Alfred Hitchcock
Die drei ??? und der riskante Ritt Erzählt von Marc Brandel nach einer Idee von Robert Arthur
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Alfred Hitchcock
Die drei ??? und der riskante Ritt Erzählt von Marc Brandel nach einer Idee von Robert Arthur
Franckh-Kosmos
Aus dem Amerikanischen übertragen und bearbeitet von Leonore Puschert Titel der Originalausgabe: »The Three Investigators – An Ear for Danger« (Random House Inc., New York / 1989 ISBN 0-394-89943-1/pbk.) � 1989, Random House Inc., Text by Marc Brandel based on characters created by Robert Arthur This translation published by arrangement with Random House Inc. Schutzumschlag von Aiga Rasch CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Brandel, Marc: Die drei ??? (Fragezeichen) und der riskante Ritt / erzählt von
Marc Brandel nach einer Idee von Robert Arthur. Alfred Hitchcock.
[Aus dem Amerikan. übertr. und bearb. von Leonore Puschert]. –
Stuttgart: Franckh-Kosmos, 1991
ISBN 3-440-06210-4
Für die deutschsprachige Ausgabe: � 1991, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co., Stuttgart Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-440-06210-4 Printed in Czechoslovakia / Imprimé en Tchéchoslovaquie Satz: Fotosatz Zähle, Stuttgart Gesamtherstellung durch Aventinum Verlag, Prag
Die drei ??? und der riskante Ritt Teilnahme kostenlos 7
»Hör’ ich die Lieder von Mexiko her« 15
Tacos mit Huhn 24
Justus’ Eroberung 30
Schnüffler und Lauscher 37
Einfach aufgelegt! 46
Petri Heil 53
Auf Blondie ist Verlaß 59
»Wer ist hier der Boß?« 65
Unverhoffter Besuch 71
Eine Dame spielt falsch 80
Gefahr von allen Seiten 89
Justus geht aufs Ganze 95
Glut unter der Sierra Madre 103
Verfrühter Triumph 110
Flüsse aus Feuer 116
Burros lieben die Freiheit 126
Teilnahme kostenlos »Lächerlich ist das«, sagte Justus Jonas. »Dieses Rätsel könnte ein
Zehnjähriger lösen.«
Vor seinen beiden Freunden wollte sich der Erste Detektiv nicht zu
sehr brüsten. Also verschwieg er ihnen lieber, daß er es bestimmt
schon mit fünf gelöst hätte.
Peter Shaw, der das Kreuzworträtsel ebenfalls vor sich hatte, hielt es
für nicht ganz so kinderleicht. Ob ein Zehnjähriger wohl wüßte, wer
das sein sollte: »Hellhaarige, ansonsten nicht allzu helle Comic-
Heldin, älteres Modell?« Über Comics, auch die von früher, wußte er
recht gut Bescheid, doch im Augenblick wurde er nicht fündig.
Bob Andrews legte seine langen Beine auf die Schreibtischplatte.
Ihm war der gesuchte Name bekannt. Er trug ihn in die zugehörigen
Kästchen ein und ging zum nächsten Begriff über. Auf los geht’s
dings. Drei Buchstaben. Er schüttelte nachsichtig den Kopf und
schrieb: LOS.
Die drei ??? saßen in ihrer Zentrale auf dem Lagerplatz des Schrott-
und Trödelmarkts, den Justus’ Onkel Titus in Rocky Beach betrieb.
In Kalifornien hatten vor einer Woche die Sommerferien begonnen.
Sonst hätten sie um diese Jahreszeit wohl nicht hier herumgesessen.
Ein neuer Fall lag dem Detektivteam zwar nicht vor, doch vieles
andere hätte sie ebenso ins Freie locken können.
Justus wäre gern im Meer schwimmen gegangen. Jeden Tag zügig
und ausdauernd schwimmen – das war gut für die schlanke Linie,
wie er zumindest hoffte.
Peter war ein begeisterter Surfer, und er kurvte auch gern mit seiner
Freundin Kelly Madigan im offenen MG-Cabrio herum. Den Wagen
hatte er gebraucht erstanden und wochenlang daran herumgebastelt.
Nun war er wieder wie neu.
Bob besuchte im Sommer oft Rockkonzerte im Freien, mit einem,
zwei oder auch gleich drei von den Mädchen, die ihn umschwärmten.
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Er arbeitete stundenweise bei einer Talentvermittlung für Nach wuchsmusiker und bekam häufig Freikarten geschenkt. In Wahrheit ging es seinen Anhängerinnen jedoch weniger um freien Eintritt als um einen gutaussehenden Begleiter. Bob gefiel das, und seiner attraktiven Erscheinung zuliebe hatte er vor einiger Zeit seine Brille durch Kontaktlinsen ersetzt. Natürlich waren die unsichtbaren Sehhilfen auch beim Sport sehr praktisch. Das Wetter machte den drei Jungen allerdings wenig Hoffnung auf Spaß und Sport im Freien. Seit drei Tagen meldeten die Meteorolo gen im Fernsehen immer nur »regnerisch mit vereinzelten Schauern«. Nach Justus’ Erfahrung hieß das: Blieb man zu Hause, so fiel ein leichter Nieselregen – wagte man sich aber ins Freie, dann kam prompt ein Wolkenbruch, und in kürzester Zeit war man naß bis auf die Haut. Er setzte die drei letzten Buchstaben in ihre Kästchen ein und warf den Stift neben dem vollständig gelösten Kreuzworträtsel auf den Tisch. »Gegenteil von Ab«, zitierte er verächtlich. »Ich bitte euch! Das ist Kindergarten-Niveau.« »Wenigstens das hab’ ich gleich rausgekriegt.« Peter lachte. »AUF.« Justus nahm das Blatt mit dem eingedruckten Rätsel zur Hand und sah sich die Hinweise auf der Rückseite an. »Dieses Gewinnspiel wendet sich ausschließlich an Schüler der Oberstufe«, las er laut. »Die Teilnahme ist kostenlos.« Er sah auf. »Wo hast du die Zettel eigentlich her, Peter?« »Die wurden hier im Supermarkt verteilt«, erklärte Peter. »Dir fällt die Lösung ja leicht, du bist schon mit einem Superhirn zur Welt gekommen. Aber was ist das hier? Stehenbleiben. Keinen Schritt weiter. Vier Buchstaben, der letzte ist ein T.« »HALT«, half Bob ihm auf die Sprünge. Justus las weiter vor: »Der große Preis ist ein kostenloser zweiwöchiger Aufenthalt auf einer herrlichen Ranch im Norden von Mexiko. Geboten werden Reiten, Fischen im See, Camping mit Steaks vom Holzkohlengrill –« 8
»Danke, genügt!« warf Peter ein. »Genau das Richtige für mich!« Er
war der am besten durchtrainierte Sportler der drei, und einen gesun
den Appetit hatte er auch immer.
Er sah zur Decke des Campinganhängers hinauf, der den drei ??? als
Detektivzentrale diente. Der Regen trommelte auf das Blechdach.
»Vielleicht ist das Wetter in Mexiko besser als hier bei uns«, meinte
er. »Surfen bei Regen macht mir ja nichts aus. Aber wie soll man
surfen, wenn es keine Wellen gibt? Das Meer ist glatt wie ein
Fußballplatz.«
Justus hatte gar nicht zugehört. Auch für die Regentropfen hatte er
kein Ohr. Er war ganz in das Kleingedruckte auf der Rückseite des
Handzettels vertieft.
»Die Lösung bitte nicht schriftlich einsenden«, las er weiter vor.
»Die Lösungsworte müssen auf Tonband gesprochen werden, zuerst
die waagerechten Worte –«
Er brach ab. Rasch überflog er den restlichen Text.
»Da ist was faul«, sagte er.
»Wieso?« fragte Bob. Ihm erschien die Sache ganz normal und klar.
So klar wie die Lösung für »Nicht hin«.
HER. Er setzte das Wort ein und sah Justus an.
»Der Druck solcher Blätter kostet doch Geld«, überlegte Justus.
»Und zwei Wochen auf einer Ranch in Mexiko kosten auch Geld.
Warum stürzt sich da jemand in Unkosten – und dann ein so simples
Rätsel?«
»Bestimmt ist das verkappte Werbung«, meinte Bob. Die Arbeit in
der Unterhaltungsbranche, die einen großen Teil seiner Freizeit ein
nahm, hatte seinen Blick für gewisse Tricks geschärft. »Es soll ein
Anreiz zum Kauf eines Kassettenrecorders sein. Und einer Leerkas
sette.«
Justus nickte. »Leuchtet mir ein. Nur fehlt der Hinweis auf den
super-günstigen Verkaufspreis, und von einem Markennamen ist
auch nicht die Rede.«
»Die Zettel gab es doch im Supermarkt«, brachte ihm Peter in Er
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innerung. »Vielleicht bieten die Kassettenrekorder gerade zu Ramschpreisen an.« Justus schüttelte den Kopf. »Wenn du noch was anderes im Kopf hättest als Kelly Madigan, Peter, dann wäre dir vielleicht mal aufgefallen, daß der Supermarkt von Rocky Beach keine Elektrogeräte führt. Nicht mal Taschenrechner.« Wieder widmete er sich dem Text auf dem Handzettel. Justus war keine Sportskanone und obendrein ziemlich übergewich tig. Körperliche Bewegung, sofern sie nicht unbedingt sein mußte, lag ihm nicht. Zwei Wochen auf einer Ranch in Mexiko mit Reiten und Fischen waren für ihn kein verlockender Hauptgewinn. Doch das Spiel hatte ihn neugierig gemacht. Wer gab für so etwas Geld aus? Und zu welchem Zweck? »Diese Zettel wurden vermutlich überall im Großraum Los Angeles verteilt«, sagte Justus. »Und das Rätsel ist so leicht, daß Hunderte richtiger Lösungen eingehen dürften. Also muß der Gewinner aus gelost werden. Na ja, wir sind immerhin zu dritt. Gemeinsam haben wir die dreifache Gewinnchance für den großen Preis.« Bob sah ihn verblüfft an. »Du willst da tatsächlich mitmachen und denen was ins Ohr säuseln?« »Klar. Warum denn nicht?« Entschlossen zog Justus den Kassetten recorder aus der Schreibtischschublade, legte eine Leerkassette ein und hielt Peter das Gerät samt seinem vollständig ausgefüllten Kreuzworträtsel hin. »Mach du den Anfang«, sagte er. »Also dann – zuerst alle waagerechten Wörter.« Peter las die Lösungen nochmals durch, ehe er den Recorder einschaltete. Angewidert räusperte er sich. »Hier zum Beispiel, da brechen sie sich zur Abwechslung wieder einen ab – Befehl zur sofortigen Annäherung. Lösungswort: KOMM. Warum schreiben sie da nicht einfach Gegenteil von Geh?« Er schüttelte den Kopf. Eine Stunde später hatten die drei ??? die richtige Lösung in dreifa 10
cher Ausfertigung mit Namens- und Absenderangabe auf Band gesprochen und in gepolsterte Umschläge verpackt. Diese adressier ten sie an die auf dem Handzettel genannte Anschrift in Santa Monica. Das Getrommel des Regens auf dem Dach hatte aufgehört. »Dann gehen wir mal los und werfen unsere Päckchen ein, ehe es wieder schüttet«, meinte Bob. »Oder wir fahren gleich nach Santa Monica«, schlug Justus vor, »und stellen sie persönlich zu.« »In Santa Monica ist es doch öde«, wandte Peter ein. »Nichts als endloser Strand im Dauerregen.« »Wir könnten ja ein wenig spazierenfahren«, sagte Bob, »und uns vielleicht eine Pizza genehmigen. Eben mal gucken, was uns so begegnet.« Peter nickte. Er hatte Hunger. Justus äußerte sich nicht dazu. Pizza, Hamburger und sonstiges FastFood gedachte er künftig zu meiden. Das Zeug machte nur dick. Und was ihnen begegnen würde, wußte er schon: Mädchen. Nicht daß Justus etwas gegen Mädchen hatte. Er interessierte sich genauso für sie wie seine beiden Freunde. Das Dumme war nur, daß sie sich anscheinend nicht für ihn interessierten – besonders, wenn Bob dabei war. Nach Santa Monica wollte Justus aber auf jeden Fall fahren. Er mußte die Empfängeranschrift auf dem Kreuzworträtsel näher unter die Lupe nehmen. Ein Schild an der Tür oder ein anderes Indiz könnten schon Hinweise darauf geben, was es mit diesem seltsamen Gewinnspiel auf sich hatte. »Schön, fahren wir los.« »Welchen Wagen nehmen wir?« wollte Peter wissen. »Bei meinem MG ist das Verdeck undicht, und ich bin noch nicht dazugekommen, es zu flicken.« »Und mein Auto scheidet ganz aus«, erklärte Justus kleinlaut. Sein Honda Civic war vor kurzem mit einem Getriebeschaden liegenge 11
blieben, und er hatte noch nicht wieder genügend Geld für die Reparatur zusammengekratzt. »Puh«, stöhnte Peter. »Dann müssen wir uns mal wieder in die Schuhschachtel quetschen.« Das trug ihm einen freundschaftlichen Knuff von Bob ein. Also stiegen die drei in Bobs roten VW-Käfer. Der alte Golf hatte den Geist aufgegeben, und nun fuhr er eben ein Uralt-Modell. Justus saß vorn bei Bob, und Peter mit seinen langen Beinen richtete sich mühsam auf der Rückbank ein. Vorn konnte er schon gar nicht sitzen, weil er mit den Knien am Armaturenbrett anstieß. Während der Fahrt auf der Küstenstraße begann es wieder zu nie seln. »Das ist doch nicht normal hier«, beklagte sich Peter mit einem Blick auf den klatschnassen Strand. »Denkste«, gab Bob zurück. »In San Francisco regnet’s genauso.« Dorthin hatte er in letzter Zeit des öfteren fahren müssen, wenn ihn sein Chef, Sax Sendler, als Helfer bei Rockkonzerten eingespannt hatte. Die gesuchte Straße hatten die drei ??? in der Innenstadt von Santa Monica bald gefunden. Peter fuhr ganz langsam, und Justus achtete auf die Hausnummern. »Da ist es«, sagte er plötzlich und faßte Bob am Arm. »Gleich da vorn, wo die vielen Leute . . .« Mehr mußte er nicht erklären. Vor einem der Ladengeschäfte hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Zwei Streifenwagen der Polizei parkten am Bordstein. »Los, kommt.« Justus riß die Wagentür auf, kaum daß Bob den Käfer zum Stehen gebracht hatte. »Das ist genau die Adresse, an die sich unsere Post richtet. Sehen wir mal nach, was sich da tut.« Die drei Freunde drängten sich durch die Leute nach vorn. Zwei Polizisten hantierten an der im oberen Bereich verglasten Eingangstür. Vermutlich würden sie die Tür aufbrechen, sobald sie drinnen etwas Verdächtiges bemerkten. Justus musterte das Gebäude auf seine erprobte systematische 12
Weise. Was in dem Geschäft einmal verkauft worden war, ließ sich nicht mehr feststellen. Zur Zeit war der Laden jedenfalls dicht. Alle Schaufensterscheiben waren von innen mit weißer Farbe zugestri chen. Außen waren überall Aufkleber ZU VERKAUFEN ange bracht. Von den Leuten, bei denen Justus sich erkundigte, wußte offenbar niemand, was vor sich gegangen war. Eines sah er freilich selbst. Falls jemand hier einen Einbruch versucht hatte, war es ihm erst gar nicht gelungen, die Tür zu öffnen. Vielleicht hatte schon vorher die Alarmanlage losgelegt. Er überquerte die Fahrbahn und zog vor einer Drogerie Briefmarken aus einem Automaten. Die drei frankierten Umschläge mit den Kassetten warf er in den Briefkasten nebenan. Dann ging er wieder hinüber zu den Schaulustigen vor dem leeren Laden und suchte seine Freunde. Schon hatte er Bob erspäht. Bei einem der Polizeiautos unterhielt sich der große blonde Junge mit einem hübschen dunkelhaarigen Mädchen. Justus fiel sofort an ihr auf, daß sie nach jedem zweiten Satz eine komische kleine Grimasse schnitt, wobei sie die Nase kraus zog. Doch er mußte zugeben, daß sie sehr gut aussah. Peter tauchte inzwischen auch auf und wartete gemeinsam mit Justus, bis Bob wieder abkömmlich war. Dieser gab dem Mädchen schließlich einen kleinen Klaps auf den Arm und wandte sich zum Gehen. Alle drei Jungen stiegen wieder in den Wagen. »Na, hat sie dir ihre Telefonnummer gegeben?« fragte Justus beim Wegfahren ein wenig neidisch. Bob schüttelte den Kopf. »Sie sammelt die alten Plattenaufnahmen von Judy Garland«, erklärte er. »Mein Typ ist sie nicht.« Das war möglicherweise die Erklärung für den Tick mit der krausge zogenen Nase, dachte sich Justus. Den hatte das Mädchen vielleicht Judy Garland abgeguckt. »Und wieso brauchst du zehn Minuten, um rauszukriegen, daß sie nicht auf Rockmusik steht?« fragte Peter, während sie sich wieder in 13
die Küstenautobahn einreihten. »Ich denke, du bist ein ganz Schnel
ler.«
»Das Thema brauchte ich nur für den Einstieg«, sagte Bob. »Danach
redete sie über den Einbruch. Vielmehr den versuchten Einbruch.«
»Dann laß hören«, forderte ihn Justus auf Schließlich waren sie
Detektive und nicht auf Mädchenjagd.
»Sie erzählte mir«, fuhr Bob fort, »daß sie gerade über der Straße
einen Kaffee getrunken hatte, als die Alarmanlage vor dem Laden
losschrillte. Dann sah sie eine Frau von dem Laden wegrennen, in
einen blauen Wagen springen und wie der Teufel davonrasen.«
»Konnte sie diese Frau näher beschreiben?« fragte Justus.
»Blondes Haar. Schlanke Figur. Etwa vierzig Jahre alt«, berichtete
Bob. »Augenfarbe unbekannt. Die Dame trug eine Sonnenbrille.«
»Eine Sonnenbrille!« rief Peter. »An einem Tag wie heute braucht
man eher eine Brille mit Scheibenwischern!«
»Eben . . .« meinte Justus. »Unsere vierzigjährige Blondine kommt
mir recht mysteriös vor.«
Er schwieg kurz und überlegte.
»Und sie wollte in einen leerstehenden Laden einbrechen – was
suchte sie da?«
Stille.
Justus war nicht zu bremsen. »Etwas so Wertvolles, daß sie eine
Festnahme riskierte, um dranzukommen. Jungs, bei diesem Gewinn
spiel geht’s nicht um Grillsteaks – es geht um die Wurst!«
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»Hör’ ich die Lieder von Mexiko her« Anderntags hellte es sich auf, und die sonst so verläßliche Sonne Kaliforniens strahlte. Während der folgenden Wochen war jeder der drei ??? vollauf beschäftigt. Bob hatte viel um die Ohren. Sein Chef, Sax Sendler von der Talent agentur Rock-Plus, hatte mehrere der von ihm betreuten Rockgrup pen für ein großes Open-Air-Konzert gebucht. Bob schuftete zwölf Stunden am Tag – Werbung, Dienstfahrten und Hilfe bei der Technik. Peter hatte Kummer mit seiner Freundin Kelly. In letzter Zeit war sie merklich kühler zu ihm. Wenn er sie, wie vereinbart, zu Hause abho len wollte, traf er sie des öfteren nicht an. Peter ließ sich dadurch nicht irremachen, weil er spürte, daß Kelly nach wie vor auf ihre lockere Art mit ihm verbunden war. Doch allmählich wurde es ihm klar, daß er einen guten Teil seiner Ferien verschwendete. Und für Surfen und Karate blieb ihm da natürlich wenig Zeit. Justus strebte wieder einmal heldenhaft einen Gewichtsverlust an, denn er mußte der Wahrheit ins Auge sehen. Er war nicht nur stämmig. Er war . . . nun, vielleicht nicht unbedingt dick. Aber seine Kondition mußte er dringend verbessern. Das Problem dabei war nur, daß er durch Schwimmen und Judo-Training noch größeren Appetit bekam. Und dann war es um so mühsamer, den neuesten strengen Diätplan einzuhalten. In dieser Woche hatte er sich Kjell Hasselblads Energie-Diät verord net – nichts als Eiweiß und Salate. Da Hasselblad Muskeln hatte wie Superman und Justus vorläufig noch von eher birnenförmiger Gestalt war, wollte es der Erste Detektiv zumindest auf einen Versuch ankommen lassen. Eines Nachmittags stand Justus vor seiner Elektronik-Werkstatt neben der Zentrale. Die Werkstatt war das reinste Bastler-Paradies und bestens ausgestattet für das Austüfteln, den Bau und die Repara 15
tur all der elektronischen Geräte, die die drei ??? für ihre erfolgreiche Detektivarbeit benötigten. Und genau damit war Justus jetzt beschäftigt – mit Tüfteln und Basteln. Gerade testete er ein neues Sicherungssystem für die Werk statt, nämlich ein Schloß, das sich nur öffnen ließ, wenn er persönlich einen bestimmten Codetext in ein Mikro sprach. Peter befand sich auf der anderen Seite der Zentrale in seiner impro visierten Kraftfahrzeugwerkstatt. Zum zweiten Mal in einer Woche hatte ihn Kelly versetzt. Justus lötete den letzten Chip an. »Warnung vor dem Hunde«, gebot er. »Was?« Peter schnitt gerade das Segeltuch zurecht, das ein neues Verdeck für sein Cabrio abgeben sollte. »Mist«, stieß Justus hervor. »Das Schloß soll sich öffnen lassen, wenn ich das sage: Warnung vor dem Hunde«, wiederholte er mit erhobener Stimme. Peter kam herangeschlendert. »Erst Mist, dann Hund«, bemerkte er. »Für eines mußt du dich schon entscheiden.« Justus wurde wütend. Da ging das Telefon in der Werkstatt. Er ließ es erst mal klingeln, weil sich ein zweiter Apparat in der Zentrale befand. Und da drin saß Bob am Computer und gestaltete mit dem DeskTopPublishing-Programm einen Werbezettel für das Rockkon zert. Vermutlich kam der Anruf ohnehin von einer seiner Freundin nen, und es ging um eine Verabredung. Bob würde schon abnehmen. Gleich darauf verstummte das Klingeln. Peter ging zurück an seine Arbeit. Da trat Bob aus dem Campinganhänger. »Nimm ab, Justus. Deine Tante Mathilda ist dran.« »Tante Mathilda will mich sprechen?« fragte Justus, gelinde über rascht. Bei Tante Mathilda und Onkel Titus war Justus aufgewachsen, nach dem er mit vier Jahren seine Eltern bei einem Autounfall verloren hatte. Justus war Tante und Onkel noch immer dankbar dafür, doch mittlerweile spielten sie in seinem Leben nicht mehr die Hauptrolle. 16
Noch vor wenigen Jahren hatte Tante Mathilda ihren Neffen so regelmäßig zu sich bestellt, wie die Lehrer Hausaufgaben verteilten. Und das hatte unweigerlich eines zur Folge – Arbeit. Immer wieder hatte sie ihm Handlangerdienste auf dem Schrottplatz aufgehalst. Doch neuerdings führte Justus die Warenkartei im Computer und hatte sich damit mehr Freiheit erkauft. Tante Mathilda wandte sich nur noch selten mit einem Auftrag an ihn. »Nein, sie läßt dir nur was ausrichten«, sagte Bob. »Drüben im Haus ist Besuch für dich.« »Wer denn?« fragte Justus. »Ein Mann namens Rice.« Bob lächelte. »Es geht um das Gewinn spiel, bei dem wir mitgemacht haben.« »Ah ja?« Das interessierte Justus nun doch. Das Kreuzworträtsel hatte er nicht vergessen. Er vergaß niemals etwas. Nur hatte er sich in der letzten Zeit so intensiv mit der Verringerung seines Körperge wichts befaßt, daß jener Rätselwettbewerb bei ihm ein wenig ins Hintertreffen geraten war. Nun bot sich ihm also möglicherweise Gelegenheit zu ergründen, wer diese zwei Ferienwochen in Mexiko finanzierte. Die drei ??? beschlossen, sich Mr. Rice gemeinsam vorzustellen. Sie gingen gerade über die Straße vor dem Schrottplatz, als drüben beim Wohnhaus ein Mann die Terrasse betrat. Er war groß und schlank. Ende dreißig, vermutete Justus. Und er sah ein wenig übertrieben zünftig aus in seinen neuen Jeans und den handgearbeiteten Cowboystiefeln. Den teuren Stetson auf seinem Kopf hatte er schräg zur Seite geschoben. Beim Anblick der drei Jungen nahm er den Hut ab und schwenkte ihn zur Begrüßung durch die Luft. »Hi. Ich bin Dustin Rice.« Er musterte die drei der Reihe nach. »Und wer von euch ist nun der glückliche Gewinner?« fragte er. »Nein, nicht verraten – mal sehen, ob ich es rausbekomme.« Er wandte sich an Peter und lächelte ihn an. »Sag doch mal was, nur 17
so zum Spaß. Sag . . .« Er zögerte. »Sag Hör’ ich die Lieder von Mexiko her.« »Hör’ ich die Lieder von Mexiko her«, leierte Peter widerwillig herunter. Er fand Dustin Rice nicht gerade sympathisch. Rice schüttelte den Kopf. Mit seinem Stetson wedelte er Bob vor der Nase herum. »Jetzt du.« »Schwer ist das wieder – das Lexikon her«, sagte Bob patzig. Den kitschigen Mexiko-Oldie, der nur noch im Wunschkonzert für Senioren überlebte, hatte er schon immer abscheulich gefunden, und von diesem Cowboy würde er sich nichts vorschreiben lassen. Dustin Rice behielt sein Lächeln angestrengt bei. Nun sah er Justus an. Justus erwiderte den Blick. Sein erster Eindruck von diesem Mann war, daß er nicht ganz echt wirkte. Sein forsches Auftreten und das allzu liebenswürdige Lächeln waren nicht unbedingt überzeugend. Er erinnerte Justus an einen Artisten auf dem Hochseil, der sorgfältig den nächsten Schritt vorbereitet. »Wärst du so nett, es mir auch noch aufzusagen?« bat er Justus. »Hör’ ich die Lieder von Mexiko her.« Dies hatte eine durchschlagende Wirkung. Rices Augen funkelten vor Begeisterung. Er trat vor und schüttelte Justus die Hand. »Für meine Freunde bin ich Dusty«, sagte er. »Und du bist also Justus Jonas. Ich habe das Vergnügen, dir mitzuteilen, daß du den großen Preis in unserem Kreuzworträtsel-Spiel gewonnen hast! Einen kostenlosen Aufenthalt auf meiner Ranch.« Das Lächeln wurde noch aufdringlicher. »Im schönen Mexiko. Und ich freue mich schon jetzt darauf, dich dort zu Gast zu haben, Justus, und . . .« Weiter kam er nicht. Justus hatte die Hand erhoben wie ein Verkehrspolizist auf einer vielbefahrenen Kreuzung. Justus war nicht gerade ein Hüne, aber er besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, Autorität auszustrahlen, wenn er es für angebracht hielt. Dies war ein solcher Anlaß. Keinesfalls wollte er bei Dustin Rice den Eindruck erwecken, es sei sein großer Traum, zwei Wochen auf einer 18
Ranch in Mexiko zu verbringen – mit Pferden, und immerzu Auf-
und Absitzen. Zunächst waren da einige Fragen zu klären.
Das brachte er denn auch deutlich zum Ausdruck.
»Schieß los«, forderte ihn Dusty bereitwillig auf. »Frag mich alles,
was dich interessiert.«
»Wieviele Gewinner gibt es sonst noch?«
»Keine. Nur dich. Du bist der einzige, der gewonnen hat.«
»Dann war ich der einzige, der alle Kästchen im Kreuzworträtsel
richtig ausgefüllt hat?«
Dusty zögerte einen Augenblick. »Ja, gewiß«, bestätigte er.
Justus nickte nachdenklich. Das war mal schon eine Lüge. Peter und
Bob hatten die völlig gleichlautende Lösung ebenfalls eingesandt.
Warum verschwieg Dusty den wahren Grund dafür, daß er aus
gerechnet Justus zum Gewinner erkoren hatte? Und warum war das
Gewinnspiel nicht auch für Mädchen ausgeschrieben worden? Diese
Fragen schob der Erste Detektiv zunächst einmal beiseite. Die Ant
worten würden sich später finden, wenn er etwas mehr durchblickte.
»Wer ist der Geldgeber?« wollte er dann wissen. »Wer bezahlt denn
das alles?«
»Ich.«
»Und warum tun Sie das?«
»Werbung. Werbung für meine Ranch.« Dustin Rice setzte seinen
Stetson wieder auf, was sein Selbstvertrauen zu stärken schien. »Ich
habe nämlich vor, aus dem schönen Besitz ein Feriencamp für junge
Leute wie euch zu machen. Und ich hoffe, daß die Presse über mein
Gewinnspiel wohlwollend berichtet.«
Das war für Justus nun einigermaßen begreiflich.
Er wollte noch weitere Fragen stellen, aber da wurde er kurz abge
lenkt. Auf der Straße näherte sich ein blauer Wagen, ein Chevrolet.
