Die Dunkle Arche Version: v1.0
Der Korridor war breit wie ein Eisenbahntunnel. Seine Wände bestanden aus einer glatten...
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Die Dunkle Arche Version: v1.0
Der Korridor war breit wie ein Eisenbahntunnel. Seine Wände bestanden aus einer glatten, undefinierbaren Masse. Es gab weder Licht noch Dunkel; zumindest vermoch ten Duncan Luther und George Romano, die beiden so unterschiedlichen Toten, problemlos darin zu sehen. Was sie sahen, war ein in Wegrichtung leicht geneigter Korridor, lang wie die Ewigkeit, der hie und da finstere Torausgänge besaß – Schlupflöcher in die Epochen. Vom fernen Ende dieses Korridors aber lockte etwas Unwiderstehliches und erfüllte die Wanderer durch die Zeit mit bitterer, zwanghafter Sehnsucht …
Was bisher geschah In einem rumänischen Dorf, das Lilith vor wenigen Wochen von der Knecht schaft einer Vampirsippe erlöste, trifft die Halbvampirin auf eine Dienerkrea tur, ein Mädchen namens Laila. Sie überlebte als einzige, als Lilith die gute Vampirin Fee aus den Klauen der Sippe befreite, und terrorisiert nun das Dorf. Laila hat sich mit einem Artefakt der Sippe bewaffnet: einem Schlangenstab mit magischen Eigenschaften. Als Lilith ihn berührt, erlebt sie die blutrünstige Visi on einer »Dunklen Arche« – ohne viel mit dem Begriff anfangen zu können. Sie tötet Laila und kehrt mit dem Artefakt nach Tokio zurück, wo sie zusammen mit Beth Zuflucht gefunden hat. Kurze Zeit später bittet der Geist einer schwangeren Vampirin, sozusagen eine Vorgängerin von Creanna, Lilith um Hilfe. Sie wurde von Landru einst an ein Grab gebannt, am Leben erhalten von der Seele des halb menschlichen Kin des, das nie zur Welt kam. Wieder erfährt Lilith Einzelheiten über das LICHT, das auch hinter ihrer eigenen Existenz zu stecken scheint, bevor sie die Leiden de erlöst. Beth hat den Schlangenstab unterdessen eigenmächtig dem Sammler Tomaso zukommen lassen, der seine Herkunft bestimmen soll. Doch die Magie des Sta bes zwingt den Mann, das Opferinstrument zu benutzen: Er mordet und stiehlt die Herzen der Leichen. Bevor Lilith den Sammler stoppen kann, sind die To kioter Vampire auf ihn aufmerksam geworden. Zwar kann Lilith das Artefakt wieder an sich nehmen, doch Tomaso fällt in die Hände der Vampire. In Sydney beginnt unterdessen eine Entwicklung, die an die Anfänge von Li liths »Wirken« zurückreicht: Das Haus, in den sich die Kraft des LICHTS mani festiert hat, vereint die Seelen von Jeff Warner, Esben Storm und Virgil Codd zu einem unheimlichen Wesen, das nun, da die Zeit von Liliths einhunderts tem Geburtstag naht, das nachholt, was sie aus Menschlichkeit versäumte: Das Wesen sucht Liliths Opfer auf – und tötet sie, damit ihr spezieller Keim wirk sam werden kann! Gleichzeitig läuft Beth in Tokio in eine Falle der Vampire. Damit hat das Ver steckspiel ein Ende; Lilith muß erneut fliehen. Beth, von Warner/Storm/Codd (rechtzeitig?) aus der Gewalt der Vampire befreit, begleitet sie …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter des Menschen Sean Lancaster und der Vampirin Crean na. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vam pirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Der Scout – Ein magisches Tattoo in Liliths linker Hand, das sie vom Körper lösen und durch dessen Augen sie sehen kann. Doch was man dem Scout zu fügt, spürt auch sie. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilien kelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestoh len wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Ge burt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Men schen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trin ken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedin gungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Der Mensch – ein Exempel der beispiellosen Geduld der Natur. Christian Morgenstern »Ich wüßte zu gern, was uns zwingt, in diesem Gang zu bleiben und seinem Verlauf zu folgen«, sagte Romano dumpf. Er hatte sich im mer noch nicht völlig von dem Vorfall erholt, der ihren Aufenthalt im Ägypten des Pharao Amenophis IV. so abrupt beendet hatte. Wenn sie nicht in den Korridor zurückgekehrt wären, hätten sie sich in Nichts aufgelöst.* Ein unheimlicher Effekt – und eine erschreckende Erfahrung. Auch Duncan Luther war davon betroffen gewesen. Aber er hatte sich von der scheinbaren Auflösung seiner Substanz weit besser er holt als Romano. Er ahnte, warum. Er war anders. Und er hätte um nichts in der Welt mit Romano tauschen mögen, obwohl ihre Schicksale einander, zumindest oberflächlich betrachtet, so sehr ähnelten. »Es ist alles so hoffnungslos«, redete der Leichnam an seiner Seite weiter. »Die Gewißheit, tot zu sein. Daß mein Herz nicht mehr schlägt. Wenn ich schweige, ist mein Körper still wie ein Grab. Ich weiß nicht, wie die Worte, die ich ausspreche, ohne Atem entstehen können. Ich weiß nicht, wie das Denken in meinem Gehirn abläuft, wo doch weder Blut noch Sauerstoff darin zirkulieren …« Er ver stummte. Duncan fröstelte. Er kannte Romanos Geschichte – eine Tragödie, von Blut und Gewalt geprägt. Und von der Begegnung mit einer *siehe VAMPIRA 29: ›Das dunkle Tor‹
einzigartigen Frau, deren Name Lilith war … Im Grunde, soviel hatten sie beide erkannt, war die Halbvampirin schuld an diesem Aufbruch ins Ungewisse. Luther war von Lilith gebissen worden, und Romano hatte ihr Blut aus einem Reagenzglas getrunken. In beiden Fällen hatte die Verän derung aber erst unmittelbar nach ihrem Tod eingesetzt. Es mußte ein Keim sein, der erst dann aktiv geworden war und falsches Leben in die Körper zurückgezwungen hatte. Duncan dachte mit Schaudern daran, wie er gestorben war, in Neu-Delhi, Indien. Vampire hatten ihn überfallen, ihm das Rückgrat gebrochen und … Ja, was? Irgend etwas war mit ihm geschehen, von dem er nichts wußte und mit dem er bis heute nicht umzugehen verstand. Er war gestorben, und doch fühlte er mit jeder Faser seines Körpers, daß er lebte. Anders als Romano atmete er, brauchte Nah rung, ertrug das Sonnenlicht. Er war keine Dienerkreatur – aber was dann? Auch Lilith hatte dies nicht verstanden … Seine Einstellung zu der Frau, in die er einmal verliebt gewesen war, hatte sich grundlegend geändert, ohne daß er den Unterschied jedoch in Worte hätte fassen können. »Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte er an Romano gewandt. »Bald werden wir eine Antwort auf unsere Fragen und Zweifel er halten. Ich glaube fest daran!« Romano winkte ab. Dabei bemerkte Luther, daß Mittel- und Ring finger des Toten immer noch jene seltsame Transparenz aufwiesen, als befänden sie sich in einer anderen Dimension als der Rest seines Körpers. Duncan verzichtete, darauf einzugehen. Es hätte neue, ergebnislo se Debatten nach sich gezogen. Statt dessen begann er, sich um sich selbst zu sorgen. Um seinen
Hunger. Sein Organismus, das hatte sich in vielen Details gezeigt, war im Vergleich zu früher bedeutend anspruchsloser geworden. Aber er konnte immer noch nicht, wie es bei Romano der Fall war, völlig auf Nahrungsaufnahme verzichten. Da sich auch in weiter Ferne kein Ende des Korridors abzeichnete, würde er bald etwas unternehmen müssen. Je eher, desto besser. »Ich muß mir bald Proviant besorgen«, sagte er, »und das kann ich nur hinter einem der Tore.« Romano blieb stehen und sah ihn schweigend an. Seine Miene ver riet Duncan, was er dachte. Seltsam, fuhr es ihm durch den Kopf. Können Tote Angst empfinden? Ein bizarrer Gedanke; und ein weite rer, über den nachzudenken sich nicht lohnte. »Ich werde allein gehen«, fuhr er fort. »Offenbar ertrage ich die Welt jenseits der Tore besser als du. Du kannst hier im Korridor warten. Es wäre überflüssig, dich erneut der Gefahr auszusetzen. Ich besorge mir genügend Proviant und komme so schnell als mög lich zurück …« Der bestürzte Ausdruck in Romanos Zügen wich langsam wieder der Apathie. Er nickte. »Du hast recht; das wäre nicht gut für mich …« Duncan war erleichtert über seine Einsicht. Als das nächste Tor schwarz und unheimlich auf der rechten Seite des Ganges sichtbar wurde, trennten sie sich ohne übertriebenen Abschied. Es war pure Notwendigkeit … … und führte direkt in eine Katastrophe – eine Zeit, beklemmen der als die düstersten ihrer Ängste und Visionen …
*
Susa, diesseits der Berge … Mizrajim verließ seines Vaters Haus zur zweiten Nachtwache und hetzte mit klopfendem Herzen dem nahen Gebirge entgegen. Manchmal mußte er stehenbleiben, weil sich brodelnde Wolken vor die Gestirne schoben und kaum mehr die eigene Hand vor Au gen erkennen ließen. Dann kam jener sonderbar bedrohliche Wind auf, der eisig durch das Gewand pfiff – und im nächsten Moment Gluthitze mit sich trug, als wollte er das ganze trockene Land ent zünden. Mizrajim schauderte. Es war eine schlimme Zeit. Überall flammte Gewalt auf, und vie lerorts hatten blutige Fehden ganze Familien ausgelöscht. Sein Zu hause erschien ihm manchmal wie eine der letzten Inseln in einem reißenden, unaufhaltsam dem Abgrund entgegenfließenden Strom. Aber nicht einmal mehr darauf war Verlaß, seit sein Vater, der ru hende Pol, ohne Begründung fortgegangen war und Mizrajims Mut ter nur noch gramgebeugt herumlief … Als er erneut stehenbleiben mußte und darauf wartete, daß sich sein Puls beruhigte, glaubte er, in der Richtung, aus der er gekom men war, ein Licht auflodern und wieder verlöschen zu sehen; so als hätte jemand vergeblich versucht, eine Lampe in Gang zu setzen. Mizrajim hoffte, sich geirrt zu haben, denn die Enge, in der er mit Eltern, drei Brüdern und deren Frauen hauste, verhinderte eigent lich ein Geheimnis wie jenes, dem er gerade folgte und das er zu wahren versuchte. Er hatte eine dringende Notdurft vorgetäuscht, um sich wie der gemeinste Dieb davonstehlen zu können. Entdeckte man sein Ver schwinden, würde er bei seiner Rückkehr ins Kreuzverhör genom
men werden – soviel stand fest! Mit einem aus der Tiefe seiner Kehle steigenden Laut verscheuchte er solche Sorge und hastete weiter dem Ort entgegen, den er von Kindheit an kannte. In den verzweigten Höhlen des Gebirges hatte er viel Zeit verbracht. Es war ihm jedoch nie gelungen, seine Ängste ausreichend im Zaum zu halten, um auch den finstersten Schächten bis zu deren Ende zu folgen und zu ergründen, wie es dort aussah … Wenn er darüber nachdachte – und auch dies versuchte er zu ver meiden –, warum es ihn dorthin drängte, fand er keine Antwort. Es war, als riefe ihn jemand. Jemand Wichtiges. Jemand, den er besser kannte als sich selbst – ohne sagen zu können, wer er war. Mizrajim strauchelte, als ihn eine Böe mit voller Wucht von vorn ins Gesicht traf. Er schrie erstickt, als sich der heiß-kalte Atem dieser Nacht in seine Lungen preßte und sich dort festzukrallen schien, als wollte er den Körper des schlanken, hochgewachsenen Mannes nie mehr verlassen. Mizrajim riß den Mund auf, weil er sich sekundenlang außerstan de fühlte, Luft in sich hineinzusaugen. Sein Brustkorb schmerzte, als wollte er zerspringen. Dann fielen ein paar warme Regentropfen auf ihn herab und be netzten sein scharfgeschnittenes Gesicht mit der kühn vorspringen den Nase – und plötzlich konnte er wieder frei atmen. Er schöpfte Luft wie ein Ertrinkender. Der drängende Ansporn in ihm erwachte neu und, wie es schien, stärker als zuvor. So schnell er es vermochte, eilte er weiter durch die Nacht. Erst als vor ihm die Umrisse der zerklüfteten Felslandschaft höher aufwuchsen, verlang samte er seinen Schritt und schüttelte benommen den Kopf, wäh rend er sich die dunklen, schulterlangen Haare raufte. Was tue ich hier?
Warum bin ich fortgerannt von … »Mizrajim?« Nicht einmal seines Bruders Weib, von dem er manchmal träumte, weil er selbst noch nicht die rechte gefunden hatte, besaß eine solch verführerische Stimme. »Wer ruft da?« fragte er, weil er niemanden erkennen konnte. »Komm zu mir!« »Wohin?« »Du weißt, wohin …« Plötzlich erinnerte er sich wieder, wie er ihr gegen Mittag des ver gangenen Tages beim Schafehüten begegnet war: einer Frau, so groß wie er, schlank und mit einem beunruhigenden Blick, der bis in sein Innerstes drang. Sie war auch nicht gekleidet wie die Frauen, die er sonst kannte. Nichts an ihr hatte Gottesfurcht verraten … Ja, dachte er. Ich weiß, wohin. Seine Füße stolperten weiter. Die Wolken rissen auf. Der Mond goß graues Licht auf grauen Fels, und irgendwann gähnte vor Miz rajim der Schlund eines Höhlenschachts. Er warf sich förmlich hinein und hing in der Schwärze wie eine Fliege im Spinnennetz … Bis ihn etwas bei der Hand nahm und er schlagartig zu zittern auf hörte. Die Frauenhand gab ihm Mut und Zuversicht. Und sie weckte nicht für möglich gehaltene andere Empfindungen. »Sei unbesorgt und folge mir.« »Wohin?« »Du wirst erwartet.« »Von wem?«
»Möchtest du nicht lieber wissen, wer ich bin?« »Doch!« Dieses Lachen … So dunkel, verführerisch und vielversprechend … »Geduld.« Fremde Finger streichelten kurz seine eigenen, und vor ihm glomm ein Licht auf. Der Boden unter Mizrajims Füßen wurde vage sichtbar. Er erkann te die Frau neben sich als jene, die er draußen auf dem Feld getrof fen hatte – ohne daß sein Gedächtnis aber preisgab, was dort sonst noch geschehen war. Ein Gewölbe, von rauchlosem Feuer erhellt, öffnete sich vor ihm. »Ist er das?« fragte eine Stimme, ganz anders als die der Frau: un heilvoll und herablassend. »Ja.« »Ich rieche seine Schwäche!« »Ich auch. Deshalb ist er der Richtige …« In Mizrajim krümmte sich etwas, als er sie so über sich reden hör te. Ihn würgte, weil er die unsichtbaren Fesseln spürte, die ihn hiel ten. Am liebsten wäre er davongerannt. Der Mann vor dem Feuer sah noch älter aus als Mizrajims Vater – und sehr viel erschreckender. Er schien blind, denn in den Augen schwamm nur ein schmutziges Weiß, und das Haar war von eben solcher Farbe. Auch seine Art, sich zu kleiden, unterschied sich von der allgemein verbreiteten. Sie war körperbetonter. Die Grundlage schienen Tierhäute zu sein, jedoch so verfälscht, daß sie kaum noch als solche erkannt werden konnten. Mizrajims Demütigung ging weiter. »Hältst du ihn für intelligent?« fragte der Blinde. »Nicht für sehr«, gab die nur in Lendenschurz und Brusttuch
gehüllte Schöne mit den langen, gazellenhaften Beinen zur Antwort. Diesmal gelang es ihm fast, seine Fäuste zu ballen. Fast … »Hältst du dich für intelligent?« wandte sich die am Boden kauern de, dürre und blinde Gestalt an Mizrajim, als könnte sie doch sehen – oder ihn auf unheimlichere Weise durchschauen. »Ja!« krächzte Mizrajim. »Doch wer gibt euch –« Die Geste des Alten schnitt ihm brüsk das Wort ab. »Komm her! Tritt näher, bücke dich und lege deine Hände in das Feuer!« Er ist verrückt, dachte Mizrajim, aber dann beobachtete er voller Entsetzen, wie er sich gehorsam dem Befehl fügte und … Das Feuer tat nicht weh. Es war von lauer, schmeichelnder Wär me, und es wanderte von den Händen weiter über Arme und Rumpf, bis es Mizrajims Körper vollständig umschloß, ohne daß es ihn jedoch verzehrte. Das einzige, was sich änderte, war sein Widerstand. Mizrajim wurde vollkommen willenlos. Sein Gesicht schwebte neben dem des Alten, und dessen blinde Augen schienen jeden Gedanken in sich hineinzusaugen, während die Höhle mit der Frau verschwamm und in den Hintergrund rückte, als hätte es beide nie gegeben. »Du bist Noes Sohn?« Mizrajim öffnete den Mund zu einem Ja, das ihm wie der pure Verrat vorkam. »Du weißt, wo er sich aufhält?« Nein. Mizrajim war nicht sicher, ob er die Antworten tatsächlich aus sprach oder nur dachte; jedenfalls schienen sie auf geheime Weise bei dem dahockenden Alten anzukommen. »Er wird zurückkehren. Ich habe die Zukunft gesehen. Er wird zu
rückkehren und das Ende verkünden!« Das Ende …? Der Gedanke zerstob in den weißen, toten Pupillen. »Auch du wirst zurückkehren. Du wirst mein Ohr und mein Auge sein. Ich erhebe dich zu etwas, das du nicht verdienst!« Die Stimme des Alten schwoll immer mehr an. Mizrajims Blick fla ckerte wie das Licht, das er unterwegs gesehen hatte, bevor es ganz erlosch. »Du gehörst mir!« sagte der Alte weiter. »Du wirst erst wieder frei sein, wenn es mir gefällt – oder nie mehr! Wie findest du das, armse liger Menschenwurm?« Mizrajim fühlte sich trotz des Feuers, das ihn aurenhaft umfloß, steinkalt. Wer – bist – du –? dachte er. Dann beugte er sich tiefer über die Flammen, die den Blinden zu wärmen schienen, und umarmte dieses schreckliche Wesen, dessen Finger über Mizrajims Körper schabten, ihm das Gewand entzwei rissen und neidvoll die jugendliche Haut prüften. Dabei stieß der Alte erregte Laute aus, die seinen Leib erschütterten und Mizrajim den Eindruck vermittelten, die Ehrfurcht vor seiner Jugend könnte sich jeden Moment in Haß und Niedertracht verwandeln. Etwas drang schmerzhaft in sein Fleisch. Fingernägel – oder Zäh ne. Mizrajim wollte den Alten von sich stoßen, aber in Wahrheit zog er ihn noch enger an sich heran. Als könnte er ihn zur Erwiderung der eigenen, gerade entflammten Zuneigung zwingen. Dann schluchzte er glückselig, weil der Alte seinen verdorrten Mund schmatzend wie ein Blutegel auf Mizrajims Hals niedersenk te.
