Es kam uns ganz unnatürlich vor.« »Ich war vorhin im Büro und habe meine Akten eingesehen. Ich muß wohl sehr schwer gearbeitet haben.«
»An was können Sie sich noch erinnern?« Sherwood senkte den Blick vor den Augen des Arztes, der soviel über ihn wußte. Er betrachtete seine Hände. »Elf Jahre fehlen.« »Elf Jahre?« Sherwood hob den Kopf und sah dem Arzt in die Augen. »Ich kann mich an nichts erinnern, was nach dem fünfzehnten Mai neunzehnhundertsechsundvierzig geschah.« »Sie können sich trotzdem an einiges erinnern. Wie weit reicht Ihr Erinnerungsvermögen zurück? Wenn Sie den Tag wüßten –« »Ich kann mich bis zum elften Juli erinnern. Da bin ich in einem Motel in Los Angeles aufgewacht und hatte die letzten elf Jahre vergessen.« Booey war überrascht. »Das ist aber schon sehr seltsam, daß Sie sich an einen so langen Zeitraum nicht erinnern können.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist bedauerlich. Ein so begabter Mensch wie Sie. Wußten Sie das? Einer der Besten. Aber gerade das ist vielleicht der Grund. Vielleicht waren Sie zu begabt. Aber wie ich bereits sagte, viele von uns haben es kommen sehen. Es schien nur eine Frage der Zeit.« Der Kaffee kochte jetzt, er drehte sich auf dem Stuhl um und griff nach zwei Tassen, die er nebeneinander auf den Schreibtisch stellte, dann goß er den dampfenden Kaffee ein.
»Was wollen Sie damit sagen? Eine Frage der Zeit?« Booey zuckte die Achseln. »Sie haben Ihr Studium wie ein Besessener abgeschlossen und Ihren Doktor der Medizin gemacht. Dann haben Sie sich der Forschung zugewandt. Neurophysiologie war Ihr Gebiet. Sie haben die Tür zu allen anderen Dingen hinter sich geschlossen. Das haben Sie schon hier so gemacht. Sie waren bekannt als der Einsiedler von Ryerson.« Der Arzt hob die Tasse, blies darüber hinweg und trank die dampfende Flüssigkeit. »Sie waren wie ein Draht, durch den Sie immer wieder elektrischen Strom jagten. Der Draht mußte eines Tages durchbrennen.« »Sie glauben, daß ich zusammengebrochen bin?« fragte Sherwood bestürzt. »Was soll ich sonst glauben, wenn Sie sich an nichts erinnern können. Es ist die bekannte Flucht aus der Wirklichkeit. Ich nehme an, daß Sie nicht wissen, weshalb Sie geflüchtet sind.« »Geflüchtet?« »Haben Sie sich untersuchen lassen?« »Ich war bei einem Psychiater.« »Was sagte der?« »Dr. Trefethen glaubte, ich erlaube mir einen Scherz mit ihm. Er sagte, wenn man sich so gut an seine Jugend erinnert, wie ich, dann kann es sich nicht um Amnesie handeln.«
Booey schnaubte wütend. »Er soll sich lieber noch einmal auf die Schulbank setzen. Kein Mensch kann etwas mit Sicherheit behaupten, schon gar nicht, wenn es sich um das Gehirn handelt.« Dann sagte er entschlossen. »Walter, Sie müssen sich behandeln lassen. Es gibt Methoden, mit denen man dagegen ankämpfen kann. Hypnose, zum Beispiel. Damit kann man die Lücken ausfüllen, bis der Geist die Wirklichkeit wieder aufnimmt.« Sherwood schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde mich keiner Behandlung unterziehen, bevor ich nicht alles erfahren habe. Ich weiß ungefähr, was zwischen neunzehnhundertsechsundvierzig und neunzehnhunderteinundfünfzig geschah. So weit bin ich inzwischen gekommen. Ich muß mein Leben bis zum heutigen Tag verfolgen. Erst dann komme ich zurück und lasse mich behandeln.« »Sie sagen, Sie können sich an nichts erinnern, bis Sie in dem Motel in Los Angeles aufwachten?« »Richtig.« »Was haben Sie in Los Angeles getan?« »Ich weiß nicht ... Ich bin dort aufgewachsen.« »Sie haben davon erzählt, in den seltenen Augenblicken, wenn Sie überhaupt etwas erzählten. Aber es war Ihr Vater, der Ihnen am meisten Sorgen machte. Das und Ihre Erlebnisse in der Armee. Jedenfalls beschlossen Sie, Arzt zu werden, als Sie aus der Armee
entlassen wurden. Sie wollten Gehirnspezialist werden. Und wenn Sie einmal einen Entschluß gefaßt hatten, gab es kein Halten. Sie liebten die Medizin, atmeten und lebten sie, fühlten sich mit ihr verheiratet. Anscheinend haben Sie es zu weit getrieben.« Booey rührte betrübt in seiner Kaffeetasse. »Unter diesen Umständen hätte es jedem von uns passieren können.« »Mir wäre es lieber, Sie würden nicht mit mir sprechen, als ob ich gerade aus einer Irrenanstalt käme«, sagte Sherwood spitz. Booey starrte ihn an. »Ich glaube, Sie irren sich«, fuhr Sherwood fort. »Die Sache ist zu seltsam. Dazu ist vieles zu seltsam. Außer den fehlenden elf Jahren ist alles normal. Zu normal, wie mir scheint.« »Seltsam, Walter? Was ist seltsam?« Sherwood erzählte ihm im einzelnen, wie er neben der Frau in dem Motel-Zimmer aufgewacht war, berichtete von der Brieftasche und dem Namen, den er darin gefunden hatte, und daß es in der Summit Avenue in Webster keine Nummer 1213 gab. »Ich bin nicht so weit heruntergekommen, daß ich den Faden nicht bis hierher verfolgen konnte, Dr. Booey. Und ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß es das Haus in Webster nicht gibt. Und wie erklärt sich meine vollständige Personalbeschreibung
in den Papieren, die ich in der Brieftasche fand. Erklären Sie mir das.« »Das ist allerdings seltsam«, gab Booey zu. »Das heißt, wenn das wahr ist, was Sie mir erzählen.« »Es ist wahr.« Der Arzt blickte lange mit finsterem Gesicht auf Sherwood, dann stand er auf und schob den Stuhl zurück. Mit den Händen auf dem Rücken verschränkt, starrte er auf ihn herab. »Ich gebe zu, daß Sie nicht reden wie ein Mensch mit Amnesie.« »Wie rede ich denn?« »Sie sind sich Ihrer Umgebung zu sehr bewußt, Walter. Sie sind sich zu sehr bewußt über Ihr Tun und über Ihre Person. Sagen Sie mir, wußten Sie, wer Sie sind, als Sie in dem Motel aufwachten?« »Natürlich.« »Dann sahen Sie in der Brieftasche den Namen Fisher?« »Ja.« »Sie glaubten nicht, daß Sie dieser Fisher wären?« »Nein. Keinen Augenblick.« Booey nickte. »Hier stimmt etwas nicht. Bei echter Amnesie hätten Sie nicht gewußt, wer Sie sind. Sie wären überzeugt gewesen, dieser Fisher zu sein.« Er drückte nachdenklich die Lider zusammen. »Dieser Trefethen hat vielleicht etwas gewußt, jedenfalls hatte er recht.
Sie erinnern sich an manche Dinge zu gut. Sie verfolgen eine bestimmte Spur viel zu gründlich.« »Und ich werde sie auch über Ryerson hinaus verfolgen, Doktor.« Booey nickte. »Vielleicht ist der wirkliche Sherwood doch nicht ganz verschwunden. Sie sagten, Sie müßten es wissen. Das war Ihre Redensart schon immer gewesen.« Er lächelte zum erstenmal und zeigte seine Pferdezähne. Dann setzte er sich wieder, langte in eine Schublade und holte einen Aschenbecher und ein Päckchen Zigaretten hervor. »Wir wollen eine Zigarette auf Ihre analytischen Fähigkeiten rauchen, Dr. Sherwood. Schließlich sind Sie ja Arzt, wenn auch Ihr Interesse der Neurophysiologie gilt.« Er reichte ihm die Zigaretten. »Wir wollen hoffen, daß Ihre geistige Sonde bis in den versteckten Winkel Ihres Gehirns dringt. Ich will Ihnen gern helfen, so gut ich nur kann.« »Dr. Trefethen sagte etwas, das ich nicht verstanden habe«, fiel es Sherwood ein. »Er konnte sich plötzlich an meinen Namen erinnern. Und da dachte ich, daß ich vielleicht in der Öffentlichkeit bekannt geworden sei.« Booey zeigte mit einer umfassenden Geste auf die Bücher und Zeitschriften in den Regalen. »Sie haben immer über etwas geschrieben und alle möglichen Dinge aufgerührt. Sie waren ein Streber. Nicht viele
waren mit Ihnen einverstanden, aber sie hörten Ihnen zu. Vielleicht hat dieser Trefethen etwas von Ihnen gelesen, was ihm nicht gefallen hat.« Er fuhr mit seinem dicken Finger über die Zeitschriften, zog eine heraus und durchblätterte sie eifrig. Als er gefunden hatte, was er suchte, schob er sie Sherwood zu. Sherwood las die Überschrift. »Aspekte der Tätigkeit des Nervensystems.« Der Artikel war von Dr. Walter Evan Sherwood verfaßt. Ein zweiter, den ihm Booey reichte, enthielt seine Ansicht über den RahmStimulator, was immer das auch sein mochte. Er schüttelte den Kopf. »Daraus werde ich nicht klug.« »Natürlich nicht, wenigstens jetzt nicht. Aber hilft es Ihnen nicht, wenn Sie wissen, daß Sie das geschrieben haben?« Sherwood überlegte. »Ich bin nicht sicher. Ich fühle nur, daß der Verlust zu groß ist, um ihn wieder aufzuholen.« »Glauben Sie nicht, daß es noch in Ihnen steckt?« »Ich weiß nicht«, sagte Sherwood zweifelnd. »Aber ich glaube es.« Booey tippte mit dem Finger an die Stirn. »Da sind zwei Hemisphären vorhanden, die beide dem Erinnerungsvermögen dienen. Jede der beiden Hälften hat für die Erinnerung die gleiche Bedeutung. Man kann eine davon entfernen, ohne das Erinnerungsvermögen zu beeinträchtigen. Sie
sind also doppelt gesichert. Wahrscheinlich ist es nur ein vorübergehender Kurzschluß.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben.« Booeys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Zwischen uns besteht im Augenblick ein großer Unterschied.« »Und der wäre?« »Ich weiß, daß ich recht habe.« »In meinem gegenwärtigen Zustand kann ich das nicht beurteilen«, sagte Sherwood fast verzweifelt. »Es ist eine Tatsache. Aber lassen Sie kein Mitleid mit sich selbst aufkommen. Das tut Ihnen nicht gut. Sie verlieren sich selbst.« Sherwood wußte, daß Booey recht hatte. Er durfte nicht um den Mann trauern, der er einst gewesen war, er durfte nicht an ein Versagen denken. Es konnte ja gar nicht schiefgehen. Im Notfall konnte er wieder von vorn anfangen. Konnte wieder nach Ryerson kommen. Der gleiche Mann, der die gleichen Vorlesungen besuchte, weil er sie vergessen hatte. Für andere würde es zwar unverständlich sein, aber es war eine Möglichkeit, wenn es ihm nicht gelingen sollte, den Vorhang vor seinem Geist zu lüften. Dann war da noch etwas. Während seiner Unterhaltung mit Booey hatte sich ein Gefühl der Unwirklichkeit in ihm verstärkt; erst in den letzten Minuten war ihm die Ursache bewußt geworden. Booey hatte
sich mit ihm unterhalten wie mit einem Freund, den er schon jahrelang kannte, was ja auch der Fall war. Er hatte zu dem Sherwood gesprochen, den er selbst nicht kannte, rückhaltlos, offen, während er nur wie ein Fremder antworten konnte, der auch wie ein Fremder dachte. Das war dieser unwirkliche Eindruck gewesen und auch die Erklärung dafür. »Natürlich wollen Sie wissen, was Sie getan haben, als Sie hier weggingen, das ist ganz selbstverständlich. Ich kann Ihnen im Augenblick nicht helfen, aber ich habe Ihre Adresse irgendwo in meinem Notizbuch.« Booey suchte unter seinen Papieren auf seinem Schreibtisch, schob Bücher und Briefbeschwerer hin und her und fand schließlich ein in Leder gebundenes Notizbuch. »Hier ist es. 347 Walnut Street, Merritville, Michigan.« »Michigan?« Booey warf einen schiefen Blick auf Sherwood. »Sagt Ihnen das etwas?« »Nein, ich war nur überrascht. Möchte wissen, wie ich dort hinkam?« »Und was Sie dort getan haben, das ist noch wichtiger.« Booey legte das Buch seufzend beiseite. »Sie gingen Ende neunzehnhunderteinundfünfzig plötzlich hier weg. Vorher hatte ich eine Anfrage über Sie von einer Regierungsstelle erhalten.« Als ihn Sherwood verständnislos anschaute, fuhr er
fort. »Solche Anfragen sind eine reine Routineangelegenheit, Walter. Durch eine Verwaltungsverfügung wurde neunzehnhundertsiebenundvierzig ein Programm zur Überprüfung von Regierungsangestellten ins Leben gerufen. Es sollten Angestellte in wichtigen Positionen auf ihre Zuverlässigkeit überprüft werden. Sie hatten sich um eine solche Stellung beworben, oder jemand – aber bestimmt nicht ich – hatte sie namhaft gemacht. Ich weiß nur, daß Sie sich Forschungsarbeiten widmen wollten, aber was es eigentlich war, darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Wahrscheinlich war es auf Ihrem Spezialgebiet. Es tat mir aufrichtig leid, daß Sie uns verlassen wollten.« »Also habe ich für ein geheimes Projekt der Regierung gearbeitet. Stimmt das?« »Geheim?« Booey knurrte. »Das bezweifle ich. Es gibt nicht viel Geheimnisse in der medizinischen Forschung; es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der Kernforschung und der Medizin, es sei denn, daß es sich um ein lebenswichtiges Gebiet in der Abwehr oder Verteidigung handelte, aber das wird es kaum gewesen sein. Wahrscheinlich haben Sie auf einem Gebiet gearbeitet, das Sie stark interessierte. Sie hatten eine Vorliebe für Elektronik und Neurologie. Die sind gewissermaßen verwandt.« »Aber auch wenn ich mich mit Forschungen be-
schäftigte, die mich stark interessierten, so handelte ich doch im Auftrag der Regierung?« »Nicht unbedingt. In Merritville liegt nicht weit von der Stadt entfernt eine Forschungsstelle, über die man nicht viel weiß. Wenigstens weiß ich nicht viel darüber. Sie wurde dort errichtet, weil die Gegend weitab von den Verkehrswegen liegt und sehr ruhig ist. Sie ist für Leute wie Sie wie geschaffen. Ich stelle mir vor, daß sie sehr gut eingerichtet ist. Sie wird von einem Mann namens Schlessenger geleitet. Ich kenne ihn nicht weiter.« »Ich hätte Sie mal einladen sollen«, sagte Sherwood lächelnd. »Nachdem, was Sie hier für mich getan haben, wäre es nicht mehr als recht und billig gewesen.« »Sie haben mich schon eingeladen, aber wir konnten uns nie über das Datum einigen. Sie wissen ja, wie das ist. Ich war neugierig auf Ihre Arbeit, aber Sie haben mir nie etwas darüber geschrieben. Ich nehme an, daß Sie aus staatlichen Zuschüssen bezahlt wurden. Vielleicht sogar vom Verteidigungsministerium selbst oder von einer Forschungsstelle der Armee.« Booey faltete geistesabwesend ein Stück Papier zusammen. »Ich kenne eine Menge Menschen, die sich bei der Forschungsarbeit sehr wohl fühlen. Ich habe mich selbst oft versucht gefühlt. Ich habe eine Menge Theorien, mit denen ich mich gern näher befassen möchte, aber mir geht es wie den Zeitungsleuten, die
den Kopf voller Ideen haben, aber nie ein Buch zustande bringen. Ich habe nie Zeit gefunden, an meinen eigenen Ideen zu arbeiten. Ich glaube immer, ich müßte etwas für die Holzköpfe tun, die hier Jahr für Jahr aufkreuzen. Wenn sich jeder mit Forschung befassen wollte, gäbe es keine Lehrer. Wo kämen wir da hin? Noch etwas Kaffee?« »Nein, danke, ich möchte Sie nur noch um die Adresse bitten, und dann will ich aufbrechen. Es scheint, als ob ich dort die Antwort auf meine Fragen finden werde.« »Hier«, Booey riß ein Blatt Papier ab. »Ich schreibe sie Ihnen auf. Ich beneide Sie nicht um diese Reise an einen Ort, an den Sie sich nicht einmal erinnern können.« »Vielleicht fällt es mir dort ein.« »Wie in Ryerson?« Booey schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Ich möchte, daß Sie hierher zurückkommen, wenn Sie dort keinen Erfolg haben. Ich kenne eine Menge fähiger Menschen, die Ihnen helfen können.« »Wenn ich nicht mehr weiter weiß«, versprach Sherwood, und griff nach dem Zettel, den Booey sauber zusammengefaltet hatte, »dann komme ich zurück.« »Ich würde mir nicht zu viel davon versprechen. Vielleicht ist Merritville nur eine Zwischenstation
gewesen. Sie sagten, Sie wären in Los Angeles aufgewacht, mit fremden Personalausweisen.« »Es ist immerhin ein Anhaltspunkt. Ich muß die Gelegenheit wahrnehmen.« »Ich erhielt ein oder zwei Briefe von Ihnen, während Sie dort tätig waren, aber ich habe sie weggeworfen, wie es so meine Gewohnheit ist, nachdem ich sie beantwortet habe. Aber etwas bleibt mir doch immer in Erinnerung. Ich glaube, Sie erwähnten einmal, daß Sie zum Angeln an die Grand Traverse Bay gefahren wären und einen zwanzig Pfund schweren Fisch gefangen hätten. Ich freute mich noch darüber, daß Sie für solche Dinge Zeit fanden.« Booey kicherte, als ob ihm ein großes Geheimnis eingefallen wäre. »Genau wie damals, als Sie im Cristal Lake durch das Eis angelten, mitten im Winter, das hat mich eigentlich gewundert. Sie schickten mir eine Aufnahme von Ihrer Hütte – sie schrieben, man kann sie auf Kufen stellen und auf den See hinausfahren – Sie und Ihre Frau –« »Meine – Frau?« »Natürlich.« Booey wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Mein Gott, das stimmt ja auch, Sie können sich daran gar nicht erinnern.«
6 Lange Zeit saß Virginia Appleby in ihrem Bett. Die Decke hatte sie bis unter das Kinn hochgezogen und starrte in den kleinen Flur, durch den der Mann verschwunden war. Von den tausend Fragen, die ihr Bewußtsein bedrängten, war die wichtigste: Wer war der Mann? Ihr geschulter Geist machte sich sofort an die Beantwortung dieser Frage. Der Mann war nicht John Trankle. Das letzte Mal, als sie im Zimmer eines Mannes gewesen war, hatte sie sich im Zimmer von John Trankle befunden. Sie war über Nacht geblieben und hatte ihm bei seinen Aufgaben geholfen. Dann schlief sie in dem einzigen Sessel, während er sich auf den Boden gelegt hatte. Dann kam der Schmerz. Sie erinnerte sich, wie sie versucht hatte aufzustehen und John ihr geholfen hatte, in das Badezimmer zu gehen, weil ihr plötzlich schlecht geworden war. Er war so besorgt, weil sie die ganze Nacht aufgeblieben war, um ihm bei den Vorbereitungen für das Abschlußexamen zu helfen. Dann kam das Krankenhaus. »Blutuntersuchung?« hatte der Arzt gefragt. »Weiße Blutkörperchen; ungefähr fünfzehntausend.« »Die Leukozyten machen Überstunden«, hatte sie
gesagt. »Ich sollte mehr Verstand haben, als mich mit einem Medizinstudenten zu befreunden. Wo ist die Entzündung, Doktor? Blinddarm?« Der Arzt bestätigte ihre Vermutung, und sie einigten sich auf eine Operation am nächsten Morgen. Nein, dieser Mann, der eben das Zimmer verlassen hatte, war nicht John Trankle. Das war auch nicht sein Zimmer. Aus dem Kessel wirbelnder Gedanken, die ihr durch den Sinn gingen, schälte sich ein klares Bild heraus: Der Arzt hatte das Zimmer verlassen, sie konnte noch seinen weißen Kittel sehen, als er sich umdrehte und ihr zulächelte. »Haben Sie eine Verabredung?« hatte er gefragt. »Es ist jetzt kurz nach neun.« Darauf folgten eine Menge kleiner Erinnerungen in rascher Reihenfolge: Eine Krankenschwester und ein Thermometer, eine Krankenschwester und Pillen, die weiße Decke, die gelöschten Lichter. Das alles war gestern gewesen, als ihr in der Wohnung von John Trankle schlecht geworden war und man sie ins Krankenhaus brachte, wo man nach längerer Untersuchung feststellte, daß es der Blinddarm war und die Operation auf den folgenden Morgen festgelegt wurde. Diesen Morgen. Heute! Virginia warf die Decken ab. Auf ihrem Unterleib war eine Narbe. Die Operation hatte stattgefunden. Schon vor langer Zeit.
Wie lange war das her? Sie fühlte, wie ihr die Angst in die Glieder kroch. Rasch stand sie auf und griff nach dem Morgenmantel, der über einen Stuhl hing. Das Bad war gekachelt. Sie sah in den Spiegel und erschrak. Eine reife Frau stand ihr gegenüber. Sie kehrte wieder in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf das Bett. Wie war es bloß möglich, daß man ein Beruhigungsmittel nahm, einschlief und erst viel später an einem unbekannten Ort aufwachte? Das war einfach nicht möglich. Virginia schlang einen Arm um ihr Knie und wunderte sich, daß sie keine Angst hatte. Sie versuchte in die Vergangenheit zurückzugreifen und den Schleier zu lüften, aber es gelang ihr nicht. Sie sah nur immer wieder das Gesicht des Arztes, als sie ihm sagte, daß sie operiert werden wollte, dann die Krankenschwester, die ihr die Beruhigungstabletten brachte. Sie stand auf. Sie konnte nicht den ganzen Tag auf dem Bett sitzen bleiben. In der Ecke stand das Telefon. Das war die Lösung. Sie konnte Sylvia Lipscomb anrufen, ihre beste Freundin. Sie konnte auch John Trankle anrufen, oder auch die Schule. Aber was sollte sie sagen? Ich bin eben in einer fremden Wohnung aufgewacht, ich weiß nicht, wo ich bin, und ich habe eben gesehen, wie ein Mann das Zimmer verlassen hat.
Sie trat an den Apparat heran, aber er hatte keine Wählscheibe. Sie nahm den Hörer ab und horchte. »Ja?« meldete sich eine männliche Stimme. Vor Überraschung hätte sie beinahe den Hörer fallen lassen. »Ja?« meldete sich die Stimme wieder. Sie räusperte sich. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« fragte sie, weil ihr im Augenblick nichts besseres einfiel. »Viertel nach zehn. Ist Ihre Uhr stehen geblieben?« »Oh, die habe ich ganz vergessen.« Jetzt sah sie die eingebaute elektrische Wanduhr. »Ich danke Ihnen.« Mit wem hatte sie gesprochen? Als sie merkte, daß er die Verbindung noch nicht unterbrochen hatte, nahm sie die Gelegenheit wahr. Mutig fragte sie: »Welchen Tag haben wir heute?« »Tag?« »Ja.« »Mittwoch.« Es war Mittwoch abend gewesen, als sie eingeschlafen war. Kurz vor der Operation. »Ich meine das Datum«, fragte sie weiter. »Oh. Der fünfzehnte, der fünfzehnte Juli.« »Juli?« wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte. »Ja, Juli«, bestätigte die Stimme ungeduldig. »Neunzehnhundertsechsundvierzig?«
Der Mann kicherte. »Sie meinen wohl, neunzehnhundertsiebenundfünfzig?« »Natürlich.« »Ist das alles?« »Ja, danke.« Sie legte den Hörer leise auf und starrte ihn an. Elf Jahre waren eine lange Zeit, um sie zu vergessen. Sie hatte nicht geglaubt, daß es so viele sein würden. Dann war sie ja längst mit der Schule fertig. John Trankle mußte jetzt seinen Doktor haben. Sylvia würde verheiratet sein und Kinder haben. Aber was war mit Virginia Appleby? Sich selbst durfte sie nicht vergessen. Sie zog den Morgenrock enger und wandte sich dem Schrank zu, wo sie eine gestrickte Damentasche bemerkte. Die Tasche enthielt eine Brieftasche, einen Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln, die sie noch nie gesehen hatte, einen Lippenstift, Taschentuch, Füllhalter und Bleistift und eine Puderdose. Die Brieftasche enthielt einige Dollarscheine, ihren Führerschein – oder, nein. Der Führerschein gehörte ja einer anderen Frau. Einer Mrs. Morley Donn Fisher. Sie las die Personenbeschreibung; sie stimmte genau mit der ihren überein. Sie fand sich mit der Tatsache ab, daß sie Mrs. Fisher sein mußte, die in Webster, Illinois, wohnte. Sie nahm den Führerschein des Mannes aus seiner
Brieftasche. Er war offensichtlich ihr Gatte, Morley Donn Fisher. Virginia stützte beide Hände auf die Schreibtischplatte. Mit diesen Beweisen bestand kein Zweifel daran, daß sie seine Frau war. Aber sie wollte nicht seine Frau sein. Wie konnte man jemanden lieben, den man gar nicht kannte? Sie durfte nicht mehr hier sein, wenn er zurückkam. Er hatte weder seine Brieftasche noch die anderen Sachen mitgenommen, wollte also nicht lange wegbleiben. Sie mußte darüber nachdenken, mußte hier weg, um zu überlegen. Sie hatte seine Adresse und konnte sich später mit ihm in Verbindung setzen, wenn es notwendig war. Jetzt mußte sie nur möglichst schnell weg. Geld. Sie hatte nur ein paar Dollar. Wenn er ihr Mann war, dann war es kein Verbrechen, wenn sie sein Geld nahm, falls er überhaupt welches hatte. Aber sie hatte einige grüne Scheine in seiner Brieftasche gesehen. Sie nahm die Scheine aus der Brieftasche; es waren hundertdreiundachtzig Dollar. Sie durfte nicht alles nehmen, das wäre nicht richtig gewesen. Dann sah sie die Reiseschecks. Es waren achthundert Dollar, er brauchte sich also keine Sorgen um Geld zu machen. Sie nahm die hundertdreiundachtzig Dollar und steckte sie in die Tasche. Sie eilte im Zimmer umher, machte das Bett – sie
konnte es einfach nicht so zurücklassen, auch wenn es kostbare Zeit in Anspruch nahm. Dann faltete sie den Schlafanzug zusammen und legte ihn auf einen Stuhl. Sie packte ihre Kleider ein, beachtete kaum, wie sie aussahen – aber sie merkte, daß es keine billigen Sachen waren. Gern hätte sie noch ein Bad genommen, aber der Gedanke, daß Mr. Fisher sie noch hier finden könnte, war zuviel für sie. Als sie fertig war, sah sie sich nochmals in den Räumen um, nahm ihren Koffer, ging durch die Tür, die sie hinter sich ins Schloß zog, und trat hinaus in die warme Sommersonne.