Vor dem Haus verlangsamte er das Tempo, und Justus dachte schon,
er würde anhalten. Da beschleunigte er plötzlich wieder und fuhr
weiter. Die Sonne hatte sich in der Windschutzscheibe gespiegelt,
und Justus hatte den Fahrer nicht deutlich erkennen können. Eines
19
schien ihm allerdings sicher: Am Lenkrad saß eine Frau. Eine blonde Frau mit Sonnenbrille. Er wandte sich wieder Dusty zu. »Wenn ich den großen Preis entgegennehme«, sagte er, »geht das dann klar, daß meine beiden Freunde hier mitkommen können?« Dusty hob die Brauen. »Meinst du damit etwa, ich soll ihnen den Aufenthalt extra bezahlen?« fragte er. »Klar, genau so meine ich das«, erwiderte Justus sehr bestimmt. Dusty nahm seinen Stetson vom Kopf und bog nachdenklich den Rand auf und ab. Er fing von der teuren Fahrt im Fernreisebus an und von der Verpflegung auf der Ranch . . . Justus ließ ihn reden. Er war bereits entschlossen, den Gewinn zurückzuweisen, falls Peter und Bob nicht auch daran teilhaben konnten. Dieses Preisrätsel entwickelte sich offenbar zu einem vielversprechenden Fall für die drei ???. Und sie waren nun einmal ein Team. Dusty sprach noch immer von den Kosten und rechnete aus, wieviel er zusätzlich aufwenden müßte, wenn Justus’ freunde . . . »Dann müssen Sie den Gewinn leider einem anderen Teilnehmer zukommen lassen«, unterbrach ihn Justus. Dusty sah auf seine teuren handgearbeiteten Stiefel hinunter und scharrte mit der Fußspitze am Boden. »Na schön, junger Mann. Abgemacht«, erklärte er dann. »Das werd’ ich schon noch verkraften.« Bob griff nach Justus’ Arm. »Laß uns mal kurz drüber reden«, schlug er vor. Er trat von der Terrasse herunter, gefolgt von seinen beiden Freunden. »Willst du das wirklich machen, Justus?« fragte er, sobald sie außer Hörweite waren. Ja, das wollte Justus. Die Vorstellung, diesen Fall nicht weiterverfol gen zu können, war ihm unerträglich. »Unbedingt«, erklärte er. »Wenn uns dieser Bursche Ferien zu dritt bezahlen will, dann steckt etwas wirklich Mysteriöses dahinter. Das läßt euch doch nicht etwa kalt?« 20
»Na ja . . .« Bob hatte in den letzten Wochen so geschuftet, daß ihm ein Tapetenwechsel hochwillkommen war. Sobald das Rockkonzert gelaufen war, würde Sax Urlaub auf Hawaii machen. Und solange sein Chef nicht da war, konnte ihn nichts in Kalifornien halten. Nur einige Karate-Übungsabende würde er sausen lassen. »Okay«, beschloß er. »Du kannst mich einplanen. Gleich nach dem Konzert am Donnerstagabend.« Justus und Bob sahen Peter an. Nun lag es an ihm. Ach weiß nicht recht«, meinte Peter. Ach hab’ Bedenken wegen Kelly. Wenn ich hier verschwinde, bin ich bei ihr womöglich total abgemeldet.« »Eine Trennung kann alte Liebe nur auffrischen«, feixte Bob. »Schon möglich.« Peter fiel der Spruch ein, den er einmal auf einer Grußkarte gelesen hatte: »Trennung entfacht im Herzen neue Flam men.« Der Gedanke an eine neu entflammte Kelly, eine Kelly, die ihm nie wieder die kalte Schulter zeigen würde, war freilich äußerst verlockend. »Schön, okay«, meinte er. »Ich kann ihr ja öfter mal eine Postkarte oder ein Souvenir schicken. Dann weiß sie, daß es mich noch gibt.« Dustin Rice konnte seine Erleichterung nicht verhehlen, als die drei 999 zur Terrasse zurückkehrten und ihm mitteilten, sie hätten beschlossen, den großen Preis anzunehmen. Er überreichte ihnen eine Karte des Nordens von Mexiko und zeigte ihnen darauf den Anreiseweg nach Hermosillo, der von der Ranch aus nächstgelegenen Stadt. Nach kurzem Feilschen machte er dann noch sechshundert Dollar in bar locker, für die Reisekosten. Dusty gab ihnen auch seine Telefonnummer, damit sie ihn gleich nach dem Grenzübertritt anrufen konnten. Die drei Jungen sahen noch zu, wie der Rancher in seinen Jeep mit einem mexikanischen Kennzeichen stieg, und gingen dann zurück an ihre Arbeit auf dem Lagerhof, Am nächsten Morgen guckte Justus wie üblich in den Briefkasten vorn an der Zufahrt. Onkel Titus bekam stets seine »FlohmarktPost«, wie er sie im Scherz nannte – Hinweise auf Verkäufe und Ver 21
steigerungen von Altmetall und anderem Kram, den er vielleicht für sein Trödellager gebrauchen konnte. Beim Durchblättern der Post stieß Justus auf eine braune Luftpol sterhülle. Der Inhalt fühlte sich hart und rechteckig an. Die Sendung war an Mr. Justus Jonas gerichtet, jedoch ohne genaue Anschrift und Porto. Also hatte sie der Absender selbst hier in den Briefkasten gesteckt. Justus nahm das Päckchen mit in die Zentrale und öffnete es. Die Hülle enthielt eine Tonbandkassette. Sonst nichts. Kein Vermerk auf dem Etikett der Kassette ließ Schlüsse auf die Art oder den Anlaß der Aufnahme zu. Justus legte die Kassette in seinen Recorder und hörte sie sich an. Erst war gar nichts zu vernehmen, dann schließlich eine jugendliche Männerstimme, die klar und eindringlich sprach. »Bitte komm nicht nach Mexiko«, kam es vom Band. »Wenn du das tust, begibst du dich in größte Gefahr. Ich bitte dich dringend, komm nicht hierher. Bleib in Kalifornien und –« Hier brach die Stimme jäh ab. Das war schon alles. Justus hörte das Band bis zum Ende ab, doch es blieb stumm. Er lehnte sich in seinem Drehsessel zurück. Die Mitteilung an sich war beunruhigend genug. ». . . begibst du dich in größte Gefahr.« Doch noch etwas anderes verwirrte ihn. Diese Stimme hatte er zwei fellos schon einmal gehört. Sie klang irgendwie vertraut – störend vertraut sogar. Als Peter wenige Minuten später vor der Zentrale vorfuhr, bat ihn Justus, sich das Band anzuhören. Er erklärte kurz, wie er dazu gekommen war, und spielte es dann ab. Zu Justus’ Verblüffung fing Peter an zu grinsen. »Soll das ein Witz sein, Justus?« fragte er. »Ein Witz?« »Na ja – anders kann ich das kaum nennen, wenn du dir selber eine Warnung auf Tonband schickst.« 22
Ach hab’ das nicht abgeschickt, das sagte ich doch schon. Das
Päckchen lag in unserem Briefkasten.«
»Dann hat es einer geschafft, deine unverkennbare Stimme perfekt
nachzuahmen.«
»Meine Stimme?«
»Na klar.« Peter hob den Recorder hoch. »Ich verwette meinen MG,
daß du dieses Band selber besprochen hast, Justus.«
23
Tacos mit Huhn
Justus saß in dem verbeulten alten Bus an einem Fensterplatz und ließ Mexiko an sich vorüberziehen. Er trug ein neues T-Shirt. Der Aufdruck lautete HOLA, AMIGOS – »Hallo, Freunde«. Er hoffte, dadurch mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen und seine recht guten Spanischkenntnisse anwenden zu können. Ursprünglich hatten die drei ??? vorgehabt, die Reise in Peters Cabrio zu machen. Doch ein Anruf beim Automobilclub hatte ergeben, daß in Mexiko nur wenige Tankstellen bleifreies Benzin verkauften. Bleihaltiger Kraftstoff würde dem Katalysator des MG jedoch schaden, und Peter würde ihn ersetzen müssen, um den Wagen später wieder in Kalifornien zu fahren. Kostenpunkt: mindestens dreihundert Dollar. »Kommt nicht in Frage«, verkündete Peter. Gleichzeitig weigerte er sich standhaft, mehrere hundert Kilometer eingezwängt auf dem Rücksitz von Bobs VW-Käfer zu hocken. Schließlich hatten die drei Jungen sich auf Dustys Vorschlag geeinigt, von den verhältnismäßig günstigen Fahrpreisen der mexikanischen Buslinien zu profitieren. Justus drehte sich auf dem harten Plastiksitz nach hinten zu den beiden anderen. Bob war schon in seine Reiselektüre vertieft, ein Taschenbuch über die Geschichte Mexikos. Neben ihm hatte eine ausnehmend hübsche junge Mexikanerin Platz genommen. Typisch. Sie sah Bob immer wieder von der Seite an, als hoffte sie, er würde zu lesen aufhören und mit ihr plaudern. Peter hatte seine langen Beine schlecht und recht unter dem Sitz vor ihm verstaut und war fest eingeschlafen. Auch die beiden trugen neue T-Shirts. Auf Bobs Brust stand THE SURVIVORS, der Name einer Rockgruppe, die bei Sax Sendler unter Vertrag war. Peters Shirt trug den Aufdruck KELLY MADI GAN. Kelly hatte es ihm zum Abschied geschenkt, damit er sie nicht 24
vergessen sollte. Das hatte Peter nun doch überrascht. Ob das bedeu tete, daß sie ihrerseits nicht vorhatte, ihn zu vergessen? Justus musterte die Frau, die hinter Bob saß. Sie sah genauso aus wie all die anderen ländlichen Mexikanerinnen im Bus. Ihre Haut war tiefbraun, und sie trug eine Baumwollbluse und einen wollenen Rock. Unter dem violetten Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, hingen zwei lange schwarze Zöpfe herunter. Justus hatte die Frau schon auf dem Busbahnhof in Santa Monica bemerkt. Obwohl sie nach dem Grenzübergang schon zweimal umgestiegen waren, fuhr sie weiterhin auf der Strecke mit. Bob hatte sein Buch sinken lassen und eine angeregte Unterhaltung mit seiner Sitznachbarin begonnen. »Mein Spanisch ist leider miserabel«, sagte er zur Entschuldigung. »Es reicht gerade mal für buenos dias und dergleichen.« »Wie gefällt dir Mexiko?« wollte sie wissen. »Großartig.« »Warum?« »Na ja . . .« Bob mußte überlegen. »In den Staaten geht es zu wie bei den Big Bands. Jeder hat seinen festen Platz und muß spielen, was in den Noten steht. Man weiß immer genau, wo’s langgeht.« »Und in Mexiko?« fragte sie lächelnd weiter. »Das ist eher eine Jam-Session. Jeder kann loslegen und sich frei ent falten. Ich meine nicht nur die Art, wie man hier Auto fährt, sondern zum Beispiel auch, wie ein Bus mitten in der Landschaft anhält und ein paar Leute einfach durch die Pampa losziehen.« »Die gehen zu ihren Höfen«, erklärte sie. »Und bis dorthin sind es vielleicht noch sieben oder acht Kilometer Fußmarsch.« »Anscheinend macht es ihnen aber nichts aus«, sagte Bob. »Sie wan dern eben los und lachen und unterhalten sich. Als ob sie zu einer netten Party gingen.« »Da magst du recht haben.« Sie nickte nachdenklich. »Ich war einige Jahre in Amerika. Dort ist das Leben viel leichter. Aber dafür neh men es die Leute in Mexiko eben nicht so schwer.« 25
Mit einem Ruck hielt der Bus an. Sie hatten eine kleine Stadt erreicht. Justus sah auf seiner Karte nach und gab Bob und Peter ein Zeichen. Sie mußten wieder einmal umsteigen. Bob verabschiedete sich von dem Mädchen und zog seinen Rucksack von der Gepäckablage herunter. Die Bushaltestelle lag vor einem kleinen Café an einer belebten Straße. Die drei Freunde stürmten das Lokal. »Mann, bin ich ausgehungert!« rief Peter, nachdem sie sich an einen Tisch gesetzt hatten. Peter und Bob bestellten sich burritos, Rindfleischbällchen mit Reis und Bohnen. Justus zögerte noch. In Mexiko würde er seine neueste Diät nicht einhalten können. Dusty hatte die Jungen davor gewarnt, auf der Reise Rohkostsalate oder ungekochtes Obst und Gemüse zu essen. Aber ausgerechnet Reis und Bohnen! Das war ja eine Mastkur! Er aß zwei tacos – Sandwiches auf mexikanisch – mit Hähnchenfilet. Geflügel war noch magerer als Rindfleisch. Und die tortillas, kleine Fladenbrote aus Maismehl, enthielten weniger Kohlenhydrate als das Weißbrot zu Hause. Hoffte er wenigstens. Allerdings war das Hähnchenfleisch sehr scharf mit Peperoni gewürzt. »Puh!« machte Justus, als die drei Jungen aus dem Café traten und zum Anschlußbus gingen. »Mir brennt die Zunge wie Feuer.« Auf dem Weg zum Bus verstellte plötzlich ein junger Mann in einer abgewetzten Lederjacke Justus den Weg. Er war etwa zwanzig Jahre alt, groß und kräftig. Er legte Justus die Hand an die Brust und schubste ihn unsanft zurück. »No hay asientos libres«, fing er an. Justus traute seinen Ohren nicht, obwohl er das Spanisch des Mannes gut verstand. »Es sind keine Plätze frei. In diesem Bus ist kein Platz für euch.« Verstört sahen die drei Jungen einander an. Bisher waren sie nur freundlichen und aufgeschlossenen Mexikanern begegnet. Justus konnte sehen, daß im Bus noch die Hälfte der Plätze frei war. In ausgesucht höflichem Spanisch machte er das dem Mexikaner klar. 26
Der Mann gab ihm einen noch heftigeren Stoß.
»No«, stieß er hervor. »Vaya. Geh weg. Fort mit dir. Geh mit deinen
Freunden nach Amerika zurück. Wir wollen euch hier nicht haben.«
Ach will aber jetzt nicht nach Amerika zurück«, wehrte sich Justus,
ebenfalls auf spanisch. »Ich will mit diesem Bus fahren. Gehen Sie
mir aus dem Weg, por favor.«
Statt den Weg freizugeben, packte der Bursche in der Lederjacke
Justus an der Schulter und riß ihn zu sich heran.
»Verschwinde«, drohte er ihm. »Oder ich schlag’ dich zusammen.«
Justus hatte während der letzten Wochen intensiv Judo praktiziert,
zur Unterstützung beim Abnehmen. Mittlerweile war er schon ganz
gut. Aber gegen diesen bulligen jungen Mexikaner hatte er wohl
keine Chance. Ehe er richtig an den Kerl herankam, würde der ihm
ein paar Zähne ausschlagen. Justus schüttelte die Hand auf seiner
Schulter ab und trat zurück, um einem Hieb auszuweichen.
Peter und Bob waren bemüht, dem spanischen Wortwechsel zu fol
gen. Obwohl Peter nicht viel davon verstand, war ihm klar, daß sich
hier etwas zusammenbraute. Er trat zu Justus vor.
»Was gibt’s?« fragte er.
Justus erklärte ihm, daß der Mann in der Lederjacke sie nicht in den
Bus steigen lassen wollte.
»Wieso denn nicht?«
»Null Ahnung. Vielleicht hat er was gegen Amerikaner.«
»Dann wollen wir mal«, sagte Peter munter.
Mit geschmeidigen Schritten ging er auf den jungen Mann los. Der
Mexikaner holte gewaltig aus. Hätte er die Faust in Peters Gesicht
gelandet, so wäre es das Aus gewesen. Doch der Hieb ging ins Leere.
Peter traf den Mann mit einem gezielten Karateschlag knapp unter
halb der Schulter. Mitten im Schwung hielt der Arm wie gelähmt
inne. Dann sank er schlaff herab. Der Mann griff sich mit der
anderen Hand an die Schulter und starrte Peter an.
Der machte sich mit leicht angewinkelten Knien und ausgestreckten
Händen erneut bereit.
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Der Mexikaner massierte heftig seine Schulter, die sich ganz taub
anfühlte.
Peter hob die rechte Hand zum nächsten Angriff.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Muy bien«, knurrte er. Zu Justus
gewandt fügte er hinzu: »Lassen wir’s. Das lohnt sich nicht mal für
eine Million Pesos.«
Noch immer kopfschüttelnd ging er weg.
In diesem Augenblick rülpste Justus laut. Das löste die Spannung,
und Bob und Peter prusteten los. Justus wurde rot.
»Die Tacos mit Huhn lassen grüßen«, bemerkte Bob spöttisch.
»Hey, Leute, es geht los«, meldete Peter. »Unser Bus ist startklar.«
Die drei ??? stiegen ein. Im Café hatten sie die Frau mit dem violet
ten Kopftuch nicht gesehen, doch nun war sie wieder aufgetaucht.
Sie saß ganz hinten im Bus.
Die Jungen konnten beobachten, wie die Frau mehrere Peso-Scheine
aus ihrer Handtasche zog und sie zum offenen Fenster hinausreichte.
Eine braune Hand reckte sich in die Höhe und griff zu. Als sich die
Finger um das Geld schlossen, bekamen die Jungen eben noch den
Ärmel einer Lederjacke zu Gesicht.
Sie setzten sich auf ihre Plätze, und schon fuhr der Bus an.
Es war die letzte Etappe ihrer langen Reise. Alle drei nickten ein und
dösten die Nacht hindurch, doch das war wenig erquicklich. Zum
Schlafen kamen sie nicht. In jedem Dorf auf der Fahrtroute waren
quer über der Fahrbahn fußhohe Betonschwellen angebracht. Sie
verhinderten zuverlässig, daß Autofahrer durch die Ortschaft rasten –
und Businsassen einschliefen.
Gegen neun am nächsten Morgen kamen sie in Hermosillo an. Der
Bus hielt an einem kleinen, von Bäumen gesäumten Platz. Sitzbänke
umgaben ein Podium für Musikkapellen.
Die Jungen hatten Dusty von der Grenzstation angerufen. Erwartete
schon in seinem Jeep und schien sich über ihre Ankunft zu freuen.
Nur war ihm eine eigenartige Unrast anzumerken. Noch während er
ihnen half, das Gepäck im Fahrzeug zu verstauen, sprach er ständig
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von der Ranch – als könnte er ihr Eintreffen dort kaum erwarten. Beim Losfahren drehte sich Justus noch einmal um und blickte zurück. Auf dem Gehweg stand die Frau mit dem violetten Tuch und starrte dem Jeep nach. Justus winkte ihr gutgelaunt zu. Sie winkte nicht zurück. Er konnte es der Frau nicht verdenken, daß sie sauer war. Es hatte ganz den Anschein, daß sie diesem Mexikaner in der Lederjacke etliche tausend Pesos gegeben hatte, damit er die drei ??? von der Weiterreise nach Hermosillo abhielt. Und nun waren sie doch hier.
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Justus’ Eroberung Bis zur Ranch fuhren sie noch zwei Stunden, größtenteils auf einer unbefestigten Straße, die sich durch bewaldetes Hügelland schlän gelte. In der Ferne konnten sie immer wieder einen hohen Gebirgs zug vor sich sehen. Dusty erklärte ihnen, daß diese Berge zur Sierra Madre gehörten. Bob wurde dadurch an einen alten Film erinnert, den er im Fernsehen angeschaut hatte. »Hier stießen Humphrey Bogart und seine Kum pels auf den Schatz der Sierra Madre, stimmt’s?« fragte er gutgelaunt vom Rücksitz her. Dusty schien gar nicht zu bemerken, daß Bob nur Spaß machte. Ernsthaft schüttelte er den Kopf »Der Schatz der Sierra Madre ist bloß Kintopp«, sagte er. »Hier in den Bergen gibt es keinen Schatz.« Bob schnitt seinem Nebenmann Peter eine Grimasse. Bald darauf hatten sie die Ranch erreicht. Das Haus war ein langer, niedriger Holzbau in ausgedehntem Weidegelände, das sacht zu einem See hin abfiel. Das einzige Anzeichen von Leben waren Pferde, die auf einer Koppel grasten. Peter schaute zum See hinunter. Nach seiner Schätzung war er etwa drei Kilometer lang und knapp einen Kilometer breit. Bestens zum Fischen geeignet, dachte er. Gut, daß er sein Angelgerät mitgenom men hatte. Am gegenüberliegenden Ufer des Sees sah er keine Häuser, nur einen dichten Wald. Weit hinter den Bäumen konnte er jedoch einen alten Kirchturm erspähen. Dort drüben wohnten also vermutlich auch Leute. Dusty führte die drei Jungen über die Terrasse in einen großen, behaglichen Raum mit offenem Kamin und bequemen Stühlen. »Jetzt seid ihr wohl hungrig, was?« fragte er. »Sie können ja Gedanken lesen«, bestätigte Peter. Dusty klatschte in die Hände, und gleich darauf tauchte in der Rund bogentür hinten im Raum ein Mexikaner auf. 30
»Das ist Ascención«, sagte Dusty. »Er ist hier der Küchenchef« Den Mann mit den drei ??? bekanntzumachen, hielt er wohl für überflüs sig. Ascención mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Er war stämmig und gedrungen. Sein Gesicht unter dem glatten schwarzen Haar war tiefbraun und zerfurcht. Er trug Cowboystiefel, Jeans und ein grobes Baumwollhemd. Eigentlich sah er eher wie ein Landarbeiter und nicht wie ein Koch aus, ging es Justus durch den Kopf. Dusty redete spanisch und sehr schnell auf den Mann ein. Justus bekam davon nichts mit als die Worte desayuno und immediata mente. Ascención nickte wortlos. Seine braunen Augen waren so dunkel, daß sie fast schwarz wirkten. Bob fiel auf, daß er immer an Dusty vorbeisah. Die Spannung zwischen den beiden Männern erin nerte ihn an rivalisierende Rockstars. Ascención erwies sich als hervorragender Koch. Bald brachte er eine große Platte: Spiegeleier mit Schinken, Frikadellen und ofenwarme Brötchen. Peter und Bob ließen es sich herzhaft schmecken. Justus hielt sich an Ei und Schinken. Eiweiß war bei Kjell Hasselblad erlaubt. Von Übel war stärkehaltige Nahrung. Dusty hatte sich zu den Jungen an den langen Tisch gesetzt, aß jedoch nichts. Ungeduldig zerkrümelte er ein Brötchen. Er schien auf das Ende des Frühstücks geradezu zu lauern, damit er sein nächstes Vorhaben starten konnte – eine Sache, die ihn offenbar stark beschäftigte. »So, hat’s geschmeckt?« fragte er, sobald Peter den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Ja, großartig«, erwiderte Peter. Er hätte glatt noch eine zweite Por tion vertilgen können, aber Dusty war schon auf dem Weg zur Tür. »Kommt mit«, rief er. »Ich zeige euch die Ranch.« Draußen ging er zügig ums Haus herum zu einer großen eingezäun ten Weidekoppel. An einer Seite stand ein kleiner Holzschuppen, der wohl als Stall diente. »Ihr müßt euch meinen Burro anschauen.« Dusty betrat die Koppel. 31
Er fragte nicht lange, sondern trieb die Jungen buchstäblich auf den Stall zu. Ehe sie dort angelangt waren, kam ein kleiner Esel heraus getrottet und machte sich scheu davon. Es war eine Stute mit fast ganz weißem Fell, nur über Schultern und Rücken zog sich ein schwarzer Längsstreifen. Sie hatte riesige Ohren, die unaufhörlich zuckten, und einen langen Schwanz mit dunkler Quaste. Die Vorderbeine waren mit wenig Spielraum aneinandergefesselt, so daß das Tier, obwohl es gern weglaufen wollte, nur kurze Stolperschritte machen konnte. Peter, der Tiere sehr liebte, lief schnell zu der kleinen Eselstute hin. Er streckte die Hand aus, um ihren Hals zu tätscheln. Dusty rief ihn zurück. »Nicht anfassen und nicht sprechen«, gebot er den drei Jungen mit leiser, eindringlicher Stimme. »Sie ist ganz jung. Noch keine zwei Jahre alt. Und sie ist noch nicht gezähmt.« Die Eselstute hatte sich mühsam einige Meter entfernt. Nun keilte sie jäh mit den Hinterhufen aus, als wollte sie die Menschen warnen, ihr zu nahe zu treten. »In den Bergen gibt es sehr viele Wildesel. Die Kleine hier hat sich vor zwei Monaten auf mein Weideland verlaufen, und da behielt ich sie hier«, erklärte Dusty. Ach habe sie Blondie getauft. Leuchtet ein, nicht?« Er sah Peter an. »Jetzt kannst du sie rufen, wenn du Lust hast«, meinte er. »Sag einfach Komm her, Blondie. Dann wollen wir mal sehen, was sie macht.« Was glaubt der eigentlich? fragte sich Peter mißmutig. Schreibt uns vor, was wir sagen sollen, als wären wir Grundschüler. Doch er hatte das kleine Tier schon ins Herz geschlossen, und so fügte er sich. »Komm her, Blondie«, rief er leise. »Komm her.« Der Burro legte die langen Ohren an, bis sie fast am Hals auflagen. Aus seiner Erfahrung mit Pferden wußte Peter, daß dies ein Signal für äußerste Vorsicht war. Oder auch für Wut. Er rief noch einmal, aber Blondie stakte ungelenk weiter weg. 32
»Versuch du’s mal«, forderte Dusty nun Bob auf. »Wozu das?« Bob zuckte mit den Schultern. »Mich läßt sie bestimmt auch abfahren.« »Schon möglich.« Dusty lächelte etwas mühsam. Er sah Justus an. »Würdest du sie bitte mal für mich rufen?« fragte er höflich. Justus war kein besonders ausgeprägter Tierfreund. Ihm war es gleichgültig, ob der Burro zu ihm herkam oder nicht. Doch Dustys fast flehentlicher Blick und die Art, wie er jäh nach Justus’ Arm griff, ließen erkennen, daß dies für den Mann gerade jetzt ungemein wichtig war. Und das machte Justus neugierig. Er schüttelte Dustys Hand ab. »Komm her, Blondie«, rief er ohne Begeisterung. Die Wirkung war verblüffend. Blitzschnell drehte die Eselstute den Kopf zu ihm herum. Sie sah Justus aufmerksam an. Sie zuckte noch einmal mit den Ohren und richtete sie dann auf. »Ist ja nicht zu fassen!« sagte Peter. »Nochmal!« flüsterte Dusty aufgeregt. »Sag’s nochmal!« »Komm her, Blondie.« Diesmal legte Justus’ ein wenig mehr Anteil nahme in seine Worte. Blondie trabte auf Justus zu, so schnell es mit den gefesselten Vor derbeinen eben ging. Sie kam bis auf Armeslänge heran und machte einen langen Hals. Mit der Nase stupste sie ihn sacht gegen die Brust. »Liebe auf den ersten Blick!« stellte Bob fest und klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Wie machst du das bloß, Justus? Nur drei Worte, und schon hast du sie am Hals.« Justus trat zurück, verdutzt über diese unverhoffte Reaktion des Tieres. Und Bobs spaßhafter Kommentar machte ihn obendrein ganz verlegen. »Nun streichle sie.« Wieder faßte Dusty Justus beim Arm. »Paß mal auf, was geschieht, wenn du sie berührst.« Aus purer Neugierde streckte Justus die Hand aus und streichelte Blondie am Hals. Ihre Ohren richteten sich noch weiter auf Wieder rieb sie die Nase an Justus’ Brust. 33
Dusty ließ Justus los. Er strahlte wie einer, der gerade bei einem
Fernsehquiz den ersten Preis gewonnen hat.
»Wetten, daß sie dich auch reiten ließe?« meinte Dusty. »Probier’s
doch mal. Das geht klar. Sie ist zwar noch jung, aber schon sehr
kräftig. Sie kann dich gut tragen.«
Justus zögerte. Im Grunde hatte er keine Lust zu einem Eselritt, aber
Dustys aufgeregtes Getue hatte in ihm eine ganze Lawine von Fragen
losgetreten. Hier ging etwas vor sich, das er vorerst nicht begriff. Und
als Detektiv mußte er ohnehin unterschiedslos jeder Spur nachgehen.
Er schwang das rechte Bein über den Rücken des Burros und saß auf.
Blondie drehte den Kopf nach hinten und versuchte mit ihren riesen
großen, sanften Augen zu ihm aufzublicken. Ihre Ohren standen steil
in die Höhe. Justus als Reiter schien ihr durchaus zu behagen.
»Sag los«, flüsterte Dusty eindringlich. »Oder Auf, los.«
Das erinnerte Justus unvermittelt an irgend etwas.
»Los, Blondie«, sagte er. »Auf, los.«
Er mußte sich am Eselhals festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren, als sie unbeholfen lostrottete. Nun hatte es bei ihm
gefunkt. Er beschloß, ein kleines Experiment zu machen.
»Halt, Blondie«, kommandierte er. »Halt!«
Gehorsam blieb das Tier stehen.
»Du, die Kleine fliegt anscheinend auf dich«, meinte Dusty, als
Justus absaß.
»Ja, so wirkt eben dein animalischer Magnetismus«, warf Peter ein.
»Speziell auf Blondinen ausgerichtet.«
»Sehr witzig«, sagte Justus trocken. »Vielleicht erinnere ich sie an
jemand anders.« Er blickte zu Dusty hin.