Mizrajim stöhnte lustvoll. Aber ihn graute vor sich selbst, als sein Blut unaufhaltsam in den Alten strömte …
* Zur gleichen Zeit, jenseits der Berge … Auch dieser zweite Toraustritt war ein überwältigender Akt. Im ersten Moment glaubte Duncan Luther, wieder im Palast von Amenophis zu stehen. Doch schnell verwarf er diesen Gedanken. Anders als in der Residenz des Pharao dominierte hier schlichte, nackte Roheit die Ziegelmauern. Jedoch gab es Nischen und Pilaster, von denen die Eintönigkeit etwas unterbrochen wurde. Luther bewegte sich unsicher. Es gefiel ihm, seine Schritte zu hö ren. Absonderlicherweise hatte er innerhalb des Korridors große Mühe, an die eigene Lebendigkeit zu glauben. Dies unterstrich, wie gering sein Wissen über die wahre Beschaffenheit des Ganges war. Denkbar war, daß alle Ausgänge in der Pharaonenzeit endeten. Noch gab es keinen stichhaltigen Beweis, warum die Tore in ver schiedene Epochen der Menschheitsgeschichte führen sollten. Unge klärt war außerdem, ob der Korridor temporäre oder räumliche Ausdehnung besaß. Verlief er linear unter irakischem Boden – oder endete das Räumliche schon unmittelbar jenseits der Schwelle, die sie zu dritt im Wüstensand bei Uruk freigelegt hatten? Bewegten Romano und er sich entlang einer Irrealität? Waren sie überhaupt im Ägypten des Amenophis IV. gewesen – oder sugge
rierte dieser unfaßbare Korridor ihnen diese Erlebnisse nur? Was wäre geschehen, wenn Romano und er die Geschichte wäh rend ihres Aufenthalts im Pharaonenreich verändert hätten? So kraß verändert, daß die Gegenwart, aus der sie aufgebrochen waren, in der ihnen bekannten Form nie zustande gekommen wäre? Sie selbst wären vielleicht nie gezeugt worden, nie mit Lilith zusammenge troffen, nie nach Uruk gegangen … und hätten nie die Geschichte verändert …? Wahnsinn! Jemand klatschte heftig in die Hände. Duncan Luther wirbelte er schrocken herum. »Wie kommst du in mein Haus, Fremder?« erkundigte sich eine sanfte, fast feminine Stimme. Die Gestalt, die energischen Schrittes näherkam, war jedoch zwei fellos ein Mann. Er trug einen Bart, der sein Gesicht unvorteilhaft verfinsterte und – traute man der Stimme mehr – offenbar falsches Zeugnis über seinen Träger ablegte. Gekleidet war er in eine dunkle Tunika, die von einem reich verzierten Gürtel zusammengehalten wurde. Eine zusätzliche Stoffbahn hing an den Ärmeln des Gewan des herab, und ein reich bestickter, wollener Kopfschmuck bedeckte sein Haupt. Duncan hatte keine Mühe, den Besitzer des Hauses zu verstehen, was ebenfalls ein Phänomen des Korridors und seiner Ausgänge zu sein schien. Etwas präparierte die Benutzer der Tore für die jeweili gen Gegebenheiten … »Ich – habe mich verirrt«, sagte Luther rauh. »Ich bitte um Verzei hung, denn ich wollte bestimmt nicht –« »Nein, bestimmt nicht«, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. »Jeman den wie dich habe ich noch nie gesehen. Du mußt von sehr weit her kommen.«
Duncan nickte. Dabei hatte er nicht das unbedingte Gefühl, daß seine Geste verstanden wurde. »Ja«, fügte er hinzu. »Ich fühle mich schwach. Vielleicht habe ich Fieber. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den … Namen dieser Stadt …« »Fieber …« Die Miene des Mannes im Halbdunkel blieb unbe wegt. »Ich könnte dir bei der Vertreibung der Dämonen aus deinem Leib dienlich sein«, sagte er schließlich. »Ein enger Freund von mir ist angesehener Geisteraustreiber. Folge mir zunächst in meine pri vaten Gemächer. Dort können wir über alles reden. Ich bin neugie rig, was du zu berichten hast. Du kannst unmöglich allein von so weit her gekommen sein. Seltsam, daß ich nichts von eurer Ankunft erfuhr …« Duncan Luther spürte, wie sich seine Gedanken allmählich auf klarten und er den Ort, an dem er sich jetzt befand, als Wirklichkeit zu akzeptieren begann – eine unverzichtbare Voraussetzung, um auch damit umgehen zu können. »Wie heißt du?« fragte der Hausbesitzer. »Duncan.« »Schön, Dang-K’n, nimmst du mein Angebot an? Ich heiße Khorsabad, ich bin ein Händler. Das, was du hier an Reichtum siehst, ist die Frucht harter, entbehrungsvoller Arbeit.« Er wandte sich um und schritt gemessen den Weg zurück, den er gekommen war. Offenbar stellte sich ihm die Frage, ob »Dang-K’n« ihm folgen würde, überhaupt nicht. Reichtum … Duncan lächelte matt, fast milde, während sein Blick ein letztes Mal durch den schmucklosen Raum glitt, um sich die Stelle einzuprägen, an der die Torpassage stattgefunden hatte. Dann eilte er Khorsabad hinterher.
*
»Ich fühle keine Hitze«, sagte Khorsabad, »aber das kann eine Hin terlist des Dämons sein …« Er zog seine Hand von Duncans Stirn zurück. »Du mußt trinken. Viel trinken.« Er reichte ihm einen vollen Krug. »Es wird dir guttun und deine Lebensgeister wecken. Mögen sie den Kampf gegen das Fremde in dir aufnehmen, bis mein Freund eintrifft. Ein Bote ist unterwegs.« Duncan setzte die Lippen an den reich ornamentierten Tonkrug und nahm einen Schluck vom kühlen Naß. Er hatte nie zuvor wohl schmeckenderes Wasser getrunken. Zugleich bedauerte er, daß er überhaupt ein Fieber als Ausrede mißbraucht hatte. Khorsabads daraus resultierendes Hilfsangebot klang nicht gerade beruhigend. »Es geht mir schon besser. Möglicherweise …«, er lächelte zaghaft, »… hatte ich einfach zuviel getrunken.« »Zuviel getrunken?« Der Händler musterte ihn aus schmalen Au gen. »Ich wüßte nicht, was …« »Ein Rausch«, erläuterte Duncan. »Offenbar kannte ich meine Grenzen nicht.« Khorsabad starrte ihn schweigend an. Als er in die Hände klatsch te, erschien ein eifriger Diener, fast noch ein Kind, der mit glänzen den Augen Früchte in einer Schale brachte und zwischen ihnen auf den Boden stellte. »Nimm und iß. Stärke dich. Du hast viel zu erzählen. Ich bin ein dankbarer Zuhörer. Mich interessiert die Fremde, in der ich nie war.« »Führt dich dein Beruf nicht weit herum?« »Ich handele nur hier im Umkreis der Stadt«, erklärte Khorsabad. »Ich bin seßhaft, ersteigere selbst Ware, die ich mit etwas Zugewinn weiterverkaufe … Aber laß uns von dir reden. Deine Haut, deine Züge, deine Haltung und deine Wortwahl – obgleich du meine
Sprache perfekt beherrschst – lassen keinen Zweifel, daß du aus ei nem mir gänzlich unbekannten Land kommen mußt …« »Ich würde deinen Wissensdurst gern stillen, aber … ich erinnere mich nicht – an gar nichts! Ich weiß nicht einmal, was mit mir ge schehen ist. Was mir mein Gedächtnis verschüttet hat …« Er schlug, theatralisch, wie er selbst fand, die Hände vor sein Gesicht und keuchte: »Es tut mir leid!« Khorsabad schüttelte den Kopf. »Es muß dir nicht leid tun. Deine Worte beweisen nur, daß es schlimmer um dich steht, als du dir selbst eingestehst. Aber dir wird geholfen – ich verspreche es. Du bist ein Heimatloser, solange du deine Heimat nicht einmal kennst. Wie schrecklich. Wie überaus bejammernswert …!« Duncan sah das Blitzen in den Augen des Händlers, und zum ers tenmal fragte er sich, ob dieser nicht eine perfide Art von Katz- undMaus-Spiel mit ihm betrieb. Luther wußte immer noch nichts über Ort und Zeit, doch wenn er an seiner Amnesie festhielt, konnte er es wohl wagen, alles zu erfra gen. »Dies ist Uruk, die Strahlende, die unter Anus Schutz steht«, ant wortete der Händler auf seine vorsichtige Erkundigung hin. »Wenn du bei Tag aus meinen Fenstern blickst, kannst du zum Euphrat schauen, der diese Stadt dank der Götter zur Blüte brachte. Aber die Götter zürnen. Adad …« Er verstummte, und das Funkeln in seinen dunklen Augen wurde von Furcht abgelöst. Furcht vor etwas völlig Ungewissem, dem er außerdem machtlos gegenüber zu stehen schi en. Uruk, dachte Duncan. Ich befinde mich immer noch – oder wieder – in Uruk. Er warf gar nicht erst die Frage auf, wie der Korridor ihn zuvor im alten Ägypten hatte entlassen können.
»Welcher Priesterkönig herrscht über die Stadt?« fragte er, in der Hoffnung, aus dem Namen die Zeit ableiten zu können, in der er sich befand. »Unser König ist Enmergu. Er wird beraten von den Göttern.« Duncan gestand sich ein, daß er mit diesem Namen wenig oder nichts anfangen konnte. Zwar hatte er von einem Enmerfcar gehört, der einer Sage nach auch der Erfinder der Schrift gewesen sein sollte und etwa um 3300 v. Chr. gelebt hatte. Aber diese Namensähnlich keit mochte purer Zufall sein … Er probierte von den Früchten, aß ein paar Feigen, die anders – besser – schmeckten als alles, was er in der Gegenwart je unter die ser Bezeichnung gekostet hatte, und wunderte sich, wo sein Heiß hunger geblieben war – der eigentliche Anlaß, sich der Ungewißheit jenseits eines der Tore erneut auszuliefern. Nach einigen Bissen versuchte er Khorsabad weitere Informatio nen zu entlocken. Der Händler wehrte freundlich, jedoch mit Nach druck ab. »Du solltest etwas ausruhen, Dang-K’n«, empfahl er. »Offenbar verzögert sich Endemars Ankunft. Ich werde dir ein Schlafgemach herrichten lassen und einen Diener zur Seite stellen, der dir jeden Wunsch erfüllt. In einer Stunde graut der Morgen, und niemand weiß, was er uns bringen wird. Aber ich danke dieser Nacht, daß sie mir einen Freund geschenkt hat.« Er klatschte dreimal rasch hinter einander in die Hände, worauf nicht der erwartete kindliche Diener wieder erschien, sondern ein athletischer Kraftprotz, der Duncan mindestens um Haupteslänge überragte und der sich demütig vor ihm verbeugte. Unter der nackten Haut seines Oberkörpers spannte sich ein kaum überblickbares Muskelgeflecht, das imstande schien, selbst die metallenen Armreifen zu sprengen. Der Blick dieses Dieners war stoisch, fast schläfrig. Aber diese Art
Schläfrigkeit glaubte Luther von gefährlichen Raubkatzen zu ken nen. »Danke für das angebotene Lager«, sagte er, an Khorsabad gerich tet. »Aber du brauchst deine Diener vielleicht nötiger als ich …« Der Händler lächelte. »Ich kenne die Rechte des Gastes. Der Stum me steht zu deiner Verfügung. Er ist sehr zuverlässig und nicht auf dringlich. Wenn du ihn nicht benötigst, wirst du ihn kaum wahr nehmen. Und wenn du, statt zu ruhen, lieber Zerstreuung suchst, kann ich dir auch eine Hure kommen lassen, Mädchen oder Junge, du mußt es nur sagen, Dang-K’n, mein Freund …«
* Susa Mizrajim erwachte, ohne im ersten Moment ein Gefühl für seine im mer noch andauernde eigene Existenz zu haben. Nur zögernd sickerte in sein Bewußtsein, daß er nicht daheim in vertrauter Umgebung lag, sondern auf hartem Fels, umgeben von betäubender Finsternis. Sein Herz schlug träge, und ebenso befangen richtete er sich auf. Das pelzige Gefühl ließ rasch nach, und das Gehör übertrug unbe deutende Geräusche, die Mizrajim selbst beim Aufstehen verursach te. Er begriff, daß er sich in einer Höhle aufhielt, aber er wußte nicht, wie er hierher gekommen war. Oder warum. Seine letzte Erinnerung rührte aus der Zeit, da er sich zum Schlaf
niedergelegt und die Stimmen seiner Angehörigen gehört hatte … Vorsichtig tastend fand er den Stollen, der ihn nach draußen führ te, wo bereits ein neuer, von bleiernem Licht erfüllter Tag angebro chen war, dessen Glanz nicht bis zur Höhle gefunden hatte. Hier draußen erkannte Mizrajim sofort, wo er sich befand. Es war einer der Plätze seiner frühen Kindheit, die er seither nicht mehr aufgesucht hatte … Seltsam. Er spähte über die vor ihm liegende Ebene. Am Horizont lag Susa, die sündenbeladene Stadt, und dazwischen, sehr viel näher, befand sich der Hof seiner Familie. Mizrajim fühlte, wie ihm ein paar Tränen über die Wangen liefen, ohne daß er sagen konnte, was ihn plötzlich so traurig machte. Er berührte seinen Hals, als gäbe es dort etwas von Wichtigkeit, aber er fühlte nichts Ungewöhnliches, außer daß ihm plötzlich wie der einfiel, wie er hierher gekommen war. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, nicht einmal in der Nacht, daß am Vortag ein besonders wohlgewachsenes Lamm verloren gegan gen war. Heimlich hatte er das Haus verlassen, um es zu suchen. So war er bis hierher gelangt, wo ihn die Müdigkeit übermannte und er sich einen sicheren Platz suchte. Er seufzte. Das Lamm mußte er an die Wildnis verloren geben. Mizrajim wischte sich über das Gesicht und trat den Heimweg an. Seine Glieder, insbesondere seine Schenkel, schmerzten, als hätte er sie viel zu hart strapaziert. Kopfschüttelnd durchschritt er den Nadelwald, der zwischen den Ausläufern des Zagros-Gebirges und der Ebene mit dem Besitz des Vaters lag.
Ein widernatürlicher Wind wehte auch jetzt, mal kühl, mal warm, doch schien es nur gering geregnet zu haben – wiewohl Regen hier generell stets eine Seltenheit gewesen war. Gewesen … Nicht einmal darauf schien mehr Verlaß zu sein. Der Himmel zeichnete bedrohliche Wolkenmuster, die der Sonne den Blick zum Boden verwehrten – und den Menschen den Blick zu ihr. Diejenigen, die den falschen Göttern huldigten, sahen darin Scha masch, der die Erde mit Strahlen aus seinen Schultern erhellte und jeden Morgen hinter dem Berg zwischen den von seinen Dienern be wachten östlichen Toren erschien … Mizrajim beeilte sich plötzlich, noch schneller zurück in den Schoß der Familie zu gelangen. Als er den beschwerlichen Weg schließlich geschafft hatte, wurde er vom Blöken der Schafe in ihrer Stallung empfangen, und ein un gutes Gefühl beschlich ihn. War er schuld daran, daß niemand sie zur Weide geführt hatte? Einen kurzen Moment senkte er schuldbewußt den Kopf. Aber dann wurde ihm klar, daß niemand die Tiere für sein Pflichtver säumnis bestraft hätte. Obwohl es eine klare Aufgabenverteilung gab, hätte einer seiner Brüder die Pflicht übernommen … Mizrajim bereitete sich auf seine Verteidigung vor. Aber ihm schwirrte der Kopf, und als er die große Kammer durch die Tür be trat, vergaß er selbst die einfachste Entschuldigung, indem er das berichtete, was er für die Wahrheit hielt. Es schien nicht wichtig, obwohl die Gespräche kurz verstummten, und er begriff den wahren Grund für die Abweichung von der tägli chen Normalität. »Vater …«
Noe sah kurz zu ihm herüber, und zunächst schien es auch, als wollte er eine Rechtfertigung für Mizrajims Verhalten fordern. Doch dann nahm Sem, des Vaters Liebling, den unterbrochenen Faden wieder auf und fragte in einem Ton, wie Mizrajim ihn, noch nie bei ihm vernommen hatte: »Eine Flut, die alles Leben auslöscht …? Warum, Vater? Warum soll uns das angetan werden?« »Nicht uns«, schüttelte Noe den Kopf. »Ich war viele Tage drau ßen in der Öde und bat den Herrn, an den wir glauben, sein Vorha ben zu überdenken. Doch gab Jahwe sich unversöhnlich. Diese Welt, meint er, sei von Grund auf verderbt. Die falschen Götter, denen ge huldigt wird, hätten die Herzen derer, die von Adam abstammen, vergiftet. Es gibt keine Hoffnung mehr auf Läuterung …!« »Wovon – redet ihr?« fragte Mizrajim dumpf. Er hatte das Gefühl, ausgegrenzt zu sein von dem, was hier besprochen wurde. »Ich war unterwegs, ein Lamm zu suchen, das –« »Still!« unterbrach Japhet ihn barsch. »Es ist an Vater, zu reden. Was er uns bereits sagte, ist von solcher Endgültigkeit, daß mich friert …« Da geschah das Unerwartete. Noe trat aus dem Kreis der Familie auf Mizrajim zu und legte den Arm wie schützend um die Hüfte sei nes Sohnes. »Du hast dasselbe Recht wie alle, zu erfahren, was Jahwe, der Herr, in seinem Zorn entschied. Denn es geht jeden an, der wie du von der großen Vernichtung ausgeschlossen wird …« Trotz der aufwühlenden Worte fühlte sich Mizrajim von unendli chem Trost durchflossen. Respektvoll sah er zu seinem Vater auf, der weitersprach: »Denn höret: Eine Arche sollen wir zimmern, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch …«
*
Uruk Es war hell geworden, und Duncan Luther fand weder Schlaf noch Ruhe. Während sein Diener – von dem er immer mehr den Eindruck ei nes Aufsehers erlangte – regungslos wie eine aus Gips gegossene Sta tue neben der Tür des Gastgemachs stand, lief Duncan nervös auf dem Balkon auf und ab. Khorsabad hatte nicht übertrieben. Der Blick von hier oben über die Ebene des Euphrat und die flachen Dächer der Ziegelbauten hin weg war grandios. Am eindrucksvollsten aber wirkte ein auf künstlicher Terrasse er richteter, weißleuchtender Tempelbau, der wie ein riesiges Haus mit Innenhof gestaltet war und auf dessen Außenwänden sich immer wieder drei Symbole wiederholten: eine Mondsichel, ein Strahlen kranz und ein deutlich kleinerer Stern … Noch präsentierte sich Uruk schläfrig und erinnerte damit an man che kleinere afro-arabische Stadt der »fernen Gegenwart«. Nur fehl te hier jeglicher Motorenlärm sowie andere Zeugnisse des Industrie zeitalters. Die Luft, das hatte er schon hinter dem »Pharaonentor« spüren können, war hier von einer Qualität, die manchmal ein Krib beln unter der Haut verursachte, als würde man hyperventilieren. Duncan schwindelte vor der Reinheit dessen, was seinen Lungen – und damit dem ganzen Körper – zugeführt wurde. Erst später am Tag würden überall dort, wo warmes Essen bereitet oder Tee gekocht wurde, Rauchsäulen zum Himmel steigen. Zum Himmel … Duncan wußte, was ihn daran störte: Nicht nur die Horizonte, das ganze Himmelsgewölbe hatte etwas Be- und Erdrückendes, wie er es nicht kannte. Seltsame Wolken, von der Form her an bizarre Schrift
zeichen erinnernd, jagten pausenlos und mit nur geringen Lücken dazwischen über die Landschaft hinweg. Der Wind, der Duncans länger gewordenes Haar durchzauste, trug nicht nur einfach exotische, sondern befremdliche Düfte heran. Einmal spürte er ihn kaum, und im nächsten Moment fegte ihm eine regelrechte Sturmbö ins Gesicht! Duncan fror und schwitzte abwechselnd unter der Tunika, die Khorsabad ihm als freundliches Gastgeschenk überlassen hatte. Als er nach einer Weile wieder in den Raum zurücktrat, wandte er sich an den Muskelmann: »Wie heißt du?« Zu spät fiel ihm ein, daß der Händler den Kraftprotz als stumm bezeichnet hatte. Duncan vollführte eine entschuldigende Geste, doch weder dies noch die vorherige Frage schienen bis ins Bewußtsein des ange spannt dastehenden Klotzes zu dringen, der völlig ausdruckslos durch den, dem er angeblich zur Verfügung stehen sollte, hindurch blickte. Duncan beschloß, die Probe aufs Exempel zu machen, und gab vor, den Raum verlassen zu wollen. Der Stumme reagierte mit atemberaubender Präzision. Seine Mus keln trieben ihn wie eine gut geölte Maschine an. Dabei entwickelte er eine Eleganz, die Duncan diesem ungeschlachten Koloß nicht zu getraut hätte. Blitzschnell verstellte er dem »Gast« den Weg. Verblüfft hielt Duncan Zentimeter vor dem Fleischberg inne. Eine weitere und ernstere Konfrontation wurde nur vermieden, weil plötzlich Khorsabads Stimme erklang und in gutmütigem Ton entschuldigte: »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, DangK’n, mein Freund. Auch wenn er furchterregend aussieht, hat er doch ein Herz aus Gold. Ich bat ihn, auf dich achtzugeben. Man ver
läuft sich leicht in meinem Haus, und in deiner Verfassung …« Der Stumme glitt zur Seite, und Khorsabad betrat das Gemach in Begleitung einer an Düsterkeit kaum zu übertreffenden Gestalt: Welliges, erst in der hinteren Kopfhälfte beginnendes Haar und eine übergroß und fliehend wirkende Stirn kennzeichneten den Mann. Er trug nur einen von der Taille abwärts fallenden beigefarbenen Rock, an dessen Ende wollene Fransen befestigt waren, die so perfekt her abhingen, als wären sie gerade erst gekämmt worden. Hinten am Gesäß war der Schwanz eines Tieres, vielleicht einer Kuh, angenäht. In der einen Hand hielt Khorsabads Begleiter eine kleine Statue, die wie ein genaues Abbild von ihm selbst erschien, und in der an deren eine Art Zepter aus Lapislazuli und Gold. Es stellte eine Fle dermaus mit ausgebreiteten Schwingen dar. Der nackte Oberkörper war mit flirrenden, unterschiedlich farbi gen Stäuben bestreut. Bei jeder Bewegung löste das Licht Reflexe darauf aus. »Das ist Endemar«, sagte der Händler erwartungsgemäß. »Er hat sich bereit erklärt, sich deiner anzunehmen. Oder hat dich der Dä mon verlassen? Hast du deine Erinnerung wiedererlangt?« Duncan spürte einen unbestimmten Druck hinter der Kehle. Er ahnte, daß jede Antwort, die er darauf gab, weitreichende und un angenehme Folgen für ihn haben konnte. Als das Schweigen zwischen ihnen belastend wurde, schüttelte er den Kopf. »Leider. Ich erinnere mich an nichts.« In Endemars Blick breitete sich eine besorgniserregende Genugtu ung aus. Er machte Khorsabad ein Zeichen, das Duncan nicht zu deuten wußte, aber die nächsten Worte des Händlers erklärten, was gemeint war. »Ich werde euch jetzt allein lassen. Nur der Stumme bleibt hier, um dem Austreiber bei Bedarf zu assistieren.« Er lächelte in Dun
cans Richtung. »Sei furchtlos, Dang-K’n, Freund! Endemar ist ein be gnadeter Heiler!« Khorsabad verabschiedete sich mit einer letzten, aufmunternden Geste. Als Duncan den Blick von ihm löste und zu Endemar wechselte, erschreckte ihn die unverhohlene Bosheit in dessen Zügen. »Wir werden dich schon zum Reden bringen«, versprach er mit leiser, nichtsdestotrotz klirrender Stimme. »Noch keine Zunge hat der meinen widerstanden …« Ehe die Worte ihre volle Drohung in Duncan Luther entfalten konnten, warf sich der Stumme auf ihn und riß ihn zu Boden, wo er ihn unter seinem schweren Körper begrub. Duncans Kopf schlug heftig auf Stein. Er verlor das Bewußtsein.