7 Von der Höhe der Asphaltstraße konnte man die Appleby-Farm sehen, eine der hübschesten in ganz Nord-Illinois. Das Band der Straße führte dicht daran vorbei und verlor sich in schnurgerader Richtung im Grünen. Homer Appleby, der die Farm von seinem Vater geerbt hatte, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sie in tadellosem Zustand zu halten. Alles, was er pflanzte, war in Reihen von mathematischer Präzision angelegt. Als Virginia an diesem Julitag von der Höhe auf die Farm herabblickte, bemerkte sie sofort, daß die Ulmen so stark gewachsen waren, daß sie fast die Sicht auf das Haus versperrten. Das Taxi fuhr die Straße hinunter. Virginia konnte ihre Erregung kaum meistern. Sie hatte nicht telefonieren oder sich auf eine andere Art anmelden wollen, weil ihre Erklärung für den Besuch zu lächerlich klingen mußte und nur Komplikationen heraufbeschwören würde. Jetzt war sie nicht mehr so überzeugt davon, richtig gehandelt zu haben. Wenn ihre Eltern inzwischen gestorben waren? Oder sie konnten in die Stadt gezogen sein. Der Wagen bog jetzt in die weiße Einfahrt ein und fuhr auf den Hof. Virginia stieg aus, der Fahrer reich-
te ihr den Koffer; sie überlegte, was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie so plötzlich hereinschneite. Vorausgesetzt, daß sie noch hier wohnten. Als sie das Taxi bezahlt hatte und der Fahrer noch zögernd neben dem Wagen stand, war sie versucht, ihn zurückzuhalten, bis sie festgestellt hätte, ob jemand da war. Aber sie ließ ihn wegfahren. Dann stand sie im Hof und betrachtete das Haus. Niemand zeigte sich an den Fenstern, hier und da bemerkte sie kleine Veränderungen. Es war niemand zu Hause. Der Wagen stand nicht in der Garage. Sie setzte sich auf die hinteren Treppenstufen in die Nachmittagssonne. Schließlich bog ein neuer Wagen in die Einfahrt ein. Zuerst wollte sie sich verstecken und abwarten, wer sich in dem Wagen befand, bevor sie sich zeigte. Es wäre doch peinlich, wenn es nicht ihre Eltern wären, aber dann zwang sie sich zur Ruhe und betrachtete den glänzenden Wagen, der im Hof hielt. Als sie die vertrauten Gestalten aussteigen sah, fühlte sie sich erleichtert. Gleichzeitig war sie überrascht, wie wenig ihre Eltern in den letzten elf Jahren gealtert waren. Als die freudige Begrüßung vorbei war, gingen sie in das Haus. Sie zog beide in die Küche, zwang sie stillzusitzen, während sie erzählte. »Das kann ich einfach nicht verstehen«, sagte ihre
Mutter an einer bestimmten Stelle, und Virginia wiederholte ihre Erzählung. »Du sagst, daß du dich an nichts erinnern kannst?« fragte ihr Vater ungläubig. Sie berichtete nochmals den ganzen Hergang, wie sie in einem Krankenhaus in Chicago eingeschlafen und am nächsten Tag in einem Motel in Los Angeles erwacht war, elf Jahre später. »Du armes Kind«, bedauerte sie die Mutter; der Vater schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich habe genug Erfahrung, um zu wissen, daß es sich um eine Art von Gedächtnisschwund handelt«, erklärte Virginia. »Aber ich habe keine Angst, denn ich weiß ja, wo ich jetzt bin und auch wer ich bin, und das ist schließlich das Wichtigste. Ihr dürft deswegen nicht den Kopf verlieren. Ich weiß, ich bin Mrs. Morley Donn Fisher. Ich weiß, wie mein Mann aussieht und wo er wohnt. Ich werde zu ihm gehen, sobald ich mich mit dem Gedanken befreundet habe. Ich möchte feststellen, ob ich noch das gleiche für ihn empfinde, wie es früher gewesen sein muß. Was ich aber wissen möchte ist, was in der Zwischenzeit geschah.« Ihre Eltern hatten überraschte Blicke gewechselt und sahen jetzt weg. Virginia merkte, daß irgend etwas nicht stimmte. Wieder überfiel sie die Angst. Ihr Mund wurde plötzlich trocken, ihr Magen verkrampfte sich.
»Was ist denn?« fragte sie. »Was habe ich gesagt?« »Virginia«, sagte ihre Mutter leise, »du bist nicht Mrs. Morley Donn Fisher.« »Wir haben nie von einem Fisher gehört«, fügte ihr Vater kopfschüttelnd hinzu. »Nie von ihm gehört?« fragte Virginia; sie schrie es fast. Sie war ihrer Sache so sicher gewesen. Jetzt starrte sie die beiden an. »Du bist allerdings verheiratet«, berichtete ihre Mutter. »Du bist Mrs. Walter Sherwood. Mrs. Walter Evan Sherwood.« »Er ist Doktor«, ergänzte ihr Vater. »Neurologe.« »Aber wie ...?« Die drei saßen schweigend da, vermieden es, einander anzusehen. »Homer«, sagte die Mutter schließlich. »Hol doch mal das Bild, das auf der Kommode steht.« »Daran habe ich gar nicht gedacht.« Er stand auf. »Es ist ein Bild von euch beiden, von dir und Walter.« »Wir glauben, daß Walter sehr nett ist.« Die Stimme ihrer Mutter war voll Wärme. »Wir haben ihn nicht sehr oft gesehen. Er ist ein vielbeschäftigter Mann.« »Wann habe ich ihn geheiratet ... diesen Walter Sherwood?« »Neunzehnhunderteinundfünfzig. In Chicago.« »Hier ist die Aufnahme.« Ihr Vater war mit dem Foto zurückgekommen. »Du und Walter.«
Virginia warf einen Blick auf die Aufnahme, sie sah sich selbst und den Mann ... »Aber«, sie schluckte, »das ist er ja. Das ist Mr. Fisher.« »Das kann doch nicht sein«, widersprach ihre Mutter. »Das ist Dr. Sherwood.« Virginia betrachtete das Foto genauer, sah die ehrlichen Augen, das feingeschnittene Gesicht, den intelligenten Blick. Es konnte kein Irrtum sein, obwohl sie ihn nur einmal gesehen hatte, und da nur flüchtig. »Aber warum sollte er sich Fisher nennen? Er hatte einen Führerschein – ebenso wie ich auch.« Sie holte ihn aus der Handtasche und zeigte ihn ihren Eltern. »Es ist eine genaue Personalbeschreibung von mir, und seine muß auch stimmen.« »Das begreife ich nicht«, sagte ihre Mutter verwirrt. »Die Sache ergibt keinen Sinn.« Applebys Stimme klang irritiert. »Was hattet ihr beiden unter einem anderen Namen in Kalifornien zu tun?« »Du hast uns nicht geschrieben, daß du mit Walter verreisen wolltest. Wir glaubten euch noch in Michigan.« »Michigan?« Virginia schüttelte den Kopf. Sie war jetzt vollkommen außer Fassung. »Das wird ja immer komplizierter.« »Vielleicht sollen wir dort anfangen, wo deine Erinnerung aussetzt«, schlug die Mutter vor. »Du wur-
dest am Blinddarm operiert, und die Sache ging gut aus. Die Schule hatte uns verständigt. Wir fuhren sofort nach Chicago und besuchten dich am gleichen Abend im Krankenhaus. Du gingst doch damals zur Schule, weißt du das noch?« »Ja, daran kann ich mich erinnern. Mein Spezialfach war Bakteriologie.« »Deine Noten waren sehr gut. Sie haben dich im Juni zur Schlußprüfung zugelassen, noch bevor die Sommerkurse anfingen. Dann bist du über den Sommer nach Hause gekommen.« Mrs. Appleby warf einen Blick auf ihren Mann. »Ist Virginia auch im nächsten Sommer nach Hause gekommen? Kannst du dich noch erinnern?« »Mal sehen.« Appleby runzelte die Stirn. »Es war im Sommer neunzehnhundertachtundvierzig, als sie in Chicago blieb, im darauffolgenden Sommer war sie also hier.« »Nach deiner Entlassung hattest du neunzehnhundertsiebenundvierzig eine Stelle am Wright Memorial-Krankenhaus angenommen«, fuhr Mrs. Appleby fort. »Du warst dort ganz glücklich und zufrieden. Bei deinem Ausscheiden nach drei Jahren warst du Chef-Bakteriologin. Man hat dort deinen Weggang sehr bedauert.« »War das, als ich geheiratet habe?« Mrs. Appleby nickte. »Wir mußten deinem Mann
lange zureden, bis er sich etwas mehr Zeit dazu nahm. Ich habe nie einen so vielbeschäftigten Mann gesehen. Er wollte nur eine Ziviltrauung.« »Ein komischer Mann, dein Walter«, sagte ihr Vater. »Man unterhält sich mit ihm, und es scheint, als ob er zuhört, aber seine Gedanken sind unendlich weit weg. Er hat seine Gedanken immer woanders.« »Aber er ist nicht verletzend«, beeilte sich Mrs. Appleby zu versichern. »Er hat nur so viel im Kopf. Er hat uns manchmal von seiner Arbeit erzählt, aber davon haben wir nichts verstanden. Aber du hast es verstanden, und du hast ihn vergöttert.« »Habe ich das?« fragte Virginia, der diese Seite ihres Wesens unbekannt war. »Er war gerade der richtige Mann für dich«, versicherte ihr Vater. »In ihm hattest du einen Mann gefunden, der alle deine Fragen beantworten konnte.« »Und ich wußte nicht einmal, wer er war«, sagte Virginia nachdenklich. »Als ich aufwachte, war er einfach da, fertig angezogen und zum Ausgehen bereit, und ich wußte nicht, wer er war. Wenn ich mir vorstelle, daß ich ihm davongelaufen bin.« »Ich würde das nicht so tragisch nehmen. Er wird sich schon melden«, meinte der Vater. »Das wird er bestimmt«, beruhigte die Mutter. »Ich weiß nicht.« Er hatte von Montag bis Mittwoch Zeit gehabt, ihre Eltern anzurufen. Warum hat-
te er es nicht getan? Ein Mann, der seine Frau sucht, hätte sich doch bestimmt schon mit ihren Eltern in Verbindung gesetzt. Oder war das ein anderer Teil dieses Geheimnisses? Ein Teil dieses anscheinend unlösbaren Rätsels? »Du sagst, wir seien nach Michigan umgezogen?« »Das kam ganz plötzlich, so gegen Ende neunzehnhunderteinundfünfzig. Nicht wahr, Homer?« Appleby nickte. »Wir wollten zu Weihnachten nach Chicago kommen, weil ihr im Jahr zuvor bei uns gewesen seid. Aber dann hast du uns geschrieben, daß ihr nach Michigan geht.« »Er bekam dort einen Forschungsauftrag. Hat nie viel darüber gesprochen.« »Es war für die Regierung. Wir waren dreiundfünfzig mal dort, nicht wahr, Mutter? Eine nette, kleine Stadt, dieses Merritville.« »Merritville, Michigan. Es klingt, als hätte ich nie davon gehört.« »Es hat dir dort sehr gut gefallen. Du hattest eine Stellung, die deinen Kenntnissen entsprach. Es war am gleichen Ort, wo auch Walter beschäftigt war. Aber ich glaube, du hast nicht immer gearbeitet.« »Das war eben das Problem.« Appleby fühlte den warnenden Blick seiner Frau auf sich gerichtet. »Problem?« fragte Virginia. »Gar kein Problem«, beruhigte sie ihre Mutter.
»Walter war so beschäftigt, daß wir nicht viel von ihm gesehen haben, auch nicht, wenn wir dort waren. Du warst etwas unglücklich. Du weißt doch, wie es ist. Mir ging es manchmal auch so, wenn dein Vater den ganzen Tag auf den Feldern war und jahrein, jahraus die gleiche Arbeit verrichtete und ich auch nur die ewig gleiche Beschäftigung hatte. Du warst der Ansicht, daß er nicht genug Zeit hatte für dich. Ein Mann hat eben seinen Beruf, und das Leben ist noch immer ideal. Und selbst wenn es so wäre, würde man immer noch Grund zur Klage finden.« »Hatten wir keine Kinder?« »Nein, Virginia. Ihr hattet keine Kinder.« »Er hatte keine Zeit, dein Walter«, erklärte Appleby kichernd. »Homer!« »Well«, brummte er. »Ich glaube, er nahm alles viel zu ernst. Vergrub sich in seine Arbeit. Wenn ich hier auf der Farm so arbeiten wollte wie er, dann würdest du mich tagelang nicht sehen.« »So ist das eben manchmal mit einer wissenschaftlichen Arbeit«, sagte Virginia, um das Verhalten eines Mannes zu entschuldigen, den sie gar nicht kannte. »Ich kenne eine Menge Leute, die ganz in ihrem Beruf aufgehen.« »Was hast du jetzt vor, Virginia?« fragte die Mutter. »Hast du einen bestimmten Plan?«
»Plan?« Virginia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich dachte, daß alles geklärt werden würde, wenn ich hierherkäme, aber ich muß einsehen, daß gar nichts geklärt ist. Bis hierher konnte ich mich zurechtfinden, aber das ist auch alles.« »Vielleicht kann ich Homer überreden, dich nach Merritville zu bringen. Es gefällt ihm dort oben. Vielleicht könnten wir jemand finden, der sich inzwischen um die Farm kümmert.« »Nein, wenn ich nach Merritville fahre, dann fahre ich allein.« »Hältst du das für richtig?« »Ich bin ja auch bis hierher allein gekommen. Eigentlich fehlt mir nichts. Es ist nur, als ob ich wieder zweiundzwanzig wäre. Wenn ich mit zweiundzwanzig reisen konnte, dann kann ich es jetzt auch, selbst wenn ich mich nicht erinnern kann, was inzwischen geschehen ist.« »Was wird aber mit Dr. Sherwood?« Darauf fand Virginia keine Antwort. Sie wußte, was ihre Mutter damit sagen wollte. Sie würde in ihm wahrscheinlich nur einen Fremden sehen. Auf diese Frage aber wußte sie keine Antwort.
8 Die fünfhundert Einwohner von Merritville sahen sich gezwungen, ihre zwei Häuserblocks lange Geschäftsstraße mit Tausenden von Fremden zu teilen, die ihre Sommerferien an den Seen und in den Sommerwohnungen verbrachten. Hinzu kamen noch die Durchreisenden, die sich hier nur über Nacht aufhielten, wenn sie von einem Ausflugsziel zum anderen fuhren. In Merritville blühte das Geschäft, die Fische bissen angeblich gut an – die Besitzer der Sommerheime waren mit dem Gerücht ganz zufrieden –, es gab viel zu sehen, und man konnte in diesem Ferienland eine Menge unternehmen. Wo sie nur alle herkommen mochten? Darum war Walter Sherwood so überrascht über das rege Treiben in Merritville, als er hinkam. Hatte er doch ein verträumtes kleines Städtchen erwartet, wie Webster in Illinois. Der Ort war so überfüllt, daß er an der Hauptstraße keinen Parkplatz fand. Er wollte dort halten, um sich nach der Walnut Street zu erkundigen. Er fuhr weiter, bis er zum Kino kam. Unterwegs suchte er nach Straßenschildern, fand aber nichts. Hinter dem Drive-In war der Ort zu Ende, er kehrte um, hielt an einer Tankstelle am Rand des Ge-
schäftsviertels und erkundigte sich nach der Walnut Street. »Walnut Street?« wiederholte der Tankwart. »Das ist die Straße westlich von hier. Sie können sie gar nicht verfehlen.« Dann warf er einen raschen Seitenblick auf Sherwood, blinzelte und zog das Genick ein. »Sind Sie nicht einer von den Leuten aus der Klinik?« »Klinik?« »Ja, Sie wissen doch, die Klinik, die fünf Kilometer außerhalb der Stadt gebaut wurde.« Und als ihn Sherwood verständnislos anstarrte, fügte er hinzu: »Schlessengers Klinik.« »Sie haben ein gutes Gedächtnis«, bemerkte Sherwood kurz. »Ich dachte mir doch, ich hätte Sie schon gesehen. Ich vergesse nie ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe.« Sherwood fuhr in der angegebenen Richtung nach Westen und bog in die unbezeichnete Straße ein. Dort fand er auch die Nummer 347. Es war ein altes Gebäude, das sich kaum von den anderen Häusern der Straße unterschied. Die Holzwände waren weiß gestrichen und sahen noch ziemlich neu aus. Von der Straße führte ein mit Ziegelsteinen gepflasterter Weg zur Veranda, die nach vorn hin offen war. Er ging auf das Haus zu, als ihn ein alter Mann anrief, der auf der Veranda des Nebenhauses saß.
»Wieder zurück in der Stadt, Doktor?« Sherwood blieb stehen. Er wußte nicht, was er antworten sollte. »Man hat mir erzählt, sie hätten aufgehört, da draußen.« Das Kichern des Mannes drang über den Rasen. »Da sieht man wieder, daß man nicht alles glauben darf. Hab ich nicht recht?« Sherwood sagte nur: »Sie haben recht.« Er hoffte, das würde ihn zum Schweigen bringen, aber der andere war nicht so schnell zufriedengestellt. »Wie geht es Ihrer Frau?« »Gut«, sagte er nur, und als er weiterging, richtete er ein Stoßgebet zum Himmel, daß es auch so wäre. Warum hatte sie ihn in dem Motel verlassen? Dr. Booey hatte ihm versichert, daß es nicht ihre Art sei, ihn einfach sitzenzulassen. Und John Trankle, der Arzt, der ihm das Bild gegeben hatte, auf dem er sie wiedererkannte, war voll des Lobes gewesen, was sie für eine tüchtige Frau sei. Er versuchte mehrere Schlüssel, bevor er den passenden fand. Dann schloß er die Tür auf und betrat das kühle Innere des Hauses. Als er von dem kleinen Vorraum ins Wohnzimmer ging, fiel ihm der muffige Geruch auf, den man in Häusern findet, die über den Sommer unbewohnt sind. Er bemühte sich, ihre Sachen nicht zu sehen – die Sachen der Frau, die sechs Jahre seines Lebens mit ihm geteilt hatte. Er fand, daß
das Haus ungefähr so aussah, wie man es sich von außen betrachtet vorstellte, sehr alt, zierlich, aber gemütlich und hübsch eingerichtet. Er fragte sich, ob er das Haus nur gemietet habe oder ob es ihm gehörte. Soweit war alles ganz schön, dachte er. Er war ziemlich weit gekommen. Von Los Angeles bis hierher. Ich habe erfahren, daß ich am Midwest College war, dann an der Ryerson Medical School, wo ich einen Mann namens Booey kannte – wie war nur gleich sein Vornamen? Ich habe fleißig gearbeitet, hatte lauter gute Noten und habe eine Stellung in Schlessengers Institut in Merritville, Michigan, angenommen. Ich bin verheiratet mit einer Frau namens Virginia, und wir wohnen hier in diesem Hause. Was kommt jetzt? Welchen Teil soll ich jetzt klären? Das Institut. Andrew Schlessenger heißt er, wie Dr. Booey sagte. Andrew Schlessenger. Vielleicht ist Virginia dort. Beinahe hätte er Schlessengers Institut übersehen, als er in westlicher Richtung die Stadt verließ. Er hatte das moderne Gebäude an seiner Rechten für ein Motel gehalten. Es war Schlessengers Institut. Er fand eine Seitenstraße, wendete und fuhr wieder zurück. Er betrachtete den zeitgemäßen Steinbau, der
zum Teil aus Holz und Ziegeln bestand. Es war ein langes, niedriges Gebäude mit überhängendem Dach. Das Bauwerk hatte nichts von der Strenge, die er erwartet hatte. Weil die Straße etwas höher lag, hatte er einen guten Überblick. Das Gebäude war größer als er vermutet hatte. Der Flügel des L-förmigen Baues reichte weit ins Gelände hinein. Er bog in die betonierte Auffahrt ein, parkte den Wagen neben drei anderen und betrat das Gebäude. Er gelangte unmittelbar in einen elegant möblierten und mit dicken Teppichen belegten Warteraum. Seine Anwesenheit mußte bemerkt worden sein, denn eine Frau öffnete eine gepolsterte Tür und sah ihn fragend an. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Dr. Sherwood!« Er bemerkte, daß sie sich aufrichtig freute, ihn zu sehen. »Ich habe kaum gehofft, Sie wieder zu sehen.« »Das gilt wohl für beide Teile.« Er nahm ihre Hand. Sie war kühl. »Sie sollten Bescheid geben, wenn Sie kommen, Doktor. Sie haben mich richtig erschreckt.« Sie machte eine leichte Kopfbewegung, als ob ihr eingefallen wäre, daß jemand hinter ihr war. »Dr. Schlessenger wird nicht schlecht überrascht sein, wenn er Sie sieht!« »Er ist also hier?«
»Natürlich. Wo dachten Sie denn, daß er wäre?« Sie lachte ein wenig. Ihre Augen waren ohne Arglist. Sie standen sich etwas hilflos gegenüber. Die Frau strahlte offene Freundlichkeit aus und wartete, daß er etwas sagte. »Wollen Sie nicht die Vorhut übernehmen«, schlug er lächelnd vor. »Vielleicht wollen Sie ihn auch überraschen.« »Oh, er wird sowieso überrascht sein.« Er blieb an ihrer Seite, als sie auf die Tür zuging, durch die sie gekommen war. »Wir waren alle beunruhigt, als Sie so plötzlich verschwanden.« »Das tut mir leid.« Jetzt waren sie in einem kleinen Büro, das offenbar der Frau gehörte. Sie blieb stehen, bevor sie an die nächste Tür klopfte. »Ja«, hörte man eine Stimme. Sie öffnete die Tür. Über ihre Schulter hinweg konnte er ein gerötetes Gesicht erkennen, einen gepflegten blonden Schnurrbart, athletische Schultern, glattes, blondes Haar und helle blaue Augen; dies alles gehörte zu einem Mann, der hinter einem massiven Schreibtisch saß. »Dr. Sherwood ist wieder da«, sagte sie einfach und ließ ihn eintreten. »Sherwood?« Der Mann bewegte sich etwas auf seinem Stuhl, um ihn besser sehen zu können. »Es ist
tatsächlich Sherwood! Was, zum Teufel, tun Sie denn hier?« Er stand auf und kam mit langsamen Schritten über den teppichbelegten Boden auf Sherwood zu. Er streckte ihm die Hand hin. Eine kräftige Hand, dachte Sherwood, als er sie schüttelte. »Sie haben sich also entschlossen, zurückzukommen?« »Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte die Frau. »Er ist einfach hereinspaziert.« Sie schloß die Tür hinter sich, als sie hinausging. Schlessenger führte ihn zu einem Ledersessel neben dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz«, sagte er, während er sich in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch setzte. »Sie hätten uns von Ihrer Ankunft verständigen können.« »Ich wußte nicht, wie ich empfangen werden würde«, sagte Sherwood. Schlessenger war einige Jahre älter als er, etwas über vierzig. Er sah gut aus. »Schlessengers Institut ist human«, versicherte er. »Es übersieht die menschlichen Schwächen seiner Angestellten. Am wenigsten nachsichtig bin ich gegen mich selbst, wie Ihnen jeder sagen kann, der mich kennt.« Er hustete, als ob er diese Bemerkung besonders hervorheben wollte. »Vielleicht werden Sie auch einmal ein Forschungsinstitut leiten. Dann wissen Sie erst, was das für eine Verantwortung ist. Was hat Sie nach Merritville zurückgeführt? Wollen Sie wieder hier arbeiten?«
»Ich habe nur eine Spur verfolgt, Doktor.« »Eine Spur? Nun, Sie haben eine Menge Spuren hinterlassen, als Sie plötzlich ihre Stellung aufgaben, Walter. Männer wie Sie kann man nicht so leicht ersetzen.« Die Warnung in seiner Stimme war unverkennbar. Er fuhr fort: »Aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich gekränkt gewesen wäre. Kein Mitarbeiter des Schlessenger-Instituts ist unersetzlich.« Er lachte kurz auf. »Außer mir natürlich.« Schlessenger erhob sich aus seinem Drehstuhl und ging an einen Wandschrank. Als er ihn öffnete, kam ein Vorrat alkoholischer Getränke zum Vorschein. »Ich nehme an, daß es Ihnen schwergefallen ist, allein weiterzukommen. Forschungsleute brauchen eine gute Führung.« Als Sherwood keine Antwort gab, fuhr er fort: »Wahrscheinlich überlegen Sie, ob Ihre Stelle bereits besetzt ist. Nun, sie ist noch offen. Ich habe nämlich angenommen, daß Sie wiederkommen würden.« Er kam und reichte Sherwood ein Glas. »Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, daß sich nichts geändert hat. Black pflegt noch immer seine Parasiten. Rayburn züchtet weiterhin widerspenstige Mäuse und schickt jeden neuen Wurf in die Ewigkeit. Cox, Wilhelm und Henneberry sind auch noch beschäftigt. Das sind natürlich keine Neuigkeiten für Sie, aber fragen Sie mich nach Einzelheiten. Sie wissen, daß es
nicht meine Gewohnheit ist, die Arbeit eines Mannes mit einem anderen zu besprechen.« Sherwood kostete das Getränk. Es war guter Scotch. In Anbetracht des untadeligen Aussehens des Doktors und des Büros mußte der Whisky gut sein. Er wollte laut herausschreien: sag etwas von Bedeutung! Ich hatte mich darauf verlassen, daß du mir hilfst, wieder zurückzufinden, aber du bringst mich immer weiter ab. »Wollen Sie, Walter?« »Was soll ich wollen?« »Wieder hier arbeiten.« Sherwood rutschte unruhig in seinem Ledersessel hin und her. Er wußte, daß er das ganze Frage- und Antwortspiel wiederholen mußte, und war nicht sehr erbaut davon. Wo sollte er anfangen? »Haben Sie Sorgen?« erkundigte sich Schlessenger. Sherwood nickte. »Offen gestanden, ja.« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ich habe Sie in meinem ganzen Leben nie gesehen.« Schlessengers Gesicht wurde ausdruckslos. Er beugte sich vor, stellte sein Glas auf den Schreibtisch und sah ihn an. »Was sagen Sie da?« »Ich sagte, daß ich mich nicht erinnern kann, Sie jemals gesehen zu haben. Ich kenne Sie nicht, und ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Schlessenger hielt den Atem an. »Was ist bloß los mit Ihnen, Walter?«
»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß ich mich an nichts erinnern kann.« »Aber Sie müssen sich doch erinnern.« Sherwood schüttelte den Kopf. »Ich kann mich an nichts in den letzten elf Jahren erinnern. Ich habe den Weg zurückverfolgt, bin einer Spur nachgegangen, wie ich schon sagte, und diese Spur führte mich hierher. Was können Sie mir über Walter Sherwood sagen, Dr. Schlessenger? Ich weiß nur, daß ich neunzehnhunderteinundfünfzig hier zu arbeiten anfing. Das ist alles. Was geschah weiter?« Schlessenger starrte ihn an. »Walter«, sagte Schlessenger mit erstickter Stimme. »Ich –« Sein Gesicht wurde hart. »Walter, ich habe keine Zeit für Scherze«, sagte er barsch. »Ich auch nicht, Doktor.« »Aber elf Jahre, Walter, das ist doch unvorstellbar.« »Es ist trotzdem wahr. Ich bin am siebzehnten Juli in Los Angeles aufgewacht und kann mich an nichts erinnern, was vorher war, erst vom fünfzehnten Mai sechsundvierzig, rückwärts gesehen, ist meine Erinnerung intakt. Das ist die ganze Geschichte.« Schlessenger sah ihn überrascht an. »Der siebzehnte Juli, das war doch erst letzte Woche.« »In der vergangenen Woche habe ich fünf Jahre durchlebt.« »Aber –« Schlessengers Gesicht war blaß gewor-
den. Er konnte nur mit Mühe weitersprechen. »Walter, am zehnten Juli waren Sie im Coronado Motel. Sie haben dort die Nacht verbracht. Wollen Sie sagen, daß –« »Das ist Ihnen bekannt?« »Natürlich. Wir übernachteten alle in dem Motel. Können Sie sich nicht erinnern? Sie, Ihre Frau und ich. Wir wollten zu der Tagung in Santa Barbara. Wollen Sie mir sagen, daß Sie sich wirklich nicht erinnern können?«
9 »Ich erwähnte bereits, daß ich mich nicht erinnern kann«, sagte Sherwood gereizt. »Natürlich, aber –« Schlessenger sah ihn an, als ob er ihn bitten wollte, den Unfug zu beenden. »Walter, ich –« »Was war in dem Motel los?« bohrte Sherwood weiter. Schlessenger stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hatte das Zimmer neben Ihnen und –« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja lächerlich.« »Was war mit der Tagung?« »Ich fuhr hin. Sie sind nicht gekommen.« »Warum?« Schlessenger runzelte die Stirn. Er stand mit dem Glas in der Hand auf und wanderte langsam im Zimmer herum. Vorsichtig suchte er nach Worten. »Walter, ich habe eine mehr als zwanzigjährige Ausbildung hinter mir, habe Tausende von Büchern gelesen, wurde von Hunderten von Wissenschaftlern zu Rate gezogen und leite jetzt ein Forschungsinstitut. Aber eine so unwahrscheinliche Sache ist mir noch nicht untergekommen. Amnesie ist zwar nicht mein Gebiet, aber ich bilde mir ein, daß ich auch von anderen Gebieten etwas verstehe, einschließlich Psychia-
trie, und ich muß sagen, daß Ihr Fall schon recht ungewöhnlich ist. Was ihn so unglaublich macht, ist, daß Sie doch so eng verbunden waren mit dem Institut und auch mit mir, und jetzt –« er wandte sich an Sherwood, »jetzt sitzen Sie mir fremd gegenüber.« »Warum bin ich nicht zu dieser Tagung gekommen?« Schlessenger zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüßte es. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen.« Er ging wieder an den Schreibtisch. »Ich sage Ihnen alles, was ich weiß. Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, wenn Sie sich wirklich nicht erinnern.« Er setzte sich, stellte sein Glas auf den Schreibtisch, die Ellbogen hatte er auf die Schreibtischplatte gestützt, seine Finger berührten das Gesicht, während er auf die gegenüberliegende Wand starrte. »Wir sind alle zusammen in Ihrem Wagen gefahren. Sie, Ihre Frau und ich. Wir nahmen uns Zeit, hielten sogar am Grand Canyon, den Mrs. Sherwood noch nicht gesehen hatte.« Schlessenger wandte sich ihm zu. »Sie waren ungewöhnlich schweigsam, Walter, und etwas aufgeregt. Ich kann mich erinnern, daß ich mir darüber Sorgen machte! Vielleicht bereitete sich das kommende Unheil bereits damals vor, vielleicht hätte ich damals schon etwas unternehmen sollen, aber ich hatte andere Dinge im Kopf – vor allem die Tagung.