»Wie sollte das zugehen?« Dusty schüttelte den Kopf. »Dieser kleine
Burro kam direkt aus der Wildnis hierher. Blondie ist außer mir und
Ascención noch keinem Menschen begegnet. Und du siehst doch
ganz anders aus als ich oder der Mexikaner.«
»Stimmt, ich sehe Ihnen Lind Ascención nicht ähnlich«, räumte
Justus ein. Er hob die Hand und begann seine Unterlippe zu kneten.,
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Das war eine alte Gewohnheit von früher, wenn er an einem schwie rigen Fall herumknobelte. Wie er behauptete, war dies seinen Über legungen förderlich. Eine halbe Stunde später zupfte Justus schon wieder an seiner Lippe herum. Er saß auf seinem Bett in dem großen, behaglichen Zimmer, das er mit seinen beiden Freunden teilte. Aus dem Fenster konnte er die Koppel und den Stall sehen. Die helle Eselstute stand dicht am Zaun. Sie schaute zum Haus herüber, und mit leisem »Ii-aaa« schien sie Justus zu rufen, als wollte sie, daß er wieder herkäme und sie streichelte. »Blondie!« Peter war plötzlich ein Licht aufgegangen. Er montierte gerade seine Angelrute zusammen. »Das kleine Dummchen aus den alten Comics. Blondie war eines der Lösungswörter in dem Kreuz worträtsel.« »Du hast recht«, bestätigte Justus. »Aber es geht nicht nur um das Wort Blondie. Da waren ja noch die anderen beziehungsreichen Lösungen.« »Die anderen?« Bob war gerade beim Auspacken seiner Reisetasche. Er legte seine Reservejeans säuberlich zusammengefaltet in eine Schublade. »Beziehungsreich? Meinst du das vielleicht etwa in Verbindung mit deiner unwiderstehlichen Anziehungskraft auf unser Blondchen?« Das überhörte Justus. »Genau die Wörter, die Dusty vorgab und die ich zu dem Burro sagte. Sie steckten allesamt als Lösungen in diesem Kreuzworträtsel drin.« »Tatsächlich?« meinte Peter. »Welche denn?« Justus lehnte sich an die Wand und senkte die Lider. »Komm. Her«, zählte er auf. »Auf. Los. Halt. Und Blondie folgte jedesmal aufs Wort.« Bob ging zu seinem Bett hinüber und setzte sich hin. Nachdenklich zog er die Brauen zusammen. »Das hat was für sich, Justus«, sagte er, »Aber als Peter Blondie her 35
rufen wollte, sagte er ja auch laut und deutlich Komm her, und sie ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken.« »Ich weiß«, gab Justus zu, ebenso ratlos wie Bob. »Es ist zwar völlig undenkbar, aber man könnte fast annehmen, daß das kleine Langohr mir schon einmal begegnet ist. Blondie erkennt mich ganz offen sichtlich an meiner Stimme!«
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Schnüffler und Lauscher Am Abend gingen die drei ??? nach einem guten Essen – Ascención hatte Steaks gegrillt – früh zu Bett. Wenige Stunden später wurde Justus wach, weil vor dem Fenster neben seinem Bett etwas rumorte. Er hob den Kopf und sah draußen Blondie. Sie gab sich alle Mühe, mit der Nase die Scheibe zu durch dringen. Justus knurrte vor sich hin und drohte der Eselstute mit geballter Faust, aber sie wollte nicht weichen. Wenn nun auch Peter und Bob aufwachten und die Bescherung sahen, würde er sich endgültig zum Gespött der beiden machen. Murrend stieg er aus dem Bett und ging zur Tür, die auf den Hof hinter dem Haus führte. Sobald er sie öff nete, steckte Blondie den Kopf ins Zimmer. Justus gab ihr einen ener gischen Stoß vor die Brust, damit sie nicht hereinkam. Das Tier war jedoch so schwer und stur wie ein Sandsack. Er konnte es nicht von der Stelle bewegen. Schließlich drängte er sich an Blondie vorbei und ging ein paar Schritte vom Haus weg. Er rief sie leise beim Namen. Sofort drehte sie sich um und kam angetrottet. Im Mondlicht sah er, daß ihre Vorderbeine jetzt nicht mehr mit dem Strick gefesselt waren. Blondie konnte sich frei bewegen. Wenn er jetzt wieder ins Haus ging, würde sie vermutlich nachzukommen versuchen. Du zudringliches kleines Biest, dachte er. Wie werde ich dich nur los? Die einzige Möglichkeit war wohl, sie wieder auf ihre Koppel zu führen. Schon wollte er hinlaufen, doch da hielt er jäh inne. Drüben von der Terrasse an der hinteren Seite des Hauses hörte er einen Wortwechsel auf spanisch. Eine Männer- und eine Frauen stimme. Obwohl Ascención mit Dusty kein Wort sprach, hatte er sich beim Grillen umgänglich gezeigt. Mit Justus konnte er ja spanisch reden, und so hatte er Fragen über das Leben in den Vereinigten Staaten gestellt, vom See erzählt und die drei davor gewarnt, darin zu schwimmen. Er sagte, das Gebirgswasser sei eiskalt, und ein Mensch 37
könnte es darin nur wenige Minuten aushalten. Jetzt erkannte Justus sofort Ascencións rauhe Stimme, doch er war zu weit von den beiden entfernt, um hören zu können, was der Mexikaner sagte. Wer mochte die Frau sein? Justus näherte sich der Terrasse. Blondie trottete neben ihm her. Justus tätschelte ihr den Hals, damit sie nur ja keinen Laut von sich gab. Jetzt redete die Frau. Auch ihr Spanisch konnte Justus gut verstehen. »Du mußt mir helfen, Ascención.«, sagte sie. »Du weißt, was Rice tun wird, wenn er sie findet. Vielleicht bringt er sie sogar um.« Mit etlichen mexikanischen Kraftausdrücken fluchte Ascención auf den Rancher. »Gut. Ich will tun, was ich kann, um dir zu helfen«, versprach er dann. »Du kannst dich auf mich verlassen.« Die Frau bedankte sich. Justus zog sich rasch an eine dunkle Stelle zurück, als er sie mit leichtem Schritt auf den Hof herunterkommen hörte. Ehe sie um die Hausecke bog, konnte er einen Blick auf sie erhaschen. Er sah sie zwar nur von hinten und konnte ihr Gesicht nicht erken nen. Doch ihr blondes Haar leuchtete im Mondlicht kurz auf. Der Burro rieb die Schulter an Justus’ Arm. Von seinem Standort aus konnte er sehen, daß das Gatter zu Blondies Koppel offenstand. Er führte sie hinein, schob das Gatter zu und verriegelte es. Dann schlich er zum Haus zurück. Blondie reckte den Kopf über die Umzäunung und schrie kläglich. Erleichtert erkannte Justus, daß sie den Zaun nicht überspringen konnte. Er ging wieder zu Bett. Am nächsten Morgen setzte er seine Freunde kurz ins Bild, ehe sie das Zimmer verließen. Er berichtete ihnen, was sich in der Nacht ereignet hatte, und verkündete, er müsse dringend telefonieren. Daher sollten die beiden Dusty dazu bringen, mit ihnen für etwa zwei Stunden aus dem Haus zu gehen. Zum Frühstück servierte Ascención Rührei mit grünem Paprika. Das mochte Justus sonst besonders gern, und außerdem war der Stärke gehalt gering. Aber höflich lehnte er es ab, etwas zu essen. Er sagte, ihm sei nicht gut. 38
Das war das Stichwort für Peter. Er fragte Dusty, ob er ihn und Bob zum Angeln an den See mitnehmen würde. Der Rancher war gern dazu bereit, Justus erklärte, er würde wegen seiner Magenverstim mung lieber im Haus bleiben. Eine halbe Stunde später war er mit Ascención allein. Auf dem Tisch stand noch ein Korb mit frischen Brötchen. Justus kämpfte kurz gegen seinen Heißhunger an. Sie dufteten herrlich. Er schnappte sich eines nach dem anderen und stopfte sie gierig in sich hinein. Irgendwas mußte er schließlich zu sich nehmen, um bis zum Mittagessen durchzuhalten. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Telefon. In Dustys kleinem Büro neben dem Wohnzimmer fand er den Appa rat. Er schloß die Tür hinter sich, setzte sich an den Schreibtisch und schlug im Telefonbuch die Vorwahlnummer für Kalifornien nach. Hector Sebastian kam sofort ans Telefon. Justus berichtete ihm, wo er zur Zeit war, und kam dann direkt zur Sache. »Ich brauche eine Information aus meiner Datenbank im Computer zu Hause. Könnten Sie mir einen Gefallen tun und von Ihrem Termi nal aus eine Fernabfrage für mich erledigen?« bat er seinen alten Freund. »Kein Problem.« Hector Sebastian war ein erfolgreicher Verfasser von Kriminalromanen. Früher selbst Privatdetektiv, machte es ihm immer noch Spaß, den drei ??? bei der Aufklärung ihrer Fälle zu helfe n. »Großartig«, sagte Justus. »Sie müssen nur mein Passwort eingeben. Es lautet D-E-T-E-C-T. Dann blättern Sie im Menü, bis Sie zum Lexikon kommen.« »Mach’ ich«, bestätigte Hector Sebastian. »Und das Nachschlage wort . . .« »Hm . . . Burros«, erwiderte Justus. »Bitte?« »Na ja, Burros, die kleinen Esel, die man in Mexiko als Reit- und Tragtiere benutzt.« 39
»Alles klar.« Justus gab seine Fragen zum Thema »Burro« an seinen Gesprächs partner durch. Sebastian notierte sich alles und versprach Justus einen Rückruf, sobald er sich die Informationen beschafft hatte. Justus benutzte die Wartezeit, um sich in dem kleinen Büroraum umzusehen. Normalerweise war er eher zurückhaltend und spionierte anderen nicht gern hinterher. Aber er hatte nun einmal den Eindruck, daß Dusty Rice den drei Jungen seit seinem Auftauchen in Rocky Beach nichts als Lügen aufgetischt hatte. Und es war das gute Recht der drei ???, soviele harte Tatsachen wie möglich zu erhellen. In Justus’ Kopf schwirrten die Fragen nur so herum. Warum war ausgerechnet seine Lösung dieses Kreuzworträtsels aus all den richtigen Einsendungen ausgewählt worden? Warum hatte Rice so sehr darauf gedrängt, ihn schnellstens auf seine Ranch zu bekommen? Was hatte jene Mexikanerin, die das hintertreiben wollte, dazu bewogen? Und wieso schien Blondie Justus zu kennen, obwohl er ihr nie zuvor begegnet war? In den Wandregalen entdeckte Justus nichts Interessantes, bis auf einige Landkarten der Sierra Madre in großem Maßstab. Jemand hatte die Karten an vielen Stellen mit Fragezeichen versehen. Vermutlich Dusty. In der obersten Schublade des Schreibtisches lag eine notarielle Urkunde, offenbar zur Übertragung von Grundbesitz. Justus überflog den Text, bis er zur Unterschrift kam. ASCENCION BARBERA. Also mußte Ascención seine Ranch an Dusty verkauft haben und war nun bei ihm als Landarbeiter und Koch beschäftigt. Dies war möglicherweise die Erklärung für die Feindseligkeit des Mexikaners gegenüber dem jetzigen Herrn der Ranch. In der untersten Schublade fand sich ein Kassettenrecorder. Justus holte das Gerät heraus, drehte die Lautstärke ganz zurück und drückte die Wiedergabe-Taste. Diesmal erkannte er seine eigene Stimme sofort. Er hörte sich in mehrfacher Wiederholung immer die gleichen Worte sprechen. 40
»Komm. Her. Blondie. Los. Auf. Halt. Blondie. Komm. Her . . .« Er spulte das Band sorgfältig zurück und stellte den Recorder wieder an seinen Platz. Wenige Minuten später klingelte das Telefon. »Ich hab’ die Infos für dich beisammen«, meldete sich Hector Sebastian. »Kann’s losge hen?« »Ja.« Justus wendete das Blatt mit den aufgelisteten Fragen und schrieb auf der Rückseite flink die Antworten mit. »Vielen Dank«, sagte er, als der Autor zum Ende gekommen war. »Das war super von Ihnen.« »Gern geschehen, Justus. Ruf mich an, wenn ihr wieder zu Hause seid, dann lade ich euch drei Abenteurer zum Essen ein. Es interes siert mich brennend, was diese Burros noch alles mit euch anstellen werden.« Justus versprach anzurufen und bedankte sich nochmals bei Seba stian. Dann legte er auf. Nun hatte er Bob und Peter eine ganze Menge zu berichten und mit ihnen eine lange Liste von Fragen durchzugehen. Doch die beiden würden frühestens in einer Stunde zurückkommen. Justus verließ das Büro und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Blondie hatte er an diesem Vormittag noch nicht gesehen. Nun waren seine Fragen zu Burros beantwortet, und sein Interesse an dem kleinen Tier war noch gestiegen. Er beschloß, Blondie zu besu chen. Ascención stand gerade auf der Koppel und füllte den Trog mit Trinkwasser auf. Sobald Blondie Justus erspäht hatte, kam sie eifrig angetrottet. Er tätschelte ihr den Hals. Der Mexikaner hatte in der Mittagshitze sein Hemd ausgezogen. Justus sah, daß Brust und Rücken des Mannes ebenso tiefbraun waren wie das Gesicht. Es war nicht zu erkennen, ob Ascención von besonders dunklem Hauttyp war oder ob die ständige Arbeit im Freien ihn noch zusätzlich gebräunt hatte. Justus war jedenfalls bei weitem nicht so braun wie der Mexikaner, sondern trotz des tägli 41
chen Schwimmens noch immer ein Bleichgesicht, weil er nun einmal
viel Zeit im Haus vor dem Monitor seines Computers zubrachte.
Justus zeigte auf den Burro. »Blondie ist nicht mehr . . .« Er kannte
das spanische Wort für »gefesselt« nicht, aber als er auf die Vorder
beine des Tieres deutete, erriet Ascención, was er meinte.
»Nein, dieser --- « Ascención, benutzte ganz ungeniert das nicht
druckreife Schimpfwort, das ihm ganz automatisch über die Lippen
kam, wenn er Dusty erwähnte. »Dieser --- hat ihr gestern abend den
Strick abgenommen.«
»Warum?«
»Er sorgt sich nicht mehr darum, daß sie weglaufen könnte, weil du
jetzt hier bist.«
Ach? Was habe ich damit zu tun?«
»Sie ist dir dankbar.«
»Und wofür?«
»Sie glaubt, daß du ihr das Leben gerettet hast. Burros sind gute,
treue Tiere. Sehr ergeben. Sehr dankbar.«
Er griff nach seinem Eimer und ging weg. Justus lief ihm hinterher,
seinerseits gefolgt von Blondie. Doch der Mexikaner weigerte sich,
auf weitere Fragen zu antworten. Er behauptete, er hätte noch zu tun.
Peter und Bob hatten etliche Forellen geangelt. Ascención, briet sie
zum Abendessen auf dem Grill. Justus’ Magenbeschwerden waren
wie weggeblasen, und er vertilgte zwei Fische. Immerhin lieferten
sie ihm wertvolles Eiweiß!
»Und jetzt trimmen wir uns, wegen all der Kalorien«, schlug Justus
nach dem Essen vor. »Was meint ihr beide dazu?«
Peter und Bob hatten natürlich sofort begriffen, daß er ungestört mit
ihnen reden wollte. So liefen die drei querfeldein zu einem Wäldchen
beim See.
Sobald sie sich in einer Lichtung niedergelassen hatten, erzählte
Justus von seinem Anruf bei Hector Sebastian. Er zog seinen Notiz
zettel aus der Jeanstasche.
»Das Gehör ist bei Burros sehr gut entwickelt«, berichtete er.
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»Außergewöhnlich gut. Und im Gegensatz zu Hunden erkennen sie Menschen nicht an ihrem Geruch, sondern vor allem an ihrer Stimme. Oft sind sie einem bestimmten Menschen anhänglich zuge tan, und in solchen Fällen reagieren sie zuverlässig auf dessen Stimme.« »Das soll wohl heißen: Wenn’s gefunkt hat, ist es die große Liebe«, kommentierte Bob. »Blondie wird ihr Leben lang Feuer und Flamme für dich sein.« »Quatsch«, knurrte Justus. Ach mache jede Wette, daß sich dieses idiotische Kreuzworträtsel genau darum dreht. Dusty fahndete nach einer Stimme, die der eines bestimmten Menschen zum Verwechseln ähnlich ist. Und zwar der Stimme eines jungen Amerikaners, mit dem Blondie sich irgendwann angefreundet hat.« Dann erläuterte er ihnen, was er von Ascención, gehört hatte. »Es muß sich um jemanden handeln, der Blondie einmal das Leben gerettet hat. Über diesen Vorfall konnte ich nichts erfahren. Ich weiß auch nicht, wer dieser junge Mann ist. Aber als Dusty sich das Band anhörte, das ich als Lösung eingeschickt hatte, da erkannte er, daß unter allen Teilnehmern meine Stimme der jenes anderen am ehesten gleicht. Also kopierte er meine Bandaufnahme auf seinen Recorder, den ich heute früh in seinem Schreibtisch entdeckte. Er schnitt aber nur die Worte mit, die er brauchte. Komm her, Blondie, Halt und so weiter. Dann benutzte er sie als Test für den Burro. Allerdings hatte die Stimme vom Band wohl nicht den gewünschten Erfolg. Jedenfalls hat es auf diese Weise nicht geklappt. Dusty konnte erst dann ganz sicher sein, nachdem wir hierhergekommen waren und Blondie meine Originalstimme hören konnte. Deshalb war er gestern beim Frühstück so unruhig. Er konnte es kaum erwarten, sich Klarheit zu verschaffen. Und als es dann funktionierte – wißt ihr noch, wie aufgedreht er da war?« Peter und Bob schwiegen einen Augenblick und dachten über Justus’ Erklärung nach. »Leuchtet mir schon ein«, bestätigte Bob. »Nur . . .« 43
»Klar«, warf Peter ein. »Aber was soll das alles? Wieso gibt da einer mit vollen Händen Geld aus und wendet all die Zeit und Mühe auf, nur um eine Stimme zu finden, die ein kleiner Burro in Mexiko vielleicht wiedererkennt?« Justus schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, gab er zu. »Aber noch mehr Kopfzerbrechen macht mir was anderes.« »Und das wäre?« fragte Bob. »Wir wissen, daß es möglich ist, zwei Personen zu finden«, äußerte Justus, »deren Stimmen sich völlig gleich anhören. Peter, du hast doch auch geglaubt, das Band, das ich mit der Post bekam, hätte ich selbst besprochen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese beiden Menschen sich auch noch zum Verwechseln ähnlich sehen, geringer als eins zu einer Milliarde.« Er warf noch einen Blick auf seinen Zettel. »Denn im übrigen sehen Burros auch ganz hervorragend«, fuhr er fort. »Unter Umständen viel besser als Menschen. Folglich erkennen sie eine bestimmte Person nicht nur an der Stimme, sondern gleichzeitig auch am Aussehen.« Bob nickte. »Ja, das ist anscheinend –« Jäh brach er ab. Die beiden anderen hatten es auch gehört – Schritte, die sich hastig im Dickicht entfernten. So geräuschlos wie möglich nahmen die drei ??? nach dem Gehör die Verfolgung auf. Doch der Lauscher kannte sich im Wald besser aus als sie. Bald hatten sie die Spur verloren. Kein Schritt war mehr zu hören, nur das Geflatter auffliegender Vögel. Sie beschlossen, sich zu trennen und den Wald ringsum weiträumig abzusuchen. Justus kam als erster zur Lichtung zurück. Er hatte niemanden entdeckt. Wenige Minuten später kam auch Peter wieder. Auf Justus’ fragenden Blick schüttelte er nur den Kopf. Dann ließ er sich ins Gras fallen. Noch zehn Minuten mußten sie auf Bob warten. Er hatte die Hände in den Taschen und lächelte auf seine bekannte Weise – lässig und cool wie meistens, wenn er anderen etwas voraushatte. 44
»Hast du irgendwen gesehen?« fragte Peter. »Oder ist das geheime
Verschlußsache?«
»Keine Menschenseele«, bekannte Bob. Er lehnte sich an einen
Baum. »Aber ich hab’ was gefunden.«
Er zog die rechte Hand aus der Jeanstasche. Zwischen Daumen und
Zeigefinger hielt er etwas in die Höhe.
Justus und Peter sahen einen etwa zehn Zentimeter langen Wollfa
den. Grobe Wolle, wie sie Mexikaner für handgewebte Tücher ver
wenden.
Der Faden war von leuchtend violetter Farbe.
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Einfach aufgelegt! »Blondie macht mir Sorgen«, sagte Dusty am nächsten Morgen beim Frühstück. Peter sah von seinem Teller mit Spiegelei und Schinken auf. »Was hat sie denn?« wollte er wissen. »Vielleicht irgendwelchen Kummer? Ist sie verstimmt? Starrt sie ins Leere?« Justus versetzte ihm unterm Tisch einen kräftigen Tritt vors Schien bein. Dusty schien nichts bemerkt zu haben. Er war wieder voller Unrast und hatte kaum etwas gegessen. »Auf der Koppel gibt es mit diesem Burro bald Probleme.« Justus hatte die kleine Eselstute in der Frühe kurz gesehen. Nach sei nem Eindruck fühlte sie sich auf ihrer Koppel äußerst wohl. Sie konnte nach Herzenslust saftiges Gras knabbern und sah kerngesund aus. Ihr Fell war glatt, der Blick klar und offen. Als Justus aufge taucht war, hatte sie vor ihrem Stall gestanden. Sofort war sie heran galoppiert, um ihn zu begrüßen, Sie konnte verblüffend schnell galoppieren. Er fand es angebracht, all das für sich zu behalten. Vielleicht war dann von Dusty ein neuer Fingerzeig zu dem rätselhaften Fall zu erhalten. »Wird auf der Weide das Futter knapp?« erkundigte er sich in aller Unschuld. »Die Hufe machen mir Sorgen.« Der Rancher blickte düster in die Kaffeetasse, die er in der Hand hielt. »Burros stammen nämlich aus Nordafrika. Daher sind sie harten, steinigen Boden gewohnt. Ihre Hufe – also eigentlich die Zehennägel – wachsen sehr schnell. Auf Gestein und Geröll schleifen sie sich immerzu ab und bleiben kurz. Wenn sich aber ein Burro zu lange auf weichem Grasland aufhält, wachsen die Hufe ungehindert, bis sie sich nach innen krümmen.« Er setzte die Tasse ab. »Nach einiger Zeit werden die Tiere dadurch zu Krüppeln.« 46
»Können Sie die Hufe nicht beschneiden?« fragte Peter. Er hatte einmal zugesehen, wie ein Freund dies mit einem scharfen Messer getan hatte. »Ausgeschlossen.« Dustys Blick war noch immer finster. »Nicht bei einem wilden Burro wie Blondie. Sie würde mich erst gar nicht an sich ranlassen. Wenn ich ein Bein anfassen wollte, würde sie sofort auskeilen.« Ihm würde Blondie es vermutlich gestatten, ihre Hufe zu kürzen, dachte Justus. Doch das sprach er nicht aus. Er ahnte, daß Dusty auf etwas Bestimmtes hinauswollte. Etwas, wofür Blondies Zehennägel nur ein fadenscheiniger Vorwand waren. Ach meine wirklich, ich sollte sie wieder freilassen«, fuhr Dusty fort. »Dann kann sie in die Berge zurück, von wo sie herkommt.« Er sah Justus an. »Das Problem ist nur, daß sie gar nicht mehr weg will, seitdem du hier bist.« Justus erinnerte sich an Ascencións Bemerkung. »Er sorgt sich nicht mehr darum, daß sie weglaufen könnte, weil du jetzt hier bist.« Nun hätte er Dusty fragen können, warum er Blondie nicht schon vor Wochen die Freiheit wiedergegeben hatte. Das Problem mit den Hufen mußte ihm ja längst bekannt sein. Doch Justus spürte, daß der Rancher nun auf sein Ziel hinsteuerte. Und das würde die drei ??? der Lösung dieses Rätsels einen Schritt näherbringen. »Du könntest sie allenfalls begleiten, Justus«, meinte Dusty nach denklich. »Das heißt, wir alle könnten uns aufmachen. Zu einer kleinen Camptour ins Gebirge.« Rasch blickte er die drei Jungen der Reihe nach an. »Wie findet ihr das?« Diesen aufgelegten Schwindel fand Justus so lächerlich wie einen Dreidollarschein. Rasch sah er zu Bob hin und zwinkerte ihm zu. Bob kapierte sofort. Das bedeutete: Ihn erst mal hinhalten, wir müssen drüber reden. »Wir werden es uns mal überlegen«, sagte er zu Dusty. »Bis wann?« hakte Dusty erregt ein. »Wann könnt ihr –« »Wenn wir uns entschieden haben«, erklärte Peter. Er stand auf und 47
ging zur Tür, gefolgt von seinen Freunden. Die drei Jungen streiften ins Gelände hinaus, bis sie außer Hörweite waren. »Jetzt wird er endlich damit rausrücken, was ihn so bewegt«, meinte Bob, nachdem sie sich ins Gras gesetzt hatten. »Dieser Ausflug ins Gebirge ist der Schlüssel zum Ganzen. Sind wir uns da einig, Justus?« »Klar.« Justus nickte. »Dazu braucht Dusty mich. Meine Stimme. Damit Blondie nicht einfach irgendwohin läuft. Sie soll uns an einen bestimmten Ort führen. An einen Ort oben in den Bergen, von dem sie herkam.« »Und was gibt’s da oben?« fragte Peter mit einem Blick auf den fernen hohen Gebirgszug hinter der Ranch. »Gold?« »Genau.« Bob lächelte. »Den Schatz der Sierra Madre.« Er zupfte einen Grashalm ab und kaute darauf herum. »Na, macht euch das nicht an, Leute? Wollen wir los oder nicht?« »Ich bin voll dafür«, entschied sich Peter. »Wildes« Campen machte ihm Spaß – Kochen am Holzfeuer, Übernachten unter freiem Him mel im Schlafsack. »Aber wie ist das mit euch beiden? Da oben kann’s anstrengend werden.« »Auch nicht anstrengender als eine Tournee in die Provinz mit einer Rockband«, meinte Bob. »Das schlaucht einen ganz schön.« Er sah Justus an. »Und was ist mit dir?« Justus wußte nur zu gut, daß Bergwandern und Zelten nicht sein Fall war. Er trainierte lieber sein Gehirn als seine Muskeln. Doch als Detektiv hatte er bei der harten Beinarbeit bisher immerhin tüchtig mitgehalten. Diesen Fall mußten die drei ??? aufklären, und sollte es knüppeldick kommen. »Alles klar«, erwiderte er. »Auf in die Sierra Madre. Kommt, wir bringen Rice die frohe Botschaft.« Dusty war hell begeistert von Peters Zusage. Er grinste bis über beide Ohren. »Wollen wir gleich morgen los?« schlug er vor. Die drei ??? bestätigten ihm, das sei ganz in ihrem Sinne. In bester Laune fuhr der Rancher nach Hermosillo, um die Einkäufe für das 48
Unternehmen zu machen. Peter gab ihm seine Post für Kelly mit, einen ganzen Stapel witzig gestalteter Grußkarten mit Sprüchen wie »Du fehlst mir« und »Mit dir wär’s hier noch schöner«. Dann nützte jeder der drei die Zeit bis zum Mittagessen auf seine Weise. Peter ging mit seinem Angelzeug zum See hinunter. Bob setzte sich auf die Veranda, um seine Kontaktlinsen gründlich zu reinigen und zu desinfizieren. Das war einmal in der Woche notwendig, und auf der Camptour war es nicht ratsam. Justus machte sich auf die Suche nach Ascención, dem er einige Fragen stellen wollte. Er fand Ascención, in der Küche, wo der Mann an einem tragbaren Sprechfunkgerät herumbastelte. Er hatte den Apparat zerlegt, konnte ihn jedoch nun nicht wieder zusammenbauen. »Ist keine Arbeit für mich«, brummelte der Mexikaner auf spanisch. »Radios und so. Was verstehe ich denn davon? Rinder und Pferde – da kenne ich mich aus.« »Lassen Sie mich mal versuchen«, bot sich Justus hilfreich an. »Ich habe reichlich Übung mit solchen Sachen. Funktioniert es überhaupt nicht mehr?« »Nein. Natürlich nicht. Oder glaubst du, ich hätte es zum Vergnügen auseinandergenommen? Das Ding gibt keinen Ton mehr von sich.« »Wozu brauchen Sie es eigentlich?« »Zum Reinsprechen.« »Gibt es denn hier in der Gegend noch jemand, der ein solches Gerät hat?« Justus fragte sich, mit wem Ascención, sich wohl auf diesem Wege verständigen mochte. Außer dem Kirchturm in der Ferne jenseits des Sees hatte er im Umkreis der Ranch keinerlei Häuser gesehen. »Soviel ich weiß, nein.« »Wozu soll es dann repariert werden?« »Weil es kaputt ist.« Damit mußte Justus sich zufriedengeben. Bald hatte er die Störung im Empfangsteil des Geräts aufgespürt – eine defekte Kabelverbin dung. Für fachmännischen Kundendienst fehlte ihm freilich das 49
geeignete Kabelmaterial, und so mußte er eben improvisieren. Er
schabte von einem Stück Elektrokabel die Isolierschicht ab und
benutzte den feinen Kupferdraht für die Reparatur.
So nebenbei erkundigte sich Justus freundlich: »Sind Sie schon vie
len jungen Amerikanern begegnet?«
»Nein.« Der Mexikaner blickte ihn ernsthaft und aufmerksam an.
»Können die alle so geschickt mit technischem Gerät umgehen wie
du?«
»Manche schon.« Justus nahm einen neuen Anlauf. »Waren schon
andere Jungs aus Amerika hier auf der Ranch zu Gast?«
»Wann?«
»In den letzten drei oder vier Monaten. Seit Blondie hier ist.«
Ascención zuckte mit den Schultern. »Manchmal kommen Leute hier
vorbei«, sagte er.
»Redete einer von denen vielleicht genauso wie ich?«
Das zerfurchte Gesicht des Mexikaners blieb so unbewegt wie
immer, nur die dunklen Augen blickten verschmitzt drein.
»Für mich haben alle Nordamerikaner die gleiche Stimme«, erklärte
er.
»Aber nicht für Blondie.«
»Burros können besser hören als Menschen.«
Es war ziemlich aussichtslos, erkannte Justus. Ascención hatte
gemerkt, daß der Erste Detektiv ihn aushorchen wollte, und das ließ
er sich nicht gefallen.
Justus hatte inzwischen das Sprechfunkgerät wieder zusammenge
baut und schaltete es ein. Auf sein Rufsignal kam zwar keine
Reaktion, obwohl er mit der Antenne alle Richtungen austestete, aber
er war schon damit zufrieden, daß das handliche Funkgerät jetzt
wieder funktionierte. Falls jemand sich mit einem zweiten Exemplar
in Reichweite befand, würde Ascención sich nun mit ihm
verständigen können.
»So, das hätten wir«, meinte er.
»Sehr klug, ihr Amerikaner.«
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»Oh, besten Dank.«
Vielleicht waren Amerikaner in manchen Dingen wirklich klug.
Doch Justus wußte, daß er verflixt früh aufstehen mußte, um diesen
Mexikaner zu überlisten.
Ascención nahm sein Funkgerät an sich und bedankte sich bei Justus.
Dann ergriff er Justus’ Hand und schüttelte sie herzhaft.
»Wir werden irgendwann lange miteinander reden«, sagte er. »Eines
Tages, wenn –« Er brach ab. Das Telefon läutete. Er ging ins Büro,
um den Anruf entgegenzunehmen. Gleich darauf kam er zurück.
»Es ist für dich.«
Das kann nur Hector Sebastian sein, dachte Justus. Er konnte sich
nicht vorstellen, wer sonst ihn hier anrufen sollte.
Doch als Justus den Hörer aufnahm, meldete sich eben nicht der
Krimi-Autor, sondern eine Frau. Eine Amerikanerin.
»Spreche ich mit Justus Jonas?« fragte sie.
»Ja. Wer ist am Apparat?«
»Mein Name tut nichts zur Sache. Er würde dir ohnehin nichts sagen.
Ich muß dir etwas zeigen. Etwas, das für dich sehr wichtig ist.«
Sofort wurde Justus hellhörig wie immer, wenn ein Fall eine uner
wartete Wendung nahm.
»Dann kommen Sie doch hierher zur Ranch«, schlug er vor.
»Nein.« Plötzlich schwang in der Frauenstimme Furcht mit. »Das
wäre viel zu gefährlich für mich.«
»Dustin Rice ist zur Zeit nicht da«, versuchte Justus es noch einmal.
»Er ist nach Hermosillo gefahren.«
»Nein.« Es hörte sich noch immer verängstigt an. »Es könnte mich
jemand sehen und ihm davon berichten. Treffen wir uns doch auf der
anderen Seeseite, zum Wald hin.«
Die Frau gab Justus genaue Anweisungen. Am diesseitigen Ufer
unterhalb der Ranch würde er auf dem Strand ein Boot finden. Wenn
er quer über den See ruderte und dann bei dem kurzen Weg durch
den Wald immer auf den Kirchturm zuhielt, würde er in ein kleines
Dorf kommen. In der Ortsmitte würde sie auf ihn warten.