* Als er wieder zu sich kam, war der Raum mit Tüchern abgedunkelt. Räucherwerk gloste, und über Duncan schwebte das Gesicht des Geisteraustreibers wie ein fahler, jenseitiger Schatten. Duncan versuchte sich zu erheben, mußte aber feststellen, daß er an das Ruhelager festgebunden war. Lederriemen schnitten scharf in Hand- und Fußgelenke, und selbst um seinen Hals hatte sich ein Band gelegt, das in der Unterlage verankert war. Es schnürte ihm die Luft ab. Aus Endemars Mund sprudelte monotoner Sprechgesang. Von dem Stummen war überhaupt nichts zu sehen. Er hatte seine Aufga be ganz offenbar bereits erfüllt. »Laß mich – sofort – frei!« krächzte Duncan. »Ich werde mich – bei Khorsabad – über die – Behandlung – beschweren …!«
Er hegte keine große Hoffnung, den sonderbaren Beschwörer da mit zu beeindrucken. Längst war ihm klar geworden, daß wohl Khorsabad selbst Anweisung gegeben hatte, wie Endemar mit »Dang-K’n« umzuspringen hatte. Die Luftknappheit zwang Duncan zu schmerzhaftem Husten, und er rang immer gieriger um Atem, weil sich das Band um seine Kehle mit jeder Erschütterung enger zusammenzuziehen schien. Endemar verstummte. Der Mann im Rock hatte die ihn darstellende Statue auf einem Sims über Duncans Kopf abgestellt. Das Fledermaus-Zepter hatte er mit beiden Händen über Duncans entblößte Brust gehalten, zog es jetzt aber zurück und legte es neben sich auf den Boden. Etwas anderes kam ins Spiel. Duncan bemerkte erst jetzt das zylindrische Anhängsel, das Ende mar an seinem rechten Handgelenk lose mitführte. Durch den hoh len Zylinder war ein Riemen gezogen, seine Oberfläche wies kunst volle, detailverliebte Verzierungen auf. Einzelheiten der darauf dargestellten Szene erkannte Duncan trotz des Mangels an Licht, als Endemar die Rolle zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und sie Duncans Augen näherte. Endemar hatte sich auch hier selbst verewigt oder verewigen las sen. Die Darstellung zeigte ihn, wie er vor einem Menschen stand, der am Boden lag und aus dessen Mund, Augen und Ohren eine schreckliche Wesenheit hervorquoll. Der Figurenhaltung nach gebot Endemar über dieses Schreckgespenst, denn es zuckte furchtsam vor ihm zurück und schien die Hülle seines Opfers zu verlassen … »Niemand gibt dir Schuld«, sagte der Austreiber, ohne die höhni sche Verachtung in seiner Stimme zu zügeln. »Der Dämon in dir knebelt alles Wissen um deine Herkunft und deine Absichten. Ich werde den bösen Spuk aus dir verbannen. Danach kannst du dich
Khorsabad erkenntlich zeigen und ihm die Gründe deines Kom mens nennen. Er ist sehr wißbegierig. Mit solchen wie dir könnte er noch größeren Reichtum, noch mehr Ansehen häufen. Und wenn es ihm gut geht, kann auch ich mich nicht beklagen …« Er lächelte vage und hantierte mit dem Gegenstand in seiner Hand. »Diese Rol le wird mein Siegel in deinen besessenen Körper brennen! Es wird …« Duncan hörte nicht, was Endemar noch sagte, denn in diesem Mo ment preßte der hagere Mann im Rock das tönerne Ding fest gegen die Herzseite seiner Brust, und der davon ausstrahlende Schmerz kam in seiner Gewalt so unerwartet, daß Duncan fast in die nächste Ohnmacht geschleudert wurde. Besessen …, echote es in seinem Hirn. Und dann, ohne daß er Ein fluß darauf nehmen konnte, brach eine Erinnerung aus der Tiefe. Damals in Pater Lorrimers Kirche in Sydney, als Lilith exorziert werden sollte. Als mit Kreide an die Kellerwand gemalte Machtwor te das Böse aus ihr hatten vertreiben sollen … JAHWE … ADONAI … ELOHIM … EL ELIJON … SCHADDAI … Vor’ Luthers geistigem Auge wiederholte sich die Szene, die dieser Situation so fatal ähnelte. Damals hatte er zu vollenden versucht, was der verblendete Pater nicht allein geschafft hatte. Aber Liliths Symbiont hatte auch ihn angefallen und Schaden von ihr abge wandt, indem er die vampirische Hypnose um Luthers Willen besei tigt hatte.* Von diesem Tag an waren sie zusammen gewesen … Bis Indien … Bis zu seinem Tod im Taj Mahal … Endemars Schrei riß Duncan aus dem schmerzgeborenen Tag traum, der eine Episode des Lebens auffrischte, das er hinter sich ge lassen glaubte. Er war nicht mehr der naive junge Priesteranwärter, der sich mit *siehe VAMPIRA 3: ›Besessen‹
Bibelforschung und -interpretation beschäftigt hatte. Er … Endemar schrie? Duncan riß die Augen auf. Das Rollsiegel des Beschwörers rutsch te von ihm ab. Aber dort, wo es die Haut berührt hatte, war sein Ab druck weiterhin sichtbar – schwarz und verbrannt, als hätte jemand ein glühendes Eisen darauf gedrückt! Während Endemar mit fassungslosen Gebärden neben ihm zu Bo den sank und wimmernd das Siegel aus der Hand zu schleudern versuchte, was ihm nicht gelang, huschte der Stumme aus dem Hin tergrund herbei und zerrte sämtliche Tücher von den Fensteröffnun gen. Das bleierne Licht, das Duncan schon früh am Morgen bemerkt hatte, strömte immer noch unverändert herein. Es schien Gewicht zu besitzen, denn in seiner Helligkeit fiel Duncan das Atmen noch schwerer als zuvor. Ihm war, als senkten sich Zentnerlasten auf ihn herab. Endemars Schrei riß nicht ab. Als hätte er den Verstand verloren, hieb er die Faust, in der sich das tönerne Siegel befand, immer wie der auf den Steinboden. Verblüffenderweise hielt es stand und zerbrach nicht. Inzwischen hatte die Haut des Geisteraustreibers dieselbe rötliche Farbe wie das Siegel angenommen, und dem Betrachter blieb nicht verborgen, daß diese Färbung wanderte. Sie weitete sich entlang von Endemars Arm aus, und es war absehbar, wann sie auf den Rumpf übergreifen würde … Während Duncans Schmerzen nachließen, schienen die des Be schwörers regelrecht zu explodieren. Taumelnd kam er auf die Bei ne und tastete gebückt nach dem Fledermaus-Zepter. Ehe er es zu fassen bekam, schnellte er plötzlich hoch und schlug nach der auf dem Sims stehenden Statue, die durch die Luft geschleudert wurde
und mit trockenem Ton am Boden zerbarst. Endemar wirbelte herum und streckte Khorsabads stummem Die ner die sich weiter verändernde Hand und den gleichfalls befallenen Arm entgegen. »Tu … etwas …!« kreischte er. »Nimm dein Schwert und …« Der Rest ging in neuen Schreien unter, aber die Geste, die er mit der noch unversehrten Hand vollführte, war unmißverständlich. Tatsächlich führte der Muskelprotz ein breites Kurzschwert in sei nem Gürtel bei sich. Er mußte es abgelegt haben, nachdem Duncan überwältigt und gebunden worden war. Danach griff er jetzt, stoisch und gehorsam in einem. Endemar tor kelte ihm entgegen, um den Weg zu verkürzen. Dann zischte Stahl durch die Luft, Blut spritzte, und das Rollsiegel Endemars stürzte zu Boden, ohne daß die Hand, die es hielt, losgelassen hatte. Duncan schloß voller Entsetzen die Augen. Er begriff nicht, was hier geschah. Er ahnte es nicht einmal …
* Leute kamen. Neugierige aus der Nachbarschaft und aus dem fer nen Susa. Sie wollten sehen, was hier vor sich ging, denn es hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, daß Noes Familie mit dem Bau von etwas … Gewaltigem begonnen hatte. 300 Ellen lang … Mizrajims Gedanken an die von Noe entworfene Vision gerannen, als Cham neben ihn trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Mizrajim hielt in der Ausholbewegung inne, mit der er die Axt klinge tief in den Stamm einer Tanne hatte treiben wollen. Schwit
zend richtete er sich auf, setzte die Axt auf den Waldboden und stützte sich mit beiden Händen auf das Ende des Stiels. Cham blickte ihn kurz sprachlos an. Dann fragte er: »Was meinst du? Hältst du es für möglich?« Einen Lidschlag lang hatte Mizrajim das Gefühl, als rückte alles um ihn herum von ihm weg. Nur Cham, mit dem er am besten von allen Brüdern auskam, stand unverändert bei ihm. »Du zweifelst?« fragte er rauh. Noe stand in seinem 600. Lebensjahr. Vor einem runden Jahrhun dert hatte er nacheinander Sem, Japhet und, zuletzt, Cham gezeugt; vor knapp dreißig Sommern ihn, und manchmal glaubte Mizrajim, daß ihm diese späte Geburt immer als Makel angelastet würde. Es blieb unausgesprochen, aber er litt darunter, solange er denken konnte. »Vielleicht. Jedenfalls habe ich Mühe, mir die Größe dieser gottbe fohlenen Aufgabe vorzustellen.« Mizrajim ging es nicht anders. Bislang hatte er allerdings jeden Zweifel weit von sich geschoben, weil es ihm wie ein Verrat an sei nem Vater erschienen wäre. »Andere zweifeln noch viel stärker«, sagte er und nickte in Richtung der Fremden, die immer unverhoh lener und lauter abfällige Kommentare zum Treiben der Familie ab gaben. Dabei gab es eigentlich noch gar nichts, worüber man hätte spot ten können. Bislang waren sie immer noch bei den Vorbereitungen für den Bau der Arche, wofür sie vermutlich diesen ganzen Wald, Unmengen von Schilfrohr aus der Umgebung und flüssiges Pech be nötigen würden. Noe hatte ihnen eröffnet, daß er Land und Besitz an einen reichen Mann aus der Stadt verkauft habe, um alle nötigen Werkzeuge und Mittel zur Verwirklichung seiner Vision erwerben zu können. Aller
dings hatte er ein zeitlich befristetes Aufenthaltsrecht ausgehandelt. »Wenn dieses Projekt scheitert, sind wir obdachlos«, sagte Cham. »Oder wir hausen wie merkwürdige Tiere hier in diesem Kasten, den wir bis dahin vielleicht errichtet haben werden …« Mizrajim wunderte sich ein wenig über das Zutrauen, das Cham zu ihm faßte und das nötig war, um ihm all dies offen einzugeste hen. Sie alle wußten, daß Noe ein gerechter, aber auch sehr strenger Va ter war. Wenn ihm zu Ohren kam, was seine eigenen Söhne über dieses Werk dachten, das Gott ihm während des Fastens draußen in der Wüste eingeflüstert hatte, war nicht absehbar, wie er reagieren würde. Möglicherweise würde er Zweifler sogar verstoßen. Davor hatte Mizrajim Angst. Ohnehin rumorte etwas in ihm, das er nicht benennen konnte. »Ich bin überzeugt, unser Vater weiß, was er tut – besser als jeder von denen, die uns hier verhöhnen«, sagte er, und fast glaubte er, daß dies seine wahre Überzeugung war. »Wir alle spüren doch seit langem, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis etwas Gräßliches passiert. Die Welt hat sich furchterregend verändert. Nicht nur die Menschen, auch die Natur. Du weißt, wieviel Blut fließt, um Gotthei ten wie Anum, Ea und Adad wieder gnädig zu stimmen. Aber die Mißernten häufen sich. Die Sonne verhüllt ihr Antlitz. Die Tage sind nicht mehr einfach hell und die Nächte nicht mehr einfach finster – alles vermischt sich. Dieses Licht, das uns umgibt: Es ist so widerna türlich wie das Leben, das die Menschen führen, und der Umgang, den sie miteinander pflegen!« Mizrajim hielt kurz inne, als würde ihm jetzt erst bewußt, was er sagte. Aber er war schon zu weit gegangen, um noch ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Etwas wird geschehen. Etwas Schreckliches. Wenn Vater glaubt, Jahwe, unser Herr, habe zu ihm gesprochen, so teile auch ich diese Überzeugung. Denn wenn ich den Mund aufmache, schmecke ich die Vorboten des Untergangs, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich, was uns prophezeit wurde: Himmel, die sich öffnen, Flüsse, die überlaufen, Meere, die schäumen …« Er konnte nicht mehr weiterreden. Seine Kehle schmerzte, aber es bedurfte auch keiner weiteren Worte mehr. Cham umarmte ihn stumm und sehr, sehr fest. Dann wandte er sich mit Tränen in den Augen ab und setzte seine eigene Arbeit fort.
* Endemar starrte wie gelähmt, das Gesicht eine Grimasse, auf den Stumpf, der von einem Wundarzt versorgt wurde. »Was ist geschehen?« fragte Khorsabad hart und offenbar in nur geringem Maß am Schmerz des Geisteraustreibers interessiert, um so mehr dafür an der Rolle, die der Fremde dabei spielte. Unweit von ihnen lag der abgetrennte Arm auf einem Tuch. Er hatte kaum geblutet, so als hätte sich das »kostbare Wasser« schon vor der Trennung vom Rumpf aus ihm verabschiedet. »Wenn ich das wüßte …« Endemar knirschte mit den Zähnen. »Es war die übliche Zeremonie. Mein Siegel, Enlil geweiht, dem Herrn des Atems, berührte ihn kaum, als es begann. Es war ein Gefühl, als hätte sich das tönerne Siegel der Zeit erinnert, da es im Ofen unter glühender Hitze härtete … Ich hielt plötzlich ein Stück Glut in der Faust, und ich vermochte nicht, es fallen zu lassen … Kurz darauf begann meine Hand steif zu werden, ja gleichsam zu versteinern …«
Er schwieg, kniff die Lippen aufeinander und sah zu dem abge trennten Arm, der hart wie Fels geworden war. Es fiel schwer zu glauben, daß es sich dabei einmal um ein Ding aus Fleisch, Blut und Knochen gehandelt hatte. »Könnte«, setzte Khorsabad an, zögerte kurz und fuhr dann doch fort, »könnte der Dämon dich gestraft haben? Das, was du austreiben wolltest?« Endemar wartete, bis der Bader seine Arbeit beendet hatte. Es hat te nicht viel Zeit in Anspruch genommen, die offene Wunde mit ei nem glühenden Eisen zu veröden. Mehr Sorgfalt hatte es erfordert, eine dicke Schicht Salbe aufzutragen, und es war beachtlich, daß En demar dies alles bei vollem Bewußtsein und ohne übertriebene Äu ßerung von Schmerz ertragen hatte. Auf Khorsabads Zeichen trollte sich der Arzt, und Endemar rang sich endlich eine Antwort auf die Frage ab, die ihn offenbar in Verle genheit gebracht hatte. »Ich bezweifele«, sagte er, »daß ein Dämon die Hülle dieses Man nes als Wohnung gewählt hat. Einen Moment lang glaubte ich zu spüren, daß Dang-K’n selbst ein Dämon ist! Du solltest dich seiner entledigen, solange noch Zeit ist. Töte und verbrenne ihn – und sor ge dafür, daß niemand von dem, was hier geschah, erfährt. Selbst der Arzt, der mir half, sollte zum Schweigen gebracht werden. Ärzte sind geschwätzig, das weiß jeder …« Khorsabad lächelte mit dem Charme einer Klapperschlange. »Und Beschwörer?« fragte er. »Hast du dich nicht stets auf mich verlassen können? Erhöhte ich nicht manches Mal den Wert auch schlechterer von dir feilgebotener Ware – wenigstens solange, bis sie ihren Käufer gefunden hatte?« »Du hast recht«, lenkte der Händler ein. »Dennoch mißfällt mir, was ich hier sehe. Nimm, was aus deinem Arm geworden ist, und
geh damit fort aus meinem Haus. Versuche zu ergründen, was vor gefallen ist. Ich bleibe nicht gern im Ungewissen …« »Und dieser Dang-K’n? Wie verfährst du mit ihm? Ich kann dir nur noch einmal raten: Laß ihn beseitigen! An ihm ist nichts zu ver dienen – er wird dir im Gegenteil nur Ungemach bereiten!« Khorsabad rieb sich die schwieligen Hände, als wäre er froh, im Gegensatz zu Endemar noch über beide zu verfügen. Aber wie jemand, der unbedingt auf die wohlmeinenden Ratschlä ge anderer wartete, sah er nicht aus …
* Bei Wasser und einem nicht näher definierbaren, grützeähnlichen Fraß brachte Duncan Luther zwei Tage in strenger »Isolationshaft« zu. Tagsüber staute sich in seinem Gefängnis eine kaum erträgliche Hitze, nachts fiel die Temperatur ins Bodenlose, so daß Duncan auf das erbärmlichste fror. Man hatte ihm seine ursprüngliche Kleidung, mit der er die Tor passage bestritten hatte, zurückgegeben. Aber Hemd und Hose hiel ten diese neuen Leiden kaum ab. Hinzu kam, daß auch die Stelle, an der sich Endemars Siegel eingebrannt hatte, noch hin und wieder Schmerz ausstrahlte. Mehr als einmal verfluchte Luther, daß er ausgerechnet dieses Tor gewählt hatte. Aber es ließ sich nicht mehr ändern, und mit jeder verrinnenden Stunde rückte eine weitere, existenzbedrohende Ge fahr näher: Die Verflüchtigung. Wie lange würde es diesmal dauern, bis die Zeit ihn als Anachronismus erkannte und bekämpfte? Und was bedeuteten diese Auflösungserscheinungen in letzter Konsequenz? Konnte er wie eine Kerzenflamme ausgeblasen wer
den? Verlöschen? Oder wie würde es danach weitergehen …? Romano wird vergeblich warten, dachte er. Die Einsamkeit wird ihn noch mehr erdrücken … Im Grunde war es absurd, einem Toten Einsamkeit zu unterstel len. Aber wie auch bei Luther selbst enthielt Romanos Existenz Merkmale, die es unmöglich machten, ihn einfach als wandelnden Toten abzustempeln. Als ein Geräusch an der Tür entstand, glaubte Duncan zunächst, daß es wieder soweit war, Essen und Trinken zu erhalten. Der Stum me kam zweimal pro Tag, und die Monologe, die Duncan bei sol chen Gelegenheiten führte, brachten nicht einmal ihm selbst Erheite rung. Die Situation war verfahrener als in Ägypten. Sie war, wenn nicht bald ein Wunder geschah, womöglich ausweglos. »Steh auf!« sagte eine Stimme von noch unbekanntem Klang. Sie gehörte weder Khorsabad noch Endemar. Verblüfft hob Duncan halb die Lider. Zuvor hatte er gedöst und über sein drohendes Schicksal gegrübelt. Nun sah er in das Gesicht eines geborenen Schinders, dem sowohl die gauklerische Freund lichkeit Khorsabads als auch die Düsterkeit Endemars fehlten. Es hatte einen ganz eigenen, äußerst verschlagenen Ausdruck, der ah nen ließ, daß dieser kahlrasierte, gedrungene Fremde in der Lage war, Freude daraus zu ziehen, andere zu quälen. Tatsächlich taxierte er Duncan wie ein eingepferchtes Stück Vieh, das es abzuholen und zum nächsten Schlachthof zu führen galt. Der Mann aus der Zukunft entschied, sich zu weigern und passi ven Widerstand zu … Weiter kam er nicht einmal in seiner Planung. Etwas fauchte durch die Luft und schlang sich wie die dünnen Fangarme eines Kraken um seinen Hals. Der folgende Ruck kam so gewaltig, daß Duncan
seine Nackenwirbel knacken hörte. Hart fiel er nach vorn. Seine im letzten Moment ausgestreckten Hände fingen nur wenig von der Wucht ab, mit der sein Gesicht zu Boden schlug. Seine Lippen platzten auf. Seine Nase sandte einen kurzen, grellen Schmerz wie einen Brandpfeil in Luthers Bewußt sein. Er stöhnte gequält. Die Schnüre lösten sich mit einem eigentümli chen Geräusch von seiner Haut, und Duncan wälzte sich sofort auf den Rücken, um der nächsten Attacke vielleicht doch begegnen zu können … Gelächter zerbrach diese Illusion. »Versuche es gar nicht erst«, sagte die Stimme, die selbst schon eine gewalttätige, in den Ohren schmerzende Waffe war. »Das nächste Mal reiße ich dir den Kopf ab! Wie würde dir das gefallen?« Falsch, dachte Duncan. Die Frage müßte lauten: ›Was würde es aus dir machen?‹ »Wer bist du?« Statt einer Antwort erhielt er einen Tritt in die Seite. »Wie weich und schwach du bist! Ich weiß nicht, was Khorsabad an dir findet. Wer soll einen wie dich gebrauchen können – und wofür? Du siehst in praktischen Dingen nicht sehr veranlagt aus. Außerdem läufst du herum wie ein Verrückter. Würde ich Khorsabad nicht schon so lan ge kennen und eigentlich schätzen, könnte man meinen, er wollte seinen und meinen Ruf vernichten … Und jetzt zum letzten Mal: Steh auf und folge mir, oder nichts wird mich abhalten, dich hier an Ort und Stelle zu töten …« Duncan sah ein, daß es besser war, ihn nicht noch mehr herauszu fordern. Bevor der Schinder mit der Peitsche überhaupt ausgeredet hatte, stand er auf seinen wackligen Beinen, an denen sich die schlechte Versorgung der letzten beiden Tage bemerkbar machte.