Als wir nach Los Angeles kamen, schlugen Sie vor, in Eagle Rock zu bleiben, weil Sie früher dort gewohnt hätten. Ich hatte nichts dagegen, obwohl wir am gleichen Tage Santa Barbara hätten erreichen können. Aber es gab keinen zwingenden Grund. Wir blieben also in Coronado. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen würde.« »Was ist geschehen?« »Sie haben mich um zwei Uhr nachts geweckt. Ich ging zur Tür, und Sie standen draußen – mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. Ich muß zugeben, daß ich etwas unsicher war. Ich wurde aus dem Schlaf geweckt, und ich nahm an, daß Sie und Ginny gebummelt hätten. Allerdings hätte ich das besser wissen sollen. Ich wußte es auch, als ich sah, daß sie Ihren Morgenmantel trugen und vollkommen nüchtern waren. Ich bat Sie herein und fragte, was los sei. Sie setzten sich und sagten mir, daß Sie kündigen wollten. Ganz ohne jeden Grund. Sie erwähnten nur, daß Sie die Forschungsarbeit aufgeben wollten. Ich war natürlich schockiert. Ich fragte, warum und weshalb. Sie sagten nur, daß Sie das schon geplant hätten, seit Sie im Institut waren, und jetzt hätten Sie sich eben entschlossen. Ich versuchte es Ihnen auszureden, aber Sie blieben bei Ihrem Vorsatz. Ich schlug vor, sich die Sache nochmals zu überlegen oder Urlaub zu nehmen, aber Sie sagten nur, daß Sie sich fest
entschlossen hätten und sofort aus dem Institut ausscheiden wollten.« »Habe ich denn keinen Grund angegeben?« Schlessenger schüttelte betrübt den Kopf. »Ich wollte Sie zur Vernunft bringen, aber Sie waren so verbohrt, daß ich nichts mit Ihnen anfangen konnte. Ich fragte Sie auch, ob Ihre Frau damit einverstanden sei. Sie bejahten. Ich war aber nicht damit zufrieden, bis Sie Mrs. Sherwood herüberbrachten. Sie war über die ganze Sache noch mehr aufgeregt als Sie. Aber sie stand auf dem Standpunkt, daß es an Ihnen wäre, darüber zu entscheiden, und weil sie Ihre Ansichten kannte, wollte sie sich nicht einmischen. Sie war offensichtlich genauso besorgt um Sie wie ich auch. Warum Sie gewartet haben, bis wir in Los Angeles waren, um mir eine solche Sache zu erzählen, werde ich nie begreifen.« »Sie haben dann meine Kündigung angenommen?« »Was hätte ich sonst tun können? Ich habe es immer wieder erlebt, daß man nichts mit Menschen anfangen kann, wenn sie ihr Herz und ihren Verstand bei anderen Dingen haben. Wir saßen lange da und stritten uns herum, es kam sogar zu Schimpfworten, aber nicht zu einer Änderung Ihres Vorsatzes.« »Haben Sie denn nicht versucht, uns am anderen Morgen zu sprechen?« »Offen gestanden, ich wurde immer wütender, je
länger ich darüber nachdachte. Ich habe diese Nacht nicht mehr viel geschlafen, und als es Tag wurde, habe ich mich nicht mehr um euch gekümmert, mietete einen Wagen und fuhr nach Santa Barbara. Als Sie das Zimmer verließen, nachdem Sie gekündigt hatten, war die Sache für mich erledigt. Ein sauberer Trennungsschnitt, und die ganze Angelegenheit ist vergessen, ohne jede Beschuldigung oder Entschuldigung. Sie wollten es so haben, und ich habe Ihnen den Willen gelassen.« »Ich verstehe.« Jetzt war der Faden angeknüpft. Von Eagle Rock über Midwest nach Ryerson, dann weiter nach Merritville und wieder nach Eagle Rock. Und das Ergebnis war gleich Null. Sherwood hatte gehofft, daß seine Erinnerung plötzlich wieder da sein würde, wenn er die Ereignisse der letzten elf Jahre rekonstruierte. Aber alles blieb genauso leer wie zuvor. Er wußte nur, was man ihm erzählt hatte, aber sein eigenes Erinnerungsvermögen wurde dadurch nicht angeregt. Er spürte auch nicht das geringste Anzeichen einer wiederkehrenden Erinnerung. Schlessenger hatte ihn beobachtet. »Seien Sie nicht so niedergeschlagen, Walter. Es ist meine Überzeugung als Arzt, daß Ihre Amnesie nicht ewig dauern wird.« »Wenn ich das nur sicher wüßte«, sagte Sherwood verdrossen.
»Sie dürfen davon überzeugt sein, denn ich bin es ja auch. Offenbar war Ihr erregter Zustand dafür verantwortlich. Mit der Kenntnis der Vorgeschichte sollte es jedem Psychiater möglich sein, die Trennwand zu Ihrer Erinnerung niederzureißen. Das wird ja jeden Tag gemacht.« »Ich glaube nicht, daß es so leicht ist.« »Widersprechen Sie nicht. Das mag ich nicht. Ich weiß nämlich ganz genau, wovon ich spreche, und ich sage Ihnen, daß in solchen Fällen ein Erfolg möglich ist. Die Sache in Los Angeles war der letzte Anstoß, der den Stein ins Rollen brachte. Man kann ein Gummiband dehnen, dann wird es dünner, aber man darf es nicht übertreiben, sonst reißt es. Und das war bei Ihnen der Fall, Walter. Amnesie ist nicht tödlich. Es ist nur ein Symptom eines tiefer liegenden Leidens. Sie brauchen eine entsprechende Behandlung, und ich rate Ihnen, es nicht länger hinauszuschieben. In Detroit gibt es einige tüchtige Ärzte.« »Ich dachte, wenn ich nach Merritville käme, würde es mehr helfen als jede Behandlung. Aber es hat gar nichts geholfen.« »Natürlich nicht. Sie brauchen erfahrene Hilfe. Sie selbst können gar nichts tun, glauben Sie mir. Ich bin überzeugt davon, daß Ihre Frau genauso denkt. Wie geht es übrigens Mrs. Sherwood?« »Ich habe sie nicht gesehen.«
»Nicht gesehen?« »Seit die ganze Sache anfing.« »Hat sie Sie verlassen?« »Ja. Es hat keinen Zweck, darauf einzugehen.« »Ich hätte nie geglaubt, daß sie dazu imstande wäre.« Seine Augen wurden ganz schwarz vor Empörung. »Ich glaubte, sie sei eine wunderbare Frau. Und nun hat Sie sie in einem solchen Augenblick verlassen. Gerade als Sie sie am dringendsten brauchten. Haben Sie denn keine Ahnung, wo sie ist?« »Nicht die geringste. Ich nahm an, sie wäre nach Merritville zurückgekommen.« »Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, wo sie hinging? Das war grausam. Dafür gibt es keine Entschuldigung.« Die Tür, durch die Sherwood gekommen war, wurde plötzlich geöffnet. Beide Männer starrten auf die Frau, die dort stand. »Oh«, sagte sie, »ich – ich wußte nicht – Miss Lawson war nicht da und –« »Wo ist sie denn?« Schlessenger stand auf. »Entschuldige, Andrew«, sagte die Frau, dann nickte sie Sherwood freundlich zu. Sherwood nickte ebenfalls. Es war sonderbar, wie diese Frau ihn ansah. Sie wandte den Blick erst ab, als Schlessenger sagte: »Georgia, Dr. Sherwood und ich –« »Ich verstehe«, sagte sie, »ich hätte nicht so herein-
platzen dürfen.« Sie ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu, wobei sie ängstlich bemüht war, ihren Blick von Sherwood abzuwenden. »Meine Frau.« Schlessenger zeigte seufzend auf die Tür. »Sie kennen sie, und wenn ich Sie vorgestellt hätte, wäre eine Erklärung notwendig gewesen ... und ich weiß nicht, ob Sie Wert darauf legen, daß es bekannt wird –« Seine Stimme verlor sich in einem Murmeln. »Schon gut.« Sherwood teilte plötzlich Schlessengers Verlegenheit, ohne zu wissen warum. »Möchten Sie Ihr Labor sehen?« fragte Schlessenger unvermittelt. »Vielleicht erinnern Sie sich an einiges.« »Ja, gern.« Sherwood stand auf. »Aber ich fürchte, es wird genauso sein wie mit allen anderen Dingen: vollkommen fremd.« »Es wird so sein, wenn Sie schon von vornherein davon überzeugt sind.« Schlessenger führte ihn durch eine Tür. »Sie müssen daran glauben, daß Ihre Erinnerung wieder zurückkommt, sonst werden Sie nie geheilt. Es ist immer so, daß man erst hier einen Schimmer bemerkt, dann dort einen, und plötzlich ist die Erinnerung da, und alles ist Ihnen klar im Gedächtnis.« Sie gingen einen breiten hellen Gang entlang, an Türen vorbei mit Namen: Dr. Anthony Black, Dr. Robert Rayburn, Dr. Hermann Wilhelm und andere. Dann kamen sie an eine Tür mit dem Namen Dr.
Walter Evan Sherwood. Schlessenger schloß die Tür auf und schaltete das Licht ein, obwohl es eigentlich überflüssig war, weil das Tageslicht durch die Fenster an der gegenüberliegenden Wand hereinfiel. »Das wäre es«, sagte Schlessenger. »Können Sie sich erinnern?« Beide Männer standen schweigend da. Sherwood betrachtete die glitzernden Instrumente, die Reihen der Apparate, alles fremde Dinge. Er fühlte, wie Schlessengers Blick auf ihm ruhte. »Nun?« fragte Schlessenger hoffnungsvoll. »Nichts!« Sherwood sagte es mit kräftiger Stimme. »Ich fürchte, es sagt mir nichts; ich wüßte nicht, wo ich hier anfangen sollte.« »Ich bekomme einen hohen Zuschuß von der National Science Foundation, um Forschungen durchzuführen, die mir wichtig erscheinen«, erklärte ihm Schlessenger. »Ich habe Sie unter vielen anderen Bewerbern ausgewählt, weil ich über Ihre Arbeit viel gehört habe. Ich habe auch einige Ihrer Abhandlungen gelesen. Sie waren ein Individualist, und das war genau das, was ich suchte. Einen Mann mit Einbildungskraft und Mut. Sie richteten sich nicht viel nach althergebrachten Regeln und Tatsachen. Sie steuerten unbeirrbar auf Ihr Ziel los. Ich habe es keinen Augenblick bedauert, daß ich Sie in mein Institut holte. Ich habe Ihnen vollkommen freie Hand gelassen.«
»Welche Art Forschung habe ich denn betrieben?« Schlessenger zuckte die Achseln. »Sie hatten mehrere Eisen im Feuer. Ich weiß nicht genau, mit welchem Projekt Sie sich befaßten, als sie weggingen.« »Ich hatte also mehr als eine Sache in Bearbeitung?« »Wenn Sie einer Sache überdrüssig wurden, beschäftigten Sie sich mit der nächsten.« »Hatte ich denn kein Projekt, das ich für besonders wichtig hielt?« Der Doktor sah ihn ausdruckslos an. »Ja, aber das ist ziemlich kompliziert, Walter. In Ihrem gegenwärtigen Zustand glaube ich –« »Ich werde versuchen, es zu begreifen.« »Es würde Ihnen nicht gelingen, Walter.« Sherwood grinste. »Aber es kann nichts schaden, wenn Sie es mir erzählen.« »Nun –« Schlessenger errötete. »Sie haben Ihre ganze Ausbildung vergessen, es ist albern, es auch nur zu versuchen, aber wenn Sie darauf bestehen –« Er setzte sich auf eine der Bänke. »Dort drüben«, er zeigte auf einen Teil des Raumes, wo sich eine Maschine befand, die wie ein Radio aussah und die halbe Wand einnahm. Darüber befand sich ein Fenster, das in einen anderen Raum führte, »das ist ein Elektroencephalograph. Daneben steht ein Toposkop; diese Vorrichtung mit den Kathodenstrahlenröhren, die
von oben betrachtet die Form eines Schädels hat. Sie haben mit beiden gearbeitet, um die Kortax anzuregen und auf das Sensorium und die verschiedenen Gyrien einzuwirken. In diesem Bereich wollten Sie die Wirksamkeit des Elektronenstroboskops feststellen, indem Sie die gewünschte paroxismale cerebrale Dysrhytmie herstellen. Können Sie mir folgen?« »Nein«, sagte Sherwood. Er fühlte, wie die Wut in ihm aufstieg, denn Schlessenger hatte seine Ausführungen absichtlich in technischer Sprache gehalten. »Ich verstehe überhaupt nichts.« »Ich sagte Ihnen ja, daß Sie es nicht verstehen würden.« »Sie hätten es verdammt einfacher erklären können.« »Das hätte ich tun können«, antwortete Schlessenger spitz. »Aber ich sehe nicht ein, weshalb.« Dann fuhr er fort: »Es wird Ihnen früh genug wieder einfallen.« »Glauben Sie?« »Gewiß.« Schlessenger ging zur Tür. »Wollen Sie jetzt gehen?« »Ja, gehen wir.« Sherwood sah sich noch einmal um, dann folgte er Schlessenger. Er sah einen Safe in der Ecke, und wollte sich eben darüber erkundigen, als Schlessenger bereits die Tür zuzog. »Ich würde Sie den anderen vorstellen, aber die sind jetzt alle bei der
Arbeit«, sagte er, während sie den gleichen Weg zurückgingen, den sie gekommen waren. Als sie wieder im Büro waren, griff Schlessenger den Faden erneut auf. »Ihr Leiden ist ein klassischer Fall von Amnesie, Walter, und ich möchte, daß Sie sich so rasch als möglich behandeln lassen. In diesem Zustand können Sie hier nicht arbeiten.« Sherwood stützte sich auf den Besuchersessel. Schlessenger hatte sich wieder hinter den Schreibtisch gesetzt. »Mir ist eben etwas eingefallen, Doktor.« »Was ist es?« »Morley Donn Fisher. Ich habe einen Führerschein, der auf diesen Namen lautet und meine Personalbeschreibung enthält. Und ich habe eine Wohnung in Webster, die es nicht gibt.« »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen das rätselhaft vorkommt. Es ist aber nur eine Sicherheitsmaßnahme.« »Sicherheitsmaßnahme? Warum?« »Ich bestehe immer darauf, daß die Identität gewechselt wird, wenn wir uns vom Institut entfernen.« »Das verstehe ich nicht.« »Natürlich nicht«, sagte Schlessenger trocken. »Es ist wie mit allen anderen Dingen auch.« »Aber wir haben keine Wachen hier und auch keine Sicherheitsmaßnahmen, soweit ich feststellen kann. Warum sollte das also notwendig sein? War denn meine Arbeit von so geheimer Natur?«
Schlessenger öffnete eine Dose auf dem Schreibtisch und bot Sherwood eine Zigarette an, nahm selbst eine, gab Sherwood Feuer und hielt das Feuerzeug in der rechten Hand, während er Sherwood betrachtete. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, weil Sie ja nicht mehr darüber orientiert sind, was hier vorgeht, aber –« Er machte eine Pause und steckte sich seine Zigarette an. »Ich habe ein Dutzend Schreiben von Regierungsstellen und vom Verteidigungsministerium, die solche Sicherheitsmaßnahmen vorschlagen und mir zu diesem Zweck jede gewünschte Hilfe anbieten.« »Offenbar hielten Sie es für notwendig.« »Ich habe selbst einen anderen Namen angenommen, Walter.« »Aber Sie haben mir noch immer nicht gesagt, warum.« »Hier in Merritville«, fuhr Schlessenger geduldig fort, »ist jeder Fremde eine auffallende Erscheinung, wenigstens während des größten Teils des Jahres. Es besteht deswegen keine Veranlassung für besondere Sicherheitsmaßnahmen. Aber auf einer Reise ist das anders. Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, daß wir noch immer Agenten fremder Mächte im Lande haben, und alles, was wir tun können, um unangenehme Zwischenfälle und Pannen, einschließlich einer Entführung, zu vermeiden, ist der Mühe wert. Sie ha-
ben zweifellos von Wissenschaftlern gelesen, die angeblich in ein anderes Land geflohen sind und die Geheimnisse ihrer Regierung mitgenommen haben.« »Wollen Sie damit sagen, daß meine Arbeit für die Verteidigung der Vereinigten Staaten lebenswichtig war?« »Welche Arbeit ist das nicht?« Sherwood schüttelte den Kopf. »Ich sehe noch immer nicht ein, weshalb?« »Warum soll ich nicht alles tun für Sie, was in meiner Macht steht?« fuhr der Doktor nun nicht mehr so freundlich fort. »Sie sind ziemlich undankbar für den Schutz, den ich Ihnen geboten habe.« Dann wurde seine Stimme wieder wärmer. »Walter, so ist das eben heutzutage. Sie haben die letzten elf Jahre vergessen. Sogar die Regierung hat darauf bestanden, daß Sie eingehend überprüft wurden, bevor ich mich für Sie entschied. Verstehen Sie mich jetzt?« »Offen gestanden, nein.« »Möchten Sie einige Richtlinien sehen über diesen Punkt?« fragte Schlessenger kalt. »Lassen Sie nur.« »Ich kann nicht behaupten, daß ich Ihre sonderbare Einstellung besonders schätze, Walter. Wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber da hat es sich immer nur um ein bestimmtes Verfahren gehandelt, aber nie um Loyalität oder Beweggründe.« Er sah auf
seine Armbanduhr. »Es tut mir leid, aber ich habe eine Besprechung. Er wartet wahrscheinlich bereits im Vorzimmer.« Er komplimentierte Sherwood zur Tür. »Ich werde mich noch mit Ihrem Leiden befassen. Ich kenne ein Dutzend guter Fachleute auf dem Gebiet. Bleiben Sie mit mir in Verbindung.« »Ja«, versprach Sherwood. Zu seiner Überraschung wartete tatsächlich jemand im Vorzimmer. Die Luft draußen war würzig und angenehm, fast wie in Kalifornien. Tief in Gedanken ging er zu seinem Wagen. Er hatte den Kopf gesenkt und die Stirn in Falten gezogen. Er griff nach dem Türgriff und blickte in zwei helle braune Augen. Es war Georgia, Mrs. Schlessenger. Sie stand neben der Tür des Wagens, und als sie ihn sah, blickte sie angestrengt zum Institutseingang zurück. Sie war einen Kopf kleiner als er, trug einen grauen Rock und weißen Pullover. Fragend sah sie ihm entgegen. »Entschuldigen Sie«, sagte Sherwood. »Ich habe Sie nicht gesehen.« Sie antwortete nicht, aber er hatte die weißen Knöchel ihrer Hand bemerkt, mit der sie sich an dem Wagen festhielt. Sie bemerkte seinen Blick und zog rasch die Hand zurück. »Wollten Sie etwas sagen?« fragte Sherwood. Die Frau machte eine Bewegung, als ob sie tatsächlich sprechen wollte, aber nicht die Kraft dazu fand.
Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie stöhnte leise und bettete ihren Kopf auf die Arme, die sie auf den Wagen gelegt hatte. Er berührte ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, drehte sich um und trat zurück; als er auf sie zuging, rief sie: »Bitte nicht!« Dann ging sie mit langen Schritten auf das Gebäude zu. Er starrte hinter ihr her. Sherwood grübelte noch immer wegen ihres Verhaltens, als er die Tür seines Hauses in der Walnut Street aufschloß und durch den kleinen Vorraum in das Wohnzimmer trat, wo er seine Frau vorfand, die ihn erwartete. »Hallo«, sagte Virginia.
10 Sherwood stand an der Tür. Virginia saß ihm gegenüber in einem Schaukelstuhl. Schweigend blickten sie sich an. Sherwood dachte: sie ist reizend. Sie sahen einander so lange an, bis beide erröteten über diese stumme, gegenseitige Betrachtung. »Hallo«, sagte er schließlich matt, wobei er versuchte, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Aber als er das Wort hörte, klang es leer, es sagte nichts von seinem pochenden Herzen und der Freude, sie zu sehen. Das Zimmer schien heller geworden, als sie ihm zulächelte. »Ich habe dich schon an der Tür gehört und wußte, daß du kommst. Vielleicht hätte ich dich nicht so überraschen sollen. Das war nicht recht.« Sherwoods Verstand hatte jetzt die Oberhand über seine Gefühle gewonnen, er wollte fragen, wollte ihr erzählen, was geschehen war, aber sie sollte noch nicht erfahren, wie fremd er ihr gegenüberstand. Nach ihrem Gesicht zu urteilen, machte sie ihm keinen Vorwurf, daß er einfach davongelaufen war. Und das war gut so. »Ich komme eben vom Institut«, sagte er und reichte ihr die Hand. Er vertraute darauf, daß sein Verhalten natürlich wirkte. »Ich freue mich, daß du hier bist.« Ihr Blick fiel auf ihre Hand, aber dann zwang sie
sich, ihm in die Augen zu sehen. Als sich ihre Blicke trafen, lachten sie beide. Die Verlegenheit schwand allmählich. »Wie steht es da draußen?«, fragte sie. »Alles in Ordnung.« Wieder kam Verlegenheit auf, sie sahen sich unsicher an. Habe ich es verdorben? fragte er sich. Weiß sie es schon, oder hat sie es erraten? Entschlossenheit zeigte sich auf ihrem Gesicht, und sie stand auf. Er sah, daß sie jung und kräftig und einen Kopf kleiner war als er. Er sah zu, wie sie eine feingliedrige Hand auf den Schaukelstuhl legte, dann sagte sie langsam: »Du wirst dich wohl gewundert haben, daß ich aus dem Motel ging, bevor du zurückkamst.« Dabei sah sie ihn nicht an. »Bitte, setz dich doch«, forderte er sie auf. Er beobachtete sie, die ganz blaß geworden war, als sie wieder in den Stuhl sank. Dabei überlegte er, ob sie sich wohl vor ihm fürchtete. »Ich muß dir etwas sagen, etwas Wichtiges.« Er griff nach einem Stuhl und zog ihn dicht an sie heran, dann nahm er vor ihr Platz. Er saß auf der Stuhlkante und lehnte sich zu ihr hinüber. »Es wird dich wahrscheinlich schockieren.« »Glaubst du?« Ihre Stimme klang etwas schrill. Sie wußte, er würde ihr jetzt von ihrer Amnesie erzählen und ihr sagen, wie lange es dauern würde, bevor sie sich wieder an ihn erinnern würde.