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»Komm allein«, schloß sie. »Wenn. du dich mit einem Begleiter
zeigst, verschwinde ich wieder. Und dann wirst du nie erfahren, was
ich hier habe.«
»Was ist es denn?«
Doch in der Leitung summte es nur noch. Die Anruferin hatte
aufgelegt.
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Petri Heil Justus ging zur Terrasse zurück. Bobs Kontaktlinsen waren nun wieder sauber und steril, und er hatte sich in sein Taschenbuch über die Geschichte Mexikos vertieft. Justus berichtete ihm von dem Telefongespräch. »Sie will dir also was zeigen«, meinte Bob. »Vielleicht hat sie ein Foto von dem jungen Amerikaner, mit dem Blondie so innig verbunden war.« Justus hob die Schultern. Das hatte er selbst schon erwogen, doch es konnte natürlich nur eine Vermutung sein. »Soll ich mitkommen?« erbot sich Bob. Justus erklärte ihm, daß die Frau darauf bestanden hatte, er sollte allein hinüberrudern. »Hmmm«, machte Bob. »Jedenfalls haben wir dich auf dem See von hier aus im Blick, für den Fall, daß etwas schiefgehen sollte. Und das Muskeltraining wird dir gut tun.« »Spar dir deine guten Ratschläge«, brummte Justus, schon unter wegs. Als Justus ans Ufer kam, war von Peter weit und breit nichts zu sehen. Bald fand er das auf den Strand gezogene Boot, einen kleinen Holzkahn. Zwei Ruder waren unter der Sitzbank verstaut. Er schob den Kahn ins Wasser, stieg hinein und legte die Ruder in die Dollen ein. Dann ruderte er los. Dies erwies sich als weit schwieriger, als er erwartet hatte. So kräftig er sich auch in die Riemen legte – das Boot wurde dauernd seitwärts abgetrieben. Die Ursache erkannte er bald. Der See war durchaus kein ruhiges Gewässer. An einem Ende mündete ein Gebirgsfluß ein, und am gegenüberliegenden Ende trat er wieder aus. Selbst in Ufernähe war die Strömung stärker als die Brandung vor Rocky Beach. Justus überlegte kurz, wie sich das Problem lösen ließ, und drehte 53
dann etwas bei, so daß das Boot schräg zu seinem Kurs lag, den Bug zur Strömung hin gerichtet. Wenn er nun rechts – also mit dem der Strömung abgewandten Ruder – kräftiger pullte als links, konnte er das Boot zum gegenüberliegenden Ufer hinmanövrieren, ohne daß es zu weit abtrieb. Nur mußte er dazu all seine Kraft aufwenden. Und dann Knacks! Das rechte Ruderblatt war abgebrochen. Justus sah, wie es schnell vom Boot wegtrieb. Ihm war nur eine nutz lose Stange in der Hand geblieben, die das Wasser nicht verdrängte. Rasch zog er sie über die Bordkante und legte nun rechts das heilgebliebene Ruder ein. Doch damit war es unmöglich, den Kahn auf geradem Kurs zu halten. Er drehte sich fortwährend im Kreis wie ein Hund, der sich in den eigenen Schwanz beißen will. Justus versuchte, das Ruder mal auf dieser, mal auf jener Seite einzulegen, aber das war mühsam und hielt ihn viel zu sehr auf. Schließlich hob er entschlossen das Ruder aus der Dolle und benutzte es wie ein Kanupaddel. Mit verbissener Anstrengung paddelte er abwechselnd rechts und links, und so gelang es ihm, das Boot in Schlangenlinien übers Wasser zu manövrieren. Er hatte noch nicht die Hälfte der Strecke bewältigt, da brach auch das zweite Ruderblatt ab. Nun war Justus der kraftvollen Strömung ausgeliefert. Er versuchte mit einem der abgebrochenen Ruder zu staken, aber das Wasser war zu tief. Er kam nicht auf Grund. Sollte er um Hilfe rufen? Doch selbst wenn Bob oder Ascención ihn hörten – was konnten sie ohne ein zweites Boot ausrichten? Er war machtlos, und das Boot trieb schnell dorthin, wo der zügig strömende Fluß den See wieder verließ. Justus war ein guter Schwimmer. Er hätte ins Wasser springen und versuchen können, gegen den Strom ans andere Ufer zu schwim men. Doch da fiel ihm Ascencións Warnung ein. Er hielt die Hand ins Wasser und stellte fest, daß der Mexikaner nicht übertrieben 54
hatte. Das Wasser war eiskalt. Darin würde er nur wenige Minuten überleben. Vorläufig saß er ja noch im Boot. Solange er drinblieb, trieb ihn die Strömung weiter. Doch wie lange würde das gutgehen? Der See lag in einen Hang eingebettet, und dieses Gefälle mußte der Fluß bei seinem Austritt aus dem See überwinden. Vermutlich gab es weiter unten Stromschnellen. Er dachte an das Dorf, das am anderen Ufer gleich hinter dem Wald lag. Vielleicht konnte jemand von drüben mit einem Boot kommen. »Ayudame! Hilfe! Helft mir!« rief er, so laut er konnte. Doch das jenseitige Ufer lag in der Mittagshitze öde und verlassen da. Ein Hund bellte, doch sonst rührte sich nichts. Justus versuchte, einen kühlen Kopf zu behalten und sich einen Plan zurechtzulegen. Wenn er erst den Flußlauf hinter dem See erreicht hatte, fanden sich darin möglicherweise seichte Stellen. Dann könnte er das Boot mit Staken zum Ufer hinlenken. Gleich würde sich das herausstellen. Er war nun nicht mehr weit von der Ausmündung des Stroms entfernt. Schon konnte er die Stelle sehen, wo das bewegte Wasser verschwand. Verschwand!!! Schlagartig begriff Justus, was das bedeutete – dort am Ende des Sees trat der Fluß nicht in ebenes Gelände aus, sondern ergoß sich als Wasserfall in die Tiefe! Er zog den Kopf ein und stemmte Arme und Beine an die Bordwände, um gegen den Schock, den jähen Absturz gewappnet zu sein. »Justus!« Er hob den Kopf. Da stand Peter am Ufer des Sees und schwenkte seine Angelrute. Von den abgebrochenen Rudern konnte Peter nichts wissen. Doch er hatte sofort erkannt, in welcher Gefahr sich sein Freund befand. Er sah nämlich, was Justus noch verborgen war: den zehn Meter hohen Steilhang hinter der Stelle, an der der See sich stark verengte. Von hier aus schoß das nun kraftvoll dahinstrudelnde Wasser in das tiefer 55
gelegene Flußbett hinab. Dort unten, am Fuß des Wasserfalls, hatte Peter zuvor geangelt. Er hatte selbst gesehen, mit welcher Wucht die eisigen Wassermassen auf den felsigen Grund prallten. Hier würde der hölzerne Kahn unweigerlich zerschellen. Und Justus . . . Peter raste am Seeufer entlang, weg vom Wasserfall bis zu der Stelle, an der das Land als kleine Halbinsel in den See ragte und der Strö mung nahe kam. Er rechnete sich aus, daß Justus hier in etwa zwanzig Metern Entfernung vorübertreiben müßte, ehe er in den Wasserfall hinabgerissen wurde. Peter löste die Verriegelung an der Rolle seiner Angelrute und holte in weitem Bogen aus. Eine Chance hatte er. Nur eine. Für einen zweiten Versuch würde es zu spät sein. Er konzentrierte sich ganz auf das Boot und wartete ab, bis es fast genau auf seine Höhe gekommen war. Mit aller Kraft seines Handgelenks und Unterarms warf er die Angelrute aus und schleuderte das Bleigewicht über den See hin, so weit er konnte. Es war der längste und beste Wurf, der Peter jemals geglückt war. Dicht hinter dem Boot landete der Sinker im Wasser. Justus ergriff die Schnur, als sie sich quer über den Bug seines Bootes spannte. »Nicht ziehen!« schrie Peter hinüber. »Sonst kann sie reißen. Nimm den Sinker in die Hand.« Justus zog das Bleigewicht aus dem Wasser und umschloß es vor sichtig mit der rechten Hand. Ganz behutsam und bedächtig begann Peter die Angelschnur einzu holen. Jeden Zollbreit ohne Gegenzug nutzte er aus, um den Nylon faden so wenig wie möglich zu belasten. Er legte es nicht darauf an, das Boot überhastet ans Ufer zu ziehen. Doch als die Schnur sich wieder spannte, sah er mit großer Erleichte rung, daß der Kahn sich ihm nun in weitem Bogen näherte, als sei er an die Leine gelegt. Als die Spannung kurz nachließ, spulte er wieder etwa einen Meter Schnur auf. Während er das Boot immer näher ans Ufer heranzog, schwächte 56
sich die Strömung ab. Peter holte wieder ein Stück Schnur ein. Immer kürzer wurde die Leine, immer enger der Kreisbogen. Nun hielt der Kahn Kurs auf das Ufer und hatte schon fast die Strömung hinter sich gelassen. Zehn Meter waren es noch ungefähr – da riß die Schnur. Justus reagierte schnell. Er kniete sich auf die Sitzbank und packte eines der abgebrochenen Ruder. Er beugte sich über die Bordkante und schob es ins Wasser, so tief er konnte. Immer weiter ließ sich die Stange hinunterdrücken. Dann stieß sie plötzlich auf Grund. Er stemmte sich dagegen und drückte das Boot mit aller Kraft vorwärts. Beängstigend langsam näherte das Boot sich weiter dem Land. Justus wiederholte das Manöver. Wieder glitt der Kahn ein kleines Stück zum Ufer hin. Hier war das Wasser nur noch wenige Handbreit tief Justus sprang über Bord, ergriff das Boot am Bug und watete aus dem See. Peter lief zu ihm und half das Boot auf den Strand ziehen. »Danke«, sagte Justus. Was gab es sonst zu sagen? »Der größte Fisch, den ich je geangelt habe.« Peter strahlte. »Den muß Ascención zum Mittagessen grillen.« »Ich komm’ mir zwar vor wie ein gefrostetes Fischfilet, aber Grillen muß nicht unbedingt sein.« Da hörten beide rasche Schritte – Bob kam angelaufen. Nachdem Justus weggegangen war, hatte er sich zum Seeufer aufgemacht, um zu schauen, wie Justus zurechtkam. Er hatte auch gesehen, wie Justus im Boot auf den Wasserfall zutrieb, doch er hatte seinem Freund nicht zu Hilfe kommen können. »Der Wurf war absolut super«, lobte er Peter. »Rekordverdächtig.« Peter grinste. »Hey, aber ich dachte, wir drehen hier den Schatz der Sierra Madre und nicht den Weißen Hai! Im übrigen ist es wohl besser, ich erzähl’ Tante Mathilda nichts davon.« Justus mußte auch lachen. Er setzte sich auf den Boden und zog seine nassen Schuhe und Socken aus. Schon nach den wenigen Sekunden im Wasser waren seine Füße vor Kälte blau angelaufen. Ein Glück, daß er das Schwimmen hatte bleiben lassen. 57
Während Peter die Angelschnur zurückspulte, erklärte Justus rasch,
was sich abgespielt hatte. Der Anruf Die abgebrochenen Ruderblät
ter.
»Beide abgebrochen?« fragte Peter. »Einfach so?«
»Nein, eben nicht.« Justus sah sich die glatten Bruchstellen an den
Enden der Ruder an. »Die hatte jemand vorher angesägt. Damit die
Ruderblätter nach ein paar Minuten abbrechen sollten. Sieht so aus,
als hätte es jemand darauf angelegt, daß mir ein Unglück zustößt.«
Er sah Bob an.
»Hast du irgendwen gesehen?« fragte er. »Drüben am anderen
Ufer?«
Bob hatte sich auf den Bug des Kahns gesetzt. Er nickte. »Ja, ganz
kurz«, sagte er. »Aus der Ferne konnte ich da drüben eine Frau
beobachten. Sie hat zugeschaut, wie du im Boot auf den Wasserfall
zugetrieben bist, Justus. Dann verdrückte sie sich.«
»Wie sah sie denn aus?« fragte Peter. »Nein, sag’s noch nicht. Ich
will mal raten. Eine Mexikanerin mit langen schwarzen Zöpfen und
einem violetten Tuch um den Kopf.«
Bob schüttelte den Kopf. »Nein, sie war wohl eher Amerikanerin.
Sie hatte Jeans an und trug eine Sonnenbrille und –«
»– und war blond«, unterbrach ihn Justus.
Bob war ganz verblüfft. »Kannst du hellsehen, oder was?«
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Auf Blondie ist Verlaß Am nächsten Morgen brachen die drei ??? mit ihrem Gastgeber ins
Gebirge auf
Dusty war aus Hermosillo mit seinem Jeep samt einem angekoppelten
Pferdetransporter zurückgekommen. Ascención fing auf der unteren
Koppel eines der Pferde ein. Peter half beim Auftrensen und Satteln.
Das Pferd war zu geritten und gehorsam. Willig ließ es sich von Peter
über die Rampe in seine vorübergehende neue Behausung rühren.
Peter blieb bei dem Pferd und striegelte es liebevoll, während Justus
und Ascención Blondie holen gingen. Justus kam es gerade recht,
daß er kurze Zeit mit Ascención allein sein konnte. Er wollte ver
suchen, den zugeknöpften Mexikaner noch ein wenig auszuhorchen.
»Das Boot, das unten am See liegt«, fing er an, »ist das immer da?«
»Wo sollte man ein Boot sonst hintun? In die Küche?«
»Wem gehört es?«
»Zur Ranch.«
»Wird es überhaupt benutzt?«
»Manchmal.«
»Und wozu?«
»Zum Fischen.«
Wie zuvor kam Justus bei seinem Versuch, Ascención Auskünfte
abzuluchsen, nicht sehr weit. Eines allerdings mußte er noch in
Erfahrung bringen.
Die blonde Frau, die Bob drüben am anderen Ufer gesichtet hatte,
war höchstwahrscheinlich die Amerikanerin, die Justus angerufen
hatte. Folglich waren von ihr vermutlich auch die Ruder angesägt
worden. Doch wie hatte sie das Wasser überquert, und wie war sie
wieder zurückgelangt? Das hätte sie in aller Morgenfrühe oder schon
in der vergangenen Nacht tun müssen.
»Wenn Sie zu dem Dorf auf der anderen Seite wollen«, fragte er
Ascención »wie kommen Sie da rüber?«
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»Zu Fuß.« »Aber der See ist doch sehr tief.« »Da oben nicht.« Der Mexikaner zeigte dorthin, wo der Fluß an der beim Berghang gelegenen Spitze des Sees einmündete. »Dort gibt es Trittsteine.« Justus nickte. Das konnte die Erklärung sein. Die Amerikanerin war im seichten Wasser auf den Steinen zu Dustys Ranch herübergekom men, hatte sich an den Rudern zu schaffen gemacht und den See auf gleichem Wege wieder überquert, um dann Justus vom Dorf aus anzurufen. Und wenn sie dieselbe blonde Frau war, die Justus in jener ersten Nacht im Mondlicht kurz zu Gesicht bekommen hatte, dann mußte Ascención sie kennen. »Haben Sie im Dorf Freunde?« forschte Justus. »Ich kenne den Mann, dem das kleine Lokal gehört, die cantina. Er ist mein Vetter.« »Und sonst, kennen Sie auch Amerikaner dort? Eine Frau mit blondem Haar?« Sie waren beim Gatter vor Blondies Koppel angelangt. Ascención drehte sich zu Justus um und blickte den Jungen durchdringend an. »Das war dumm, wag sie da getan hat«, stieß er plötzlich hervor, als hätte ihm etwas die Zunge gelöst. »Ich sagte ihr, es sei dumm. Aber sie hat große Angst. Und wenn jemand Angst hat, dann tut er manchmal etwas Verrücktes. Ich bin froh, daß dir nichts passiert ist. Aber . . .« Er faßte Justus an der Schulter. »Gib gut acht in den Bergen, amigo«, sagte er warnend. »In den Bergen ist es gefährlich.« Blondie kam aufgeregt zu Justus herangaloppiert. Er öffnete ihr das Gatter, und sie rieb ihr weiches Maul an ihm. Justus kraulte sie hinter den Ohren. Offenbar schloß Blondie Justus immer mehr ins Herz. Ascención ließ sie nach wie vor nicht an sich heran. Aus gehörigem Abstand mußte der Mexikaner Justus unterweisen, wie er sie mit einem Strick aufzäumen sollte. 60
»Du mußt ohne Sattel reiten«, erklärte er. »Sie hat dich sehr gern, aber einen Sattel erträgt sie nicht. Sie würde sich so lange am Boden umherwälzen, bis der Sattelgurt durchgescheuert ist.« Das machte tiefen Eindruck auf Justus. Dusty hatte inzwischen Proviant und Ausrüstung auf den Rücksitzen des Jeeps verstaut: Säcke mit Bohnen und Reis, Hafer für das Pferd, Zucker und Kaffee, Schlafsäcke, ein Gewehr. Peter und Bob mußten sich hinten irgendwie dazwischenquetschen. Justus saß vom bei dem Rancher und hielt den Strick von Blondies Halfter. Sie trabte neben dem Jeep her, und das Pferd reiste im Anhänger mit. Als sie durch das letzte Weidegatter fuhren, schaute Justus noch einmal zum Ranchhaus hinauf. Auf der Terrasse stand Ascención Gerade ehe er Justus’ Blick entschwand, hob er die rechte Hand. Die Geste war mehr als ein Abschiedsgruß. Auf der kurvenreichen Bergstrecke mußte Dusty sehr langsam fahren, so daß Blondie neben dem Jeep bleiben konnte, ohne sich all zusehr anzustrengen. Eine Stunde lang fuhren sie auf einem stau bigen, steinigen Feldweg dahin. Später führte nur noch eine Wagen spur zwischen den spärlich wachsenden Kiefern hindurch. Nach einer weiteren Stunde hielt Dusty an, damit der Motor abkühlte. Als er ihn abgestellt hatte, konnte Justus das Geräusch fließenden Wassers hören. Blondie zerrte ungeduldig am Strick. »Sie hat sicher Durst«, meinte Justus zu Dusty. »Und wohl auch Hunger. Ich geh’ mal lieber mit, damit sie uns nicht wegläuft.« Justus ließ sich von dem kleinen Burro zu einem Bergbach führen. Das Wasser sah klar und einladend aus. Justus merkte, daß auch er durstig war. Ascención hatte ihm gesagt, in der Sierra Madre könne man unbesorgt aus fließenden Gewässern trinken, jedoch nicht aus Seen oder Teichen. Er kniete nieder und trank aus den Händen. Neben ihm senkte Blondie den Kopf und trank ebenfalls. Als sie genug hatte, fing sie zu grasen an. Für Blondie hatten sie kein Futter mitgenommen. Im Unterschied zum Pferd konnte sie sich selbst versorgen. Laut Ascención waren Burros genügsame 61
Weidetiere. »So gut wie Ziegen«, hatte der Mexikaner gesagt. Nach einigen Minuten hörte Justus vom Jeep her Dustys ungeduldiges Rufen. Justus versuchte, den Burro zurückzuführen. Doch so sehr er auch am Strick zog und immer wieder sagte »Komm jetzt. Komm schon, du störrisches kleines Biest« – Blondie rührte sich nicht von der Stelle. Er mußte warten, bis sie sich den Bauch mit Gras vollgeschlagen hatte. Dusty jagte schon wütend den Motor hoch, als Justus und Blondie zurückkamen. Die anderen waren mit dem von Ascención eingepackten Imbiß fertig. Justus schlang ein Sandwich aus der freien Hand hinunter, während der Jeep schon wieder über die Furchen hoppelte. Mit der anderen Hand mußte er ja Blondie halten. Dusty fuhr noch drei Stunden lang weiter, bis im Gelände nicht einmal mehr Reifenspuren zu sehen waren. »Hier müssen wir den Jeep stehenlassen«, erklärte er. Sie luden die Vorräte aus. Peter führte das Pferd aus dem Anhänger. Dusty stellte beide Fahrzeuge unter einer Baumgruppe ab, und sie deckten Kiefernzweige darüber. Dann packte der Rancher die schweren Traglasten dem Pferd auf, und Blondie ließ sich von Justus die Schlafsäcke aufschnallen. »Du gehst voran«, forderte Dusty Justus auf, als sie startklar waren. »Der Burro wird uns schon zeigen, wo’s langgeht.« Justus wechselte einen Blick mit seinen Freunden. Dann zogen sie los. Justus ritt Blondie, natürlich ungesattelt. Peter und Bob folgten zu Fuß, jeder mit seinem Rucksack. Dusty kam als letzter auf dem schwer bepackten Pferd, das Gewehr im Sattelhalfter. Sehr bald wurde es Justus klar, daß er alle Mühe hatte, sich auf dem Eselrücken zu halten. Keine Sekunde lang durfte er seine Aufmerk samkeit abschweifen lassen. Bald hatten sie die Baumgrenze überschritten und mußten so steile und felsige Hänge überwinden, daß Peter und Bob sie nur auf allen Vieren erklimmen konnten. Blondie kletterte leichtfüßig hinauf. Ascención hatte gesagt, sie käme im Hochland ebenso gut zurecht wie eine Bergziege. So behende wie 62
eine Ziege kletterte sie allemal. Justus mußte ihren Hals mit den Armen umschlingen, damit er nicht seitwärts abrutschte. Immerhin hatte er es leichter als Dusty. Im Vergleich mit dem Burro kam das Pferd mühsam und schwerfällig voran. Oft mußte der Ran cher absitzen und das widerstrebende Tier am Zügel einen steinigen Hang hinaufführen. Bald konnte er gar nicht mehr mithalten und lag mehrere hundert Meter hinter Bob und Peter zurück. Justus beschloß, kurz anzuhalten, damit die anderen aufholen konn ten. »Halt«, rief er Blondie ins Ohr. »Haaalt!« Doch sein Burro war nicht gewillt, stehenzubleiben. Die Wanderung machte Blondie Spaß, und sie ließ sich nicht dazu bewegen, auf andere zu warten. Allmählich ärgerte sich Justus über ihren Eigen sinn. Er zerrte am Zügel, um ihr klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. Sie reagierte überhaupt nicht. Dann plötzlich machte sie jäh halt. Für Justus kam das so unverhofft, daß er beinahe in hohem Bogen über Blondies Ohren gesegelt wäre. Sie hatten am Hang einen ebe nen Absatz erreicht. Hier wucherten Wildpflanzen zwischen den Steinen. Ein hoher, verzweigter Kaktus stand unmittelbar im Weg. Justus vermutete, daß Blondie wohl wieder grasen wollte. Er ließ es gut sein und saß ab. Hier konnte er sich ja auch ein wenig ausruhen. Neben dem Kaktus sah er einen großen flachen Stein, und darauf ging er zu. Sofort machte Blondie einen langen Hals und verstellte ihm den Weg. Als er sich an ihr vorbeidrängen wollte, faßte sie mit den Zähnen den Saum seines T-Shirts und zerrte ihn zurück. »Hör mal, was soll das nun wieder?« fragte Justus aufgebracht. »Wenn du grasen willst, dann nur zu. Aber bitte nicht mein T-Shirt futtern.« Er versuchte das Hemd wegzuziehen. Sie hielt es störrisch fest. Schließlich gab Justus mit einem Schulterzucken nach. Wenn ein Burro sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war alle Mühe vergebens. 63
Blondie hatte jedenfalls beschlossen, an genau dieser Stelle stehen
zubleiben. Und Justus durfte nicht von ihrer Seite weichen.
Als er ihre Flanke tätschelte, ließ sie sein T-Shirt los. Doch sie ging
ihm nicht aus dem Weg. Sie warf den Kopf zurück und blickte starr
auf den Kaktus.
Da sah Justus ihre Ohren – in voller Länge nach hinten angelegt.
Und das seidige Nackenfell war nicht glatt wie sonst. Es sträubte sich
vor Furcht.
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»Wer ist hier der Boß?« Justus hielt ganz still, den Blick auf den Kaktus gerichtet.
Peter und Bob kamen angehastet. »Was ist denn los?« wollte Peter
wissen.
»Ich weiß nicht. Irgendwas hat Blondie erschreckt.«
Auch Peter hatte das gesträubte Nackenfell des Burros bemerkt.
»Warten wir mal ab, was sie tut«, schlug er vor.
Aber Blondie tat gar nichts. Unverwandt starrte sie auf den Kaktus.
Eine Minute lang vernahmen sie nur das Schnauben von Dustys
Pferd, das mühsam den Hang erstieg und dann keuchend hinter ihnen
stehen blieb.
»Na, was hält euch Jungs hier auf?« fragte Dusty schroff.
Dann hörten sie es.
Das schwache Summen, das die hellhörige Blondie schon längst
wahrgenommen hatte.
Das Summen kam aus der Richtung einiger Felsblöcke hinter dem
Kaktus. Es klang nicht gleichmäßig und eintönig wie bei einer Biene.
Es brach ab und setzte dann wieder ein, lauter und schneller.
Dusty, der abgesessen war, zog jäh den Atem ein. Er griff nach sei
nem Gewehr.
»Eine Klapperschlange«, erklärte er. »Sie lauert dort hinter dem
Kaktus. Blondie hat sie wohl aufgestört. Wir müssen sie hervor
scheuchen, damit ich sie abschießen kann.«
Die drei ??? bückten sich und hoben Steine vom Boden auf. Sie
hielten sie wurfbereit, während der Rancher seine Waffe in Anschlag
brachte und zielte.
»Jetzt«, sagte Peter.
Alle drei Jungen schleuderten gleichzeitig ihre Steine. Das Summen
hörte auf. Doch still blieb es nicht.
Mit rasend schnellem Schnarren kam die Schlange unter dem Kaktus
hervorgeglitten. Sie war knapp eineinhalb Meter lang. Den platten
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Kopf hoch erhoben, schob sie sich in wellenförmigen Bewegungen beängstigend rasch heran. Hastig traten die drei Jungen einen Schritt zurück. Dusty schoß. Peter konnte nicht erkennen, ob der Rancher die Klapperschlange getroffen oder verfehlt hatte. Jedenfalls war sie nicht tot. Sie schliff seitwärts weg und griff dann von neuem an. Bob beobachtete sie hilflos, doch fasziniert. Nun glitt die Schlange direkt auf ihn zu. Er konnte die flachen Augen sehen, die vor- und zurückschnellende lange Zunge, das verhornte Bündel der Klappern am hochgereckten Schwanzende. Er wollte zurückweichen, konnte aber kein Glied rühren. Er kam sich vor, als hätte ihn die Schlange hypnotisiert. Dusty spannte wieder den Abzug und hob den Lauf. Doch er konnte nicht abdrücken. Blondie stand direkt in der Schuß linie. Die kleine Wildeselstute hielt die Ohren noch immer flach angelegt. Blitzschnell drehte sie sich um ihre eigene Achse und kehrte der Schlange das Hinterteil zu. Bob sah, wie die Klapperschlange sich noch höher aufrichtete. Sekundenlang verharrte ihr Kopf regungslos. Blondie keilte wild mit beiden Hinterbeinen gleichzeitig aus. Die Hufe des Burros trafen die Klapperschlange genau an der dicksten Stelle des aufgerichteten Rumpfes. Die Wucht des Stoßes warf die Schlange hoch in die Luft und schleuderte sie den steil abfallenden Hang hinunter. Sechs Meter tiefer prallte sie auf den Fels, wo sie einen Augenblick wie betäubt liegenblieb. Dann schlüpfte sie blitzschnell davon. Dusty hängte seine Waffe wieder am Sattel auf. Keiner sagte etwas. Alle standen nur da und atmeten tief durch. Dann setzten sie wortlos ihren Weg fort. Blondie wollte nicht mehr klettern. Quer zum Hang ging sie weiter, bis Justus weiter unten Bäume sehen konnte. Eilig stieg Blondie zu 66
diesen Bäumen hinunter. Als sie dort anlangte und stehenblieb, beugte er sich vor und streichelte ihr den Hals. »Okay«, sagte er. »Du hast das Sagen. Von jetzt an bist du der Boß.« Nachdem Dusty die drei Jungen eingeholt hatte, mußte auch er zugeben, daß der Burro einen guten Rastplatz für die Nacht ausgesucht hatte. Es gab Feuerholz und Gras in Fülle, und Blondie geleitete Justus zu einer klaren Quelle ganz in der Nähe. Nach Sonnenuntergang wurde es kalt. Die drei ??? zogen Pullover über ihre Shirts. Peter hatte bald ein prachtvolles Feuer entfacht und half dann Dusty, dem Pferd das Gepäck abzunehmen. Dusty sattelte das Tier ab und versorgte es mit Futter und Wasser. Dann kochte er in einem großen Topf Bohnen und Reis. Justus sah auf seinen gefüllten Teller nieder. Kohlenhydrate! Er mußte schlucken. Bohnen gingen ja noch an. Wenigstens enthielten sie außer Stärke auch Eiweiß. Aber Reis war Gift für ihn. Stärke pur. Justus faßte einen Entschluß. Er befand sich in einem spannenden Fall auf einer wichtigen Fährte. Dazu brauchte er Kraft. Kjell Hassel blad durfte sich vorübergehend allein an seine Salatblätter halten. Justus langte tüchtig zu und verputzte alles, was auf dem Teller lag. Auf einen Nachschlag verzichtete er. Zu seiner Verwunderung fühlte er sich schon gesättigt. Vielleicht bin ich zum Essen zu müde, dachte er. Nach dem Essen zog Bob die Turnschuhe aus und rieb sich die Füße, die von der Klettertour schmerzten. »Wie lange soll das so noch weitergehen?« wollte er von dem Ran cher wissen. Dusty sah ihn durchdringend an. »Macht dir unser Ausflug keinen Spaß?« Bob erwiderte den Blick noch durchdringender. »Ich mußte nur gerade an Blondies Hufe denken«, äußerte er sarkastisch. »Hier oben gibt’s ja massenhaft Steine und Geröll.« Dustys Lügen hatte er gründ lich satt. Und er wollte dem selbstherrlichen Rancher beibringen, daß er und Justus und Peter keine naiven kleinen Jungen waren, die alles 67
glaubten, was Dusty Rice ihnen vorflunkerte. Das Märchen von
Blondies Hufen hatten sie ihm jedenfalls nicht abgenommen.
»Ja, eben«, mischte sich Peter ein. »Hier ist das Gelände noch rauher
als die gröbste Hornraspel. Warum lassen wir Blondie nicht einfach
frei?«
Dusty antwortete nicht gleich. Er warf ein paar Äste aufs Feuer.
»Dieser Burro hat seinen eigenen Kopf«, meinte er schließlich.