»Du bist klüger, als ich dachte, Dang-K’n, aber für Klugheit zahlt hier niemand auch nur einen Stein …« Mit diesen ominösen Worten versetzte er Luther einen derben Stoß in Richtung der offengelassenen Tür. »Wohin – bringst du mich?« Duncan schmeckte sein eigenes Blut, und sein Körper erschien ihm wie eine große, offene Wunde. Statt einer Antwort erscholl hinter ihm wieder nur schneidendes Gelächter, worauf er sich für das Schlimmste wappnete.
* Als sie im Morgengrauen aus dem Haus fortgingen, in dem die Hälfte von ihnen aufgewachsen und das nun verkauft war, wirkte das Himmelsgewölbe, als liefe von Horizont zu Horizont schwarze, gärende Flüssigkeit zusammen. Noe sprach von bevorstehendem Regen, Blitz und Donner, einem Unwetter, das sich über ihren Köpfen zusammenbraute, und tat sächlich fielen schon nach kurzer Strecke dicke, sonderbar riechende Tropfen auf sie herab. Die Frauen weinten und begannen zu jam mern; aber Noe beruhigte sie, indem er ihnen versicherte, daß dies keinesfalls schon der Anfang vom Ende sein würde. Regen wie diesen hatte noch niemand von ihnen erlebt. Er traf auf die rissige, knochentrockene, staubige Erde, als wollte er winzige Krater in sie hineinschlagen, ihr Antlitz noch mehr vernarben. Aber nirgends hinterließ er wirkliche Nässe, wie Pflanzen sie zu verwer ten vermochten oder Menschen sie irgendwann wieder aus tiefen Brunnenschächten hätten fördern können. Dieser Regen roch und schmeckte nach gallebitterem Gift. »Wir werden heute keine Zaungäste zu dulden haben«, rang Sem
dem brodelnden Geschehen am Himmel auch Gutes ab. »Wir wer den ganz für uns arbeiten können und ein gutes Stück vorankom men!« »Falls uns kein Sturm zerstört, was wir bereits begonnen haben«, hielt Japhet dagegen. Er mied den Blick des Vaters, und Mizrajim versuchte die Zweifel, die nicht nur Japhets Willen schwächten, zu überhören. Er rieb sich am Hals. Ein Insekt mußte ihn gestochen haben. Wo er kratzte, fühlte er nur den leichten Schmerz der Fingernägel, aber so bald er aufhörte … »Wir werden es leichter haben«, sagte Noe, »wenn wir uns eine kleine Hütte bei der Baustelle errichten. Der lange Hin- und Rück weg entfällt. Ich denke, es ist sinnvoll. Cham, Mizrajim, lauft zurück und treibt die Schafe dorthin, wo der Wald bereits abgeholzt ist. Dort umzäunt ihr ein kleines Stück. Wir anderen gehen voraus und setzen den Bau der Arche fort.« Mizrajim wischte sich ein paar übelriechende Tropfen aus den Haaren. Sie fühlten sich ölig, fast klebrig an, und als er zum Himmel hinaufblickte, glaubte er kurz, etwas hinter den immer wieder aus einanderdriftenden und dann wie fremdartige Symbole aussehen den Wolken entlangjagen zu sehen. Aber er konnte es nicht identifi zieren. »Beeilen wir uns«, sagte Cham. Sie verfielen in einen schnellen Laufschritt, während der Rest der Familie den Weg zur Baustelle fortsetzte. Aber sie brauchten nicht ganz zurückzugehen. Noch bevor sie den Hof erreichten, kam ihnen die Herde entgegen. Mizrajim sträubten sich ein wenig die Haare, denn es war ein zu absonderliches Bild. Doch Cham meinte nur: »Das nahende Wetter muß sie aufgerührt haben. Sie sind aus dem Stall ausgebrochen …«
Mizrajim entgegnete nichts, und ihm schien auch, als wollte Cham sich mit diesen Worten über den wahren Sachverhalt, der ihm Unbe hagen bereitete, hinwegtäuschen. Die blökende Herde brauchte keine ordnende Hand, jedenfalls keine aus Fleisch und Blut. Eher schon eine, die sie längst unsichtbar führte. Und es war offensichtlich, daß die einzelne Tiere nicht in hel ler Aufregung vor etwas flohen, sondern durchaus einem Ziel entge gentrotteten. Mizrajim schluckte hart. Der Regen setzte sich fort, und dort, wo er das Fell der Schafe traf, formte er Muster, denen am Himmel überaus ähnlich. Cham ballte plötzliche die Fäuste und blieb stehen. »Wie?« keuch te er. »Wie, um alles in der Welt, sollen wir die Aufgabe meistern, die Jahwe uns aufgebürdet hat? Woher sollen all die Tiere kommen, die mit uns vor dem Ertrinken gerettet werden müssen? Wie soll es uns wenigen gelingen, einen Kasten zu bauen, dessen Ausmaße das Hundertfache an Arbeitern erforderten …? Ich frage dich, wie, Miz rajim, mein Bruder?« Auch Mizrajim blieb stehen und fühlte sich ganz elend ums Herz. Sie standen zwei Schritte auseinander, und doch waren sie sich nä her als am Vortag, da sie sich in den Armen gelegen hatten. »Ich weiß es auch nicht«, sagte er. »Uns bleibt nichts als dem Wort des Herrn zu vertrauen, daß wir all das Unvorstellbare bewältigen und meistern werden!« Während er sprach, verstärkte sich das Jucken an seinem Hals, aber er achtete nicht darauf und kratzte sich nicht einmal unbewußt. »Ach, Bruder …« Chams Seufzer kam aus einer dunklen, ihn of fenbar selbst erschreckenden Tiefe. Die Herde war stehengeblieben, als ordnete sie sich den beiden Brüdern unter, von denen der eine schon siebzig, der andere erst
dreißig Jahre auf der wüsten Erde wandelte. Als sie sich nun wieder in Bewegung setzten, taten es auch die Schafe und kleinen Lämmer. Mizrajim widerstand dem kurzen Schub von Übelkeit, der sich aus seinem Bauch bis hinauf in seine Kehle ausbreiten wollte. Schweiß brach ihm aus, aber ein aufkommender warmer Wind trocknete ihn sogleich wieder fürsorglich. Dem jüngsten Sohn Noes wurde es noch banger. Aber das Ärgste erwartete sie, als sie die Baustelle erreichten. Schon von weitem sahen sie etwas über die Wipfel der noch stehen den Bäume hinausragen. »Wie … Wie habt ihr das in solcher Eile vollbracht?« fragte auch Cham wie betäubt den Vater, der ihnen entgegenkam. »Euer Vor sprung …« Er brach ab. Noe lächelte, wie nur ein Mann mit seinem Wissen und seiner Er fahrung es vermochte. Und seinem unerschütterlichen Glauben. »Es stand schon da, als wir kamen«, sagte er und wies auf das hin ter ihm aufragende, in Aufbau und Struktur schon klar erkennbare Rohgerüst der Arche. »Der Herr hat Himmel und Erde erschaffen. Er allein hat das Recht, über das Leben zu richten – und zu entschei den, wann er uns hilft … Aber kommt. Dies bedeutet nicht, daß wir uns in Müßiggang üben könnten und nichts mehr tun müßten. Sonst hätte er das Werk gleich vollendet …« Voller Tatendurst ließ Noe sie stehen. »Es gefällt mir nicht«, flüsterte Cham. »Es ist nicht nur, daß es mir Angst macht, wie es geschehen konnte … Was werden die Men schen aus der Stadt dazu sagen? Bislang hielten sie uns einfach für Narren, aber ich denke, ab heute werden sie sich damit nicht mehr begnügen!«
»Was sollten sie plötzlich anderes in uns sehen?« fragte Mizrajim. Sein Bruder antwortete kaum unhörbar: »Gefährliche Narren.«
* Uruk bot ein gänzlich anderes Bild als an dem Morgen, da Duncan Luther auf dem Balkon von Khorsabads Haus über die noch schläf rige Stadt hinweggeblickt hatte. Überall herrschte Unruhe, beinahe Aufruhr, und in den überlaufe nen Gassen prallten immer wieder Menschen aufeinander, die hef tig, bisweilen sogar handgreiflich miteinander stritten. Hie und da gab es mit Schwert oder Lanze bewaffnete Soldaten, die offenbar eine Ordnungsfunktion innehatten. Statt zu schlichten, übten sie aber offenkundig nur eigenen Terror aus. Der Ernst des Treibens wurde Duncan endgültig bewußt, als vor seinen Augen, inmitten einer Zusammenrottung, ein kränkelnder al ter Mann erschlagen wurde, nur weil er einem Jüngeren im Wege stand. Luther hatte keine Möglichkeit, einzuschreiten. Er hätte es so oder so mit dem eigenen Leben bezahlt. Um seinen Hals lag die Peit schenschnur wie eine Hundeleine, und beim geringsten Anzeichen eines Stockens zog der Kahlköpfige, der ihn aus dem Kerker abge holt hatte, mit einem brutalen Ruck daran. Schließlich öffneten sich die verzweigten Gassen zu einem weiten, dichtbevölkerten und von Ständen umsäumten Platz ganz in der Nähe jener Terrassenerhebung, auf der sich der eindrucksvolle Tem pelbau erhob. In der Mitte des Platzes war ein hölzernes Podest errichtet, und dort stand eine lange Reihe von Männern, in Ketten geschlagen, die
Häupter gesenkt. »Sie warten schon, daß auch du ihnen die Ehre gibst, Dang-K’n«, höhnte die Stimme hinter ihm. »Es ist Khorsabads ›mindere‹ Ware. Dein Glanz soll auch sie erhellen und ihren Preis nach oben treiben. Aber wenn du mich fragst –«, er hustete, »– wirst du ihn nur drücken …!« Luther begriff in einem einzigen Moment alle noch offenen Zu sammenhänge. Er kapierte vor allem, womit Khorsabad seinen Wohlstand gehäuft hatte und warum er sich überhaupt als »Handelstreibender« be zeichnen durfte. Seine »Ware« bestand aus Menschen. Sklaven …! Duncan stolperte, weil er auch die letzte Hoffnung auf einen guten Ausgang dieses Abenteuers schwinden sah. Mit Tritten und Schlä gen wurde er eine niedrige Treppe hinaufgetrieben und in der Mitte von Leidensgenossen platziert. Die wenigsten von ihnen würdigten ihn auch nur eines Blickes. Sie waren vollauf mit ihrem eigenen Los beschäftigt. Luther bemerkte nicht nur Männer, sondern auch ein paar gutge wachsene Frauen und einige Kinder. Nur alte oder gebrechliche Menschen wurden hier oben aus naheliegenden Gründen nicht zur Schau gestellt. Ein Heer von Zuschauern hatte sich bereits versammelt, und die Vorzüge oder Nachteile einzelner »Ausstellungsstücke« wurden völlig unverblümt und lauthals diskutiert. Mit ihm, dem zuletzt Angeschleppten, konnte jedoch niemand et was rechtes anfangen, und Duncan glaubte darüber durchaus Zu friedenheit im Gesicht des Kahlköpfigen zu lesen. Hautfarbe und Kleidung bereiteten den Erwerbswilligen die meis
ten Schwierigkeiten; vielleicht auch der trotzige, noch immer nicht völlig gebrochene Wille, der in seinem gesäuberten Gesicht zu lesen war. Der Kahlköpfige, offenbar ein enger Vertrauter Khorsabads, wur de bestürmt, etwas über den Fremdhäutigen zu erzählen. Dieser ließ sich lange bitten, und was er schließlich sagte, klang in Duncans Oh ren wie ein Todesurteil über ihn. »Er gibt vor, seine eigene Herkunft nicht zu kennen und auch nicht, wie er in unsere Stadt kam. Aber er spricht unsere Sprache – solange ihm niemand die Zunge herausschneidet, was ich empfeh len würde, denn was er zu sagen hat, ist äußerst hochmütig und muß jeden erzürnen, der weiß, was eines Sklaven erste Pflicht ist … Aber man könnte ihn gewiß als Attraktion in seinem Hause halten – oder gegen wilde Tiere kämpfen lassen … Offengestanden, ich weiß nicht, was man mit ihm anfangen kann. Aber vielleicht ist einer un ter euch, der es weiß …« Er machte eine Sprechpause, in der sich außer Unmutskundgebun gen aber niemand äußerte. Dann knallte er unter rauhem Lachen mit seiner Peitsche und wollte sich einer schönen, ihm nahe stehen den Sklavin zuwenden, um zunächst ihre Vorzüge anzupreisen – womit er sich vermutlich leichter tun würde. Doch dazu kam es nicht. Eine glockenhelle Frauenstimme, der es keine Mühe bereitete, sich über allen Lärm hinwegzusetzen, rief von den Stufen des weißen Tempels herab. »Ich nehme ihn – aber laßt ihm seine Zunge! Wer weiß, wozu sie noch gut ist! Ach ja, ich vergaß: Ich nehme sie alle …« Duncan Luther stand noch im Bann der Frau, als sie bereits wieder oben im Tempel verschwunden war. Und wie ihm schien es einem jedem zu ergehen, der Zeuge dieses Vorfalls geworden war. Es kam
zu keinerlei Aufbegehren – nicht einmal zur kleinsten Unmutsäuße rung. »Wer war das?« hörte sich Luther fragen, während der Kahlköpfi ge, selbst wie benommen, sich wieder um ihn zu kümmern begann. »Eine Priesterin?« »Wiederhole diesen Frevel vor ihr, und es kostet dich doch noch deine Zunge«, versetzte er heftig. »Wer ist sie also?« »Du sahst die gehörnte Tiara auf ihrem edlen Haupt und weißt nicht, was sie bedeutet, wer sie trägt?« »Nein …! Was ist eine ›Tiara‹?« Er schnaubte. »Ich hoffe nur, deine Respektlosigkeit schlägt nicht auf mich zurück. Sie ist eine unserer fleischgewordenen Göttinnen: Ischtar …«
* Duncan erinnerte sich nicht, je in einem Raum gestanden zu haben, dessen Atmosphäre ihn stärker beeindruckt hatte. Nicht einmal der Korridor, den er mit Romano beschritten hatte, wies eine annähern de Ausstrahlung auf. Es war seltsam, wie oft seine Gedanken, selbst in prekärster Lage, zu George Romano irrten. Ebenso verblüffend war, wie verschwom men er sich nur noch an Paul Kravetz entsinnen konnte, der mit ih nen gemeinsam den Eingang zum Korridor freigeschaufelt hatte und später in den Fängen des dort postierten Wächterwesens umge kommen war.* Fast war es, als büßten alle ihre Bedeutung ein, so bald sie ihre Schuldigkeit getan hatten … *siehe VAMPIRA 25: ›Der Ewige Krieg‹
Die Wände des Tempels waren mit einer bilderartigen Keilschrift versehen, die mühelos als Lobpreisungen an Anum, den Himmels gott, Sin, die Mondsichel, Schamasch, die Sonne, und Ischtar, den Abendstern, zu entziffern waren … … so mühelos, wie Duncan sich einer Lautsprache bediente, die er nie erlernt hatte! »Tritt näher!« Die Stimme – identisch mit jener, die er auf dem Sklavenmarkt ge hört hatte, nur wesentlich verhaltener – schien aus den Wänden oder dem Nichts zu kommen. Duncan blickte sich unbehaglich um. »Wo ist ›näher‹? Ich kann dich nicht sehen!« Die Reaktion zeigte, daß Lachen auch in dieser Zeit anderes als pure Bosheit ausdrücken konnte. »Ischtar?« fragte er zaghaft. »Du weißt meinen Namen?« »Man sagte ihn mir.« »Der geschwätzige Veldrae, der sich stets zu Höherem erkoren fühlt und doch nie dem Dunstkreis des Sklavereibetriebs entfliehen wird, obzwar er einen reichen Gönner hat?« Auf diese Weise erfuhr Duncan den Namen des Kahlköpfigen, der ein Handlanger und Beauftragter Khorsabads zu sein schien. Nie mand anderen als ihn konnte Ischtar als »reichen Gönner« bezeich net haben. Überhaupt: Ischtar … Duncan kannte ihren Namen aus der Über lieferung als – von der Venus abgeleitet – Göttin der Liebe. Aber er hatte nicht im Traum damit gerechnet, daß der Kult um sie auf eine reale Person zurückging. »Ja, Veldrae«, sagte er. »Aber ich kann immer noch nicht sehen,
wo ich dich finde …« »Oh, ich finde dich, sei unbesorgt.« Direkt vor ihm flirrte die Luft, und das Licht brach sich an einem Körper, der aus der Nähe noch sehr viel atemberaubender wirkte als auf die Distanz, über die Luther ihn zum erstenmal erblickt hatte. Diese Frau schien so wenig in das Gefüge dieser Zeit zu passen wie er selbst, und Schamgefühl schien ihr etwas absolut Fremdes. Sie war kleiner als Duncan, zumindest was ihre Gestalt, sicher aber nicht, was ihre Macht betraf. Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Das wenige, was sie an Kleidung trug, verdiente diese Bezeichnung nicht. Ein winziges rotbraunes Ledertuch bedeckte, von feinen, um die Taille und im Schritt entlang laufenden Striemen gehalten, ihre Scham, die keine Behaarung zu besitzen schien. Glatt und alabaster-farben präsentierte sich die Haut vom Kopf bis zu den Zehen. Das Haupthaar fiel glatt bis knapp über die breiten, aber kei neswegs maskulin wirkenden Schultern. Um den schlanken Hals trug sie zwei untereinander nicht verbundene Reifen gleicher Größe und um beide Arme jeweils zwei von unterschiedlichem Umfang. Zwei fingerlose Handschuhe und ein Sandalenpaar aus demselben Leder wie der Schamschutz vollendeten die Kleidung, keineswegs aber den Eindruck, den Ischtar in Duncan Luther hinterließ. Sie hatte den schönsten, am perfektesten modellierten Busen, den er je gesehen hatte – anders als der von Lilith und eine geheime Saite in Luther berührend. Auch das Gesicht faszinierte ihn, insbesondere die vollen sinnlichen Lippen und die Augen, die alle paar Sekunden ihre Tönung zu ändern schienen … »Ich gefalle dir«, sagte Ischtar, nicht mehr glockenhell, sondern rauchig, wobei sie ihre eigenen Blicke ohne Hemmung über seine Gestalt wandern ließ. »Ich habe nichts anderes erwartet. Aber auch du erweckst mein … Interesse.«
Es klang, als hätte sie sich im letzten Moment für etwas Unver bindliches entschieden, obwohl Intimeres auf ihrer Zunge gelegen hatte. »Du weißt, warum ich dich erworben habe?« »Nein«, sagte er. Flüchtig erwog er, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie sah aus wie jemand, dem man nicht nur alles anvertrauen konn te, sondern auch unbedingt wollte. Ihre nächsten Worte dämpften seine diesbezüglichen Erwartungen jedoch etwas. »Zum Zeitvertreib«, sagte sie. »Du scheinst etwas ganz Besonde res. Auch jetzt, da du mir gegenüberstehst, fühle ich Fremdheit … Du ahnst nicht, wie hoch dieses Kompliment aus dem Mund einer …« »Göttin wiegt?« vollendete Luther den Satz. Sie lächelte eigentümlich. »Du zweifelst, daß ich eine bin?« »Vorhin«, sagte er, »hast du etwas getragen, das Veldrae ›Tiara‹ nannte. Er schien diese Kopfbedeckung eng mit deinem Status zu verbinden …« »Er tut recht daran«, erwiderte Ischtar. »Aber hier in Anums Tem pel ist solcher Pomp verpönt – was nichts an meinem Rang ändert!« Zuletzt hatte eine Schärfe in ihrer Stimme gelegen, wie nicht ein mal Veldrae oder Endemar es vermocht hätten. Duncan duckte sich fast wider Willen. Ischtar streckte einen Arm aus und führte die Kuppen ihrer Finger über seine Kleidung. »Woher stammt das?« Aus der Zukunft, war er versucht zu sagen. Doch er zügelte sich. »Ich habe es vergessen. Ich habe alles vergessen …« »Das mag Veldrae glauben. Oder Khorsabad. Selbst Endemar hast
