Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. UNGER
Die fahrende Schlange � Man nannte i...
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Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. UNGER
Die fahrende Schlange � Man nannte ihn Pecos, Jim Pecos, und er war zufrieden damit, denn er wusste ja seinen wirklichen Namen nicht. Er hatte schon als kleiner Junge für sich sorgen müssen, und diese Notwendigkeit hatte ihn geformt. Er war nicht das, was man einen erfreulichen jungen Mann nennen kann. Er war das Gegenteil: Er war gefährlich wie ein Wolf, der von Anfang an gelernt hat, dass er schneller und schärfer zubeißen muss als jeder Artgenosse, um sich behaupten zu können. Und er war ganz gewiss ein Revolverheld, mit dem es ein schlimmes Ende genommen hätte. Aber es kam anders. Als er einmal Hilfe nötig hatte, bekam er sie. Und allein dies brach wohl die Schale seines innersten Kerns auf. Dies ist Jim Pecos’ Geschichte. Aber es ist auch Lige Morgans Geschichte. Und Lige Morgan, das war der Boss jener »fahrenden Schlange«, der so hart und einsam war, dass er keine Freunde hatte. Die Geschichte der beiden ungleichen Männer beginnt, als Lige Morgan sein Pferd anhält und den Mann betrachtet, der am Ufer des Pecos-Flusses liegt… Lige Morgans Wagenzug ist noch mehr als zweihundert Yards zurück. Es sind etwa zwei Dutzend schwere Frachtwagen. Lige
Morgan hebt den Arm und winkt. Er sieht, dass sein Vormann Las Vegas nun sein Tier anspornt und schnell herangeritten kommt. Dann sitzt er etwas schwerfällig ab und kniet neben dem leblos liegenden Fremden. Er dreht ihn auf den Rücken und betrachtet ihn. Nun kann er sehen, dass der Mann noch jung ist. Er schätzt ihn auf etwa dreiundzwanzig Jahre. Das Hemd des Mannes ist vorn weit geöffnet. Darunter sieht man einen blutverkrusteten Schulterverband. Es sieht so aus, als wäre dieser Bursche lange auf der Flucht gewesen, hätte nichts zu essen und kein Wasser bekommen und mit letzter Kraft den Fluss erreicht. Doch hier ist er dann zusammengebrochen. Las Vegas ist nun heran und schwingt sich aus dem Mexikanersattel. Er ist dunkel wie ein Yaqui-Indianer und so riesig wie Lige Morgan. Auch so alt ist er, also schon über fünfzig Jahre. Er hockt sich auf die hohen Absätze, betrachtet den Bewusstlosen und sagt dann: »Das ist Pecos, Jim Pecos! Ich sah ihn voriges Jahr in Albuquerque. Er hatte auf ein Pferd gewettet, welches als Außenseiter galt. Als er seinen Gewinn haben wollte, machte man ihm Schwierigkeiten. Und ein Revolverheld forderte ihn heraus. Er war viel schneller als dieser Revolverheld. Er ist selbst ein Revolverheld und…« »Auch ich habe schon von ihm gehört«, murmelt Lige Morgan und kaut dann nachdenklich an seinem Schnurrbart. »Er ist verwundet und muss auf der Flucht sein«, sagt er dann. »Und er hat keine Waffe mehr. Ich denke, dass er über den Pecos nach Osten wollte.« Er erhebt sich und blickt sich nach seinem Wagenzug um. Der erste Wagen ist schon nahe. Es ist ein schwerer MervilleWagen, der von acht starken Maultieren gezogen wird. »Wir werden ihn dort hineinlegen und mit über den Fluss nehmen«, entscheidet er, und wie es seine Art ist, entscheidet
er sich mit einer Endgültigkeit, die unabänderlich ist. Sein mexikanischer Vormann nickt, und so heben sie den Bewusstlosen auf und tragen ihn in den Wagen. Hinter diesem Führungswagen hält nun die lange Schlange, und der Wind weht den Staub zur Seite. Die Tiere schnauben und stampfen. Sie wittern den Fluss und möchten hinein. Aus Nordwesten tauchen jetzt einige Reiter auf. Sie kommen den langen Uferhang herunter, und sie halten genau auf den ersten Wagen zu. Las Vegas tritt zu seinem Pferd. Er nimmt eine Schrotflinte aus dem Sattelschuh und wartet etwas seitlich von Lige Morgan. Dabei sagt er leise: »Ich glaube, es sind Reiter der Clayborne-Sippe. Ja, es sind Less und Vance Clayborne, und wenn die beiden Burschen hinter dem Mann her sind, den wir hier bewusstlos fanden, werden sie ihn von uns haben wollen. Es sind Banditen und Straßenräuber, Viehdiebe und Revolverhelden. Und wir fahren immer wieder durch ihr Land. Wenn wir sie uns zu Feinden machen, dann…« Er verstummt, denn aus dem Wagen, in dem der Verwundete liegt, klingt nun ein heiseres Stöhnen. Die Wagenplane lüftet sich, und der Kopf von Jim Pecos wird sichtbar. In seinen Augen leuchtet es fiebrig. Es ist klar, dass er im Wagen alles gehört und begriffen hat. Er war also noch einmal aufgewacht. Nun starrt er auf die sich nähernden Reiter. »Sie sind hinter mir her und jagen mich schon vier Tage«, ächzt Jim Pecos. »Ich will und brauche keine Hilfe. Wenn Sie mir vielleicht einen Revolver leihen können, so…« Er hat nun Übergewicht bekommen und fällt unter der Wagenplane hervor über den Rand des Wagenkastens hinweg zu Boden. Er landet schwer, seufzt schmerzvoll und verliert die Besinnung.
Lige Morgan und sein Vormann bewegten sich nicht. Sie behielten die fünf Reiter im Auge, die nun langsam und im Schritt herangeritten kommen. Drei der Reiter bleiben etwas zurück. Die beiden Näherkommenden sind Less und Vance Clayborne. Sie halten an und grinsen stoppelbärtig und hagergesichtig. Ihre schmalen und tief liegenden Augen funkeln seltsam. Lige Morgan kennt sie. Denn er versorgt das Land schon lange Jahre mit Waren und treibt Handel mit allen Indianerstämmen. »Da haben wir ihn also endlich«, sagt Less Clayborne und zieht seinen Revolver. Er richtet ihn auf den leblos am Boden liegenden Jim Pecos und legt mit dem Daumen den Hammer zurück. »Was hat er euch getan?«, fragt Lige Morgan ruhig. »Er hat unseren guten Jimmy schwer zusammengeschossen. Jimmy hatte noch zwei Freunde dabei, und auch die beiden bekamen es von ihm. Ich glaube, sie wollten ihn wegen irgendeines unwichtigen Grundes zurechtstutzen. Das interessiert uns auch gar nicht. Es geht hier nur darum, dass niemand ungestraft einen Clayborne von den Füßen schießen darf. Die ganze Welt muss wissen, dass die Claybornes immer zusammenhalten und dass jeder Narr, dem es gelingt, einen Clayborne von den Beinen zu schießen, die ganze Sippe auf den Hals bekommt.« Er hebt wieder den Revolver und zielt auf Jim Pecos. Der bewegt sich nun wieder, setzt sich auf und lehnt sich mit dem Rücken gegen ein Wagenrad. Less Clayborne wartet. Er ist ein Mörder, das ist klar. Er gehört zu den vielen Geächteten, die sich über den Pecos flüchtend in Sicherheit bringen konnten und die in diesem Land noch schlimmer und gesetzloser wurden. »Nun, mein Junge«, sagt er, »jetzt haben wir dich, nicht wahr? Du hast einen guten Kampf geliefert und dann auch
noch die beiden großen Brüder unseres Jimmy-Sonnys einige Tage lang an der Nase herumgeführt. Doch jetzt haben wir dich, Pecos-Junge!« Jim Pecos sagt eine Weile nichts. Er ist wohl zu schwach. Doch er sieht ganz furchtlos auf den Revolver. Und schließlich macht er mit dem Kopf eine schwache, doch unverkennbar verächtliche Bewegung und sagt nun mühsam: »Ihr Claybornes habt noch nie etwas getaugt. Wenn ich einen Revolver hätte, würde ich euch zum Teufel jagen. Ich weiß genau, dass ihr Angst vor mir habt. Wäre ich gesund und hätte ich eine Waffe, so würdet ihr einen großen Bogen um mich machen. Euer Jimmy wollte sich Revolverruhm erwerben. Er wollte der Mann sein, der Jim Pecos schaffen konnte. Doch er hatte zwei Freunde mit Gewehren im Hinterhalt, einen in der Gasse und einen in einem leeren Haus. Ich habe sie erwischt, nicht wahr? Aber ihr wusstet, dass ich verwundet wurde. Sonst würdet ihr es gar nicht gewagt haben, mir zu folgen.« Er verstummt erschöpft. In seinen Augen glänzt das Fieber. »Ihr werdet ihn nicht erschießen, ihr werdet ihm überhaupt nichts tun«, sagt Lige Morgan plötzlich ruhig, nachdem er die beiden Claybornes sorgfältig betrachtet hat. Sie starren ihn an. »Warum werden wir das nicht, Oldtimer?« Vance Clayborne fragt es lauernd und gefährlich sanft. »Weil mein Vormann euch dann mit seiner Schrotflinte einfach in Stücke schießt«, erwidert Lige Morgan trocken. »Und es ist eine Schrotflinte mit gehacktem Blei und einer doppelten Pulverladung.« Die beiden Claybornes betrachten den Frachtfuhrmann. Dann blicken sie auf Las Vegas und die Doppelmündung der Flinte. Sie passen. Wortlos und schweigend. Es ist ein böses und drohendes Schweigen. Dieses Schweigen ist drohender, als
viele Worte es sein könnten. Sie reiten davon und nehmen ihre drei Begleiter mit. Aber sie hätten auch sagen können: »Nun, Lige Morgan, wir zahlen dir das noch zurück.« Lige Morgan und sein Vormann blicken ihnen nach. »Wenn dieser Jim Pecos gesund wäre und einen Revolver hätte, so würde er sie tatsächlich allein zum Teufel jagen«, sagt Las Vegas plötzlich sanft. »Sie sind nichts gegen ihn, nur kleine Banditen, Viehdiebe und Straßenräuber.« Er spuckt auf den Boden und bringt die Schrotflinte zu seinem Pferd. Er schiebt sie in den Sattelschuh und hilft seinem Boss nun zum zweiten Mal, den Verwundeten in den Wagen zu legen. Dann fährt der Wagen in den Pecos hinein und durchquert ihn. Die lange und fahrende Schlange aber folgt. Es ist ein imposantes Bild. *** Jim Pecos liegt viele Tage im Fieber, und als das Fieber dann überwunden ist, befindet er sich viele Tage lang zwischen Wachheit und Traum. Es ist ein anhaltender Dämmerzustand, und er weiß nicht einmal, dass er immer noch auf weichem Lager in einem schwankenden Frachtwagen liegt und zweimal am Tag gefüttert wird. Aber er kann sich daran erinnern, wie ihn Less Clayborne am Pecos River erschießen wollte, wie er hilflos am Boden lag und sich nur mühsam aufsetzen, an das Wagenrad lehnen und einige stolze Worte reden konnte. Ja, an diese für ihn so bittere Szene erinnert er sich merkwürdig klar. Immer wieder denkt er darüber nach, warum ihn die beiden Claybornes dann doch nicht getötet hatten. Eines Tages fragt er Lige Morgan, als dieser ihn aus dem
Wagen hebt und an sein Feuer bringt. Jim Pecos kann schon wieder sitzen, wenn er sich irgendwo anlehnen kann. Und dies ist hier der Fall, denn das Feuer brennt unter einer riesigen Burreiche, nicht weit von dem North Canadian entfernt. Er fragt also Lige Morgan. Und der sagt es ihm: »Wenn sie auf dich geschossen hätten, mein Junge, dann wären sie von einer Schrotladung umgepustet worden, denn ich war entschlossen, dir Hilfe zu geben.« Jim Pecos denkt über diese Erklärung nach. Dann sagt er etwas spröde: »Bitte, nennen Sie mich nicht ›Junge‹, Mister. Ich bin alt genug. Nennen Sie mich Pecos oder Jim. Ich mag nicht, dass mich jemand Junge nennt, und wäre es auch ein Mann mit langem Bart und Glatze. Haben Sie mich verstanden, Mr. Morgan?« Nachdem er dies gesagt hat und damit zu erkennen gab, wie sehr er ein einsamer Wolf ist, der keine Freundlichkeiten oder Vertraulichkeiten duldet, sagt er später noch: »Dann bin ich Ihnen also zu großem Dank verpflichtet, Mr. Morgan? Nun gut, was muss ich für Ihre Hilfe bezahlen? Auf dieser Erde tut kein Mensch etwas ohne Absicht und Hintergedanken.« Lige Morgan betrachtet ihn nachdenklich. Drüben, an den beiden anderen größeren Feuern, da sitzen, liegen oder aber kauern seine Frachtfahrer. Zumeist sind es Mexikaner. Und jetzt klimpern zwei Gitarren, und ein Tenor singt wunderbar in die helle Sommernacht hinein, sodass sogar die Coyoten in der Ferne verstummen. »Dieser Tenor«, sagt Lige Morgan, »könnte mit seiner Stimme vor Fürsten und Königen singen, und er würde geehrt und reich belohnt werden. Aber er ist ein einfacher Bursche, der nicht lesen und auch nicht schreiben kann. Nur mit Maultieren kann er umgehen. Und so wird er Maultiertreiber und Frachtfuhrmann bleiben, obwohl er gewiss eine ganze Menge vorzüglicher Anlagen besitzt.«
»Vielleicht ist er als Maultiertreiber glücklicher«, murmelt Jim Pecos. »Das mag sein, Jim«, nickt Lige Morgan. »Doch wie ist es mit dir? Bist du als Revolverheld glücklicher?« »He, Mister, wollen Sie mir zu verstehen geben, dass auch ich eine Menge vortrefflicher Anlagen besitze, die ich wie dieser Tenor dort nicht zu nutzen weiß?« »Du hast einen scharfen Verstand, Jim, denn du hast sofort begriffen. Ich will dir auch die andere Frage beantworten. Ich will dir sagen, warum ich dir geholfen habe. Es ist ganz einfach. Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche die Hilfe eines jungen Mannes, denn ich werde alt. Ich erkannte, als du am Boden lagst und auf die Kugel wartetest, dass du stolz und mutig bist. Ein stolzer und mutiger Mann lässt sich ja nichts schenken. Ich rettete dich, damit du diese Schuld an mich bezahlst. Ja, es war für mich ein ganz nüchternes Geschäft.« Nach dieser langen Rede verstummt er auf eine sarkastische Art. Jim Pecos denkt nach. Schließlich sagt er: »Ich glaube, es kommt darauf hinaus, dass Sie meine Revolver wollen. Ich soll Ihnen bestimmt Revolverhilfe geben und vielleicht sogar einen Ihrer Feinde umbringen. Ja?« Das ganze Misstrauen und die ganze Bitterkeit der Welt sind nun in seinem hageren, hohlwangigen und stoppelbärtigen Gesicht zu erkennen. Lige Morgan lächelt nachsichtig. Er weiß ja zu gut, welchen Wolf er aufgenommen, gerettet und gepflegt hat. »Ja, vielleicht brauche ich auch deine Revolverhilfe, Jim«, sagt er, »denn ich kann mit meinem Revolver nicht mehr gegen all die wilden Jungs bestehen, die es immer wieder versuchen, einen Händler zu betrügen und zu bestehlen, zu berauben und ihn in die Ecke zu drängen. Auch mein guter Vormann ist alt geworden. Wir sind zwei alte Pumakater, deren Krallen und Zähne stumpf und wacklig wurden. Es wäre schon gut, wenn
ich stets einen guten und wachsamen Mann hinter mir wüsste, der darauf achtet, dass man mich nicht aufs Kreuz legen kann. In dieser Beziehung bräuchte ich wirklich deine Revolverhilfe.« »Und was sonst noch?« Jim Pecos’ Frage kommt knapp und misstrauisch. »Arbeite drei Jahre für mich, Jim«, sagt Lige Morgan ruhig. »Du bekommst das Gehalt eines Vormannes. Arbeite drei Jahre für mich, sei mir treu, unterstütze meine Interessen und achte darauf, dass mich niemand betrügen, bestehlen oder gar angreifen kann.« »Sie wollen mich also als eine Art Leibwächter für den Lohn eines Vormannes!« Jim Pecos stellt es nüchtern fest. Lige Morgan will heftig etwas erwidern. Doch dann senkt er die Schultern und bewegt sich auf eine müde Art. »Wir werden sehen«, murmelt er. Sie blicken sich an. Dann nickt Jim Pecos. »Nun gut«, sagt er. »Sie haben mich in einer Beziehung richtig beurteilt. Ich bin stolz und lasse mir nichts schenken. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich werde bei Ihnen bleiben, bis ich auch Ihr Leben einmal gerettet habe oder die drei geforderten Jahre um sind.« Er macht eine kleine Pause und betrachtet Lige Morgan scharf. »Sie sind ein Frachtmann und Händler, der vor allen Dingen mit Indianern und mit den Banditen im Pecos-Land Handel treibt. Dies ist ein gefährliches Geschäft. Wenn Sie sich nun zu alt fühlen und sich auf Ihre Augen und Ihre Revolverhand nicht mehr verlassen können, warum fahren Sie dann noch länger durch dieses verteufelte Land und treiben Handel mit Wilden und Banditen?« »Das ist eine lange Geschichte, Jim Pecos«, murmelt Lige Morgan und wischt sich mit der Hand über Stirn und Augen. »Weißt du, ich suche einen Mann. Ich weiß nicht, wie er jetzt
aussieht und wie er sich jetzt nennt. Es kann auch sein, dass er schon tot ist. Doch es ist ein Mann, der in das Land westlich des Pecos ging und mit den Indianern Handel trieb. Noch vor etwa sechs Jahren lebte dieser Mann und trieb Handel mit den Zunis am Fuß der Enchanted Mesa. Er war mit sieben Wagen dort und machte gute Geschäfte. Dem Häuptling machte er zum Abschied ein Geschenk, eine kleine Elfenbeinfigur, wie man sie zum Schachspiel benutzt. Es ist eine Figur aus einem besonderen Schachspiel, denn in das Elfenbein sind Halbedelsteine eingelassen, sehr bunt und prächtig anzusehen. Ich habe schon mehrere solcher Figuren gefunden – bei den Indianern. Und dies sagte mir immer, dass der Mann noch lebte, dass er vor allen Dingen mit den Indianern Handel trieb und immer dann, wenn er guter Laune war und gute Geschäfte gemacht hatte, eine Figur aus einem bestimmten Schachspiel verschenkte.« »Was hat es mit diesen Schachfiguren für eine Bewandtnis?«, fragt Jim Pecos, und in seinen Augen ist ein seltsam nachdenklicher und unsicherer Ausdruck. Lige Morgan wischt sich wieder über Stirn und Augen. Jim beobachtet ihn sorgfältig, und er glaubt nun ganz sicher erkennen zu können, dass in diesem grauhaarigen Riesen ein tiefer und bitterer Schmerz vorhanden ist. Dann kehrt Lige Morgans Blick wie aus weiter Ferne zurück. »Die Schachfiguren gehörten meiner Frau«, sagt er. »Das Spiel hatten ihre Vorfahren mit der Mayflower auf diesen Kontinent gebracht. Es war ein Königsgeschenk! Nun, durch tragische Umstände hatte die Familie meiner Frau fast alles verloren. Denn sie waren von Indianern überfallen und bis auf meine Frau getötet worden. Nur die Schachfiguren und meine Frau wurden gerettet – damals, als meine Frau noch ein kleines Mädchen war. Und später brachte sie die Figuren mit in unsere Ehe. Sie war sehr stolz darauf, und obwohl wir am Anfang sehr
viel Not hatten, dachten wir nie daran, die kostbaren und künstlerisch wertvollen Figuren zu verkaufen. Ich fing dann ein Handelsgeschäft an und führte meine Frachtwagen selbst. Als unser Treck einmal von Indianern überfallen wurde, galt ich als getötet. In Wirklichkeit hatte ich mich in jener schrecklichen Nacht jedoch retten können. Doch ich hatte schlimme Wunden. Auswanderer, die nach Oregon trailten, fanden mich und nahmen mich mit. Ich war viele Monate lang nicht bei Sinnen. Und als ich dann gesund war, befanden wir uns irgendwo in Wyoming zwischen den Bergen, waren eingeschneit und hatten Winterquartiere errichtet. Ich war inzwischen gesund geworden und dachte an meine Frau und meinen Sohn, der nun schon fast drei Jahre alt war. Es wurde Mai, bis ich daheim anlangen konnte. Fast ein Jahr war ich fort. Meine Frau war mit einem anderen Mann fortgezogen. Man hatte ihr gemeldet, dass die Indianer mich getötet hätten. Sie war eine Frau, die sich stets nach einem starken Beschützer sehnte und der Welt und ihren Gefahren hilflos gegenüberstand. Sie war eine gute Hausfrau und Mutter. Doch sie war nicht dazu befähigt, allein in der Welt zu sein und für einen Sohn zu sorgen. Und vielleicht glaubte sie deshalb, sich jenen anderen Mann nehmen zu müssen, obwohl das Trauerjahr noch nicht vorbei war. Und so verkaufte sie alles und zog mit einem Mann nach Westen. Sie wollten nach Kalifornien, und der Mann nannte sich damals Fletcher. Später nannte er sich auch anders. Ich folgte ihrer Fährte. Sie hatten nur drei Wochen Vorsprung, und ich beeilte mich. Ich fand dann den Wagen. Ich erkannte ihn, obwohl er halb verbrannt war. Es war einmal einer meiner eigenen Wagen gewesen. Er war von Indianern überfallen worden. Ich glaubte damals, dass jener andere Mann, meine Frau und mein Sohn getötet worden wären. Als ich später bei einem Indianerhäuptling eine jener Schachfiguren fand, hörte ich zum ersten Mal von jenem weißen Händler, der einen ganzen Kasten von diesen Figuren hätte. Ich forschte und fragte
überall. Von den Navajos hörte ich, dass einmal eine Apachenbande bei ihnen vorbeigezogen wäre, die eine weiße Frau und ein kleines Kind bei sich gehabt hätte. Es passte alles zusammen. Ich fand auch eine Navajo-Sippe, bei der damals ein weißer Mann für eine dieser Figuren ein Pferd gekauft hatte und nach Westen geritten war. Doch der Wagen, in dem meine Frau und mein Kind von diesem Mann zurückgelassen worden waren, stand im Osten. Jener Mann hätte damals nicht nach Westen, sondern nach Osten reiten müssen. Ich denke, dass dieser Bursche mit dem Wagen nicht weiter konnte und vielleicht auch genau wusste, dass die Indianer kommen würden. Und so hatte er sich davongeschlichen, um seinen Skalp zu retten. Und deshalb suche ich ihn. Er soll mir erzählen, wie es war. Und ich werde ihn schon noch finden. Er wird eines Tages wieder eine dieser Figuren verschenken. Ich frage überall danach, wo ich auch hinkomme. Hast du schon mal eine solche Figur gesehen, Jim Pecos?« Er greift in die Tasche und holt einen kleinen Gegenstand hervor, der sich als ein Ledersäckchen erweist. Er öffnet es und reicht Jim Pecos eine Schachfigur über das Feuer. Sie ist aus Elfenbein, doch es blitzt und glitzert in diesem Elfenbein bunt und farbig. Es sind eingelassene Edelsteine. »Schon mal gesehen, Pecos?«, fragt Lige Morgan. Jim Pecos nimmt die Figur. Sein Gesicht ist ausdruckslos, und er hält seine Augen geschlossen. Hinter den Schlitzen glitzert es seltsam. Seine Finger – noch dünn und wie durchsichtig wirkend – halten die kleine und im Feuerlicht glitzernde Figur seltsam zart und vorsichtig. Er reibt mit dem Daumen wie liebkosend darüber. Sein Gesicht ist nun nicht mehr ausdruckslos, sondern unter den Bartstoppeln hart und kantig. »Sie kommt mir bekannt vor«, sagt er. Und dann wird sein Blick sehr scharf. »Was würden Sie sagen, Sir, wenn ich behaupte, schon als kleines Kind mit diesen Figuren gespielt zu
haben? Was würden Sie sagen, Mr. Lige Morgan, wenn ich behaupten würde, Ihr Sohn zu sein?« »Das kann nicht sein«, sagt er. »Mein Sohn hatte im Alter von drei Jahren blaue Augen und dunkles Haar. Deine Augen sind grau, und dein Haar ist fast weißblond. Ich habe gehört, dass blonde Kinder später als Erwachsene dunkles Haar hatten. Ich habe auch schon gehört, dass sich die Augenfarbe verändert. Doch ich sagte ja schon, dass mein Junge mit seiner Mutter von Apachen entführt worden ist. Von Mescaleros, die hinüber nach Mexiko zogen. Wenn mein Sohn noch leben sollte, so ist er jetzt bestimmt ein Apache oder tot. Und auch meine Frau hat diese Gefangenschaft bei den Wilden bestimmt nicht lange ausgehalten. Es ist jetzt schon fast zwanzig Jahre her. Nein, mein Junge und meine Frau sind bestimmt längst tot.« Er lächelt milde und ernst. »Wir müssten da schon Beweise finden, Jim Pecos, bevor ich es glauben könnte. Doch du kennst ja sicherlich deine Eltern gut genug, um…« »Sicher, sicher, es war nur ein Scherz«, sagt Jim Pecos sanft und reicht die Figur zurück. *** Es ist Anfang August, als Lige Morgans Wagenzug Kansas City erreicht und vor der Stadt ein festes Camp bezieht, zu dem einige Corrals und Schuppen gehören. Sogar eine Feldschmiede ist aufgebaut, und es werden alle Tiere beschlagen und sämtliche Wagen überholt. Jim Pecos ist wieder auf den Beinen, noch sehr mager und hohlwangig, doch schon fast genesen. Lige Morgan nimmt ihn überall mit, und so lernt Jim Pecos in diesen Tagen sehr viel von all den Dingen, die ein Händler und Frachtzugbesitzer kennen, wissen und beachten muss.