»Blondie will dorthin zurück, von wo sie herkam. Und sie wird
merken, wann es soweit ist.«
»Der Ruf der Wildnis . . .« meinte Justus nachdenklich. »Aber hören
Sie mal – was suchte sie dann eigentlich unten bei Ihnen, wenn sie so
heimatverbunden ist?«
»Schwer zu sagen«, hielt ihm der Rancher schroff entgegen.
»Manche Wildesel trennen sich eben irgendwann von der Herde.
Wer weiß schon, warum?«
Justus wußte, daß Dusty schon wieder log. Blondie war nicht einfach
meilenweit durchs Hochland gestreift, bis sie unten bei der Ranch
ankam. Jemand hatte sie dorthin geführt. Jemand, dem sie vertraute
und daher bereitwillig folgte. Vielleicht jemand, in dem Blondie
ihren Lebensretter sah, wie Ascención es ausgedrückt hatte. Jemand,
dessen Stimme Justus Jonas’ Stimme verblüffend ähnlich war.
Beim Grasen entfernte sich der Burro immer weiter vom Feuer. Der
Rancher sah voll Unbehagen zu. »Du solltest Blondie über Nacht
anbinden«, trug er Justus auf Er rang sich ein gequältes Lächeln ab.
»Schließlich soll sie nicht wieder zur Ranch hinunterspazieren.«
Justus rappelte sich mühsam hoch, denn seine Beine waren ganz
steif. Beim Reiten hatte ihn das nicht gestört, doch nun kam er kaum
auf die Füße. Wie auf Stelzen stakte er zu Blondie hinüber und gab
ihr einen Klaps auf die Flanke. »Du bleibst doch bei mir, Blondie,
klar?«
»Es ist bestimmt sicherer, wenn du sie festmachst«, knurrte Dusty.
»Los, bind sie an einen Baum.«
Justus drehte sich zu dem Mann um. Er schüttelte den Kopf.
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»Nein«, sagte er. »Vielleicht will Blondie in der Nacht was trinken.«
»Sie hat soviel Wasser getrunken, wie sie braucht.«
Nun ging es hart auf hart, das war Justus klar. Er würde nicht zurück
stecken.
»Wenn Sie wollen, daß sie angebunden wird, dann machen Sie’s
selber«, sagte er. »Falls sie Sie an sich ranläßt.«
Die beiden blickten einander lange an. Unterwegs mochte Blondie
der Boß sein. Doch hier und jetzt war es Justus.
»Okay«, lenkte Dusty schließlich ein. Er schlüpfte in seinen Schlaf
sack. »Solange du hier bist, wird sie schon bei uns bleiben.«
»Warum?« hakte Justus schroff ein. »Warum glauben Sie eigentlich,
daß sie sich gerade an mich angeschlossen hat?«
»Quién sabe, wie man in Mexiko sagt.« Der Rancher drehte sich auf
die Seite und schloß die Augen. »Wer weiß?«
Justus humpelte zum Feuer zurück. Im Vorbeigehen sah er, wie Bob
ihm zuzwinkerte.
Dann kroch Justus in seinen Schlafsack.
Es war noch Nacht, als Justus aufwachte. Das Feuer war niederge
brannt, und im ersten Augenblick war er zu schlaftrunken, um zu
erkennen, was ihn geweckt hatte. Dann hörte er es wieder.
Lautes Protestgeschrei.
Blondie.
Mit steifen Gliedern schlüpfte er rasch aus dem Schlafsack und
tappte im Finstern zwischen den Bäumen hindurch zu der Quelle
hin.
Als er zur Lichtung kam, sah er einen hellen Schein. Ein Licht tanzte
auf und nieder und im Kreis herum. Erst konnte er bei dem unruhi
gen Geflacker nur Blondie sehen. Sie war auf die Hinterhand gestie
gen und schlug wie irrsinnig mit den Vorderhufen in der Luft.
Dann hielt das Licht kurz still, und er konnte die Gestalt einer Frau
erkennen. In einer Hand hielt sie eine Taschenlampe, und mit der
anderen wollte sie Blondie an ihrem Halfter ins Dickicht ziehen.
Wieder schrie Blondie. Sie reckte sich noch höher auf, als wollte sie
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sich gleich auf die Unbekannte stürzen, die da an dem Strick um
ihren Hals zerrte.
Justus hatte erlebt, wie der Burro mit einer Klapperschlange fertig
wurde. Um Blondie war ihm kaum bange – weit eher um die Frau.
»Loslassen!« brüllte er.
Er lief los und versuchte dabei den kleinen Burro schon mit Worten
zu beruhigen. »Blondie. Ganz ruhig, Blondie«, rief er besänftigend.
Die Frau ließ sofort den Strick fallen, und Blondie konnte sich wie
der auf alle vier Beine stellen. Sie wandte sich Justus zu. Er streichel
te ihr die Nase und wollte sich dann die Frau näher ansehen.
Da ging die Taschenlampe aus.
In der plötzlichen Dunkelheit hörte Justus, wie sich schnelle Schritte
entfernten. Schon war die Frau in der Nacht verschwunden. Gleich
darauf kamen Peter und Bob zur Lichtung gerannt.
»Was ist denn los?« wollte Bob wissen. »Blondie hat mich auf
geweckt.«
»Jemand wollte sie uns stehlen«, erklärte Justus. »Eine Frau . . .«
Ach seh’ klar«, unterbrach ihn Peter. »Immer diese Blondine.
Dieselbe, die dich im See ertränken wollte. Und jetzt ist sie hinter
unserem Burro her?«
»Nein.« Justus schüttelte den Kopf »Ich konnte sie nur ganz kurz im
Licht der Taschenlampe sehen. Aber ich würde sie jederzeit
wiedererkennen. Es war die Mexikanerin aus dem Bus. Die Frau mit
dem violetten Tuch und den langen schwarzen Zöpfen.«
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Unverhoffter Besuch Die beiden folgenden Tage verliefen nicht anders als der erste. Stunde um Stunde, Meile um Meile drangen sie weiter in das Hoch land der Sierra Madre vor. Berge, immer nur Berge. Kaum hatten sie einen Grat erklommen, sahen sie schon den nächsten vor sich. Enge Täler trennten die Gebirgskämme voneinander. Dort unten wanderten die vier eine kurze Strecke durch Kiefernwald. Und dann, nachdem sie die Baumgrenze erneut hinter sich gelassen hatten, ging es wieder ans Klettern, in den Wasserrinnen im Fels hinauf zum nächsten Bergrücken. »Ein Glück, daß es Sommer ist«, meinte Peter, während er neben Bob über eine Geröllhalde stieg. »Im Winter würde uns der Schnee hier bis zum Kinn reichen.« »Gar keine so unangenehme Vorstellung«, stöhnte Bob, dem der Schweiß in Strömen herunterlief. Ihr Tagewerk fing an, sobald die Sonne aufgegangen war. Zum Früh stück gab es warme Bohnen mit Reis, mittags kalte Bohnen mit Reis und zum Abendessen warme Bohnen mit Reis. Die Kost war eintönig und stärkereich, aber Justus sprach auf die Mahnung seines Gewissens nicht mehr an. Er war fest entschlossen, diesen Fall auf zuklären und an das Ziel zu gelangen, wohin Blondie sie vermutlich führen würde. Alles andere – auch die Kontrolle der Kohlenhydrat zufuhr- mußte zurückstehen. Im übrigen genehmigte er sich immer nur einen einzigen Teller von Dustys Pampe. Drei- oder viermal am Tag machte Blondie Halt, um zu grasen. Den drei ??? waren diese Pausen höchst willkommen. Dann durften sie rasten und die müden Glieder ausstrecken. Und Dusty auf seinem Pferd konnte aufholen. Obwohl der Rancher seine Stute bestens mit Hafer versorgte, schien sie doch mit jedem Tag mehr zu ermüden. Zuweilen blieb sie mehrere hundert Meter hinter Peter und Bob zurück. 71
Gerade lagen die drei Jungen wieder im Gras, und Blondie knabberte und kaute emsig. »Ich möchte nur wissen, wieso diese Weiber so hinter uns her sind«, meinte Bob. »Erst versucht eine Blondine Justus zu ersäufen, und dann will uns eine Dunkle unseren Burro klauen.« »Vielleicht lahmte der Burro, mit dem die Mexikanerin unterwegs war«, mutmaßte Peter, »und da brauchte sie einen anderen, der ihr Zeug schleppen sollte.« Das nahm ihm Bob jedoch nicht ab. »Einheimische kennen sich aber mit Burros besser aus. Die hätte doch wissen müssen, daß man ein so störrisches Tier nicht gegen seinen Willen fortzerren kann.« »Ich frage mich eher, ob sie den Burro wirklich selber brauchte«, warf Justus ein. »Ich vermute stark, daß es ihr nur darum ging, ihn uns wegzunehmen.« »Kapier’ ich nicht«, sagte Peter. Doch Justus wollte sich nicht weiter äußern. Außerdem mußten die Jungen wieder aufbrechen. Jeden Abend machte Blondie vor Sonnenuntergang einen Rastplatz für die Nacht ausfindig, an dem es Wasser und Brennholz gab. Un terwegs waren sie noch keinem einzigen Menschen begegnet. Von ferne sahen sie zwar hin und wieder strohgedeckte Lehmhütten, doch auch wenn diese bewohnt sein mochten, ließ sich niemand blicken. Am Ende des zweiten Tages verlor sich die Steife in Justus’ Beinen wieder. Dafür machten sich nun Muskeln bemerkbar, von deren Existenz er noch gar nichts gewußt hatte. Am dritten Morgen machte er eine beglückende Entdeckung. Sein Ledergürtel war ihm zu weit geworden! Er mußte ihn ein Loch enger schnallen. »Das kommt vom ständigen Training beim Reiten auf Blondie«, hielt er seinen Freunden stolz entgegen. Peter mußte lachen. »Daß du abnimmst, ist kein Wunder«, sagte er. »Hier kannst du nicht zwischen den Mahlzeiten rumfuttern.« Justus nahm den Spott nicht übel. Egal woher es kam – er war merk lich schlanker geworden. Und damit konnte er sich für den Rest der 72
Sommerferien Chancen beim weiblichen Geschlecht ausrechnen.
Munter fing er an zu pfeifen.
An diesem Tag sahen die drei Jungen bei einer Gratwanderung eine
weiße Rauchfahne über einem in der Ferne gelegenen Gebirgszug
aufsteigen. Sie blieben stehen und schauten hin.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte Bob. »Ein Waldbrand.«
»Aber weit weg von hier«, beruhigte ihn Peter. »Und wenn wir
Glück haben, trägt der Wind das Feuer in die andere Richtung.«
Sie gingen weiter, Justus mit nachdenklicher Miene.
Am Abend traf Dusty eine volle Stunde nach den drei ??? beim
Lager ein. Mißvergnügt machte er sich ans Essen.
»Ich muß dem Pferd einen Tag Ruhe gönnen, sonst lahmt es noch«,
meinte er, als er fertig war. »Ihr könnt schon mal ohne mich
weiterziehen. Ich stoße wieder zu euch, sobald ich kann.«
»Und Sie finden uns auch bestimmt?« fragte Peter.
»Nur keine Sorge. Hier in der Gegend bleibe ich euch leicht auf der
Spur. Zwei Fußwanderer und ein Eselreiter hinterlassen deutliche
Fährten.«
Nachdem Dusty am nächsten Morgen das Gepäck neu verteilt hatte,
machten sich die drei ??? auf. Blondie hatte offenbar nichts dagegen,
daß ihr außer den Schlafsäcken nun auch noch Lebensmittel und
Kochgeschirr aufgebürdet wurden. Dafür marschierte Justus mit den
beiden Freunden zu Fuß. Auf dem Rastplatz gab es dann abends viel
Spaß und Gelächter. Sie waren heilfroh, Dusty entronnen zu sein.
»Ich werd’ mal raten, was es heute abend gibt«, sagte Bob zu Peter,
während Justus das Essen zubereitete. »Reis mit Bohnen?«
»Falsch!« erwiderte Peter. »Es gibt Bohnen mit Reis.«
»In der Tat«, verkündete Justus näselnd, »empfehle ich als Abend
menü heute Bohnen á la Reis. Ich darf die Herrschaften zu Tisch
bitten.«
Nach dem Essen saßen sie noch am Feuer. Plötzlich drang aufgereg
tes Geschrei von Blondie zu ihnen. Alle drei sprangen auf und horch
ten.
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Wie zuvor war Blondie lange vor ihnen auf verdächtige Laute aufmerksam geworden. Nun hörten sie es auch – das Geräusch von Schritten, die aus der Dunkelheit näherkamen. Gleich darauf zeigte sich im Schein des Lagerfeuers ein großer Burro, der gemächlich auf sie zutrottete. Dieser Esel war sichtlich viel älter als Blondie. Er war nicht gesattelt, trug aber mehrere festgezurrte Bündel auf dem Rücken. Die Frau mit den schwarzen Zöpfen ging zu Fuß nebenher. Blondie beruhigte sich wieder, offenbar hocherfreut darüber, hier einem Artgenossen zu begegnen. Sie trabte zu ihm hin, und die beiden Tiere beschnupperten einander. Die Mexikanerin kam näher. »Keine Sorge«, sagte sie auf spanisch. »Diesmal bin ich nicht gekommen, um euch euren Burro zu stehlen. Ich möchte mit euch sprechen. Ich heiße Mercedes, und ich weiß, wer ihr drei seid. Aber gebt mir bitte etwas zu essen, ehe wir miteinander reden. Ich bin hungrig.« Justus reichte der Frau einen Teller Reis und Bohnen. Mercedes setzte sich ans Feuer. Sie mußte sehr hungrig sein. Sie sprach kein Wort mehr, bis sie alles aufgegessen hatte. Im Bus hatte Justus sie nur von weitem gesehen. Jetzt erst konnte er sie näher betrachten. Während sie aß, beobachtete er sie unauffällig. Nach seiner Vermutung war sie etwa vierzig Jahre alt, eine gutaussehende Frau mit straffem Gesicht und entschlossener Miene. Sie trug einen weiten wollenen Rock mit aufgesetzten Taschen, mexikanische Stiefel und eine kurzärmelige Bluse. Ihre Haut war tiefbraun und ihre Augen waren so dunkel wie die von Ascención. So wie Justus sie einschätzte, konnte man mit ihr gut Freund sein oder sie sich zur erbitterten Feindin machen. Sie stellte den leeren Teller zur Seite und sah auf die Männeruhr an ihrem Handgelenk. Die Schnalle am Armband war aufgegangen, und die Uhr war bis zum Handansatz vorgerutscht. Rasch schob sie sie zurecht und befestigte die Schnalle wieder. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie, weiterhin auf spanisch. »Ich muß 74
zurück zum See. Also werde ich euch ganz kurz berichten, was ich zu sagen habe.« Sie sah Justus an. »Es tut mir leid, daß ich kein Englisch spreche. Aber von unserer Begegnung im Bus weiß ich, daß du Spanisch ganz gut verstehst. No?« Da fiel Justus wieder der junge Mexikaner in der Lederjacke ein, der versucht hatte, die drei ??? am Einsteigen in den Bus zu hindern. Offenbar hatte die Frau Justus’ Auseinandersetzung mit ihm belauscht. Und gleich hinterher hatte Justus gesehen, wie sie dem Burschen Geld gegeben hatte. Er nickte. »Ich kann verstehen, was Sie sagen«, bestätigte er Mercedes, »wenn Sie langsam sprechen.« »Muy bien.« Mercedes zog die Beine an und breitete ihren weiten Rock darüber aus. Dann redete sie fünfzehn Minuten lang mit leiser, eindringlicher Stimme. Justus mußte sie nur zuweilen unterbrechen, um sich ein Wort erklären zu lassen. Als sie zu Ende gesprochen hatte, war er sich sicher, ihre ganze Geschichte verstanden zu haben. Mercedes erhob sich. Auch die drei ??? standen auf. Sie gab jedem der Jungen die Hand. Dann führte sie so unvermittelt und geheimnis voll, wie sie aufgetaucht war, ihren Burro wieder in die Nacht hinaus. Peter legte Holz nach. »Okay, und um was geht’s nun?« wollte er wissen. »Eine phantastische Geschichte!« meinte Justus, als sich alle drei bequem hingelagert hatten. Ach werd’ mich am besten kurz fassen. Aber erst mußt du mich über Pancho Villa ins Bild setzen, Bob.« »Na hör mal, sehe ich so aus wie ein wandelndes Lexikon?« rief Bob. »Faß dich wieder. Seit wir aus Rocky Beach abgereist sind, steckst du doch ständig die Nase in dieses Buch über die Geschichte Mexikos. Bist du nicht schon durch?« »Klar doch.« Bob strahlte. »Seit dem Tag, als du ums Haar selber in die Geschichte eingegangen wärst – als Wasserleiche.« »Großartig«, meinte Justus erfreut. »Insbesondere interessiert mich die Zeit um 1916. Was weißt du von Pancho Villa?« »In Mexiko begann 1910 eine Revolution, die 1916 ihren Höhepunkt 75
erreichte. Pancho Villa war einer der umjubelten Anführer. Manche hielten ihn nur für einen gesetzlosen Rebellen wie Jesse James. Aber er stellte immerhin seine eigene Armee auf die Beine. Und in vielen Kämpfen hat er gesiegt.« »Hat er sich irgendwann hier oben in der Sierra Madre aufgehalten?« »Ja, sicher. Dort hatte er eines seiner Basislager. Er kam öfter mal ins Tal runter und überfiel einen Eisenbahnzug. Und dann versteckte er sich wieder hier oben.« Justus nickte nachdenklich. »Dann hat mir Mercedes wenigstens darüber die Wahrheit gesagt.« »Soll das heißen, daß sie die ganze Zeit davon gelabert hat?« fragte Peter. »Von einem Kerl, der Pancho Villa hieß und längst tot ist?« »Nein, nicht die ganze Zeit.« Justus wandte sich zu Bob und fuhr fort. »Aber es könnte sein, daß wir diesem Schatz der Sierra Madre auf der Spur sind, der dir da im Kopf herumspukt, Bob. Pancho Villas Beute aus seinen Raubzügen. Mercedes sagte, er hätte einmal einen Zug überfallen und silberne Pesos im Wert von vielen tausend Dollar erbeutet. Danach kehrte er hierher in die Berge zurück und versteckte das Geld in einer Höhle. Sein Pech war allerdings, daß er in dieser Höhle auch sein Schießpulver gelagert hatte. Einem seiner Leute passierte ein Mißgeschick, und das Zeug flog in die Luft. Ein großer Teil des Berges wurde dabei abgesprengt. All die Silbermünzen wurden unter tonnenschweren Felsbrocken begraben, und mehrere von Villas Soldaten kamen ums Leben. Er machte sich daran, die Trümmer wegzuräumen. Aber da wurde er von seinen Gegnern angegriffen und mußte sich schleunigst aus den Bergen verziehen.« Justus hielt einen Augenblick inne. »Mercedes sagt, der Silberschatz läge noch immer hier begraben«, schloß er dann. Peter und Bob dachten schweigend über die Geschichte nach. »Und woher weiß die Frau das alles?« erkundigte sich dann Peter. »Sie sagte, ihr Großvater hätte bei Villas Leuten gekämpft und die Geschichte seinen Nachkommen überliefert.« 76
»Was hat sie denn über Dusty gesagt?« fragte Bob. »Ich hab’ nämlich gehört, wie sie seinen Namen erwähnte. Und dann noch irgendwas von einem Burro.« »Das kommt jetzt«, erklärte ihm Justus. »Sie berichtete, vor etwa drei Monaten wäre ein guter Freund von ihr, ein junger Amerikaner namens Brit, aus den Bergen gekommen. Er war hier mit seinem Vater auf Schatzsuche. Auf der Suche nach Pancho Villas Höhle. Und die beiden glaubten, die Höhle auch gefunden zu haben. Wenigstens hat Brit das Mercedes erzählt.« Wieder legte Justus eine Pause ein, um sich genau an das Gehörte zu erinnern. »Mach schon, laß uns doch nicht an der spannendsten Stelle hängen«, beschwerte sich Bob. »Wir wollen jetzt endlich die Sache mit Blondie und Dusty hören.« »Als Brit zum See herunterkam«, berichtete Justus weiter, »hatte er einen kleinen weißen Burro bei sich. Er hatte die junge Stute in der Wildnis bei der Höhle entdeckt. Er freundete sich mit ihr an und nahm sie zu Dustys Ranch mit. Dann verschwand er wieder ins Gebirge, aber allein.« »Was sollte das?« fragte Peter. »Warum ließ er den Wildesel nicht einfach da oben?« »Weil Brit befürchtete, daß Blondie dort sterben würde. Die Esel stute mußte dringend von einem Tierarzt behandelt werden, und der nächste sitzt in Hermosillo, also ziemlich weit weg. Ascención holte diesen Arzt zur Ranch, und es gelang ihm Blondie zu heilen.« »Was fehlte ihr denn?« erkundigte sich Peter. »Wenn sie den weiten Weg bis zu Dustys Ranch schaffte, dann konnte sie ja nicht todkrank sein.« »Sie hatte eine schlimme Infektion an den Augen.« Dies hatte Justus an Mercedes’ Bericht besonders interessiert. Es lieferte ihm nämlich die Antwort auf die Fragen, die ihm seit Tagen Kopfzerbrechen machten. Warum schien Blondie ihn allein an der Stimme erkannt zu 77
haben? Warum merkte sie nicht, daß Justus nicht so aussah wie der andere junge Amerikaner, dieser Brit? »Als Brit die kleine Eselstute in den Bergen fand«, fuhr Justus fort, »war sie blind.« Justus mußte wieder an Ascencións Worte denken: Sie glaubt, du hättest ihr das Leben gerettet. Peter stieß einen leisen Pfiff aus. »Allmählich kann ich mir alles zusammenreimen«, sagte er. »Wenn Dusty weiß, daß Brit und sein Vater den Silberschatz des alten Pancho Villa gefunden hatten –« »Eben«, unterbrach ihn Justus. »Mercedes sagte, er hätte Brit auf dem Rückweg dorthin heimlich zu folgen versucht. Aber Brit war zu flink und zu schlau für ihn. Er sorgte dafür, daß er keine Spuren hinterließ. Daher mußte sich Dusty an Blondie halten. Sie allein hätte ihn zu dem Versteck führen können. Aber Blondie wollte ihn nun einmal nirgendwohin führen. Nicht ohne die Begleitung jenes Men schen, dessen Stimme ihr vertraut war.« »Also suchte Dusty dringend einen Jungen mit einer Stimme, die genauso klang wie die von Brit«, folgerte Peter. »Nur darum ging es bei diesem Gewinnspiel.« »Und du hast dabei das große Los gezogen, Justus«, warf Bob ein. »Aber ich bin platt, daß Mercedes nun ausgerechnet dir von der Höhle und den Silberpesos erzählt hat.« »Ja, eben«, meinte auch Peter. »Immerhin wollte sie uns energisch daran hindern, in diesen Bus zu steigen.« Das war Justus ebenfalls ein Rätsel. Ach durfte ihr keine Fragen stellen«, erklärte er dazu. »Nur kurz zurückfragen, wenn ich ihr Spanisch nicht verstanden hatte. Ich kann euch also nur wiedergeben, was sie mir sagte. Dusty traut sie jeden falls auch nicht über den Weg. Sie glaubt nicht, daß sein Pferd Ruhe braucht, weil es sonst lahmen würde. Sie meint, er hält sich nur wenige Stunden hinter uns. Sie hat Angst, daß er Brit und seinen Vater umbringen wird, wenn er die beiden findet. Und sie wird er auch umbringen, wenn sie ihm unter die Augen kommt. Deshalb wollte sie gleich wieder zurück zum See. Und sie will, daß wir schnell 78
vorankommen und die Höhle finden, damit wir Brit und seinen Vater
warnen können. Dusty ist, wie sie glaubt, nicht weit und kann jeden
Augenblick auftauchen.«
Lange Zeit starrten die drei ??? stumm ins Feuer.
Endlich brach Peter das Schweigen. »Glaubst du ihr das alles?«
fragte er Justus.