»Ja.« Er suchte nach passenden Ausdrücken und fuhr dann fort: »Ich habe dich zum ersten Male in dem Motel in Los Angeles gesehen, das war vor einer Woche. Die vorhergehenden elf Jahre sind aus meinem Gedächtnis ausgelöscht. Es scheint sich um Amnesie zu handeln.« Er sah die Verwunderung in ihren Augen, wie sich ihre Pupillen vor Überraschung weiteten, das Gesicht noch blasser wurde, und dachte, das ist ein furchtbarer Schock, wird sie es ertragen können? »Du?« fragte sie, ihre Lippen bewegten sich kaum. »Du hast Amnesie?« Er konnte sie kaum verstehen. »Ja.« Er hoffte auf ihr Verständnis und daß sie bereit wäre, sein Gedächtnis zu unterstützen, bis er sich wieder zurechtfand. Es würde nicht leicht sein, so vollständig von ihrem Gedächtnis abhängig zu sein, und wenn sie sich dieser Aufgabe nicht mit ganzem Herzen widmete, mit vollem Verständnis und ohne Abneigung gegen die geistige Störung, die es nun einmal war, dann hatte es keinen Zweck, auch nur den Versuch zu machen. Das mußte er vor allen Dingen feststellen. »Aber –!« Sie schwieg, der Mund stand halb offen, ihre Augen starrten ihn verständnislos an. Sherwood dachte: Das ist zuviel für sie. Dann sagte er: »Nicht daß ich reif wäre für ein Irrenhaus oder so etwas Ähnliches, ich kann mich nur
nicht erinnern, das ist alles. Sonst bin ich vollkommen normal. Du brauchst keine Angst zu haben.« Sie schluckte. »Ich – ich habe keine Angst. Nur –« Er wartete und sah sie an, wie sie nach Worten suchte. Schließlich preßte sie die Lippen zusammen und sagte ruhig: »Es ist nur so, daß ich mich auch nicht erinnern kann.« Jetzt starrte Sherwood sie an, umkrampfte die Stuhllehne und sagte heiser: »Was?« »Ich kann mich auch nicht erinnern«, wiederholte sie, während ihr die Tränen aus den Augen rannen. »Ich erwachte in dem Motel, und du standest da, und ich hatte keine Ahnung, wer du sein könntest. Dann ging ich hinaus und wußte nicht, in welcher Stadt ich war. Ich war noch nie dort gewesen, und als ich entdeckte, daß ich in Los Angeles war, dachte ich, ich sei verrückt geworden.« »Es ist also auch dir passiert«, murmelte Sherwood. »Ja.« Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und betupfte sich die Augen. »Ich dachte, ich sei Mrs. Fisher und wäre plötzlich von Amnesie befallen. Ich hatte Angst, nahm etwas von deinem Geld und fuhr zu meinen Eltern, in der Hoffnung, daß dort alles gut würde und mein Gedächtnis wieder einsetzen würde. Aber nichts geschah.« Sie sah ihn verzweifelt an. »Dort habe ich dann erfahren, wer ich eigentlich
bin. Daheim sagten sie mir auch, daß du Neurophysiologe bist, und ich hoffte, daß du Rat wüßtest, wenn ich nur erst hierher käme, und daß dann meine Sorgen vorbei wären. Und jetzt sind sie ganz und gar nicht vorbei.« Sherwood war erschüttert über ihren Bericht. Noch vor wenigen Minuten hatte er gehofft, das Ziel seiner Nachforschungen erreicht zu haben, den Ausblick auf die verlorenen Jahre hinter Virginias Augen zu finden, daß die Wolken, die über seinem Gedächtnis hingen, zerstreut würden, wenn sie ihn über alles, auch die geringsten Kleinigkeiten ihres Lebens, unterrichten würde. Jetzt wußte er, daß sie die gleiche Hoffnung gehegt hatte. Ein Blinder führte einen anderen Blinden. »Und du dachtest, ich –« Sie schwieg. »Ja.« Dann stand sein Stuhl neben dem ihren, so daß sich ihre Knie fast berührten, während sie in ein ernsthaftes Gespräch vertieft waren. Jeder versuchte Einzelheiten aus dem anderen herauszuholen über die Vorgänge seit dem elften Juli, als sich die Decke auf ihren Geist gesenkt hatte und sie steuerlos dahintreiben ließ in einer Welt, die älter und in vieler Beziehung fremder geworden war. Aus dem Gespräch entwikkelte sich langsam ein gemeinsames Band der Verwandtschaft; die Unsicherheit, von der beide befan-
gen waren, brachte sie einander näher. Die Kraft, die sie einander gaben, wuchs. Sie plauderten lange Minuten, bis die Dämmerung hereinbrach. Als der Austausch ihrer Erfahrungen beendet war, saßen sie erschöpft und benommen in der Dunkelheit des anbrechenden Abends. Sherwood nahm ihre Hand, die auf der Stuhllehne lag, und hielt sie fest. Aus dem rückwärtigen Teil des Hauses kam ein Knacken, gefolgt von dem Summen des Kühlschrankes. Sherwood sagte: »Dann kennst du also dieses Haus genauso wenig wie ich.« »Ja. Die Kleider in den Schränken oben müssen mir gehören, aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich sie gekauft hätte.« »Das gleiche dachte ich, als ich meine Sachen fand.« »Ich wußte, daß es das richtige Haus war. Der Mann aus dem Nachbarhaus rief mir zu, daß du hier gewesen und wieder weggegangen seist, aber ich habe trotzdem erst geklingelt. Dann nahm ich einen der Schlüssel aus meiner Tasche. Ich kam herein und nahm die Post mit, einen Bankauszug, einige Rechnungen und ein paar Reklameschriften. Nichts Wichtiges. Ich ging im Haus herum, versuchte mich zu erinnern, aber es hat nichts genützt. Dann beschloß ich, auf dich zu warten.« Sie schwiegen eine Weile, dann fuhr Virginia fort:
»Ich habe noch nie gehört, daß zwei Menschen gleichzeitig von Amnesie befallen wurden.« »Ich auch nicht.« »Wie ist das möglich?« »Ich weiß nicht. Aber selbst wenn zwei Menschen gleichzeitig Amnesie bekommen könnten, dann ist es doch sehr sonderbar, daß Mann und Frau am gleichen Tag darunter leiden.« »Es ist vielleicht nicht so sonderbar, wenn sie beide das gleiche Erlebnis hatten, das die Ursache ihres Leidens ist«, meinte Virginia. »Natürlich müßten auch beide das gleiche Temperament und die gleichen Mängel haben.« »Aber die gleiche Zeitspanne so vollständig zu vergessen – zurück bis zu demselben Tag?« Sherwood schüttelte den Kopf. »Nein, da steckt mehr dahinter, Virginia.« »Davon bin ich überzeugt. Deine Arbeit, zum Beispiel.« »Daran habe ich auch schon gedacht. Du sagtest, daß du deine Eltern besucht hast. Was halten die davon?« »Sie glauben, daß es nur mir passiert ist. Sie machen sich natürlich Sorgen, glauben aber, daß es sich schon wieder einrenken wird.« »Haben sie etwas über meine Arbeit gesagt?« »Nur, daß du dich darin vergraben hast.«
»Das hilft uns nicht weiter.« »Nein.« »Ich weiß gar nichts mehr davon. Alles, was ich noch weiß und was uns vielleicht helfen könnte, ist meine Erfahrung bei den Medics.« »Medics?« »Ja, die Sanitätsabteilung in der Armee.« »Ich wußte nicht, daß du in der Armee warst.« Sherwood streckte seine Muskeln, die sich beim Sitzen verkrampft hatten. »Damit hat ja die ganze Geschichte angefangen. Und mit meinem Vater.« Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Du bist der Beweis, daß du nicht verrückt geworden bist. Ich hatte schon an meinem Verstand gezweifelt.« »Was ist mit deinem Vater?« »Er starb in einem Irrenhaus, während ich bei der Armee war«, antwortete er barsch. »Das tut mir leid.« »Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Es tat mir furchtbar leid, daß ich ihn gerade zu dieser Zeit allein lassen mußte. Wir waren einander eng verbunden.« Virginia schwieg. »In der Armee sah ich das gleiche. Es waren Männer, die ein normales Leben geführt hätten, wenn man sie nicht zu weit getrieben hätte. Da kam ich auf den Gedanken, das Gehirn zu studieren, um zu entdecken, warum so etwas geschah und ob man es auf
irgendeine Art verhüten konnte. Das war mein Vorsatz, als ich entlassen wurde, aber ich wußte nicht, wie ich es bewerkstelligen sollte. Jetzt weiß ich, daß es mir gelungen ist, wenn ich auch alles wieder vergessen habe. Wie ich schon sagte, glaubte ich zuerst, ich hätte die Sache stark übertrieben und daß mein Geist unter den Anstrengungen zusammengebrochen sei. Jetzt aber weiß ich, daß das nicht stimmt, seit du hier bist und dir das gleiche passiert ist.« »Ich fühle anders«, sagte Virginia. »Dieses belastende Gefühl ist verschwunden. Keine Arbeit, keine Schule, kein Studieren. Ich fühle mich freier als zuvor, obwohl es nur eine Woche her zu sein scheint, seit ich John Trankle bei seinen Studien geholfen habe.« »Wir sind älter geworden.« »Erwachsener.« »Innerlich.« Sie lächelte. »Wir fühlen die Wirkung, ohne die Ursache zu kennen.« »Zwei verlorene Seelen«, sagte er. Dann fuhr er lebhaft fort: »Warum können wir uns nicht erinnern? Es ist doch alles in unserem Kopf.« »Ich wollte, ich könnte es dir sagen.« »Verloren zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang: elf Jahre.« »Wie wohl diese Jahre waren, Walter? Ich hoffe, es waren glückliche Jahre.«
Er blickte sie an. »Es waren bestimmt glückliche Jahre.« »Ich danke dir für deine Überzeugung.« »Ich bin ganz sicher.« Er stand auf, streckte sich und ging durch die Dunkelheit ans Fenster. Die Häuser über der Straße waren erleuchtet, aber er machte keine Bewegung, das Licht einzuschalten. »Bevor du kamst, habe ich die Ursache für dieses Leiden in meinem früheren Leben gesucht. Genau wie mir jeder sagte, den ich um seine Ansicht bat, glaubte ich auch, daß ich mich überarbeitet hatte, oder daß ich Unannehmlichkeiten hatte, mit denen ich mich nicht abfinden konnte. Ich wollte feststellen, wo die Fäden gerissen waren, um sie wieder anzuknüpfen.« »Und jetzt glaubst du das nicht mehr?« »Nein, nachdem du hier bist und es dir auch passiert ist, glaube ich nicht mehr daran.« Er wandte sich ihr zu. Sie war in der Dämmerung gerade noch zu erkennen. »Es muß mit dem Institut und meiner Arbeit zusammenhängen.« »Du warst doch eben dort. Was hat man denn gesagt?« »Nichts. Ich habe mit Schlessenger gesprochen – Dr. Andrew Schlessenger, der das Institut leitet. Habe ich dir das nicht gesagt? Er konnte mir nicht helfen.« »Du hast ihn erwähnt. Was hast du denn dort getan? Hat er nichts davon gesagt?«
»Nichts Bestimmtes. Ich habe mich mit dem Gehirn beschäftigt, aber er glaubte nicht, daß mein Leiden etwas mit meiner Arbeit zu tun hat.« »Vielleicht hast du an einer geheimen Sache gearbeitet, von der du ihm nichts gesagt hast.« »Das bezweifle ich. Er mußte es doch zu allererst wissen.« »Was ist dieser Dr. Schlessenger für ein Mensch?« »Ich fand ihn anmaßend. Er ist sehr gut gekleidet, hat ein elegantes Büro. Du solltest das Gebäude sehen.« »Neu?« »Ganz modern. Unauffällig. Ich bin zuerst daran vorbeigefahren, ohne es zu erkennen. Sieht nach allem möglichen aus, nur nicht nach einem Forschungsinstitut. Die Laboratorien sind modern eingerichtet. Wenigstens meines war so.« »Hast du es gesehen?« Sherwood nickte. »Er hat mich herumgeführt.« »Und er wollte nicht über deine Arbeit sprechen?« »Er sagte, ich würde es doch nicht verstehen. Wahrscheinlich hatte er recht.« »Wie viele Menschen sind dort beschäftigt?« »Ein halbes Dutzend.« »Ich weiß nicht, ob man diesem Schlessenger trauen kann.« »Warum?«
»Eingebung ... War er verständnisvoll?« »Ja, sogar sehr mitfühlend. Er dachte, ich wollte wieder dort anfangen. Dann erzählte er mir, wie ich gekündigt habe, in diesem Motel. Er meint, ich sollte mich von einem Psychiater behandeln lassen.« »Ich möchte nur wissen, warum du gekündigt hast.« »Das möchte ich auch wissen.« Sherwood ging wieder zum Fenster. Jetzt war auch die Straßenbeleuchtung eingeschaltet worden. »Schlessenger wollte mich zum Bleiben überreden, aber ich ließ mich nicht von meinem Vorsatz abbringen. Ich möchte mich gern mit den anderen Wissenschaftlern unterhalten, die wissen vielleicht Näheres.« »Warum tust du es nicht?« »Schlessenger meinte, es wäre besser, wenn ich es nicht täte.« »Aber, warum denn, um Gottes willen?« »Mein Zustand, behauptet er.« »Das sollte dich nicht hindern.« »Vielleicht hast du recht.« »Ich bin überzeugt davon, aber ich lasse mich nicht so ohne weiteres aus diesem Hause locken. Ich bin am Verhungern. Du nicht?« »Ja.« Er drehte sich um und tastete sich an der Wand entlang, bis er den Lichtschalter fand. »Was gibt es zum Abendessen?«
»Das weiß ich nicht. Zuerst will ich baden. Dann werde ich sehen, welchen Kleidergeschmack mein altes Ich hatte.« »Glaubst du, daß die Leute, die früher hier gewohnt haben, einen kleinen Drink zu sich nahmen, vor dem Abendessen?« Sie lachte. »Es wäre schon der Mühe wert, das festzustellen.«
11 Von der dunklen Veranda des Rayburn-Hauses konnten sie durch einen Schlitz in den Jalousien ins Wohnzimmer sehen, wo das Fernsehgerät ein unheimliches blaues Licht ausstrahlte. Sherwood drückte auf den Knopf des Türsummers. Drinnen wurde es jetzt lebendig, das Licht auf der Veranda wurde eingeschaltet, ein Mann mit einem langen schmalen Gesicht erschien in der geöffneten Tür. »Dr. Sherwood«, begrüßte sie der Mann mit tiefer Stimme. Er nickte Virginia zu. »Mrs. Sherwood.« Dann heftete er seine schwarzen Augen wieder auf Sherwood. Es konnte kein Zweifel über die Identität des Mannes bestehen. Sie hatten seine Adresse, und Sherwood war sicher, daß sie stimmte, auch waren sie mit ihrem Namen angesprochen worden. »Dr. Rayburn, ich –«, begann er. Aber Rayburn unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Bevor Sie weitersprechen, Doktor, muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen nicht helfen kann.« »Ich habe Sie ja noch gar nicht um Ihre Hilfe gebeten«, sagte Sherwood. Rayburn blieb ungerührt. »Dr. Schlessenger sagte mir, daß Sie kommen würden.«
»Komisch. Ich habe ihm nichts davon gesagt.« »Er sagte, sie behaupteten, an Amnesie zu leiden.« »Das stimmt, Doktor.« »Er sagte auch, sie wären sicher, daß Ihnen – gewisse Tatsachen helfen könnten, Ihre Erinnerung wieder aufzufrischen.« »Das ist doch eine logische Annahme«, sagte Sherwood. »Vielleicht, aber Sie wissen doch, daß jede Auskunft über Dr. Schlessenger gehen muß.« »Nein, das weiß ich nicht. Haben Sie denn vergessen, daß ich an Amnesie leide?« »Es stimmt, Doktor«, bestätigte Virginia. »Wenn es stimmt, dann kann ich nur sagen, daß es mir leid tut.« Dr. Rayburn war ein magerer Mann, wie er so dastand, teilnahmslos, während das Licht auf seine große Nase und die hervorstehenden Backenknochen schien, und Sherwood dachte: Du würdest einen guten Totengräber abgeben. »Es ist ja nicht etwa so, daß ich mich für Ihre Arbeit interessiere. Aber ich möchte mich an meine eigene erinnern. Könnten Sie da –« »Bitte«, unterbrach in Rayburn mit erhobener Hand. »Ich kann mich darüber nicht mit Ihnen unterhalten.« »Warum?«
»Erstens habe ich nie gewußt, woran Sie gearbeitet haben – habe mich auch nie dafür interessiert –, und zweitens hat mir Dr. Schlessenger eingeschärft, nichts mit Ihnen zu besprechen.« »Warum?« Rayburn seufzte. »Ich arbeite ja nur im Institut. Ich kann nicht für den Direktor sprechen und schon gar nicht über seine Beweggründe. Ich kann mich nur nach seinen Instruktionen richten –« »Gibt es denn keine Selbständigkeit am Institut?« fragte Virginia spitz. Aber sie erntete nur einen kalten Blick. »Hören Sie zu, Doktor«, fuhr Sherwood eindringlich fort. »Ich will ja nur feststellen, was ich hier getan habe, es zusammenflicken, um zu sehen, ob es irgendwie mit meinem gegenwärtigen Zustand zusammenhängt.« Rayburn antwortete eigensinnig: »Ich fürchte, ich kann dazu nichts sagen.« Er drehte sich um. »Gute Nacht.« Virginia trat auf ihn zu und legte die Hand auf seinen Arm. »Doktor«, sagte sie, »die Erinnerung eines Menschen steht auf dem Spiel. Wollen Sie ihm denn nicht helfen?« »Ich sollte meinen, daß Sie ihm mehr helfen könnten als alle anderen«, sagte er, bereits unter der Tür. »Aber, Sie verstehen nicht, ich –«
»Laß ihn gehen.« Sherwood nahm Virginias Arm. »Vielen Dank für nichts, Doktor.« Er führte sie von der Veranda. Als sie am Wagen angekommen waren, fragte Virginia: »Warum hast du das getan? Er war gerade im Begriff, etwas zu sagen.« »Und du warst im Begriff, ihm zu sagen, daß du auch an Amnesie leidest.« »Das hätte doch nichts geschadet. Vielleicht hätte er dann gesprochen.« »Das glaube ich nicht. Er scheint Schlessengers Vertrauter zu sein, er würde ihm jedes Wort zutragen.« »Na und?« »Da gehe ich lieber selbst zu Schlessenger und warte ab, was geschieht.« Das Landhaus am Wisteria Drive war dunkel. Sie überlegten eine Weile, als sie auf das Haus zugingen, und entschlossen sich dann zu klingeln. Aber es meldete sich niemand. »Was nun?« fragte Sherwood, als sie wieder im Wagen saßen. Hampton Cox hatte eine Wohnung über einem Musikaliengeschäft. Er war keineswegs zurückhaltend. Kaum hatten sie auf den Summer gedrückt, als sich oben eine Tür öffnete und ein rundlicher Mann auf der Treppe erschien. »He, Doc und Ginny«, rief er
ihnen zu. »Kitty und ich haben euch erwartet. Wir wollten euch schon anrufen, aber es war niemand zu Hause. Wir nahmen an, daß ihr auf dem Weg zu uns seid.« Er streckte eine Hand aus, die Sherwood freudig ergriff. Er war einen Kopf kleiner als Sherwood. Cox sah ihn aus freundlichen blauen Augen an. »Ich freue mich, euch zu sehen.« Er führte sie in das Wohnzimmer. Dort wartete bereits Kitty, Cox' Frau. »Nehmt Platz und macht es euch bequem.« »Sie haben uns erwartet, sagten Sie?« erkundigte sich Sherwood, nachdem sie auf dem Sofa Platz genommen hatten. »Ja, sobald ich hörte, daß ihr zurück seid«, sagte Cox, der noch immer vor ihnen stand. »Bier?« »Nein, danke«, antwortete Sherwood, der nicht abgelenkt werden wollte. Cox ließ sich in einen Sessel fallen. »Was ist nun eigentlich los? Was macht ihr wieder in Merritville?« »Ich suche etwas.« »Schlessenger sagte, Sie wollten Ihr Gedächtnis wiederfinden.« »Was hat er Ihnen gesagt?« »Er sagte, Sie könnten sich an nichts erinnern. Stimmt das?« »Ja.« »Sie kennen uns also nicht – Kitty und mich?«
»Nein.« Kitty rang nach Luft. Cox pfiff leise durch die Zähne. »Ich will verdammt sein. Ich dachte, Schlessenger hätte uns ein Märchen erzählt. Ich weiß nie, was ich von dem Mann halten soll.« »Aber er hat doch mit Ihnen gesprochen?« Cox nickte. »Er sagte, ich solle Ihnen nichts erzählen. Daraus werde ich aber nicht klug.« »Warum?« »Sie haben doch ein Recht auf Auskunft. Schließlich haben Sie lange genug hier gearbeitet. Warum haben Sie überhaupt gekündigt?« »Das weiß ich nicht.« »Natürlich können Sie das nicht wissen. Sie haben ja alles vergessen. Ich wollte, ich brächte den Mut auf, zu kündigen. Schlessenger, der große weiße Vater. Manchmal geht er mir auf die Nerven.« »Hamp!« »Aber es stimmt, Kitty.« »Anscheinend mögen Sie ihn nicht, Mr. Cox«, sagte Virginia. Cox starrte sie an. »Mr. Cox haben Sie mich genannt? Was ist denn los mit Ihnen?« Es gab keinen anderen Ausweg. »Es ist nur, daß sie eben auch das Gedächtnis verloren hat«, sagte Sherwood. »Aber, aber.« Cox fuhr mit der Hand durch sein ge-
lichtetes Haar. »Das geht zu weit. Ihr erwartet doch nicht, daß wir das glauben.« Kitty erklärte. »Ich glaube, es ist wahr. Sie können sich an mich nicht erinnern, Ginny?« »Ich fürchte, ich kann es nicht.« »Das dachte ich mir schon. Da war kein Erkennen in Ihrem Blick.« »Na, ich will verdammt sein«, sagte Cox, dann fuhr er empört fort: »Das ist eine Schande, eine verdammte Schande. Ich habe zwar gemerkt, daß ihr euch komisch benehmt, aber ich dachte, das wären nur die Nerven.« »Sie sagten«, bohrte Virginia weiter, »daß Sie Dr. Schlessenger nicht mögen. Warum?« »Warum? Oh, es ist seine sonderbare Art. Heute nachmittag, zum Beispiel, kam er in mein Labor und sagte: ›Hampton, Walter ist wieder da. Er behauptet, er habe Amnesie.‹ Dann schwieg er, und wissen Sie warum? Er wollte sehen, welche Wirkung seine Worte auf mich hatten, ob ich etwas davon wüßte und ob Sie vielleicht zuerst bei mir gewesen wären. Er fuhr dann fort: ›Er sagt, er hätte die letzten elf Jahre vergessen. Was halten Sie davon?‹ Ich habe gelernt, in solchen Fällen zu schweigen. Soll doch er weiterreden. Zum Schluß sagte er noch: ›Wenn er zu Ihnen kommen sollte, würde ich es begrüßen, wenn Sie nichts zu ihm sagten.‹«
»Was haben Sie darauf geantwortet?« fragte Sherwood. »Ich habe etwas gemurmelt, ich weiß selbst nicht mehr was. Aber ich habe ihm nichts versprochen.« »Warum glauben Sie, daß er eine Aussprache zwischen Ihnen und Walter verhindern will?« fragte Virginia. »Ich weiß es nicht. Ich habe es aber längst aufgegeben, aus dem Mann klug zu werden. Manchmal bildet er sich ein, daß ihm jedermann seine Ausrüstung und seine Geheimnisse stiehlt, und im nächsten Augenblick teilt er Prämien aus. Ich glaube, er ist am glücklichsten, wenn er mit irgend etwas unzufrieden ist.« »Dr. Rayburn hat sich geweigert, sich mit uns zu unterhalten«, sagte Sherwood. »Warum tun Sie es?« Cox sah ihm ins Gesicht. »Sie sind mein Freund, und Schlessenger soll der Teufel holen. Sie und Ginny haben manchen Abend bei uns verbracht, Walter.« »Ich freue mich, daß wir in Merritville zwei Freunde gefunden haben«, sagte Walter warm. Cox lehnte sich vor. »Ja, wir beide kannten einander. Waren zwei Kampfhähne, die sich immer in den Haaren lagen. Die anderen da draußen sind lauter Nieten. Das alte Pferdegesicht von Rayburn redet mit niemandem außer mit seinen Trichinen. Manchmal hängt er mir zum Hals raus. Es war direkt zum
Fürchten. Kitty ging nicht in seine Nähe. Black ist nicht viel besser, er ist eben nur ein Angestellter des Instituts. Wilhelm und Heneberry sind jünger und noch ziemlich neu im Institut; wenn Schlessenger sagt, ›lauf‹, dann laufen sie, und wenn er ›halt‹ befiehlt, bleiben sie stehen, Sie und ich waren die einzigen Forscher. Die anderen sind nur Attrappen für die National Science Foundation. Sind nur da, um die Personalkosten zu erhöhen.« »Wie war es mit meiner Arbeit? Haben Sie etwas darüber gewußt?« »Nicht viel, Walt. Wir haben uns wirklich gut gekannt, aber wir haben selten über unsere Arbeit gesprochen. Ihre Arbeit war mir fremd, und sie interessierten sich nicht für meine.« »Was ist Ihr Gebiet?« »Radioaktive Giftstoffe.« »Und meine?« »Gehirn. Gehirnwellen. Gehirn hier und Gehirn dort. Sie steckten fortwährend jemanden in den EEGRaum und machten Tests. Sie hatten es satt, immer wieder Ollie zu nehmen, und suchten nach Freiwilligen. Einmal haben Sie auch mich erwischt. Ich glaube, Sie waren auf einer bestimmten Spur. Schlessenger war sehr aufgeregt über Ihre Arbeit.« »Sie haben Ollie erwähnt. Wer ist das?« »Er war eine Art Prügeljunge für die Forscher, aber