In diesen Tagen des Einkaufens, Feilschens und Handelns, da lernt Jim Pecos auch eine ganze Menge Leute kennen. Berühmte Männer sind dabei. Da ist Wild Bill Hickok, der hier in Kansas City stets in einem Prinz-Albert-Rock, blütenweißem Hemd und Samtschleife herumläuft. Und da ist Jim Bridger, der wohl berühmteste Prärieläufer der Hochprärie. Kit Carson weilt ebenfalls zurzeit in Kansas City, welches in diesen Jahren das Ausfalltor zur Grenze und in das weite Büffel- und Indianerland ist. Und Logan Rennaghan ist da, der »Rote Logan«, wie er auf dem Santa-Fe-Weg genannt wird. Jim Pecos lernt sie alle kennen, denn Lige Morgan, der mit ihnen bekannt ist, stellt ihn vor, wenn es sich gerade so ergibt, ohne aufdringlich zu wirken. Wild Bill Hickok betrachtet ihn auf seine ernste und zwingende Art und schüttelt ihm dann die Hand. Danach sagt er ganz beiläufig: »Mr. Pecos, ich glaube, dass Sie Ihren Revolver eine Idee zu tief tragen und dass der Kolben auch eine Idee zu weit nach außen gedreht ist. Ich sage dies meinem alten Freund Lige Morgan zuliebe.« Er blickt dann Lige Morgan an und fragt: »Immer noch nicht genug vom langen Trail? Hören Sie auf, Lige! Wenn ein Mann so alt geworden ist, dass er sich nicht mehr sicher fühlt und sich einen jungen Revolvermann hält, dann ist es Zeit, aufzuhören. Sie wissen, dass ich als Freund zu Ihnen spreche. Ich weiß, was Sie suchen. Doch Sie suchen vergebens. Das Pecos-Land wird immer schlimmer. Auch die Apachen und Comanchen werden schlimmer. Hören Sie auf, Lige.« Er klopft ihm auf die Schulter, betrachtet Jim Pecos noch einmal mit einem festen Blick und wendet sich dann wie überrascht plötzlich wieder an Lige. »Ist dieser junge Mann verwandt mit Ihnen, Lige?«
»Nein. Wieso fragen Sie das, Bill?« »Ich weiß nicht recht, es kam mir plötzlich so vor, als sähe er Ihnen ähnlich. Aber es ist natürlich Unsinn. Er sieht ja völlig anders aus. Sie hatten auch in jüngeren Jahren keine Ähnlichkeit mit ihm.« Er nickt noch einmal und geht davon. Jim Pecos blickt ihm nach. Dann sieht er auf seinen Revolver nieder, den er wahrhaftig etwas zu tief trägt. Er weiß es. Doch es liegt daran, dass der Revolvergurt etwas zu weit ist. Ihm fehlen noch zwanzig Pfund an Gewicht. Wenn er diesen Verlust wieder ausgeglichen hat, wird ihm der Revolvergurt wieder besser sitzen. Und der Revolvergriff wird dann höher sein. Sie gehen nun in der anderen Richtung weiter, und es ist für Jim Pecos alles so wunderbar lebendig, so farbenprächtig, voller Betrieb und interessant. Er ist zum ersten Mal in einer solch großen und turbulenten Stadt. Es juckt ihn, sich in dieses hektische Leben zu stürzen. Er fragt deshalb Lige Morgan, ob er wohl heute Abend Urlaub bekommen könnte. Als sie zum Fluss gehen, betrachtet ihn Lige Morgan ernst von der Seite her. »Gerade heute brauche ich dich, Jim«, sagt er etwas gepresst. »Heute spiele ich mit Wyatt Starr Poker. Im Frühjahr, bevor ich aufbrach, hatte ich dreitausend Dollar in bar und zwei Wagenladungen echten Whisky von ihm gewonnen. Ich musste ihm versprechen, dass ich ihm Revanche geben würde. Er ist gestern mit seinem Frachtzug hier angekommen. Heute will er Revanche haben.« Er verstummt bitter, und sie gehen schweigend ein Stück. Dann sagt Lige Morgan noch bitterer: »Wir sind keine Freunde, er und ich. Als ihm mal einige seiner Fahrer fortliefen, stellte ich sie ein und gab ihnen Schutz vor seinem Zorn. Er versucht seit diesem Tag immer wieder, sich mit mir
zu messen. Beim letzten Mal hatte er sich in einer Pokerrunde eingekauft, zu der ich gehörte. Er wollte mich wohl im Poker schlagen. Doch ich schlug ihn. Er hat einen Revolvermann bei sich, älter als du, Jim, und schon lange berüchtigt und berühmt. Lewt Garret ist bei ihm. Ich habe das Gefühl, dass sie mich reinlegen wollen. Also brauche ich dich.« Sie erreichen dann den Fluss, und sie gehen die Uferstraße entlang bis zu einer Landebrücke. Hier liegt ein großer Flussdampfer, der vom Mississippi heraufgekommen ist. Lige Morgan will hier wegen des Zinn- und Blechgeschirrs verhandeln, denn er möchte einige Wagenladungen davon mitnehmen. Doch heute hat Jim Pecos keine Lust, den zähen Verhandlungen und dem Feilschen um einen günstigen Preis beizuwohnen. »Kann ich an Land bleiben und mir das Leben und Treiben hier ansehen?«, fragt er. Lige Morgan betrachtet ihn seltsam forschend. Dann nickt er und geht an Bord. Kaum ist er verschwunden, erscheint oben eine sehr hübsche, junge Frau mit einer Reisetasche. Sie steht einige Atemzüge lang dort oben und blickt auf das Land nieder, auf all die Dinge hier am Fluss, auf das Leben und Treiben. Sie ist noch ein Mädchen, ein Mädchen, welches jetzt all seinen Mut zusammennehmen muss, um an Land zu gehen. Gewiss beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt für sie. Sie trägt eine alte Reisetasche, in der sich sicherlich ihre ganze Habe befindet. Am Ärmel ihrer Kostümjacke entdeckt Jim Pecos einen Trauerflor. Ihre Augen sind mehr grün als blau, und als Jim Pecos in diese Augen blickt, greift er unwillkürlich an den Hut und nimmt ihn ab. »Kann ich irgendwie behilflich sein, Madam?«, fragt er. »Danke, ich brauche keine Hilfe«, sagt sie mit einer
Stimme, die spröde klingt. Er möchte ihr nacheilen, sie fragen und etwas für sie tun, aber er begreift, dass er doch fremd für sie ist und dass sie ihn gewiss mit einigem Misstrauen betrachten wird. Überdies sieht man ihm an, dass er einer jener wilden, verwegenen und gefährlichen Burschen ist, die mit dem Revolver gut umgehen können und für die jede Herausforderung ein Grund zu einem Kampf ist. Er weiß das. Und so erinnert er sich wieder daran, dass er hier auf Lige Morgan warten muss und sich nicht um das Mädchen kümmern kann. Er geht an Bord und sagt dort dem Bootsmann, der an der Reling steht, dass er auf Lige Morgan wartet. Er unterhält sich mit dem Bootsmann eine Weile und fragt dann beiläufig: »Was war das für ein Mädel, dieses blonde Mädel, welches vorhin von Bord ging?« Der Bootsmann brummt unwillig. »Das Kind heißt Nell Loke und kommt von Louisiana herauf. Sie hatte am Anfang ihren Bruder bei sich. Doch der wurde unterwegs von einem unserer zweihundert Passagiere erschossen.« »Und warum?«, fragt Jim sanft. »Er spielte falsch. Als man ihn beschuldigte, zog er einen Revolver und wollte den Mann, der ihn erwischt hat, erschießen. Doch der Mann war schneller. Und er hatte ihn zu Recht beschuldigt. Denn man fand einige Karten in seinem Ärmel, die zuvor noch im Spiel gewesen waren. Das Mädel wollte gar nicht glauben, dass ihr Bruder falsch gespielt und seinen Revolver gezogen hatte.« Jim Pecos spuckt ins Wasser, denn in seinem Mund ist plötzlich ein bitterer Geschmack. Er weiß nun, warum das Mädchen einen Trauerflor am Ärmel trägt. Und er weiß auch, dass sie allein ist auf der Welt. Sie war mit ihrem Bruder irgendwohin unterwegs. Doch ihr Bruder war ein kleiner, schäbiger Falschspieler, der dann auch noch den Revolverhelden spielen wollte.
Er wendet den Kopf, als Lige Morgan zu ihm tritt, und er wird aus seinen Gedanken geschreckt, als Lige Morgan zufrieden sagt: »So, ich habe zwei Wagenladungen Geschirr gekauft. Unser Wagenzug ist nun voller Waren. Wir brechen übermorgen auf. Gehen wir! Und heute Abend muss ich mit Wyatt Starr Poker spielen. Er ist schlimm, ein rotköpfiger Riese. Doch ich glaube, ich kann ihn bei einer körperlichen Auseinandersetzung noch schlagen. Mit dem Revolver ist er mir über. Ich werde deshalb keine Waffe einstecken. Achte auf seinen Revolvermann, diesen Lewt Garret.« *** Es ist etwa drei Stunden vor Mitternacht, als Jim Pecos seinen Boss zum »Wette-tausend-Dollar-Saloon« begleitet. Ihr Erscheinen wird zur Kenntnis genommen. Es ist unverkennbar, dass man diese Pokerpartie als einen besonderen Wettkampf ansieht und sicherlich selbst schon Wetten darauf abgeschlossen hat, wer diesmal gewinnen wird, Lige Morgan oder Wyatt Starr. Beide Männer sind als Frachtzugbesitzer und Händler gut genug bekannt. Beide gelten als Kämpfer und beachtliche Burschen. Und von beiden Männern weiß man, dass sie sich nicht leiden können und einer dem anderen gerne einen Streich spielt. Wyatt Starr sitzt breit, massig und mit vor Vorfreude funkelnden Augen hinter einem Spieltisch in der Ecke. Er grinst breit, doch dieses Grinsen ist nicht freundlich. Nein, es ist irgendwie herausfordernd, überheblich. Jim Pecos ist scharfe und verwegene Spiele mit hohen Einsätzen aus dem Pecos-Land gewöhnt, wenn die großen Banditen untereinander spielen, wenn sie ihr schnell und durch Raub oder Schmuggel verdientes Geld einsetzen, so als wäre es nichts – doch was er hier sieht, übertrifft alles, was er bisher sah oder erlebte. Lige Morgan hat ihm tausend Dollar als
Spielkapital gegeben und ihm auch genaue Anweisungen erteilt. Jim spielt also nur vorsichtig. Er passt zumeist und hält nur mit, wenn er ein erstklassiges Blatt hat. So gewinnt er einige Beträge. So wie er, so verhalten sich auch Lewt Garret, Starrs Revolvermann, und ein Kartenhai namens James Miller, der keinen guten Ruf hat, wie Jim Pecos weiß. Die großen Spiele werden zwischen Lige Morgan und Wyatt Starr ausgetragen. Sie sind Gegner, und sie bluffen sich, sie riskieren viel und setzen immer höhere Beträge ein. Jim Pecos ist erstaunt über Lige Morgan, denn er lernt jetzt eine neue Seite an diesem sonst so solide und zuverlässig wirkenden Mann kennen. Er begreift, dass Lige Morgan sehr waghalsig und geradezu ungestüm ist. Lige Morgan hat auch sehr viel Geld eingesteckt. Manchmal verliert er hintereinander insgesamt drei- oder viertausend Dollar. Doch dann grinst er nur, holt neues Geld hervor und gewinnt seinen Verlust wieder zurück und noch etwas dazu. Und mit Wyatt Starr ist es ähnlich, nur dass er Verlieren oder Gewinnen noch ernster nimmt. Für ihn ist dieses Spiel ganz sicher ein Zweikampf. Es ist genau eine Stunde nach Mitternacht, als der berufsmäßige Kartenspieler James Miller wieder an die Reihe kommt, für die nächsten drei Spiele die Karten auszugeben. Lige Morgan hat die letzten sieben oder acht Spiele alle verloren, und das sogar, als Jim Pecos die Karten austeilte. Als er nun auch dieses Spiel verliert, betrachtet er die Karten, die Wyatt Starr auf den Tisch legte. Er nimmt das Karo-Ass in die Hand und betrachtet es genau. Schnaufend wirft er es auf den Tisch und sagt hart: »Dieses Ass war vorhin nicht mit im Spiel! Jemand hat es mit ins Spiel gebracht, denn es passte so schön zu den drei anderen Assen. Nicht wahr, Wyatt Starr?« Der beugt sich weit über den Tisch, und seine Brust berührt
dabei den Geldhaufen. Es ist alles Geld von Lige Morgan dabei. Wenn Lige Morgan weiterspielen wollte, so müsste er sich erst Geld beschaffen oder Schuldscheine auf seinen Wagenzug ausschreiben. Aber jetzt hat er das Ass entdeckt, von dem er behauptet, dass es vorhin nicht im Spiel war. »Behauptest du, dass ich falsch spiele?«, fragt Wyatt Starr heiser. »Ich habe keinen Revolver bei mir«, erwidert Lige Morgan. »Und ich behaupte, dass falsch gespielt wird. Dieser Kartenhai soll die Karten aufblättern, von denen er an uns austeilte! Ich will diese Karten sehen und…« »Das wirst du nicht, Lige Morgan«, sagt Wyatt Starr und erhebt sich. Auch sein Revolvermann Lewt Garret gleitet vom Stuhl, doch er ist dabei nicht schneller als Jim Pecos. Nur der Spieler und der Bankhalter bleiben sitzen. Lige Morgan und Wyatt Starr blicken sich an, schweigend und unversöhnlich. Sie sind Männer, die wohl schon von Geburt an dazu bestimmt wurden, eines Tages in einem rauen Land Feinde zu sein. Dann sagt Wyatt Starr scharf: »Heute hast du verloren, Lige Morgan. Heute bist du der Verlierer. Ich werde dir beim nächsten Mal Revanche geben. Doch heute hast du verloren. Das Spiel ist beendet. Pack dich, Mister! Pack dich! Und nimm deinen Revolverschwinger vom Pecos mit!« Die Zuschauer weichen nun noch mehr auseinander. Sie geben das voraussichtliche Schussfeld frei, und sie pressen sich an die Wände oder ducken sich unter die Tische. Einige besonders Vorsichtige verlassen den Spielraum. Nebenan im großen Saal verstummt nun die Musik, nach der zwei Dutzend Tanzmädchen für eine Halb-Dollar-Tanzkarte mit all den vielen Gästen tanzen, die darauf versessen sind. In der Stille hier im Spielraum hört man Lige Morgan bitter seufzen. Er sagt zu Jim Pecos: »Jim, ich möchte die Karten
dort sehen. Bist du der Meinung, dass ich dies unbelästigt tun kann?« Jim blickt in die schmalen, starren und glitzernden Augen des Revolvermannes Lewt Garret, und er weiß, dass er mit diesem Garret wird kämpfen müssen. Ein bitteres Gefühl steigt in ihm auf. Doch dann denkt er wieder daran, dass Lige Morgan ihm einmal das Leben rettete und somit einen Anspruch auf seine Treue und Hilfe hat. Er sagt: »Sehen Sie sich die Karten ruhig an, Mr. Morgan. Ich achte darauf, dass niemand Sie daran hindert. Jeder Verlierer hat das Recht, sich die Karten anzusehen, mit denen gespielt wurde. Nur zu, Lige Morgan!« Dann ist es wieder still. Alle Zuschauer und auch die Beteiligten begreifen, dass die Sache nun wieder bei Lige Morgan gelandet ist. Jetzt wird es darauf ankommen, ob er seinem Revolvermann vertraut. Er hat etwa siebentausend Dollar verloren. Wenn er feige ist und seinem Revolvermann nicht zutraut, dass dieser ihn beschützen kann, dann hat er das Geld verloren. Aber es kommt Lige Morgan und Wyatt Starr gar nicht so sehr auf das Geld an. Es ist anders! Es ist ganz einfach so, dass sich keiner von dem anderen Mann als geschlagen worden bekennen kann. Und so wagt es Lige Morgan ganz plötzlich und entschlossen. Damit gibt er das Signal. Lewt Garret und Jim Pecos ziehen wie auf ein stillschweigendes Kommando. Lewt Garret ist ein sehr berüchtigter und auf eine traurige Art berühmter Revolverheld, der schon mehr als ein Dutzend Revolverkämpfe hinter sich brachte und stets Sieger blieb. Heute wird er geschlagen. Bevor er abdrücken kann, zerschießt Jim Pecos ihm die
Schulter. Er wird bis an die Wand zurückgestoßen, und der Revolver entfällt seiner kraftlosen Hand. Der Spieler James Miller sprang vom Stuhl, wich gegen die Wand zurück und ließ seine Hände unter die Jacke gleiten. Doch es ging alles viel zu schnell für ihn. Bevor er seinen Revolver zum Vorschein bringen kann, richtet Jim Pecos die Mündung auf ihn und ruft: »Halt, Mann!« Der Spieler erstarrt. Und auch Wyatt Starr steht still. Er kann es einfach nicht fassen, dass sein Mann, den er sich gewiss teuer genug einkaufen musste, geschlagen wurde. Es riecht nach Pulver. Jemand seufzt in der Ecke. Lige Morgan aber beugt sich wieder vor und nimmt das Kartenhäufchen. Er dreht es um, sodass die Bilder der Karten sichtbar werden. Und dann sieht es jeder. Es liegt noch ein zweites Karo-Ass dort. Lige Morgan richtet seinen Blick auf Wyatt Starr. »Wer hat nun verloren, Wyatt Starr?«, fragt er schwer. Er geht langsam um den Tisch herum und stößt Wyatt Starr grob zur Seite. Starr gehorcht schnaufend, denn Jim Pecos hat ja noch den Revolver in der Hand. Der Revolvermann Lewt Garret rutscht jetzt mit dem Rücken an der Wand nieder, bis er in der Hocke sitzt. Er stöhnt und presst seine Linke gegen die sich nun mehr und mehr mit Blut tränkende Stelle seiner Weste. Lige Morgan greift dort, wo der Spieler saß, unter den Tisch. Und er bringt dort einige Karten zum Vorschein, die unter der Tischplatte in die Ritzen zwischen den Brettern geklemmt waren. Er wirft diese Karten, die der Spieler nach Belieben austauschte, auf den Tisch. Jeder sieht es. Dann schlägt er hart und überraschend zu. Er trifft den Spieler unter dem untersten Westenknopf und beachtet den
zusammenbrechenden Mann nicht mehr. Er wendet sich an Wyatt Starr und sagt: »Du hast dir einen Revolvermann gekauft, damit dieser dich beschützt. Und du hast dir einen Falschspieler gekauft, der dir zuletzt immer wieder die besseren Karten zuspielte, indem er sie dir bequem in die Ritzen des Tisches steckte, sodass du sie austauschen konntest. Es hat dir nichts genützt, Wyatt Starr. Und nun frage ich dich noch einmal: Wer hat verloren?« Wyatt Starr knirscht hörbar mit den Zähnen, und er gleicht jetzt irgendwie einem grimmig wirkenden Nussknacker. Er blickt auf seinen Revolvermann, der nun ohnmächtig wird und an der Wand entlang aus seiner Hockstellung auf die Seite rutscht. Er blickt auf den Spieler, der am Boden kniet und sich immer noch unter der Wirkung des Magenhakens krümmt. Zuletzt blickt er auf das viele Geld, welches auf dem Tisch liegt. Und dann schluckt er schwer, knirscht nochmals mit den Zähnen und sagt: »Du hast gewonnen, weil dein Revolverschwinger besser ist als meiner. Doch…« Er verstummt. Nein, er droht nicht. Er zeigt Lige Morgan nur noch die Faust. Dann geht er schwerfällig hinaus. Er wollte Lige Morgan reinlegen. Doch er hat zum zweiten Mal verloren. Diese zweite Niederlage wird er noch weniger hinnehmen können als die erste. Denn durch diese zweite Niederlage geriet er auch noch in den Verruf, ein Falschspieler zu sein. Lige Morgan kümmert sich nicht weiter um ihn. Er nimmt vielmehr seinen Hut und wischt all das auf dem Tisch vorhandene Geld hinein. Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Grenze gehört ihm, da er seine Spielgegner als Falschspieler entlarvt hat, all das auf dem Spieltisch liegende und zu Einsätzen verwendete Geld. Jim Pecos folgt ihm. Hinter ihnen ist es immer noch still. Doch dann sagt eine
Männerstimme gepresst: »Du lieber Himmel! Habt ihr gesehen, wie schnell dieser Jim Pecos seinen Revolver ziehen kann?« Jim Pecos begleitet Lige Morgan wortlos aus der Stadt. Doch als sie dann die Feuer und Lichter ihres Wagencamps erblicken, da sagt Jim bitter: »Das ist es also! Ich bin für Sie ein Revolverheld, den Sie sich angeworben haben. Soll das auch in Zukunft so sein? Werde ich immer wieder für Sie den Revolver ziehen müssen?« Lige Morgan bleibt stehen. Er hält seinen mit Geld gefüllten Hut gegen die Brust gedrückt. »Was hast du erwartet, Jim?«, fragt er. »Möchtest du Arbeit als Frachtfahrer haben? Kannst du einen Doppel-Frachtwagen mit acht Maultieren durch raues Land bringen, über Berge, durch Sandstrecken? Kannst du hundert Zentner Ladung von hier nach Santa Fe und noch weiter fahren?« »Nein«, murmelt Jim. »Was kannst du dann?« Jim Pecos schweigt. Denn es ist wirklich nicht allzu viel, was er kann. Er kann reiten. Er kann mit dem Lasso umgehen und kennt sich mit Pferden und Rindern aus. Doch dies alles können zehntausend Männer zwischen Mexiko und der Nordgrenze ebenso gut. Jim Pecos denkt jetzt daran, von was für Einkünften er all die Jahre lebte. Er senkt den Kopf. »Sicher, Mister«, murmelt er. »Sie haben es richtig erkannt. Ich bin nur ein Rindertreiber und ein Revolverschwinger. Aber ich dachte…« Er verstummt und geht weiter. Lige Morgan folgt ihm sofort, holt ihn ein und fragt: »Was dachtest du, Jim?« »Ach, es ist nichts. Ich war soeben ein wenig naiv. Es ist schon alles in Ordnung. Ich bin ein Revolverschwinger aus dem Pecos-Land. Und solch einen Burschen suchten Sie. Es ist schon gut. Sie können sich auf mich verlassen, wenn es darum geht, Ihr Leben zu schützen. Ich bin Ihr Leibwächter. Gut!« Sie haben nun den Rand ihres Camps erreicht. Jim hält inne
und fragt etwas spröde: »Kann ich Urlaub haben? Ich möchte noch einmal in die Stadt. Ich werde morgen pünktlich zur Stelle sein, wenn die Wagen aufbrechen. Doch ich muss jetzt in die Stadt!« Lige Morgan überlegt drei Sekunden. Dann sagt er ruhig: »Sicher, du hast Urlaub. Doch bevor du gehst, noch etwas anderes. Du bist nämlich etwas im Irrtum, Jim. Du bist nicht nur ein angeworbener Leibwächter. Du musst doch längst erkannt haben, dass ich dich überall mit hinnehme – als eine Art Lehrling. Du erwirbst dir zumindest einige geschäftliche Kenntnisse im Frachtgeschäft. Wenn du im Verlauf der Jahre noch lernst, wie man mit Frachtwagen und den MaultierGespannen umgeht, wenn du ein tüchtiger Schmied und Wagenbauer wirst und dir noch allerlei andere Kenntnisse aneignest, so wird dir später kein Frachtfahrmann, kein Händler und überhaupt niemand im Frachtgeschäft etwas vormachen können. Und du weißt, Jim, ich suche den Mann, der damals meine Frau und meinen Sohn in der Not allein ließ. Ich finde ihn, das weiß ich! Er steckt irgendwo dort im PecosLand. Wenn ich ihn habe, brauche ich deine Hilfe. Ich werde dich königlich belohnen. Wie alt bist du?« Jim Pecos blickt ihn seltsam an. Der Feuerschein des Camps, der zwischen den Wagen hindurch auf die Männer fällt, beleuchtet sein Gesicht. »Ich weiß nicht, wie alt ich bin«, murmelt Jim Pecos. »Etwa vierundzwanzig Jahre wohl. Ich weiß auch nicht, wie ich heiße. Man nannte mich Jim Pecos, weil mich eine Apachenbande am Pecos verlor, als sie scharf verfolgt wurde. Die Bande hatte einige Siedler überfallen und die Maultiere eines Packzuges gestohlen. Die Armee übergab mich einer Familie, die zwei Jahre später an Typhus starb, weil das Wasser des Brunnens sehr schlecht war. Ich war dann bei vielen Leuten, bis ich groß genug war, um auszureißen und allein für mich zu sorgen. Ich weiß nicht, wie alt ich bin und wie mein richtiger Name ist,
Mister.« Nach diesen zuletzt etwas schroff und kalt klingenden Worten geht er davon. Lige Morgan steht still und stumm da und sieht ihm nach. Dann murmelt er: »Dieser Junge will mich doch wohl nicht reinlegen? Er will mich doch wohl nicht auf die Idee bringen, dass er mein Sohn sein könnte? Du lieber Himmel, solche Wunder oder Zufälle gibt es doch gar nicht! Ich glaube, dass dieser Pecos seine Eltern ganz genau kennt und auch seinen Namen genau weiß. Ob ich mich auch weiterhin auf ihn verlassen kann?« Er verstummt zweifelnd. Dann geht er ins Camp. *** Indes geht Jim Pecos durch die Stadt. Es ist schon nach Mitternacht, doch die wilde Stadt Westport, die man jetzt Kansas City nennt, ist nun erst richtig in Betrieb gekommen. Jim Pecos musste in die Stadt zurück. Denn er muss ständig an das Mädchen denken, an jene Nell Loke, deren Bruder an Bord des Flussdampfers wegen Falschspieles erschossen wurde. Es lässt Jim Pecos keine Ruhe. Er muss immerzu daran denken, dass sie morgen nach Westen aufbrechen und er dann dieses Mädchen nie Wiedersehen wird. Er muss sie finden. Obwohl er nicht weiß, was er tun wird, wenn er sie gefunden hat, ist es sein Wille, sie zu finden. Er beginnt die Suche, durchkämmt alle Lokale, Spielhäuser und Tanzhallen, und er fragt überall nach einer blonden Neuen. Er geht auch in die billigeren Hotels und fragt nach, ob ein Mädchen abgestiegen ist. Als der Tag graut, gibt er es auf. Es hat keinen Sinn mehr. Und er ist auch nicht mehr ganz nüchtern. Denn überall, wo er fragte, musste er sich einen Drink bestellen, musste mit
Rauswerfern, Wirten, Barmännern und Tanzmädchen plaudern. Er ist müde, hat einen schweren Kopf und verspürt Durst auf einen starken Kaffee. Er geht in die erste Imbissstube hinein. Einige Männer sitzen hier auf den hohen Hockern einer barähnlichen Esstheke, hinter der zwei Öfen in Gang sind. Auf dem einen Ofen stehen zwei Kessel mit Kaffee und Fleischbrühe. Auf dem zweiten Herd sind drei Pfannen, in denen Pfannkuchen braten. Eine Frau oder ein Mädchen, die sich ein weißes Kopftuch umgebunden hat, stapelt die Pfannkuchen auf Teller und füllt neuen Teig in die Pfannen. Dann dreht sie sich um und stellt die gefüllten Teller vor den Gästen auf die Theke. Sie füllt Kaffeebecher und stellt sie hinzu. Dann hebt sie ihren Blick, um nach Jim Pecos’ Wünschen zu fragen. Und da erkennt sie ihn. Doch er hat sie schon vorher erkannt. Er hat mit angehaltenem Atem darauf gewartet, dass sie ihn ansehen und vielleicht sogar wiedererkennen würde. Er kann deutlich sehen, wie in ihren Augen ein Ausdruck des Erkennens liegt. Er lächelt sie an und sagt: »Auch für mich ein Frühstück mit Kaffee.« Sie nickt und senkt den Blick. Als sie sich den beiden Herden zuwenden will, sagt einer der anderen Gäste, die alle zusammengehören und wahrscheinlich eine Büffeljägermannschaft sind, die ihre Felle verkauft hat und sich nun einige Tage hier amüsieren will: »He, Schwester, wann hast du frei? Was würdest du sagen, wenn ich dir diese Stadt mal richtig zeige? Heute Abend? Ich führe dich wie eine Lady aus. Und wenn du kein schönes Kleid hast, nun, ich kaufe dir eines! Ich habe tausend Büffel geschossen – tausend Büffel, Mädel! Das reicht aus für einige schöne Tage und…« »Essen Sie Ihr Frühstück und lassen Sie mich zufrieden«, sagt sie mit kühler, verbitterter Stimme. Man sieht ihr an, wie
müde sie ist. »He, Mädchen, bin ich dir nicht gut genug?«, fragt der Mann. »Glaubst du vielleicht, du könntest in dieser Pfannkuchenecke auf den Sohn des Präsidenten warten und…« »Es ist genug, Mister«, sagt Jim Pecos gedehnt. »Halten Sie Ihren Mund! Sie belästigen die Miss!« Die drei Männer starren ihn an. Es sind hartgesottene Burschen, die es gewiss schon in vielen Berufen versucht haben und die jetzt als Büffeljäger ihr Geld machen. Das heißt, dass sie ins Indianerland fahren und dort möglichst viele Büffel töten, ihnen die Häute abziehen und die Kadaver den Aasfressern überlassen. Es ist ein Schlachten, ein blutiges, unmenschliches und gemeines Schlachten. Und deshalb sind diese Büffeljäger eine besonders haarige und hartgesottene Sorte. Sie betrachten Jim drohend. Und jener Bursche, der gesprochen hat, sagt nun grimmig und kauend: »Nun, Kleiner, das werden wir gleich haben. Wenn ich gegessen habe, werde ich dir was aufs Maul schlagen, solltest du dann noch hier sein.« Als er es gesagt hat, gießt er den Inhalt seines Kaffeebechers in seinen Hals, wobei er den Kopf weit in den Nacken legt und seinen Mund weit öffnet. Und dieser Mund bleibt auch dann noch geöffnet, als der vierte Gast zu den drei Männern sagt: »Nur nicht so schnell, Freunde! Ich habe diesen noch etwas dünnen Mister vor einigen Stunden bei der Arbeit gesehen. Er hat Lewt Garret von den Beinen geschossen. Vorsichtig, Freunde! Es ist dieser Jim Pecos! Es ist Lige Morgans Revolvermann. Und ich habe nichts gegen ihn – gar nichts.« Der Mann trinkt seinen Becher leer, legt Geld auf die Theke und geht. Und die drei anderen Burschen, die soeben noch so hartbeinig und beachtlich wirkten, zahlen ebenfalls und folgen schweigend.