Ach bin mir nicht ganz im klaren«, bekannte Justus. »Warum will sie
unbedingt, daß wir Brit und seinen Vater finden? Geht es ihr nicht
vielleicht eher darum, daß wir bei der Suche vielleicht auf die
Silbermünzen stoßen?«
»Schon möglich«, meinte Bob. »Dann kann sie uns nämlich nach
kommen und sich den Zaster selber schnappen.«
79
Eine Dame spielt falsch Am folgenden Morgen standen die drei ??? noch vor Tagesanbruch auf Sie frühstückten in Eile und unterhielten sich dabei wieder über Mercedes. »Jedenfalls ist mir gestern abend zumindest ein Täuschungsmanöver aufgefallen«, entsann sich Justus. »Und das wäre?« fragte Peter. »Sie sah kurz auf ihre Uhr und sagte, jetzt müßte sie zurück zum See. So wollte sie den Eindruck erwecken, daß sie schnell wieder weg müsse.« »Stimmt«, bestätigte Bob. »Dabei muß man sich fragen, wie weit sie bei Nacht im Gebirge überhaupt noch kommen konnte.« »Und da war noch was mit der Uhr«, fuhr Justus fort. »Die war am Arm nach vorn gerutscht, und als Mercedes sie zurückschob, da dachte ich –« Er hob die Schultern. »Na, ich weiß nicht. Vielleicht kam es mir im Feuerschein nur so vor. Ich dachte, ich hätte an ihrem Handgelenk eine Narbe oder sowas gesehen.« Das war keinem der beiden anderen aufgefallen. Bob hatte allerdings auch etwas über Mercedes beizusteuern. »Die Dame ist ganz schön durchtrieben.« Er grinste. »Einmal gibt es sicher nicht allzu viele Mexikanerinnen, die Kontaktlinsen tragen. Und zum anderen –« »Kontaktlinsen?« fragte Peter dazwischen. »Im Bus konnte ich beobachten, wie sie sie reinigte. Sie hielt den Kopf tief gesenkt, damit niemand sehen sollte, was sie da tat. Aber das Herumhantieren kenne ich ja, und sie hat genau das gleiche kleine Pflegeetui wie ich.« »Und was war das andere?« forschte Justus. Insgeheim wurde er immer fuchsteufelswild, wenn Bob so lässig im nachhinein derartige Beobachtungen von sich gab. »Die andere Sache . . .« Bob lächelte noch immer vielsagend. »Tja, 80
wieso läuft sie in der Sierra Madre mit einem Handfunkgerät herum?« Er schob sich den letzten Löffel mit Bohnen in den Mund und wischte seinen Teller mit einer Handvoll Kiefernnadeln sauber. Justus zählte mittlerweile stumm und verbissen bis zehn. »Während sie dir die Mär von Pancho Villa auftischte, bemerkte ich nämlich, daß aus einem der Bündel auf dem Burro eine Antenne herausragte. Das mußte ich mir dann näher ansehen. So wahr ich hier sitze: Die hatte ein Funkgerät im Gepäck.« »Wem will sie denn hier oben was rüberfunken?« fragte Peter verblüfft. »Dusty bestimmt nicht. Dem Burschen mit seinem Gaul habe ich so oft beim Aufpacken und Abladen geholfen, daß ich schwören kann: So ein Ding hat der nicht.« »Aber Ascención hat eins«, fiel es Justus ein. Ach hab’ es ihm auch noch repariert. Nur daß man mit einem Handfunkgerät von hier bis unten zur Ranch durchkommt, ist ganz ausgeschlossen.« Sie standen auf und traten sorgfältig die Glut aus. Dann packten sie ihre Sachen zusammen, und Justus zurrte alles mit Stricken auf Blondies Rücken fest. »Und wenn Mercedes nun . . .« Nachdenklich strich Justus dem kleinen Burro über den Hals. »Wenn sie nun gar nicht zum See zurückgeht? Und sich statt dessen hier irgendwo hinter einem Felsen versteckt hat?« Er blickte sich im zunehmenden Morgenlicht um. »Und darauf lauert, daß wir weitermarschieren, damit sie uns nachkommen kann? Daß sie vielleicht selber hinter diesen Pesos her ist, hätte sie uns schließlich nicht auf die Nase gebunden.« Peter zuckte mit den Schultern. »Wenn sie’s darauf anlegt, dann sind wir geliefert. Wir können unmöglich alle Spuren verwischen.« »Stimmt.« Justus führte den Burro aus der Lichtung. »Aber einen Vorteil haben wir doch.« »Was meinst du?« »Blondie hat sich gestern abend mit Mercedes’ Burro angefreundet. Und von Hector Sebastian erfuhr ich, daß Burros, die sich kennen, einander auf weite Entfernung wahrnehmen können. Und dann 81
begrüßen sie sich lauthals. Sollte also Mercedes mit ihrem Burro bis auf Eselrufweite an uns herankommen, wird uns Blondie das mel den.« Dieser Tagesmarsch wurde für die Jungen zum bisher beschwerlich sten. Blondie erklomm die steilsten und längsten Gebirgshänge, die sie je gesehen hatten. Im Zickzack arbeitete sich die kleine Eselstute in den tief eingeschnittenen Rinnen im Fels hinauf und strebte mühsam dem fernen Gipfel zu. Sie blieb kein einziges Mal stehen und gab keinen Laut von sich. Und obwohl die drei ??? immer wieder zurückschauten, bekamen sie Mercedes oder ihren Burro nicht zu Gesicht. Dafür sahen sie wieder eine mächtige Rauchwolke. Allem Anschein nach drang sie aus dem Gebiet um den abgeplatteten Gipfel des Bergmassivs, das sie gerade durchkletterten. »Dieser Waldbrand ist mir gar nicht geheuer«, stellte Peter fest. »Wo gibt’s denn hier Wald? Wir sind über der Baumgrenze. Da oben wächst doch höchstens der eine oder andere Kaktus.« »Stimmt«, gab ihm Justus recht, »Aber der Rauch, den wir hier aufsteigen sehen, kann auch weiter unten entstehen, drüben an der abgewandten Flanke des Berges. Wenn sich das Feuer seitlich am Hang herüberfrißt und sich unterhalb von uns ausbreitet, kann es uns den Weg abschneiden.« »Großartig«, äußerte Bob. »Wir werden also nicht nur von einem krankhaften Lügner und einer zwielichtigen Dame verfolgt, sondern wir haben auch noch einen Waldbrand am Hals.« Peter blickte aufmerksam in die Höhe. »Der Rauch selber ist mir übrigens auch nicht geheuer«, fuhr er fort. »Er steigt in die Luft. Aber danach bildet er keine Qualmwolke, sondern löst sich ganz schnell wieder auf.« Bob sah auch zum Himmel auf, denn immer wieder flogen hoch oben große Vögel vorüber: Habichte, Milane, Geier. »Die haben’s gut«, meinte er. »Schwirren einfach ab, ehe sie geröstet werden.« Sie kamen flott voran. Mit seinem eisernen Vorsatz, diesen rätselhaf 82
ten Fall aufzuklären, und seinem verringerten Körpergewicht fiel es Justus nicht schwer, Blondies Spur zu folgen. Am frühen Nachmittag hatten er und der Burro einen tüchtigen Vorsprung vor Peter und Bob. Und da plötzlich hörten die beiden Jungen Justus’ lautes Rufen von der Bergflanke widerhallen. »Halt!« schallte seine Stimme zu ihnen herunter. »Keinen Schritt weiter!« Sofort blieben die beiden stehen. Weiter oben sahen sie, wie Justus die Arme über den Kopf hob. »Jetzt näherkommen«, hörten sie ihn rufen. »Schön langsam dem Burro hinterher.« Bob und Peter wechselten einen Blick. Was in aller Welt sollte das heißen? Das taten sie schließlich die ganze Zeit – Blondie hinterher laufen! Ohne ihren Freund aus den Augen zu lassen, fingen sie wieder an zu klettern. Justus ging ganz dicht hinter der kleinen Eselstute. Und aus unerfindlichen Gründen hielt er noch immer die Hände hoch erhoben. »Bleib, wo du bist.« Wieder war er jäh stehengeblieben, und seine Stimme hallte vom Felshang wider. »Wer bist du? Was machst du hier? Was willst du?« Wieder sahen sich Peter und Bob an. Diese Situation entwickelte sich ja immer seltsamer. Im nächsten Augenblick mußten sie annehmen, nun sei Justus vollends übergeschnappt. Ach bin Justus Jonas«, rief er. »Und ich habe eine Nachricht.« Justus hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, welche Auswirkung dieser Wortwechsel auf seine beiden Freunde hatte. Für ihn war die Situation nicht nur seltsam, sondern bedrohlich. Er war gerade um eine Biegung im Bergpfad gekommen – und da sah er aus den Felsen weiter vorn einen Flintenlauf auf sich gerichtet. »Halt!« hatte ihm jemand zugerufen. »Keinen Schritt weiter!« Die eigentliche Überraschung für Justus war, daß Blondie bei diesen 83
Worten sofort stehenblieb. Sie stellte die Ohren auf und gab ein leises »I-aa« von sich. Dann gehorchte Justus dem nächsten Befehl und folgte Blondie lang sam. Zwei Schritte vor der Mündung des Flintenlaufs machte der Burro wieder Halt. Doch die Waffe blieb auf Justus gerichtet. Ein junger Mann, etwas älter und größer als Justus, trat zwischen den Felsen hervor. Er hatte wirres blondes Haar, ein tiefgebräuntes Gesicht und trug Jeanshose und -jacke und mexikanische Stiefel. Auch als Justus sei nen Namen genannt hatte, hielt der Unbekannte beim Vorwärtsgehen die Waffe erhoben. Nur sah er jetzt an Justus vorbei. Sein Blick war starr auf den kleinen weißen Burro gerichtet. »Blondie«, sagte er. »Wie kommst denn du hierher?« Da zuckten Blondies Ohren. Sie drehte den Kopf und schaute erst auf Justus, dann auf den blonden Jungen. Sie wirkte völlig verwirrt. Justus tätschelte ihr den Hals. »Ich hab’ sie hierhergeführt«, erwiderte er. »Oder besser: sie hat mich hergeführt. Bist du Brit?« Der blonde Junge antwortete nicht. Die Flinte noch immer auf Justus gerichtet, trat er an den Rand des schmalen Pfads und blickte den Hang hinunter. Etwa zehn Meter weiter unten kamen Peter und Bob langsam heraufgeklettert. »Wer sind die beiden hombres da?« fragte er mißtrauisch. Rasch erklärte Justus, das seien seine Freunde aus Kalifornien. »Wir sind hergekommen, um dir zu helfen, Brit«, fuhr er fort. »Du bist doch Brit, nicht?« »Ja.« Die Flinte ließ er nicht sinken. »Mir helfen? Wieso das?« »Wir wollten dich warnen. Dustin Rice –« »Wo ist er?« In Brits Blick lauerte plötzlich Argwohn. »Ist er da unten bei deinen Freunden?« »Nein. Er ist mit uns losgezogen. Aber dann lahmte sein Pferd. Jedenfalls behauptete er das. Wir haben ihn weit hinter uns zurück gelassen. Morgen könnte er allerdings hier sein.« 84
»Danke. Jetzt sehe ich klarer.« Brit sicherte seine Waffe und hängte sie sich über die Schulter. »Wie habt ihr denn hier heraufgefunden?« »Blondie hat uns hergebracht. Sie führte uns dorthin zurück, von wo sie kommt.« »Wie hat Dusty das geschafft, daß sie so rasch zahm wurde?« »Überhaupt nicht. Sie ist immer noch wild. Ich bin der einzige, den sie an sich ranläßt. Sie glaubt nämlich, ich sei ihr Retter. Sie hält mich für dich.« »Für mich? Wieso das?« »Wegen unserer Stimme. Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber deine Stimme klingt tatsächlich ganz genauso wie meine. Blon die kann uns beide jedenfalls nicht unterscheiden. Als sie mich zum ersten Mal hörte, kam ihr die Erinnerung. Für sie war das die Stim me, die sie sicher geleitet hatte, als sie blind war. Inzwischen verbin det sie diese Stimme mit meinem Aussehen. Deshalb ist sie jetzt bei deinem Anblick so verwirrt.« Brit sah den Burro lächelnd an. »Komm her, Blondie«, forderte er sie auf. »Gute kleine Blondie, komm her.« Blondies Ohren zuckten unablässig. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte auf Brit zu und sträubte sich nicht, als er ihr den Hals tätschelte. Und als Brit weiter zu ihr sprach, rieb sie die Nase an seiner Brust. Gleich darauf waren Peter und Bob ebenfalls angelangt. Justus machte sie mit Brit bekannt. »Das sind Peter Shaw und Bob Andrews – und das ist Brit . . .« »Douglas«, ergänzte Brit. »Hallo. Freut mich, euch kennenzuler nen.« Peter und Bob waren erleichtert. Nun war ihnen klar, warum die Stimmen von oben sie ganz irre gemacht hatten. Sie hatten Brit einfach nicht von Justus unterscheiden können. »Ihr seid sicher durstig«, sagte Brit. »Kommt mit, ich bringe euch zu meinem Unterschlupf.« Nun nahm er Blondie selbst am Halfter. Noch ein kurzes Stück 85
blieb er auf dem Weg quer zum Hang, dann bog er auf einen gewun denen Pfad ab, der steil aufwärts führte. Weiter oben kamen sie zu einer halbverborgenen Öffnung im Gestein. »Duckt euch«, mahnte Brit, während ihm die Jungen in einen engen tunnelartigen Gang folgten. Dann sagte er: »So, hier könnt ihr nun gerade stehen.« Von dem Tunnel her drang nur wenig Licht ein, aber die drei ??? konnten erkennen, daß sie sich in einer geräumigen Höhle mit hoher Decke befanden. Mit einem Streichholz zündete Brit eine Kerze an. Justus nahm an, daß Brit hier schon eine Zeitlang kampiert haben mußte. Auf dem Boden lag ein zusammengerollter Schlafsack. Töpfe und Schüsseln, ein Benzinkocher, einige halbvolle Säcke und mehrere Spitzhacken und Schaufeln waren entlang der Wände verstaut. Im übrigen deutete das helle, glatte Gestein der Decke nicht daraufhin, daß hier drinnen Schießpulver explodiert sein konnte. Also war dies nicht Pancho Villas Höhle. Brit hob einen Sack auf und schüttete reichlich Hafer auf den Höh lenboden. »Ein Glück, daß Dad Futter für seine Pferde mitgenom men hat« meinte er. »Hier oben gibt’s kaum was zum Grasen. Da wird ein hungriger Burro auch nicht mehr satt.« Bob warf einen Blick auf den einzelnen Schlafsack. »Wo ist denn dein Vater?« fragte er. »Wieso? Warum interessiert dich das?« Wieder zeigte sich Mißtrauen in Brits Blick. »Weil wir ihn ebenfalls vor Dusty warnen sollten«, erklärte Bob. Brit nahm einen Tonkrug zur Hand und goß für Blondie Wasser in einen Napf. »Nicht nötig. Dad ist mit den Pferden unten im Tal, er muß neue Vorräte besorgen.« Er reichte den Krug an Peter weiter, und jeder der drei nahm einen herzhaften Schluck daraus. Ast er zum See hinuntergeritten?« erkundigte sich Justus. »Dann hoffe ich nur, daß ihm Dusty nicht in die Quere kommt.« 86
»Nein. Er hat einen anderen Weg genommen. Auf der anderen Seite des Berges liegt ein Dorf. Es gibt dort allerdings nur zwei Läden, und da bekommt mein Vater nicht das, was wir brauchen. Nicht einmal ein Tierarzt ist am Ort. Aber der Überlandbus hält dort, der Bus nach . . .« Brit hielt inne und blickte auf die drei Jungen, als überlege er, ob er ihnen trauen konnte oder nicht. »Wozu seid ihr eigentlich ins Gebirge heraufgekommen?« fragte er dann. »Das war Dustys Plan . . .« Nun war es an der Zeit, Brit alles zu erzählen. Justus berichtete von dem Gewinnspiel mit dem Rätsel, dessen Lösung als Bandaufnahme eingesandt werden mußte, und schilderte auch, wie ihm und seinen Freunden schließlich zu Ohren gekommen war, worum sich alles drehte – um Pancho Villas Silberschatz. Bis hierher hatte Brit, der mit den drei ??? auf dem Boden saß, schweigend zugehört. Nun stand er plötzlich auf. »Dusty Rice hat euch von dem Silber erzählt?« fragte er gereizt. »Wie ging das zu? Hat er euch einen Anteil versprochen, falls ihr es findet?« »Nein«, klärte ihn Peter auf »Uns hat Dusty nichts verraten. Seine Version war, wir müßten hier raufklettern, damit Blondie sich die Hufe abschleifen kann.« »Wie bitte?« Brit schüttelte entgeistert den Kopf »Mercedes hat uns von Pancho Villa erzählt«, fuhr Peter fort. »Mercedes?« Verdutzt zog Brit die Brauen zusammen. »Wer ist denn Mercedes?« Bob beschrieb ihm die Frau. Die langen schwarzen Zöpfe. Die dunklen Augen. »Also eine Mexikanerin?« Brit schaute nach wie vor höchst skeptisch drein. »Sieht so aus«, meinte Justus. »Ich hörte sie immer nur spanisch reden. Und sie hat dunkle Haut.« Allmählich kam ihm die Sache nun doch rätselhaft vor. »Mercedes hat uns aufgetragen, dich vor Dusty zu warnen. Sie sagte, 87
sie sei mit dir befreundet. Dann kennst du sie doch wohl?« erkun
digte er sich.
Brit schüttelte den Kopf.
»Hab’ den Namen nie gehört«, erklärte er. Ach wüßte nicht, daß ich
ihr jemals begegnet sein soll.«
88
Gefahr von allen Seiten »Die Berge hier sind von lauter Höhlen durchzogen«, erläuterte Brit. »Pancho Villa und seinen Leuten dienten vermutlich viele davon als Versteck. Aber Dad ist sich sicher, daß wir die Höhle entdeckt haben, wo Villa die silbernen Pesos verwahrt hatte.« Es war Abend, und die drei Freunde saßen auf ihren zusammenge rollten Schlafsäcken bei Brit in der Höhle. Auf dem Benzinkocher hatte Brit ihr Lieblingsgericht zubereitet – einen großen Topf voll Bohnen mit Reis. Nun brannten drei Kerzen, und vor den Eingang hatte Brit eine Decke gehängt, damit der Lichtschein nicht durch den Tunnel ins Freie dringen konnte. In einem Winkel knabberte Blondie stillvergnügt an ihrem Hafer. »Wie habt ihr herausgefunden, daß das die richtige Höhle ist?« fragte Peter. »Wenn es doch hier jede Menge davon gibt.« »Na ja, erst mal war der Eingang völlig von Felstrümmern blockiert«, berichtete Brit. »Und als wir sie zum Teil weggeräumt hatten, fanden wir Ignacio.« »Ignacio?« »Einen von Villas Soldaten«, erklärte Brit. »Nachdem er seit 1916 unter tonnenschweren Steinblöcken begraben lag, war er freilich nicht mehr in bester Verfassung. Ein Gerippe eben, an dem noch Uniformfetzen hingen. Und sein Schädel –« »Entschuldige«, unterbrach ihn Peter. Ach möchte gern weiter essen.« Bob grinste. »Ein Leichenfund verdirbt Peter jedesmal gründlich den Appetit.« »Oh, keine Sorge, wir haben ihn ehrenvoll bestattet.« Brit mußte lachen. »Auf das Grab hat Dad ein Kreuz mit dem eingeritzten Namen Ignacio gesteckt – zum Gedenken an einen der tapfersten mexikanischen Kriegshelden. Ignacio Allende war für seine Lands leute immerhin eine Größe wie für uns George Washington, und –« 89
»Und wart ihr schon in der Höhle drin?« Peter wollte so gern schleu nigst das Thema wechseln. Brit schüttelte den Kopf »Mit Spitzhacken und Schaufeln konnten wir etliche Felsbrocken zur Seite schaffen. Aber weiter rein kamen wir nicht. Jedenfalls nicht bis zu dem Silberschatz. Deshalb ist Dad losgeritten. Er will Sprengstoff kaufen.« »Was meinst du, wann er zurückkommt?« fragte Justus. »Frühestens in drei oder vier Tagen. Der Ritt zum Dorf hinunter dauert nur ein paar Stunden. Die Pferde läßt Dad dort zurück, damit sie sich wieder mal richtig sattfressen und ausruhen können. Er braucht sie ja später für den Transport seiner Einkäufe. Vorher muß er aber eine weite Strecke mit dem Bus fahren, bis nach Chihuahua. Das ist die nächstgelegene Stadt. Dort bekommt er das Dynamit und was wir sonst noch brauchen.« »Dann müssen wir vier also gegen Dusty antreten. Und womöglich auch noch gegen Mercedes«, meinte Bob. »Im Quartett müßten wir es ihnen schon heimgeigen können – wenn wir gut aufeinander eingespielt sind.« Brit nahm seine neuen Freunde aufs Korn. »Ich bin froh, daß ich kei nen Solopart hinlegen muß«, bekannte er. Ach muß wirklich sagen, das habt ihr großartig gemacht – hierherzukommen und mich vor Dusty zu warnen. Schließlich kanntet ihr mich ja überhaupt nicht.« »Na ja . . .« Hier wurde es Justus klar, daß er Brit noch gar nicht berich tet hatte, wer sie waren. »Es ging nicht nur um dich. Wir mußten dich aber aufspüren, denn wir haben zur Zeit einen Fall aufzuklären.« »Was habt ihr?« Brit begriff nicht. »Hört sich ja an, als macht ihr sowas als Profis.« »Stimmt genau«, teilte ihm Justus mit. »Unsere Firma heißt Die drei Fragezeichen.« Er zog eine Karte aus der Tasche und gab sie Brit. Der Aufdruck hieß:
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Die drei Detektive
???
Wir übernehmen jeden Fall
Erster Detektiv Zweiter Detektiv Recherchen und Archiv
Justus Jonas Peter Shaw Bob Andrews
Brit sah sich die Karte lange an. Er legte die Stirn in Falten und fing langsam und stockend an, vorzulesen. »Die drei Dikte – Dektivit –« brachte er mühsam heraus. »Die drei . . .« Er gab Justus die Karte zurück. »Lies mir das lieber mal vor«, meinte er. Justus brauchte gar nicht hinzusehen. Er sagte den Text auswendig auf. »Oh.« Brit sah verlegen zur Seite, zu Blondie hin. »Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht lesen kann«, erklärte er. Ach bin nur Legasthe niker. Kennt ihr das?« »Klar.« Bob nickte mitfühlend. »Du verwechselst also bei Buchsta ben oder Silben die richtige Reihenfolge. In letzter Zeit erproben die Fachleute eifrig neue Behandlungsmethoden.« »Weiß ich. Meine ’ Mutter will mich deshalb zu einem Spezialisten schicken, sobald ich wieder nach Hause komme. Mir fällt es äußerst schwer, einen Brief zu lesen oder selbst einen zu schreiben. Wenn ich unterwegs bin, behelfen wir uns damit, daß wir uns gegenseitig besprochene Tonkassetten schicken.« Justus blieb stumm. Rasend schnell wie ein Computer ließ er den Datenspeicher seines Gehirns auf seinem inneren »Monitor« abrollen. Jetzt eben paßte wieder ein Puzzleteil in eine Lücke. Die Kassette, die 91
er zu Hause im Briefkasten vorgefunden hatte. »Bitte komm nicht nach Mexiko. Wenn du das tust, begibst du dich in größte Gefahr . . .« Dieses Tonband mußte Brit besprochen haben. Vielleicht war es ein Teil einer längeren Mitteilung an seine Mutter. Sie oder jemand anders hatte außer einigen Sätzen alles gelöscht und dann die Kassette in den Hausbriefkasten von Titus Jonas gesteckt. Eine an Justus gerichtete Warnung. Und zugleich eine wichtige Spur. Er lächelte Brit zu. »Ist deine Mutter zur Zeit in Los Angeles?« »Ja. Hoffe ich wenigstens. Aber sie ist so schrecklich eigensinnig, und . . .« Wieder wandte er den Blick ab, als hätte er schon zuviel gesagt. Nur ungern hakte Justus jetzt nach. Aber es gab da noch etwas, das er ergründen mußte. »Siehst du deiner Mutter ähnlich?« fragte er. »Ist sie auch blond wie du?« »Ja, ja. Und blaue Augen hat sie, genau wie ich. Warum?« »Hat mich nur so interessiert.« Justus reckte und streckte sich mit einem Gähnen. »Was meint ihr – wollen wir uns aufs Ohr legen?« Den anderen war es recht. Wenige Minuten später hatten sie die Kerzen gelöscht. Zuletzt hatte Brit die Decke vor dem Eingang wieder abgenommen, und nun lagen die vier in ihren Schlafsäcken. Als Justus in der Frühe erwachte, schien vom Tunnel her das erste schwache Morgenlicht herein. Er sah sich nach Blondie um. Sie war nicht in der Höhle. Er kroch aus dem Schlafsack und machte sich auf die Suche nach ihr. Draußen entdeckte er sie sogleich. Sie stand in etwa sechs Metern Entfernung unten an der Abzweigung des steilen Pfades, der zur Höhle hinaufführte. Jetzt reckte sie den Hals und erhob ihre Stimme. Es klang nicht angstvoll oder abwehrend, sondern wie ein Lockruf. Im nächsten Augenblick hörte Justus weiter unten am Berghang den Gegengruß ertönen. Mercedes’ Burro, dachte er. Flink verbarg er sich hinter einem Felsen. Gleich darauf traten Peter, Bob und Brit zu ihm. Auch sie hatten die Esel gehört. 92
Hin und her schallten die hellen Eselschreie von Blondie und ihrem unsichtbaren Artgenossen. Und dann kam der andere Burro in Sicht. In einer tief eingeschnittenen Rinne erklomm er den Hang. Blondie trottete zu ihm hin, und die beiden rieben sich zärtlich aneinander. Mercedes’ Burro war noch mit einem Strick aufgezäumt, trug jedoch kein Gepäck auf dem Rücken. Nun ging die Sonne auf, und der Himmel erhellte sich. Die vier Jungen hielten in allen Richtungen Ausschau. Mercedes war nirgends zu sehen. »Nehmen wir doch die beiden mit in die Höhle«, schlug Peter vor. »Denn wenn Mercedes Blondie erspäht, dann weiß sie, daß wir in der Nähe sind.« Brit und Justus führten die beiden Burros durch den Tunnel in den Höhlenraum. Peter und Bob kamen nach. »Ihr traut Mercedes nicht, oder?« fragte Brit. Ach blicke da nicht durch«, gestand Justus., »Sie hat uns zwar gebeten, dich vor Dusty zu warnen. Aber sie behauptete auch, sie sei mit dir befreundet, und dabei hast du sie noch nie gesehen. Bob hat schon recht, die Dame ist ganz schön durchtrieben.« Beide Burros waren hungrig. Sobald sie sich alle wieder im Schutz der Höhle befanden, gab Brit den Tieren zu fressen und zu trinken. Dann machte Peter das Frühstück, wie üblich Bohnen mit Reis. Allmählich gelüstete es Justus wieder nach frischem Salat. Beim Essen saßen sie nicht alle beisammen. Justus frühstückte auf dem Wachposten am Ende des Tunnels. Dort hatte er sich in guter Deckung auf den Boden gelegt und ließ den Blick immer wieder über das Gelände schweifen, falls Mercedes sich zeigen sollte. Bei dieser Wache wollten sie sich stündlich abwechseln. Justus spürte es zuerst in der Brust: ein schwaches Erzittern des star ren, harten Felsbodens. Immerhin bewirkte es, daß er die Gabel fal lenließ. Im Gebiet um Los Angeles hatte er genügend Erdbeben erlebt, um zu erkennen, daß sich das Zittern deutlich von jenen Erd stößen unterschied. Jetzt hob und senkte sich der Boden nicht, son 93
dern Justus hatte eher das Empfinden, als stehe er an einer Straße,
auf der gerade ein schwerer Lastzug vorüberdonnert.
Als ihn Bob eine Stunde später ablöste, berichtete Justus ihm davon.
»Na klar«, bestätigte Bob. »Das konnten wir in der Höhle auch
spüren. Wie wenn man die Bässe wahnsinnig aufdreht. Hier in den
Bergen kann’s anscheinend recht ungemütlich werden. Hey, was ist
eigentlich inzwischen aus dem Waldbrand von gestern geworden?«
Er drehte sich um und schaute am Hang hinauf Den Gipfel des
Berges konnte er allerdings wegen der überhängenden Felsen
oberhalb des Höhleneinganges nicht sehen.
»Quién sabe?« gab Justus zurück, und dann übernahm Bob die
Wache, um Mercedes beim Herannahen rechtzeitig zu erspähen.
Zwei Stunden später war Peter an der Reihe. Einmal dachte er,
weiter unten hätte sich etwas geregt. Er meldete es seinen Freunden
in der Höhle mit dem verabredeten Vogelruf.
»Wo?« flüsterte Justus, nachdem sich alle vier im Höhleneingang
platt auf den Boden gelegt hatten.
Peter zeigte nach unten, links von ihm.
Er brauchte nichts zu sagen. Mittlerweile konnten sie alle die Gestalt
in der Ferne sehen.
Ein Mann mit einem Stetson und einem Gewehr – einer Langwaffe –
kam langsam zu ihnen heraufgeklettert.
Dusty.
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Justus geht aufs Ganze »Es bringt uns nichts, wenn wir uns in der Höhle verstecken«,
flüsterte Justus. »Unsere Spuren bis zum Tunnel wären für Dusty
leicht zu finden. Und wenn er erst da drinnen rumknallt . . .«
Bob hatte einen Vorschlag. »Vielleicht können wir ihm auflauern
und eine Falle stellen.«
»Hmm, ja.« Justus nickte. »Ich hab’ auch schon eine Idee, die
vielleicht was taugt.«
»Laß hören«, sagte Peter leise.
Justus kroch wieder in den Tunnel. »Gehen wir lieber vorher in
Deckung«, meinte er. Die anderen kamen nach.
Eine Minute später schlüpften Justus, Brit und Bob wieder ins Freie.
Brit kauerte sich hin, seine Flinte quer vor der Brust. Erwartete ab,
bis Dusty vorübergehend außer Sicht war, stieg dann behende den
gewundenen Pfad hinab und verbarg sich zwischen Felsblöcken. Bob
folgte ihm rasch und versteckte sich ebenfalls.
Justus blieb im Eingang zur Höhle liegen. Ohne den Kopf zu heben,
konnte er sehen, wie Dusty wieder zum Vorschein kam. Mit erhobe
ner Waffe kletterte er zielstrebig am Hang hinauf, immer Blondies
Hufspuren nach.
Justus wartete, bis der Rancher sich auf etwa fünf Meter genähert
hatte.
»Dusty«, rief er dann. »Dusty, ich bin’s – Brit!«
»Brit?« Hastig glitt Dustys Hand am Gewehrlauf zum Abzug vor.
»Wo bist du, Brit?«
»Hier oben«, rief Justus zurück. »Und ich habe Sie genau im Visier.«
Dusty lachte. »Baller schon los«, stieß er hervor. »Dann weiß ich
wenigstens genau, wo du steckst. Und dann knall’ ich dich ab.«
Er war nun an der Abzweigung des Kletterpfades angelangt. Mit
seinem geschmeidigen, lässigen Schritt kam er angestiegen.
»Wozu kommen Sie hier rauf?« Jetzt klang Justus’ Stimme ängstlich.