du täuschen können. Aber ich bin ich.« »Zumindest bist du sehr gut informiert«, räumte er ein, was sie zu einem lauten Lachen animierte. Dann klatschte sie in die Hände, und zwei hübsche Knaben er schienen mit je einer tablettähnlichen Tragehilfe, auf der zwei Dinge unterschiedlicher Größe mit Tüchern abgedeckt hereingetragen wurden. Beides wurde zwischen Duncan und Ischtar auf den Boden ge stellt; die Knaben zogen sich zurück. Sie hatten kein Wort gesagt und keines erfahren. Ischtar wandte sich wieder an Luther. »Du ahnst, was hier liegt?« Er verneinte. »Lüfte das Tuch zu deiner Linken!« Er bückte sich und tat es. Auf dem hölzernen Tablett lag ein abgeschlagener Arm, den Dun can mühelos als den Endemars wiedererkannte. Sofort stoben Erin nerungsfetzen an das jäh unterbrochene Austreibungsritual durch sein Bewußtsein. Sinnlos! Er konnte sich nicht erklären, was von ihm aus über das tönerne Siegel auf den Beschwörer übergesprungen war, bis schließ lich der Stumme sein Schwert gezückt hatte … »Erzähle, was damit geschehen ist«, verlangte Ischtar auch schon das Unmögliche. Er wußte es nicht. Er wußte nicht einmal, welche Bewandtnis es mit dem zylinderförmigen Siegel des düsteren Endemar auf sich hatte! Sie glaubte ihm nicht. »Du bist ein Magier?« fragte sie. »Wenn es so wäre, hätte ich viel leicht weiterreichende Verwendung für dich …« Sie versuchte ihn zu locken. Aber ihre Geduld schien schnell er
schöpft. »Laß mich nicht betteln wie eine läufige Hündin! Rede!« Duncan taumelte wie unter einem körperlichen Hieb. Ihm war, als prallten Veldraes Peitschenschläge im Dutzend gegen seinen Leib – oder als griffe eine knochige, zu allem entschlossene Faust in ihn hinein. Er riß die Hände hoch und preßte die Ballen gegen die Schläfen. Vor seinen Augen explodierten schwarze Sonnen, und sein Innerstes stülpte sich unaufhaltsam nach außen … Abrupt hörte es auf. Es war an Ischtar, um Fassung zu ringen. Lange stand sie nur da und starrte auf Duncan, der versuchte, die Scherben seines Bewußt seins aufzulesen, zusammenzufügen und wieder zu kitten. »Wer bist du?« fragte sie endlich weich und sanft, wie er es nicht erwartet hätte. »Khorsabad«, erwiderte er mit bebenden Lippen, »nannte mich Dang-K’n.« »Gab er dir diesen Namen, oder ist er Teil einer doch vorhandenen Erinnerung in dir?« »Der Händler gab ihn mir«, log Luther. Es wunderte ihn ein wenig, daß sie sich damit begnügte. Zugleich wankte er innerlich unter der Erkenntnis, wer sie war. Tatsächlich war. Als Göttin mochten die Menschen dieser Zeit sie ansehen, er aber hatte für Momente ihre wahre Identität, das Potential, das in ihr steckte, erfühlt. Sie war eine Vampirin. Sie hatte es ihm noch mit keiner Fratze, zu der sie gewiß fähig war, gezeigt, aber ihm genügte die Erfahrung, wie sie ihn zum Reden
hatte zwingen wollen. Ischtar … die Alten Götter generell … waren es Vampire gewesen? War dies ihre Rolle, als die Welt noch nicht so kompliziert struktu riert war wie in der Zukunft, aus der Duncan hierher gefunden hatte …? Es schien nur logisch, denn sie hatten höchstwahrscheinlich immer Macht über die Schwächeren ausgeübt. In diesem Zusammenhang erinnerte sich Duncan an eine Äußerung Liliths, mit der sie ihre Mutter Creanna zitiert hatte: ›Die Menschen ahnen ja nicht einmal, wie sie all die Jahrtausende nur von uns benutzt wurden. Daß wir sie in grauer Vorzeit hielten wie Vieh …‹ »Ich bin kein Magier«, sagte er gepreßt. »Ich bin einfach nur ein Mann ohne Erinnerung. Wenn ich es recht verstanden habe, wollte Endemar mir helfen –« Noch einmal entgleiste ihre Beherrschung. Mit düsterem Blick hol te sie aus und trat gegen den immer noch verhüllten Gegenstand auf dem zweiten Tablett. Er flog in hohem Bogen durch die Luft und verlor im Flug sein Tuch. Duncan sah flüchtig in die aufgerissenen Augen eines Gesichts mit fliehender Stirn, dann schlug der abgetrennte Kopf auch schon mit häßlichem Geräusch auf den Boden und rollte weiter. »Er wollte dir gewiß nicht helfen, und er wird es nicht ein zweites Mal versuchen!« sagte Ischtar. Duncan begriff, daß er nur die Fassade einer Göttin vor sich hatte; dahinter lauerte und verbarg sich nichts anderes als ein egozentri sches Scheusal. Wirklich? Sie kam auf ihn zu und sagte bedauernd: »Ich verabscheue die rohe Gewalt, Dang-K’n. Wahrhaftig, das tue ich! Aber Endemar war ein abgrundtief verderbter Mensch, und was er dir anzutun ver
suchte …« Ihre Worte führten das eigene Handeln ad absurdum. Dennoch fühlte sich Duncan außerstande, ihr auszuweichen, als sie sich mit ihren Lippen seinem Mund näherte. Sie besaß etwas Unwiderstehliches. Der Duft ihrer Alabasterhaut, der Blick ihrer Augen, die sich in diesem Moment öffneten und schlossen wie die Irisblende einer Kamera (als würde sie ein unaus löschliches Bild von ihm für ihr persönliches Archiv anfertigen) … All dies verzauberte ihn und machte es ihm möglich zu vergessen, daß sie ihn noch kurz zuvor hatte knechten wollen. Höchstwahrscheinlich hatte sie diese Absicht auch jetzt nicht abge legt, sondern nur die Wahl der Mittel geändert. Aber all dies war unwichtig, als sie ihn küßte. Duncan ergab sich ihrer Zunge, die sich wie eine warme, sich win dende Schlange in seinem Mund bewegte. Er erwiderte das Spiel aus einem Trieb heraus, den er schon jetzt nicht mehr steuern konn te, und Ischtar rieb sich verlangend an seinen Lenden, hauchte Seuf zer in seinen Atem und grub ihre Hände in sein Haar. Einmal hielt sie inne. Sie schloß mit konzentriertem Gesichtsaus druck die Augen, und Duncan hatte das Gefühl, ein Vorhang würde von alle vier Wänden des Raumes zurückgezogen. Die Umgebung vergrößerte und veränderte sich rapide. Plötzlich herrschten Prunk und Bequemlichkeit. Möbel erschienen wie hinge zaubert, eine mit Früchten und gebratenem Fleisch gedeckte Tafel … Ischtar öffnete die Augen. »Du siehst hungrig aus. Speise und Trank sind nur für dich. Lege die falsche Bescheidenheit ab und stärke deinen Leib – dein Geist, das habe ich gespürt, ist stark genug …« Er blinzelte, als könnte er dadurch feststellen, ob er einer Illusion zum Opfer fiel oder ob es sich um zuvor verborgene, aber wirkliche
Köstlichkeiten handelte, die dort auf ihn warteten. Er fragte nicht, warum nur er sich daran laben sollte – er ahnte (und fürchtete) die Antwort, denn eines Vampirs Nahrung bestand nicht aus solchen Dingen. Auch wenn Ischtars Hypnoseversuch gescheitert war, verfügte sie doch über stark ausgeprägte Möglichkeiten, ihre Attraktivität und Anziehungskraft in die Waagschale zu werfen, um sich einen Mann Untertan zu machen! »Was – willst du von mir?« fragte er rauh. »Bin ich wirklich nur ein ›Zeitvertreib‹ für dich? Und was ist mit all den Rechtlosen, die du noch erworben hast? Alles nur … gegen die Langeweile?« Sie hatte begonnen, ihren Schamschutz loszuknüpfen. Ihr Busen wogte, als sie innehielt und klar erkennbar mit einer Antwort zöger te. »Warum willst du das wissen?« fragte sie. »Du verletzt meinen Stolz!« »Stolz?« Sie tat, als wäre dieses Wort bei jemandem wie ihm ein Widerspruch in sich. Doch dann löste sie den letzten Knoten und ließ das Leder, das die glatte, blanke Schönheit ihres Schoßes ver hüllt hatte, fallen. Duncan war wie benebelt von dem Anblick ihres Geschlechts. Et was in ihm spannte sich, und ein warmes, kaum bezähmbares Ver langen stieg in ihm auf. Er wollte es nicht. Nach allem, was Ischtar gesagt und getan hatte, wollte er es wirk lich nicht … … und konnte gleichzeitig an nichts anderes mehr denken, als in diesen Armen, in diesen weichen Formen zu versinken! »Warum machst du es dir so schwer?«
›Weil es schwer ist! Scheißschwer, zur Hölle!‹ Was war das? Warum dachte er plötzlich an Beth, als hätte sie ge rade zu ihm gesprochen? Ihm war, als käme die Stimme aus seinem Blut. Ein Echo jenes … »Was ist? Warum starrst du mich nur an wie ein Ungeheuer? Das bin ich nicht!« Ihre Finger wanderten über das eigene Fleisch, liebkosten den ei genen Busen und tauchten in den engen Spalt zwischen – »Hör auf!« »Fang an!« konterte sie. »Fang endlich an …!« Sie glitt auf ihn zu und schälte ihn aus seiner Kleidung. Er wehrte sich nicht. Er stand da wie zu einer Salzsäule erstarrt und lauschte in sich. Aber in ihm war Schweigen. Keine Stimme mehr, die ihm riet oder ihn gemahnte … Sie küßte ihn auf das Mal, das Endemars Siegel hinterlassen hatte. Als sie die Lippen löste, war es verschwunden, als hätte ihr Mund es aufgesogen! »Ich bin eine Wohltäterin«, schmeichelte sie. »Also laß mich dir wohltun …« Sie zog ihn zu Boden, wo kein harter Stein, sondern ein kunstvoll geflochtener weicher Teppich wartete. Und sie. Sie kauerte da wie eine blutjunge, unschuldige, noch un berührte Frau. (Ein Kind?) ›Niemals! Laß dich nicht – – –‹ Das Mädchenhafte zerstob, als hätte es gespürt, daß er sich ande
res ersehnte. Reife glitt wie ein Schatten über ihre Züge und ließ sie in einem einzigen Schlag seines Herzens altern – gerade soviel, bis sie seinem unbewußten Ideal entsprach. Als sie ihn das nächste Mal küßte, suchten seine Hände bereits ihre Brüste. Er ließ alle Vorsicht fallen. Sein Verstand blockierte, ohne daß Hypnose ins Spiel kam. Ischtar zog sämtliche Register ihrer unerschöpflichen Verfüh rungskunst …
* Die Tage vergingen. Seltsame Veränderungen ereigneten sich auf der Welt und im Le bensraum der Menschen. Über Jahrhunderte festgefügte Abläufe in der Natur schienen völlig auf den Kopf gestellt. Nicht selten über zog bei Sonnenaufgang eine seltsame, schleimige Schicht die Erde; sie mußte über Nacht aus ihr hervorgekrochen oder vom Himmel herabgefallen sein; aber niemand hatte dergleichen bemerkt. In Susa, so ging das Gerücht, sollte eine bislang unbekannte Krankheit wüten, die sich zunächst nur mit Husten und dunklen Hautausschlägen äußerte und später mit blutigem Auswurf. Es soll te auch schon Todesfälle gegeben haben, besonders unter Männern, die regelmäßig Huren besuchten, und unter den Gunstgewerblerin nen selbst. Außerdem wurden immer häufiger Schädlinge entdeckt, die den Weizen mit ihrem Kot und selbst Brunnen vergifteten. Der Hunger führte dazu, daß häufiger brutale Überfälle auf die außerhalb der Stadt lebenden Bauern erfolgten, denen ihr Vieh und anderes ge stohlen wurde. Nicht einmal vor Mord schreckte man dabei zurück
… Solche Nachrichten erreichten auch die Baustelle, wo Noes Familie mehr und mehr das Mißtrauen ihrer Umgebung erweckten. Cham sollte recht behalten: Die Fortschritte, die ihr Vorhaben nahm, ließ Verdächtigungen wuchern, die sich schon bald zur tödli chen Gefahr für ihrer aller Leben auswuchs. Selbst bei Tag flog mancher Stein in Richtung eines der Männer, die, von Seilen gesichert, an der Außenwand des kastenförmigen, hohlen Kolosses schufteten, der plump und schwer auf dem Boden ruhte. Weiteres Mißtrauen schürte der Umstand, daß die aus dem Lot geratene Natur die Gegend um die Baustelle auszusparen schi en. Hier ging alles noch seinen fast normalen Gang. Selbst der übel riechende, klebrige Regen fiel hier seltener, und die Erde gebar we niger Schrecken. Mizrajim beobachtete, daß die Anfeindungen der Stadtbewohner und der Nachbarn, mit denen sie früher ein mehr oder weniger un getrübtes Verhältnis gehabt hatten, auch Spuren an seinem Vater hinterließen. Es tröstete und erschreckte ihn zugleich. Auch untereinander mußte mancher Streit geschlichtet werden. Sem führte immer häufiger das Wort und spielte sich in den Vorder grund, als hingen Erfolg oder Mißerfolg des Projekts einzig von ihm ab. Japhet, Cham und Mizrajim nahmen dies nicht hin, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, bis Noe hinging und ein ernstes Gespräch mit seinem Lieblingssohn führte. Offenbar gelang es ihm dabei, die rechten Worte zu finden, denn danach besserte sich der Umgang untereinander wieder merklich. Sem zeigte Einsicht und Reue. Doch nicht nur Mizrajim mißtraute dem Frieden. Cham äußerte
seinen tiefen Unmut immer häufiger in seinem Beisein hinter vorge haltener Hand. »Sie werden uns erschlagen, und die von unserem Vater geweis sagte Flut wird vielleicht nur uns den sicheren Tod bringen! Letzte Nacht stand ich kurz davor, fortzulaufen.« »Fort?« wiederholte Mizrajim gequält. »Ja!« »Du hast ein Weib. Du hast …« »Ich würde sie hier lassen. Sie versteht mich nicht. Wenn du willst …« Er sprach nicht aus, woran er dachte, aber Mizrajim wurde es zunehmend flauer im Magen. »Nein!« sagte er fest. »Das darfst du Vater, das darfst du uns nicht antun! Niemand wird uns etwas zuleide tun. Der Herr hält seine Hand schützend über uns! Du hast gesehen, welche Wunder er wir ken kann …« Mizrajim umschloß die riesige Arche mit einer einzi gen Handbewegung. »Wir werden es schaffen! Und danach …« »Ja«, Cham nickte müde, »danach! Ich fürchte, selbst wenn alles so kommt, wie unser Vater es schil derte, wird der wahre Schrecken danach über uns hereinbrechen! Willst du leben auf einer Welt, auf der nichts mehr lebt außer dem, was in diesem Kasten Zuflucht fand?« Darüber hatte Mizrajim überhaupt noch nicht nachgedacht. Er nickte matt. »Glaubst du das wirklich?« Chams Stimme zitterte. »Wir werden Gottes Prüfung überstehen«, antwortete Mizrajim und wußte nicht, warum es ihm bei diesen Worten fast das Herz zerriß. »Auf unsere Namen werden alle Völker zurückgehen, deren höchste Pflicht es sein wird, den Herrn in Ehren zu halten, damit er nicht noch einmal Tod und Untergang säen muß …«
Cham schüttelte den Kopf. »Das Schlimme ist«, seufzte er, »daß du offensichtlich glaubst, wovon du redest …«
* Als er sie küßte, war es ähnlich wie früher. Er bemühte sich. Er ging vorsichtig und doch fordernd mit ihrem Körper um. Doch als es an der Zeit gewesen wäre, auch etwas zu geben, versagte er. Der Zu stand seines Geschlechts veränderte sich nicht. Die unverzichtbare Erektion blieb aus … Er lag da wie ein Brett, die Augen zur Decke gerichtet, als könnte er dort das Wort lesen, das er am meisten fürchtete: VERSAGER … Duncan krümmte sich unter dem mächtigen Déjà-vu, das ihn dar an erinnerte, wie er bei seinem letzten Zusammensein mit Lilith ver sagt hatte* – und hier, in den Armen einer, »Göttin«, nun ebenso … Innerlich glaubte er vor Verlangen nach Ischtar zu bersten, aber äußerlich rührte sich nichts, was nötig gewesen wäre, sein Begehren unter Beweis zu stellen! »Es – tut mir leid.« Er wußte nicht einmal, ob er die Wahrheit sagte. Ernüchtert zog er sich von ihr zurück. Sie lag immer noch wie die personifizierte, weibliche Versuchung vor ihm, und ihre Schönheit überstrahlte sekundenlang den gräßli chen Mißklang, den Duncan der magischen Stimmung zufügte. »Es tut dir leid?« Sie schürzte ihre Lippen, und etwas in ihrem Mund, das bereits zu einiger Größe angeschwollen war, bildete sich wieder zurück. Halb richtete sich Ischtar auf, bevor sie mit dem Nachdruck eines Schwurs erklärte: »Ich werde mich nicht auch noch *siehe VAMPIRA 20: ›Das zweite Leben‹
von deinem Blute beleidigen lassen, nein! Keine weiteren Enttäu schungen …« Geschmeidig erhob sie sich vom Teppich. Duncan kauerte mit an gezogenen Knien vor ihr. Er suchte nach Worten, die Ischtar viel leicht noch hätten besänftigen können. Ihm fiel nichts ein. Nichts, was diesen Fauxpas wirklich entschul digt hätte … Wie von ihm befürchtet, war die Vampirin nicht annähernd so ver ständnisvoll und tolerant, wie sie gerne vorgab. Wer sie enttäuschte, hatte verspielt! »Du hast dein Leben verwirkt. Ich werde persönlich dafür sorgen, daß du wenigstens noch den geringsten Tribut zollst, der von dir er wartet werden kann. Noch heute entsende ich dich dorthin, wohin die anderen bereits vorauseilten … Oh, wie es mich reut, Tage mit dir vergeudet zu haben …« Tage? »Du hast keine Ahnung!« warf sie ihm verletzend vor. »Vielleicht ist es unklug, einen wie dich, der nichts – gar nichts – von sich preis gibt, keiner Behandlung zu unterziehen, die doch manches an die Oberfläche fördern könnte. Manches Rätsel lösen … Aber ich mag nicht mehr! Ich mag dich nur noch im Dienst der Sache leiden sehen – steh auf!« Fast klang ihre Stimme jetzt wie die Veldraes. »Warte hier!« »Wohin gehst du?« »Zunächst – meinen Durst stillen. Ich werde mehr als ein Opfer benötigen, um die Tage, die ich dir in meinen Armen schenkte, wie der aufzuholen. Es sei denn, ich tränke sie bis zum letzten Atemzug aus, doch ist dies nicht meine Art …« ›Tage, die ich dir in meinen Armen schenkte.‹ Duncan wollte noch et was sagen, aber vor ihm flirrte die Luft, und dann entzog sich Ischt
ar seinen Blicken. Kurz darauf schlug die einzige Tür dieses Raum es; als Beweis dafür, daß etwas gegangen war … Minutenlang saß er da, ohne sich vom Fleck zu rühren. Er mußte erst verkraften, daß mit Ischtar jede Annehmlichkeit dieses Ortes ver schwunden war. Er hockte auf nacktem, kalten Stein. Die Wände waren wieder einzig bedeckt mit den Lobpreisungen an Götter, die nichts anderes als Angehörige der Alten Rasse waren – Vampire. Duncan versuchte, für sich selbst zu begreifen, was dies alles be deutete. Sein Blick fiel auf die Dinge, die geblieben waren: zwei Holztabletts sowie Endemars Arm und – Kopf. Aber gerade an dem Kopf waren deutliche Spuren von Verwesung zu erkennen, wie sie in der Kürze der Zeit eigentlich unmöglich wa ren! Für Duncan war dies der noch fehlende Beweis, daß Ischtar nicht nur in der Lage war, Licht zu »krümmen«, umzulenken und sich so den Blicken eines Sterblichen zu entziehen – sondern daß ihre Mani pulationen noch viel weiter reichten. Sie gebot der Zeit! Damit war sie anders als die Vampire dort, woher Luther stamm te. Niemand dort vermochte etwas Vergleichbares; nicht einmal Landru. Oder hatte er nur nie darauf zurückgegriffen? Das war mehr als unwahrscheinlich, denn es hätte ihm einen ent scheidenden Vorteil nicht nur gegenüber Lilith, sondern auch ge genüber Felidae, der Diebin des Lilienkelchs, verschafft. Nein, Landru beugte die Zeit nicht nach Belieben! Kein Vampir der – von dieser Warte aus betrachtet – fernen Zu kunft tat dies! Die einzige Verbindung zu solch tiefem Verständnis des Zeit stroms stellte der Korridor dar, durch den Luther bis hierher gelangt war …
Er hörte auf, darüber nachzudenken, hüllte sich in seine lädierte Kleidung und erwartete Ischtars Rückkehr, die vermutlich alles bis herige Unheil in den Schatten stellen würde.