Es bleibt still. Jim blickt auf den Rücken und den Nacken des Mädchens, welches immer noch vor ihren Öfen steht. Als sie sich dann plötzlich nach ihm umwendet, ist ihr Gesicht nicht nur von der Wärme gerötet. »Sie sind der Revolverheld?«, fragt sie. »Sie sind ein Revolvermann, der mit diesem Lewt Garret kämpfte? Man sprach schon mehrmals hier an der Theke über den Kampf. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie ein Revolverheld wären. Nein, ich…« Sie verstummt, beißt sich auf die Lippen und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Wenig später stellt sie einen Teller mit drei frischen Pfannkuchen und einen Steingutbecher voll Kaffee vor Jim hin und beginnt das andere Geschirr abzuräumen. »Sie sind mittellos und mussten diese Arbeit annehmen«, murmelt Jim und nimmt einen Schluck. »Ich weiß vom Bootsmann des Schiffes, was geschah, und ich fragte mich, ob Sie nicht Hilfe brauchten. Ich habe die ganze Stadt nach Ihnen abgesucht, Nell Loke.« Sie steht still da und sieht ihn an. In ihren Augen ist ganz klar Verwunderung, doch auch Misstrauen erkennbar. Sie ist überrascht, doch dann gewinnt ihr Verstand die Oberhand. »Und warum wollen Sie mir helfen?«, fragt sie spröde. »Weil ich ein hübsches Mädchen bin? Ja? Mister, ich brauche keine Hilfe. Ich habe hier einen Job. In einigen Wochen werde ich genug Geld haben, um meine Reise fortsetzen zu können.« Sie hält inne und betrachtet Jim forschender und prüfender. »Da fällt mir ein, dass man Sie Jim Pecos nennt«, spricht sie. »Ist das Ihr richtiger Name – oder nennt man Sie so, weil Sie aus dem Pecos-Land sind?« »Von dort stamme ich«, gibt Pecos etwas verwundert Auskunft. »Und dorthin will ich«, erwidert sie langsam. »Unser ältester Bruder ist dort. Ich wollte mit meinem anderen Bruder
zu ihm. Er hätte gewiss dafür gesorgt, dass sein jüngerer Bruder ein guter Mann geworden wäre. Doch es sollte wohl nicht sein. Nun muss ich allein zu ihm. Vielleicht kennen Sie ihn. Er ist Vormann auf einer großen Ranch. Er ist zweiter Vormann auf Thor Chishams Spanish Bit Ranch. Kennen Sie ihn?« »Ja«, sagt Jim Pecos schnell. »Die Ranch kenne ich. Sie liegt in der Gegend des großen Knies des Rio Grande. Ich war schon dort. Ich ritt einmal Pferde dort zu. Es ist noch kein Jahr her. Und ich kenne auch Ringo Loke. Ich wäre nie darauf gekommen, dass er Ihr Bruder sein könnte.« »Nicht wahr, wir sehen uns gar nicht ähnlich«, sagt sie und tritt zur Spülwanne, um das schmutzige Geschirr zu spülen. »Es stimmt doch, dass er bei Thor Chisham zweiter Vormann ist?« Jim zögert unmerklich, bevor er die Frage beantwortet. Und als er dann nickt und leise sagt: »Das ist schon möglich – auf jeden Fall gehört er zu Thor Chishams besonderen Reitern, die eine Menge Autorität besitzen.«, da denkt er bitter: Oh, ein Revolvermann ist ihr Bruder. Ein Revolvermann wie ich, doch schon fast ein Bandit und der Anführer oder Unterführer von Schmugglern. Du armes Mädel! Es wird dir nicht gut gehen bei deinem älteren Bruder. Du wirst ihm sogar sehr lästig werden und er wird sich überhaupt nicht freuen, dich bei sich zu haben. Denn die Mannschaft der Chisham Ranch hat einen besonderen Namen: die Wilde Horde. Doch er erkennt zugleich, dass er diese bitteren Erkenntnisse und Gedanken dem Mädchen gegenüber nicht äußern darf. Sie würde ihm nicht glauben, gewiss nicht. Denn sie ist ein Mädchen, welches sich nun mit aller Kraft an den Glauben klammert, dass es ihr beim älteren Bruder besser gehen wird, dass alles gut für sie ist, dass sie einen Halt, ein Heim und eine Aufgabe haben wird, sobald sie bei ihm angelangt ist. Vielleicht glaubt sie, dass er als Vormann einer
großen Ranch ein eigenes Haus bewohnt und dass sie für ihn sorgen kann. Jim erkennt, dass sich dieses Mädchen erst mit eigenen Augen überzeugen muss. Er sagt: »Sie müssen mit der Post über Fort Worth und San Angelo, dann über den Pecos bis nach Langtry. Wenn Sie in Langtry sind, werden Sie sicherlich Reiter von Thor Chisham finden. Es ist ein langer Weg. Doch Sie brauchen sich hier nicht das Reisegeld zu verdienen. Ihr jüngerer Bruder hat wohl alles an Bord des Schiffes am Spieltisch verloren und versuchte es dann mit Falschspiel, nicht wahr? Nun, es tut mir Leid. Doch Sie brauchen sich das Reisegeld nicht erst verdienen. Ich kann es Ihnen leihen, da ich Ihren Bruder kenne. Und wir sehen uns bestimmt wieder!« Er nimmt seinen Lederbeutel aus der Tasche, in dem, wie er weiß, etwas mehr als hundert Dollar sind. Lige Morgan hatte ihm dieses Geld regelrecht aufgezwungen. Es ist ein Monatslohn. Er legt es auf die Theke und sagt: »Also bis später, Miss Loke!« Und dann geht er schnell hinaus. Er achtet nicht auf ihre Worte, die ihn unmissverständlich auffordern, sein Geld wieder mitzunehmen. Er geht schnell hinaus, und er weiß, dass dieses Mädchen schließlich doch das Geld nehmen wird, um zu ihrem großen Bruder kommen zu können. Er hat ihr gesagt, dass er ihn kennt und dass er ihr das Geld nur borgt. Dies wird es ihr möglich machen, sein Geld anzunehmen. Es ist ja nur geborgt. Und überdies trennen sich ihre Wege. Er fährt ja mit einem Wagenzug – oder reitet. Sie selbst wird viele Wochen früher im Pecos-Land sein. *** Als die Sonne aufgeht, ist die »fahrende Schlange« in �
Bewegung. Sie ist noch länger als auf der Herfahrt, denn Lige Morgan hat noch einige Wagen und Gespanne gekauft. Sie sind nun mit achtundzwanzig Wagen unterwegs, doch zehn dieser Wagen sind besonders schwere Murphy-Wagen mit etwas kleineren Anhängern. Diese schweren Wagen werden von zwölf starken Maultieren gezogen. Die MervilleWagen jedoch kommen mit acht Maultieren aus. Es gibt noch einen großen Küchenwagen, eine Remuda mit Ersatztieren und einige zusätzliche Helfer. Dies also ist die »fahrende Schlange«. Ihre weißen Wagenplanen leuchten in der Morgensonne. Die Gespanne zerstampfen den Boden, und die schweren, breiten und eisenbereiften Räder erzeugen auf dem Santa-FeWeg, den man auch den »alten Trail« nennt, neue Radfurchen oder verbreitern und vertiefen die alten. Die Gespanne keuchen und schnauben manchmal. Und die Fahrer knallen mit den Treiberpeitschen, von denen die meisten länger als sieben Yards sind. Es ist ein imposantes Bild, solch einen Wagenzug nach Westen fahren zu sehen, nicht schnell, doch stetig und beharrlich, unaufhaltsam und zielstrebig. Vorne singt einer der Fahrer: »Hört, ihr Maultiertreiber, hört mir zu! Kennt ihr Bull Ben Callaghan, der schon zur Hölle fuhr? Er hatte die verdorrteste Kehle der Welt! Er hatte stets die Taschen voll Geld! Er war noch stärker als sein Gespann! Er war ein richtiger, haariger Mann! Doch einst ließ er ein gutes Mädel sitzen! Dafür muss er nun in der Hölle schwitzen!« Der Fahrer vorne singt im Verlauf der nächsten Stunde auch noch die neunundsechzig anderen Strophen des Liedes. Jim Pecos reitet neben Lige Morgan weit voraus an der Spitze. Und er denkt an das Mädchen Nell Loke, das zu dem
älteren Bruder ins Pecos-Land will und daran glaubt, dass dieser Bruder besser ist als jener, der wegen Falschspiels Streit bekam und getötet wurde. Jim Pecos weiß, dass jener Ringo Loke nicht besser ist. Ringo Loke gehört zu den besonders hartgesottenen und mitleidlosen Schießern, die selbst im Banditenland eine gesonderte Stellung innehaben. Aber ich hätte das Mädchen bestimmt nicht davon abbringen können, zu dem Bruder ins Langtry County zu reisen, denkt er. Und indes der Tag vergeht und sich die fahrende Schlange mit einer Geschwindigkeit von etwa vier Meilen pro Stunde nach Westen bewegt, all den Schlangenlinien des alten Trails folgt, lange Steigungen erklimmt und Gefällstrecken mit kreischenden Bremsen hinter sich bringt, indes Jim Pecos neben Lige Morgan an der Spitze reitet, da denkt er bald nur noch über sich nach – einen langen Tag – zwei lange Tage – und auch wenn er in den Nächten wach liegt. Am dritten Tag passiert dann das Unglück mit einem der neuen Fuhrleute. Der Mann muss gegen Mittag für einen Moment auf dem Fahrersitz eingeschlafen sein. Als er aufwacht, befindet er sich mit Gespann und Wagen mitten in eine Schlammkuhle, um die alle anderen Gespanne einen Bogen fuhren. Sein Achtergespann aber ging mit der Dickschädeligkeit von Maultieren, die einen ihnen noch nicht besonders bekannten Fahrer haben und die deshalb so verdreht sind wie störrische alte Tanten, das Schlammloch hinein. Und der Fahrer brüllt nun wild, flucht noch wilder und knallt mit der Peitsche. »Hoii, ihr dickschädeligen Meerschweinchen! Ihr verteufelten Ziegen! Aah, ich werde euch die Schwänze ausreißen! Ich werde euer Fell in Streifen schlagen! Braah! Hoiiaaahh! Braah!« Als es nichts nützt, wird der Fahrer noch wilder, beginnt die
Tiere in böser Wut zu schlagen und lässt eine Kanonade von Flüchen los, die hier nicht wiedergegeben werden können. Als der Fahrer in seiner Wut und auch Verzweiflung zu schlagen beginnt, werden seine Zugtiere vollkommen verrückt. Sie springen über die Zugketten, und sogar die Stangentiere gehen über die Deichsel. Das ganze Gespann weicht nach rechts aus, um den Peitschenschlägen zu entkommen. Es zieht im Schlamm die Vorderräder herum, schlägt sie also scharf ein, und dadurch bekommt der schwere Wagen Übergewicht und kippt um. Die acht Maultiere sind nun vollkommen in Panik. Zwei oder drei Tiere werden umgerissen, und mit einem Mal ist das ganze Achtergespann ein schlimmes, keilendes, keuchendes, stöhnendes und schnaubendes Durcheinander. Der dicke Schlamm spritzt, und dann beginnen die Maultiere richtig zu brüllen und zu kreischen wie eine Herde Paviane. Verschiedene Geschirrteile reißen, aber keines der Tiere kommt richtig frei. Der Fahrer ist vollkommen in wilder Wut. Alles, was er jetzt noch im Sinn hat, ist die Bestrafung der seiner Meinung nach blödsinnigen und verrückten Tiere, die ihm solch einen Streich spielten. Er schlägt mit der Peitsche immer wieder in das Durcheinander hinein, hofft vielleicht sogar, so die auskeilenden und um sich beißenden, brüllenden und kreischenden Tiere zur Ruhe und auseinander bringen zu können. Lige Morgan kommt von vorn zurückgaloppiert. Und Jim folgt ihm. Er sieht zu, wie Lige Morgan sein Pferd gegen den schlagenden Frachtfahrer prallen lässt, sodass dieser sich am Boden überschlägt und halb betäubt liegen bleibt. Lige Morgan aber schwingt sich aus dem Sattel. Er nahm schon zuvor seine Peitsche vom Sattelhorn und schüttelt sie aus. Und dann sieht Jim Pecos, wie es ein richtiger Frachtfahrer
macht. Lige Morgan geht ganz ruhig zur Spitze des Gespanns, sodass ihn alle Tiere sehen können. Und dann saust seine lange Peitschenschnur mehrmals durch die Luft. Sie zuckt hin und her und erzeugt mit ihrem Metallknaller eine ganze Serie von kleinen Explosionen, die wie Revolverfeuer sind. Dann zuckt das lange Leder zurück, bis es sechsundzwanzig Fuß lang hinter Lige Morgan am Boden liegt. Er aber hält den Arm mit dem kurzen Peitschenstiel erhoben. Und dann wartet er. Es ist wie Zauberei. Denn die acht Maultiere, die im Schlamm durcheinander liegen oder knien, halten inne und blicken ihn an. Seine Stimme klingt zwar laut genug, doch völlig ruhig und gar nicht drohend, als er zu ihnen sagt: »Es ist vorbei! Die Vorstellung ist vorbei! Bedenkt endlich, dass ihr richtige Ladys und Gentlemen seid! Es gehört sich nicht, gar nicht! Ihr habt euch schlecht benommen. Was sollen Mr. Brown, Miss Pancake, Mr. Black und Miss May vom vorderen Gespann sagen, wenn ich es ihnen erzähle? Sollen sie sagen, dass in euren dicken Köpfen kein Verstand ist?« Als er verstummt, blicken sie ihn aufmerksam an, und ihre langen Ohren sind auf ihn gerichtet. Zwei oder drei zeigen ihre langen und gelben Zähne, so als lächelten sie ihm um Verzeihung bittend zu oder grinsten verlegen wie dumme Jungen nach einem Streich. Sie liegen, knien oder sitzen in allen Stellungen. Doch sie haben ihm die Köpfe zugewandt und blicken ihn an. »Na, dann steht endlich auf und stellt euch richtig hin, damit ich euch aus dem verwickelten Geschirr befreien kann! Steht nur auf und lasst euch helfen, ihr Onkels und Tanten!« Und sie gehorchen. Sie gehorchen so selbstverständlich, als verstünden sie jedes Wort.