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»Was wollen Sie?« »Nur mit euch reden. Mit dir und deinem Dad ganz entspannt über Pancho Villa plaudern.« »Lassen Sie das Gewehr fallen.« Hinter dem Rancher trat der echte Brit zwischen den Felsen hervor und setzte ihm den Lauf seiner Flinte unsanft auf den Rücken. Dusty war völlig überrumpelt. »Los doch. Werfen Sie es hin«, befahl Brit energisch. Diesen Schock für Dusty hatte Justus einkalkuliert. Eben noch hatte der Rancher angenommen, er spreche Brit weiter oben an. Im näch sten Augenblick hörte er Brits Stimme unmittelbar in seinem Rük ken. Das Gewehr ließ er nicht fallen. Doch verwirrt senkte er den Lauf. »Nicht umdrehen«, gebot Brit so energisch wie zuvor. Wie Justus gehofft hatte, fiel es Dusty nicht ein, diesem Befehl nachzukommen. Prompt wandte er den Kopf. Da sprang Bob aus seinem Versteck hervor. Dusty hatte sich halb zu Brit umgedreht, und so entging ihm Bobs Angriff. Ehe er reagieren konnte, hatte ihm Bob die Waffe entrissen und drei Meter weit in ein Kaktusgestrüpp geschleudert. Wutschnaubend wollte sich Dusty auf Bob stürzen. Bob nahm rasch eine klassische Abwehrposition ein. Karate beherrschte er zwar nicht so gut wie Peter, aber er war kräftig und reaktionsschnell. Wenn Dusty angriff, würde er es wohl mit ihm aufnehmen können. Doch Dusty ging nicht auf Bob los. Unvermittelt wirbelte er herum und attackierte Brit mit weit ausholendem Armschwung. Beinhart landete sein Handrücken an Brits Kopf. Brit taumelte zurück. Bob warf sich nach vorn, aber schon hatte der Rancher mit beiden Händen den Flintenlauf gepackt. Mit einer blitzschnellen, brutalen Drehung entwand er Brit die Waffe. Er trat zurück und legte auf Bob an. Dabei lachte er höhnisch. »Okay, ihr Spaßvögel«, rief er. »Jetzt fort mit euch, runter vom Berg. Und bleibt nicht stehen, solange ihr im Schußbereich seid.« 96
Unbewaffnet hatten die beiden Jungen keine Chance. Wenn Brit nun einen Angriff wagte, würde Dusty auf Bob schießen. Langsam machten sich die beiden hangabwärts auf. Dusty wartete, bis sie sich etwa hundert Meter entfernt hatten und er die Flinte herunternehmen konnte. Dann drehte er sich um und wollte zu Justus hinaufklettern. »Raus da, Dicker«, schrie er. »Komm schon, oder es knallt!« Justus stand auf. Dustys Finger spannte sich um den Abzug. »Okay«, sagte er. »Gleich darfst du zu deinen Freunden loslaufen. Aber erst will ich dich was fragen.« Justus hätte viel darum gegeben, den Rancher mit einem Judo griff zu überwältigen. Nur kam er nicht an ihn heran, denn die Mündung der Waffe war direkt auf seine Brust gerichtet. »Wo ist Brits Vater?« Justus überlegte blitzschnell. Er mußte Dusty täuschen, damit er nie manden in der Höhle vermutete. »Er ist mit Peter zum Wasserholen gegangen«, erklärte er. »Und wieso hab’ ich sie dann nicht gesehen?« »Die Quelle ist drei Kilometer weit weg. Drüben am anderen Hang. Von hier aus sieht man sie nicht.« Dusty nickte bedächtig. Er lächelte. »Dann bist nur noch du im Weg, zwischen mir und Villas Schatz«, stellte er fest. »Sehr schön. Jetzt beweg’ schon deinen fetten Wanst. Los, hau ab und schlag dich bei deinen Kumpels da unten in die Büsche. Sieh zu, daß du mir schleu nigst aus den Augen kommst. Und falls du was gegen eine Kugel im Hintern hast, dann lauf, was du kannst, und bleib nicht stehen.« Justus hob die Schultern. Mit zerknirschter Verlierermiene stolperte er hastig den Pfad hinunter. Dusty behielt ihn im Blick, bis er hinter einem Felsmassiv verschwunden war. Dann duckte er sich, ergriff die Flinte mit beiden Händen und stieg in den Tunnel. Peter hörte ihn kommen. Er stand am Eingang zur Höhle bereit. Er rechnete sich aus, daß Dusty gebückt, mit eingezogenem Kopf her 97
ankommen mußte – das ideale Angriffsziel für einen Karatekämpfer. Er hob den Arm. Mit lang ausgestreckten Fingern war seine Hand so schlagkräftig wie eine starke Holzlatte. Beim ersten Treffer ins Genick würde der Rancher zu Boden gehen. Dusty betrat den Höhlenraum. Augenblicklich schlug Peter zu. Doch einer der Burros gab einen schwachen Laut von sich, und Dusty hob den Kopf – den Bruchteil einer Sekunde zu früh. Der Hieb streifte ihn nur, quer über die Schulterblätter. Unsicher taumelte er nach vorn, Doch die Flinte hielt er fest. Peter mußte eins draufsetzen. Schon hatte er die Hand zum nächsten Schlag erhoben. Doch Dusty reagierte enorm schnell, wie er es zuvor draußen bei Bob und Brit bewiesen hatte. Er trat einen Schritt zurück. Der Flintenlauf hob sich, und Peter starrte direkt in die Mündung. Da ließ er den Arm sinken. Einen Vorteil gegenüber dem Schützen hatte er wohl. Dusty war soeben aus der prallen Sonne gekommen, während Peters Augen an das Dämmerlicht der Höhle gewöhnt waren. Wenn er keine Sekunde verlor, würde es ihm vielleicht gelingen, Dusty durch eine Finte zu täuschen, ehe er abdrücken konnte. Zum Schein wich Peter seitwärts aus und wirbelte dann unvermutet auf den Zehenballen herum. Sein rechtes Bein schoß nach hinten. Mit dem Fuß traf er den Rancher gezielt in die Magengrube. Äch zend klappte Dusty wie ein Messer zusammen. Diesmal bot er genau die nötige Angriffsfläche. Peter sprang ihn an und landete einen Hieb mit dem Ellbogen in seinem Genick. Dusty sackte zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Er lag noch immer bewußtlos da, als die anderen drei Jungen wieder zu Peter stießen. Brit war sehr geschickt im Knotenschlagen. Im Handumdrehen hatte er Dusty mit kräftigen Stricken gut verschnürt. Dann standen die vier da und blickten auf den wehrlos am Boden liegenden Rancher hinunter. Die beiden Burros, die sich während des Zweikampfes eng aneinandergeschmiegt hatten, wandten sich wieder ihrem Hafer zu. 98
»Gehen wir mal raus«, sagte Bob nach einer Minute. Die vier Jungen verließen die Höhle. »Okay, ich weiß Bescheid.« Justus lachte. »So hundertprozentig hat mein Plan nicht hingehauen. Aber Peters blitzartige Reflexe waren unsere Rettung.« Peter lachte auch. Er ließ den Arm durch die Luft sausen. »Klar, diese Hände sind meldepflichtige Waffen.« »Ach nee«, meinte Bob. »Dann bin ich Bruce Lee. Justus, was machen wir jetzt?« »Erst müssen wir uns Dustys Waffe holen«, Brit nahm die Sache entschieden in die Hand. »Zwei Schießgewehre bringen bekanntlich mehr als eins.« Sie liefen hinunter zu dem verzweigten Kaktus, in den Bob Dustys Gewehr geworfen hatte. Gebückt suchten sie den steinigen Boden ab. Sie nahmen sich jeden Felsbrocken und jede Spalte vor. Sie sahen unter jedem stachligen Kaktusblatt nach. Alles Suchen blieb vergeblich. Das Gewehr war verschwunden. »Mercedes«, ging es Bob auf. »Die ist bestimmt hier in der Nähe. Und jetzt hat sie Dustys Gewehr.« Justus zupfte an seiner Unterlippe. »Ich hab’ da eine Idee«, verkün dete er gleich darauf. »Was, schon wieder?« Peter stöhnte laut. »Und hinterher sind wir dann alle klüger, was?« »Ich glaube nicht, daß Mercedes sich hier in der Umgebung versteckt hält«, fuhr Justus nachdenklich fort. »Eher ist sie zu ihrem Lager zurückgegangen.« »Wieso Lager?« wollte Peter wissen. »Sie hatte ja dem Burro das Gepäck abgenommen«, erläuterte Justus. »Folglich kampiert sie irgendwo. Und wie ich von Hector Sebastian weiß, sind Burros anhängliche Geschöpfe. Sie gehen gern mit den Menschen um, die sie kennen. Wenn ich also Blondie als 99
Begleitung mitnehme, dann könnte Mercedes’ Burro mich zu ihrem Lager führen.« »Dich?« fragte Bob spöttisch. »Du willst also die Lorbeeren allein einheimsen, oder was? Warum gehen wir nicht alle zusammen los?« »Wenn wir zu viert anrücken, erspäht sie uns schon von weitem«, klärte ihn Justus auf. »Komme ich aber allein, kann ich mich hinter den Burros bedeckt halten. Ihr müßt doch zugeben, daß ich viel dünner bin als früher. Ich falle in der Landschaft kaum mehr auf.« »Na, ganz so dürr wie Ignacio bist du zum Glück noch nicht«, flachste Bob. Die anderen lachten. Doch der Erste Detektiv war mit seinen Gedan ken schon wieder woanders. Was Mercedes anging, so hatte Justus eine verdächtige Ahnung. Freilich war diese äußerst gewagt. Er konnte seine Vermutung lediglich auf ihre Kontaktlinsen stützen und auf einen Seitenblick zu ihrem Handgelenk im Schein eines Lagerfeuers. Als Detektiv wußte er jedoch, daß solche Ahnungen durchaus nicht immer trogen. Immerhin war es vorstellbar, daß er unter der verrutschten Arm banduhr keine Narbe gesehen hatte, sondern etwas anderes. Dieser Verdacht ließ sich aber nur erhärten, wenn er Mercedes eingehender aufs Korn nehmen konnte. »Okay, dann mach’ mal«, stimmte Peter zu. »Aber die Frau hat jetzt ein Gewehr. Paß gut auf dich auf.« Brit holte die beiden Burros aus der Höhle. »Dusty ist bestens ver schnürt und kann sich nicht rühren«, meldete er. »Nur sein Mund werk läuft wieder wie geschmiert. Er hat mir haarklein ausgemalt, was er alles mit uns anstellen will, wenn er freikommt.« Justus gab Mercedes’ Burro einen Klaps auf die Flanke, und dieser setzte sich bereitwillig in Bewegung. Blondie trottete nebenher. Justus achtete darauf, daß er stets beide Tiere zwischen sich und dem Felshang hatte. Außerdem ging er etwas geduckt, damit er von oben nicht so leicht auszumachen war. Die Esel stiegen nicht weiter bergan, sondern hielten sich immer 100
quer zum Hang. Beim gelegentlichen Aufblicken fielen Justus noch mehrere Eingänge zu Höhlen auf. Doch zu ihnen führten keine Spuren. Und Mercedes’ Burro strebte unentwegt vorwärts. Ohne Vorwarnung machte er dann jäh Halt. Blondie blieb neben ihm stehen. Justus ließ sich der Länge lang auf den Boden fallen. Hundert Meter über ihm befand sich im Felsmas siv eine Spalte. Er kroch auf allen Vieren vorsichtig hinauf, wobei er darauf achtete, möglichst in Deckung zu bleiben. Mercedes’ Burro folgte ihm nicht, doch er setzte seinen Weg auch nicht fort. Blondie hatte ein kleines Gestrüpp Beifuß aufgestöbert, und beide Tiere fingen in aller Ruhe an zu knabbern. Vielleicht bin ich hier doch nicht auf der richtigen Fährte, überlegte Justus. Vielleicht ist die schmale Öffnung dort oben im Fels gar nicht der Eingang zu Mercedes’ Höhlenversteck. Trotzdem mache ich mich da mal näher heran, nahm er sich vor. Dann überlief ihn ein Schauder. Er glaubte eine eiskalte Hand im Nacken zu spüren. Seine Kopfhaut begann zu kribbeln. Keine zwei Meter vor ihm ragte etwas aus dem steinigen Boden. Ein roh zubehauenes Holzkreuz. Starr blickte Justus hin und konnte einen eingeschnitzten Namen entziffern. IGNACIO. Also hatte er sie doch gefunden – die Höhle, die Brit und sein Vater zuvor entdeckt hatten! Die Höhle, in der Pancho Villa seinen Schatz silberner Pesos versteckt hatte. War Mercedes auch darauf gestoßen? Und hatte sie diese Höhle zu ihrem eigenen Versteck gemacht? War sie jetzt dort oben? Wenn ja, hatte sie vermutlich inzwischen die beiden Burros erspäht. Und dann würde sie auftauchen, um nachsehen, was die Tiere hierher geführt hatte. Justus drückte sich platt an den Felshang. Er wartete. Länger als eine Minute brauchte er jedoch nicht auszuharren. Schon sah er die vertraute Gestalt der Mexikanerin im weiten Wollrock, die 101
langen schwarzen Zöpfe und das große violette Tuch. Sie war aus der
Höhle getreten und schaute auf die beiden Burros herunter.
Er sah, wie sie das Gewehr, das sie bei sich trug, entsicherte.
Augen zu und durch, ermunterte sich Justus. Er mußte endlich die
Wahrheit über Mercedes erfahren.
Den Kopf hob er lieber nicht – für den Fall, daß er sich irrte. Für den
Fall, daß sie seine Ahnung mit einem Schuß quittieren würde.
»Mom!« rief Justus laut. »Mutter! Ich bin’s! Brit!«
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Glut unter der Sierra Madre Wieder wartete Justus. Es waren die längsten zehn Sekunden seines
Lebens. Mercedes rührte sich nicht.
Dann ließ sie die Waffe fallen und lief eilig den Hang hinunter, auf
ihn zu.
»Brit!« rief sie. »Brit, mein Junge, wo bist du? Wie geht’s dir?«
Sie gab nicht mehr vor, kein Englisch zu können.
Justus stand auf. »Brit geht es gut«, rief er zurück. »Tut mir leid, daß
ich Sie gefoppt habe. Brit braucht Ihre Hilfe. So wie wir alle.«
Einige Schritte vor ihm blieb Mercedes stehen. Sie starrte ihn an, und
das dauerte wieder zehn lange Sekunden. Dann endlich lächelte sie.
»Schnell«, sagte sie. »Komm mit rauf in die Höhle und erzähl mir
alles.« Die beiden Burros durchstreiften zufrieden die Umgebung.
Justus stieg hinter Mercedes zu der Spalte im Felshang hinauf.
»Wo ist Dusty?« Sie hob das Gewehr auf und hielt vorsichtig
Ausschau ins Tal.
»Vor dem sind Sie vorläufig sicher.« Justus berichtete der Frau, was
in Brits Unterschlupf passiert war. »Brit hat ihn bestens verschnürt.«
Sie nickte erleichtert und sicherte die Waffe wieder. »Ich hatte
schreckliche Angst um Brit und meinen Mann Tom«, sagte sie.
»Gestern entdeckte ich diese Höhle mit ein paar Sachen drin, die
ihnen gehören. Nur fand ich von den Pferden keine frischen Hufspu
ren, und so konnte ich nicht erkennen, wohin sie geritten waren.«
Justus berichtete, daß Brits Vater mit den Pferden unterwegs war, um
Dynamit zu kaufen, das sie für das Freisprengen des Zugangs zu
Villas Schatz brauchten, und daß er in wenigen Tagen zurück sein
wollte.
»Wie sind Sie denn zu Dustys Gewehr gekommen?« fragte Justus
dann noch.
»Mein Burro hat sich heute nacht abgesetzt, während ich schlief«,
erklärte Mercedes. »Heute früh machte ich mich auf die Suche. Den
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Burro fand ich nicht, aber dafür dieses Gewehr unter einem Kaktus. Es trägt Dustys Monogramm. Von ihm selbst war allerdings nichts zu sehen, und ich fürchtete schon, das sei eine Falle. Er hätte mir ja irgendwo auflauern können, mit einem zweiten Gewehr. Oder mit dem Messer, das er ständig im Stiefel stecken hat. Also lief ich rasch zurück. Von hier aus könnte ich ihn wenigstens anrücken sehen.« Justus grinste schadenfroh. Dusty hatte nirgendwo auf der Lauer gelegen, als die Frau sein Gewehr entdeckt hatte. Zu diesem Zeit punkt hatte Brit ihm gerade sachkundig die Fesseln angelegt. Merce des hatte die turbulenten Ereignisse nur um wenige Minuten verpaßt. Von der Stelle aus, an der das Gewehr nach Bobs Wurf gelandet war, hatte sie den Eingang zu Brits Höhle nicht sehen können. Und so hatte sie auch das verpaßt. Mercedes lächelte auch wieder. »Wie bist du dahintergekommen, daß ich Brits Mutter bin?« fragte sie. »Vorher hattest du mich ja nur immer spanisch sprechen gehört. Und in diesem Aufzug sehe ich wahrhaftig nicht aus wie eine Amerikanerin.« Sie nahm das große Tuch von Kopf und Schultern, zog sich die Perücke mit den schwarzen Zöpfen herunter und steckte sie in eine Rocktasche. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch das blonde Haar. »Es war einfach so eine Ahnung. Zum Glück habe ich recht behal ten«, meinte Justus. »Ich hatte allerdings ein paar Anhaltspunkte für meinen Verdacht. Als wir an dem Abend bei unserem Lagerfeuer zusammentrafen, war Ihre Armbanduhr am Handgelenk nach vorn gerutscht. Da konnte ich einen ganz hellen Streifen auf der Haut sehen . . .« Er streckte den linken Arm vor. Seine Haut war nach all den Tagen im Freien tief gebräunt. Er löste die Schnalle seiner Digitaluhr, und zum Vorschein kam der weiße Ring um den Unterarm, der der Sonne nicht ausgesetzt gewesen war. »Fast alle Mexikaner haben dunkle Haut«, fuhr er fort. »Auch wenn sie von der Sonne noch zusätzlich gebräunt werden, würde sich unter 104
einem Uhrarmband niemals ein fast weißer Streifen zeigen. Nur bei hellhäutigen Europäern ist das möglich.« Sie nickte. »Du bist ein kluger Junge – genau wie mein Brit.« »Mein Verdienst ist es nicht allein. Auch meinem Freund Bob war etwas aufgefallen. Ihre Kontaktlinsen. Filmschauspieler benutzen sie manchmal, um ihre Augenfarbe zu verändern. Damit gab es gleich zwei verdächtige Beobachtungen zu Ihrer Person: Vielleicht sind Sie nicht von Natur aus dunkelhäutig. Und vielleicht haben Sie auch nicht die dunklen Augen einer Mexikanerin.« »Bestimmt nicht.« Sie wandte sich kurz ab und entfernte vorsichtig die Kontaktlinsen aus beiden Augen. »Ich habe die gleichen Augen wie Brit.« Nun blickte sie Justus wieder an – mit blauen Augen. Die Linsen verwahrte sie in einem Plastiketui aus ihrer Tasche, das sie dann wieder einsteckte. »Und im übrigen hatte ich Sie sehr wohl auch englisch reden gehört«, hielt ihr Justus vor. »Wobei ich freilich zugeben muß, daß ich Ihre Stimme hinterher, beim Spanischsprechen, nicht wiederer kannte. Sie hatten mich ja auf der Ranch angerufen und mir ein Zusammentreffen auf der anderen Seite des Sees vorgeschlagen.« Brits Mutter beugte sich vor und drückte Justus Fest die Hand. »Das tut mir sehr leid. Ascención wollte mir diese Dummheit noch ausreden. Ich machte mir eben nicht klar, wie gefährlich dieser See tatsächlich ist. Ich wollte doch nicht, daß du dein Leben riskierst. Es sollte dich nur abschrecken.« »Ja, damit Blondie mich nicht hier heraufführen kann.« Wieder nickte sie. »Ich hatte solche Angst. Es war mir klar, daß Dusty Tom und Brit umbringen konnte, falls er sie finden sollte. Er würde vor nichts zurückschrecken, uni an diese Pesos zu kommen.« Sie hielt kurz inne. »Ich war so sehr in Panik geraten, daß ich noch andere dumme Sachen machte. Als ich diesem Mexikaner Geld gab, damit er euch nicht in den Bus einsteigen lassen sollte. Und als ich euch bei Nacht Blondie entführen wollte. Dabei hätte ich wissen müssen, daß sie mich nicht an sich ranlassen würde.« 105
Sie griff hinter einen großen Stein und holte ein tragbares Sprech funkgerät hervor. An der Schlaufe hängte sie es sich um, und dann nahm sie noch das Gewehr auf »So, und jetzt bring mich bitte zu Brits Höhle«, bat sie. Ach kann’s kaum erwarten, ihn wiederzuse hen.« »Hatten Sie in den letzten Tagen irgendwie Verbindung mit Ascen ción?« erkundigte sich Justus, während sie die beiden Burros auf dem Bergpfad zu Brits Unterschlupf zurückführten. »Ach, das ist dir auch bekannt, Justus?« »Nun ja, Mercedes . . .« Justus mußte lachen. ›Jut mir leid, aber ich kenne ja Ihren richtigen Namen noch gar nicht.« Ach heiße Grace. Das Wort bedeutet auch Gnade, und das wiederum heißt auf spanisch merced«, sagte sie. »Grace Douglas. Du kannst aber gern bei Mercedes bleiben.« »Okay, Mercedes,« Dann fuhr Justus mit seiner Erklärung fort. »Ich wußte, daß Ascención ein Funkgerät besitzt. Auf der Ranch repa rierte ich es für ihn. Und Bob hat Ihres dann auf dem Burro entdeckt, an dem Abend, als Sie uns am Feuer besuchten.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Heute früh versuchte ich immer wieder, Ascención anzufunken. Aber es kam keine Verbin dung zustande. Vor ein paar Tagen, als ich mit dem Burro unterwegs war, erreichte ich ihn abends. Da war er nur einen Tagesritt hinter mir. Er müßte jetzt eigentlich hier sein, außer . . .« Sie zögerte in jäher Angst. »Außer er ist Dusty in die Hände gefallen.« »Dusty wußte, daß Ascención ihm gefolgt war?« »Das konnte er sich wohl ausrechnen. Deshalb gab er vor, daß sein Pferd lahmte – damit er sich in der Nähe seiner eigenen Spuren auf halten und Ascención auflauern konnte. Eine Mexikanerin auf einem Burro wäre Dusty nicht verdächtig erschienen, wenn er mich gesehen hätte. Falls er aber hier oben im Gebirge Ascención entdeckt, bringt er ihn glatt um.« Sie zögerte. »Vielleicht hat er es schon getan.« »Mercedes . . .« Justus legte ihr besänftigend die Hand auf die Schul ter. Ach würde mir um Ascención keine zu großen Sorgen machen. 106
Dusty ist bekanntlich schlau. Aber Ascención hat ihm dennoch viel voraus.« »Ja.« Mercedes nickte zuversichtlich. »Ja, das hat er gewiß.« Während sie losmarschierten, fragte Justus Brits Mutter noch, wie sie auf die Vermutung gekommen war, daß Dusty Justus bei der Suche nach Villas Höhle gewissermaßen als Werkzeug benutzen wollte. Nun, sie hatte ständig Verbindung mit Brit, erklärte sie. Sie sandte ihm besprochene Kassetten in das Dorf auf der anderen Seite des Bergrückens und bekam seine Antworten nach Los Angeles geschickt. Somit kannte sie die ganze Geschichte von Blondies Erblindung und von dem langen, beschwerlichen Abstieg zu Dustys Ranch, weil ein Tierarzt gebraucht wurde. Brit hatte seiner Mutter auch vorsorglich mitgeteilt, daß der Rancher auf die Idee kommen könnte, Brit und seinen Vater mit Hilfe des kleinen Burros in den Bergen aufzuspüren. Dann schrieb ihr Ascención in einem Brief, Dusty hätte eine Reise nach Los Angeles geplant. Ascención legte eine Kopie des Kreuz worträtsels bei, das Dusty in Hermosillo hatte drucken lassen. Darauf konnte sich der Mexikaner keinen Reim machen, aber er hatte erkannt, daß Dusty etwas im Schilde führte. »Na, ich bekam die Lösungswörter auch nicht auf Anhieb heraus«, meinte Mercedes, »aber diese hellhaarige Comic-Heldin war mir ein Begriff. Blondie. Also hielt ich mich immer wieder in der Nähe dieses Ladens auf’, zu dem die Lösungen geschickt werden sollten. Tatsächlich kam Dusty schon sehr bald hin, um seine Post abzuholen. Am nächsten Tag versuchte ich, in den Laden einzusteigen, aber da ging die Alarmanlage los.« Daraufhin hatte Brits Mutter den Rancher beschattet und herausge funden, wo er sich aufhielt und was er so trieb. Und eines Tages konnte sie ihm zum Schrottplatz von Titus Jonas folgen. Beim lang samen Vorüberfahren am Haus beobachtete sie, daß sich Dusty und Justus auf der Terrasse unterhielten. Rasch stellte sie ihren Wagen in sicherer Entfernung ab und ging unauffällig zum Haus zurück. 107
Ach hörte dich reden«, sagte sie. »Und sofort fiel mir deine Stimme auf. Sie klang genau wie die von Brit!« Bald waren ihr die Zusammenhänge klargeworden. Als Mexikanerin getarnt, folgte sie Justus und seinen beiden Freunden bis nach Hermosillo. Ach sah, wie Dusty euch dort mit seinem Jeep abholte. Danach mie tete ich mir ein Zimmer in dem Dorf überm See und verständigte mich von neuem mit Ascención. Vom Waldrand aus beobachtete ich euch. Und als Blondie sich gleich mit dir anfreundete, war es für mich nicht weiter schwer, mir auch noch den Rest zusammen zureimen.« Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her. »Dürfte ich Ihnen auch mal einige Fragen stellen?« erkundigte sich Justus. »Gern.« »Woher kennen Sie Ascención? Und, was ist zwischen Ihnen und Dusty vorgefallen, daß Sie beide –« »Daß wir beide so erbitterte Feinde sind?« »Ja.« »Dazu muß ich weit ausholen«, erklärte Mercedes. »Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war. Mein Vater war Bergbauingenieur und arbeitete für eine mexikanische Firma. Ich bin in Mexiko auf gewachsen. Wenn mein Vater früher über Land reisen mußte, betreute mich Ascención? Er war damals der Besitzer der großen Ranch. Er hatte sein Auskommen, er züchtete Rinder und Pferde. Bis Dusty auftauchte –« »Und sich die Ranch aneignete.« Justus erinnerte sich daran, wie ihm in Dustys Büro die Urkunde zur Übertragung des Grundbesitzes in die Hände gefallen war. »Ja. Wie die meisten Rancher hatte Ascención? Schulden bei der Bank. Und Dusty erwarb die Hypotheken, mit denen die Ranch als Sicherheit für den Bankkredit belastet war. Ehe Ascención? genügend Vieh verkauft hatte, um das Darlehen zurückzubezahlen, beantragte Dusty die Zwangsvollstreckung für den gesamten Besitz. Ich ging 108
selbst vor Gericht, um für meinen alten Freund zu sprechen. Aber Dusty hatte gute Beziehungen und bezahlte Schmiergelder. Schließ lich mußte Ascención? ihm die Ranch überschreiben.« Justus blickte ins Tal hinunter und zum nächsten Gebirgszug hinüber. Er hoffte, daß Mercedes’ Befürchtungen umsonst waren und Ascención? bald eintreffen würde. Doch nirgends war etwas von ihm zu sehen. Und dann spürte Justus eine jähe Hitzewelle. Urplötzlich hatten sich die Atmosphäre und der helle Tag im Hochland verändert. Es wurde spürbar immer wärmer und zusehends dunkler. Beim Aufblicken gegen den Hang sah Justus, wie sich am Himmel eine große graue Wolke ausbreitete. Wieder nahm er jenes Erzittern der Erde wahr. Den höchsten Gipfel des Bergrückens konnte er von hier aus gut sehen. Eine dunkle Rauchsäule quoll rasch und steil heraus. Sie war weitaus dichter und mächtiger als das weißliche Gewölk, das die drei ??? zuvor an verschiedenen Stellen beobachtet hatten. Schlagartig sah er klar. Er hätte sich ohrfeigen können, weil er so begriffsstutzig gewesen war. Warum hatte er nicht schon früher erkannt, was hier vor sich ging? Peter hatte sich noch darüber gewundert, daß der weiße Rauch nicht in der Luft hängenblieb. Rauch war das nicht gewesen – sondern Dampf »Ein Vulkan«, sagte Justus mit gepreßter Stimme. Mercedes faßte ihn am Arm, damit er bei ihr stehenblieb. Sie beschirmte die Augen mit der Hand und schaute ebenfalls zum Gipfel hoch. »Ja«, erwiderte sie leise. »Bisher wußte ich nicht, daß es in der Sierra Madre aktive Vulkane gibt. Aber ich kenne solche Berge aus Hawaii. Dort oben kann es jeden Augenblick zu einem Ausbruch kommen!«
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Verfrühter Triumph »Auf Rockmusik fahre ich voll ab«, sagte Bob zu Brit. »Und mein
Job ist super. Nur ist so ein Star manchmal eine richtige
Nervensäge.« Untätig saßen die drei – Bob, Brit und Peter – in der
Höhle. Sie warteten voller Sorge auf Justus’ Rückkehr.
Die Spannung war so stark, daß sie in allen Gliedern kribbelte. Bob
und Brit plauderten locker, als ob nichts wäre. Doch insgeheim
mußte sich jeder fragen, wie lange sich der Rancherin seiner
hilflosen Lage, die ihn fast zur Weißglut brachte, noch bändigen ließ.
Unablässig wälzte sich der Mann am Boden, um seine Fesseln
loszuwerden, und immer wieder brüllte er herum.
»Ich steh’ auch auf Rock«, erwiderte Brit. »Find’ ich ganz phanta
stisch, daß du da an Bands wie die Survivors rankommst.«
»Klar doch, die treffe ich oft in unserem Laden.«
»Mexikanische Musik bringt’s aber auch«, meinte Brit. »Betreut dein
Boß auch Gruppen von hier?«
Bob schüttelte den Kopf. »Latino-Rhythmen sind ein anderer Fall.
Völlig andere Szene.«
Peter hatte sich darangemacht, Kelly Madigan einen langen Brief zu
schreiben. Bobs fachkundige Kommentare zu Rock und Pop kannte
er ohnehin schon auswendig.
»Liebe Kelly«, schrieb er. »Hier in der Wildnis ist es einfach super.
Ich sitze gerade in einer Höhle im Berg, und in der Ecke liegt ein Typ,
gefesselt und gut verschnürt. Du, das ist kein Witz, sondern . . .«
Peter legte den Schreibblock nieder und sah auf seine Uhr. »Jetzt
sind’s schon zwei Stunden, seit Justus weg ist«, bemerkte er.
Geduckt schlüpfte er durch den Tunnel ins Freie, um wieder einmal
Ausschau zu halten.
Dusty war das Umherwälzen offenbar leid geworden. Mühsam hatte
er sich in den Kniestand aufgerichtet. Bei der einschnürenden Fesse
lung mußte er wohl seine Körperhaltung einmal ändern.
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»Hey, Brit«, rief Dusty mit krächzender Stimme herüber. »Bring mir was zu trinken, ja? Meine Kehle ist so ausgedörrt, daß ich gar nicht mehr schlucken kann.« Brit und Bob wechselten einen fragenden Blick. Bob nickte. »Moment.« Brit nahm den Tonkrug mit Wasser zur Hand und trug ihn zu dem Rancher hinüber. Bob konnte von seinem Sitzplatz aus nicht sehen, was jetzt passierte. Eben noch hielt Brit den Krug an Dustys Mund. Eine Sekunde später lag der Krug zerschmettert am Boden und Brit flach auf dem Rücken. Der Rancher hielt Brit die scharfe Klinge eines Jagdmessers an die Kehle. Dustys Hände und Füße waren frei. Die durchschnittenen Stricke baumelten noch von seinen Handgelenken. »Idioten seid ihr.« Er lachte widerlich, hemmungslos. »Ihr wart nicht schlau genug, mich zu durchsuchen. Und mein Messer hab’ ich immer im Stiefel.« Er drückte die Schneide an Brits Hals, so daß sie bei der geringsten Bewegung die Schlagader durchtrennen mußte. »Okay, Bob,« rief Dusty höhnisch. »Jetzt bring mir Brits Schieß eisen. Los, mach schon.« Es war Bob klar, daß der Rancher vor nichts zurückschrecken würde. Die Flinte lehnte an der Wand. Er nahm sie und ging damit zu Dusty hinüber. »Schmeiß ran. So daß ich hinkomme.« Dustys Stimme ließ Bob das Blut in den Adern gefrieren. Der Mann war nicht nur bereit dazu, sondern begierig darauf, von seinem Messer Gebrauch zu machen. Bob warf ihm die Flinte hin. Ohne das Messer zurückzuziehen, hob Dusty mit der freien Hand die Waffe auf und entsicherte sie. »Und jetzt das Gesicht zur Wand, du Angeber. Hände hinter den Kopf.« »Justus läßt sich noch nicht blicken. Aber draußen ist es irgendwie unheimlich –« 111
Soeben war Peter in die Höhle getreten. Es dauerte eine Sekunde, bis sich seine Augen wieder an das Zwielicht gewöhnt hatten. Dann sah er Bob dastehen, Gesicht zur Wand, Hände auf dem Hinterkopf gefaltet. »Was ist denn hier . . .« fing er an. Dann sah er Dusty. War der Rancher wahnsinnig geworden? Er hockte rittlings auf Brits Brust und hielt mit einer Hand das Jagdmesser, mit der anderen Brits Flinte gepackt. Schon hatte er den Lauf auf Peter gerichtet und den Finger am Abzug. »Der hat uns ausgetrickst«, sagte Bob kleinlaut. »Das Messer hatte er im Stiefel.« »Da rüber!« brüllte Dusty Peter an. »Ab mit dir an die Wand!« Auf ihn! schoß es Peter durch den Kopf. Wenn Dusty einhändig schießen mußte, würde er im Halbdunkel vielleicht nicht treffen. Doch ehe Peter heran war, würde Dusty die blinkende Schneide durch Brits Kehle ziehen. Peter lief zur Wand und stellte sich neben Bob. »Was machen wir jetzt?« flüsterte Peter. »Durchhalten, bis Justus kommt«, flüsterte Bob zurück. »Hände rauf zum Kopf und Maul halten«, schrie Dusty Peter an. »Zwei Fliegen mit einer Klappe – recht geschieht euch!« Er stieß ein hämisches Lachen aus. Peter tat wie geheißen. Er hörte die Stiefel knarren, als der Rancher aufstand. Dusty steckte sich das Messer in den Gürtel und packte die Flinte mit beiden Händen. »Jetzt noch du.« Er sah auf Brit herunter und stieß ihn mit dem Fuß in die Seite. »Aufstehen und tun, was ich sage. Sonst ist’s aus mit deinen beiden neuen Freunden.« Brit stand auf Karatekämpfer wie Peter und Bob war er nicht. Und gegen die Schußwaffe kam er ohnehin nicht an. »Zurück, Brit.« Brit ging rückwärts zur Wand hin, vor der die beiden anderen Jungen standen. 112
»Halt. Paß jetzt gut auf, Brit. Ich werd’ dich nicht erschießen – noch
nicht. Sag mir alles, was ich wissen muß, oder die beiden da sind
dran. Comprende, amigo?«
Brit nickte wortlos.
»Wo ist dein Vater?«
Brit zögerte. Er sah, wie sich Dustys Finger um den Abzug spannte.
»Er ist zum Dorf auf der anderen Seite hinuntergeritten.«
»Wann kommt er zurück?«
Im ersten Moment wollte Brit lügen. Doch wenn Dusty dahinterkam,
daß er nicht die Wahrheit sagte, würde einer der Jungen neben ihm
das mit dem Leben bezahlen.
»Frühestens übermorgen«, antwortete er.