meist war er bei Ihnen beschäftigt. Ich glaube, Sie mochten ihn gern leiden. Schlessenger hat ihn entlassen, als Sie kündigten. Ich glaube, die beiden hatten einen Zusammenstoß. Ollie war nur Assistent. Ich weiß nicht, was ihm Schlessenger bezahlte.« »Vielleicht hat dieser Ollie etwas gewußt?« »Das weiß ich nicht. Schlessenger beschuldigte ihn, Ausrüstungsgegenstände gestohlen zu haben. Er war noch ein Junge.« »Einheimischer?« Cox schürzte die Lippen. »Ich glaube nicht.« Er wandte sich an Kitty. »Er stammte doch nicht aus Merritville, Kitty?« »Ich glaube, er kam von Detroit.« »Jedenfalls habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit Schlessenger zurückkam.« »Ich möchte gern mehr über ihn erfahren. Glauben Sie, daß Sie seine Adresse ausfindig machen können?« »Ich glaube schon.« Cox grinste. »Ich könnte mich mal an die Kartei heranmachen. Da müßte sie doch zu finden sein.« Sein Blick wanderte von Virginia zu Sherwood. »Ich kann es noch nicht fassen. Ihr benehmt euch wie Marionetten. Ist euch das bewußt? Gebt euch natürlich! Ihr seid unter Freunden. Ihr habt immer gesagt, bei uns könnt ihr euch ungezwungen geben.«
»Glauben Sie, daß die Sache mit dem Labor zusammenhängt?« fragte Virginia. »Es wäre möglich.« »Sie sagten, daß Walter einer Sache auf der Spur war, die Schlessenger mächtig interessierte.« »Es scheint keine andere Erklärung zu geben. Zwei Menschen bekommen nicht gleichzeitig Amnesie ohne besonderen Grund.« Cox machte ein nachdenkliches Gesicht. »Vielleicht sind Sie über eine Sache gestolpert, die Ihr Gedächtnis beeinflußt hat, Walt. Vielleicht ist es erst später wirksam geworden, als Sie in Los Angeles waren, ähnlich wie radioaktive Gifte.« »Aber Ginny war nicht im Institut«, warf Kitty ein. »Wie konnte sie es bekommen?« »Auch richtig, daran habe ich nicht gedacht.« »Ich hoffe, Sie erzählen Schlessenger nichts über Virginias Zustand«, sagte Sherwood. »Ich will es ihm selbst sagen.« »Im Institut ist nicht alles glatt gelaufen. Sie wußten es.« »Hatte es etwas mit mir zu tun?« »Es hat mit uns allen zu tun, Walt.« Cox schien sich nicht wohl zu fühlen in seinem Sessel, er drehte sich auf die andere Seite. »Erstens hatte Schlessenger in seinem ganzen Leben keine eigene Idee. Wir alle wußten es natürlich. Er hat das Institut aufgezogen, weil er nicht fähig war, selbständige Forschungsar-
beit zu leisten – er ist durchaus qualifiziert, hat alle Grade; nur haben wir uns immer gewundert, wie er die bekommen konnte.« »Also ein Scharlatan«, warf Sherwood ein. »Nein, so drastisch möchte ich es nicht ausdrücken, Walt. Er hat Geist, Hintergrund und wirkt eindrucksvoll. Er ist ein gutes Aushängeschild, das kann man ihm nicht abstreiten. Vielleicht genügt das auch für einen Direktor. Vielleicht haben wir immer zu viel erwartet. Jedenfalls ist er der Chef und sonnt sich in seiner Stellung, obwohl wir alle darunter leiden, weil er allzusehr betont, daß er zu bestimmen hat. Es war Georgia Schlessengers Geld, mit dem das Institut gebaut wurde. Wußten Sie das?« »Nein.« »Aber es ist wahr. Sie hat den größten Teil des Geldes beigesteuert, den Rest erhielt Schlessenger von der National Science Foundation. Sie waren beide glücklich, als sie weitermachen konnten. Er stellte einige Freunde an – Rayburn und Wilhelm – und nahm die Arbeit auf. Dann stellte er Heneberry und Black ein, das waren zwei weitere gelegentliche Bekannte, die er beeindrucken wollte. Das Ergebnis war, daß er in Schwierigkeiten geriet.« »Schwierigkeiten?« Cox nickte. »Keiner hat etwas geleistet. Jeder tat, was er wollte, und keinen Handgriff mehr. Planlos,
ziellos. Ein großer Teil ihrer Arbeit war einfach eine Wiederholung bereits bekannter Arbeiten. Schlessenger hoffte damit durchzukommen und verteidigte sie, aber es gelang nicht. Die National Science Foundation stieg ihm aufs Dach. Sie wollten Erfolge sehen. Es war ganz gleich, was entdeckt wurde, es mußte nur neu sein und die finanzielle Unterstützung rechtfertigen. Sie sagten ihm, daß sie keine Lust hätten, für eine Sache Geld auszugeben, die in jedem Lehrbuch zu finden sei. Das Ergebnis war, daß ich aus einem Labor der Universität von Illinois geholt wurde, wo ich mich mit Forschungen auf dem Gebiet der Radioaktivität beschäftigte. Dann hat ihm jemand von Ihnen erzählt, und er holte auch Sie von Ryerson nach Merritville. Ich habe einiges über die Behandlung von Strahlenverletzungen gefunden, und auch Sie haben Erfolge auf Ihrem Gebiet gehabt. Aber das reichte nicht, um die Foundation zufriedenzustellen. Vor einem Jahr hatten wir eine Besprechung, da wurde uns gesagt, wir müßten neue Ideen ausarbeiten, etwas, das den Zuschuß der Foundation rechtfertigen sollte. Aber soviel ich weiß, fummeln Rayburn und Wilhelm noch immer mit ihren alten Problemen herum. Heneberry und Black haben gleich ein halbes Dutzend neue Sachen angefangen, aber nichts erreicht, und ich brauche noch einige Monate, bevor ich sagen kann, ob ich Erfolg habe oder nicht.«
Cox schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Sie waren Ihrem Ziel am nächsten, aber Sie haben gekündigt, ehe Sie fertig waren. Sie waren immer ziemlich empfindlich in Zusammenhang mit Ihrer Arbeit. Wahrscheinlich hat Schlessenger Sie zu sehr gedrängt.« Schlessengers Bild wurde jetzt immer klarer. »Und jetzt weiß er nicht, ob er einen Erfolg aufweisen kann, wenn die Foundation danach fragt?« »Wie ich gehört habe, hat er ihnen für die nächste Zukunft einen Erfolg versprochen, aber das war reiner Schwindel. Soviel ich weiß, hat er jetzt um eine längere Frist gebeten. Das dürfte auch stimmen, denn er drängt uns jetzt mächtig, etwas zu produzieren, ganz gleich was.« »Und wenn es Ihnen nicht gelingt, sind Sie wahrscheinlich bald arbeitslos.« Cox zuckte die Achseln. »Wenn Schlessenger nichts aufweisen kann, werden sie ihm die Zuschüsse streichen. Das wird ihm nicht sehr weh tun, aber alle anderen sind schwer getroffen.« »Glauben Sie nicht, daß er auch ohne Unterstützung weiterarbeiten wird?« »Darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen«, antwortete Cox. »Wie war es denn mit dieser Reise nach Kalifornien? Wie ist die zustande gekommen?« »Das war eine Tagung. Diesmal war sie in Santa
Barbara, letztes Jahr in Cleveland. Alle Neurophysiologen nahmen teil. Sie und Ginny fuhren jedes Jahr hin. Ginny hat sich das ganze Jahr darauf gefreut. Es war die einzige Zeit, daß sie Sie für sich allein hatte – nur, daß diesmal Schlessenger mitfuhr. Er fuhr zwar immer zu diesen Versammlungen – seine Frau haßte sie –, aber er fuhr immer mit irgendeiner Größe, nie mit seinen Leuten. Ihre Frau hat sich auch nicht sehr darüber gefreut.« »Vielleicht habe ich deshalb gekündigt.« »Warum haben Sie dann gewartet, bis Sie in Los Angeles waren?« »Ob ich das wohl jemals erfahren werde?« »Wir waren alle verdammt überrascht im Institut, als Schlessenger ohne Sie zurückkam. Niemand erwartete, daß Sie so einfach davonlaufen würden.«
12 Es war neun Uhr zwanzig am nächsten Morgen, als das Telefon klingelte. Einen Augenblick sahen sie sich erschrocken an. Dann sagte Sherwood: »Wir haben also auch ein Telefon.« »Es ist im Vorraum unter der Treppe. Ich habe es gestern bemerkt.« Sie stand auf. »Ich gehe schon«, sagte er. Es war Hampton Cox. »Ich rufe aus der Stadt an. Ich glaube, ich habe etwas entdeckt, und wollte Ihnen Bescheid geben.« »Sie haben etwas entdeckt?« »Vielleicht. Kennen Sie diese Frau – Miss Lawson, sie ist Schlessengers Sekretärin und Empfangsdame.« »Ja. Ich habe sie gestern kennengelernt.« »Sie war immer recht nett zu mir. Heute habe ich sie um Lansings Adresse gebeten.« »Lansing?« fragte er, dann erinnerte er sich, daß es sein Laborgehilfe war. »Oliver Lansing. Sie wissen doch – Ollie.« »Oh. Haben Sie ihn gefunden?« »Nein.« »Nicht? Warum nicht?« »Sie war ebenso überrascht wie ich. Jede Eintra-
gung über ihn war aus der Kartei verschwunden. Es war, als ob er niemals am Institut gearbeitet hätte.« »Das ist doch mehr als sonderbar.« »Sie wollte gleich Schlessenger danach fragen, aber ich hielt sie zurück. Da stimmt etwas nicht.« »Schlessenger hat sich den Mann vom Hals geschafft.« »Was soll man sonst davon halten, Walt? Er muß einen Grund haben, wenn er die Spur so sorgfältig verwischt.« »Dann muß Ollie etwas wissen.« »Ein Mensch kann nicht einfach spurlos verschwinden. Ich weiß, wo er hier in der Stadt gewohnt hat, und werde Kitty Bescheid sagen. Sie soll mal die Post anrufen. Vielleicht hat er dort seine neue Adresse angegeben. Sie kann sich auch sonst noch umsehen. Irgendeine Spur müssen wir doch finden.« »Sie haben Detroit erwähnt. Glauben Sie, daß er dort sein könnte?« »Sie können es ja mal versuchen. Rufen Sie Detroit an. Hören Sie zu: Ich muß jetzt wieder an die Arbeit. Wenn ich etwas höre, rufe ich an.« Er beendete sein Frühstück und hatte seine Hand bereits auf dem Hörer, als das Telefon klingelte. Es war Booey. »Wir haben gerade Pause, Walter. Ich möchte gern wissen, wie es Ihnen geht. Haben Sie etwas erfahren?«
»Nicht viel. Schlessenger war keine große Hilfe.« »Können Sie sich noch immer an nichts erinnern?« »Nein.« »Haben Sie von Virginia gehört?« »Sie ist hier. War bereits hier, als ich kam.« »Was sagt sie?« »Ich wage fast nicht, es Ihnen zu sagen, aber sie hat ebenfalls das Gedächtnis verloren.« »Was?« »Ich kann mir vorstellen, daß das unglaublich klingt.« »Das ist noch sehr milde ausgedrückt. Was, in aller Welt, ist denn bloß passiert?« »Sie hoffte, ich könnte ihr helfen.« »Walter, es ist – so etwas gibt es einfach nicht.« »Das weiß ich.« »Das ist nicht bloß Amnesie.« »Das denke ich auch.« »Es muß mit Ihrer Arbeit zusammenhängen. Da ist irgend etwas schiefgelaufen. Haben Sie alles nachgeprüft?« »Schlessenger ist ziemlich verschlossen, sagt nichts über meine Arbeit.« »Ich würde ihn schon zum Sprechen bringen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Der hockt auf irgend etwas.« »Das glauben wir auch. Wir wollten ihn heute nochmals fragen.«
»Hören Sie zu, Walter. Vielleicht sollte ich mitkommen.« »Es würde mich nur freuen, wenn Sie kämen.« »Sie brauchen Hilfe.« »Die werde ich mit Sicherheit brauchen, bevor alles vorüber ist. Ich weiß zwar nicht, wie Sie mir helfen könnten, aber ich wäre Ihnen für jeden Vorschlag dankbar.« »Das ist doch ein Verbrechen und nichts anderes. Daß so etwas zwei netten jungen Menschen passieren muß, wie euch beiden. Der Sache müssen Sie auf den Grund gehen. Dafür ist jemand verantwortlich und Sie müssen es herausbringen.« »Wir tun unser möglichstes.« »Ich komme. Inzwischen kann Scott hier weitermachen. Dem wird die Erfahrung nicht schaden. Ich komme, sobald ich kann.« Jetzt rief Sherwood Detroit an und erkundigte sich nach einem Oliver Lansing. Die Telefonistin stellte die Verbindung her mit Oliver Lansing senior, der in der Craddock Road wohnte. Mrs. Lansing kam ans Telefon. Nein, Oliver Lansing sei nicht daheim. Er arbeite. Oliver Lansing junior sei auch nicht da. Wer er denn sei? Als er ihr sagte, wer er sei und von wo aus er anriefe, sagte sie nur, sie wüßte nicht, wo Ollie sei, und legte auf. Er versuchte nochmals anzurufen, erhielt aber kei-
ne Antwort. Mrs. Lansing wollte sich offensichtlich nicht über den Aufenthaltsort ihres Sohnes mit ihm unterhalten. »Na, das ist eine Überraschung!« begrüßte Schlessenger sie, als sie in sein Büro traten. »Sherwood hat mir gestern gesagt, sie hätten ihn verlassen, Mrs. Sherwood. Aber ich wußte, daß Sie das nicht tun würden.« »Ich sagte, daß ich sie nicht gesehen hätte«, berichtigte ihn Sherwood. »Ich habe nicht gesagt, daß sie mich verlassen hat.« »Das ist ja auch nicht wichtig.« Schlessenger rückte noch einen Ledersessel an den Schreibtisch. »Mrs. Sherwood ist hier, und das ist die Hauptsache. Wann sind Sie angekommen?« »Gestern«, sagte Virginia. »Ich war bereits da, als Walter von seinem Besuch bei Ihnen zurückkam.« »Das ist gut. Ausgezeichnet. Jetzt werden wir weiterkommen.« Er rieb sich die Hände. »Nachdem Sie jetzt hier sind, wird sich Walter wieder zurechtfinden, davon bin ich überzeugt. Nicht daß ich die Sache bagatellisieren will, verstehen Sie mich recht. Sie ist durchaus ernst. Ein wirklich ernster Fall. Ich konnte seit gestern an nichts anderes mehr denken. Ich nehme an, daß er Ihnen alles erzählt hat?« »Ja, das hat er.«
»Hat er Ihnen auch von meinem Vorschlag erzählt?« »Ja.« »Gut. Was haben Sie nun beschlossen?« »Unsere Pläne hängen von Ihnen ab«, sagte Sherwood. »Wieso?« »Wir haben gestern noch einige der Forscher aufgesucht. Zuerst waren wir bei Rayburn.« »Oh?« Schlessengers Augen zuckten. »Warum haben Sie denn das getan?« »Vielleicht verraten Sie uns lieber, warum Sie ihm verboten haben, uns etwas zu sagen.« »Es ist hier gebräuchlich, daß jede Auskunft von mir gegeben wird. Ich wollte ihn nur daran erinnern. Ich möchte nicht, daß meine Forscher gestört werden. Ich habe auf diese Weise eine Menge Leute ferngehalten, Walter, aber das können Sie ja nicht wissen. Ich bin sicher, daß es Ihre Gattin gern bestätigen wird.« »Was Sie gestern getan haben, kann man wohl kaum als freundliche Geste bezeichnen«, sagte Sherwood scharf. »Sie waren ziemlich verwirrt, Walter. Ich wußte nicht, was Sie tun würden, als Sie hier weggingen. Ich sehe nicht ein, weshalb Sie mir einen Vorwurf machen, weil ich jede Störung von meinen Leuten fernhalten wollte.«
»Hatten Sie Angst, daß ich etwas entdecken könnte?« »Es gibt nichts zu entdecken. Es war nur eine vorsorgliche Maßnahme, um die Leute nicht bei der Arbeit zu stören. Ich glaube, sie haben ein Recht, über die Vorgänge unterrichtet zu werden. Ich mag keine Scherereien, Walter.« Er wandte sich an Virginia. »Das werden Sie doch sicherlich einsehen, Mrs. Sherwood?« Virginias Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. »Wir waren auch bei Dr. Black«, sagte Sherwood. »So, und was hatte er zu sagen?« »Er war nicht zu Hause. Aber Dr. Cox war daheim.« »Hampton ist ein tüchtiger Mann. Etwas überfordert, aber ein guter Mitarbeiter.« »Wir haben uns ganz gut verstanden.« »Ihr seid immer gut miteinander ausgekommen, Walter. Hampton ist ein freundlicher Mensch. Aber warum haben Sie sich die Mühe gemacht, diese Leute zu besuchen? Ich kann Ihnen jede gewünschte Auskunft geben. Haben Sie Ihrem Mann das nicht gesagt, Mrs. Sherwood?« Virginia betrachtete ihn kalt. »Ich habe ihm nichts gesagt, aber ich bin sicher, daß Sie es tun werden.« Sie lächelte, und Schlessenger wußte nicht recht, was er von ihren Worten halten sollte.
»Nun«, sagte er dann ziemlich barsch. »Das freut mich. Und nun sagen Sie mir, was Sie zu tun gedenken.« »Ja, Doktor, wir wollten das Ihnen überlassen. Was schlagen Sie vor?« »Natürlich braucht Walter eine Behandlung, wie ich bereits vorgeschlagen habe.« Er zog seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran und lehnte sich zu ihnen herüber. »Zufällig bin ich mit einer Anzahl Spezialisten befreundet –« »Wenn schon eine Behandlung vorgenommen wird, dann für uns beide«, sagte Sherwood. »Für beide?« Er lachte. »Sie soll wohl mitgehen und Händchen halten?« »So habe ich es nicht gemeint.« »Es war ja auch nur Spaß, Walter.« Schlessenger hüstelte. »Vielleicht wäre es sogar besser.« »Das ist noch immer nicht, was ich ausdrücken wollte«, sagte Sherwood. »Was wollen Sie denn dann ausdrücken?« fragte Schlessenger etwas gereizt. Als Sherwood keine Antwort gab, fuhr er fort: »Sehen Sie mich nicht so an, mit diesem albernen Lächeln. Wenn Sie glauben, Sie wüßten etwas, dann heraus damit.« »Virginia kann sich ebensowenig erinnern wie ich.« Schlessengers Gesicht wurde hart. Er kniff die Augen zusammen und sah von einem zum anderen. Auf
sehr häßliche Art fuhr er fort: »Was ist das eigentlich für ein Theater, das Sie hier aufführen?« »Kein Theater«, sagte Sherwood ruhig. »Zufällig ist es die Wahrheit.« »Das ist doch zum Lachen.« Er stand plötzlich auf, ging um den Schreibtisch herum, als wollte er auf die Hausbar zugehen, drehte sich dann plötzlich auf dem Teppich um und lehnte sich an den Schreibtisch. »Ist das wahr, Mrs. Sherwood?« »Natürlich ist es wahr.« »Das gefällt mir nicht.« »Ihnen gefällt das nicht?« fragte Sherwood bissig. »Was glauben Sie wohl, wie wir darüber denken?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich hatte noch nie Amnesie.« »Nein?« Sherwood stand auf. »Sie schienen gestern darunter zu leiden, als Sie sich nicht an meine Arbeit erinnern konnten.« »Hören Sie auf, daherzureden, als ob ich für Ihren Zustand verantwortlich wäre. Soweit Ihre Arbeit in Betracht kommt, haben Sie gestern zugegeben, daß Sie sich hier fremd fühlen. Warum sollte ich einem Fremden etwas erzählen? Außerdem habe ich Ihnen einiges erzählt, aber Sie konnten nichts damit anfangen, weil Sie sich nicht erinnern konnten.« »Das ist leeres Gerede.« »Das ist kein leeres Gerede.« Er wandte sich ab und
ging an die Bar. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, und sein ganzer Körper zitterte vor verhaltener Wut. Als er sich wieder umdrehte, sagte er ganz ruhig: »Eine Person mit Amnesie kann ich verstehen, obwohl man nicht einwandfrei beweisen kann, ob sie die Wahrheit sagt, aber gleich zwei ...« »Sie glauben, wir schwindeln?« »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Schlessenger wütend. »Sie sagten es.« »Es ist aber so, Doktor«, sagte Virginia. »Nicht nur, daß wir beide an Amnesie leiden, wir wurden zu gleicher Zeit und am gleichen Ort davon befallen.« Schlessenger steckte sich eine Zigarette an und blies mit dem Rauch die Flamme aus. Dann sagte er leichthin: »Walter, wenn ich für Ihren Zustand nicht so viel Verständnis hätte, dann würde ich Sie jetzt hinauswerfen.« Sherwood entgegnete: »Das möchte ich erleben, Doktor.« Schlessenger beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Wie dem auch sei, ich habe so viel für Sie getan, daß Sie alle Ursache haben, mir dankbar zu sein, ob Sie sich nun daran erinnern oder nicht. Ich gab Ihnen Gelegenheit, an einem Forschungsproblem zu arbeiten, das Sie interessierte, und ich habe Ihnen geholfen, habe Sie gelobt, habe meinen Freunden in den Regierungsstellen von Ihnen erzählt.«
»Was soll das alles heißen?« »Es heißt, daß Sie kein Recht haben, hier hereinzuplatzen und mich ohne Grund zu beschuldigen, noch dazu, nachdem ich Ihnen meine Hilfe angeboten hatte.« »Wann soll diese sogenannte Hilfe beginnen?« »Vielleicht sind Sie so lange ruhig, bis ich ausgesprochen habe.« Seine Augen waren heller geworden. »Ich war gestern nicht ganz aufrichtig, Walter. Der Grund lag darin, daß nur Sie allein davon befallen waren und ich somit keine Komplikationen vermutete. Ich hatte daher auch keinen Grund, über Angelegenheiten des Instituts zu sprechen. Aber im Hinblick auf Ihren Zustand – oder – Zustände –« Er setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und blickte finster zur Decke hinauf. »Ich glaube, Sie haben so viel über sich selbst erfahren, um zu wissen, daß Sie ein äußerst fähiger Mann waren. Sie waren genau der Mann, den ich brauchte. Das Unglück war nur, daß Sie sogar noch besser waren. Sie haben an den Projekten gearbeitet, die mir bekannt waren und mit denen Sie beauftragt waren, und gleichzeitig arbeiteten Sie noch an eigenen anderen Ideen. Die Schwierigkeiten für uns, sowohl für Sie als auch für mich, bestanden darin, die Interessen des Instituts von Ihren eigenen zu trennen. Sie haben die Grenzen, die Ihnen das Institut für Ihre Experimente
setzte, so oft überschritten, daß ich mich um Sie mehr kümmerte als um die anderen.« Schlessenger streifte die Asche seiner Zigarette im Aschenbecher ab und wischte einige Stäubchen mit der Fingerspitze von der Platte. »Das Ergebnis war, daß Sie sich mit einigen Dingen beschäftigten, die keiner von uns kannte. Als ich Sie deshalb zur Rede stellte, wollten Sie es nicht zugeben. Aber Sie konnten mich nicht täuschen. Sie wußten, wie ich darüber dachte, und hielten die Sache vor mir geheim. Aber eines Tages kam ich in Ihr Labor, als Sie gerade an einem solchen Experiment arbeiteten. Ich stellte es Ihnen daraufhin frei, mich entweder über Ihre Arbeit zu unterrichten oder sich nur mit den vorgeschriebenen Arbeiten zu befassen. Und wenn Ihnen die Sache so am Herzen lag, konnten Sie ja zu Hause daran arbeiten. Sie sagten, daß Sie das nicht könnten und diese Arbeit aufgeben würden.« Er stand auf. »Ich glaube nicht, daß Sie die Sache aufgegeben haben, Walter. Der Grund, weshalb Sie hier so viel Zeit verbrachten, war, daß Sie daran arbeiten wollten, wenn sonst niemand hier war. Das ging oft bis spät in die Nacht hinein. Und ich glaube, Sie haben gekündigt, weil Sie damit fertig waren und nicht mehr mit dem Institut in Verbindung stehen wollten, wenn Sie das Ergebnis Ihrer Forschungen bekanntgeben würden.«
Schlessenger drückte seufzend die Zigarette aus. »Wir werden nie erfahren, was es war, Walter, weil die Sache irgendwie schiefgelaufen ist. Der Zustand Ihrer Frau und Ihr eigener sind der Beweis dafür. Es ist nur traurig, daß Ihnen niemand helfen kann, weil Sie sich keinem Menschen anvertraut haben.« »Aber das sind doch alles nur Vermutungen, Doktor«, sagte Virginia. »Wenn Sie aus dem Kino kommen und feuchtes Gras und die nassen Straßen sehen, dann wissen Sie, daß es geregnet hat. Eine einfache Schlußfolgerung.« »Warum haben Sie mir das gestern nicht gesagt?« wollte Sherwood wissen. »Gestern hatte ich keinen Grund, Ihre Amnesie auf etwas anderes als auf Überarbeitung zurückzuführen«, antwortete Schlessenger geduldig. »Heute, da auch Mrs. Sherwood von der gleichen Sache befallen ist, sieht die Geschichte ganz anders aus. Ich kann mir keine andere Erklärung vorstellen.« »Aber Walter hat doch bestimmt mit jemandem darüber gesprochen«, sagte Virginia. »Vielleicht hat er mit Ihnen darüber gesprochen.« »Oder er hat Aufzeichnungen gemacht.« »Bestimmt nicht. Er machte niemals Aufzeichnungen. Auch im Labor ist nichts zu finden, wenn Sie etwa darauf hoffen. Es ist gründlich aufgeräumt worden.«