Er macht sich an die Arbeit. Und indes fährt Wagen um Wagen an ihnen vorbei und rappelt sich der umgeworfene Frachtfahrer auf, dem der Anprall die Luft genommen hat. Als er Lige Morgan helfen will, knurrt dieser ihn an. »Fort mit dir! Nimm dein Bündel und geh nach Kansas City zurück! Du bist entlassen! Dir vertraue ich keinen Wagen mit Ladung und ein nobles Gespann echter Missouri-Maultiere mehr an! Fort mit dir!« Er will sich wieder seiner Arbeit zuwenden, doch plötzlich packt er den Mann an der Hemdbrust und zieht ihn an sich heran. Er schnüffelt hörbar und stößt den Burschen dann mit einem jähen Ruck von sich. »Aaah, Whisky! Schnaps! Du hast dich an der Ladung vergriffen und eines der Whisky-Fässer angezapft. Du hast gestohlen und warst betrunken. Zum Teufel, geh mir nur aus den Augen!« Der Mann fällt zu Boden. Nun erhebt er sich. Seine Hand verschwindet in der Tasche. Und sie erscheint mit einer einläufigen Pistole, die nicht viel größer als ein Derringer ist. Noch bevor er abdrücken kann, hat Jim Pecos seinen Revolver gezogen und sagt kühl von halblinks hinter ihm: »Wenn du anlegst, bist du tot. Lass das Ding fallen und geh!« Da gehorcht der Mann. Er watet durch den Schlamm und holt sein Bündel unter dem Fahrersitz des umgekippten Wagens hervor. Er streift Lige Morgan noch einmal mit einem tückischen Blick und geht davon. Er schlägt den Rückweg ein. Lige Morgan beachtet ihn gar nicht. Er hat inzwischen die Maultiere ausgespannt und hält nun die drei letzten Wagen an. Die Fuhrleute kommen und helfen, die zum Teil schon herausgerollte Ladung aus dem Schlammloch zu schaffen. Auch Jim Pecos hilft dabei, und es macht ihm nichts aus, sich schmutzig zu machen. Lige Morgan streift ihn einmal mit einem verwunderten Blick. Sie richten den Wagen auf, spannen die Tiere wieder ein
und bringen das Geschirr in Ordnung. Den nun entladenen Wagen ziehen die acht Tiere, die nun so vernünftig sind, als wäre nichts geschehen, leicht heraus. Dann wird wieder aufgeladen. Es sind fast zwei Stunden vergangen. Die drei angehaltenen Wagen fahren weiter. Von vorn kommt einer der Ersatzleute nach hinten, der bisher beim Küchenwagen mitgefahren ist. Jim Pecos sagt plötzlich: »Ich möchte es versuchen! Der Mann dort kann aufpassen, dass ich es richtig mache. Doch ich möchte einmal für einige Tage einen Frachtwagen und dieses Gespann lenken. Ich will es lernen.« Er sagt die letzten Worte drängend. Lige Morgan betrachtet ihn eine Weile. In seinen Augen ist ein verwundertes Forschen. Für einen Moment leuchte sogar etwas wie Freude darin auf. Doch dann wird sein Blick wieder ausdruckslos. Auch seine Stimme klingt gleichgültig. »Nun gut«, sagt er, »es kann ja nichts schaden, wenn ein Mann vielseitig ist. Also versuche es, Jim! Aber ich sage dir, dass du bald genug davon bekommen wirst! Und du weißt, was ich mit dem bisherigen Fahrer machte.« Er geht zu seinem Pferd und sitzt auf. Dann blickt er auf den Ersatzmann nieder, der wartend dabeisteht. »Achte auf ihn«, sagt er knapp. Dann reitet er davon. Jim und der Frachtfahrer blicken sich an. Der Mann ist nicht sehr groß, doch ungeheuer breit und kräftig. Er hat einen schon ziemlich kahlen Kopf und große Ohren. Doch seine blauen Augen sind ruhig und fest. Er hat einen roten Schnurrbart und hält eine alte Treiberpeitsche in den Händen. »Warum willst du es versuchen, Revolvermann?«, fragt er plötzlich. Doch er spricht das Wort »Revolvermann« ohne jede besondere Betonung, sondern ganz schlicht und sachlich. »Weil ich es leid bin, dass man mich Revolvermann nennt«,
erwidert Jim etwas scharf. Doch dann blicken sie sich an und grinsen. »Ich bin Pierce Jones«, sagt der Frachtfahrer. »Ich hatte noch vor einigen Wochen zwei eigene Gespanne. Doch die Indianer verbrannten alles mitsamt der Ladung. Jetzt fange ich wieder von unten an. Nun gut, fahren wir los!« Jim bindet sein Pferd hinten am Wagen an. Dann nimmt er die Peitsche und die Zügel. Er steht nun in Höhe des linken Vorderrades. Seine Stimme klingt scharf und bestimmt, doch ganz und gar nicht böse oder gar drohend, als er ruft: »Heyah! Hoiyah! Vorwärts, Ladys und Gentlemen!« *** Jim Pecos nimmt in den nächsten Tagen kein Gramm Gewicht mehr zu. Er scheint sogar wieder hagerer zu werden und jene hundertsiebzig Pfund, die er früher einmal hatte, nie wieder erreichen zu können. Pierce Jones lässt ihn alles tun. Er greift nur helfend ein, wenn er sieht, dass Jim es nicht schaffen kann, und das ist zum Beispiel, wenn ein zerbrochenes Rad gewechselt werden muss. Aber sonst… Oh, es ist zuerst hart und mächtig schwer für Jim, obwohl er seit seiner Kindheit mit Tieren umgehen konnte. Doch es ist eine andere Sache, im Morgengrauen acht Maultiere aus der vom Grasen herbeigetriebenen Herde als die zu seinem Wagen gehörenden herauszufinden und anzuspannen. Die meisten Frachtfahrer machen es noch im Halbschlaf und rufen nur die Namen ihrer Tiere und sagen ihnen, was sie tun sollen. Das hört sich etwa so an: »Los, General! Komm schon! Geh auf die andere Seite! Hier kommt Madam Estrella hin! Mister Segelohr, wirst du wohl deinen dicken Kopf hier
durchstecken?« Jim Pecos’ Wagen ist immer der letzte im Zug, und er selbst spürt Schmerzen am ganzen Körper, so sehr beansprucht ihn die körperliche Arbeit, die so völlig anders ist und andere Muskeln in Tätigkeit setzt, als es durch das Reiten geschieht. In den ersten Tagen ist Jim Pecos manchmal so weit, dass er die Arbeit niederlegen möchte. Er denkt dann immer, dass er es doch gar nicht nötig hat, einen Frachtfahrer zu spielen. Er bedenkt auch mit einiger Sorge, dass die schmerzende Steifheit seiner Muskeln vor allen Dingen seine Revolverschnelligkeit sehr beeinträchtigt und seinem Körper eine ganze Menge von der Geschmeidigkeit eines Reiters nimmt. Da er stets als Letzter fertig wird, fährt sein Wagen auch stets am Schluss. Und er muss, wenn der Wind von vorne kommt, den ganzen Staub der fahrenden Schlange schlucken. Ja, er möchte wahrhaftig einige Male aufgeben, Pierce Jones die Zügel in die Hand drücken, sein Pferd hinter dem Wagen losbinden, aufsitzen und zur Spitze des Zuges reiten. Wie leicht und bequem ist es dort vorne. Wie gut sitzt es sich im Sattel, und wie weit kann dort vorn der Blick in die Runde schweifen. Man kommt sich irgendwie großartig vor, wenn man so leicht und bequem an der Spitze eines schwerfälligen Frachtzuges reiten kann. Aber es ist ein Unterschied, ob man es als der Boss tut, der dieses Handwerk versteht, oder ob man es als Leibwächter und Revolvermann tut, dem die Frachtfahrer sehr zurückhaltend und abweisend begegnen. Es gibt hundert Schwierigkeiten und Mühen an jedem Tag, und ein Mann wird hart dabei, eisern hart – wenn er es durchhält. Zum Durchhalten braucht man Stolz. Denn allein aus dem Stolz, ein vollwertiger Mann in diesem Zug sein zu wollen, wird die Energie geboren. Und Jim Pecos hat diesen Stolz.
* * * � Eines Tages ist Jim Pecos nicht mehr der letzte Mann, der sich der fahrenden Schlange mit seinem Wagen anschließt. Er fährt nun schon als drittletzter Wagen. Drei weitere Tage später sind zehn Wagen hinter ihm. Und Pierce Jones sagt bei der Mittagsrast zu Lige Morgan, als dieser ihn fragt: »Ich bin ganz nutzlos bei Jim Pecos, Boss! Er braucht keinen Helfer und auch keinen Aufpasser. Er hat alles begriffen und überstanden. Der fährt seinen Wagen überall hin, wohin die besten Fahrer dieses Trecks fahren können. Der kann mehr als nur den Revolver schwingen.« Lige Morgan nickt wortlos und interessiert sich scheinbar nur für den Inhalt seines Blechtellers. Es vergehen nochmals drei Tage. Und am frühen Morgen des vierten Tages, da fährt Jim Pecos an der Spitze und sieht den ganzen Tag Lige Morgan vor sich reiten. Am späten Nachmittag sagt Pierce Jones sanft zu ihm: »Du kannst heute aufhören, Jim Pecos. Du hast es geschafft, nicht wahr? Du fährst an der Spitze. Nun, glaube nicht, dass du jetzt der beste Mann bist. Es gibt hier noch ein Dutzend Männer, die dich hinter sich lassen können. Doch sie haben heute etwas langsamer gearbeitet. Sie sind heute mit dem Anspannen später als du fertig geworden, weil sie es wollten. Sie wollten dir für heute den ersten Platz überlassen, weil sie deine Leistung anerkennen und dich dafür belohnen wollen. Noch nie wurde ein Cowboy so schnell ein vollwertiger Frachtfahrer. Sie achten dich wegen dieser Leistung. Doch nun solltest du dich darauf besinnen, dass Lige Morgan dich für andere Aufgaben braucht. Wir kommen morgen an die Furt des Cimarron. Dahinter beginnt das Indianer-Territorium. Es leben auch eine Menge Banditen dort, vor allen Dingen einige Banden, die sich aus ehemaligen Guerillakämpfern aus Quantrills Armee
zusammensetzen. Diese Banditen sind schlimmer als die Indianer, mit denen sie insgeheim verbündet sind. Denn sonst könnten sie sich nicht im Territorium aufhalten.« Jim Pecos erwidert nichts. Doch am Abend, als sie beim Abendbrot dicht bei ihren Wagen kauern, als die Tiere getränkt sind und auf der Weide grasen, als auch die Räder schon abgeschmiert sind, da sagt Jim Pecos: »Nun, Pierce, deine gute Zeit ist um! Ab morgen musst du diesen verteufelten Wagen fahren. Ich reite wieder! Ich weiß jetzt, dass ich solch einen Wagen vom Missouri fahren kann. Und welcher Revolvermann kann das schon?« »Du bist kein Revolvermann, Jim«, murmelt Pierce Jones bedächtig. »Vielleicht warst du mal einer. Aber das liegt jetzt für dich tausend Jahre zurück. Du hast etwas begriffen. Du hast nun erkannt, dass es für einen Mann höhere Preise zu gewinnen gibt als nur einen Revolversieg über einen Narren.« *** Als die Wagenschlange am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang in Bewegung gerät, geht Jim Pecos zu seinem Pferd, sitzt auf und reitet an die Spitze zu Lige Morgan. Der blickt ihn kurz von der Seite her an, sagt jedoch nichts. Erst später, als die Sonne schon wärmt und das Gelände sich abwärts zum Cimarron senkt, da sagt er zu Jim: »Vielleicht war dein Vater ein Frachtfahrer, denn es liegt dir ganz offensichtlich im Blut. Vielleicht war er ein Baptist aus Missouri, und deine Wiege war eine Futterkrippe, aus der Maultiere fraßen. Denn wie sonst hättest du das binnen zweier Wochen schaffen können, wozu ein guter Mann Monate braucht!« »Vielleicht war mein Vater ein Pferdedieb«, grinst Jim schief. »Denn mit Pferden komme ich noch besser zurecht.« Sie schweigen dann und fuhren den Wagenzug zum Fluss
hinunter, den sie am frühen Nachmittag erreichen. Sie reiten etwa eine Viertelmeile vor dem ersten Wagen in die Furt hinein. Drüben taucht ganz plötzlich ein Rudel Reiter hinter einem Cottonwood-Wäldchen auf und kommt ebenfalls zum Fluss hernieder. Lige Morgan und Jim Pecos halten an. Jim, der einen prüfenden Blick zur Seite und auf Lige Morgan wirft, erkennt, wie das dunkle und lederhäutige Gesicht des Frachtzugbosses noch zerfurchter, noch härter und noch grimmiger wirkt. »Das sind Banditen«, sagt Lige Morgan knurrig. »Zum Teufel, sie nutzen die Tatsache aus, dass der Friedensvertrag mit den Indianern es der Armee verbietet, im IndianerTerritorium herumzureiten und Banditen zu jagen. Sie nehmen jetzt Zoll von jedem Wagenzug! Wie Raubritter erheben sie Zoll! Aber ich werde keinen Zoll zahlen. Ich mache den Indianerhäuptlingen, durch deren Gebiet ich ziehe, angemessene Geschenke. Doch ich zahle keinen Zoll an weiße Banditen. Darüber musst du dir klar sein, Jim Pecos!« Er stößt die letzten Worte sehr entschieden hervor, und nun weiß Jim endlich richtig, was Lige Morgan für ein Mann ist. Ein Draufgänger und Kämpfer, der nicht nach dem Ausgang einer Sache fragt, sondern angreift und kämpft, wenn er sich im Recht glaubt. Jim weiß, dass auch er so ist. Deshalb kann er Lige Morgan gut verstehen. Das Reiterrudel hat nun das Ufer erreicht. Es sind mehr als zwei Dutzend Reiter. Viele von ihnen tragen noch die Uniformen der ehemaligen Freischar von Colonel Quantrill oder der einstigen Konföderiertenarmee des Südens. Andere sind Deserteure, entwichene Häftlinge, Banditen, die hier eine Zuflucht fanden. Es ist der Abschaum zweier Armeen und einer Freischartruppe, und es ist der Abschaum der Grenze. Jim Pecos betrachtet die drei Reiter, die sich aus der breiten Front lösen, mit sorgfältiger Aufmerksamkeit, die tastend und
wachsam zugleich ist und die kein Zeichen und keine Anhaltspunkte übersehen will. Es ist eine kühle und beherrschte Aufmerksamkeit, die alle Beobachtungen sorgfältig registriert und zu irgendwelchen Erkenntnissen und Entschlüssen kommen wird. Jetzt ist Jim Pecos wieder ganz ein Revolvermann aus dem Pecos-Land, ein Mann, der unter Banditen aufwuchs und schon als kleiner Junge für sich sorgen musste. Um dies zu können, um sich nicht jenen Hartgesottenen unterordnen zu müssen, die ihm Befehle erteilt hätten und denen er hätte dienen müssen, wurde er ein schneller Revolverschütze. Neben ihm sagt Lige Morgan heiser vor Grimm: »Der mittlere Bursche ist Silvertip Jenkins! Er soll ein Vetter des berüchtigten Alvah Jenkins sein, fast genauso schlimm wie dieser Bandit. Ich hörte in Kansas City, dass er hier diese Wegelagerei zu seinem und seiner Bande Broterwerb gemacht hat.« Jim nickt nur unmerklich. Er betrachtet jenen Silvertip Jenkins und dessen beide Begleiter. Lige Morgan nimmt seine zusammengerollte Treiberpeitsche vom Sattelhorn. Er schüttelt sie aus und lässt das Leder herabhängen und es stromab schwimmen. Er tut es mit einer unauffälligen Bewegung und hat sein Pferd etwas zur Seite gedreht. Die beiden Männer, die Silvertip Jenkins begleiten, sind Revolvermänner. Er fühlt sich zwischen ihnen sehr sicher, und er ist ja selbst ein berüchtigter Revolverschwinger. Er ist groß und hager. Sein Hut hängt ihm an der Windschnur auf dem Rücken. So kann man die beiden hellen Flecken in seinem sonst dunklen Haar sehen. Nach diesen beiden weißen Flecken im Haar hat er seinen Spitznamen Silvertip. Überdies wird auch der Grizzlybär wegen seines weißen Flecks auf der Brust so genannt. Jim Pecos weiß nun gut Bescheid. Die drei Reiter sind nahe
genug und halten an. Er blickt sie an und macht sich keine Illusionen. Was er da sieht, das sind drei Burschen von der Gefährlichkeit eines Lewt Garret. Gewiss, er könnte jeden einzeln schlagen. Doch zu dritt würde einer von ihnen die Gelegenheit bekommen, ihn zu töten. Wenn er mit ihnen kämpfen muss, wird er Lige Morgans Hilfe brauchen. Und Lige Morgan brummt leise: »Ich kann den linken Hundesohn mit der Peitsche vom Pferd knallen. Die Strömung ist stark genug, dass sie die Schnur nicht so tief sinken lässt. Ich bekomme diese Peitsche mit einem Ruck frei.« Und da weiß Jim, dass der alte Frachtfahrer kämpfen will, ohne Rücksicht auf die Bande, die drüben am Ufer zurückblieb. Nun gut, denkt Jim. Er soll seinen Kampf bekommen. Aber er ist verrückt. Als dies alles nun so weit ist, beginnt Silvertip Jenkins zu sprechen, und er lächelt dabei etwa so, als wäre er der Wolf, der ein weißes Lämmchen trifft. Das heißt: Silvertip Jenkins grinst breit und blitzend vor Vorfreude und fühlt sich sehr sicher und ohne Sorgen. Er sagt: »Vielleicht haben die Gentlemen schon von unserer gemeinnützigen Gesellschaft gehört. Wenn nicht, so erkläre ich die Sache gern ausführlich.« Lige Morgan nickt und sagt: »Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden, Mister. Ich will immer alles richtig erklärt haben.« »Warum auch nicht. Sie haben ja ein gewisses Recht darauf«, erwidert Silvertip Jenkins achselzuckend. Dann erklärt er ohne Umschweife: »Wir sind Banditen. Wir sind richtige Banditen, hart und rücksichtslos. Die Indianer sind unsere Freunde. Wir haben einige von ihren Häuptlingen in der Tasche. Und somit wurden wir eine gemeinnützige Gesellschaft. Wir nützen uns selbst! Wir nützen den Indianern! Und wir nützen euch Frachtfahrern.« »Uns?« Lige Morgan fragt es sehr trocken.
»Sicher! Wir sorgen dafür, dass man euch nicht belästigt, wenn ihr durch dieses Land fahrt. Allerdings haben wir einige Unkosten, um deren Erstattung wir freundlich bitten. Wir nehmen für jeden Wagen fünfundzwanzig Dollar Wegegebühr. Die Doppelwagen zahlen fünfunddreißig. Menschen, Pferde und sonstige Tiere haben freien Durchzug.« Lige Morgan nickt. Er scheint darüber nachzudenken. Sein Pferd steht immer noch etwas verdreht, und sein linker Arm, der die Peitsche hält, hängt hernieder, sodass der kurze Peitschenstiel vom Pferd verdeckt ist. Die Banditen beobachten nur seine Rechte, da er seinen Revolver auf der rechten Seite trägt. Diese Rechte hält die Zügel. »Wenn ich nicht zahle, was ist dann?«, fragt er sanft. »Ihr werdet unterwegs auf die Überreste einiger Wagen stoßen«, erwidert Silvertip Jenkins kalt. »Das sind die Wagen von Narren, die nicht zahlen wollten. Wir haben eine ganze Reihe von Möglichkeiten, um euch die Durchfahrt schwer zu machen. Ich sagte es schon: Wir sind Banditen, richtige, hartgesottene Piraten.« »Es ist gut«, sagt Lige Morgan. Und dann zuckt sein linker Arm. Die lange Peitschenschnur taucht aus dem Wasser auf, wo sie dicht unter der Oberfläche von der Strömung getragen trieb. Silvertip Jenkins bekommt den Metallknaller mitten ins Gesicht. Er konnte den Revolver zwar ziehen, doch er kann ihn nicht mehr auf den Wagenzug-Boss anlegen oder gar auf ihn abdrücken. Jim Pecos sieht, wie die Banditen nach den Waffen greifen, und hört den Knall der Peitsche. Indes er seinen Revolver zieht, sieht er, wie der Knaller in Silvertip Jenkins’ Gesicht schlägt, als wäre er ein Geschoss – etwa ein Stein von einer Gummischleuder. Dann muss Jim Pecos schießen – ja, er muss, um den beiden Revolvermännern zuvorzukommen.