»Habt ihr Pancho Villas Höhle gefunden?«
».Ja.«
»Woher wißt ihr, daß es die richtige ist?«
»Wir fanden ein Skelett, unter Steintrümmern verschüttet. Es war
einer von Villas Soldaten.«
»Sieh an, du kannst ja reden. Hol dir Stricke und fessle damit die
beiden Jungs – so gut, wie du mich verschnürt hattest.«
Brit ging zur gegenüberliegenden Wand und kam mit einigen langen,
starken Stricken zurück. »So, Peter«, befahl Dusty. »Runter auf die
Knie, und die Hände auf den Rücken.«
Peter gehorchte nicht gleich. Dusty trat zu ihm hin und stieß ihm die
Mündung der Flinte ins Genick. Peter spürte den kalten Stahl auf der
Haut. Er schluckte mühsam.
»Mach schon«, fauchte Dusty.
Mit zusammengebissenen Zähnen kniete Peter nieder. Er streckte die
Arme nach hinten.
Erst versuchte Brit, nur zum Schein eine Fessel anzulegen. Aber
Dusty schaute aus der Nähe genau zu und prüfte hinterher nach, ob
die Stricke um Peters Handgelenke und Fußknöchel auch fest
verknotet waren. Dann kam Bob an die Reihe.
»So, und jetzt könnt ihr loslegen«, forderte Dusty die beiden auf.
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»Loslegen ist gut«, konterte Bob mit Galgenhumor. »Wir werden
wohl kaum von der Stelle kommen.«
Peter und Brit prusteten unwillkürlich los.
»Sehr witzig.« Dusty gab Bob einen brutalen Stoß mit dem Flinten
lauf. Bobs Augen funkelten vor Empörung, doch er schwieg.
»Wo ist euer Freund hin? Ich mein’ den Dicken.«
»Wenn wir das wüßten«, entgegnete Peter. »Vielleicht eben mal ’ne
Pizza holen.«
Brit sah, daß Dusty nun stinkwütend war. Einer der beiden würde
gleich dran glauben müssen, wenn Dusty nicht ganz schnell eine
vernünftige Antwort bekam. »Er wollte Mercedes suchen«, warf Brit
rasch ein.
»Und wer ist Mercedes?«
»Das wissen wir nicht«, erwiderte Brit wahrheitsgemäß. »Sie ist
Mexikanerin.« Er beschrieb die Frau so, wie Bob sie ihm zuvor
geschildert hatte. »Justus sagte mir, sie sei schon seit Tagen hinter
ihnen her. Und heute früh kam ihr Burro hierher zur Höhle. Da ging
Justus mit ihm und Blondie los, um sie vielleicht in ihrem Versteck
zu finden.«
»Ist die Frau bewaffnet?«
Brit überlegte rasch. Daß er das vermutete, mußte er wohl nicht
zugeben. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte er.
»Okay. Die läuft mir schon noch über den Weg. Schwarzes Haar,
lange Zöpfe.« Nun richtete Dusty seine Waffe auf Brit. »Du führst
mich jetzt zu Villas Höhle. Na los, beweg dich! Und vergiß nicht,
daß du mich immer im Rücken hast.«
Dann hörte Peter nur noch das Füßescharren, als Brit mit eingezoge
nem Kopf, gefolgt von Dusty, durch den Tunnel ins Freie ging.
Sobald die Schritte verhallt waren, versuchten Bob und Peter sich
mit aller Kraft von ihren Fesseln zu befreien.
»Kriegst du vielleicht die Hände frei?« fragte Peter.
»Höchstens mit Hilfe des Entfesselungskünstlers Houdini«, gab Bob
zurück. »Und wie sieht’s bei dir aus?«
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»Schlecht.« »Wo bleibt bloß Justus?« meinte Peter. »Der kommt schon wieder«, sagte Bob zuversichtlich. »Du weißt doch, daß der Bursche seinen Gegnern immer um eine Nasenlänge voraus ist. Bestimmt sieht er Dusty, ehe dieser Wahnsinnige zum Schuß kommt. Außerdem hat Justus Blondie bei sich. Die galoppiert viel schneller, als Dusty laufen kann.« »Dusty ist leider nicht unser einziges Problem«, sagte Peter noch, während er wieder an seinen Fesseln zerrte. »Riechst du nicht auch was?« Bob schnupperte. »Wie faule Eier . . .« »Draußen braut sich was ganz Übles zusammen«, erklärte Peter. »Als ich vorhin kurz vor der Höhle war, konnte ich nicht nur nichts von Justus sehen – ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Am Hang ist es stockfinster, wie mitten in der Nacht. In der Luft hängt ein Gestank nach . . . ja, genau, nach faulen Eiern. Und eine riesige Rauchwolke breitet sich über den ganzen Himmel aus.« Bob überlegte rasch. »Wir haben ja schon heute früh Rauch in den Bergen gesehen, stimmt’s? Und der Gestank kommt nicht von Eiern«, stieß er hervor, »sondern das ist Schwefelwasserstoff! Wie bei einem Vulkan. Verflixt nochmal – anscheinend hocken wir hier unter einem quicklebendigen Vulkan!« Peter riß entsetzt die Augen auf »In der Höhle sind wir am ehesten sicher. Aber Justus ist draußen im Freien!«
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Flüsse aus Feuer »Runter!« zischte Justus eindringlich. »Schnell, Deckung!« Mercedes starrte noch immer wie gebannt auf den dunklen Rauch, der aus dem Gipfel des Vulkans in die Höhe schoß und wie düsterer Nebel das ganze Bergmassiv einhüllte. Justus packte sie am Arm und zog sie mit sich hinter einen großen Felsblock. »Was ist denn?« fragte sie. »Dusty«, flüsterte er. »Wir müssen leise sein.« Grobkörnige Asche rieselte vom Himmel herab, doch der dunkle Rauch wurde nun vom Wind weggetrieben. In der Luft hing ein Geruch wie von Chemikalien. Justus hob vorsichtig den Kopf und beobachtete den Rancher. Er war nur noch wenige hundert Meter entfernt und kam mit großen Schritten auf dem Bergpfad heran. Und er war nicht allein. Brit ging einige Schritte vor ihm her. Die Hände hatte er im Nacken gefaltet. Dusty hatte eine Waffe, vermutlich Brits Flinte, auf den Rücken des Jungen gerichtet. Mercedes holte entsetzt Atem. »Brit . . .« Justus mußte sie erneut am Arm festhalten, damit sie nicht losstürzte, um ihrem Sohn zu Hilfe zu kommen. »Nicht«, sagte er leise und warnend. »Wenn Dusty Sie erschießt, nützt das Brit gar nichts.« Dusty würde jeden Augenblick die beiden Burros sehen, überlegte Justus fieberhaft. Er hätte sie bestimmt schon erheblich früher bemerkt, wenn er nicht die ganze Zeit Brit im Blick behalten müßte. Mercedes ergriff Dustys Gewehr mit beiden Händen. »Ich will versuchen, ihn in den Arm zu treffen«, flüsterte sie. Sie brachte die Waffe in Anschlag und schob den Lauf behutsam an der Kante des Felsens vorbei nach vorn. Einige Sekunden lang hatte sie den Rancher genau in der Schußlinie. 116
Sorgfältig zielte sie. Der Finger am Abzug krümmte sich. Sie spannte
die Muskeln an.
Justus wartete auf den Mündungsknall. Er hörte ihn nicht. Immer
wieder, immer hektischer wollte Mercedes abdrücken. Es ging nicht.
»Entsichern!« flüsterte Justus. »Sie haben es vergessen!«
Hastig löste Mercedes die Sicherung, mit der sie nicht vertraut war.
Sie zielte von neuem. Doch nun war es zu spät. Dusty hatte die
beiden Burros gesehen. Er machte einen Satz nach vorn, packte Brit
von hinten und preßte ihn als Schild an seinen eigenen Körper.
Mercedes ließ das Gewehr sinken. Sie stieß einen gedämpften Fluch
auf spanisch aus. Dusty zog sein Messer aus dem Gürtel. Er setzte
Brit die Spitze an den Rücken. Dann schritt er weiter, indem er Brit
vor sich herschob.
Flink nahm Justus Mercedes das Sprechfunkgerät von der Schulter
und drückte die Sendetaste.
»Ascención!« Er hielt sich das Mikrofon dicht vor den Mund.
»Ascención, können Sie mich hören?« fragte er auf spanisch.
»Ascención, bitte kommen. Over.«
Er schaltete auf Empfang um. Kein Laut. Justus versuchte es eine
volle Minute lang. Dusty war mit Brit bis auf knapp hundert Meter
herangekommen. Er schritt zügig aus und trieb den Jungen mit dem
aufgesetzten Messer immer vor sich her.
Justus legte das Funkgerät weg. Er berührte Mercedes’ Hand.
»Setzen Sie die Perücke auf.«
Sie zog die Perücke mit den schwarzen Zöpfen aus der Rocktasche
und setzte sie rasch auf.
In zehn Meter Entfernung blieb Dusty stehen. »Rauskommen,
Mercedes«, rief er auf spanisch. »Na los, zeigen Sie sich.«
Sie rührte sich nicht.
»Sie müssen keine Angst haben«, fuhr Dusty – immer auf spanisch –
fort. »Sie sind hier irgendwo, ich weiß das. Mein junger Freund hat
mir alles über Sie berichtet. Ich weiß, daß Sie uns nachgekommen
sind, den ganzen Weg hier rauf. Und ich mache jede Wette, daß Sie
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mein Gewehr haben. Okay. Nicht durchdrehen. Vielleicht können wir uns dann gütlich einigen.« Mercedes stand auf Die Waffe hielt sie mit beiden Händen fest. Justus blieb noch in Deckung. Irgendwie hatte der Rancher es geschafft, Peter und Bob auszuschalten, vermutlich mit Hilfe des Messers, das er nun Brit auf den Rücken gesetzt hatte. Doch solange Dusty nicht wußte, daß Justus auch hier war, konnte sich dieser den Überraschungseffekt zunutze machen. Vielleicht gelang es ihm doch noch, den Rancher endgültig zu überwältigen. Mercedes hatte noch immer den Finger am Abzug. »Ich weiß auch, wer Sie sind«, rief sie zu Dusty hinunter, ebenfalls auf spanisch. »Señor Rice. Und Sie wollen an Pancho Villas Silber heran.« »Si, Señora«, konterte Dusty. »Genau wie Sie selbst.« »Muy bien.« Mercedes nickte. »Aber ich kenne das Versteck, und Sie kennen es nicht.« »Oh doch.« Dusty kam näher. »Dieser junge Amerikaner hat es mit seinem Vater gefunden. Und nun führt er mich dorthin.« »Wenn der Junge glaubt, er wüßte, wo das Silber ist, dann irrt er sich«, sagte Mercedes. »Er weiß nur, wo es war. Dort, wo ich es gestern fand. Nur schaffte ich es mit meinem Burro in ein neues Versteck. Stecken Sie das Messer weg. Dann können wir uns vielleicht – wie Sie das nennen – gütlich einigen.« »Okay.« Dusty steckte das Messer wieder in seinen Gürtel. »Dann sind wir ja quitt. Wir sind beide bewaffnet. Wenn Sie sich aber das Sil ber holen wollen, werden Sie meine Hilfe brauchen.« Er blickte zum Gipfel auf. »Das Feuerwerk da oben geht jeden Augenblick los.« Langsam kam er weiter heran. Den Jungen hielt er nun wieder in festem Griff als Schild vor sich hin. »Keinen Schritt weiter!« brüllte Mercedes auf spanisch. Doch die Gefahr war ihr zu spät klargeworden. Dusty sah die Frau starr an. Höhnisch grinste er. »Sie!« stieß er hervor. Nun sprach er wieder englisch. »Mit Ihrer 118
Mexiko-Perücke haben Sie mich erst mal gelinkt. Aber in diesen
blauen Augen täusche ich mich bestimmt nicht, Grace.«
Mercedes hatte vergessen, die dunklen Linsen wieder einzusetzen.
Und dann ging alles so schnell, daß keiner von ihnen mehr wußte,
wie ihm geschah.
Mercedes wollte ihre Waffe wieder heben. Da machte Dusty einen
raschen Schritt zur Seite und legte auf die Frau an.
Justus hörte einen Schuß.
Die Flinte sprang Dusty buchstäblich aus den Händen. Sie flog fünf
Meter weit durch die Luft und landete auf dem Felsboden. Stöhnend
hielt sich Dusty die verletzte rechte Hand.
Justus sprang vor und riß Dusty das Messer aus dem Gürtel.
Dann hörte er Hufegeklapper. Ascención kam den Hang heraufga
loppiert. Er hatte einen Colt 45 auf Dusty gerichtet.
»Das nächste Mal ziele ich nicht auf deine Waffe, sondern auf dein
Herz«, sagte er auf spanisch. Er sah zu Mercedes hinüber. Sie hatte
Dusty im Visier. Diesmal war das Gewehr entsichert.
»Nein«, gebot Ascención energisch. »Laß ihn gehen. Wenn du ihn
tötest, haben wir keine Zeit mehr, ihn zu begraben. Und das ist eine
Sünde. Einen Toten darf man nicht den Geiern überlassen.«
Er wandte sich wieder an Dusty. »Vaya! Los, abhauen!« brüllte er
den Rancher an. »Hol dir doch dein Silber!«
Dusty hielt sich noch immer die schmerzende Hand mit der Linken.
Er zögerte. Sein Gesicht war vor Wut und Haß verzerrt.
»Vaya!« befahl ihm Ascención nochmals. »Geh zu Pancho Villas
Höhle. Dazu brauchst du Brit nicht mehr. Es führen genug Spuren
dorthin.«
Der Rancher starrte Ascención an. Justus sah die Mordlust in seinen
Augen. Doch Dusty war machtlos. Das Verschlußstück der Waffe
war zerschmettert worden, als der Mexikaner sie ihm aus der Hand
schoß. Und das Messer hatte ihm Justus abgenommen. Dusty drehte
sich um und machte sich auf den Weg zu Villas Höhle.
Mercedes und Brit umarmten einander. Ascención stieg vom Pferd.
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»Dieses dumme Ding, das Funkgerät«, sagte er. »Gestern abend ist es mir zu Boden gefallen, und jetzt gibt es keinen Ton mehr von sich.« Justus sah zum Berggipfel hinauf Wieder quoll eine dicke schwarze Rauchwolke in die Höhe. »Wir müssen zu Peter und Bob«, sagte er. »Sie sind bestimmt noch in Brits Höhle. Wir müssen sie rausholen.« Ascención steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Gleich darauf kam ein zweites Pferd angetrabt. Justus erkannte Dustys Stute. »Ich fand sie weiter unten, festgebunden«, erklärte Ascención »Aber jetzt weg hier. Schnell.« Justus ritt Blondie, Mercedes ihren Burro. Für Brit kam Dustys Pferd wie gerufen. Mit Justus an der Spitze setzten sie sich in Trab, zu Brits Unterschlupf im Berg. Sie waren noch hundert Meter von der Höhle entfernt, als Justus einen Stich im Gesicht spürte, dann noch einen auf dem Arm. Eine Hand über die Augen haltend, schaute er in die Höhe. Es hagelte! Aus dem Himmel regnete es Hagelkörner in der Größe von Streichholzköpfen. Eines landete auf seiner Schulter und blieb dort hängen. Er wollte es abzupfen, aber es haftete fest an seinem T-Shirt. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, daß es kein Hagelkorn war, sondern ein Glaskügelchen. Es war so heiß wie ein Tropfen kochenden Wassers. Was passierte oben auf dem Berggipfel? Justus konnte es von hier nicht sehen. Aber es war zweifellos eine Katastrophe. Justus trieb Blondie zu schnellerer Gangart an. Da hörte er auch schon die beiden Pferde hinter sich in den Galopp wechseln. Eine Minute später hatten sie alle, samt Mercedes auf dem zweiten Burro, den Schutz eines überhängenden Felsvorsprunges erreicht und machten dort halt. Rasch holte Ascención unter seinem Sattel eine zusammengefaltete 120
Decke hervor. Dann zog er sein Messer und schlitzte den Stoff zu Streifen entzwei. »Geh los und such deine Freunde«, rief er Justus zu. Justus lief das letzte Stück am Hang hinauf und kroch in den Tunnel. In der Höhle lagen Peter und Bob Rücken an Rücken gekrümmt am Boden. Peter hatte es kurz zuvor geschafft, einen der Knoten an Bobs Knöcheln zu lösen. Jetzt versuchte er sich an Bobs Handgelenken. Schnell durchtrennte Justus mit Dustys Jagdmesser die Fesseln der beiden. »Und ich dachte, du wolltest uns eine Pizza besorgen«, beklagte sich Peter. Er streckte und massierte seine Arme und Beine. »Wo bleibt die denn?« Auch Bob reckte und streckte sich erleichtert. Verblüfft starrte er auf Justus’ Kopf »Ist das der neueste Modehit?« fragte er. »Glasperlen als Haarschmuck?« Justus fuhr sich mit der Hand übers Haar und versuchte, die Kügel chen abzustreifen. Sie waren inzwischen abgekühlt, ließen sich jedoch nicht mit den Fingern auskämmen. »Draußen hagelt’s heiße Glastropfen«, erklärte er. »Auf geht’s, Jungs. Wir müssen los!« Behende schlüpften die drei Jungen durch den Tunnel ins Freie. Der Glashagel hatte fürs erste aufgehört. Ascención gab ihnen lange Tuchstreifen. »Bindet euch das um den Kopf«, sagte er. »Vielleicht könnt ihr auch eure Arme und Hände damit schützen.« Er und Brit trugen bereits einen turbanartigen Kopfschutz. Mercedes hatte ihr großes Tuch über Kopf und Schultern gelegt. »Vamos«, rief Ascención Das verstanden sie alle. Weiter! Schnell stieg Peter hinter Brit aufs Pferd, und Bob setzte sich hinter Ascención Diesmal über nahm der Mexikaner die Führung. Auf dem gewundenen Pfad lenkte er sein Pferd bergab. Als sie zu einer im rauhen Felsgelände eingeschnittenen gangbaren Rinne kamen, ging es darin zügig abwärts. Hinter sich hörten sie jetzt ein dumpfes Grollen. Es klang wie ferner Donner. Der Schwefelgestank war so penetrant, daß sie kaum atmen konnten. 121
Und dann geschah es. Sie hatten sich knapp einen Kilometer von der Höhle entfernt, da kam es mit gewaltigem Getöse zum Vulkanaus bruch. Eine hohe Fontäne rotglühender Lava wurde senkrecht aus dem Berg geschleudert und stürzte wieder in sich zusammen. Dann aber spie der Vulkan immer neue Glutmassen aus – immer höher, wie riesige Feuerwerksraketen. Mit ohrenbetäubendem Knall riß es Lavabomben aus dem Krater hoch. Sie krachten ringsum auf den Fels nieder, und glühende Gesteinsbrocken spritzten nach allen Seiten weg. Die feurigen Geysire aus dem Krater schossen mehr als hundert Meter hoch in die Luft, bogen sich wieder zur Erde, ergossen sich zähflüssig über die Bergflanke. Glühende Lavarinnsale schossen in allen Richtungen zu Tal, mündeten ineinander ein und schwollen zu Flüssen aus Feuer an. Von überhängenden Bergnasen aus prasselte die Lava in senkrechtem Schwall in die Furchen der Felshänge herunter. Auf die Flüchtenden begann heiße Asche herabzuregnen, vermischt mit glühenden Glastropfen. Ein jäher Hagel kleiner und größerer Lavaklumpen erschreckte die ungeschützten Pferde und Burros. Ascencións Pferd scheute und stieg auf die Hinterhand. Immer wieder bäumte es sich so ungebärdig auf, daß Ascención es kaum zügeln konnte und Bob sich mit beiden Armen an dem Mexikaner festhalten mußte. »Bring Blondie her«, schrie Ascención zu Justus zurück. Justus trieb den kleinen Burro zu einem Kantergalopp an. »Zwischen die Pferde!« rief Ascención »Das wird sie beruhigen.« Justus holte tief Atem und trieb dann Blondie energisch in die schmale Gasse zwischen den beiden in Panik geratenen Pferden. Allmählich wurden sie ruhiger. Blondie trabte nun wieder stetig dahin, und sie folgten gehorsam. Nach einer starken Windbö ließ der glutheiße Hagelschauer nach. Justus bekam noch einen kräftigen Schwall Schwefeldunst ab und hielt sich einen losen Streifen seines Kopfschutzes vor Mund und Nase. Gegen die freie Natur, gar gegen die Wildnis, hatte er schon 122
immer Mißtrauen gehegt. Und nun wußte er, daß dies berechtigt war. Wie sollten sie dem Inferno lebend entrinnen? Einmal schaute Bob zurück. Schmale und breite Rinnsale rotglühender Lava näherten sich nun bedrohlich schnell von oben. Überall flohen Vögel und kleine Säugetiere vor den Feuerzungen. Sträucher gingen in Flammen auf, noch ehe die Glut sie erreicht hatte. Als die vielarmigen Ströme sich von oben immer näher an die Reiter heranwälzten, hörte Bob ein eigenartiges Splittern und Knacken, wie wenn Glas zerspringt. Das war’s dann, dachte er. »Wenigstens fahren wir stilvoll zur Hölle«, rief er Peter zu. »Recht hast du«, erwiderte Peter. »Die gewöhnlichen Sterblichen trifft kein Vulkanausbruch.« Die beiden Reiter wandten den Kopf zum Berghang zurück. Von der Gluthitze der unablässig vorrückenden Lavamassen brannten ihnen die Augen, aber sie zwangen sich dazu, den Blick nicht abzuwenden. Das Knacken und Klirren wie von berstendem Glas wurde lauter. Eine jähe Hoffnung durchzuckte Bob. Nun begann sich nämlich auf dem todbringenden Glutfluß eine starre, schwarze Kruste zu bilden. Die Lavaströme ergossen sich auch nicht mehr zügig über den Boden, sondern schoben sich langsamer und stockend dahin und hielten dann sogar kurz inne. Noch einige Meter quoll die zähe, doch fast schon erstarrte Masse hangabwärts, und dann kamen ihre Ausläufer endgültig zum Stillstand. Bald darauf rieselten auch keine heißen Asche- und Glaskörner mehr auf die flüchtenden Pferde und Burros samt ihren Reitern herunter. Nun befanden sie sich in sicherer Entfernung. Sie waren dem Gefahrenbereich des Vulkanausbruchs entkommen! Noch wenige hundert Meter, und die Gruppe hatte das Tal erreicht. Schnell durchquerten sie es unter Ascencións Führung und ritten in das Hügelland vor dem nächsten Gebirgszug hinauf. Dort hielten sie ihre Tiere kurz an. Alle husteten wegen der ätzenden Gase, die sie hatten einatmen müs 123
sen. Nun reckten sie sich im Sattel hoch auf und füllten die Lungen mit guter, frischer Luft. Dann wandten sich wieder dem Vulkanberg zu und schauten hinüber. Ascención sah ihn als erster. Er hob den Arm und zeigte ihn den anderen. Drüben am fernen Hang befand sich ein Mensch in Gefahr. Eine einsame Gestalt sprang in großen Sätzen über das Gestein zu Tal, kam ins Stolpern, richtete sich wieder auf – offensichtlich auf der Flucht von Villas Höhle her. Lavaströme – vermutlich von einem weiteren Ausbruch des Vulkans – ergossen sich vom Gipfel über diese Flanke des Berges. Gerade hatten sie den Sims vor einer steil abfallenden Felswand erreicht. Einen Augenblick lang hing der Glutfluß in zähen Klumpen über der Kante in der Schwebe. Dann stürzte der Schwall in die Tiefe hinab – eine tödliche Kaskade. Bei den besonderen Schallverhältnissen im Gebirge konnten sie es deutlich hören, und der Widerhall an den Felswänden sandte noch das Echo zu ihnen herüber – Dustys Todesschrei. Dann wurde er von einem Strom glühender Lava zu Boden gerissen. Die vier Jungen mußten die Augen schließen. Dustin Rice war ein brutaler Verbrecher, und er wäre vielleicht gar zum Mord fähig gewesen. Aber sie hatten ihn gekannt, sie waren auf der Ranch seine Gäste gewesen und hatten unter freiem Himmel mit ihm kampiert. Und noch keiner der vier hatte miterlebt, wie ein Mensch gewaltsam ums Leben kam. Sie waren tieferschüttert. Sie öffneten die Augen wieder, aber noch lange zitterten sie vor Entsetzen. Ascención bekreuzigte sich und murmelte ein spanisches Gebet vor sich hin. »Ich hatte dich gewarnt«, sagte er schließlich mit einem Blick hinüber zu Justus. »Ich hatte euch alle vor den Gefahren der Berge gewarnt.« Dann ritten sie weiter, auf dem Hügelkamm des Vorgebirges entlang. Mercedes kam dicht an Ascención heran. »Es tut mir so leid, alter Freund«, sagte sie. »Wenn Tom und Brit den 124
Silberschatz geborgen hätten, dann hättest du deine Ranch zurück
kaufen können.«
»Quién sabe – wer weiß das schon . . .« meinte Ascención mit einem
Schulterzucken. »Vielleicht fällt mir nun meine Ranch ohnehin
wieder zu.« Er lächelte auf seine gelassene mexikanische Weise.
»Als meine Mutter mir von Villas Höhle erzählte«, setzte er hinzu,
»da sagte sie auch, kein Mensch würde jemals diese Pesos finden.
All die gefallenen Soldaten aus Villas Armee würden sie bewachen.«
Er hielt kurz inne.
»Meine Mutter hatte immer recht.«
125
Burros lieben die Freiheit Auch nachdem die Reiter den Gefahrenbereich längst hinter sich gelassen hatten, mußten sie sich noch meilenweit im Bogen um den Fuß des Vulkangebirges bewegen. Ihr Ziel war das Dorf, das geschützt in der Ebene vor der jenseitigen Flanke lag. Sie redeten nicht viel. Selbst Justus war innerlich zur Ruhe gekom men. Die letzten Puzzleteile hatten sich ins Ganze gefügt. Mercedes hatte die Geschichte von Villas Schatz ursprünglich von Ascención erfahren. Sein Großvater hatte im Jahre 1916 in Pancho Villas Armee gekämpft. Mercedes hatte ihrem treuen alten Freund versprochen, die silbernen Pesos mit ihm zu teilen, sofern ihr Mann und ihr Sohn sie finden konnten. Vor Dusty hatten sie dies erfolgreich geheimhalten können, bis Brit mit dem blinden kleinen Burro wieder auf der Ranch aufgetaucht war. Als der Junge Ascención berichtet hatte, er hätte mit seinem Vater Villas Höhle entdeckt, waren die beiden von Dusty heimlich belauscht worden. Daraufhin hatte Dusty den Plan gefaßt, sich mit Blondies Hilfe selbst auf Schatzsuche zu begeben. Justus war noch immer entsetzt Über das gewaltsame Ende des Ranchers. Doch Dusty war die eigene Habgier zum Verhängnis geworden. Hätte er nicht mit dem Mut der Verzweiflung versucht, in einem letzten tollkühnen Anlauf die Pesos zu erbeuten, so wäre er noch am Leben. An einem Bach machten sie Rast, damit die Tiere trinken und grasen konnten. Aus der Ferne hörte Justus eigenartige Laute – das mußten Burros sein. Blondie erwiderte den Ruf und trabte eifrig weiter. Als sie aus dem Wald in freies Gelände kamen, drangen die Schreie laut und deutlich an ihre Ohren. Hier waren die Hügel zumeist mit Gras bewachsen. Und auf diesen 126
Weiden tummelte sich munter eine versprengte Herde von mehr als hundert Wildeseln. Blondie blieb stehen. Ihre langen Ohren waren steil aufgerichtet und zuckten vor Erregung. Sie stieß ihren hellen, lauten Eselschrei aus. Justus glitt von ihrem Rücken herunter. Er nahm ihr das Halfter und den Zaum ab und tätschelte ihr den Hals. Blondie sah ihn aus ihren großen, sanften Augen an. Sie rieb die Nase an seiner Brust, als wollte sie ihm dafür danken, daß er sie wieder in ihre Heimat gebracht hatte. Dann trottete sie zu Brit hin, der noch im Sattel saß, und stupste ihn mit dem Maul am Fuß. Er bückte sich und kraulte sie in der Stimmähne. Und dann galoppierte Blondie davon, um sich zu ihren wilden Artge nossen zu gesellen. Justus stieg hinter Mercedes auf den Pferderücken, und zügig setzte die Reiterschar ihren Weg fort. Wenn sie sich beeilten, konnten sie das Dorf noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Von dort aus konnte Brit dann seinen Vater in Chihuahua anrufen und ihm berichten, daß er und seine Mutter in Sicherheit waren und daß sie mit Ascención im Dorf auf ihn warten würden. Die drei ??? würden am nächsten Tag die lange Busfahrt mit mehre ren Zwischenstopps antreten – Endstation Rocky Beach. »Wir treffen uns mal in L.A.«, versprach Bob seinem neuen Freund. Er würde nun mit Brit auf Dustys Pferd weiterreiten. »Dann hören wir uns Rockkonzerte an und machen uns ein paar schöne Tage mit den Jungs von den Gruppen.« »Super«, sagte Brit. »Ich kenne zwei nette Mädchen in L.A. Vielleicht können wir zu viert ausgehen.« »Mal sehen.« Bob hatte eine dunkle Ahnung. Nach seiner Rückkehr würde er sich wohl zunächst wieder seinen eigenen Freundinnen widmen müssen. Peter, der mit Ascención ritt, dachte an Kelly. Er hatte ihr gesagt, er würde mindestens zwei Wochen lang unterwegs sein. Ob es sie wohl freute, wenn er nun schon nach zehn Tagen wieder ankam? Jeden 127
falls war ihr dann weniger Zeit geblieben, um ihn zu vergessen. Und zum Abschied hatte sie ihm immerhin ein T-Shirt mit ihrem Namen geschenkt. Hey, Kelly, dachte er. Warte nur, bis du zu hören bekommst, wie ich einem feuerspeienden Berg entronnen bin. Justus mußte an Bohnen mit Reis denken. Nie wieder im Leben würde er auch nur einen Blick an eine Bohne oder ein Reiskorn verschwenden. Er wußte, daß er mindestens fünf Kilo abgenommen hatte, doch dieses fade Einerlei hatte er gründlich satt. Er konnte es kaum abwarten, endlich wieder eine Tomate und knackigen Salat mit würziger Soße zwischen die Zähne zu bekommen. Als erstes würde er freilich seinen Freunden und sich selbst eine saftige große Pizza spendieren müssen. Die hatten sie sich alle verdient. Peter sah Bob an, als die beiden Pferde einander nahekamen. Die beiden Worte auf Bobs Shirt trafen den Nagel auf den Kopf. THE SURVIVORS. Die Überlebenden.
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