* Als Ischtar zu dem von ihr erworbenen »Zeitvertreib« (eine in die sem Fall absolut wörtlich zu nehmende Bezeichnung) zurückkehrte, wirkte ihr Zorn keinesfalls gemildert. Außerdem schien sie jedoch noch von etwas anderem im Innersten erschüttert worden zu sein. Sie trug wieder Schamschutz und Tiara, was bedeuten mochte, daß sie sich sichtbar unter die Sterblichen gemischt hatte. »Ich besuchte Khorsabad«, eröffnete sie ihrem Sklaven, während sein Blick fasziniert die hohe, spitz zulaufende Kopfbedeckung mit den aufgesetzten Tierhörnern musterte. »Ich wollte auch ihn für die Enttäuschung zahlen lassen, die du mir bereitet hast … Aber es kam anders.« Duncan stand fast an derselben Stelle, wo sie ihn verlassen hatte. Es hatte keine Möglichkeit der Flucht aus diesem fensterlosen, rät selhaft erhellten Raum gegeben. Er hatte das Gefühl, daß Ischtar darauf wartete, von ihm zum Wei terreden aufgefordert zu werden. Aber er schwieg, weil er wußte, daß jede Reaktion zu seinem Nachteil ausgelegt werden würde. Natürlich auch sein Schweigen. »Khorsabad bettelte um sein schäbiges Leben – und überraschte mich mit einem Geschenk, das mich tatsächlich gnädig stimmte. Ich wollte es nicht mitbringen, aber ich bin fest überzeugt, es wird auch dich beeindrucken!« Daran zweifelte Luther, und diesmal konnte er die Entgegnung,
die auf seine Zunge drängte, nicht zurückhalten. »Ein weiteres abge schlagenes Haupt?« fragte er sarkastisch. »Noch sitzt es fest auf Schultern«, erwiderte die Vampirin. »Doch dies kann sich, wie bei dir, jederzeit ändern … Komm mit!« »Wohin?« »Zu Khorsabads Haus. Draußen herrscht die Nacht. Schamasch ist hinter den östlichen Toren versunken. Die Straßen sind ruhig. Du brauchst um dein geringes Leben nicht zu fürchten. Noch nicht.« Wenn Duncan darüber nachdachte, fand er alles besser als länger hier in Anums Tempel zuzubringen. »Wie viele von euch gibt es?« fragte er, als sie aufbrachen. Ischtar war sich ihrer Sache sicher und verzichtete auf Fesseln jeglicher Form. »Von euch, die ihr euch ›Göt ter‹ nennt …« »Wir sind Götter, erhaben über Gewürm, wie du es verkörperst! Wir müssen nicht viele sein. Unsere Stellung macht uns zu Gebietern über das schwache Volk der Menschen. Aber du redest, als würdest du ahnen, wer wir sind …?« Er spürte den kaum merklichen Ruck, die Straffung, die ihren Kör per durchlief und wie eine Feder spannte. Duncan überlegte, was es noch für einen Vorteil bringen konnte, ihren Einwand zu leugnen. Er fand keinen überzeugenden Grund. Schließlich hatte Ischtar ihn bereits abgeschrieben. Was ihn nun noch erwartete, war der Tod – oder Schlimmeres. (Schlimmeres, ja: Die Verflüchtigung. Was glaubst du Narr, wie lan ge du dich noch hier halten wirst? Tage sind bereits verstrichen! Draußen! Aber, wer weiß, vielleicht wurde die Uhr, die deine Frist bestimmt, doch nicht betrogen. Vielleicht tickte sie unablässig weiter …?) »Ich entsinne mich dunkel, von solchen wie dir gehört zu haben.
Solchen, die auf Menschenkinder zurückgehen und durch ein magi sches Kelchritual in eine andere Existenz verwandelt werden. Die Menschenblut trinken, um sich zu nähren … Und die fähig sind, Diener zu schaffen mit einem Keim, der …« Ischtars Augen funkelten wie zwei in gleißendes Licht gelegte Edelsteine. »Du redest soviel Wahres – und soviel Unsinn!« unter brach sie ihn, als hätte er erneute, gefährliche Wallungen in ihr aus gelöst. »Von Menschenkindern sollen wir abstammen? Ein ›Kelchritu al‹? Ein ›Keim‹, der Diener schafft …? Du hast nicht nur dein Ge dächtnis, du hast den Verstand verloren! Oder du bist der größte Be trüger, der sich denken läßt … Wüßte ich es nicht besser und fühlte ich es nicht, könnte man glauben, du seiest einer von uns … Aber dein Geheimnis ist ein anderes …« »Endemar meinte, ich sei von einem Dämon besessen!« »Endemar ist tot!« Nach dieser Feststellung schwieg Ischtar eisern, während sie zunächst die Tempelstufen hinabstiegen und dann in das Gassengewirr der Unterstadt eintauchten. Bis zu Khorsabads Haus brauchten sie nicht lange. Ischtar bewegte sich traumwandlerisch im Dunkel, das eine be drückendere Qualität besaß als die Nächte, die Duncan gewohnt war. »Was geht hier vor?« fragte er irgendwann. »Man hat das Gefühl, als stünde man auf einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann!« »Ich sagte schon einmal: Du redest viel Wahres! Wäre es anders, hätte ich dich längst getötet!« »Das ist keine Antwort.« »Ich weiß.« Duncan begriff, daß er von ihr erwartete, was er selbst ihr versag te: Antworten.
Auch er hielt sein Stillschweigen, bis sie Einlaß bei Khorsabad fan den, der sie bereits in Gesellschaft des Stummen zu erwarten schien. Erfreut über das Wiedersehen war er nicht; wahrscheinlich gab er Duncan die Schuld an Endemars Ende und daran, daß ihn fast das selbe Schicksal ereilt hätte. »Er möchte mein Geschenk sehen«, sagte Ischtar kühl. Der Händler nickte seinem stummen Diener zu, der gehorsam den Raum verließ. Wortlos warteten sie sodann auf seine Wiederkehr. Ischtars Miene versteinerte zur sphinxhaften Maske. Endlich zerbrachen Schritte die unangenehme Stille. Der Stumme kehrte mit einem Gefangenen zurück. Der Boden unter Duncans Füßen schien nachzugeben. Romano …! dachte er, grau vor Entsetzen.
* »Ihr kennt euch – wie schön. Offengestanden habe ich nichts ande res erwartet!« Ischtar trat zwischen sie, und es geschah, daß Khorsabad und sein stummer Diener zu Boden sanken, als hätte jemand die unsichtbaren Fäden, die ihnen Halt verliehen hatten, mit einem schnellen Schnitt durchtrennt. Duncan schrak zusammen. Er fühlte sich von Ischtar durchschaut, die natürlich genauestens auf seine Reaktion bei der »Gegenüber stellung« spekuliert hatte. Romano sagte: »Ich konnte nicht ahnen, daß ich erwartet würde. Ich …« »Erwartet?« fragte Luther.
»Von ihm«, sagte Romano und wies zu Khorsabad, der wie schla fend dalag. Aber ebensogut konnte er tot sein. Alles hing von Ischt ars Gnade ab … »Khorsabad ließ den Raum, in dem er dich fand, ständig überwa chen«, erklärte die Vampirin ein, »Es war kein Wissen, nur eine Möglichkeit, daß dort noch mehr von deiner Art auftauchen könnten … Nun, er behielt recht – und doch wieder nicht. Ich habe mir die sen hier schon angesehen: Er ist ganz anders als du! Das einzige, was euch verbindet, ist, daß ihr beide meinem Willen widersteht! Dies glückte zuvor keinem, und nun wiederholt es sich sogar … Ihr werdet verstehen, daß ich dem nachgehen muß.« Romano verstand Luthers unausgesprochene Frage. »Ich habe ge schwiegen. Aber ich frage mich, was es uns einbringen soll. Ich fürchte, wir werden diese Zeit beide nicht mehr verlassen!« »Diese Zeit?« Ischtar lächelte. »Hörte ich da den Ansatz einer Er klärung für euer seltsames Gebaren – und eure Befindlichkeit?« Duncan nahm es Romano nur im ersten Moment übel, daß er sich doch zu einer Andeutung hatte hinreißen lassen. Im Grunde traf sei ne Analyse die Situation auf den Punkt. Die List, die Ischtar dazu bewegen konnte, sie wieder freizugeben, mußte erst noch erfunden werden. »Die Zeit«, bestätigte er und dachte: Dein Metier also, Ischtar. Oder das der Vampire dieses Zeitalters allgemein … Laut fügte er hinzu: »Aber wahrscheinlich wirst du es uns nicht glauben, wenn wir dir verraten, daß wir aus der Zukunft kommen.« Ischtars Lächeln verzerrte sich. »Dieser Mann«, sie schickte einen glühenden Blick zu Romano, »hat aufgehört zu atmen. Sein Herz steht still. Und doch beherrscht er diese sonderbare Art, Leben vor zugaukeln! Wie? Warum? Wenn ich in seine Augen blicke oder eu rem Gespräch folge, muß ich glauben, daß er ein Mensch ist wie
jene, die unserer Nahrung und Machtausübung dienen … Aber er ist weder tot noch lebendig, und du –«, fast anklagend richtete sich ihr Blick auf Luther, »– bist noch undurchschaubarer. Auch dir haf tet der Ruch des Todes an, doch du bist warm und lebendig wie ich –« »Nicht wie du«, widersprach er. Die Gelegenheit war günstig, ihr – falls dies überhaupt möglich war – weh zu tun. »Dort, woher ich komme, führen auch solche wie du nur eine Scheinexistenz. Sie er schaffen Diener, indem sie Menschen das Blut aussaugen, bis diese tot sind und durch etwas, was beim Trinken auf sie übergeht, als willenlose Kreaturen wiederauferstehen …!« »Du redest schon wieder wirr!« »Und du versteckst dich vor der Wahrheit!« »Du maßt dir an, die Wahrheit zu kennen?« »Vielleicht«, erwiderte er, »möchtest du mehr über die Zukunft, unsere Heimat, erfahren. Wenn du uns tötest, wird sie dir immer verhüllt bleiben, denn du weißt selbst, du kannst uns nicht zwingen, darüber zu berichten.« »Immer verhüllt bleiben? Die Zukunft? Wahnsinniger!« Ischtar glitt auf ihn zu und legte die Hände um seine Kehle. »Ich – lebe – ewig! Du nicht! Ich bräuchte nur zuzudrücken …« »Das … glaube ich dir … nicht«, krächzte Duncan, gestärkt von ei ner unnatürlichen Gelassenheit. Oder war es Sehnsucht? Den Wunsch, jenen Zustand zu erreichen, der ihm längst bestimmt war: tot …? Sie ließ los. »Was ich an dir bewundern muß, ist dein Wagemut!« »Ich freue mich, daß du zur Besinnung kommst.« »Freue dich nicht zu früh. Erzähle mehr von deinen vermeintli
chen Wahrheiten! Von wie weit her seid ihr ›gereist‹? Wie viele Jah reszeitenwechsel entfernt soll die von dir beschworene ›Zukunft‹ liegen?« Romano nickte leicht, als wollte er Luther ermuntern, ihr weitere Köder vorzuwerfen. Offenbar glaubte er, Duncan habe einen Plan. Er irrte. Noch war alles vage; noch spekulierte er auf reinen Zeitgewinn. Dann, übergangslos, zündete eine Idee in ihm. »Es gibt eine ande re Möglichkeit, dich die Zukunft schauen zu lassen.« »Wovon redest du?« »Ich rede davon, sie zu besuchen!« Ischtar erzitterte. Es war das erstemal, daß sie überhaupt eine Schwäche zeigte. Nicht einmal in Duncans Armen hatte sie die Kon trolle über sich völlig aufgegeben. Auch jetzt war es nicht von Dauer. Sie faßte sich schnell. »Du solltest es nicht zu weit treiben. Meine Geduld ist längst er schöpft.« »Wäre sie es, läge ich jetzt am Boden.« »Aus dir spricht ein Größenwahn, der dir das Genick brechen wird!« »Dort, woher ich komme, ist das die sicherste Methode, sich eines Vampirs zu entledigen. Er zerfällt danach zu Staub!« »Zu – Staub?« »Vorsicht!« zischte Romano und trat neben Duncan. »Siehst du nicht …?« Ischtars Groll ließ ihn verstummen. »Zu Staub?« wiederholte sie, als wäre sie nie tödlicher beleidigt worden. »Zerbräche mein Genick, kostete es mich nur einen Gedanken, es zu heilen – und ich hätte noch Zeit für Gedanken. Ich bin kein Mensch, der stirbt und verlöscht,
wenn man ihm …« »Du wolltest mehr über die Zukunft wissen, ich antwortete«, sagte Duncan. »Ich kann auch schweigen.« Sie schien zu überlegen. Dann sagte sie: »Ein Umstand entlarvt dich – und ihn –«, sie meinte Romano, »als Lügner.« »Welcher?« fragte Luther. »Würdet ihr tatsächlich die Magie der Zeit beherrschen, hättet ihr euch niemals so leicht überrumpeln lassen. Ihr könntet euch nach Belieben in den Zustand der Freiheit zu rückversetzen … Könnt ihr das?« »Nein«, sagte Luther. »Aber du begehst einen Denkfehler. Wir konnten hierher gelangen, ohne den Gesetzen der Zeit zu gebieten. Es gibt eine geheime Tür hierher – und auch nach anderswo.« Romano scharrte unruhig mit den Füßen. Unbeirrt fuhr Luther fort: »Ein Stollen führt von der Zukunft bis in diese Gegenwart – und noch darüber hinaus.« »In die Vergangenheit?« fragte Ischtar. Ihre Stimme klang heiser. Ihr Gesicht veränderte sich im Zuge ihrer Erregung. Es war, als schälte es sich und gäbe etwas preis, was unter der dünnen Schicht ihrer Schönheit lauerte. »Ja«, erwiderte Duncan. »Auch in die Vergangenheit. Aber soweit sind wir noch nicht gekommen.« Er wußte nicht mehr, ob es klug war, ihr all dies zu verraten. Er wußte nur, daß er ihr Interesse mit etwas Kolossalem fesseln mußte, um eine Kurzschlußhandlung zu verhindern. Zugleich befiel ihn ein schrecklicher Schauer, als er sich vorstellte, was dieses Wesen anrichten konnte, wenn es mit ihrer Hilfe einen Weg in die Zukunft fand. Aber er hoffte immer noch, daß sein Plan aufging und das Tor nur für ihn und Romano durchlässig war …
Es war dünnes Eis, auf das er vertraute, denn es war nicht auszu schließen, daß ›Götter‹ wie Ischtar, deren Magie die Zeit mit einbe zog, den Korridor – wußten sie erst, wo sich ein ›Zugang‹ befand, mühelos betreten konnten! Auch Romanos Miene drückte diese Sorge aus. Ischtar aber sagte: »Ich gebe euch Gelegenheit, mir deine kühnen Thesen zu beweisen! Enthalten sie mehr als einen Funken Wahrheit, eröffnen sich ungeahnte Perspektiven! Die bisher erdachten Überle benspläne könnten sich als nichtig erweisen …« »Überlebenspläne?« Luther horchte auf. »Später!« wiegelte sie ab. »Zuerst zeigt mir den Eingang zu jenem ›Stollen‹, von dem du eben noch geprahlt hast! Vielleicht werde ich den Bann über dir aufheben. Vielleicht werde ich dich wieder in meine Gunst aufnehmen. Und wenn du es möchtest, auch deinen to ten Freund … Worauf wartet ihr?« Luther wechselte einen raschen Blick mit Romano, der jedesmal zusammengezuckt war, wenn sie über ihn wie über ein Ding gerich tet hatte. Dann gingen sie, um ihre letzte Chance zu nutzen. Khorsabad und der Stumme sahen aus, als wollten sie sich nie mehr erheben.
* Auf ihrem Weg durch das weiträumige Haus begegnete ihnen keine Menschenseele. Es erweckte einen ausgestorbenen Eindruck. Seine Bewohner schliefen entweder einen beneidenswert tiefen Schlaf, oder Ischtar hatte, auch was sie betraf, Vorkehrungen getroffen. Romano schien zu bedauern, daß sie nicht frei sprechen konnten,
weil Ischtar in ihrer Mitte lief und jedes Wort gehört hätte. Luther brannte darauf zu erfahren, warum Romano sich doch noch entschlossen hatte, durch das Tor zu gehen. Eine genaue Mus terung ergab, daß er mittlerweile auch völlig von den Auflösungser scheinungen genesen war. Es gab keine erkennbare ›durchscheinen de‹ Stelle mehr an ihm. Um so unvernünftiger, fand Luther, sich erneut dem Risiko auszu setzen, zumal Romano weder Hunger noch Durst litt und im Gegen teil sogar allzu intensive Sonnenstrahlung fürchten mußte. Einstweilen blieb Romano eine Erklärung aber schuldig … Der Trakt, in dem sich der Torausgang befand, hatte sich nicht ver ändert. Warum auch? Er war nicht bewohnt, sondern diente offen bar nur als Kreuzungspunkt mehrerer Gänge. Die Ziegelsteinmauern waren fachmännisch mit Mörtel verfugt. Sämtliche Nischen standen leer, mochten aber zur Aufnahme von Statuetten gedacht sein; vielleicht bei besonderen Feierlichkeiten. Ob Khorsabad jedoch je wieder Anlaß zum Feiern erhalten würde, war ebenso fraglich wie das Schicksal der beiden Zeitreisenden. »Hier ist es«, sagte Luther. Er vermutete, daß er der Vampirin da mit nichts Neues verriet. Wo er und Romano entdeckt worden wa ren, hatte Khorsabad sicherlich verraten. »Hier seid ihr beide wie aus dem Nichts erschienen«, sagte sie. »Durch das Tor«, bekräftigte Luther. »Ich sehe kein Tor.« »Man kann es nicht sehen. Nicht einmal wir beide können dies. Wir müssen es ertasten. Es liegt irgendwo hier in dieser Wand …« Dabei zeigte Luther auf die falsche Wand. Romanos Miene blieb ausdruckslos. Nur Luther, der Gelegenheit erhalten hatte, ihn kennenzulernen und seine Eigenarten zu studie
ren, stand tausend Ängste aus, weil er fürchtete, auch Ischtar könnte sehen, wie Khorsabads zweiter Gefangener leicht wankte. Und Ischtar lächelte böse. »Sicher wollt ihr danach suchen. Beide …« Luther und Romano nickten einträchtig, obwohl Ischtars Verhal ten auch suggerierte, daß sie genau wußte, was sie vorhatten. Die Vampirin näherte sich der Wand. Obwohl sie den beiden Män nern für ein paar Momente den Rücken kehrte, kam nie das Gefühl auf, sie hätte sie auch aus den Augen verloren. Luther fröstelte. Romano wurde unruhiger. Sein Blick glitt zu der richtigen Wand, und er schien mit jeder Faser seiner seltsamen Existenz zu schreien: JETZT! WIR MÜSSEN – Ischtar wandte sich ihnen wieder zu. »An dieser Wand ist nichts Ungewöhnliches.« »Wäre es so offensichtlich, wäre das Tor längst entdeckt worden«, antwortete Luther, womit er nicht einmal die Unwahrheit sagte. »Dann finde du es für mich«, sagte sie. Er nickte und machte einen Schritt. »Es beginnt direkt neben dei ner Rechten …« Er zeigte auf die Stelle, wartete, bis sie sich damit beschäftigte – und machte dann unvermittelt kehrt. Blitzschnell. Im Sprung riß er Romano mit sich, der fast die Balance verlor. Drei weitere Sätze fehlten bis zu dem Tor, das wirklich nicht erkennbar war. Es sah aus, als wäre Ischtar immer noch mit der Stelle beschäftigt, die Luther ihr genannt hatte. Wir schaffen es, dachte er. Sie wollten sich einfach in die Wand werfen, wie sie es schon ein
mal voller Angst, Verzweiflung und in letzter Hoffnung unmittelbar nach Amenophis’ Krönungszeremonie getan hatten … Sie wollten … Doch Ischtars Lachen radierte ihre Hoffnung wie mit einer fau chenden Flamme aus. Aber nicht nur sie …
* Mizrajim hatte einen Traum. Ihn träumte, in einer dunklen Höhle vor einem finsteren alten Mann zu stehen, der sich über ihn beugte und seine Zähne … Zitternd fuhr er aus dem Schlaf hoch. Der Unterstand, den sie als Wetterschutz im Schatten der Arche errichtet hatten, wurde ihm zu klein, zu eng, bis er meinte, darin ersticken zu müssen. Luft …! Mit hölzernen Bewegungen taumelte er zum Feuer, das nur noch aus mit weißer Asche überzogenen Glutresten bestand und kaum noch Wärme ausstrahlte. Es mochte die Zeit der dritten Nachtwache sein, aber vom ersehnten Morgen gab es am östlichen Horizont noch keine Spur. Mizrajim häufte ein paar dürre schlanke Zweige über die Glut und blies zitternd dazwischen. Die Asche wurde fortgewirbelt; Flammen leckten nach dem Geäst. Hinter Mizrajim erklangen Geräusche. Dann kniete Cham neben ihm. »Was ist?« fragte er leise genug, daß kein Wort bis zu den anderen getragen wurde. »Ich war wach, als du aufgestanden bist. Friert dich?« Mizrajim zögerte. Doch dann redete er sich seine Last von der See
le, indem er Cham zum Mitwisser des beängstigenden Traumes machte. Hell loderten die Flammen des Feuers und spiegelten sich in den Augen der Brüder. »Erstaunlich«, sagte Cham, »wie du mir immer wieder Mut zu sprichst, während du mit dir selbst völlig im unreinen zu sein scheinst …« Er schüttelte den Kopf. »Was du geträumt hast, sollte dich nicht beunruhigen. Auch über mich sind im Schlaf schon düste re Dinge gekommen. Im ersten Morgenlicht schwinden diese Schat ten. Manchmal glaube ich, es sind Prüfungen.« Mizrajim lächelte kläglich. »Ich habe eine Bitte«, sagte er. »Sprich sie aus.« »Würdest du dir einmal … meinen Hals ansehen?« »Deinen Hals?« Cham schien nicht zu begreifen, worauf er hinaus wollte. »Diese Stelle hier …« Mizrajims Finger glitten dorthin, wo es ihn in den letzten Tagen immer wieder juckte und kribbelte, ohne daß er eine Ursache erfühlen konnte. Es war genau die Stelle, in die im Traum ein alter Mann seine Zäh ne gesenkt hatte … »Erkennst du etwas?« Er wandte sich so zum Feuer, daß es seine Haut erhellte. Dann rieb Chams Finger über die bewußte Stelle. »Eine alte, vernarbte Wunde … Wahrscheinlich bist du einmal an einem Dornenstrauch hängengeblieben …« »Wie – sieht es aus?« »Es ist kaum zu erkennen … Nichts Außergewöhnliches, auch nicht entzündet … Wirklich nicht! Du brauchst dich nicht zu sorgen!«
»Aber ich sorge mich.« »Wegen eines Traums?« »Wegen der Gefühle, die er hinterließ«, erwiderte Mizrajim. »Auch jetzt, im Wachen.« »Welche Gefühle?« Mizrajim atmete tief ein und aus. Eine Weile ruhten seine Blicke in zärtlicher Zuneigung auf Cham, und er war dankbar, daß es ihn gab. Dann sagte er: »Ich fühle plötzlich, daß es gelingen wird. Dieser gewaltige Kasten, der – sieh hin! – auch jetzt wieder, seit wir uns zur Ruhe legten, in seinem Bau fortgeschrittener scheint … diese Arche wird ihre göttliche Mission erfüllen. Tiere, von den reinen und unrei nen je ein Paar, werden darin die Katastrophe überleben. Aber …« »Aber?« Cham wartete, daß er fortfuhr. »Was bereitet dir daran solches Ungemach? Es ist genau das, was Vater uns auf Jahwes Ge heiß prophezeite …« »Aber«, sagte Mizrajim, »ich werde das Gefühl nicht los, daß …« Wieder stockte er, und Cham sah, wie eine schreckliche, durch nichts zu beschwichtigende Furcht über das Gesicht des Bruders glitt. Er wollte die tröstende Hand nach ihm ausstrecken, aber eine unüberbrückbare Kluft schien sich zwischen ihnen aufzutun. »Daß was?« drängte er heiser. Mizrajim gab sich einen Ruck. »Daß all dies gelingen wird, aber – aber ich nicht dabei sein werde …!« Cham gab es nicht zu, aber in diesem Moment gewann er den Ein druck, daß nicht sein Bruder, sondern etwas Anderes, Fremdes, Schreckliches und absolut Böses aus dessen Augen zu ihm herüber starrte. Etwas, das Mizrajims dunkelste Ahnungen mehr als bestätigte.