Es wird eine haarscharfe Sache. Denn der zweite Mann kann noch einen hastigen Schnappschuss auf Jim abgeben. Die Kugel zupft an Jims Schulterspitze. Dann ist er fertig mit den zwei Revolverschwingern. Sie treiben im seichten Wasser davon. Sie leben sicherlich noch. Sie fielen von ihren Pferden und treiben flussabwärts. Ihre Kumpane werden sie sicherlich herausfischen. Und vielleicht werden sie am Leben bleiben, vielleicht aber werden sie auch sterben, weil es in der Nähe keinen Arzt gibt. Jim hat nur zweimal geschossen, und es sah alles so leicht, so präzise und so schnell aus. Silvertip Jenkins lässt sich brüllend von seinem Pferd ins Wasser fallen und bleibt lange genug unter der Oberfläche, bis er außer Reichweite der erbarmungslosen Peitsche ist, mit der man einem Menschen glatt ein Ohr abschlagen kann. Nur die drei Banditenpferde stehen noch da. Es sind gute und treue Pferde, Kriegspferde, darauf dressiert, im Feuer zu stehen und sich nicht zu rühren, wenn die Zügel hängen. Lige Morgan späht schnaufend zum jenseitigen Ufer hinüber. Von dort erwartet er Kugeln. Jim Pecos ist dessen nicht so sicher. Denn die Bande dort drüben hat jetzt ihre Anführer verloren. Sie sah, wie ihre Anführer ausgeschaltet wurden, schnell und glatt, furchtlos und sicher. Nein, sie schießen nicht. Sie drohen nicht einmal. Dazu kommt, dass nun diesseits die Wagen angefahren kommen. Lige Morgan hat die Sachlage schon erkannt. Die Wagen fahren zu dritt nebeneinander in die breite Furt. Es sieht großartig, gewichtig, zwingend und beachtlich aus, wie die Achtergespanne zu dritt nebeneinander in das Wasser gehen und die schweren Wagen ziehen. Die Fahrer lenken nur mit einer Hand oder durch Zurufe. Sie haben Gewehre bereit. Die Bande drüben ist unentschlossen. Einige Reiter jagen nun dicht am Ufer stromab, um sich der Verwundeten
anzunehmen. Die anderen Strolche sind immer noch unentschlossen. Schließlich reißen sie ihre Pferde herum und reiten fort. Der Wagenzug aber durchquert den Cimarron und fährt noch etwa vier Meilen. Dann hält er an und schlägt sein Camp auf. Auf einem der Hügel erscheinen Reiter, die sich gegen die sinkende Sonne deutlich abheben. Aber diese Reiter sind nicht von weißer Hautfarbe, das ist an ihren regungslosen Silhouetten deutlich erkennbar. »Es sind Comanchen«, sagt Lige Morgan zu Jim. »Ich habe deshalb so früh angehalten. Wir müssen unsere Maultiere die Nacht über in einem Corral dicht bei der Wagenburg halten. Die halbe Mannschaft muss Wache halten. Diese Comanchen sind unberechenbar wie alle Indianer. Das dort sind nur Späher, Beobachter. Sie beobachten jeden Wagenzug. Laut Friedensvertrag dürfen Wagenzüge und jeder Verkehr die Straße benutzen. Doch sie stehlen auch gern Pferde und besonders gern Maultiere. Morgen oder übermorgen wird eine Abordnung kommen und Geschenke fordern. Sie wissen natürlich längst, dass wir den weißen Wegelagerern die Zähne gezeigt haben. Ich glaube, sie werden die nun führungslose Bande verächtlich aus dem Land jagen.« *** Es geschieht in dieser Nacht nichts von Bedeutung. Aber als am anderen Morgen der Wagenzug wieder aufbricht, wird er zu beiden Seiten des Wagenweges von je einem Rudel Indianern begleitet. Gegen Mittag machen einige junge Krieger einen Scheinangriff auf die Remuda der Reservetiere. Sie kommen auf ihren scheckigen Pferden herangefegt, heulend und spitze Schreie ausstoßend. Ihre Reitkunst ist vollendet. Sie sind die
besten Reiter unter allen Indianervölkern, und Kenner behaupten, dass diese Comanchen die besten Reiter der Welt wären. Doch diesmal haben sie kein Glück. Die Remuda wird von ihren Bewachern gut zusammengehalten. Es sind erfahrene Männer, die auch nicht den Fehler machen und zu schießen beginnen. Und so biegen die heulenden Comanchen dicht vor der Remuda ab und reiten wieder davon. Es gelang ihnen nicht, die Maultiere in Panik zu versetzen, zum Fortrennen zu bringen. Da sie den Weißen nicht gestatten, den Weg zu verlassen, wären die Maultiere dann in ihrem Land verblieben. Indianerlogik! Dann vergeht auch dieser Tag. Am Abend erreicht man die Furt des Canadian River. Nach alter Frachtfahrerregel wird sie noch am selben Abend durchfurtet. Das Camp entsteht auf der anderen Seite, und obwohl es schon ziemlich dunkel ist, baut man einen guten Seilcorral für die Maultiere, damit die große Herde – es sind an die dreihundert Tiere – nicht so leicht in Panik versetzt werden kann. Es konnte schon so mancher Wagenzug seine Reise nicht fortsetzen und musste sogar seine Wagen zurücklassen, weil ihm die Zugtiere von den Indianern gestohlen wurden. Viele Wagenzüge fahren deshalb mit Ochsen als Zugtieren. Doch ein guter Frachtzug-Boss, der eine gute Mannschaft hat und an seine und seiner Männer Fähigkeiten glaubt, fährt mit den starken Missouri-Maultieren. Jim Pecos hat ab Mitternacht Wache. Es ist eine helle Nacht, und es bleibt eine ruhige Nacht. Jim denkt an das Mädchen Nell Loke, welches jetzt sicherlich schon bei ihrem Bruder Ringo Loke im Langtry County angelangt ist. Denn die Postkutschen fahren ja dreimal schneller als ein Frachtzug, und sie fahren auf den guten Strecken manchmal Tag und Nacht und wechseln alle zwanzig
oder dreißig Meilen ihre Gespanne. Jim Pecos denkt also an das Mädchen. Ja, er macht sich Sorgen um sie. Er verspürt ganz deutlich das Verlangen in sich, bei ihr zu sein und sie zu beschützen. Doch sie würde dies bestimmt nicht wollen. Er ist ihr ja noch ein Fremder. Und sie hat gehört, dass er ein Revolvermann sei. *** Am anderen Morgen geht die Fahrt immer noch ungestört weiter. Man nähert sich am Nachmittag der Texas-Grenze. Der Wagenweg führt zu einem mächtigen Canyonmaul hinunter, welches ein Schlund zur Hölle zu sein scheint. Davor halten etwa fünfzig Comanchen. Es sieht so aus, als wollten sie den Wagenweg sperren. Lige Morgan hebt den Arm, und so kommt hinter ihm der Wagenzug zum Halten. »Das ist der Häuptling ›Große Kralle‹. Er erwartet mich immer hier. Nun, er wird seine Geschenke bekommen.« Lige Morgan winkt zum ersten Wagen zurück. Dort werden nun einige Bündel, Säcke, Ballen und Kisten ausgeladen und neben dem Weg aufgestapelt. Dann fährt der Wagenzug wieder an. Lige Morgan und Jim Pecos reiten im Schritt auf die Roten zu. Als sie nur noch drei Yards entfernt sind, weichen diese zur Seite und geben den Weg frei. Der Häuptling zeigt seine Zähne. Es ist nichts anderes als ein scharfes, anerkennendes Grinsen. Er hebt leicht die Hand und sagt einige schnell aufeinander folgende, kehlige und bellend klingende Worte. Lige Morgan grinst zurück, nickt entschieden und erwidert dann in der gleichen Sprache. Und dann sind sie vorbei, reiten in den Canyon hinein und hören hinter sich das Rattern ihrer Wagen, das knirschende Mahlen und Kreischen der Räder und das Hufgeklapper ihrer
Tiere. Jim Pecos kann seine Neugierde nicht mehr zügeln. Er muss fragen: »Was sagte er?« »Dass er nie daran gezweifelt hätte, dass wir die weißen Wegelagerer zurechtstutzen würden. Und dass er nun die ganze Bande aus dem Land jagen ließ. Sie wäre es nicht wert, unter den tapferen Comanchen zu leben. Denn wenn die Comanchen einmal keinen Zoll bekämen, dann würden wir es nicht so leicht haben wie mit den weißen Strolchen. Ja, dies ungefähr war der Sinn seiner Worte.« »Und was sagten Sie?« Lige Morgan grinst. »Ich sagte ihm, dass wir keinen Zoll bezahlten, sondern Geschenke aus alter Freundschaft machten. Wenn er Zoll verlangen würde, bekäme er heißes Blei. Oh, ich sagte dies natürlich nicht so grob, sondern mit freundlichen Worten. Doch er und seine Heiden haben den Sinn genau begriffen.« *** Am 13. September erreichen sie die alte spanische Siedlung Amarillo, aus der nun eine typische texanische Rinderstadt geworden ist, mit einem Mexikanerviertel und Adobebauten, aber auch mit einer Hauptstraße, zu deren Seiten es überdachte Plankengehsteige gibt, mit einigen Saloons, Hotels, Stores und all den anderen Geschäften. Da es hier im Llano Estacado in der Nähe der Straße nirgendwo Wasser gibt, rastet Lige Morgans Wagenzug dicht vor der Stadt. Und Lige Morgan sagt zu den Wächtern der Maultierherde: »Passt noch schärfer auf als im Indianerland! Dort in diesem Ort gibt es eine ganze Menge Diebe, die vielleicht mehr riskieren als die Comanchen. Passt nur auf!« Er macht eine Pause und blickt in die Runde. Denn er spricht am Feuer zu seinen Leuten. Sie haben soeben das
Abendessen eingenommen, und sie alle witterten mehr oder weniger verlangend zum nahen Ort. »Es gibt keinen Stadturlaub!« Er sagt es hart. »Ich brauche euch für meine Wagen! Ich kann es mir nicht leisten, einige von euch in diesem Ort zu verlieren. Dieser Ort mag früher gut und ehrenwert gewesen sein. Er wird sicherlich auch wieder achtbar und ehrenwert werden. Doch so unmittelbar nach dem verlorenen Krieg ist es ein Ort der Sünde, der Laster, der bösen Burschen vom Llano Estacado und dem Panhandle. Habt ihr mich verstanden?« Sie erwidern nichts. Es sind nur einige Brummtöne und Knurrlaute zu hören. Die Mannschaft ist unzufrieden, das ist klar. Die Burschen sind zwar mutig, treu und verlässlich, wenn es darum geht, Fracht durch raues Land und mitten durch Indianer- und Banditengebiete zu irgendwelchen fernen Zielen zu bringen. Doch sie sind auch primitiv. Sie lieben einen scharfen Trunk und die so billigen und fragwürdigen Freuden, die es in diesen primitiven und zumeist sehr sündhaften Saloons am Rande des Weges gibt. Jetzt sind sie unzufrieden. Doch niemand sagt ein lautes Wort der Auflehnung. Niemand meutert offen. Gegen Mitternacht, nachdem alles zur Ruhe gegangen ist, weckt Lige Morgan Jim Pecos und sagt zu ihm: »Ich habe nachgesehen. Vier Burschen liegen nicht mehr in den Decken unter ihren Wagen. Sie haben ihre Decken ausgestopft und sind in die Stadt, um ein wenig Spaß zu bekommen. Nun, sie werden welchen bekommen.« Seine Stimme klingt grimmig. Jim fährt in seine Stiefel, streicht sein Haar zurück, setzt sich den Hut auf und legt sich den Revolvergurt um. Dann folgt er dem Boss in den Ort hinein. Und gleich am Anfang tritt ein kleiner Mann auf sie zu, der einen großen Sombrero trägt. Dieser Mann, der aus dem
Schatten einer Gasse auftaucht, sagt mit einer Stimme, als verkündete er die Wunder der Welt: »Wenn Sie Freude und Spaß haben wollen, viel Freude und Spaß, Gentlemen, dann kann ich Sie zu einem Ort führen, der nicht viel schlechter ist als das Paradies im siebenten Himmel selbst. Ich kann…« Lige Morgan zieht dem Mann den großen Hut bis zu den Schultern über die Ohren nieder. Dann geht er brummend weiter, und jetzt erst wird sich Jim Pecos darüber klar, wie grimmig und wütend der Wagenzugboss ist. Als sie dann den ersten Saloon erreichen, hören sie schon draußen eine Stimme brüllen: »Oh, ihr Sattelhüpfer! Ich bin Rim Rock Bill! Ich kann ein Fass Whisky trinken und einen ganzen Saloon ausräumen! Und ich habe gesagt, dass Conchita noch einmal mit mir tanzen soll! Also los! Zupf die Gitarre! Spiel die Geige! Los, ich will mit dem Mädel tanzen!« Lige Morgan und Jim Pecos treten ein. Sie sehen einen Frachtfahrer betrunken vor einem Podium stehen, auf dem eine drei Mann starke Musikkapelle sitzt. Der Mann hält ein sich sträubendes Saloonmädchen am Handgelenk fest und droht mit der anderen Faust den Musikanten. Es ist ersichtlich, dass der Mann so betrunken ist, dass er gar nicht mehr tanzen kann. Er bietet einen üblen Anblick. Und dabei ist er sonst ein besonders tüchtiger Frachtfahrer. Drei hart und rau wirkende Burschen nähern sich ihm nun. Doch Lige Morgan, der die Sachlage sofort erfasst hat, ruft halblaut: »Einen Moment, Freunde! Wir bringen den betrunkenen Bullen schon zur Vernunft! Er gehört zu uns! Wir machen das schon!« Die drei Männer, die wahrscheinlich Stammgäste sind, halten inne. Einer sagt bitter: »Er hatte siebzehn Dollar in der Tasche und glaubte, er wäre ein Pascha mit viel Geld. Er hat seinen Spaß gehabt – genau für siebzehn Dollar Spaß!« »Sicher«, sagt Lige Morgan. Und dann sieht er seinen Frachtfahrer an, der sich unbeholfen umwandte und nun auf ihn
zugestolpert kommt. Er hält dabei immer noch das Mädchen fest und sagt mit schwerer und unbeholfener Zunge: »Boss – dadadarf ich dir meine Brabraut vorstellen. Ich bin so glück…« Lige Morgan, der die zusammengerollte Peitsche in der Rechten trägt, schlägt ihm den Peitschengriff auf den Kopf. Dann aber schleift er ihn hinaus und hebt ihn draußen in einen der Tränketröge bei den Haltestangen. Die Pferde weichen schnaubend zurück. Der Trog ist nur halb gefüllt. Es ist ein ausgehöhlter Baumstamm. Rim Rock Bill liegt darin wie in einer Badewanne. Lige Morgan grollt und geht weiter. Jim folgt ihm. Im nächsten Saloon schon finden sie die drei anderen Ausreißer. Zwei davon stehen hinter ihrem Kameraden, der an einem Pokertisch sitzt und eine Menge Geld gewonnen hat. Sie haben alle drei je eine Flasche in der Hand und trinken immer wieder einen Schluck. Sie sind betrunken, doch noch nicht so berauscht, dass sie nicht mehr denken oder gar nicht mehr stehen können. Niemand beachtet Lige Morgans und Jims Eintritt. Alle Gäste im Raum umgeben den Pokertisch, an dem außer dem einen Frachtfahrer noch vier andere Männer sitzen. Der Frachtfahrer ist einer jener dunklen, indianerhaften und verwegenen Burschen, noch jung und voller Freude an allen wilden und verwegenen Dingen. Und so liebt er auch ein verwegenes Spiel. Heute hat er besonderes Glück, denn er plündert seine Mitspieler richtig aus. Lige Morgan tritt hinter seine beiden Frachtfahrer, die aufgeregt hinter dem Stuhl ihres Kameraden stehen. Er hört, wie Whip Charly zu Pete Bannerman sagt: »Du lieber Himmel, wenn er auch noch diesen Topf gewinnt, sind wir reiche Leute. Dann spucken wir Lige Morgan vor die Füße und eröffnen eine eigene Frachtlinie. Nicht wahr, Pete, das machen wir doch? Jorge spielt auch mit unserem Geld. Und wir werden alles
teilen und…« Weiter kommt er nicht, denn Lige Morgan greift beiden Männern von hinten ins Genick und knallt ihre Köpfe zusammen. Er schleift sie dann an den Kragen hinter sich her durch den Saloon und wirft sie auf die Straße. Seine Tätigkeit wird natürlich beachtet, doch nicht sehr. Denn jemand, der sich auskennt, sagt: »Oh, das ist Lige Morgan, der Wagenboss. Er holt seine wilden Jungs aus der Stadt, bevor sie sich zu schlimm betrinken. Das ist immer so.« Das ist alles. Die Gäste sind zu sehr am Spiel interessiert. Jorge – jener Frachtfahrer also, der so glückhaft spielt – blickt nur einmal kurz über die Schulter. Er sieht, wie Lige Morgan seine beiden Gefährten aus dem Raum schleift, und starrt dann eine Sekunde lang erschrocken auf Jim. Der nickt ihm zu und sagt: »Sicher, der Boss wird dich diese Runde noch spielen lassen. Aber dann…« Jorge Scoggin ist nun wieder an der Reihe. Und so wendet er sich seinen Mitspielern zu, vergisst seinen Verdruss, den er mit Lige Morgan bekommen wird, und blickt noch einmal in die Karten. Dann nimmt er einen Schluck aus der Flasche und sagt heiser und mit draufgängerischer Verwegenheit: »Ich bin gar nicht zu schlagen, Leute! Ich habe heute Geburtstag, und da bin ich nie zu schlagen. Ich halte immer noch und erhöhe um hundert Dollar! Ich werde halten und erhöhen, bis euch allen die Puste ausgegangen ist, Leute!« Er schiebt hundertfünfzig Dollar in die Tischmitte zu dem Geldhaufen. Denn er hielt fünfzig Dollar und erhöhte dann um hundert. Doch diese hundert Dollar kann der nächste Mann nicht mehr halten. Er hat nur wenig mehr als dreißig Dollar zur Verfügung, und er flucht gepresst und beißt sich auf die Lippen. Dann sagt er laut in die Runde, und seine Worte gelten vor
allen Dingen den Zuschauern: »Meine Karten sind gut! Ich kann diesen grinsenden Maultierbändiger schlagen. Wer borgt mir siebzig Dollar? Ich kann ihn schlagen, wenn ich weiter mithalten kann! Wer borgt mir Geld? Wenn ich gewinne, zahle ich es doppelt zurück! Ich will mich nicht aus dem Spiel bluffen lassen!« Aber niemand meldet sich. Der Mann scheint ein Fremder zu sein. Er hat sichtlich keine Bekannten oder gar Freunde hier. Seine Kleidung ist abgerissen, so, als wäre er während der letzten Zeit scharf geritten – lange, sehr lange und weit. Als sich niemand meldet, flucht er wieder bitter. Jorge Scoggin aber sagt mit der Ungeduld eines Betrunkenen: »Also los! Wer nicht mithalten kann, muss aufgeben! Der nächste Mann!« »Nein, ich bin noch an der Reihe«, sagt der Langreiter heftig. Er greift plötzlich in die Tasche und holt einen leeren Geldbeutel hervor. Man glaubt jedenfalls, dass der Beutel leer wäre, denn es klirrt und klimpert nicht darin, wie es sonst bei Geldbeuteln dieser Art der Fall ist. Der Mann öffnet den Beutel und bringt einen kleinen Gegenstand zum Vorschein. Jim Pecos erkennt sofort, um was es sich handelt. Er kann es nicht vermeiden, dass er leicht zusammenzuckt. Und in diesem Moment kommt auch Lige Morgan von draußen zurück und tritt neben ihn. Lige Morgan sieht nun ebenfalls den kleinen Gegenstand. Jim hört ihn überrascht den Atem einziehen. Denn es ist eine jener kleinen und mit Halbedelsteinen besetzten Schachfiguren, hinter deren Dieb Lige Morgan her ist. Es ist eine jener Figuren, an die sich Jim Pecos irgendwie dunkel zu erinnern glaubt. »Es ist mein Talisman. Es ist ein Kunstwerk. Diese Figur ist aus Elfenbein geschnitzt und mit echten Edelsteinen geschmückt. Allein die Augen dieses Pferdchens sind schon mehr wert als hundert Dollar. Es sind richtige Brillanten. Wenn
ihr überhaupt richtig wisst, welchen Wert ein Brillant hat! Hundert Dollar für dieses Ding, weil ich mich nicht aus dem Spiel drängen lassen will!« Lige Morgan neben Jim sagt schnell und knapp: »Ich kaufe das Ding!« »Aber wenn ich gewinne«, sagt der Mann, »dann kann ich es für die doppelte Summe von Ihnen zurückkaufen, ja? Gilt das?« Lige Morgan nickt. Er beugt sich vor und legt fünf Zwanzigdollarstücke auf den Tisch. Mit der anderen Hand ergreift er die Schachfigur. Jim hört, wie er tief und gepresst atmet. Und er sieht, wie sich Lige Morgans Wangenmuskeln verkrampfen und die Lippen aufeinander pressen. Aber er muss warten. Er kann die Spielrunde nicht sprengen, und er hat ganz gewiss nicht vergessen, dass er seinen Frachtfahrer hier wegholen will. Jorge Scoggin trinkt wieder aus der Flasche. Er hat seinen Boss hinter sich gehört, und als Lige Morgan sich vorbeugt, um die Figur zu nehmen und das Geld auf den Tisch zu legen, berühren sich ihre Schultern. Doch Jorge Scoggin blickt nicht zurück. Er starrt nur auf das Geld in der Tischmitte und trinkt wieder aus der Flasche, so als wäre ihm der erhaltene Schnaps der letzte Trost und könnte ihn stärken für den bevorstehenden Verdruss mit dem Boss. Oh, er weiß, wie Lige Morgan mit seinen Männern umspringt, wenn diese seine Befehle missachten. Indes ging die Runde des Mithaltens um den Tisch. Nun kommt Jorge Scoggin wieder an die Reihe. Und er erhöht nicht weiter, sondern fordert nun. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, denn auch er hat nun all sein Geld eingesetzt. Er hat vor Stunden dieses Spiel nur so aus Spaß begonnen und mit dem Geld seiner beiden Kameraden gespielt, weil seines am Anfang nicht langte, um mithalten zu können.
Und dann hat er pausenlos gewonnen. Jetzt liegen mehr als tausend Dollar in der Tischmitte. Das ist der Jahresverdienst eines erstklassigen Frachtfahrers. Für dieses Geld kann man einen Murphy-Frachtwagen mit zehn Missouri-Maultieren kaufen und noch einige Dinge mehr. Er deckt auf und hat vier Könige. Aber der Mann, der die Figur verkaufte, hat vier Asse, und er beugt sich grinsend vor und rafft das ganze Geld zu sich herüber. Lige Morgan legt seine schwere Hand auf Jorge Scoggins Schulter. »Geh ins Camp, bevor ich dich windelweich schlage, du Narr!«, sagt er grimmig. »Geh ins Camp! Ich ziehe euch allen einen Wochenlohn ab! Nimm nur deine Partner mit und auch Rim Rock Bill, der beim ersten Saloon im Tränketrog liegt. Vorwärts!« Jorge Scoggin erhebt sich, taumelt leicht zur Seite und geht wortlos und mit gesenktem Kopf. Seine Flasche ließ er stehen. Er sah schon tausend Dollar in seiner Tasche und hatte schon einige Pläne gemacht. Doch er weiß, dass er bei Lige Morgan gut davongekommen ist. Er weiß auch trotz seines benebelten Verstandes, dass es nicht der schlechteste Job ist, für den grimmigen Morgan zu fahren. Lige Morgan blickt den Mann an, der gewonnen hat und der all das Geld in seine Taschen stopft. Der Mann erwidert diesen Blick und sagt schnell: »Hier sind zweihundert Dollar, wie abgemacht. Geben Sie mir die Figur wieder. So schnell haben Sie schon lange nicht mehr hundert Dollar verdient, nicht wahr?« »Ich habe mehr verdient«, sagt Lige Morgan. »Ich möchte mit Ihnen reden, Mister. Setzen wir uns in die Ecke. Diese Pokerrunde ist ja ohnehin geplatzt.« Lige Morgan tritt langsam um den Tisch herum zu ihm, legt ihm die schwere Hand auf die Schulter und schiebt ihn halb vor
sich her zu dem Tisch in der Ecke. Er spricht dabei sanft: »Ich möchte nur einige Auskünfte, und es unterhält sich besser, wenn man in einer Ecke sitzt.« Der Mann wehrt sich nicht. Er gehorcht nun willig. Einige der Gäste, die bis jetzt noch beobachteten, weil es so aussah, als entwickele sich ein Verdruss, wenden sich ab. Man ist hier in diesem Ort nicht so neugierig oder zeigt es zumindest nicht so. Lige Morgan sorgt dafür, dass sich der Mann auf den Stuhl in der Ecke setzt. Er selbst und Jim nehmen auf den beiden anderen Stühlen Platz. Sie haben den Mann nun eingekeilt. Lige Morgan macht es kurz und ohne Umschweife. Er fragt trocken: »Wo hast du diese Figur gestohlen, Freundchen? Ich kenne sie! Ich kenne sie gut. Es gibt nur ein Schachspiel dieser Art auf der ganzen Welt. Und es gehörte meiner Frau. Sag mir, woher du diese Figur hast.« Er verstummt ganz sanft und ruhig, doch es ist nur eine scheinbare Sanftheit. Der Langreiter sieht ihn an und starrt auch einen Moment in Jims Augen. Und da erschrickt er und verspürt Furcht. Er spürt plötzlich eine starke Gefahr, eine unerbittliche Drohung. Er ahnt und fühlt, dass dieser grauhaarige Riese, dieser Wagenboss, der mit seinen Frachtwagenfahrern so rau umspringt, ihm ganz bestimmt eine befriedigende Antwort abzwingen kann. Der Blick des Mannes irrt zu Jim Pecos, und er kennt sich aus. Er weiß, dass dieser junge, weißblonde und grauäugige Bursche ein sehr schneller Revolvermann sein muss, sonst wäre er nicht bei einem Mann wie Lige Morgan, dem nur die besten Männer gerade gut genug sind und der selbst noch mit jedem zweitklassigen Burschen fertig werden kann. »Ich habe die Figur von einer Frau, von Lily Langtry. Aber ich wusste damals nicht, dass es Lily Langtry war. Sie fuhr mit der Postkutsche von Paradise nach Langtry. Dies sind nur wenig mehr als zwanzig Meilen. Ich war erst vor wenigen
Tagen ins Pecos-Land gekommen, und niemand gab mir ein Stück Brot. Ich hielt die Post an. Es waren nur ein Zauberkünstler, ein Feuerschlucker, ein Kunstschütze und die Sängerin Lily Langtry in der Kutsche. Sie hatten in Paradise ein Gastspiel gegeben und waren auf dem Rückweg nach Langtry. Ich wusste nicht, dass sie die Freundin des Richters Roy Bean war. Nun, ich bat die Leute um eine kleine Unterstützung. Ich bekam etwa hundertzwanzig Dollar und von der Lady diese Figur. Sie sagte mir, dass ich noch Ärger damit bekommen würde, weil sie diese Figur von dem mächtigen und großen Rancher Thor Chisham bekommen hätte – als kleines Andenken an einen künstlerisch so beglückenden Abend, an einen Liederabend auf der Chisham Ranch. Das ist es, Mister!« Er blickt Lige Morgan unruhig an. Jim Pecos zuckt unmerklich zusammen, als er Thor Chishams Namen hört. Er denkt jäh an das Mädchen Neil Loke, die zu ihrem Bruder Ringo Loke wollte, der auf Thor Chishams Ranch einer der besonderen Vertrauten des Ranchers ist. Und von Thor Chisham also stammt die Figur, wenn der Nachtfalke und Langreiter, der eine Postkutsche angehalten und die Fahrgäste beraubt hat, nicht log. Der Mann leckt sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und fragt dann heiser: »Kann ich jetzt gehen? Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, dass Richter Roy Beans Reiter hinter mir her sind. Er hätte sie auch hinter mir hergeschickt, wenn ich Lily Langtry nur ein Taschentuch abgenommen hätte. Dabei ist er selber ein Bandit, und seine Leute sind noch schlimmer als ich. Sie sind alle Banditen dort.« Lige Morgan knurrt: »Verschwinde nur, du Sattelstrolch. Ja, ich lasse dich laufen. Und ich glaube dir die Geschichte sogar.« Er erhebt sich und geht hinaus. Jim Pecos folgt ihm. Unterwegs holen sie die vier schwankenden und sich
ziemlich schlimm fühlenden Frachtwagenfahrer ein. »Sie – Sie sind mächtig rau, Boss«, klagt Rim Rock Bill. »Eines Tages wird ein Mann Sie ungespitzt in den Erdboden schlagen und Sie nie wieder herauskriechen lassen!« »Das mag sein«, knurrt Lige Morgan. »Aber ab morgen fahren wir etwas schneller. Ich werde euch härter antreiben, sodass ihr abends keine Lust mehr auf Vergnügungsausflüge habt. Ich habe es eilig! Wir ändern die Richtung. Wir fahren erst ins Pecos-Land und von da aus nach Santa Fe – vielleicht!« *** Von diesem Tag an treibt Lige Morgan seine Fahrer und Gespanne an, als gälte es, ein Wettrennen zu gewinnen oder mit seiner Fracht eine Hungersnot zu lindern. Die Stimmung der Mannschaft ist schlecht. Die harten Burschen vertragen es nicht, dass sie ständig angetrieben werden. Man hätte jetzt auch schon Santa Fe erreicht, wenn Lige Morgan nicht so plötzlich nach Süden abgebogen wäre. Die Männer hätten in Santa Fe ihren Lohn ausgezahlt bekommen und sich eine Menge Spaß verschafft. Nun aber fahren sie eine ganz andere Route, so, als warteten in Santa Fe keine Leute auf bestellte Fracht, und so, als gäbe es nichts von anderer Wichtigkeit auf dieser Welt, als ins Langtry County zu kommen. Doch Jim Pecos versteht Lige Morgan nur zu gut und ist sein bester Helfer. Auch er verspürt eine heftige Ungeduld und will so schnell wie möglich auf Thor Chishams Ranch sein. Und er hat viele Gründe dafür – vielleicht die gleichen wie Lige Morgan und noch einige mehr. Und so unterstützt er Lige Morgans ganze Härte und Ungeduld. Seine Gegenwart, die stets bedrohlich wirkt, wenn Aufsässigkeit droht, bringt die immer unwilliger und widerspenstiger werdenden
Maultiertreiber wieder zur Vernunft. Lige Morgan und Jim Pecos kommen sich in diesen Tagen näher. Und einmal, als sie noch eine Weile nebeneinander stehen und in die Nacht lauschen, da murmelt Jim Pecos leise: »Ich habe ständig darüber nachgedacht – immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Lige Morgan, ich bin mir jetzt fast sicher darin, dass ich als kleines Kind mal mit diesen Schachfiguren gespielt habe. Wenn es stimmt, an was ich mich zu erinnern glaube, dann könnte ich Ihr Sohn sein, Lige Morgan. Dann hätte ich meinen Vater gefunden. Hören Sie, Lige Morgan, ich versuche jetzt keine Tricks, keinen Betrug. Ich schwöre es. Und ich bin genauso ungeduldig wie Sie, zu diesem Thor Chisham zu gelangen. Wenn er der Mann ist, der damals Ihre Frau und Ihr Kind im Stich ließ und die armen Unglücklichen vielleicht noch bestahl, nun…« Er verstummt gepresst. Dann aber fügt er sanft und mit einem zitternden Klang in seiner Stimme hinzu: »Vielleicht, wenn er der Mann ist, den Sie suchen, kann er uns irgendwelche Anhaltspunkte über das Kind machen. Was würden Sie sagen, wenn es sich herausstellt, dass ich Ihr Sohn sein könnte?« Lige Morgan gibt ihm nicht sogleich eine Antwort. Sie starren beide in die helle Nacht hinaus, zu den Hügeln in der Runde und auf die Schatten, die sie werfen. Sie heben ihren Blick und schauen zu den Sternen hinauf. In der Ferne heulen Coyoten den Mond an. Nachtfalken sind am Himmel. Dann sagt Lige Morgan: »Mein Sohn damals, wir ließen ihn auf den Namen Daniel taufen, Daniel Adam Morgan, ja…« Er legt seine Hand kurz auf Jims Schulter. »Dann hätte ich damals meinem Sohn das Leben gerettet«, sagt er. »Und wir kehren ja ins Pecos-Land zurück, nicht wahr? Wir werden der Sache auf den Grund gehen.« Mehr sagt er nicht. Er geht davon, um sich zur Ruhe zu
legen. Jim Pecos aber macht seine Runde. Noch ist er ein Revolvermann, den sich ein Frachtwagenboss zur Hilfe und Unterstützung mietete. Aber es gibt schon jetzt ein unsichtbares Band zwischen ihm und Lige Morgan. Sie sind einander schon mehr – zumindest schon Gefährten. Was wartet in der Zukunft? *** Am 5. Oktober ziehen sie am El Capitan Peak vorbei und durchfahren den Pecos. Sie lassen damit die Grenze hinter sich, bis zu der die Texas Rangers noch ein gewisses Minimum von Gesetz und Ordnung aufrechterhalten. Sie fahren hinein in das Land der Gesetzlosen, der Geächteten und Gejagten. Lige Morgans fahrende Schlange rollt und windet sich in ein Land hinein, in dem aber neben all den Gesetzlosen auch eine Menge ordentlicher und redlicher Menschen leben, Menschen, die schon Pionierarbeit leisten, aufbauen und auf bessere Zeiten warten. Die Banditen des Landes lassen diese Menschen zumeist in Frieden, ja, sie schützen sie sogar oder sind mit ihnen befreundet. Denn in einem unbesiedelten Land könnten sie nicht einigermaßen erträglich leben. Handel und Aufbau garantieren ihnen ein besseres Leben als in verborgenen und primitiven Camps in der Wildnis. Doch es besteht kein Zweifel, dass das Land von den Banditen beherrscht wird, die ihre Leute in die wichtigsten Ämter und auf die richtigen Posten bringen oder zumindest die Sheriffs und Richter zu Freunden haben. Richter zum Beispiel wie Roy Bean, der sich selbst und mit Hilfe von Freunden dazu machte und sich dann sein Amt mit Gewalt anmaßte. Nein, Recht und Gesetz, so wie die Verfassung es vorschreibt, gibt es westlich des Pecos nicht.