»Durchsucht, wollen Sie sagen«, warf Sherwood bissig ein. »Sie hätten Ihren rechten Arm geopfert, wenn Sie es erfahren hätten.« Schlessenger lächelte sauer. »Das Institut kann eine neue Entwicklung immer brauchen als Beweis seiner Leistung.« »Wie steht es denn mit diesem Ollie?« fragte Virginia. »Er hat doch Walter geholfen.« »Oliver Lansing war ein Junge, der frisch von der Universität kam und noch nicht wußte, ob ihm die Mädchen oder die Wissenschaft lieber waren«, brummte Schlessenger. »Er ist sich mit allen Leuten in die Haare geraten. Unglücklicherweise juckten ihn auch noch die Finger. Er verdiente nicht genug und entwendete verschiedene Gegenstände aus dem Labor, die er dann in Detroit verkaufte.« »Sie haben ihn also entlassen.« Schlessenger nickte. »Ja, ich habe ihn entlassen.« »Sagen Sie mir, ist es das normale Verfahren, die Papiere eines Angestellten, der entlassen wurde, aus der Kartei zu nehmen?« »In solchen Fällen, ja. Es sollte kein dunkler Punkt an dem Institut haften bleiben. Man hat das schon oft aus geringfügigeren Gründen getan. Woher wissen Sie es überhaupt?« »Ich habe spioniert.« »Dann muß ich die Sicherheitsmaßnahmen ver-
schärfen«, sagte Schlessenger. »Wenn Sie zu mir gekommen wären, hätte ich es Ihnen auch sagen können. Warum bestehen Sie darauf, sich Ihre Auskünfte von anderen zu holen? Ihr beide könnt jederzeit zu mir kommen, und ich werde alle Fragen beantworten, so gut ich kann. Ich will mich auch bemühen, euch nicht mit technischen Ausdrücken zu verwirren. Ihr sollt nicht glauben, daß ich gegen euch bin.« Er legte seine Hand auf Sherwoods Schulter. »Ihr solltet euch beide behandeln lassen. Sollten die Ärzte nicht in der Lage sein, etwas für euch zu tun, dann gehen Sie eben nochmals zur Schule. Es ist noch nicht zu spät. Ich bin bereit, sowohl die Behandlung als auch die Schule zu finanzieren. Bedenken Sie, daß Sie in einigen Jahren wieder so weit sein und über das gleiche Wissen verfügen können wie zuvor.«
13 Sherwood fand Georgia Schlessenger im Blumengarten hinter ihrem großen Wohnhaus. Ein Cadillac stand in der Einfahrt. Er ging über den gepflegten Rasen auf sie zu. Sie stellte ihre Arbeit ein und wartete, bis er auf Sprechweite herangekommen war. Erst dann stand sie auf. Ihr Gesicht war bemerkenswert hell für eine Frau, die im Garten arbeitet. Es war ein verwundertes Gesicht mit Sommersprossen und großen braunen Augen. Jetzt sah er auch ihr Haar, das rötlich unter dem Hut hervorschimmerte, und ihre von Sommersprossen bedeckten Hände. Sie schien bestürzt. »Dr. Sherwood«, begrüßte sie ihn. »Ich habe geklingelt, aber es kam niemand. Ich sah den Wagen und wußte –« »Ich höre nie auf die Klingel.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich möchte sie gern sprechen, Mrs. Schlessenger.« »Wirklich?« Sie machte keine Anstalten, den Garten zu verlassen. »Warum?« »Wegen gestern.« »Ich möchte gestern vergessen.« »Sie wollten mir etwas sagen.«
»Wollte ich das?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Sie waren aufgeregt, als Sie neben dem Wagen standen, und als ich Sie fragen wollte, liefen Sie davon.« »Das mag Ihnen wohl seltsam vorgekommen sein. Aber Sie dürfen nicht mehr daran denken, Doktor. Es hatte wirklich keine Bedeutung.« »Warum sind Sie davongelaufen?« Sie warf einen Blick auf den Himmel, wo die Sonne fast im Zenit stand. »Es ist zu heiß für eine Unterhaltung. Wollen wir hineingehen?« Sie führte ihn über den Rasen auf den rückwärtigen Eingang des Hauses zu. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte sie, als sie in der Küche waren. Als er zustimmte, holte sie eine Flasche aus dem Schrank. »Ist Bourbon recht? Ich habe auch Scotch in der Wohnzimmerbar.« »Danke, Bourbon ist schon recht.« »Wie geht es Ihrer Frau?« »Danke, gut.« »Ich habe Mrs. Sherwood immer gern gemocht.« Sie nahm mit einer Silberzange zwei Eiswürfel aus dem Kühlschrank und gab sie in sein Glas, bevor sie ihr eigenes füllte. »Ich habe Sie beide gern gemocht. Auch Andrew hält viel von Ihnen.« Sie goß Bourbon in sein Glas. »Ginger Ale?«
Er nickte und rührte den Cocktail um. »Es tut mir so leid, daß das passieren mußte«, sagte sie. »Es tut mir aufrichtig leid.« Während sie tranken, beobachteten sie sich gegenseitig. »Was wollten Sie mir gestern sagen?« »Fangen Sie wieder davon an?« Er nickte. »Was war es?« »Sie haben mich mißverstanden. Es war nichts.« Sie hielt das Glas in beiden Händen. »Was wollen Sie und Ihre Frau jetzt tun?« »Warum wollen Sie es mir nicht sagen?« »Bitte«, sagte sie, den Blick auf ihr Glas gesenkt. »Ich habe Sie gefragt, was Sie und Ihre Frau jetzt unternehmen wollen.« »Es war also doch etwas?« »Wollen Sie jetzt endlich damit aufhören? Ich sagte Ihnen doch, daß Sie mich mißverstanden haben. Es war nichts. Nichts!« »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte er ruhig. »Dann glauben Sie mir eben nicht«, murmelte sie. »Dr. Schlessenger hat Ihnen alles erzählt?« »Natürlich hat er mir alles erzählt.« Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Hat er Ihnen gesagt, daß ich mich an nichts während der letzten elf Jahre erinnern kann?« »Ja.«
»Hat er Ihnen auch von Virginia erzählt?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Hat er Ihnen gesagt, daß auch sie sich an nichts erinnert?« »Ja.« »Wann hat er Ihnen das gesagt?« »Ich weiß nicht.« Sie stand auf und starrte ihn an. »Walter, hören Sie jetzt damit auf. Ich sitze nicht auf der Anklagebank. Sie haben kein Recht –« Er lächelte. »Warum sind Sie so aufgeregt?« »Warum stellen Sie mir diese Fragen?« »Was wissen Sie von dem Leiden, das mich und Virginia befallen hat? Was verschweigt Dr. Schlessenger? Was wollten Sie mir gestern sagen?« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Sie war ganz blaß. Ihre Sommersprossen traten jetzt noch deutlicher hervor. Er sah, wie das Blut durch ihre Halsadern pulste und wie sie resigniert auf einen Stuhl sank und das Glas auf den Tisch stellte. »Andrew ist mein Mann«, sagte sie barsch. »Ich weiß nicht, was Sie andeuten wollen.« »Will ich denn etwas andeuten?« »Hören Sie auf. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich Ihnen nichts zu sagen habe.« »Hatten Sie schon einmal Amnesie, Mrs. Schlessenger?« »Nein.«
»Dann wissen Sie nicht, wie es ist, wenn man unfähig ist, sich zu erinnern. Sie sehen fremde Gesichter, die Sie ansehen, etwas in Ihren Augen suchen, das Sie selbst nicht kennen.« »Bitte.« »Wissen Sie, was man da fühlt? Es ist, als ob man Sie in eine Zeitmaschine gesteckt und elf Jahre weitergedreht hätte. Es ist, als ob Sie diese elf Jahre nie gelebt hätten, denn Sie können sich nicht daran erinnern.« »Walter, ich –« »Dann die Frau an Ihrer Seite, die mit Ihnen zurückgekommen ist. Sie können sie sehen, man sagt Ihnen, es sei Ihre Frau und Sie denken, mein Gott, was muß sie einmal für mich gewesen sein, aber ich kenne sie nicht, ich weiß nicht, was ich ihr bedeutet habe. Und dann stehen Sie beide da, unfähig, sich an das Glück zu erinnern, das Ihnen die gemeinsamen Jahre brachten. Können Sie sich vorstellen, was das heißt?« Sie sah ihn traurig an. »Nein – bitte –« »Und dann der letzte Schlag. Der Mann, der Ihnen helfen könnte, sagt es täte ihm leid, aber er könne nichts dafür und er könne nichts tun.« »Aber er kann wirklich nichts tun.« »Wirklich nicht?« fragte er wütend. »Nein!«
»Und warum nicht?« »Weil –!« Plötzlich ließ sie den Kopf sinken, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach über dem Tisch zusammen. Das Glas fiel auf den Boden. Sie beachtete es nicht. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Das hatte Sherwood nicht erwartet. Unsicher starrte er sie an, zuckte die Achseln und senkte den Kopf. Vielleicht war er doch zu weit gegangen. »Mrs. Schlessenger«, sagte er weich. Er wartete geduldig, bis sie sich beruhigt hatte und ihr tränenüberströmtes Gesicht hob. Sie griff nach einem Taschentuch und trocknete sich die Augen. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Als er nach Hause kam, war Virginia nicht da. Aber er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Das Telefon riß ihn aus seinen Gedanken. »Hier ist Kitty«, sagte die atemlose Stimme. »Ich habe versucht, Ollie zu finden. Hamp sagte mir, ich soll sofort anrufen, wenn ich eine Spur finde.« »Haben Sie Glück gehabt?« »Ja. Ollie wurde tatsächlich von Schlessenger entlassen und ist aus seiner Pension ausgezogen, um nach Hause zu fahren. Er ist aber nicht lange in Detroit geblieben.«
»Wo ist er jetzt?« »Hier in Merritville.« »Hier?« »Ja. Die Sache ist so – na ja, da ist ein Mädchen.« »Oh.« »Sie heißt Gloria Conners und wohnt in der Dempster Street.« »Wo ist das? Wissen Sie, ob er jetzt dort ist?« »Nein, er ist nicht dort. Ich habe eben mit ihm gesprochen –« »Wo ist er hingegangen? Ich muß ihn sprechen.« »Sie werden ihn gleich sehen, er ist auf dem Weg zu Ihnen.« »Da klingelt es bereits. Das wird er sein. Wiederhören und vielen Dank, Kitty.« Aber es war nicht Ollie. Es war Virginia mit einem Arm voll Lebensmitteln. Sie sah ihn seltsam an. »Was ist denn los, Walter, du siehst ja aus wie im Fieber. Ist was passiert?« »Ollie kommt.« »Oliver Lansing? Gut.« Sie ging an ihm vorbei. »Hast du dich gewundert, als ich nicht zu Hause war?« »Ich dachte, du hättest mich verlassen«, sagte er, während er hinter ihr in die Küche trat. »Ich bin mit den besten Vorsätzen nach Hause gekommen, aber dann habe ich all die Briefe auf dem
Tisch gesehen. Es waren meistens Rechnungen, ich habe sie bezahlt. Gas, Licht – hast du gewußt, daß wir sie schon seit zwei Monaten nicht bezahlt haben? – Wasser, Miete für den Banksafe. – Das Haus hier gehört uns, hast du es gewußt? Ich habe dabei fast mein ganzes Geld ausgegeben. Dann habe ich für das Mittagessen eingekauft. Wie war es bei Mrs. Schlessenger?« »Sie war ganz aufgelöst. Aber die wichtigste Nachricht ist Ollie. Kitty hat erfahren, daß er sich die meiste Zeit in Merritville aufgehalten hat, seit er entlassen wurde. Er hat eine Freundin hier.« Sie hielt in ihrer Arbeit inne. »Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht, Walter«, sagte sie. »Enttäuscht?« Bevor sie antworten konnte, hörten sie Schritte auf der Veranda, und es wurde geklingelt. »Ollie!« Sherwood ging zur Tür. Ein magerer, ernst aussehender junger Mann mit pockennarbigem Gesicht und einem eulenhaften Ausdruck stand vor der Tür. Er war fast so groß wie Sherwood, hatte arglose graue Augen. »Hallo, Doktor«, seine Stimme klang rauh und tief; sie stand in direktem Widerspruch zu seiner Jugend. »Hallo«, begrüßte ihn Sherwood. »Kommen Sie herein. Wir haben Sie erwartet.« Er hielt die Tür auf. Die grauen Augen sahen sich um. »Hallo, Mrs. Sherwood«, begrüßte er sie.
»Hallo, Ollie.« Ollie sah Sherwood fragend an. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, als er hereinkam. »Sie haben mit Kitty gesprochen?« fragte Sherwood, als er einen Stuhl für Ollie zurechtgerückt hatte. »Ja, Kitty hat mir alles erzählt.« Er nahm Platz. Wie ein Schuljunge, dachte Sherwood. Er sitzt da wie ein Schuljunge, der bei seinem Lehrer eingeladen ist. Als er ihn so betrachtete, versprach er sich nicht viel von der Unterredung. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« fragte ihn Virginia. »Noch nicht, Ma'am.« Sherwood konnte es nicht mehr erwarten. »Soviel ich weiß, haben Sie mir im Labor geholfen, Ollie. Stimmt das?« »Ja.« »Wir dachten, daß Sie uns vielleicht helfen könnten, die Sache zu klären.« »Wie Sie das Gedächtnis verloren haben, meinen Sie?« »Ja.« Sherwood stöhnte innerlich. Hier war nicht viel zu erwarten. Aber er hatte sich geirrt. »Nun«, Ollie sah langsam von einem zum anderen. »Das kann ich Ihnen sagen. Sie sind ein Opfer des Sherwood-Effekts.«
14 Die Lage hatte sich schlagartig geändert. »Der Sherwood-Effekt?« fragte Virginia langsam. »Ja.« Ollie sagte es mit absoluter Selbstverständlichkeit. »Vielleicht haben Sie von anderen gehört – dem Ramsauer-Effekt, dem Compton-Effekt, RumanEffekt. Dr. Sherwood hat seinen den Sherwood-Effekt genannt.« »Und was ist dieser Sherwood-Effekt?« Ollie lächelte schüchtern und blickte auf seine Hände. »Es ist nichts, das man mit einigen Worten erklären kann. Ich – ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll.« »Am besten doch am Anfang«, meinte Virginia verständig. »Ich weiß nicht.« Ollie sah sie hilflos an, überlegte und schluckte. »Ich will es versuchen.« Seine Hände waren ihm im Weg. Er fummelte damit herum, während er weitersprach. »Ich habe etwa vor einem Jahr im Institut angefangen. Vielleicht war es auch etwas länger her, aber das tut nichts zur Sache.« Er wandte den Blick von seinen Fingern ab. »Ich sollte allen helfen, sagte Dr. Schlessenger. Ich wollte etwa ein Jahr arbeiten, um mit dem Geld mein Studium zu finanzieren. Einer meiner Lehrer an der Universität – es
war die Universität von Detroit – kannte Dr. Schlessenger. Er ist ziemlich gut bekannt. Jedenfalls habe ich auf diese Weise die Stellung bekommen. Man kann ja nur auf diese Art eine Stellung bekommen.« Er schaltete eine Pause ein. »So wie es gedacht war, sollte ich überall mithelfen, wo man mich brauchte. Ich versuchte unparteiisch zu bleiben, wie es Dr. Schlessenger haben wollte, aber ich konnte mit Rayburn und Black nicht auskommen. Wilhelm und Heneberry waren nur einige Jahre älter als ich, und ich glaube, sie scheuten sich, mir einen Auftrag zu geben. Da blieben nur Cox und Sie übrig. Aber ich war mehr an Ihrer Arbeit interessiert. Neurophysiologie lag mir näher. Sie haben auch meine Fragen beantwortet. Die anderen Forscher brummten nur etwas, wenn ich sie fragte. Sie waren da ganz anders.« »Das freut mich. Ich bin davon überzeugt, daß Sie mir sehr geholfen haben«, versicherte ihm Sherwood. »Ich würde mich freuen, wenn es der Fall war.« »Was war meine Arbeit?« »Wie ich schon sagte, war Ihre Arbeit viel interessanter als die der anderen. Soviel ich sehen konnte, befaßten sich die anderen nur mit Routinearbeiten, prüften verschiedene Sachen nach; alles Dinge, die ich bereits von der Universität her kannte. Ich konnte mir nie erklären, daß Dr. Schlessenger damit zufrie-
den war. Sie, Dr. Sherwood, hatten eigene Ideen. Aufregende. Sie haben immer davon gesprochen. Sie haben mehr zu sich selbst als zu mir gesprochen. Sie wissen doch – Selbstgespräche.« »Was waren es denn für Ideen?« fragte Virginia. »Nun«, Ollie überlegte und blickte Sherwood an. »Das ist so schwierig zu erklären. Gehen wir von den Erkenntnissen von Fritsch und Hitzig und ihren Experimenten aus, die sie im letzten Jahrhundert durchführten. Aber vielleicht greifen wir da zu weit zurück.« »Fritsch und Hitzig?« »Das waren Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts. Sie arbeiteten mit einem Hund.« Er warf einen Blick auf Sherwood und fuhr dann eifrig fort: »Sie leiteten elektrischen Strom in die Gehirnrinde des Hundes, worauf der betäubte Hund die Beine bewegte.« »Ich verstehe.« Sherwood war sichtlich beeindruckt. »Nur weiter.« »Sie interessierten sich für Gehirnwellen. Sie glaubten, ein Gehirn so reizen zu können, daß es ein geistiges Bild aufnehmen könne, wie ein Fernsehgerät. Aber Sie sind nicht so weit gekommen. Sie stolperten zufällig über den Sherwood-Effekt.« »Schon wieder der Sherwood-Effekt.« »Ja. Ich fürchte, ich drücke mich nicht verständlich genug aus.«
»Sie machen es sogar sehr gut.« Ollie benetzte sich die Lippen. »Bei einem epileptischen Anfall verlieren die elektrischen Ausstrahlungen den Gleichklang mit dem übrigen Gehirn. So haben Sie mir das erklärt. Sie sagten, das geschieht in den Ganglien und strahlt aus, überflutet die benachbarten Gebiete mit einer höheren elektrischen Spannung und verursacht Zuckungen der Glieder oder Halluzinationen.« Ollie schwieg wieder, und als keine Frage gestellt wurde, fuhr er fort: »Sie wollten feststellen, wodurch die bekannteren geistigen Abweichungen verursacht wurden. Sie waren der Auffassung, daß Sie Abweichungen mit den entsprechenden Stimuli korrigieren könnten, um den richtigen Rhythmus wieder herzustellen und den Symptomen eines Zusammenbruches entgegentreten könnten.« »Sagen Sie, Ollie, hat Dr. Schlessenger davon gewußt?« »Von Ihrer Arbeit?« »Von diesem Projekt.« »Sicher hat er es gewußt. Warum?« »Nichts. Fahren Sie fort.« »Im Labor hatten Sie ein Elektronenstroboskop. Man bezeichnet es als Toposkop. Wenn Sie einen Menschen damit behandelten und seine Strahlen mit den Gehirnwellen dieses Menschen synchronisierten,
rief es einen epileptischen Anfall hervor. Das war zwar nichts Neues, aber Sie wiesen darauf hin, daß das ein Schritt in der Entwicklung war, das Gehirn aus der Entfernung zu beeinflussen.« »Ich verstehe.« »Ihr nächster Schritt war Elektromagnetismus. Sie verwendeten einen Kristalloszillator mit einer Leistungsfähigkeit von annähernd einer Million Megawatt, dazu nahmen Sie zwei Quarzkristalle mit verschiedenen Frequenzen, so daß der Unterschied eine Million Megawatt betrug. Sie haben mich in ganz Detroit herumgejagt, bis ich das Material beisammen hatte.« »Jetzt bin ich aber nicht mehr mitgekommen«, mußte Sherwood zugeben. »Aber fahren Sie ruhig fort.« »Sie bauten alles zusammen, gaben es in ein kleines Lederetui, schalteten es ein wie einen elektrischen Rasierapparat und versuchten, Ihre Gedanken anzuregen. Ich war selbst im Labor, als Sie es versuchten.« »Hat es funktioniert?« »Nein.« »Was geschah?« »Es hat weder Gedanken noch Halluzinationen hervorgerufen. Es hat nur Ihr Gedächtnis ausgelöscht. Genau wie bei einer Schockbehandlung. Es löscht die Erinnerung aus. Vollständig. Wie man ein Tonband löscht.«
»So war das also.« »Ja.« Ollie seufzte. »So war das. Beim ersten Male haben Sie alles vergessen, was Sie während einer Woche getan hatten, Sie hatten es zu lange eingeschaltet. Es war, als ob Sie während dieser Woche nicht gelebt hätten. Ich mußte es natürlich auch versuchen.« Sein Gesicht glühte. »Ich weiß also ganz gut, wie Sie jetzt fühlen.« »Jetzt wissen wir es wenigstens«, sagte Virginia leise. »Der Apparat hatte auch noch Nebenwirkungen«, erzählte Ollie weiter. »Wenn Sie den Apparat benutzten, fiel es Ihnen leichter, Probleme zu lösen. Ich glaube, Ihre Gedanken konnten sich da ausruhen; wenigstens sagten sie mal etwas Ähnliches. Abends schalteten Sie ein und löschten eine Woche aus Ihrem Gedächtnis, und am nächsten Morgen gelang Ihnen die Lösung Ihrer Probleme weitaus besser. Der Geist ruhte, und das Gedächtnis wurde geschärft. Sie sagten, sie könnten sich an viele Dinge erinnern, die sie schon vor Jahren vergessen hatten, Kleinigkeiten, an die sich ein Mensch normalerweise nie erinnern würde – Zahlen, Daten und Namen. Sie waren ziemlich erregt von dieser Entwicklung.« »Das war also die kurze und aufregende Karriere von Dr. Walter Evan Sherwood«, sagte Sherwood bitter. »Ich habe geistigen Selbstmord begangen und Virginia mitgerissen.«
Es war plötzlich ruhig geworden im Zimmer. Das Mittagessen war vergessen. Die drei Menschen waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Dann sagte Virginia: »Und Schlessenger? Welche Rolle hat er gespielt?« »Er verursachte nur Schwierigkeiten, nichts als Schwierigkeiten. Er war immer da, wenn man ihn nicht brauchen konnte, stand im Weg herum, stellte Fragen, machte Vorschläge. Zum Schluß kümmerten wir uns schon gar nicht mehr um ihn. Das machte ihn wütend. Zuerst hat er uns nicht viel belästigt, aber als er erfuhr, womit sich Dr. Sherwood beschäftigte, wurde er ganz aufgeregt. Ich spreche da von der Fernseh-Idee, die den Menschen geistige Bilder übermitteln sollte. Und er war furchtbar enttäuscht, als es nicht klappte. Aber als ihm Dr. Sherwood von der anderen Sache erzählte, war er wieder dauernd bei uns. Er ließ keine Ruhe und drängte uns, die Sache zu vollenden.« »Er hat also gewußt, wie das Gerät funktionierte?« »O nein. Sie sagten ihm, es sei noch nicht ganz fertig und daß es gefährlich sei, es jetzt schon zu verwenden. Sie wollten es noch genau überprüfen, wollten sicher sein, daß es jedes Gehirn in der gleichen Weise beeinflußte. Aber Dr. Schlessenger wollte es sofort bekanntgeben. Er war furchtbar wütend, als Sie nicht damit einverstanden waren. Dann wollte er haben, daß Sie alles zu Papier brächten; aber Sie wußten
genau, welchen Zweck er damit verfolgte, und lehnten ab. Wenn Sie nicht da waren, schnüffelte er im Labor herum, suchte nach Aufzeichnungen, aber Sie ließen nichts herumliegen. Sie haben sogar den Apparat nachts mit nach Hause genommen.« Sherwood stand auf. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was passiert ist. Als es Zeit wurde für die Tagung, mußte ich das Gerät irgendwo sicher unterbringen und legte es logischerweise in den Safe. Ich nahm wahrscheinlich an, daß es dort sicher sei, weil Schlessenger ja mit uns fuhr. Aber er hat es offenbar aus dem Safe und mit nach Los Angeles genommen. Irgendwie hat er es fertiggebracht, damit elf Jahre aus unserem Gedächtnis auszulöschen.« »Jetzt wissen wir zwar, wie wir uns das Leiden zugezogen haben, aber nicht, wie wir es heilen können«, sagte Virginia. »Heilen?« rief Ollie. »Die Erinnerung braucht doch nicht für immer verloren zu sein!« Sherwood sah ihn überrascht an. »Sie glauben, daß unser Gedächtnis wieder zurückkommt?« »Nicht ohne das Gerät, ohne das geht es nicht. Es funktioniert auch in der anderen Richtung. Ich glaube, ich habe das nicht klar zum Ausdruck gebracht. Sie können Ihr Gedächtnis ganz beliebig schließen oder öffnen.« Er grinste. »Es hat Wochen gedauert, bis Sie entdeckten, daß Sie die Erinnerung an die Wo-