Wäre nicht zugleich immer noch Mizrajims Verzweiflung spürbar gewesen, Cham hätte sich umgedreht und wäre voller Grauen da vongerannt …
* Von Susa war es eine Tagesreise bis zu den fernen Ausläufern des Zagros-Gebirges, hinter denen sich Euphrat und Tigris schlängelten. Als Duncan Luther und George Romano zu sich kamen, kannten sie das Ziel ihrer Reise noch nicht. Sie lagen auf einem rumpelnden Karren. Vor und hinter ihnen befanden sich weitere Wagen gleicher Bauart und mit ähnlicher Fracht wie sie selbst. Sklaven. Luther versuchte sich zu erinnern, was in Khorsabads Haus ge schehen war. Es fiel ihm nicht nur schwer, sondern war fast unmög lich. Kurz bevor sie die rettende Passage in der Mauer erreicht hatten, war vor ihnen eine Flammenwand aufgewachsen. Das Feuer hatte nach ihnen gegriffen und – Duncan fand keinerlei Brandverletzung an sich. Auch seine Klei dung wies keine weiteren Schäden auf. »Ich erinnere mich – an nichts«, stöhnte Romano. Er hielt sich den Kopf, aber es blieb unklar, ob vor Schmerz oder einfach aus Resigna tion. »Wie kommen wir – hierher?« »Ich weiß es auch nicht«, sagte Luther. »Sicher ist nur, daß sie nicht darauf hereingefallen ist.« »Es war kein guter Plan.« »Es war überhaupt kein Plan!« gab er zähneknirschend zu.
»Was jetzt?« »Wir müssen abwarten.« »Du weißt, was geschieht, wenn wir zu lange warten.« Ja, dachte Luther. Das weiß ich. »Wir entfernen uns vom Tor«, fügte Romano hinzu, als gälte es, al les aufzuzählen, was dazu geeignet sein konnte, die ohnehin misera ble Stimmung noch mehr zu zerstören. »Die Stadt liegt schon so weit hinter uns, daß nichts mehr von ihr zu sehen ist …« Luther gab ihm widerwillig recht. Das Land um sie herum sah aus wie ein staubiger Acker. Ein Weg war kaum erkennbar. Die Men schen auf den Karren wurden hin und her geworfen. Ketten klirrten. Ketten, wie auch Romano und er sie um die Fußgelenke trugen und die mit einem primitiven Schloß am Boden des Karrens verankert waren. Der Wagenlenker, ein respekteinflößender Geselle, drehte sich zu ihnen um und knallte mit seiner Peitsche. Sie verfehlte nur knapp Luthers Rücken und traf dafür einen anderen Unglücklichen, der neben ihm kauerte. Insgesamt füllten jeden Karren etwa ein halbes Dutzend Sklaven. »Haltet eure Mäuler!« brüllte der Kutscher, wandte sich dann aber wieder nach vorn. Daraufhin unterhielten sich Romano und Luther nur noch im Flüs terton, der eine in des anderen Ohr. »Warum bist du mir überhaupt nachgekommen?« »Es wird dich amüsieren.« »Daran zweifele ich.« »Ich hatte Sehnsucht …« Duncan begriff, daß die Ironie nur ein Schutzschild Romanos war. »Du wolltest nicht – alleine weiter?«
»Nein, das wollte ich nicht. Obwohl ich es gemußt hätte, wäre ich nur dem oberflächlichen Drängen in mir gefolgt.« Duncan fragte nicht, was sich in Romano als stärkerer Drang er wiesen hatte. Er ahnte längst, daß der wandelnde Tote neben ihm ein mindestens ebenso zerrissener Charakter war wie er selbst. Im Grunde war es höchst einfach, auch für ihn Zuneigung und (ja!) Freundschaft zu entwickeln. Luther mußte nur das Wissen beiseite schieben, daß sein Begleiter auf der Wanderung durch den Zeitkor ridor einen Körper lenkte, der aufgehört hatte, die geringsten Be dürfnisse zu produzieren! Alles, was an solchen Wünschen und Sehnsüchten noch existierte, wohnte in Romanos Bewußtsein – und das schien sich nur unwesent lich von dem des noch lebendigen Romano zu unterscheiden … Am späten Nachmittag dieses Tages erreichten sie eine Senke am Rand der Berge – und einen Ort schier unglaublichen Geschehens.
* Ischtar beriet sich mit dem Mächtigsten der Mächtigen, und auch Enlil war anwesend. »Wir haben alles untersucht«, sagte Anum. »Es gibt keinen Hin weis auf das, was du den beiden Fremden entlocken konntest. Kein Tor … Nichts, was annähernd einem solchen entspräche. Ich forsch te persönlich nach der Magie, mit der wir in bescheidenem Maß die Zeit zu beugen vermögen – auch davon war nichts zu bemerken. Wahrscheinlich wurdest du ein Opfer dreister Hochstapler …« Ischtar löste die Lippen von einem Mahl, das ihnen traditionell bei jeder Zusammenkunft aufgetischt wurde. Das Kind lebte noch. »Ich habe Khorsabad und seine Diener noch einmal einem drin
genden Verhör unterzogen. Sie sind felsenfest überzeugt, daß die beiden Fremden wie aus dem Nichts erschienen sind! Es muß etwas an den Worten Dang-K’ns sein!« »Ich sehe dich zum ersten Mal von Menschen beeindruckt«, sagte Enlil, nachdem sie das Mahl an ihn weitergereicht hatte. »Sie sind beide anders als die, die wir kennen. Ihr wolltet sie nicht ansehen, obwohl ich sie gern vorgeführt hätte …« »Es gibt dringlichere Angelegenheiten«, befand Anum, der als letzter trank und des Knaben Leben damit auslöschte. Ischtar sah zu und wurde von einem ihr zunächst unerklärlichen Schauder durchkrochen. »Was ist?« fragte Anum. »Ich muß nur gerade an eines der Beispiele denken, mit denen Dang-K’n Wesen unserer Art, aber in seiner Zeit lebend, schilderte.« »Erzähle.« Sie tat es. Danach machte sich Heiterkeit unter ihnen breit, noch angefacht von Anums derbem Scherz: »Dann müßte dieses Mahl hier –«, er zeigte auf den Leichnam, »– sich jetzt vor uns erheben und uns seine Dienste anbieten …« Ischtar beendete die absurde Vorstellung mit den Worten: »Ich wünschte, wir könnten mit unserer Magie auch die Arbeiten drau ßen bei den Bergen beschleunigen. Aber wir würden uns in einem Maße schwächen, wie es nicht zu verantworten wäre. Ich reise noch heute, um mich vor Ort mit dem Seher zu beraten!« »Mehr treibt dich nicht dorthin?« spottete Enlil. »Doch«, sagte Ischtar. »Nimm das hier mit …«, Anum händigte ihr ein kleines Kästchen aus, »… und erprobe es. – Wenn du willst, an denen, die du immer noch nicht wieder aus deinem Denken verbannen konntest!«
Ischtar öffnete den Deckel. »Vielleicht werde ich das tun«, sagte sie. »Ob wohl des einen Herz mir tot und leer erschien, demnach völlig ungeeignet wäre …«
* »Welch unbeschreibliches Elend …!« Was sich vor ihren Augen ausbreitete, war auf keinen treffenderen Nenner zu bringen als das, was Duncan Luthers Worte ausdrückten. »Was ist das?« Romano war erschüttert wie er. »Es sieht aus wie ein … Arbeitslager für Schwerstverbrecher …!« Luther konnte diese Assoziation gut verstehen. Tatsächlich beweg ten sich vor ihren Augen Menschen bei härtester Arbeit und unter rücksichtsloser Tortur. Hochgewachsene, brutal wirkende Aufseher sorgten dafür, daß niemand eine Pause einlegte. Die Schreie der Ge prügelten und das Brüllen ihrer Peiniger schwebte wie ein lärmen der Teppich über der gigantischen Baustelle. Primitive Gerüste umsäumten oder stützten ein Gebilde, dessen späterer Zweck nicht erkennbar wurde. Es war einfach ein gewaltiger Kasten, an dessen Dach gerade ge zimmert wurde. Dort, wo die Außenwände bereits fertiggestellt wa ren, schimmerte ein dicker Pechanstrich. Überhaupt hing der teerige Geruch überall in der Luft und legte sich auf die Atemwege. Über mehrere Feuerstellen verteilt hingen dampfende Kessel, in denen kein Essen kochte, sondern weiteres Material zum Abdichten der miteinander verbundenen und aus ihrer Rinde geschälten Baum stämme. »Sie hält Wort«, murmelte Luther. Als Romano ihn fragend ansah, erklärte er: »Sie schwor, mich zu
zerbrechen!« »Ischtar?« Er wollte bejahen, aber dann wurde ihnen nachhaltig klargemacht, daß die Zeiten der Unterhaltung ein für alle Mal vorbei waren. Unter Peitschenhieben wurden sie voneinander getrennt und mit den anderen Sklaven dieses Trosses zur Baustelle getrieben, wo ein lärmender Gong andere, kurz vor dem Zusammenbruch stehende Arbeiter erst einmal erlöste. Sie wurden in langen Reihen zu einem umzäunten Bereich geführt, der wie ein Korral für Tiere aussah, aber ganz offenbar die Schlafstellen der Sklaven abtrennte. Bevor sie es ganz genau erfuhren, mußten sie zuerst die Strapazen ihres ersten Tages im Vorhof der Hölle über sich ergehen lassen …
* In der Nacht wurde er von warmer Hand geweckt. Duncan Luther fühlte sich gerädert. Jeder Muskel im Leib schmerzte. Nach ein paar hastigen Bissen war er trotz der Enge und trotz des Gejammers um ihn herum sofort in einen ohnmachtsglei chen Schlaf gefallen. Mit der Schwäche war die Gleichgültigkeit gekommen. Und die Zweifel. Er hatte sich gewünscht, überhaupt nicht mehr daraus zu erwachen. Wozu diente das, was mit ihm und Romano geschah? Welchen ei gentlichen Sinn erfüllte der Korridor? Oder seine Tore? Er fing im Jahr 1996 an und endete … wo? Auf die Zukunft bezogen, auf jede verrinnende Sekunde dort, er weiterte sich der Zeittunnel. Er hörte nicht einfach an einem be stimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde im Jahr 1996 auf, son
dern würde auch im darauffolgenden Jahr und darüber erneut er reichbar bleiben … Oder? Oder? Wieder einmal wurde Luther klar, wie wenig er über das Phäno men aussagen konnte, das ihm und Romano den Marsch in die Ver gangenheit ermöglicht hatte … »Du kannst mir freiwillig und ohne Aufsehen folgen«, flüsterte eine wohlvertraute Stimme über ihm, »oder Widerstand leisten. Wo für entscheidest du dich?« Es war Ischtar. Er versuchte sich zu erheben. Arme und Beine schienen, statt mit Blut gefüllt, mit Blei ausgegossen zu sein. Auch sein Rückgrat tat weh; alles war von den Lasten verspannt, die er hatte schleppen müssen. »Nur du allein trägst die Verantwortung für deine Qual!« hielt sie ihm vor. Ihre Hand schloß sich stählern um seinen Arm und zog ihn in den Stand. Ketten klirrten. Es hatte stärker zu regnen begonnen; überall roch es faulig, als verwandelte sich die Umgebung allmählich in sumpfigen, gärenden Morast. Der Pferch mit den Sklaven war zum schlammigen Pfuhl verkommen. Überall zuckten gegen Nässe geschützte Feuer, die das Areal in gespenstischen Schein tauchten. Es wurde gearbeitet wie bei Tag. Nur der Lärm schien von Nacht und Regen gefiltert zu werden, und das Zwielicht barg zweifellos ein Mehr an Gefahr für die Geschundenen. Hie und da zerrissen Schreie den allgemeinen Pegel und zeugten von kleineren Unfällen. Auch Todesfälle waren kaum auszuschließen …
In Luther stauten sich Haß und Abscheu, während er hinter der Vampirin hertrottete, die sich chamäleonhaft der Umgebung ange paßt hatte – und doch aus ihr herausragte wie der Stern am Firma ment, den sie zu ihrem Symbol erkoren hatte. Sie erreichten ein abseits stehendes Zelt, vor dem – die Kette an einen Pflock geschlagen – bereits Romano wartete. Er sagte nichts, als er Luther erkannte. Es rüttelte ihn nicht einmal auf, als Ischtar ihre beider Fesseln löste und eine der Zeltwände für sie zurück schlug. »Hier hinein!« Sie gehorchten. Duncan versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, wie genau die Vampirin ihre Flucht durch das geheime Tor in Khorsabads Haus verhindert hatte. Es gelang ihm nicht, aber es er leichterte ihn bereits immens, daß auch sie ganz offensichtlich nicht den Durchgang in den Korridor überwunden hatte. Sonst wäre sie wohl kaum so bald hierher nachgefolgt … Duncan wußte nicht, warum ihn gerade dies so sehr erleichterte. Im Grunde hätte ihm längst gleichgültig sein können, was mit der Zukunft geschah. Er und Romano würden hier untergehen. Das Wunder, auf das er kurze Zeit gehofft hatte, würde nie geschehen …! Im Innern des Zeltes, das Ischtar sofort wieder hinter ihnen schloß, erwartete sie ein blinder alter Mann, dessen Anblick an Duncans Mitleid appellierte … … bis ihm Ischtars Worte klar machten, daß er keinem Opfer, son dern einem Täter vorgeführt wurde. »Das sind sie«, sagte sie und gab preis, daß ein Vorgespräch statt gefunden hatte. »Der Hellhaarige scheint über mehr Kenntnisse und Initiative zu verfügen als der andere, dessen Leib tot ist, ohne den Gesetzen des Todes zu gehorchen.«
»Zuerst den Toten«, sagte der Alte mit brüchiger Stimme. »Ich bin selbst fast tot – vielleicht verrät er mir sein Geheimnis, wie das Beste daraus zu machen ist …« Romano zuckte zurück, als der Blinde seine knochige Hand nach ihm ausstreckte. Erst Ischtars gebieterische Geste überredete ihn, sich die Berührung gefallen zu lassen. »Wer ist das?« fragte Luther. »Ich weiß es nicht«, verblüffte ihn Ischtar. »Niemand weiß es. Er war einst einer von uns, bevor er sich absonderlich veränderte und zu altern begann. Er erblindete. Gleichzeitig damit erwachten jedoch seherische Kräfte von unglaublicher Macht. Er vermag Dinge zu schauen, die noch nicht geschehen sind, aber sich viele Monde spä ter genau so bestätigen. Die seltsamste seiner Gaben aber ist, daß er die Sinne von Menschen, deren Blut er getrunken hat, mit zu benut zen vermag.« »Ich verstehe nicht«, sagte Luther, und er hatte tatsächlich Schwie rigkeiten, Ischtar zu folgen. »Was hat das alles zu bedeuten? Was ge schieht hier? Zu welchem Zweck werden hier Menschen verschlis sen? Aus purer Bosheit …?« »Das wäre nicht der schlechteste Grund.« »Scheusal!« Hätte sie es als Beleidigung empfunden, hätte sie sicher nicht ge zögert, ihm dies zu zeigen. Aber sie lächelte nur ihr Sphinxlächeln. »Siehst du all diese Tontafeln?« Sie wies auf die Utensilien, die um den Blinden verstreut lagen. Duncan nickte. Im trüben Licht eines unnatürlich homogen ab brennenden Feuers erkannte er zudem, was die darin eingeritzten Linien wiedergaben: Das Ding, das draußen erbaut wurde! »Was ist das?«
»Eine Kopie«, antwortete Ischtar. »Wovon eine Kopie?« »Diese Welt ist dem Untergang geweiht«, erwiderte die Vampirin. »Es sind Mächte am Werk, denen nicht einmal wir zu trotzen vermö gen. Eine Flut wird kommen – bald. Ihre Aufgabe soll sein, alles zu verschlingen, was vom Atem des Lebens erfüllt ist! Mit einer Ein schränkung: Jenseits der Berge, nahe der Stadt Susa, lebt ein gläubi ger Mann mit seiner Familie. Er allein soll auf höheres Geheiß den Wassern trotzen und später die Keimzelle für ein neues, ›besseres‹ Volk bilden. Die Rede ist von einem der Urväter, Noe ist sein Name.« Luther schluckte. Diese Welt ist dem Untergang geweiht, wisperte es in ihm, ohne daß er in letzter Konsequenz begriff, welches Bild Isch tar heraufbeschwor. »Was du draußen siehst und woran du deine geringen Kräfte er proben durftest«, fuhr Ischtar fort, »ist folglich nur eine Kopie des sen, was jenseits der Berge entsteht. Wir kennen jeden dortigen Fort schritt und setzen ihn sofort auch hier um. Der Seher hält uns auf dem laufenden. Er sieht und hört, was drüben geschieht, denn wir bedienen uns Noes jüngstem Sohn, der nichts mehr vor uns verbor gen halten kann, seit er den ›Kuß‹ des Sehers empfing. Er ist das schwächste Glied der Kette. Nicht einmal seine Gedanken bleiben uns verborgen …« Duncan Luther hörte kaum noch richtig hin. Sein Mund stand of fen, baff vor Erstaunen, und wie ein Stromstoß kam die Erkenntnis, in welche Zeit es ihn genau verschlagen hatte – und woran er heute mit seiner Hände Arbeit Anteil geleistet hatte: an einer Arche. Einer zweiten, dunklen Arche, einer genauen Kopie der Arche Noah! Eine Arche – für Vampire …
* George Romano stöhnte laut. Die fleckigen Zähne des Sehers dran gen in sein Fleisch. Duncan Luther fuhr herum und starrte ernüchtert zu ihm hin. Da durch konnte er gerade noch beobachten, wie der alternde Vampir mit den phantastischen Fähigkeiten Romano sofort wieder mit ei nem Ausdruck puren Ekels von sich stieß. Die dabei aufgebotene Wucht war für den sonst so zerbrechlich wirkenden Körper mehr als erstaunlich. »Was bringst du mir da?« ging er Ischtar an und spie mehrfach aus. Romano taumelte mit den Armen rudernd durch das Zelt. Duncan überlegte nicht lange, sondern eilte ihm zu Hilfe und fing, ohne daß Ischtar einschritt, seinen drohenden Sturz ab. »Das wollte ich von dir erfahren, Sterbender«, antwortete die ›Gött liche‹ ungerührt. »Ich fand kein Blut«, keuchte der blinde Alte. »Er kann kein Mensch sein!« »Du bist der Seher«, erwiderte Ischtar. »Daran brauchst du mich nicht zu erinnern!« »Das freut mich. Was also kannst du mir über ihn und seinen Be gleiter sagen?« Der Blinde zögerte merklich. »Nichts«, räumte er dann ein. »Sie existieren nicht in meinem Plan von der nahen Zukunft – und nicht im Plan der Vergangenheit. Ich spüre sie jetzt. Aber es ist, als hätte es sie nie davor gegeben und gäbe sie auch später nie …« »Du enttäuschst mich, Sterbender!« Der Blinde schwieg.