Und die großen Rancher? Sie sind entweder große Banditen oder haben sich wie Könige ein Reich geschaffen und unterhalten eine Privatarmee. Sie sind arm an Bargeld und reich an Tieren. Eines Tages werden sie Millionäre sein, von jenem Tag an, da ihre Rinder und Pferde gute Absatzmärkte finden und gute Preise bringen. Es ist der 15. Oktober, als sie die kleine Stadt Langtry erreichen und im Schutz eines Cotton-Wäldchens und einiger Felsen zu einer Wagenburg auffahren. Aus der nur wenige Steinwürfe weit entfernten Stadt kommen einige Kaufleute ins Camp gestürmt und beginnen Lige Morgan ziemlich heftig zu bedrängen. Sie wollen ganz einfach alles kaufen, was in den Wagen enthalten ist. Denn sie wissen genau, dass ein selbstständiger Frachtunternehmer nur mit solchen Dingen in das Pecos-Land gefahren kommt, die notwendig sind und dringend gebraucht werden und die man nicht aus dem nahen Mexiko bekommen kann. »Verkaufen Sie nur hier bei uns und fahren Sie nicht weiter nach Paradise«, sagt einer der Männer, und seine Stimme klingt warnend und drohend. »Ja, wir werden nicht zusehen, wenn Sie wieder aufbrechen und nach Paradise fahren sollten«, sagt ein zweiter Mann. Ein dritter Bursche fügt hinzu: »Die Banditen in Paradise können bestimmt nicht unsere Preise zahlen. Bleiben Sie mit Ihrem Frachtzug hier und verkaufen Sie an uns. Ich übernehme Schnaps in jeder Art, mag es echter Whisky oder Gin sein. Aber auch gute Zigarren, Gläser, Spucknäpfe aus Messing und…« »Später, später«, sagt Lige Morgan und dreht ihnen den Rücken zu. Lige Morgan geht, nachdem er seinen Vormännern und dem Wagenboss genügend Befehle erteilte, mit Jim Pecos auf der Straße weiter, bis sie zu einem Schild kommen, auf dem zu lesen steht, dass hier die Stadtgrenze beginnt.
»Nun gut«, nickt Lige Morgan zufrieden. »Die Stadtgrenze ist erst hier. Ich habe schon einmal gehört, dass man hier mit allen schlechten Tricks arbeitet. Und ich möchte nicht innerhalb der Stadtgrenze unser Camp haben und somit den Stadtgesetzen unterstellt sein.« Er will sich umwenden, doch Jim Pecos sagt: »Ich möchte in die Stadt. Ich habe in Kansas City ein Mädchen getroffen, welches nach Langtry reisen wollte. Ich möchte nachforschen, ob dieses Mädchen angekommen ist. Darf ich in die Stadt?« Lige Morgan überlegt. »Ich werde meine Fahrer ohnehin in die Stadt lassen müssen«, sagt er dann. »Der Weg nach hier war länger als der nach Santa Fe. Sie haben ihren Spaß verdient. Vielleicht geht alles gut in dieser Stadt, obwohl Richter Roy Bean merkwürdige Auffassungen von Recht und Gesetz hat. Nun, Jim, geh und sieh nach jenem Mädchen. Ich bleibe im Camp, bis du zurück bist!« Sie trennen sich, und Jim geht weiter in die Stadt hinein. Er war schon einmal hier, und er sieht, dass sich nicht viel verändert hat. Vor dem Saloon, der sich »Lily’s Saloon zu Jersey« nennt, duckt sich eine ganze Reihe struppiger und wie riesengroße Gassenkater wirkende Pferde unter dem ständig brausenden Sandwind, der von Mexiko her über den Rio Grande weht. Jim Pecos geht in »Lily’s Saloon zu Jersey« hinein, und er tritt ein in ein Haus, welches noch achtzig Jahre später nicht vergessen sein wird. Der Saloon ist recht nobel und für dieses Land hier erstklassig eingerichtet. Die wohl fünfundzwanzig Yards lange Bar ist aus Mahagoni. Es gibt überall viele Spiegel, viel Messing und viele Ölbilder, die aber fast alle nur eine einzige Frau zeigen: Lily Langtry. Hinter der Bar hantieren vier Barmänner. Denn der Saloon ist gut gefüllt. Eine Mexikaner-Kapelle, deren Mitglieder alle
wie Banditen aussehen, spielt feurige Lieder. Einige Mädchen lassen sich von Tänzern herumschwenken. Es wird in Nebenräumen gespielt, und es brennen alle Lampen und Lichter, obwohl es noch nicht Abend ist. Doch der Sandsturm draußen verdunkelt zu sehr den Himmel. Jim betrachtet die Tänzer und die Mädchen mit einem prüfenden, doch flüchtigen Blick, indes er zur Bar geht. Und da trifft es ihn wie ein Peitschenhieb – oder wie ein Messerstich. Er blickt nun schärfer hin, und er hofft, dass er sich getäuscht hat und es nur eine Ähnlichkeit ist. Von seinem Herzen aus durchströmt es siedend heiß seinen Körper. Und dann stößt er den angehaltenen Atem aus und weiß, dass er keinem Irrtum oder einer Täuschung unterlegen ist. Was er sieht, ist Wirklichkeit. Dort tanzt das Mädchen Nell Loke, das zu seinem Bruder wollte und dem er in Kansas City das Reisegeld borgte, mit einem langen Banditen, der ein mexikanisches Charrokostüm trägt, dessen Conchos und echte Silbermünzen, die den dunklen Samtstoff schmücken, nur so im Lampenlicht funkeln und blinken. Die engen und unten bis in die Stiefelhöhe geschlitzten Hosen lassen hinter den Schlitzen knallrotes Futter sichtbar werden. Die mexikanischen Sporen, die der lange Bandit nicht beim Tanzen ablegte, klimpern hörbar durch die Musik. Er lächelt über sein dunkles Gesicht, zeigt ein prächtiges Gebiss und hat funkelnde Augen. Das Mädchen hängt teilnahmslos in seinen Armen und lässt alles mit sich geschehen, folgt jeder Tanzbewegung willig und lächelt dann und wann gezwungen und mit dem sichtlichen Bemühen, nicht den Unwillen des Tänzers zu erregen, sondern ihn zufrieden zu stellen, ohne sich zu sehr bedrängen zu lassen. »Du lieber Himmel«, flüstert Jim. Jemand geht an ihm vorbei und stößt ihn leicht an. »Aufgepasst, Jim Pecos!« So zischt dieser Mann leise, der ihn
anstieß, und ist dann schon außer Hörweite, an der Bar, zwischen den anderen Männern. Jim blickt ihm nach. Als dieser sich dann an der Bar etwas zur Seite dreht und in Richtung der Spielräume blickt, erkennt er ihn. Es ist Andy Flannaghan, ein rotköpfiger Pferdedieb und Schmuggler. Sie kennen sich flüchtig, doch damals, als er für Thor Chisham Pferde zuritt – dicht beim Rio Grande auf einer Pferderanch, die ein Vorwerk der Chisham Ranch ist –, da kam dieser Andy Flannaghan vorbei und brauchte sehr schnell ein Pferd, weil die Brüder eines Mädels hinter ihm hergesaust kamen, das er zwar oft küsste, aber nicht heiraten wollte. Und er wäre von diesen Brüdern eingeholt und zumindest schlimm verprügelt worden, wenn Jim Pecos ihm nicht ein frisches Pferd gegeben hätte. Und nun revanchiert sich Andy Flannaghan für die erwiesene Gefälligkeit. Denn was er tat, war ganz gewiss eine Warnung. Aber auf was soll er aufpassen? Vor welchem Verdruss oder welcher Gefahr wurde er soeben gewarnt? Er bewegt sich langsam weiter und bis zur jetzt frei werdenden Ecke des Schanktisches. Er stellt sich dort so hin, dass er die Wand hinter sich und den Schanktisch seiner ganzen Länge nach vor sich hat. Unauffällig betrachtet er alles, und er muss zugeben, dass er vorhin sehr unvorsichtig war, als er nicht auf seine Umgebung achtete und nur auf das Mädchen Nell Loke sah und sich mit all seinen Gedanken mit ihr beschäftigte. Beim Haupteingang steht einer der Burschen, die viel mit den Claybornes reiten. Und er starrt ganz offensichtlich zu Jim herüber. Der wendet schnell den Kopf und blickt auf den Durchgang zu den Spielräumen. Und da sieht er sie.
Ja, es sind Less und Vance Clayborne, die ihn damals wegen ihres Bruders Jimmy tagelang hetzten. Sie saßen gewiss bei einem Pokerspiel und jemand hat sie vom Spieltisch weggeholt. Jemand hat ihnen gemeldet, dass Jim Pecos gekommen sei. Jim ist bekannt im Pecos-Land. Es gibt auch außer Andy Flannaghan und den Claybornes ganz gewiss Männer hier, die ihn kennen. Er blickt zu ihnen hinüber, indes ein Barmann ihm ein Glas Whisky zuschiebt und sofortige Bezahlung verlangt. Jim Pecos nimmt einen kleinen Schluck, nicht viel, gerade eben so viel, um die Lebensgeister anzufachen. Das Glas ist noch zur Hälfte gefüllt, als er es absetzt. Und die beiden Claybornes haben ihn nun entdeckt und kommen auf ihn zu. Sie bleiben vor ihm stehen und weichen auseinander. Ihre ganze Haltung ist wachsam, lauernd und zu einem schnellen Handeln bereit. Sie haben die Hände leicht gespreizt und halten sie etwas vom Körper ab hinter den Revolvergriffen. Dies alles ist sehr deutlich. Die Gäste sehen jetzt, was in Gang kommt. Es ist ganz klar, dass die ziemlich gut bekannten Claybornes wieder einmal auf einen Gegner losgehen wollen, wie es die Art der Claybornes ist, wenn sie sich in irgendeiner Fehde befinden. Die Männer in der Nähe weichen zur Seite. Eines der Tanzmädchen stößt einen Schrei aus. Doch es geht schon los, ohne jedes Wort zwischen Jim Pecos und den Claybornes. Die Schüsse krachen noch, bevor die Musik verstummen kann. Jim Pecos ließ sich vor dem Schanktisch auf die Knie fallen, indes er zog. Seine Augen sind geweitet, und er zieht und schießt mechanisch und sehr viel schneller, als man denken kann. Er wird erst später, wenn es vorbei ist und er sich noch am
Leben befindet, alles noch einmal erleben, langsamer, bewusster, schrecklicher und mit aller Bitterkeit. Jetzt spürt er nicht einmal bewusst den Rückschlag seines Revolvers in der Hand. Er blickt in die Mündungsfeuer der Claybornes und spürt, wie eine Kugel ihm ein Büschel Haare abrasiert. Er schießt immer noch, und er sieht die Claybornes schwanken, stolpern und dann übereinander fallen, weil sie sich stolpernd einander näherten. Und als er dann den stechenden Geruch des verbrannten Schießpulvers riecht, als er die Schreie der Tanzmädchen hört und dann der Lärm im Saloon brausend wie auf Kommando einsetzt, da weiß er, dass es wieder einmal vorbei ist und dass es nun wieder jene bittere und schreckliche Stunde geben wird, in der er alles nochmals erleben und mit sich ausmachen muss. Dies denkt er. Doch zugleich zuckt eine wilde Freude in ihm auf, noch am Leben zu sein, gesiegt zu haben, nicht tot am Boden zu liegen. Dieses verteufelte Land, denkt er. Und dann blickt er sich nach dem Mann um, der am Eingang stand und wohl seine Flucht verhindern sollte, bevor die Claybornes aus dem Spielsaal zur Stelle waren. Der Mann ist fort, verschwunden. Er erhebt sich aus seiner knienden Haltung. Und er blickt auf die Tanzfläche, wo die Tanzpaare noch so stehen, wie sie innehielten. Er blickt auf Nell Loke und sieht ihr bleich gewordenes Gesicht und die erschreckt geweiteten Augen. Er weiß, dass sie ihn sofort erkannt hat und nun voller Schrecken ist. Sie sah ihn hier kämpfen und zwei Männer niederschießen. Sie wendet sich plötzlich ab, lässt ihren Tänzer stehen und läuft durch eine Seitentür in die Personalräume. Auf Jim Pecos aber kommt von der Seite her ein Mann zu, der sich Richter nennt und aus eigener Machtvollkommenheit richtet. Es ist Roy Bean, der Besitzer dieses Saloons.
* * * � Die alten Legenden und Überlieferungen schildern Richter Roy Bean als einen großen, dunklen und irgendwie sehr romantisch wirkenden Mann. Aber alle Legenden und Überlieferungen übertreiben, wie es ja bei Wyatt Earp, Bill Hickok und vielen anderen Gestalten ist, die durch den Romanschreiber Buntline verherrlicht wurden und somit bis in unsere heutige Zeit bekannt blieben. Die wenigen wirklich ernst zu nehmenden Beschreibungen schildern Roy Bean als einen untersetzten, doggenhaften und rotblonden Mann, der wie ein Bullbeißer wirkte und auch die drohende Beharrlichkeit einer Bulldogge besaß. Er zeigt mit dem Finger auf Jim und sagt: »Sie wurden angegriffen, junger Mann. Sie wurden von zwei Burschen, die mir als zu den Claybornes gehörig bekannt sind, angegriffen. Doch das gibt Ihnen noch lange kein Recht, hier herumzuschießen und die Ladys und Gentlemen zu erschrecken. Ich bestrafe Sie kraft meines Amtes auf der Stelle mit hundert Dollar Strafe wegen groben Unfugs oder zehn Tagen Haft. Wie wollen Sie die Strafe tilgen? Durch Zahlung der Summe oder Haft?« Jim Pecos braucht nicht lange zu überlegen. Roy Bean ist der unbedingte Boss in dieser Stadt, und er hat genügend harte und scharfe Burschen zur Verfügung, um seinen Wünschen und Befehlen Geltung zu verschaffen. Jim Pecos ist kein Narr. Er weiß deshalb, dass er sich fügen muss. Und so greift er in die Tasche und holt das Geld hervor. Es hat unterwegs zum zweiten Mal Lohn gegeben, obwohl die Frachtfahrer nicht viel mehr damit anfangen konnten, als zu würfeln oder zu pokern. Er zahlt in Roy Beans offene Hand, und Bean steckt das Geld in die Tasche seiner geblümten Weste. Er nickt zufrieden,
denn was Jim Pecos tat, war nichts anderes als eine Unterwerfung. »Nun gut«, sagt Roy Bean. »Man darf hier nur Waffen tragen und schießen, wenn man meine Erlaubnis hat. Ich muss auch die beiden Claybornes bestrafen. Seht nach, ob sie noch leben und wie viel Geld sie bei sich haben.« Sein Befehl wird befolgt. Einige Männer tun es mit sichtlichem Eifer. Dann meldet einer: »Sie leben noch, aber es hat sie schlimm erwischt. Der Doc wird viel Arbeit mit ihnen haben. Und sie haben beide volle Geldbeutel und auch Geldgürtel. Das ist ja kein Wunder, denn sie waren erst seit einigen Tagen von Mexiko zurück und…« »Es geht mich nichts an, was sie in Mexiko machten«, sagt Roy Bean. »Bringt ihr Geld in mein Büro. Ich will es zählen und dann die Strafe festsetzen. Und bringt die beiden Narren ins Hotel und holt den Doc!« Er wendet sich an Jim. »Ich habe schon von dir gehört, Jim Pecos, mein Junge. Du hast nun die ganze Clayborne-Sippe lahm gelegt. Aber es werden andere wilde Jungs kommen, um sich mit dir zu messen. Dein Revolverruhm wird wachsen. Nun, ich werde dich vorerst in meiner Stadt dulden. Vorerst!« Er wendet sich ab und ruft seinen Barmännern zu: »Das ganze Lokal bekommt eine Runde Freiwhisky auf den Schrecken!« Damit verschwindet er in seinem Büro, neben dessen Eingang ein gewaltiger Expreiskämpfer und ein kleiner und schmächtiger Revolverschwinger stehen, Leibwächter, die so leicht keinen Besucher durch die Tür lassen. Die Musik setzt ein. Jim Pecos blickt sich nach Nell Loke um. Und er erinnert sich daran, wie sie ihn mit geweiteten Augen ansah und dann wie flüchtend aus dem Raum lief. Er setzt sich plötzlich in Bewegung und geht auf die Tür zu, durch die sie verschwunden ist.
Inzwischen ist alles wieder in Betrieb gekommen. Solch ein Revolverkampf ist keine Seltenheit in dieser Stadt. Man hat die beiden Verwundeten hinausgetragen, und das Leben geht weiter. Als er die Tür erreicht, durch die Nell Loke verschwunden ist, wartet er. Denn hinter der Tür liegt sicherlich jener Raum, in dem sich die Tanzmädchen aufhalten und zurechtmachen. Nell Loke wird dort drinnen nicht lange bleiben können. Der Saloon ist in vollem Betrieb. Jeder Tanz kostet einen Dollar, und so dürfen die Mädchen ganz gewiss nicht lange fehlen. Jim hat richtig kalkuliert. Die Tür öffnet sich wieder. Nell Loke tritt aus dem kleinen Raum. Sie erblickt Jim und erschrickt. Sie will wieder in den Raum zurück. Doch Jim sagt schnell: »Ich muss mit Ihnen reden. Ich muss! Wenn Sie wieder in diesen Raum flüchten, folge ich Ihnen.« »Nein, das brächte Ärger«, sagt sie schnell. Ihre Stimme klingt nun sehr spröde. Sie hat sich fest in der Hand, und die innerliche Härte, zu der sie sich zwingen musste, um hier nicht zu zerbrechen und zu verzweifeln, macht ihr hübsches und apartes Gesicht irgendwie starr und leer, ausdruckslos und älter. »Nun gut«, fügt sie schnell hinzu. »Ich bin hier angestellt, um mit den Männern zu tanzen und sie zum Trinken zu animieren. Sie können mich mieten, Mister Revolverheld! Sie können mich mieten wie ein Pferd! Also!« Sie hebt leicht ihre Arme. Und er nimmt sie und beginnt mit ihr den Tanz. Doch sie kommen nicht weit, dann ist der erste Tanz beendet. Die Paare bleiben stehen und warten, bis der Tanzmeister abkassiert hat. Jim Pecos kauft eine Zehnerkarte. Und das heißt, dass er Nell Loke nun für zehn Tänze und die Pausen dazwischen gemietet hat und sie seine Gesellschafterin sein muss. Er wird in den Pausen mit ihr an der Bar trinken müssen. Nachher bekommt sie von ihm die zehnmal
eingerissene Tanzkarte. Sie muss diese Tanzkarten sammeln, denn für jeden Tanz bekommt sie zehn Cents Lohn. Als dann die Musik wieder einsetzt, tanzen sie schweigend. Doch mit einem Male bricht es aus ihm heraus: »Warum sind Sie hier, Nell? Warum sind Sie nicht auf der Chisham Ranch bei Ihrem Bruder?« »Warum sind Sie hereingekommen und haben zwei Männer getötet?« Sie fragt es schrill, und in ihrem Blick liegt Entsetzen. Sie hat ihr Gesicht zu ihm erhoben, sodass er beim Tanzen auf sie hinabblicken kann. »Ich habe sie nicht getötet«, erwidert er. »Und ich bin nicht hergekommen, um mit ihnen Streit zu suchen. Vor langer Zeit hat ihr Bruder mich zum Revolverkampf gefordert und dabei zwei seiner Freunde im Hinterhalt postiert. Ich konnte es überstehen und flüchten. Doch ich hatte über die Claybornes gesiegt. Da ich verwundet war, verfolgten sie mich und rechneten sich eine Chance aus, mich zu erwischen. Sie hätten es fast geschafft. Doch ich konnte ihnen mit Hilfe meines jetzigen Bosses entkommen. Nun, jetzt hatten sie wohl von meiner Rückkehr ins Pecos-Land erfahren. Sie stellten mich hier. Sollte ich mich von ihnen töten lassen, oder sollte ich das Pecos-Land meiden?« Er wartet gar nicht auf ihre Antwort, sondern fragt nochmals: »Warum sind Sie hier als Tanzmädchen und nicht bei Ihrem Bruder auf der Chisham Ranch?« »Sie hätten ihnen und diesem Kampf aus dem Weg gehen können, wenn Sie nicht in dieses Land zurückgekommen wären«, erwidert sie hart. »Das wäre doch besser gewesen…« »Ich musste in dieses Land zurück«, erklärt er. »Ich kenne meine Eltern nicht und habe vielleicht die Chance, etwas darüber zu erfahren. Ich musste zurück, selbst wenn hier ein ganzes Dutzend revolverruhmsüchtiger Narren auf mich wartete. Wollen Sie mir endlich meine Frage beantworten,
Nell?« In ihren Augen erscheint nun ein seltsamer Ausdruck, und sie beißt sich auf die Unterlippe und senkt den Kopf, Der Tanz ist plötzlich beendet, und die Tänzer führen ihre Partnerinnen an die Bar. Für die Mädchen gibt es gefärbtes Zuckerwasser, das die Männer wie echten Whisky bezahlen müssen. Jim bestellt sich ein Bier, doch er trinkt nur einen Schluck, um die Bitterkeit, die sich wie ein Kloß in der trockenen Kehle festgesetzt zu haben scheint, hinunterzuspülen. Nell Loke gibt ihm die gewünschte Auskunft. »Ich war auf der Chisham Ranch. Ich fragte dort nach meinem Bruder. Ich sprach sogar mit Thor Chisham selbst. Er sagte mir, dass mein Bruder tot wäre und er leider nichts für mich tun könnte. Er sagte, dass er ein armer Mann werden würde, wenn er all die Schwestern seiner verstorbenen Reiter aufnehmen und versorgen würde. Er behauptete, dass Ringo einem Rudel Pferde über den Rio Grande nach Mexiko gefolgt wäre und die Pferdediebe ihn getötet hätten. Er gab mir ein Mittagessen und ließ mich mit einem Wagen nach Langtry bringen. Und hier stand ich nun.« Sie ergreift nun Jims Bier und trinkt einige Schlucke. »Was sollte ich machen?«, fragt sie. »In dieser Stadt gibt es für eine Frau keine andere Arbeit als diese hier, wenigstens nicht für mich. Ich habe es versucht. Roy Bean wollte mich in seinem Saloon als Tanzmädchen haben. Und so konnte ich fragen, wo ich wollte – es gab keine Arbeit für mich. Nach vielen Stunden, als es Nacht wurde, als ich Hunger hatte und nicht wusste, wo ich schlafen würde, gab ich auf. Ich ging in diesen Saloon hier. Wir bekommen unseren Verdienst jeden Abend ausbezahlt. Ich werde Ihnen bald alle Schulden zurückzahlen können und dann mein Reisegeld zurück in den Osten verdienen, wo ich eine andere und bessere Arbeit finden kann.«
Die Musik setzt wieder ein, und sie gehen mit den anderen Paaren zur Tanzfläche. Sie beginnen sich zu drehen, und sie wissen nicht, was sie einander noch sagen sollen. Aber irgendwie spüren sie etwas Gemeinsames zwischen sich. Es ist plötzlich vorhanden. Irgendwie gleicht dieses Gefühl der Gemeinsamkeit dem von Schiffbrüchigen, die sich auf eine kleine Insel retten konnten, mitten in einem wilden Meer und umgeben von Haifischen und vieler Not und Gefahren. Aber es dauert drei Tänze und drei Pausen, sodass sie jetzt schon den fünften Tanz tanzen, als Jim Pecos sagt: »Nell, lass mich für dich sorgen! Heirate mich! Lass mich für dich sorgen! Weißt du, ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Das war damals, als du oben auf dem Schiff standest und einen Moment Furcht davor hattest, die Landebrücke zu betreten und in die Stadt zu gehen. Ich erkannte damals deine Einsamkeit, deine Angst vor der Zukunft und deinen Mut. Später dann habe ich während des ganzen Trecks in dieses Land an dich denken müssen. Und ich freute mich darauf, dich Wiedersehen zu können, als ich wusste, dass auch wir in diesen Teil des PecosLandes kommen würden. Ich kann es nicht zulassen, dich hier als Tanzmädchen zu sehen. Ich würde bei Lige Morgan meinen Dienst kündigen, hier in der Stadt bleiben und jeden Tag kommen, um mit dir beisammen zu sein. Ich würde dich für jeden Abend wieder mieten und jeden Burschen zu einem Revolverkampf fordern, der…« Er verstummt leise. Seine Stimme versagt ihm. Er muss sich erst räuspern und mehrmals schlucken. »Heirate mich, Nell«, sagt er dann hart. Sie dreht sich, und sie blickt zu ihm auf. Ihr Gesicht ist voller Verwunderung und Staunen – nein, es ist nicht mehr starr und leer, sondern gelöst und ausdrucksvoll. Ihre Augen sind weit offen, und ihr Mund hat sich leicht geöffnet. So staunt sie.