che, die Sie vergessen hatten, wieder herstellen konnten. Da entdeckten Sie auch, daß es nicht nur die Erinnerung an die vergessenen Tage wieder herstellte, sondern Ihnen auch längstvergessene Erinnerungen ins Gedächtnis rief.« »Dann brauchen wir ja nur das kleine Gerät!« »Ja.« »Und Schlessenger hat es«, ergänzte Sherwood. »Bist du sicher, Walter?« »Natürlich. Er muß es haben.« »Glaubst du, daß es im Safe ist?« »Wahrscheinlich nicht.« Sherwood hatte sich auf die Treppe gesetzt, die in den oberen Stock führte. Die Lippen hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger. Er blickte finster auf die Risse in den alten Eichenbrettern. »Das müssen wir uns überlegen. Dr. Schlessenger braucht das Gerät, weil –« »Um seine Intelligenz zu erhöhen«, mutmaßte Virginia. Sherwood nickte. »Er wird sein Gedächtnis auffrischen, wird sich an jede Einzelheit erinnern.« Ollie sagte: »Eine der vielen Verwendungsmöglichkeiten wird Dr. Schlessenger besonders interessieren. Er hat es selbst vorgeschlagen. Er sagte einmal, man könnte eine ganze Armee ausschalten, wenn man sie mit dem Gerät bestrahlte, aber da wußte er noch nicht, wie schwach die Strahlen sind. Sie sagten
ihm, daß er einen Apparat so groß wie ein Haus haben müßte, wenn er seinen Plan ausführen wollte. Auch sagten Sie ihm, daß Sie das Gerät nicht als Waffe zu verwenden gedächten.« »Wie nahe muß man an das Gerät herangehen, wenn es wirken soll?« »Oh, höchstens auf einen Meter oder so. Bei zwei Meter hört die Wirkung auf.« »Schön.« Sherwood ging ans Ende des Zimmers und kehrte wieder um. »Soviel ich sehen kann, hat er den Apparat nach Kalifornien mitgenommen. Er wußte zwar noch nicht, wann er ihn anwenden könnte, aber er wußte, daß sich eine Gelegenheit bieten würde. Als wir am Tag vor der Tagung in Santa Barbara in dem Motel übernachteten, entschloß er sich zur Tat. Er würde kaum eine bessere Gelegenheit finden. Die Lage war günstig.« »Willst du damit sagen, daß er sich in unser Zimmer geschlichen hat und unser Gedächtnis während der Nacht auslöschte?« fragte Virginia. Sherwood lächelte. »Nein, aber ich glaube, ich weiß, wie er es bewerkstelligte.« »Wie?« Sherwood wandte sich an Ollie. »Wie lange würde es dauern, um elf Jahre aus dem Gedächtnis eines Menschen auszulöschen?« »Fünf bis sechs Stunden. Wir haben entdeckt, daß
man eine Woche in etwa einer halben Minute auslöschen kann. Um das Gegenteil zu erreichen, braucht man ebenso lange.« Virginia schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich Schlessenger hereingeschlichen hat und nach sechs Stunden zurückkam, um den Apparat zu holen.« »Natürlich nicht«, erklärte ihr Sherwood. »Das wäre zu riskant gewesen. Das würde er nie wagen. Aber ich weiß, wie er es tun konnte, ohne auch nur sein Zimmer zu verlassen.« »Unsere Zimmer lagen nebeneinander. Jetzt begreife ich.« »Natürlich. Er hat uns wahrscheinlich besucht, sah, wo das Kopfende unserer Betten war, und das stand direkt an der Wand zu seinem Zimmer. Er brauchte nur das Gerät in seinem Zimmer aufstellen, dicht an der Wand, und es tat seine Wirkung.« »Er sagte mir noch, wenn ich ein Wort darüber verlauten ließe, könnte ich was erleben«, berichtete Ollie. »Und ich habe niemals gekündigt«, fügte Sherwood hinzu. »Das war eine Lüge.« »Ich habe auch nie geglaubt, daß Sie gekündigt hätten«, fuhr Ollie fort. »Als Schlessenger ohne Sie zurückkam, dachte ich, er hätte Sie entlassen, weil Sie ihm den Apparat nicht geben wollten. Ich wußte nicht, daß er ihn mitgenommen hatte.«
»Und Sie hat er entlassen, Ollie?« »Ja. Er kam zurück und erzählte, ich hätte Geräte aus dem Labor gestohlen.« Sherwood nickte. »Er wollte Sie aus dem Weg räumen, damit Sie nichts von dem Zeitauflöser erzählen konnten.« »Er drohte mir mit dem FBI, wenn ich etwas über die Vorgänge im Institut ausplauderte. Das wäre ein Vertrauensbruch, sagte er. Aber ich hatte keine Angst. Nur als er sagte, er würde mich einsperren lassen, wenn ich wieder hierher zurückkäme, war ich beunruhigt; aber er wußte ja nichts von Gloria.« »Gloria Conners?« »Ja. Ich fuhr also zunächst nach Hause, um den Schein zu wahren, und kam dann wieder zurück. Gloria und ich werden nächste Woche heiraten. Ich wohne bei ihrer Familie und bleibe die meiste Zeit im Haus.« Virginia, die Ollie schweigend betrachtet hatte, sagte plötzlich: »Wir haben eines vergessen.« »Was?« fragte Sherwood. »Dr. Schlessenger hat anscheinend keinen persönlichen Gebrauch von dem Apparat gemacht.« »Vielleicht wartet er den richtigen Zeitpunkt ab. Inzwischen schärft er vielleicht seinen Geist damit.« Virginia war nicht davon überzeugt. »Er hätte bestimmt etwas unternommen. Wie ich ihn beurteile, ist
er sehr eitel. Er hätte bestimmt etwas getan. Und noch etwas. Warum hat er Ollies Gedächtnis nicht auch ausgelöscht? Dann wäre er sicher gewesen, und kein Mensch hätte etwas gewußt. Er hätte doch bestimmt eine Gelegenheit dazu gefunden.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gab Sherwood zu. »Da ist es wohl am besten, wenn wir Schlessenger nochmals aufsuchen und ihn fragen. Haben Sie Mut, Ollie?« »Ich glaube schon. Ich hoffe nur, er hat das Ding nicht gerade zur Hand. Ich möchte nicht vergessen, daß ich mit Gloria verlobt bin.«
15 Dr. Andrew Schlessenger war empört, als Sherwood die Tür öffnete, ohne anzuklopfen, und Virginia und Ollie vortreten ließ. Erst als seine Augen auf Ollies Gesicht fielen, zeigte er Interesse. Miss Lawson, die sie vollständig übergangen hatten, stürzte hinter Sherwood ins Büro. »Ich habe ihnen nicht erlaubt, daß sie hereinkommen können, Doktor. Sie sind einfach vorbeigegangen –« Sie stand händeringend in der Tür und warf einen flehentlichen Blick auf Dr. Schlessenger. Eine Frau, die dem Doktor gegenübersaß, wandte ihnen ein bleiches Gesicht zu. Als sie Sherwood erkannte, schaute sie weg. Es war Mrs. Schlessenger. Schlessenger sagte kurz: »Sie können gehen, Miss Lawson.« Die Sekretärin ging rückwärts aus dem Büro, nachdem sie noch einen ängstlichen Blick auf die drei Personen geworfen hatte. Dann richtete der Doktor seine kalten blauen Augen auf Sherwood. Lange sahen die beiden Männer einander an. Es war ein entscheidender Augenblick, ein Zeitraum, der sich zu einer undurchsichtigen, undurchdringlichen Schranke verdichtete, die der Doktor jetzt mit den Worten durchbrach: »Was versprechen Sie sich von Ihrer Aufdringlichkeit, Dr. Sherwood?«
»Unser Gedächtnis, Dr. Schlessenger.« Sherwood hatte einen Stuhl für Virginia herangeholt. »Sie werden Ihr Gedächtnis nicht hier im Büro finden.« »Vielleicht können wir Ihnen aber helfen, Ihr eigenes zu finden, Doktor«, schaltete sich Virginia ein. »Es tut mir leid, daß Ihr Gatte Sie zu diesem Vorhaben veranlaßt hat, Mrs. Sherwood. Ich habe Ihnen gesagt, was Sie gegen Ihren Gedächtnisschwund tun sollen. Ich habe Ihnen die Dienste fähiger Ärzte angeboten.« »Die Ursache liegt nicht bei uns«, sagte Sherwood ruhig. »Walter, wenn ich nicht wüßte, daß Sie krank sind –« Sherwood lächelte müde. »Krank, Doktor?« »Ja, krank. Ihr Verhalten bestätigt es. Ihre Verblendung, Ihr Verdacht und Ihr Verfolgungswahn, das alles sind Symptome einer Psychose.« »Andrew –« begann Mrs. Schlessenger. »Es ist nur bedauerlich, daß wir alle darunter leiden.« Er blickte kurz zu Mrs. Schlessenger hinüber. »Einschließlich meiner Frau.« Er wandte sich wieder Sherwood zu. »Warum, zum Teufel, haben sie meine Frau aufgesucht? Es hat sie furchtbar aufgeregt.« »Vielleicht hatte sie einen Grund zur Aufregung.« »Andrew«, begann Mrs. Schlessenger wieder. »Ich –« »Georgia«, sagte Schlessenger fest. »Ich werde nicht
zulassen, daß du in diese Sache hineingezogen wirst. Geh bitte zu Miss Lawson, bis wir hier fertig sind.« »Nein, Andrew.« Sie kauerte sich in ihren Sessel, als ob sie sich dadurch unsichtbar machen könnte. Sherwood dachte, sie ist ganz niedergeschlagen. Was hat Schlessenger bloß mit ihr gemacht. Schlessenger Gesicht lief rot an, als sich seine Frau weigerte, seinem Wunsch nachzukommen. Er wandte sich wieder an Sherwood. »Sie müssen jetzt gehen. Ich dulde nicht, daß Mrs. Schlessenger –« »Wir werden gehen, sobald Sie uns den Zeitauflöser ausgehändigt haben«, sagte Virginia scharf. »Den was?« »Den Apparat, den Walter erfunden hat, um das Gedächtnis auszulöschen.« Dr. Schlessengers Gesicht hätte nicht überraschter sein können. »Was ist denn das für ein Unsinn? Wovon reden Sie überhaupt?« Sherwood ergriff wieder das Wort. »Der Apparat, den ich in den Safe gelegt habe, bevor wir nach Kalifornien fuhren. Sie haben ihn mitgenommen und im Motel angewandt.« Schlessenger schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, Walter, so gut ich kann. Das habe ich Ihnen beiden versprochen. Ich war bereit, die Behandlung zu bezahlen. Aber wenn Sie hier herein-
kommen und eine Menge Unsinn erzählen, dann kann ich mein Angebot nicht aufrechterhalten. Wo haben Sie überhaupt diese verrückte Idee her?« »Ich habe es ihnen gesagt«, meldete sich Ollie. Die Augen des Direktors, die Ollie bis jetzt sorgfältig gemieden hatten, ruhten jetzt auf ihm. »Sie, Mr. Lansing, haben in diesem Büro nichts verloren. Ich habe Sie entlassen und gewarnt, was geschehen würde, wenn Sie zurückkämen. Sie treiben es jetzt auf die Spitze. Ich habe mit Ihnen genug Scherereien gehabt. Sie sollten sich entschuldigen für das Märchen, das Sie ihnen erzählt haben.« »Niemand hat erwartet, daß Sie es sofort zugeben würden, Doktor«, sagte Virginia. »Sie sagen genau, was wir erwartet haben.« Schlessenger schüttelte den Kopf. »Ich habe immer Ihren gesunden Menschenverstand geschätzt, Mrs. Sherwood. Offenbar habe ich Sie aber überschätzt.« Er seufzte. »Oder liegt es nur daran, daß Sie Ihre Amnesie so dringend los haben wollen, daß Sie alles glauben; selbst das Märchen eines Idioten?« Aber Ollie blieb fest. »Das war kein Märchen.« Schlessenger sah ihn fest an. »Vielleicht irre ich mich. Vielleicht sind Sie gar kein Idiot. Vielleicht sind Sie raffiniert genug, um die Sherwoods gegen mich aufzuhetzen, weil ich Sie beim Diebstahl von Laborausrüstung erwischt habe?«
»Es ist aber so, daß wir Oliver Lansing glauben«, sagte Sherwood fest. »Dann glauben Sie ihm eben. Machen Sie sich lächerlich, wenn Sie es nicht anders wollen. Ich weiß nichts von einem Apparat, mit dem man das Gedächtnis auslöschen kann. Du lieber Gott, ich wäre froh, wenn ich so etwas hätte. Das Institut hat es dringend nötig. Wenn ich so etwas hätte, säße ich nicht hier, um es abzustreiten. Ich würde es in die Welt hinausschreien! Ich würde Pressekonferenzen abhalten, und über Schlessengers Institut würde in allen Zeitungen berichtet werden! Aber das ist lächerlich.« »Das ist gar nicht lächerlich«, entgegnete Ollie fest. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte Schlessenger schneidend. »Und daß ich Geräte gestohlen habe, ist ebenfalls gelogen.« »Soll ich Ihnen die Hehler in der Umgebung der Universität von Detroit nennen?« »Ja!« rief Ollie aufgebracht. »Wir wollen bei der Sache bleiben, Doktor«, lenkte Sherwood ab. »Nicht Ollie steht vor Gericht.« »Wollen Sie etwa sagen, daß ich angeklagt bin?« »Ja.« »Dann hört die Höflichkeit auf. Ich muß Sie aus meinem Büro weisen.« Er drückte auf einen Klingel-
knopf auf dem Schreibtisch; man konnte die Klingel des Vorzimmers hören. Mrs. Schlessenger legte ihre weiße Hand auf den Arm ihres Mannes. »Andrew, ich möchte etwas sagen.« Im gleichen Augenblick öffnete Miss Lawson die Tür. »Lassen Sie bitte die Tür offen. Die Besprechung ist beendet«, befahl er. Sherwood trat auf den Schreibtisch zu. »Die Besprechung ist nicht beendet. In Ihrem Labor habe ich einen Apparat erfunden, der ein geistiges Bild von einem Menschen auf den anderen übertragen sollte, nur hat er nicht in der vorgesehenen Weise funktioniert. Er hat statt dessen das Gedächtnis ausgelöscht.« Schlessenger lachte. »Das, mein lieber Dr. Sherwood, ist ein Wunschtraum, der Phantasie Ihres Freundes Lansing entsprungen. Und jetzt, wenn ich bitten darf –« »Aber Ihre Rolle paßt sehr gut dazu, Doktor«, bemerkte Virginia. »Wollen Sie jetzt das Büro verlassen?« Schlessenger war aufgestanden, seine Stimme klang drohend. »Oder muß ich Sie hinauswerfen?« »Keines von beiden. Sie hofften, der Apparat würde Ihren Geist anregen, würde ihn schärfen und vielleicht Ihre Intelligenz erhöhen. Sie arrangierten deshalb die Reise, und als wir nach Los Angeles kamen,
brachten Sie den Mut auf, unser Gedächtnis auszulöschen. Unsere Erinnerung an die letzten elf Jahre.« »Hinaus!« »Und hinterher haben Sie die Sache mit meiner Kündigung erfunden.« »Und mich haben Sie entlassen und mir befohlen, den Mund zu halten«, fügte Ollie hinzu. »Hören Sie mir gut zu, junger Mann. Sie hatten verdammtes Glück, daß ich Sie nicht einsperren ließ.« Schlessenger schien außer sich. »Ich habe Sie nur geschont, weil ich einen Skandal im Institut vermeiden wollte. Ich –« »Sagen Sie uns doch, Doktor, warum Sie so mitfühlend mit uns waren und uns Behandlung und Schulung angeboten haben?« fragte Virginia. »Das paßt nicht zu Ihrer sonstigen Einstellung. Wollen Sie uns vielleicht entschädigen für Ihre Tat?« »Dieses Angebot ziehe ich in dieser Minute zurück.« »Dr. Schlessenger«, begann Sherwood wieder. »Wenn Sie das Gerät nicht aus dem Safe genommen haben, dann muß es noch drin sein. Wir wollen doch mal den Safe öffnen.« Sherwood holte einen Schlüsselring aus der Tasche. »Ich bin ganz sicher, daß einer dieser Schlüssel zu der Labortür paßt. Und den Safe werden wir schon öffnen.« Er ging auf die Tür zu. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« rief Schlessenger.
Sherwood hörte den häßlichen Ton in seiner Stimme, blieb stehen und drehte sich um. Schlessenger nahm eine kleine vernickelte Pistole aus der Schublade; seine Augen waren auf Sherwood gerichtet. »Sie sind ein Eindringling, Dr. Sherwood, wenn Sie weitergehen. Ich wäre dann vollkommen im Recht, wenn ich Sie niederschieße.« »Andrew!« rief Mrs. Schlessenger und stellte sich zwischen die beiden Männer. »Das reicht jetzt. Ich bestehe –« Schlessenger trat zur Seite. »Setz dich nieder, Georgia«, sagte er drohend. »Ich werde mich nicht setzen, Andrew. Ich habe genug davon. Hörst du? Genug!« »Georgia, jetzt ist keine Zeit –« Als Sherwood sich der Tür näherte, trat er vor, den Finger am Abzug. »Walter, ich warne Sie.« Sherwood kümmerte sich nicht darum und ging auf die Tür zu. »Andrew, du –!« Man hörte ein Geräusch, dann einen Knall. Aber Sherwood fühlte keinen Schmerz. Mrs. Schlessenger saß neben dem Schreibtisch, ihr Gesicht war schlaff; die Augen starr auf ihren Mann gerichtet, der den rauchenden Revolver noch in der Hand hielt. Als er sah, wie seine Frau zusammenbrach, mußte er sich am Schreibtisch festhalten.
Als Sherwood auf Mrs. Schlessenger zuging, trat der Direktor zurück und richtete die Waffe auf die Anwesenden. Seine Augen starrten wild um sich. Miss Lawson, die während der ganzen Zeit in der offenen Tür gestanden hatte, stöhnte und brach bewußtlos zusammen. Schlessenger durchquerte den Raum, stieg über die ohnmächtige Gestalt und verschwand im anderen Zimmer.
16 Sherwood hörte, wie die Vorzimmertür geschlossen wurde. Seine Gedanken schwirrten wirr durcheinander. Mrs. Schlessenger mußte geholfen werden, und er mußte den Doktor aufhalten. Während er noch unentschlossen zögerte, tauchten zwei weitere Gesichter vor ihm auf. Er hörte die Stimmen von Rayburn und Cox, die aus ihren Labors gerannt kamen. »Sieh zu, was du für Mrs. Schlessenger tun kannst«, sagte er zu Virginia, während er Ollies Arm ergriff. »Wir müssen hinter dem Doktor her.« Er stieg über die bewußtlose Sekretärin hinweg, rannte durch die Tür und ins Freie, als der Cadillac des Direktors über den Kies der Einfahrt auf die Straße zuraste. Gefolgt von Ollie, lief er zu seinem Wagen und sah, wie Schlessenger in die Straße nach Westen einbog. Sherwood wußte, daß sie ihn kaum einholen konnten. Sein eigener Wagen war zwar gut, aber nicht so schnell. Aber sie hatten keine Wahl – oder doch? Dann sahen sie den Wagen von Mrs. Schlessenger. Sie riskierten kostbare Minuten – wenn der Zündschlüssel nicht steckte ... Als sie feststellten, daß er da war, sprangen sie rasch in den Wagen. Sherwood startete und fuhr los, noch ehe Ollie sich zurechtgesetzt hatte.
Als sie die Straße erreichten, war Schlessenger bereits außer Sicht. Weil aber die Autostraße nicht gerade verlief, bestand noch immer Hoffnung. Sie fuhren mit voller Geschwindigkeit; Sherwood wagte es kaum, nach dem Tachometer zu sehen. Mit quietschenden Reifen nahmen sie die Kurven, bis sie auf eine gerade Strecke kamen und den anderen Wagen wieder erblickten. Die beiden Wagen rasten mit gleicher Geschwindigkeit dahin. Sherwood preßte seine Arme gegen das Steuer, um die Kontrolle nicht zu verlieren, falls ein Reifen platzen sollte. Ihre Anstrengungen wurden belohnt; die Entfernung zum Wagen des Direktors verminderte sich. »Da vorn ist eine gefährliche Kurve«, warnte Ollie. »Ich kenne die Straße, wir müssen langsamer fahren.« »Gut.« Sherwood nahm den Fuß widerwillig vom Gaspedal. Zu seiner Enttäuschung gewann der andere Wagen wieder einen größeren Vorsprung. Hinter einer Bodenwelle entschwand er ihren Blicken. Schlessenger hatte das Tempo beibehalten. Als sie auf der Höhe angekommen waren, konnten sie die Straße eineinhalb Kilometer weit übersehen. Sie führte jetzt eine kurze Strecke abwärts. Schlessenger Wagen brauste ohne Rücksicht auf die Gefahr dahin und näherte sich in voller Fahrt der Biegung, die deutlich zu sehen war.
»Dieser Narr«, hörte er Ollie sagen. »Dort unten ist eine Brücke. Das schafft er nicht.« Sie bremsten und sahen hilflos zu, wie das Unvermeidliche geschah. Der Wagen fuhr in die Kurve, legte sich auf zwei Räder und landete wieder auf allen vieren. Dann kippte er wieder auf zwei, schoß über die Straße hinaus und verschwand, sich überschlagend, im Gebüsch. Sherwood brachte das Cabrio zum Stehen und stieg aus. In der Stille hörte man das Murmeln eines Baches und ein leises Säuseln des Windes in den Büschen. »Er ist tot!« rief Ollie, als sie über die Straße auf das Gebüsch zurannten, das von Schlessengers großem Wagen niedergerissen worden war. »Vielleicht nicht.« »Das kann kein Mensch überleben.« Sie zwängten sich durch das Dickicht und kamen auf eine kleine Lichtung, wo der zertrümmerte Wagen lag. Sonderbarerweise war er wieder auf den Rädern gelandet. Er war völlig zerbeult, und über das Dach zog sich ein langer Riß. Schmutz und Gras bedeckte den ganzen Wagen. Durch die zersplitterten Fenster konnten sie sehen, daß Schlessenger nicht aus dem Wagen geschleudert worden war. Sherwood dachte, da hat er noch Glück gehabt, denn durch das Herausschleudern kommen die meisten ums Leben.
Als sie herangekommen waren, griff Ollie nach dem Türgriff. Zu seiner Überraschung ließ sich die Tür öffnen. Schlessenger saß hinter dem Steuer. Sein blondes Haar war nicht mehr so geordnet, das Gesicht war schlaff und die Augen ausdruckslos. Sein teurer Tweedanzug war zerrissen. Sherwood hielt ihn zuerst für tot – oder wenigstens bewußtlos. Aber dem war nicht so; mit einer krampfhaften Kopfbewegung deutete er an, daß er sie gesehen hatte, und versuchte, ihnen den Blick zuzuwenden. Er wollte sich bewegen, biß die Zähne zusammen und stöhnte. »Können Sie mich verstehen?« fragte Sherwood. »Hören Sie mich?« Schlessenger murmelte etwas Unverständliches. Seine Hand zuckte, der Kopf hing ihm auf die Brust, bis seine Stirn fast das Lenkrad berührte. Sherwood wandte sich an Ollie, dessen Gesicht ebenso weiß war wie Schlessengers. »Können Sie in die Stadt fahren?« Ollie starrte ihn an. »Reißen Sie sich zusammen. Wir brauchen einen Krankenwagen. Ich bleibe bei ihm.« »Ich –« Ollies Augen weiteten sich, und Sherwood sah Schlessenger an, der noch die Pistole in der Hand hielt.
»Nein«, stieß Schlessenger heiser hervor, wobei er versuchte, seinen schwankenden Kopf gerade zu halten. Er entblößte die Zähne, der Atem kam keuchend aus seiner Kehle. Sein Blick wurde mit jedem Augenblick klarer. Sherwood sah, wie ihm das Blut aus einer Wunde über dem rechten Auge lief, dann sagte er: »Ich habe Ollie nach einem Krankenwagen geschickt.« Schlessenger hob die Pistole, bewegte die Schulter und zuckte zusammen. Das Blut aus seiner Kopfwunde bildete ein kleines Rinnsal über den Augenbrauen. Mit der freien Hand wischte er das Blut ab. Wieder sagte er mit zusammengebissenen Zähnen: »Nein.« »Sie können doch nicht hier sitzen bleiben, bis Sie verbluten.« Schlessenger gelang ein schiefes Lächeln, er machte eine Bewegung mit der Pistole. »Stellt euch näher zusammen.« Sherwood machte eine Bewegung in der Richtung des Doktors, aber dann sah er den entschlossenen Ausdruck in seinen Augen. »Ich mußte einen Menschen töten«, stieß er hervor. Blut lief aus seinen Mundwinkeln. »Zwei mehr machen auch nichts mehr aus. Stellt euch zusammen. Ich habe nicht viel Zeit.« »Warum?« fragte Ollie mit überraschend ruhiger
Stimme. »Warum müssen Sie uns töten, Dr. Schlessenger?« »Georgia wird es niemals sagen. Ich werde es niemals sagen. Und jetzt werdet ihr es auch nicht mehr sagen.« »Was sagen, Doktor?« fragte Sherwood, der fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Schlessenger zeigte ein teuflisches Grinsen. »Sie dachten, Sie hätten gewonnen, Walter. Aber das stimmt nicht. Die Tür ist verschlossen und der Schlüssel weggeworfen.« Alle horchten, als ein Wagen näherkam und vorbeifuhr. »Dr. Schlessenger, Sie hatten einen schlimmen Unfall und brauchen Hilfe. Ihre Frau ist nicht tot, nur verletzt. Sie sollten jetzt nicht sprechen. Sie müssen Ihre Kräfte schonen. Sie werden sie noch brauchen.« Schlessenger lächelte verzerrt. Er richtete die Pistole wieder auf Sherwood. »Ich habe gesiegt, Dr. Sherwood. Ich bin immer der Sieger«, grinste er. Plötzlich fiel sein Kopf vornüber. Nur mit Anstrengung konnte er sich wieder aufrichten. Sein Gesicht wurde kalkweiß. Seine Hand begann krampfhaft zu zucken, die Augen weiteten sich. »Walter, verdammt noch mal. Wo sind Sie? Was machen Sie mit mir?« schrie er. Mit einem leisen Stöhnen wich das Leben aus seinem Körper, das Gesicht wurde schlaff, und die Au-
gen bekamen einen glasigen Blick. Seine Hand fiel herunter, die Pistole entglitt seinen Fingern, während sein Körper über dem Lenkrad zusammensank.