»Sieh dir auch den anderen an. In seinem Körper strömt das Blut. Trinke es, lies seine geheimsten Gedanken und offenbare sie mir! Ich will wissen, woher er kommt und was ihn hierher geführt hat! Über prüfe auch die Behauptungen, die er über uns aufgestellt hat – mö gen sie sich auch noch so lächerlich anhören!« Der Seher hob die Hand. »Er möge zu mir treten und sich beugen!« Luther schüttelte entschieden den Kopf und löste sich von Roma no. »Lieber sterbe ich!« »Ich denke, ich kenne dich bereits besser als du dich selbst. Du hängst am Leben! Außerdem: Wer läßt dir eine Wahl …?« Ischtar wartete seine Antwort nicht ab, sondern glitt auf ihn zu. Ihre Füße berührten kaum den Boden, und wie schon einmal platz ten ihre menschlichen Züge an hundert Stellen auf, um, wie aus ei nem verpuppten Kokon, ein grausames Monstrum zu gebären. Die Vampirin packte Luther von hinten. Ihre Klauen umspannten seine Oberarme, und ihr hochgezogenes Knie traf genau den Punkt über seinem Steißbein, der ihn wie ein Messer zusammenklappen ließ. Alles ging unglaublich schnell. Romano hatte keine Gelegenheit, einzuschreiten – wobei zweifelhaft blieb, ob es ihm gelungen wäre, Ischtars Absicht zu durchkreuzen. Duncan spürte die Hände des Alten in seinem Haarschopf. Dann seine Zähne, die sich in die hervortretende Ader seines Hal ses bohrten. Sofort begann sich alles um ihn herum zu drehen. Er hörte Schreie, die nur er produziert haben konnte, aber er verlor das Gefühl für seinen Körper, als schwebte er auf einer Wolke über dem Geschehen. Ein Wirrwarr von Empfindungen erzeugte einen verschlingenden Strudel.
Der Blinde trank aus ihm … … und pflanzte zugleich ein schreckliches Samenkorn in ihn! Er wird durch meine Augen sehen, meine Ohren hören, meine Hände fühlen …, dröhnte es durch seinen Verstand. Er wird jeden meiner Ge danken lesen und – Die Schreie wurden lauter. Nicht seine Schreie – die des Sehers! Das Kaleidoskop versprengter Ängste und zerstörter Hoffnungen ordnete sich schwerfällig in Duncans Kopf. Er hörte das Röcheln. Er sah den Blinden zurücksinken. Die knochigen Finger spreizten sich im Sturz. Auch Ischtar ließ los. Duncan fiel – wie der Alte, nur entgegenge setzt – nach hinten. Fliegender Atem und wimmernde Laute hallten von den Zeltwän den wider. Der blinde Seher zuckte und krümmte sich am Boden. Seine Tritte und Schläge zerstörten einige der Tontafeln, und auch Ischtar, die sofort zu ihm eilte, konnte seiner Zerstörungswut keinen Einhalt gebieten. Romano kniete neben Luther und flüsterte gepreßt: »Was hast du getan?« »Ich habe nichts getan!« gab er benommen zurück. »Du hast es ge sehen …« Romano schwieg. Beide hörten sie den Seher schreien: »Töte sie! Töte sie auf der Stel le! Es ist alles wahr – alles, was er dir sagte, ist …« Seine Stimme versagte. Sein Kopf rollte zur Seite, und der greise Körper kam abrupt zur Ruhe. Ischtar erhob sich.
»Der Sterbende ist tot«, verkündete sie tonlos.
* Mizrajim fuhr aus dem Schlaf hoch. Der Traum, der ihn diese Nacht heimgesucht hatte, war fast noch schrecklicher, noch erschreckender als alles Vorherige. Verzweifelt suchten seine Augen Halt in der Dunkelheit. Er hörte den Atem der Schläfer. Niemand schien mit ihm erwacht zu sein; nicht einmal Cham. Daraufhin bemühte er sich, das Zittern seiner Glieder unter Kon trolle zu bringen. Jemand schnarchte; eine der Frauen wälzte sich im Schlaf und brabbelte etwas. Mizrajim schloß die Augen und lieferte sich noch erneut den hin ter den Lidern lauernden Bildern aus: Ein Zelt … mehrere Gestalten, fremde, darunter aber auch jene, die in dem anderen Alptraum eine Rolle gespielt hatten: der blinde Alte und die begehrenswerte, alabasterhäutige Frau … Mizrajim erlebte noch einmal, wie ein anderer das Opfer jenes Ge waltakts wurde, den er selbst schon erlitten zu haben meinte … Danach fühlte er sich ausgepumpt, als hätte er gerade auch noch den letzten Fixpunkt, den letzten Sinn seines Lebens verloren …! Vater, dachte er. JAHWE …! Niemand antwortete. Mizrajims Hals juckte und begann fürchterlich zu brennen. Als Anum die Botschaft über das Ende des Sehers aus Ischtars Mund empfing, erbebte unter seinem Zorn der Tempel. Enlil, Sin, Adad und all die anderen eilten herbei.
»Töte sie!« entschied er. »Verfahre, wie es uns die letzten Worte des Sehers befahlen!« »Aber er bestätigte auch, daß das, was sich so unglaublich anhörte, wahr sei! Sie könnten uns offenbaren, wie unsere Zukunft aussieht – ob wir dem Untergang entrinnen … Wie unser Neuanfang aussieht …« »Es gibt keine Zweifel, daß wir überleben werden«, erwiderte Anum. »Wir brauchen sie nicht. Sie haben den Seher auf dem Ge wissen. Noch mehr Opfer will ich nicht beklagen! TÖTE SIE! Die Ar che wird auch ohne den Seher vollendet, denn den wahren Bau meister gibt es noch immer! Sollten wir dennoch, was ich nicht er warte, scheitern …« »Was dann?« fragte Ischtar unzufrieden. » … dann finden wir gewiß einen anderen trockenen Platz! Nicht um sonst verstehen wir uns auf die perfekte Imitation von Tieren …«
* »Es geht zu Ende«, sagte Romano. »Es mußte so kommen, aber ich habe nicht so früh damit gerechnet, und ich verstehe offengestanden auch nicht, warum es mich zuerst erwischt …« Er blickte auf seine Hände, deren Haut durchscheinend geworden war, nachdem zuvor ein Schmerz durch seine ohnehin sinnlosen Eingeweide gefahren war, als bohrten sich glühende Dolche hinein. Dieser Anfall war vorbeigegangen, aber es wäre naiv gewesen zu glauben, daß er sich nicht bald wiederholte. Das gleiche hatten sie schon einmal erlebt. Es war der Beginn von Schüben, die bald im mer schneller, mit immer kürzeren Pausen versuchen würden, sie aus dieser unwillkommenen Zeit hinauszuwerfen.
Auszulöschen. »Ich verstehe es auch nicht«, gestand Luther. »Ich war früher hier – aber vielleicht hängt es mit den zeitlosen Tagen zusammen, die ich mit Ischtar zusammen war …« »Zeitlose Tage?« Luther winkte ab. »Es ist nicht wichtig. Wir müssen so schnell wie möglich zur Stadt zurück, in Khorsabads Haus …!« Romano lächelte bitter. Eine unwirkliche Sonne brannte auf eine unwirkliche Landschaft herab und schien ihm zusätzliche Qual zu bereiten. Ohne einen Hauch von Schatten lagen sie an einen Pflock gekettet abseits des Pferches, in dem die anderen Sklaven gehalten wurden. Ischtar hatte sie eigenhändig hier zurückgelassen und – bevor sie mit einem Wagen das Camp verließ – befohlen, ihnen weder Essen noch Trinken zu reichen. Nach dem Tod des Sehers war nicht mehr mit ihr zu reden gewe sen. Daß sie keine sofortige, vernichtende Rache an ihnen geübt hat te, war fast unverständlich. »Was denkst du«, wechselte Romano kurz das Thema in diese Richtung, »was ihn umgebracht hat?« »Den Seher?« Luther zuckte die Achseln. Es interessierte ihn wirk lich nicht. Verzweifelt suchte er nach Auswegen, wie Romano – und letztlich auch ihm selbst – noch zu helfen war. Die Erfolgsaussichten lagen nahe der Null-Prozent-Marke. Sie hätten Stunden bis Uruk ge braucht, und wenn jetzt schon solche Symptome auftraten … Ehe Luther seine Meinung äußern konnte, stöhnte Romano unter dem nächsten, bereits erheblich stärkeren Schub auf. Er warf sich se kundenlang unkontrolliert in seinen Ketten hin und her, als könnte ihm Bewegung Erleichterung verschaffen. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: »Du mußt mir helfen –
tust du das?« Duncan hatte sich aufgesetzt und blickte kritisch auf Romano her ab, der einfach am Boden liegengeblieben war. »Natürlich«, sagte er. »Hast du eine Idee?« Romano blickte an ihm vorbei. »Die Idee ist, daß du mich erlöst, bevor die Qualen zu schlimm werden …« Einen Moment schien das Stakkato der Hammerschläge von der Baustelle doppelt so laut zu ihnen herüberzudringen. Luther brauchte nicht nachzuhaken, um zu wissen, wovon Roma no genau sprach. »Nein«, sagte er. Es klang verbindlich, aber tief in seinem Innern nagten bereits Zweifel, ob der Wunsch dieses seltsamen Toten nicht doch seine Berechtigung hatte. »Ich bitte dich, es zu tun«, beschwor ihn Romano. »Du weißt, wie man ein Genick bricht – wenn nicht, weihe ich dich in die ›hohe Kunst‹ ein.« Er redete wie vielleicht vor Monaten noch auf einem von ihm besuchten Ärztekongreß. »Wenn du die Kette zu Hilfe nimmst, geht es ohne große Kraftanstrengung und so schnell, daß ich vermutlich gar nichts spüre …« »Nein.« »Du kennst die Schmerzen, die ich ertragen muß. Das letzte Mal schafften wir es gerade noch von einem Nilufer zum anderen, um das Tor in den Korridor zu erreichen. Wir waren am Ende unserer Kraft! Warum versuchst du, mir vorzulügen, wir könnten es von hier aus noch schaffen?« Luther schwieg. Seine Zähne bissen in seine Unterlippe, und er wartete darauf, daß der Schmerz ihn von Romanos berechtigten Vorwürfen ablenken würde. »Ich kann es nicht«, sagte er schließlich.
»Du kannst! Ich würde dasselbe für dich tun!« Merkwürdigerweise gab es in Luther nicht den leisesten Zweifel, daß dies die uneingeschränkte Wahrheit war. Obwohl er sich da nach noch mieser fühlte, sagte er: »Ich kann es trotzdem nicht tun.« Romano konnte ihn nicht mehr hören. Erneut bäumte er sich in ei nem Anfall auf. Arme und Teile des Gesichts wirkten gläsern und offenbarten ein schrecklich verelendetes Gewebe mit wie verdorrt wirkenden Adern und ausgetrockneten Gefäßen. Luther wußte, daß es unter seiner Haut anders aussah. Gleichzeitig würgte es ihn, weil er wußte, daß dies letztlich keinen Unterschied machte. Es war egal, wie es darunter aussah. Die Verflüchtigung nahm darauf keine Rücksicht. Nach diesem Anfall lag Romano völlig geistesabwesend da. Über all, wo die Kleidung unterbrochen war, schimmerte jetzt sein mor bid-gespenstisches Innenleben heraus. Am schrecklichsten wirkte dadurch das Gesicht, wo bereits bis auf den Totenschädel zu sehen war. Luther begriff, daß er Romano ein Grundrecht versagte. Trotzdem fand er nicht die Kraft, ihn zu erlösen. »Es – tut mir leid …«, bat er um Vergebung, und als hätte er es gehört, erscholl noch einmal Ro manos geisterhaft dünn gewordene Stimme. »Bei den … Pharaonen …«, wisperte Romano, »… haben wir es … nicht bis zum … Ende … erlitten …! Es ist … die Hölle! Hilf … mir!« Die Stimme, die noch einmal mobilisierte Kraft darin verwehte. Im nächsten Aufbäumen glaubte Luther das Reiben der bloßgelegten Gelenke und das Splittern von Knochen zu hören. Er schloß die Au gen und preßte die Handflächen gegen die Ohren. Tränen rannen über sein Gesicht. Als ihn der ungezügelte Tritt traf, wußte er nicht, wieviel Zeit ver flossen war.
»Wie ist ihm die Flucht gelungen?« Es war Ischtar. Dort, wo Romano sich bis zuletzt gequält hatte, lagen nur noch sei ne Ketten und die leeren Kleider.
* Sie brachte Luther in eine der bereits fertiggestellten Kammern der Arche, und er empfand es wie seinen Gang zum Schafott. Alles an Bord dieses kastenartigen Schiffes wirkte beklemmend, so daß Luther sich unwillkürlich fragte, ob auch das Original diesen Eindruck erweckte. (›Jenseits der Berge, nahe der Stadt Susa, lebt ein gläubiger Mann …‹) »Du weißt, was dich erwartet?« fragte Ischtar. Romanos Verschwinden, das sie falsch deutete, hatte ihren Zorn noch anwachsen lassen. Wie ein Engel des Bösen geleitete sie Luther auf die unterste, vollendete Ebene der Arche. »Der Tod«, sagte er. »Nergal, der Herr der Unterwelt, wird dich in seine Arme schlie ßen«, bestätigte sie. »Vielleicht überrascht es dich, wenn ich dir sage, daß du nach meinem Willen noch hättest weiterleben – weiterleiden – dürfen. Doch Anum bestimmte anders.« »Fahr zur Hölle!« knirschte Duncan. »Wenn du mir erklärst, wo das liegt …« Ischtars Unwissenheit wirkte echt – und tragikomisch zugleich. Als sie das mitgebrachte Kästchen öffnete, glaubte Luther, von ei ner Granate, die mitten in seinem Magen zündete, zerrissen zu wer den. Er brach wimmernd zusammen, und Ischtar fauchte: »Jetzt ent
täuschst du mich wirklich …!« Sie begriff ihre Fehleinschätzung seines Verhaltens erst, als der komplette Unterkörper, von der Hüfte bis zu den Zehen, mit einem Schlag nicht erst durchscheinend, sondern gleich unsichtbar wurde. Schnell befreite sie den mitgebrachten Gegenstand aus dem Käst chen. Als Duncans Geist sich wieder klärte, stand sie über ihm und drohte kehlig: »Was für ein Zauber ist das? Hör auf damit, oder …« Sie holte mit der Hand aus. Aber es war nicht mehr nur die Hand. Ihre Faust umschloß ein ar chaisches Instrument, dessen dominierendes Element ein aufgerisse ner, metallener Schlangenrachen mit zwei mörderisch ausgeprägten, gekrümmten Zähnen war. »Anum trug mir auf«, keuchte Ischtar mit in wahnsinnigem Rhythmus flackernden und sich verändernden Augen, »die Opfer schlange an dir zu erproben. Ich dachte, es wäre nur ein Ding, doch nun spüre ich …« Ihre Stimme stockte, und Luther beobachtete, wie sich etwas aus dem Stab, den ihre Faust umklammerte, herauswand und in ihr Fleisch bohrte. Der Schmerz schien Ischtar nichts auszumachen. Im Gegenteil: Sie stöhnte, als bereitete er ihr Verzücken, ja Lust. »Auf den Rücken mit dir, damit ich mir das nehmen kann, was uns während der Zeit unserer Reise speisen soll. Dein Herz … Biete mir dein Herz an …!« Duncan wußte nicht, woher dieser plötzliche und scheinbare Irr sinn bei Ischtar kam. Sie wirkte wie von Sinnen, und er hätte auch nicht gehorcht, wenn in diesem Moment kein weiterer Schub ge kommen wäre. Das letzte, was er sah, war ihre Fratze. Sie hieb den Schlangen schädel auf ihn hinab, und er meinte noch das Eindringen der Zähne in seinen Brustkorb zu fühlen.
Dann detonierte ein anderer, fast ersehnter Schmerz in ihm, und nicht nur Ischtar, sondern auch die Wände der Arche verschwam men um ihn …
* Diesseits der Berge »Nein!« Noes Stimme durchschnitt die Stille der Nacht, und Mizrajim hatte das Gefühl, sein Blut würde in den Adern gerinnen. »Du weißt nicht, was du tust!« Mizrajim senkte den Arm mit der Fackel. Die Scham ließ ihn zit tern. Vor ihm lag ein gewaltiger Haufen trockenen Schilfs, das er ge gen die pechbestrichene Außenwand der Arche geschichtet hatte. Wenn er die Fackel hineinstieß, würde das Werk, das aus vielen Tagwerken Arbeit und darüber hinaus aus etwas Unvorstellbarem hervorgegangen war, bald in Flammen stehen. Ein Fanal des Untergangs. Ein Vorbote dessen, was den Rest der Welt erwartete … »Tu es nicht, mein Sohn! Ich verzeihe dir, aber lösche die Fackel. Wirf sie weit, weit von dir und komm in meine Arme …!« Mizrajim schluckte hart. In ihm wütete das, was blinde Augen hin terlassen hatten. Er fühlte sich wie ein ruderloses Schiff auf einem stürmischen Ozean. »Vater«, krächzte er. »Hilf – mir …!« Er ließ die Fackel fallen. Sie entzündete das Schilfrohr, das sofort Feuer fing und an der Ar
che emporleckte. Noe stürzte vor und riß den Brand mit Händen und Füßen auseinander. Als andere hinzukamen, war das Feuer be reits unter Kontrolle. Mizrajim lag abseits auf blutnassem Boden, eine Klinge im Her zen. Er mußte sich gleich nach seiner Untat selbst gerichtet haben … Der einzige, der laut um Mizrajim trauerte, war Cham, der später – nach der Flut – von Noe verstoßen wurde und vier Söhne zeugte: Kusch, Put, Kanaan und – nach dem Bruder benannt – Mizrajim. Nirgends sonst fand Mizrajim Erwähnung. Sein Name wurde aus allen Chroniken getilgt, seine Tat verschwiegen. Noe, der gerechte Mann, konnte ebenso zornig handeln wie der Gott, in dessen Dienste er sich gestellt hatte …
* Ein euphorisches Gefühl begleitete das nicht erwartete Erwachen. Duncan Luther erhob sich vom Boden, der aus einer glatten, unde finierbaren Masse bestand. Der Boden eines ihm bestens vertrauten Korridors! Er hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie er hierher ge kommen war. Sein Körper wirkte unversehrt. Es gab keine krampf artigen Anfälle mehr – nur noch eine vage Erinnerung daran. Vor ihm lag das Tor, das er damals mit George Romano und Paul Kravetz in der Nähe Uruks freigelegt hatte. Ich bin wieder an den Anfang zurückgekehrt, dachte er verblüfft. Verstehen konnte er es nicht. Er machte ein paar tastende Schritte und überwand die Schwelle, hinter der die steile Treppe nach oben führte. Beide seitlichen Be
grenzungen waren mit Runen bemalt, die er damals nicht hatte le sen können. Jetzt konnte er es. Die Runen hießen ihn willkommen, skizzierten Umfang und Grö ße seiner Aufgabe. Er stieg hinauf ans Licht. Die Sonne war anders als dort, woher er kam – und auch anders als dort, wo er einst geboren worden war. »Ich dachte mir, daß du nicht lange auf dich warten lassen wür dest«, sagte eine Stimme hinter ihm, kaum daß er oben ankam. Aber Luther war nicht imstande, sich sofort umzudrehen. Seine Augen leuchteten, und es störte ihn nicht, sich geirrt zu haben. Es machte ihm nichts aus, daß dies nicht der Anfang des düsteren Kor ridors war, sondern sein ENDE
Die Rückkehr der Katze von Adrian Doyle Was geschah mit Felidae, nachdem sie den Lilienkelch von Lazarus übernommen hatte und spurlos verschwand? Ist Landru noch auf ihrer Fährte, oder hält er sie für tot und hat sich unbemerkt an Li liths Fersen geheftet? Welches Schicksal ist den Toten bestimmt, die Liliths Keim in sich tragen und die ebenfalls nach Uruk streben, wo der wiedererweckte Duncan Luther den Zeitkorridor freigelegt hat? Welche Rolle spielt er in Landrus Plänen? Bei der biblischen Ausgrabungsstätte im ehemaligen Mesopotami en laufen die Fäden zusammen, die sich wie ein Netz um Lilith ge sponnen haben …