»Jim Pecos, du bist verrückt«, sagt sie dann herb. »Vielleicht«, sagt er. »Aber ich würde dich eines Tages bekommen. Nimm mich! Ich bringe dich hier heraus! Ich kann nicht richtig und wie es sich gehört um dich werben. Versuch es mit mir. Du wirst mein kostbarster Besitz. Gib mir das Recht, für dich zu sorgen und dich zu beschützen.« Sie staunt immer noch. Doch dann senkt sie den Kopf. Es scheint Jim einen Moment so, als erzitterte sie am ganzen Körper und als schmiegte sie sich an ihn. Doch dann hält sie sich beim Tanzen weiter von ihm entfernt als zuvor. Als sie aufblickt, ist ihr Gesicht wieder blass und starr. Ihre Augen sind verschleiert. Und ihre Stimme klingt fast hart, als sie sagt: »Du bist ein Revolvermann, Jim Pecos. Und schon dein nächster Gegner könnte dich töten. Dann wäre ich eine recht junge Witwe, und ich hätte noch mehr Kummer als sonst und vielleicht ein Kind unterwegs. Nein, du bist kein Mann, Jim Pecos, der einem Mädchen Schutz und Sicherheit geben könnte. Du bist der Revolvermann eines Frachtlinienbesitzers. Und ihr zieht das ganze Jahr durchs Land. Du kannst keine Frau gebrauchen.« Da hält er inne. Ihre Worte sind für ihn wie Schläge mit einer Keule auf den Kopf. Und irgendwie spürt er, wie Recht sie hat. Was ist er schon? Ein Revolvermann! Leibwächter eines alternden Mannes, der vielleicht einer fixen Idee nachjagt. Und er selbst wurde von dieser Idee schon erfasst und glaubt manchmal fest daran, dass er Lige Morgans Sohn sein könnte. Sie stehen inmitten der anderen Paare. »Na schön«, sagt er auf Nell Loke nieder, »na schön!« Er drückt ihr die nur halb benutzte Tanzkarte in die Hand, führt Neil von der Tanzfläche, verbeugt sich und geht hinaus. Langsam marschiert er aus der Stadt. Die Sterne am Himmel kommen ihm sehr kalt und unfreundlich vor. Er fragt sich, wie sein Schicksal wohl dort oben geschrieben steht, und er spürt
nichts Gutes. � *** Schon am frühen Morgen darf die halbe Mannschaft in die Stadt. Aber es gibt für Lige Morgan auch eine böse Überraschung. Es kommen nämlich der Stadtmarshal und zwei seiner Gehilfen angeritten und überreichen Lige Morgan ein Schreiben des Stadtrates. Als er das Schreiben gelesen hat, weiß er, dass er tausend Dollar Verkaufssteuer im Voraus entrichten soll. Zuerst will er fluchen, doch dann grinst er, und er sagt: »Ich bin nicht innerhalb der Stadtgrenze. Ihr könnt mir den Buckel heraufund wieder hinunterrutschen. Ich brauche nur Verkaufssteuer zu zahlen, wenn ich innerhalb eurer Stadtgrenzen als so genannter fahrender Händler etwas verkaufe. Aber ich schädige ja auch gar nicht eure Geschäftsleute. Im Gegenteil, ich versorge eure Geschäfte mit Waren, sodass eure Geschäftsleute wieder etwas zu verkaufen haben und somit Umsatzsteuer zahlen. Ihr Narren, ich habe keine Ursache, euch Geld zu zahlen. Ihr wollt mich wohl erpressen?« Der Marshal ist ein harter Bursche, doch nicht ohne Humor. Er grinst zurück und sagt: »Sie sind gestern sicherlich an unserem neuen Schild vorbeigefahren. Die Stadtgrenzen wurden vor einiger Zeit neu festgesetzt. Man hatte wohl versäumt, das alte Schild zu entfernen. Sie sind innerhalb der Stadtgrenze, Mister. Wollen Sie zahlen?« Lige Morgan überlegt. Und obwohl er so oft bewiesen hat, dass er mit dem Kopf durch die Wand zu rennen gewillt ist, macht er jetzt keinen Fehler. Dies hier sind zwar auch Banditen, doch keine solchen wie an der Territoriumsgrenze von Oklahoma, wie jener Silvertip Jenkins mit seiner Bande. Dies hier sind die ausgekochten Gehilfen eines Mannes, der eine ganze Stadt und ein großes Stück Land beherrscht. Dass er
Verkaufssteuer zahlen soll, sichert der Stadt seine Ladung. Denn er wäre ein Narr, wenn er die Steuer zahlt, weiterführe und woanders verkaufte. Er nickt. »Ihr habt gewonnen«, sagt er. »Ich zahle und verkaufe hier einen Teil meiner Ladung – den größten Teil.« Während sich die Frachtfahrmannschaft mehr oder weniger in der Stadt umschichtig austobt und den größten Teil ihres Lohnes ausgibt, verkauft Lige Morgan mit Hilfe seiner zuverlässigen Männer den größten Teil seiner Ladungen, all die tausend und mehr Posten an verschiedenen Dingen. Es ist sicher, dass dieser Teil des Pecos-Landes damit für lange Zeit mit all den notwendigen Dingen versorgt ist, vom Hufnagel bis zur Schere und von der Nähnadel bis zum erstklassigen Pflug. Jim Pecos ist ihm all die Tage ein guter Gehilfe, und manchmal sieht es so aus, als würde ein alter Frachtmann einen Sohn und Nachfolger in alle Dinge einweihen und ließe ihn praktische Erfahrungen sammeln. Doch sie sprechen wenig. Jim Pecos stürzt sich regelrecht in die Arbeit, um Nell Loke zu vergessen. Nach einigen Tagen haben sie zwei Drittel des Frachtzuges umgesetzt. Lige Morgan schickt den Rest seiner Wagen – jene, die noch beladen sind – nach Santa Fe. Sein Vormann ist zuverlässig, und es handelt sich zumeist um große Stückgüter, wie zum Beispiel die Klaviere, die abgeliefert werden müssen. Der Vormann wird keine sehr mühsamen Rechnereien mit tausend kleinen Einzelposten haben. Die Wagen werden in Santa Fe mitsamt den Gespannen überwintern. Die anderen Wagen werden zu einer kleinen und nicht weit entfernten Ranch gefahren und dort abgestellt. Die Maultiere kommen auf die Ranchweide, und all die Geschirre und Werkzeuge werden in Kisten und Fässern untergebracht. Die Frachtfahrer melden sich in Gruppen oder auch einzeln bei Lige Morgan ab und versprechen, dass sie im Frühjahr wieder zu ihm kommen und seine Wagen fahren werden.
All diese Männer streben irgendwelchen Zielen zu. Manche haben Familien, die inzwischen kleine Farmen oder Ranches bewirtschaften und sich über das Bargeld freuen, welches der Vater oder die Brüder nun heimbringen. Andere Männer gehen weiter nördlich, um den Winter über Pelztiere zu jagen. Manche wollen als Holzfäller arbeiten oder haben irgendetwas anderes vor. Es löst sich jedenfalls alles auf. Jim Pecos war nicht mehr in der Stadt. Er dachte oft an Nell Loke, doch er wollte sie nicht mehr sehen. Aber als die letzten Wagen fort sind, muss er mit Lige Morgan in ein Hotel. Es ist kein ungefährliches Leben, welches er und Lige Morgan nun führen. Denn Lige Morgan hat mehr als vierzigtausend Dollar in bar bei sich, und deshalb braucht er nun seinen Revolvermann. Denn es gibt genug Banditen im Land, die eine Bank stürmen und ihren Geldschrank aufbrechen würden, um vierzigtausend Dollar zu erbeuten. Und hier läuft ein Mann zwischen ihnen herum, der vierzigtausend in den Taschen, Geldgürteln und in seinem wenigen Gepäck hat. Lige Morgan braucht wahrhaftig einen Leibwächter. Er kann sein Geld nicht bei einer Bank deponieren, denn es gibt hier keine, die sein Vertrauen hat. An jenem Tag, da sie das Hotel verlassen, um im Mietstall ihre Pferde zu holen, treffen sie Nell Loke. Sie kommt aus einem Laden, in dem es Kleidung und Wäsche für Damen gibt. Und sie ist wohl zu stolz, um wieder in den Laden zu treten. Sie bleibt stehen, um die Männer an sich vorbei zu lassen. Doch Jim kann nicht anders. Er hält inne und fasst an den Hut. Mit der anderen Hand hält er Lige Morgan am Arm fest und sagt: »Lige Morgan, dies ist das Mädchen, welches ich nicht bekommen kann. Ich habe Ihnen alles erzählt, nicht wahr? Dies ist Nell Loke, die keinen Revolverschwinger zum
Mann haben will.« Er sagt die letzten Worte bitter. Lige Morgan greift an den Hut. Er lächelt dabei, und seine Augen funkeln. Nell Loke blickt in diese grauen Augen, und dann richtet sie ihren Blick schnell auf Jim Pecos. Sie haben beide die gleichen Augen, wie Vater und Sohn, so denkt sie überrascht. Und dabei hört sie Lige Morgan sagen: »Jim Pecos hat mir wirklich etwas von seinem Kummer erzählt. Und so weiß ich deshalb, dass Sie in dieser Stadt keine andere Arbeit bekommen konnten, weil Roy Bean beschlossen hatte, Sie als Tanzmädchen zu erwerben.« »Er hat mich nicht erworben«, sagt sie kühl. »Ich kann gehen, wann ich will und wohin ich will. Und das werde ich tun, sobald ich an Mr. Pecos meine Schulden bezahlt und etwas Reisegeld zurück in den Osten verdient habe. Ich bin nicht erworben worden, Mister.« Ihre Stimme klingt zornig, und man sieht ihr an, dass sie zwar ein Tanzmädchen in »Lily’s Saloon zu Jersey« wurde, doch immer noch stolz sein kann. Lige Morgan nickt. »Ich könnte Ihr Vater sein, Mädel«, sagt er sanft und lächelt unter seinem grauen Bart. »Wenn Sie bei Jim Pecos Schulden haben, dann kann ich Ihnen Vorschuss geben. Sie brauchen bei mir nur eine Stellung als Haushälterin und Wirtschafterin anzutreten. Wissen Sie, wir sind nach Paradise unterwegs. Wir wollen dort jagen und fischen und jene Zeit verbringen, die für Frachtleute immer tote Zeit ist. Denn achthundert Meilen weit von hier liegt jetzt Schnee auf allen Pässen. Und er wird bald auch die tiefer gelegenen Ebenen bedecken. Ich will mir in Paradise irgendwo am Rande ein Haus mieten und mit Jim Pecos ein Jägerleben führen. Doch weil ich ein alter Mann bin, der neun Monate des Jahres in primitiven Camps am Rande des Frachtweges lebt, will ich Behaglichkeit und Bequemlichkeit haben und von einer guten Wirtschafterin versorgt werden. Das habe ich mir verdient.
Kommen Sie mit uns, Mädel?« Sie blickt ihn staunend an. »Warum tun Sie das?«, fragt sie dann. Und er grinst unter seinem struppigen Seehundbart. Seine grauen Augen funkeln vergnügt. Sie mag ihn plötzlich. Sie spürt genau und sicher, dass er gut ist und dass sie es bei ihm gut haben würde. Sie wäre für ihn eine Art Haustochter, die die fehlende Hausfrau vertreten muss – oder darf. In ihr ist plötzlich wieder jene große Einsamkeit, an der sie manchmal zu zerbrechen droht. Und sie spürt wieder all die sehnsüchtigen Wünsche nach Geborgenheit, nach einem guten Platz, nach Sauberkeit und guter Wärme. Sie denkt an ihr Leben mit den anderen Mädchen im Saloon. Es sind verworfene Mädchen darunter, und es gibt stets Streit und Neid. Männer bedrängen sie ständig, und obwohl die Rauswerfer des Saloons ihr Schutz geben, ist es ein erbärmliches Leben. Sie muss manchmal mit Burschen tanzen, die sich schon wochenlang nicht richtig gewaschen haben und die nach Schweiß und Unsauberkeit riechen, wie sie es nicht für möglich hielt. Nell Loke nickt plötzlich entschlossen, und dabei kann sie nicht verhindern, dass ihre Augen feucht werden. Sie sagt: »Ich kündige meine Stellung im Saloon, packe mein Bündel und komme zum Mietstall.« »Richtig! Und wir werden einen leichten Wagen kaufen. Jim kann reiten, doch wir beide werden fahren«, sagt Lige ernst. Sie blicken ihr nach. »Lige Morgan«, murmelt Jim Pecos. »Lige Morgan, dies vergesse ich Ihnen nie. Jetzt bin ich wieder tief in Ihrer Schuld. Denn ich liebe dieses Mädchen. Ich vergesse Ihnen nie, dass Sie Nell Loke aus diesem Saloon da holten.« ***
Sie kommen noch am selben Tag nach Paradise, denn der Ort ist nur zwanzig Meilen von Langtry entfernt. Eigentlich ist Paradise nur eine Poststation, zu der ein Saloon, ein Hotel, ein Store und einige wenige andere Geschäfte und Häuser kamen, in denen Jäger, Schmuggler und einige Geschäftsleute leben. Es gibt kleine Ranches und Farmen in der Umgebung, und die große Chisham Ranch wirft über alles einen unsichtbaren Schatten. Das Land ist unvergleichlich schön. Die kahlen und zerrissenen Bergspitzen säumen prächtige Hochtäler ein. Lige Morgan nächtigt mit seiner »Familie«, wie er Jim und Neil nennt, eine Nacht im Hotel. Dann aber reiten und fahren sie am frühen Morgen des nächsten Tages aus dem Ort und werden vom Posthalter, der zugleich Grundstücksagent ist, zu einem großen Blockhaus geführt, zu dem einige kleine Nebengebäude, ein kleiner Garten und zwei Corrals gehören. Ein Bach plätschert in der Nähe, in dem Forellen stehen, die so lang wie der Unterarm eines Mannes sind. Lige Morgan mietet das vierräumige Blockhaus. Und dann haben sie zwei Tage lang zu tun, um sich einzurichten. Man könnte denken, dass sie wirklich nur hergekommen sind, um zu jagen und einige Wochen Urlaub zu machen. Und dennoch geschieht alles, was sie tun, sehr folgerichtig, wurde geplant und überlegt. Denn sie müssen Thor Chisham in die Finger bekommen, ja, richtig fest in ihre Hände. Und sie können zu dem Zweck nicht einfach auf die große Chisham Ranch reiten und Thor Chisham in dessen eigenem Haus zum Gefangenen machen. Denn ein Mann wie Thor Chisham, der binnen weniger Jahre einer der größten Rancher wurde, wird nicht so leicht zu überraschen sein. Er wird einige hartbeinige und gefährliche Burschen zur Verfügung haben. In solch einem Land wie diesem muss sich ein Mann wie Chisham Leibwächter halten.
Seine südliche Ranchgrenze soll an den Rio Grande grenzen. Und das bedeutet, dass mexikanische Banden sofort auf seinem Grund und Boden sind, wenn sie durch den Fluss kommen. Lige Morgan und Jim Pecos nehmen sich Zeit. Sie machen am fünften Tag nach ihrer Ankunft erst einmal einen Besuch auf der etwa zwölf Meilen entfernten Chisham Ranch. *** Es ist eine Männerranch, dies sieht man sofort. Die Gebäude sind recht primitiv und wirken sogar ärmlich. Die Ranch ist nicht viel mehr als ein ausgebautes Camp. Dass sie jedoch groß und mächtig ist, erkennt man an der Weitläufigkeit ihrer Corrals, an der stattlichen Anzahl der Pferde und an den vielen Menschen, die zu sehen sind. Lige Morgan und Jim Pecos treffen Thor Chisham bei einem großen Corral, in dem ein wilder und kohlrabenschwarzer Hengst zugeritten wird. Als der Reiter in hohem Bogen aus dem Zureitesattel fliegt und sich nur mit Mühe vor den Hufen des wütenden Tieres retten kann, indem er sich unter der untersten Corralstange hindurch aus dem Corral rollt, wendet sich Thor Chisham den beiden Besuchern zu und nickt leicht. »Na, Jim Pecos! Ich wette, du könntest dieses schwarze Biest einbrechen. Du konntest jedes Pferd reiten, als du hier für mich als Zureiter tätig warst. Ich habe schon gehört, dass du jetzt der Leibwächter eines bekannten und sogar berühmten Frachtunternehmers geworden bist. Ich hörte sogar, dass dein Boss eine Menge Bargeld bei sich hat, fast das ganze Bargeld des Landes oder zumindest der Stadt Langtry. Hast du keine Sorgen, Jim, dass du gegen eine ganze Bande kämpfen musst, wenn eine unserer vielen Banden auf die Idee käme, sich das
Geld deines Bosses zu holen?« Er lächelt blitzend, und er ist ein großer, dunkler und stattlicher Mann. Er wirkt hart und energisch, ganz wie ein Boss, dessen Ziele weit gesteckt sind. Mit diesem Lächeln wendet er sich an Lige Morgan. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Wir sind uns früher nie auf irgendwelchen Frachtstraßen begegnet – das war wohl Zufall! Denn früher fuhr ich ebenfalls als eigener Unternehmer Frachten. Aber dann sattelte ich um und baute diese Ranch auf. Eines Tages wird es die größte Ranch in Südtexas sein.« Er streckt Lige Morgan die Hand hin. »Sie können auch auf meiner Weide jagen«, sagt er dabei. »Ich bin über jeden Jäger froh, der Pumas und Wölfe schießt. Besonders Jim Pecos wird das interessieren. Ich zahle einen Dollar pro Wolfsfell und drei Dollar für zwei Pumaohren. Doch Sie, Lige Morgan, haben es ja wohl nicht nötig, für Geld zu jagen. Ich begrüße Sie als Nachbar. Und wenn Sie nicht wissen, wo Sie Ihr Geld lassen sollen, dann würde ich es in meinem Geldschrank aufbewahren, hahaha!« Sein Wortschwall endet nun, und dieser Wortschwall täuscht nicht darüber weg, dass er ein harter und kaltschnäuziger Bursche ist, hartgesotten und rücksichtslos. Er führt die beiden Männer dann umher und zeigt ihnen alles. Jim Pecos sieht eine Menge Fortschritt. Er lächelt jedoch nur, als Thor Chisham ihn halb scherzend fragt, ob er nicht wieder für ihn reiten wolle. »Ich könnte dir den Lohn eines Vormannes zahlen, Jim«, sagt Chisham. »Denn ich verlor Ringo Loke. Du könntest seine Stelle einnehmen. Ach, da fällt mir ein, dass ihr ja auch jenes Mädchen bei euch habt, das einmal hier auf der Ranch war und sich als Ringos Schwester ausgab.« »Ja, sie ist jetzt bei uns«, sagt Lige Morgan. »Und sie ist ganz gewiss Ringo Lokes Schwester«, murmelt Jim. »Ich kann das Angebot nicht annehmen«, fügt er hinzu.