17 Wenn Andrew Schlessenger eines natürlichen Todes gestorben wäre, hätte es lange nicht die Aufregungen und Komplikationen gegeben, die unter den gegebenen Umständen unvermeidbar waren. Unter normalen Verhältnissen wären die Forscher von seinem Tode nicht sehr berührt worden. Sie hätten wahrscheinlich ihre Arbeit fortgesetzt, aber die Verwundung von Mrs. Schlessenger und der Tod ihres Mannes nach dem Unfall führten zur Schließung des Instituts – für einige Tage, sagten die Behörden –, bis die ganze Angelegenheit untersucht werden konnte. Georgia Schlessenger lag mit einer Schulterverletzung im Krankenhaus – ihr Zustand wurde als gut bezeichnet. Sie sagte den Reportern, was sie für richtig hielt, ebenso der Polizei von Merritville. Alle glaubten ihr, daß ihr Mann einen Tobsuchtsanfall erlitten habe und einfach Amok lief. Als Erklärung für ihr Verschweigen der Einzelheiten gab sie die Geheimhaltepflicht des Instituts an und machte Überanstrengung und den Druck der Regierungsstellen für den Unfall ihres Mannes verantwortlich. Mit dieser Erklärung begnügte man sich auch. Georgia Schlessenger war sehr blaß, ihr Gesicht war fast so weiß wie das Kissen, und als Sherwood und
Virginia das Zimmer betraten, war sein erster Gedanke: sogar die Sommersprossen sind verschwunden. Ihre Augen waren größer, als er sie in Erinnerung hatte. Sie sah nicht mehr so bekümmert aus. Ihr Haar fiel in weichen Locken über das Kissen. Sie lächelte ihnen entgegen, als sie eintraten. »Ich freue mich, Sie zu sehen«, begrüßte sie die beiden und bot ihnen ihre freie Rechte. »Seit ich hier bin, habe ich viel über Sie nachgedacht. Ich hätte Sie schon früher hergebeten, aber ich war dazu noch nicht in der Lage. Außerdem gab es noch viel zu überlegen.« Sie setzte sich auf, strich das Kissen glatt und legte sich wieder hin. Dann zeigte sie auf zwei Stühle. »Nehmen Sie doch Platz. Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich wünschte nur, es wäre nicht notwendig gewesen.« In ihren Augen stiegen Tränen auf. »Ich habe Andrew gewarnt, aber er ist einer der Menschen, die auf keinen Rat hören.« »Sie haben davon gewußt?« fragte Sherwood leise. »Habe ich recht?« Sie drehte sich um. »Ja, ich habe alles gewußt und wollte es Ihnen sagen, aber ich brachte es nicht fertig. Ich versuchte, Andrew zu überreden, aber der hörte nicht auf mich. Ich war im Büro und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, als Sie mit Ollie Lansing kamen. Da wußte ich, daß es das Ende war – oder der Anfang.
Dann hat sich allerdings herausgestellt, daß es beides war.« »Beides?« fragte Virginia nach einer Pause. »Ich will alles erklären. Am besten fange ich ganz von vorn an«, fuhr Mrs. Schlessenger fort. »Andrew war ein Opportunist. Das habe ich schon gewußt, als ich ihn heiratete. Ich hoffte, daß unsere Verbindung sich zu einem erträglichen Zusammenleben entwikkeln würde, obwohl ich wußte, daß er mich nicht liebte. Mein Irrtum lag nur darin, daß ich glaubte, ihn ändern zu können. Erst später sah ich ein, daß man einen Menschen einfach nicht ändern kann. Die Tragödie lag darin, daß ich es so spät einsah. Ich wußte zuerst nicht, daß er ein so übler Lügner und Betrüger war. Jahrelang umgab ich ihn mit einer Aura, die nur in meiner Einbildung existierte. Es war, wie wenn man eine Brille trägt, die einem nicht paßt – oder überhaupt keine trägt, obwohl man sie braucht. Ich will damit sagen, daß ich Andrew in all den Jahren nicht durchschaute. Erst viel später klärte sich mein Blick, und ich erkannte in ihm den Mann, den auch Sie kennen. Sie würden überrascht sein, was ich alles über ihn erfuhr, es ließ mich sogar manchmal an der Echtheit seiner Titel zweifeln. Mißverstehen Sie mich nicht; Andrew war keineswegs dumm, obwohl seine Behauptungen vielfach nicht stimmten. Auf seine Art war er sogar ein sehr kluger Mensch. Er
fand sich in seinem Lügennetz ganz hervorragend zurecht und verstand es immer wieder, sich mit neuen Lügen zu decken. Schade, daß er seine Intelligenz an solche Kleinigkeiten verschwendete. Er verbrachte sein ganzes Leben damit, seine Betrügereien immer wieder zu verschleiern. Er schien nie zu begreifen, daß er bei einer ehrlichen Lebensweise genauso weit gekommen wäre. Lange glaubte ich, daß er jetzt Halt gefunden hätte. Er war glücklich in dem Institut, und seine Stellung als Direktor gab ihm den notwendigen Respekt vor sich selbst. Er tat manchen Fehlgriff bei der Auswahl seiner Forscher, ärgerte sich, wenn die National Science Foundation mit seinem Programm nicht einverstanden war. Ich glaube, er war ehrlich überrascht, als man Resultate sehen wollte. Anscheinend begriff er erst dann, daß das Institut kein Spielzeug war und daß er etwas leisten mußte. Er wußte, daß er nicht mit seinen Freunden rechnen konnte, und suchte nach jungen fähigen Forschern. Da fand er Sie und Mr. Cox, und weil er der National Science Foundation beweisen wollte, daß die nichts von der Sache verständen, war er dauernd hinter Ihnen her, eine sensationelle Erfindung zu machen.« Georgia Schlessenger strich wieder die Kissen glatt. »Vor einem Jahr hörte ich zum ersten Male von der Fernübertragung. Andrew erzählte mir, sie wären mit
einem Gerät beschäftigt, das Gedanken und Vorstellungen in das Gehirn eines Menschen übertragen könne. Er sprach nicht viel darüber, weil er nicht recht daran glaubte. Aber eines Abends kam er ganz aufgeregt nach Hause. Sie hatten ihm von Ihrem Versuch mit dem Apparat erzählt und dabei erwähnt, daß er die Erinnerung auslösche. Das brachte ihn auf ein anderes Gleis, und er war ständig damit beschäftigt, neue Anwendungsmöglichkeiten für das Gerät zu finden und ging mit immer mehr Enthusiasmus an die Sache heran. Einige der Dinge, die er sich ausdachte, kann ich nicht erzählen; ich müßte mich schämen. Aber Andrew kannte keine Scham. Er wurde noch erregter, als Sie ihm sagten, daß man die Intelligenz eines Menschen mit dem Apparat heben könne, indem man die Erinnerung vorübergehend ausschalte. Er hatte eine Veränderung an Ihnen festgestellt, besonders an Ihrer Sprache, und ich wußte, daß er Sie beneidete. Er wollte es auch versuchen, aber Sie sagten ihm, es wäre noch nicht ganz fertig.« Mrs. Schlessenger lächelte. »Er war wie ein kleiner Junge. Als Sie ihm sagten, er müsse noch warten, stampfte er mit dem Fuß auf, erinnerte Sie daran, daß er der Direktor des Instituts sei und befahl Ihnen, ihm das Gerät zu geben. Sie zuckten die Achseln und sagten ihm, daß dazu später noch Zeit genug sei. Sie müßten erst noch einige Unebenheiten ausbügeln,
bevor sie es einem anderen anvertrauen könnten. So sagte wenigstens Andrew, als er aufgebracht nach Hause kam, und ich glaube, es stimmte auch. Ich habe ihn selten so wütend gesehen. Einmal war Dr. Sherwood ein prachtvoller Mensch, ein Mensch voller Ideen, der das Institut retten würde, und im nächsten Augenblick waren Sie ein Mann, dem man genau auf die Finger sehen müsse, weil Sie Ihre Erfindungen für sich behalten wollten. Er könne Ihnen nicht länger vertrauen, und Sie wollten das Institut betrügen. So sah er die Dinge.« »Und weil man einen Menschen ohne Gedächtnis nicht zu überwachen braucht, hat er unseres einfach ausgelöscht«, warf Sherwood ein. »Das war keine impulsive Handlung. Es war eine Sache, die sich langsam anbahnte, wie das bei böswilligen Dingen meist der Fall ist. Zuerst hat er Sie im Labor bearbeitet, versuchte Sie zu überreden, den Apparat mit ihm zu teilen. Aber ich glaube, Sie haben ihm nicht mehr getraut, als Sie merkten, wie begierig er darauf war. Sie haben wohl befürchtet, er würde Mißbrauch treiben oder es als seine eigene Erfindung ausgeben. Ich weiß nicht, was Sie sich dachten, aber Sie ließen das Gerät nicht mehr im Labor. Sie haben es jede Nacht mit nach Hause genommen. Der arme Andrew! Wie heiß wünschte er, daß Sie es einmal vergessen würden.
Als er dann einsah, daß er das Gerät nicht bekommen würde, wollte er Ihnen einreden, eine Bauanleitung anzufertigen. Er war Tag und Nacht hinter Ihnen her. ›Angenommen es passiert Ihnen etwas, Walter‹, sagte er. ›Was hätte das Institut dann von der ganzen Erfindung?‹ Sie sagten ihm, daß das Institut immer noch im Besitz des Gerätes wäre. ›Aber wenn sowohl Ihnen, als auch dem Gerät etwas passiert?‹ Ich erinnere mich noch, wie es Andrew erzählte – er hielt es ganz und gar nicht für einen Scherz. Andrew kam nie auf den Gedanken, daß er viel mehr erreicht hätte, wenn er offen mit Ihnen gesprochen hätte. Ihr Widerstand machte ihn nur noch aggressiver. Er mußte das Gerät haben. Das Gerät, tagein, taugaus, nichts als das Gerät. Er dachte kaum darüber nach, was er damit anfangen sollte, aber er mußte es haben.« Mrs. Schlessenger schwieg. Ihr Blick wanderte zu ihrer Hand, die an der Bettdecke zupfte. »Es wurde so wichtig für ihn, daß er kaum noch essen und schlafen konnte. Für den Apparat wollte er größere Opfer bringen und mehr riskieren als für alles andere. Er hätte tatsächlich einen Mord begehen können. Ich dürfte das eigentlich nicht sagen, aber es ist die reine Wahrheit. Ich bin Gott dankbar, daß er seine Pläne, die ihm manchmal durch den Kopf gingen, nicht ausgeführt hat. Was er getan hat, reicht. Als Sie
nach Kalifornien fuhren, wußte ich ganz genau, daß es ein Täuschungsmanöver war und nicht bloß eine Reise zu einer Tagung. Ich habe es auch Andrew gesagt. Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, daß er unsaubere Pläne habe. Wir hatten noch eine Szene, bevor er ging, aber er verriet nichts. Er fürchtete wohl, daß ich Sie warnen würde.« Nach einer kurzen Pause nahm Sherwood das Gespräch wieder auf. »Als er von Kalifornien zurückkam, sagte er Ihnen wohl, daß ich gekündigt hätte.« »Nein.« Mrs. Schlessenger runzelte die Stirn. »Wenigstens nicht gleich. Ich habe es von anderer Seite erfahren – ich glaube, es war Mr. Cox. Nein, Andrew hat mir nichts von Ihnen gesagt, dazu war er zu aufgeregt.« »Aufgeregt, Mrs. Schlessenger?« warf Virginia ein. »Ja, ich nehme an, Sie wissen, wie er zu dem Apparat kam?« »Ich nehme an, er holte ihn aus dem Safe. Stimmt das?« »Ja. Eine Stunde vor Ihrer Abreise ging er ins Büro. Er war voller Freude an diesem Morgen. Wissen Sie auch, wie er den Apparat angewendet hat?« »Das Kopfende unseres Bettes stand an der Wand zu seinem Zimmer. Er hat den Apparat wahrscheinlich auf einen Stuhl gelegt und ließ ihn die ganze Nacht laufen.«
»So war es. Andrew hielt sein Vorgehen für besonders schlau.« »Sie sagten, Dr. Schlessenger war aufgeregt, als er zurückkam«, erinnerte sie Virginia. »Ja. An dem Morgen, nachdem er Ihr Gedächtnis ausgelöscht hatte, packte er das Gerät in das Lederfutteral, mietete einen Wagen und fuhr nach Santa Barbara zu der Tagung. Unterwegs hatte er einen Unfall. Ein Mann in einem Sportwagen drängte ihn ab, und das Gerät wurde zertrümmert. Andrew sagte, er hätte geweint wie ein kleines Kind, als er die Stücke zusammensuchte. Er kämpfte noch mit seinen Tränen, als er mir davon erzählte.« »Dann ist der Apparat also zerstört«, sagte Sherwood ernst. »Ja, er ist ruiniert. Andrew hat ihn zwar zurückgebracht und versucht, ihn zu reparieren, aber es war hoffnungslos, und er hatte keine Ahnung, wo die einzelnen Teile hingehörten.« Sherwood seufzte, stand auf und ging ans Fenster. »Das hat also Dr. Schlessenger gemeint, als er sagte, die Tür sei geschlossen und der Schlüssel weggeworfen.« »Sagte er das?« »Ja. Er sagte auch, daß er der Sieger wäre. Ich glaube, er hat recht.« Er drehte sich um. »Wo ist der Apparat jetzt? Im Safe?«
»Ja, deshalb wollte er ja den Safe nicht öffnen.« »Ich möchte ihn mir ansehen.« »Jetzt weiß ich, warum Dr. Schlessenger nicht auch Ollies Gedächtnis auslöschen konnte«, bemerkte Virginia. »Ich wette, das hatte er vor, als er zurückkam, und da hat er sich eben einen anderen Weg ausgedacht, um Ollie loszuwerden.« »Da es nun zerbrochen ist und keine Möglichkeit besteht, es zu reparieren –« sagte Sherwood düster. »Vielleicht doch, Dr. Sherwood. Andrew war davon überzeugt, daß Sie einen Plan gemacht haben, auch Aufzeichnungen. Das hatte er einige Male erwähnt.« »Das hat er sich vielleicht gewünscht.« »Nein. Er sagte, er hätte sie an einem Plan arbeiten sehen. Er war absolut sicher.« Mrs. Schlessenger Stimme hatte sich etwas verändert. Sherwood sah sie überrascht an. Ihre Augen schienen heller, die Wangen hatten sich gerötet. Er fand keine Erklärung dafür. »Warum sind Sie so sicher, daß ein Plan existiert?« Sie sah ihm in die Augen. »Ich bin so sicher, daß ich Ihnen etwas anbieten möchte.« »Was?« »Das Institut. Ich möchte, daß Sie es so leiten, wie es sich gehört.« »Sie möchten Walter die Leitung des Instituts übertragen? Aber Mrs. Schlessenger. Warum denn?«
»Warum?« Ihre Augen flackerten, dann kam wieder Wärme in ihren Blick. »Ich will es Ihnen offen sagen. Ich glaube, Walter ist wie geschaffen für das Institut. Zwar nicht der Walter, den Sie vor sich sehen, aber der Walter, der er früher war. Er eignet sich für den Direktorposten des Instituts besser als Andrew. Er ist so, wie ich Andrew haben wollte. Und ich möchte, daß er das Institut übernimmt, Mrs. Sherwood.« Als sie den unsicheren Blick Virginias bemerkte, fuhr sie fort: »Ich selbst habe genug von Merritville. Ich glaube, ich werde nach Europa fahren.«
18 Solange die Pläne nicht gefunden wurden, konnten sie ihnen nichts nützen. Sie überlegten, ob sie die einzelnen Teile auch so zusammenfügen könnten, aber die Kristalle, Drähte und Metallteile waren hoffnungslos durcheinander. Booey brummte, als er den Trümmerhaufen sah. »Das ist noch verwirrender, als wenn wir gar nichts gefunden hätten. Ich dachte, ich könnte mir vorstellen, wie das Ding ausgesehen hat, aber das ist etwas ganz anderes.« Er schob die einzelnen Teile kopfschüttelnd hin und her. Ollie half mit, aber obwohl er ungefähr wußte, wo die einzelnen Stücke hingehörten, wußte er doch nicht, wie sie angeschlossen werden mußten. Jetzt machten sie sich ernsthaft auf die Suche nach dem Plan. Für das Vorhandensein desselben konnte sich Ollie verbürgen. Sie kamen immer wieder auf den gleichen Punkt zurück. Die Aufzeichnungen mußten im Labor sein. Stundenlang suchten sie. Als sie sicher waren, daß im Labor nichts zu finden war, suchten sie in Schlessenger Büro. Sie durchsuchten sämtliche Räume und andere Labors, aber ohne Ergebnis. Als sie die Gewißheit hatten, daß im Institut nichts
zu finden war, verließen sie das Gebäude. Sherwood, Booey, Ollie und Appleby beschlossen, Sherwoods Haus zu durchsuchen. Sie suchten Zentimeter um Zentimeter ab, suchten an den Wänden nach Geheimfächern und Verstecken. Aber es war wieder ergebnislos. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir angeln gehen«, schlug Appleby vor. Als Booey, dem dieser Gedanke doch zu weit hergeholt schien, ihn auslachte, fuhr Appleby fort: »Nein, es ist mein Ernst. Die beißen jetzt überall gut.« »Das hieße, die Sache aufgeben«, wandte Sherwood ein. »Ich könnte jedenfalls nicht angeln, wenn ich dauernd an die Pläne denken mußt.« »Wenn ich eine Kuh vermissen würde«, erklärte Appleby, »dann würde ich mich eine Weile mit etwas anderem beschäftigen und nachdenken, wo ich hingegangen wäre, wenn ich eine Kuh wäre.« Booey lachte. »Ich glaube, Sie haben recht. Wir bemühen uns zu sehr. Was meinen Sie, Walter?« »Nein, Doktor. Ihr könnt allein angeln gehen.« Als sie weg waren, tat es Sherwood leid, daß er nicht mitgegangen war. Er ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett, um sich zu entspannen. »Du hättest mit zum Angeln gehen sollen«, sagte Virginia, als sie heraufkam, um nachzusehen, warum es so ruhig war.
»Ich weiß.« »Warum bist du nicht mitgegangen?« »Ich dachte, daß es wichtiger wäre, über den Verbleib des Planes nachzudenken.« »Du hättest auch –« »Ich weiß. Ich hätte auch draußen nachdenken können. Aber das ist mir zu spät eingefallen.« Er setzte sich neben sie auf den Bettrand. »Ich hätte tatsächlich gehen sollten. Weißt du, daß wir fast am Ziel waren. Um Haaresbreite. Wir brauchten nur noch ein Rätsel zu lösen, und dann hätten wir uns wieder an alles erinnern können.« Sie sah ihn nicht an und hielt den Blick auf die Baumwipfel gerichtet, die sich im Winde bewegten. »Mir wäre es lieber, wenn du die Zeichnung eine Weile vergessen würdest. Ist dir das so wichtig, Walter?« Er sah sie scharf an. »Sagst du mir schon wieder, daß es dir nicht wichtig ist?« »Es gibt auch noch andere Dinge«, sagte sie tonlos. Sie wagte es noch immer nicht, ihn anzusehen. »Welche Dinge?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Wir müssen leben, oder nicht? Wir hören nicht auf zu atmen, nur weil wir diese Zeichnung nicht haben.« »Manchmal glaube ich, du willst sie gar nicht finden.«
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie ruhig. »Aber bis wir sie finden, sollten wir versuchen, wie zwei normale Menschen zu leben. Wenn wir sie niemals finden, müssen wir ja auch so leben.« Als Sherwood schwieg, fuhr sie fort: »Ich gehe jetzt zur Bank, um zu sehen, wieviel Geld wir haben, und wenn es nicht viel ist, suche ich mir Arbeit. Mir gefällt es in Merritville und auch in diesem Haus. Ich glaube, wir sollten hier bleiben, ob wir nun die Zeichnung finden oder nicht.« Sie stand plötzlich auf ging aus dem Zimmer. Die Angler waren zurückgekommen und brieten ihren Fang über einem Holzkohlenfeuer im Hof. Die Fische schmeckten ausgezeichnet. Alle saßen im Wohnzimmer. Sherwood dachte, mit den Fischen und dem Essen ist heute der Tag noch nicht abgeschlossen. Es liegt etwas in der Luft, ich kann es beinahe fühlen. Er suchte Virginias Augen und war überrascht, wie blaß sie aussah. Als er sie ansah, stand sie auf. Er fürchtete, daß sie jetzt in Tränen ausbrechen würde, aber sie ging schnell aus dem Zimmer und durch den Vorraum in die Küche. Niemand sprach. Alle hörten, wie die Tür geschlossen wurde. Booey sagte: »Sehen Sie lieber nach, Walter«, aber er war bereits auf dem Wege.
Er fand die einsame Gestalt Virginias auf einer Bank unter der Birke im Garten. »Was ist denn los?« fragte er nach einer Weile. Als sie keine Antwort gab, fragte er weiter: »Ich dachte, du wärst zufrieden, so wie es ist?« Sie schloß die Augen. Jetzt fand er erst recht keine Erklärung. Sie preßte die Lippen zusammen und hielt die Augen geschlossen. »Virginia –« Sie atmete tief ein und griff nach seiner Hand. »Entschuldige. Ich habe solche Angst.« »Angst?« »Ja, Angst, das sich alles zu sehr ändern wird. Es war doch alles so schön in den letzten Tagen.« »Es braucht sich doch nichts zu ändern.« Er faßte sie zart am Kinn und hob ihren Kopf, um in ihre Augen zu sehen. »Es wird doch immer schön sein. Es braucht sich nichts zu ändern.« »Kitty sagte mir, wie es war.« »Wie war es denn?« »Selten zu Hause. Eine wandernde Rechenmaschine, Rechenschieber und den Kopf voller Formeln. Das warst du. Du hast dich im Institut vergraben und kamst nur selten heraus, um Luft zu holen. Die meiste Zeit habe ich allein im Haus herumgewirtschaftet.« »Das wird nicht wieder so sein«, sagte er fest.
Sie hörten, wie die Haustür geöffnet wurde. Dann trat Booey auf sie zu. »Hoffentlich störe ich nicht.« »Ich habe eben erfahren, was ich für ein Versager war.« »Ein Besessener, der sich im Labor vergräbt und nur die Augen für seine Probleme hat«, brummte Booey. »So waren Sie schon in Ryerson.« Er suchte und fand einen Gartenstuhl, schleppte ihn heran und fuhr fort: »Ich wollte mit euch beiden reden. Warum sollt ihr euch über die Bewertung der vergessenen elf Jahre den Kopf zerbrechen. Ihr dürft nicht vergessen, daß ihr beide unvollständige Menschen seid. Aber das wird nicht so bleiben. Nach einer Weile werdet ihr euch wieder an die Geschehnisse der letzten Jahre erinnern. Sie werden dann auch nicht Ihre ganze Zeit im Labor verbringen.« »Und wenn sich nichts ändert? Wenn wir weiterhin unvollständige Menschen bleiben?« fragte Sherwood bitter. »Glauben Sie? Ich glaube es nicht. Ich weiß, ihr denkt beide darüber nach, ob ihr euer Gedächtnis wieder erwecken sollt, wenn sich die Möglichkeit bietet. Walter, ich bin ehrlich davon überzeugt, daß es besser wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das ist gut so, denn es ist etwas sehr Schönes, wenn man von einem Menschen eine so hohe Meinung hat, daß man darüber die Vergangenheit vergessen kann. Virginia, Sie sind nicht
mehr die selbstbewußte Frau, die auch noch genug Energie aufbringt, um einem anderen zu helfen, nachdem sie ihre eigenen Probleme gelöst hat. Wo ist Ihr Kampfgeist geblieben? Haben Sie denn ganz vergessen, wie Sie gekämpft haben, um von der Farm wegzukommen und Ihren Gesichtskreis zu erweitern? Habt ihr beide vergessen, wie ihr bisher gekämpft habt, um die elf toten Jahre zu überwinden?« »Doktor.« »Virginia«, fuhr Booey fort, »Sie haben eine große Aufgabe vor sich. Jetzt hatten Sie eine Atempause, aber dann müssen Sie den Kampf mit Walters Nebenfrau – der Wissenschaft – wieder aufnehmen. Haben Sie noch so viel Mut?« »Doktor, Sie vergessen ganz, daß wir ja keine Wahl haben«, sagte Sherwood. »Und dann noch etwas. Trockenperioden und Jahreszeiten kann man an den Bäumen erkennen. Was wir sind, durch unsere Erfahrung bedingt, durch unsere Vergangenheit, ob wir nun ein Blatt am Baum oder ein Mensch auf Gottes grüner Erde sind. Was ihr heute einander sagt, hier im Garten eures Hauses, bleibt genauso ein Teil von euch, wie der Teil eures Lebens, der euch wieder zum Bewußtsein kommen wird, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Mit der Erinnerung an die Vergangenheit bleiben aber auch eure heutigen Gefühle in Erinnerung, und ihr
werdet beides miteinander in Einklang bringen müssen. Ich bin davon überzeugt, daß damit eine Wendung zum Besseren erzielt wird. Ihr beide hattet eine Gelegenheit, die den meisten Menschen versagt bleibt. Ihr konntet euch selbst objektiv betrachten.« Virginia stand auf und blickte in das Dunkel der Bäume und Sträucher. »Schließlich«, sagte Booey mit abgewandtem Gesicht und leiser Stimme, »muß man bedenken, daß jeder einzelne Mensch gewissermaßen ein Aufbewahrungsort für andere Menschen ist. Wir leben in anderen Menschen. Wenn einer unserer Freunde stirbt, dann stirbt auch der Teil von uns, der in ihm gelebt hat. Mit der Weigerung, den Teil Ihres Freundes anzuerkennen, der in dem vergessenen Teil Ihres Wesens lebt, töten Sie diesen. Ich bin sicher, daß Sie das nicht wünschen. Es wäre sehr unfreundlich. Nicht wahr, Virginia?« In ihren Augen glänzten Tränen, als sie sich ihm zuwandte. »Ja, das wäre sehr unfreundlich, Doktor.« Plötzlich drehte sie sich um und lief ins Haus. Sherwood stand auf und wollte ihr folgen. »Bleiben Sie«, sagte Booey. »Was ist denn bloß mit ihr los?« fragte Sherwood, und als Booey schwieg, fuhr er fort: »Was wollten Sie denn vorhin sagen? Ich habe kein Wort davon begriffen.«
»Es ist nicht Dr. Booey, den Sie nicht verstehen; es ist Virginia.« »Wieso?« Booey wandte ihm ein ernstes Gesicht zu. »Sie hat den Plan gefunden. Er war im Safe in der Bank. Als sie heute nachmittag den Safe öffnete, hat sie ihn gefunden. Jetzt hat sie ihn oben in ihrem Schrank unter der Wäsche. Ich riet ihr, nichts davon zu sagen, bis sie sich entschlossen hätte, Ihnen die Zeichnung zu geben.« Er drehte sich um und blickte auf die erleuchteten Fenster des ersten Stockwerks. »Ich glaube, sie wird gleich damit herunterkommen. Dann können wir uns an die Arbeit machen.«