»Lige Morgan ist mein Boss.« Thor Chisham steht eine Weile bewegungslos vor ihnen und betrachtet sie hart. Er strömt plötzlich eine Welle von Härte und Drohung aus. Doch dann lächelt er wieder. »Morgan«, sagt er, »ich weiß noch nicht genau, was Sie hier wollen. Ich glaube nicht daran, dass Sie hier gewissermaßen Urlaub machen und nur jagen wollen. Doch ich werde das sicherlich noch herausfinden. Ich hätte Ihnen auch gerne diesen Revolvermann Jim Pecos abgeworben. Doch so nötig brauche ich ihn ja nicht. Sehen Sie dort, dort sind meine besten Männer, dort!« Er deutet auf drei Reiter, die aus dem Corral geritten kommen und noch ein viertes Sattelpferd mit sich führen. Jim Pecos sieht die drei Reiter an und erkennt sie. Er sagt nichts mehr, er beobachtet nur noch. Thor Chisham wendet sich wieder an Lige Morgan. »Ich denke, Sie wollen vielleicht mit den Mexikanern dort drüben ins Geschäft kommen, Morgan! Vielleicht Waffen gegen Silberbarren oder sogar Silberpesos. Wenn Sie deshalb hier sind und nur scheinbar jagen, dann vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Aber sonst können wir gute Nachbarschaft halten. Sie werden sicherlich verzeihen, ich muss jetzt leider fort. Meine Leute halten mein Pferd schon bereit. Für Sie ist auf der Veranda ein Mittagessen gedeckt. Wir sehen uns sicherlich noch oft. Viel Glück!« Er winkt, geht zu den Reitern hinüber, sitzt auf und reitet mit ihnen davon. »Wer sind die drei Hartgesottenen?«, fragt Lige Morgan. Jim Pecos sagt es ihm so schlicht, dass seine Worte besonders wirksam sind. »Das sind die Ringolds«, spricht er. »Sie sind Banditen, Revolvermänner und Sattelpiraten. Es ist ein ganzer Clan, gegen den die Claybornes zweitklassig sind. Die drei Reiter
dort waren Brack, Curly Dick und Lee Ringold. Ich könnte es vielleicht mit Brack Ringold aufnehmen, wenn ich einen guten Tag habe. Und ich könnte auch Dick schlagen. Aber Lee kann mich in Stücke schießen, bevor ich einen Schuss abgegeben hätte. Und alle drei zusammen würden mit mir umspringen wie mit einem dummen Jungen. Thor Chisham hat sich die gefährlichsten Revolvermänner gemietet, hinter denen überdies auch noch die ganze Macht eines mächtigen Clans steht. Lige Morgan, ich sage Ihnen das so genau, damit Sie wissen, dass ich den Ringolds nicht gewachsen bin. Wenn sie auf die Idee kämen, Ihnen das Geld wegzunehmen, nun, ich könnte es wohl kaum verhindern.« »Ich habe das Geld längst irgendwo gut versteckt«, murmelt Lige Morgan. Sie gehen dann zur Veranda des Ranchhauses, welches nur eine dreiräumige Adobehütte mit einem großen Verandaanbau ist. Ein Mexikaner bedient sie hier wortlos und entfernt sich dann, um den Nachtisch zu holen. Lige Morgan murmelt kauend: »Wenn man in die Hütte könnte. Wenn man Zeit haben würde, sie zu durchsuchen. Vielleicht würde man dann den Kasten mit dem Rest der Schachfiguren finden. Und…« Er verstummt, denn der Mexikaner kommt mit einem Tablett herüber. Er fragt den Mann dann etwas später: »Ich hörte, dass Lily Langtry einen Liederabend gegeben hat. Das war doch wohl nicht in dieser kleinen Hütte?« Der Mexikaner grinst, und er spricht ein verständliches Englisch. Er sagt: »Nicht hier! Drüben am Berg, da gibt es eine große Höhle. Sie ist wie der große Raum einer Kathedrale. Dort fand die Darbietung statt. Wir hatten viele Gäste aus Mexiko da, reiche Großgrundbesitzer. Aber auch alle Nachbarn waren eingeladen. Es war ein wundervolles Liederfest. Mr. Chisham ist berühmt geworden. Man spricht überall von ihm. Er wird noch größer und berühmter werden als jeder andere
Mann im Land und mehr Einfluss gewinnen, als Roy Bean besitzt.« Nach diesen Worten geht er wieder. Und Lige Morgan und Jim Pecos wissen jetzt besser Bescheid über Thor Chisham. Denn der Mann muss zu jener Sorte gehören, deren Geltungsbedürfnis so groß ist, dass es sie vollkommen beherrscht und zu besonderen Handlungen befähigt. »Wenn wir nur die Hütte in aller Ruhe durchsuchen könnten«, murmelt Lige Morgan nochmals. *** Die Tage und Wochen vergehen. Nell Loke sorgt für die Männer wie eine gute Tochter und Schwester. Doch sie ist sehr oft allein, da Lige und Jim ständig das Land durchstreifen und wahrhaftig viel auf der Jagd sind. Dem Mädchen ist es lieb und recht, allein zu sein. Sie denkt sehr oft an ihre toten Brüder, besonders an Ringo Loke, den sie viele Jahre lang nicht gesehen hatte. Und nicht selten denkt sie an Jim Pecos. Sie weiß längst, dass sie ihn liebt. Doch wenn er daheim ist, lässt sie sich nichts anmerken. Auch Jim benimmt sich sehr zurückhaltend und respektvoll, versucht aber immer wieder, ihr jede schwere Arbeit abzunehmen. Die Männer haben es gut bei ihrer Haushälterin, zumal sie nicht zu sparen brauchen. Doch zumeist sind sie fort. Nell ist allein. Und manchmal kommen Reiter vorbei, Männer, die nur vorbeireiten und lässig grüßen oder welche, die anhalten und sich umsehen. Einmal sind es drei Reiter, von denen im besonderen Maße etwas Hartes, Drohendes und Gefährliches ausgeht, obwohl sie alle drei nicht übel aussehen. Einer ist groß, breit und verfügt sicherlich über
außergewöhnliche Körperkräfte. Der andere hat lockiges Haar. Und der dritte Mann ist lang, hager, hat sandfarbenes Haar und zwei kühle und eisgraue Augen. Die drei Männer kommen bis zu dem großen Wassertrog geritten, bei dem Nell ihre Waschbank und die Holzwanne aufgestellt hat und wo sie wäscht. Sie fühlt sich etwas beunruhigt, weil die Männer sie wortlos betrachten. Sie ahnt, mit wem sie es zu tun hat. »Wir sind die drei Ringolds«, sagt der Lockenkopf. »Ich bin Curly Dick. Das sind Lee und Brack. Wir haben schon lange nicht ein solch hübsches Mädel gesehen. Wie wir hörten, sollen Sie Ringo Lokes Schwester sein. Nun, ist es Ihnen jetzt nicht etwas zu ruhig hier? Sind Sie nicht vielleicht einsam und suchen Gesellschaft?« Seine Worte sind schon zweideutig und berechnend. Doch sein Blick lässt keinen Zweifel zu: Er hält sie für ein Saloonflittchen, welches zwei altersmäßig verschiedenen Männern in die Einsamkeit folgte, wahrscheinlich, weil diese Männer viel Geld bei sich haben. Sie richtet sich gerade auf, nimmt ihre Hände aus dem Seifenschaum und streicht sich mit den Unterarmen eine Haarsträhne zurück. »Es ist hier viel zu lebhaft«, sagt sie. »Es kommen immer noch zu viele Reiter vorbei, halten an und stehlen mir mit dummen Reden die Zeit.« Sie lächeln, als sie dies hören. Sie lächeln auf eine anerkennende Art, die aber dennoch nicht gut und vertrauenswert ist. Curly schwingt sich aus dem Sattel, greift in die Tasche, zieht eine Hand voll mexikanischer Silberpesos hervor und sagt lachend: »Komm her, Mädel, und küss mich! Komm, ich schenke dir was dafür!« Er lässt die Silberstücke in der leicht geschlossenen Hand klingeln. Nell Loke sieht ihn an. Dann wendet sie sich ab und
geht ins Haus. Als sie wieder zum Vorschein kommt, hält sie eine Schrotflinte in den Händen, deren Hähne gespannt sind. Die Männer, die lachend ihre Pferde aus dem Wassertrog saufen lassen, abgesessen sind und selbst einen Schluck aus der Schöpfkelle trinken, zucken leicht zusammen. Sie werden wachsam, wirken nun lauernd und noch gefährlicher als zuvor. »Fort mit euch, ihr drei Strolche«, sagt das Mädchen herb. »Fort mit euch, bevor ich abdrücke! Ihr kommt euch wohl sehr großartig und humorvoll vor, wenn ihr ein Mädchen auf diese Art beleidigt? Aber ich lasse mir das von solchen Strolchen nicht bieten! Fort mit euch!« Sie ist nun sehr wütend und sichtlich auch entschlossen. Doch sie weiß nicht, wie sehr sie mit ihrem Leben spielt. Denn die drei Revolvermänner sind erbarmungslose Banditen. Aber sie haben scheinbar gute Laune. Sie lachen laut und sitzen auf. Als sie weit genug sind, wendet sich Curly Dick im Sattel um und ruft: »Ich hole mir schon einen Kuss und noch mehr! Aber ohne Silberpesos! Ich habe Blut geleckt, Mädel! Ich bin ein hungriger Tiger und fresse Mädchenherzen! Ich komme mal wieder vorbei!« Da feuert sie beide Läufe hinter ihnen her und läuft dann eilig ins Haus, um nachzuladen. Doch die drei Ringolds kommen nicht zurück. Nell Loke verspürt eine fast panikartige Angst, schlimmer als im Saloon, wenn ein wilder Bursche sie bedrängte und nicht gleich ein schützender Rauswerfer zur Stelle war. Sie traut sich nicht mehr hinaus und hält die Tür geschlossen. Und als es ihr klar wird, dass Lige Morgan und Jim Pecos diese Nacht wieder einmal nicht heimkommen werden, weil sie irgendwo auf ein Wild lauern, wird sie richtig böse auf die beiden Männer. ***
Aber Lige Morgan und Jim Pecos unternehmen in dieser Nacht das wahrscheinlich gefährlichste Wagnis ihres Lebens. Sie haben nun das Wild, welches sie in Wirklichkeit jagen wollen, lange genug beschlichen und belauscht. Dieses Wild heißt: Thor Chisham. Sie belauerten Thor Chisham und die Hauptranch, so gut sie es konnten. Sie lagen auf den Hügeln und beobachteten die Wege zur Ranch. Und immer dann, wenn sie glaubten, selbst beobachtet zu werden, gingen sie wirklich auf die Jagd und erlegten einige Wölfe, Berglöwen und Wildbret. Sie brachten das Fleisch und die Wolfsfelle und die Pumaohren immer wieder zur Ranch, um die von Thor Chisham ausgesetzten Prämien zu kassieren. So war es bis zu diesem Abend. Denn noch an diesem Abend kommen Lige Morgan und Jim Pecos mit drei Wolfsfellen, vier Pumaohren und zwei Antilopenböcken zur Ranch. Sie erfahren, dass Thor Chisham nicht anwesend ist. Auch von den Ringolds ist nichts zu sehen. Es sind nur die mexikanischen Ranchhelfer da, die mit ihren Familien in einiger Entfernung von der Ranch ein kleines Dorf errichtet haben und jeden Tag zur Arbeit herüberkommen. Sie arbeiten auf den Feldern, die zu der Ranch gehören, in den Corrals und Ställen und am Bau eines neuen Ranchhauses, in einigen Werkstätten und überall dort, wo ein richtiger Cowboy, der nur Sattelarbeit verrichtet, nicht arbeiten würde. Lige Morgan und Jim Pecos laden ab, was sie mitbringen, und sagen dem Koch, dass sie morgen oder übermorgen wieder vorbeikommen würden, um sich vom Rancher die Abschussprämie für das erlegte Raubwild zu holen. Dann reiten sie fort und verschwinden in der Nacht. Doch sie reiten nicht weit, nur bis zu einem Ort, an dem sie ihre Pferde gut verstecken können. Dann gehen sie zu Fuß zurück.
Im Küchenhaus brennt noch Licht. Und draußen bei den Corrals, da zupft der Pferdewächter an einer Gitarre. Sonst ist es auf der Ranch ruhig und still. Aber dort, wo das Mexikanerdorf steht, tönen Musik, Gelächter und einiger Lärm. Lige Morgan und Jim Pecos kamen von hinten an das Ranchhaus heran und gehen nun bis zur vorderen linken Ecke vor. Sie befinden sich hier im tiefen Schatten, und sie lauschen bewegungslos und beobachten den Ranchhof. Auch im langen Schlafhaus, in dem die Cowboys wohnen, rührt sich nichts. Sie können durch das erleuchtete Fenster ins Küchenhaus blicken und sehen, dass der Koch am großen Küchentisch Teig bereitet und immer wieder ausrollt. »Nun gut«, brummt Lige Morgan, »brechen wir ein! Sehen wir nach!« Sie gehen hinter das Haus zurück und versuchen es an der Hintertür. Lige Morgan schiebt einfach sein langes Bowiemesser durch einen Ritz und hebt das innen vorliegende Stück Holz aus dem Halter. Es poltert innen zu Boden. Die Tür ist offen. Sie gleiten in das Haus, schließen die Tür und legen den Vorlegebalken wieder vor. »Das war leicht«, brummt Lige Morgan. »In diesem Land gibt es keine Schlösser. Nun gut.« Sie bewegen sich leise durch das Haus und betreten den Hauptraum. Nun verhängen sie trotz der geschlossenen Fensterläden von innen nochmals die Fenster und zünden dann die Öllampe an. Der Raum ist Wohnzimmer und Ranchbüro zugleich. Hinter dem Schreibtisch in der Ecke steht ein großer Geldschrank, ein sehr altes Modell, welches jedoch bestimmt zwanzig Zentner wiegt und auf eine sehr mühevolle Art in dieses Land gelangt sein muss. Der Schrank ist dreifach gesichert, nämlich durch ein Zahlenschloss, welches erst durch Einstellung einer bestimmten Zahl die Zuhaltungen freigibt, durch ein weiteres
Zuhaltungsschloss, welches mit Hilfe eines Schlüssels entsperrt werden kann, und durch ein mächtiges Vorhängeschloss, dessen Haltevorrichtung erst nachträglich an dem Geldschrank angebracht wurde. Wahrscheinlich traute Thor Chisham den beiden schon vorhandenen Schlössern nicht. Lige Morgan und Jim Pecos betrachten den Geldschrank. »Ich glaube nicht, dass wir den aufbekommen«, murmelt Jim bedauernd. Aber Lige Morgan grinst und schnauft durch die Nase. »Ich habe als junger Bursche Schlosser und Wagenbauer gelernt«, sagt er. »Und der Geldschrank dort stammt aus der Zeit, da ich in die Lehre ging. Ich habe dann und wann einen öffnen müssen, weil man mich darum gebeten hatte und es sich herumsprach, dass ich es kann. Wenn man weiß, wie innen die Zuhaltungen sitzen, wie man sie anheben kann, um die Verriegelung zu entsperren – nun, dann ist es gar nicht so schwer.« Er tritt langsam an den Geldschrank und nimmt das Vorhängeschloss in die Hand. Es ist größer und dicker als ein Handteller und schwer. Der Bügel ist durch zwei am Geldschrank befestigte Eisenringe gezogen. Man kann das schwere Schloss gut bewegen. Lige Morgan fasst es mit beiden Händen, geht auf die Knie und hängt sich mit seinem ganzen Körpergewicht daran. Es sieht aus, als wollte er es aufreißen. Doch dies könnte wohl selbst ein Elefant mit seinem Gewicht nicht. Doch dann tut Lige Morgan etwas Überraschendes: Er schlägt das Schloss mit der Schmalseite blitzschnell und kräftig gegen den Schrank. Er kann es gut, da der Eisenbügel locker in den Eisenringen hängt. Er schlägt es also mit der Schmalseite gegen den Eisenschrank. Es gibt ein ziemlich lautes Geräusch. Doch das Schloss ist plötzlich offen. Er legt es auf den Tisch und grinst zufrieden. Seine Augen funkeln wie die eines Jungen, dem ein besonderer Streich geglückt ist.
»Das ist Zauberei«, sagt Jim staunend. »Gar nicht«, sagt Lige Morgan. »Es ist nur ein Trick. Dieses Schloss hat vier Zuhaltungen, die von Blattfedern gegen den Riegel gedrückt werden und diesen festhalten. Als ich das Schloss gegen den Schrank schlug, wurde die Eisenschwere der Zuhaltungen verstärkt. Sie bewegten sich genau so, als würden sie mit dem Schlüsselbart hochgedrückt. Ich zog zugleich mit all meiner Kraft und hoffte, dass der Riegel rutschen würde. Er rutschte wirklich. Es musste in einem Sekundenbruchteil geschehen, und es ging wahrscheinlich nur deshalb, weil alles an diesem Schloss so groß und schwer ist. Und sicherlich hat die Spannung der Blattfedern nachgelassen.« Jim kann sich die Sache nicht besonders klar vorstellen. Denn um dies zu können, müsste er solch ein Schloss mal von innen gesehen haben. Doch Lige Morgan ist noch nicht fertig. Er legt nun sein Ohr an das Zahlenschloss. Er hält den Atem an, und auch Jim bewegt sich nicht. Er staunt nur. Lige Morgans große und schwere Hand erscheint sehr leicht und empfindlich. Seine Fingerspitzen sind zart und beweglich. Er dreht die Walzen mit den Zahlen. Jim hat gehört, dass Fachleute mit feinen Ohren das Klicken hören können, welches immer dann im Schloss ertönt, wenn die richtige Zahl eingestellt ist und eine Zuhaltung fällt. Und nun versucht Lige Morgan dieses Spiel. Er schafft es binnen zehn Minuten. Dann dreht er den Entriegelungshebel. Der Schrank lässt sich entriegeln und öffnen. »Ja, war denn das Schloss, welches mit dem Schlüssel zu öffnen ist, nicht zugesperrt?«, fragt Jim. »Ich hoffte es.« Lige Morgan lächelt. »Das Vorhängeschloss deutete schon drauf hin. Die Schlüssel für das Schlüsselloch
gingen wohl schon vor langer Zeit verloren. Man hätte das ganze Schloss ausbauen, öffnen und neue Schlüssel dafür feilen müssen. Das könnten nur die richtigen Fachleute. Doch ein Schmied konnte die beiden Eisenösen für ein Vorhängeschloss anbringen. Das war leichter und einfacher. Das Vorhängeschloss wurde angebracht, um das Schlüsselloch zu ersetzen. Das ist es!« Er verstummt zufrieden. Jim tritt mit der Lampe näher. Sie leuchten in den Schrank hinein und sehen sich an, was drinnen enthalten ist. Es ist nicht viel, einige Dollars, einige Silberpesos, zwei kleine Ledersäckchen mit Goldstaub. In einem Kasten weitere Dollarstücke und Golddollars. Im nächsten Fach sind Bücher, Geschäftsbücher über irgendwelche Dinge, Rechnungen, Quittungen, Briefe. Ein Revolver liegt griffbereit, daneben eine Ledertasche. Darunter werden einige Leinenbeutel sichtbar. Und als Lige Morgan auch diese Leinenbeutel weggenommen hat, da kommt der Kasten zum Vorschein. Lige Morgan schnauft knurrend; ja, es ist ein knurrender Ton in diesem scharfen Atemholen, und es liegt Grimm, kalter Grimm darin. Er greift in den Geldschrank und holt den Kasten heraus. Er erhebt sich damit und stellt ihn auf den Tisch. Jim stellt die Lampe daneben. Dann betrachten sie den Kasten. Dessen Oberfläche ist ein Schachbrett. Es ist ein Deckel, den Lige Morgan nun abhebt und neben dem Kasten auf den Tisch legt. Innen im Unterkasten sind einige Fächer. Sie sind angefüllt mit einigen Schachfiguren, mit Briefen und alten Bildern, mit etwas Schmuck und mit einem Buch. »Wir sind richtig«, sagt Lige Morgan schwer. »Dies dort ist das Tagebuch meiner Frau. Ich kenne es genau. Und…« Er hat es herausgenommen. Nun öffnet er es. Jim Pecos blickt ihm über die Schulter und Arm. Und er kann es lesen:
»Mary-Ann O’Hara, geboren 1820 in Boston am 18. Mai, verheiratet mit Lige Morgan am 18. Mai 1842 in Richmond. Dies ist mein Tagebuch, in dem ich alles vermerken will, was wichtig und gut oder schlecht war in meinem Leben.« Die beiden Männer lesen. Lige Morgans große Hände zittern plötzlich. Das Buch entfällt ihm fast. Er schnauft. Aber dann sagt er mit heiserer und klirrender Stimme: »Das ist die Fährte! Das ist die Spur. Jetzt werde ich es bald richtig wissen!« Er schlägt die letzte Seite auf. Und da steht geschrieben: »17. Oktober 1845, irgendwo am Santa-Fe-Weg. Heute brachen unsere Pferde zusammen, und so können wir nicht weiter. Da wir schon bald nach dem Aufbruch zurückblieben, verloren wir den Anschluss an die anderen Wagen. Diese werden auch gewiss nicht auf uns warten, denn die Leute fürchten sich vor den Indianern. Sie wollen auch nichts mit meinem zweiten Mann, Jim Fletcher, zu tun haben, weil dieser es ja war, der den Indianer tötete, um dessen Wassersack zu bekommen. Mein Kind ist sehr schwach und wird sicherlich sterben. Die Zehen, die von dem eisernen Wagenreifen zerquetscht wurden, haben sich alle entzündet. Das Bein ist bis zu den Hüften geschwollen, und das Fieber wütet wie wahnsinnig in dem kleinen Körper. Mein armer Daniel, ich kann hier nichts für dich tun. Denn wir haben kein Wasser. Ich selbst bin ja auch schon zu schwach, um laufen zu können. Jim Fletcher, der mein zweiter Mann ist, will die heiße Mittagszeit abwarten. Dann will er zu Fuß gehen und versuchen, Menschen oder zumindest Wasser zu finden. Aber vielleicht kommen vorher schon die Indianer und töten uns. Mir ist es gleich. Ich habe kein Glück mehr auf dieser Welt. Und mein kleiner Daniel wird wohl sterben. Ich möchte dann ohnehin nicht mehr leben. Nachdem ich meinen ersten Mann Lige verloren habe, lebte ich nur noch für Daniel
und wollte ihm einen zweiten Vater geben. Aber es war wohl falsch von mir. Denn Jim Fletcher ist ein übler Schurke, der…« Weiter geht die Eintragung nicht. Sie endet hier. Die Schreiberin war unterbrochen worden, wie man an einem Strich, der über das Blatt geht, erkennen kann. Jemand musste ihr unter dem Schreibzeug das Buch mit einem Ruck fortgerissen haben. Die beiden Männer blicken sich an. Lige Morgan atmet schwer. Und er sagt dann: »Dieser Hundesohn hat sie und ihr Kind einfach verlassen. Er erreichte damals jene Navajo-Sippe, von der er gegen eine Figur ein Pferd eintauschte. Und er ritt nicht zurück, sondern weiter nach Westen. Er hat meine Frau und mein Kind einfach in der Not verlassen und nur seinen eigenen Skalp gerettet. Ich habe ihn erwischt, diesen Schuft. Ich habe ihn erwischt. Und ich werde ihn töten, sobald er mir vor die Augen kommt.« Jim Pecos sagt immer noch nichts. Er steht nur starr da, blickt Lige Morgan an und schluckt dann mehrmals schwer und mühevoll. Plötzlich geht er zu einem Stuhl, setzt sich und zieht seinen linken Stiefel aus. Er zerrt mit einem Ruck den Socken herunter und sagt zu Lige: »Du bist mein Vater! Sieh dir meine Zehen an. Sie wurden mir von einem Wagenrad abgequetscht bis auf kleine Stummel, und dort im Buch steht es. Und ich konnte mich an die Figuren erinnern, nicht wahr? Ich bin Daniel, dein Sohn.« Lige Morgan blickt ihn zuerst verwundert an, ungläubig und ohne Begreifen. Dann wirft er einen Blick auf Jim Pecos’ Zehen. Und dort kann er sehen, dass die Zehen vor sehr, sehr langer Zeit einmal verstümmelt wurden. Daran gibt es keinen Zweifel. Er nimmt das Buch und liest noch einmal den Satz: »Die Zehen, die von einem eisernen Wagenreifen zerquetscht wurden, haben sich alle entzündet.«
»Du lieber Himmel«, sagt er dann langsam und blickt auf Jim Pecos. Sie blicken sich an, lange. Und sie schlucken abwechselnd und atmen hörbar. »Ja, ich glaube, dass du mein Junge bist«, sagt Lige Morgan nach einer Weile langsam. »Ich glaube es jetzt ganz sicher. Also muss ich wohl dem Herrgott zum Schluss noch dankbar sein, obwohl ich mehr als zwanzig Jahre mit ihm zürnte und ihn für mein Unglück verantwortlich machte. Ich konnte dich damals vor den Claybornes retten, und damit rettete ich den eigenen Sohn. Doch ich verpflichtete dich als Revolvermann und Leibwächter, und ich brachte dich in Gefahr und verlangte von dir, Revolverkämpfe auszutragen…« »Was ich tat, hätte ich als dein Sohn ebenfalls getan«, unterbricht ihn Jim Daniel Morgan. »Ich heiße also Morgan, Daniel Morgan. Und seitdem ich denken kann, nannte man mich Jim, Jim Pecos. Pecos war kein Name. Pecos, so heißt ein Fluss, der keinen Vater und keine Mutter hat. Aber an Jim habe ich mich gewöhnt. Ich möchte weiterhin Jim gerufen werden. Macht es dir etwas aus, Vater?« »Nein, mein Junge!« Lige beginnt den Inhalt des Kastens flüchtig zu untersuchen, aber er findet nur Dinge, die aus dem Besitz seiner Frau stammen. Einen Moment fragt er sich, warum Thor Chisham – oder Jim Fletcher, wie er sich damals nannte – dies alles aufgehoben hat. Denn es musste ihn doch immer wieder an eine üble Tat erinnern, die er beging. Lige Morgan nickt grimmig. Er setzt den Deckel wieder auf den Schachbrettkasten und sagt: »Das nehmen wir mit! Dies alles gehört mir und dir. Und nun will ich mich mal für den anderen Inhalt des Geldschrankes interessieren.« Und das tut er. Er nimmt sich Zeit und blättert sämtliche Geschäftsbücher, Urkunden und Papiere durch. Jim sitzt still dabei und beobachtet ihn. Nur manchmal lauschen sie, wenn in
der Ferne irgendwelche Geräusche sind. Aber sie bleiben immer noch ungestört. Es dauert eine Weile, bis Lige Morgan völlig klar sieht und über Thor Chisham Bescheid weiß. »Wenn ich ihn nicht ganz gewiss töten würde«, murmelt er, »dann könnte ich ihn auf eine andere Art vernichten. Er hat die Ranch hier gegründet, um möglichst unauffällig schmuggeln zu können. Er schmuggelt Waffen und Munition gegen Silber. Er verkauft Waffen an die Gegner der derzeitigen mexikanischen Regierung. Er unterstützt jene Kreise, die den Kaiser von Mexiko stürzen wollen. Dies hier ist sogar ein Aufruf der Regierung, in dem man für die Ergreifung des Anführers der Waffenschmuggler eine hohe Belohnung aussetzt. Wenn wir Thor Chisham mit diesen Papieren über die Grenze bringen und einer regierungstreuen Stelle übergeben, so ist er erledigt. Wir werden…« Weiter kommt er nicht. Jim löscht die Lampe. Sie nehmen einen Vorhang zur Seite und öffnen einen der Fensterläden um einen Spalt. Sie sehen Thor Chisham absitzen und das Pferd einem seiner Begleiter übergeben. Diese Begleiter – es sind die drei Ringolds – entfernen sich mit den Pferden zum Corral. Thor Chisham aber kommt auf das Haus zu. Er holt einen Schlüssel aus der Tasche, schließt das einzige Türschloss auf, welches es hier gibt, und tritt ein. Lige Morgan gibt ihm keine Chance. Er fand neben der Tür eine Schrotflinte im Gewehrständer. Und er schlägt den schweren Doppellauf auf Chishams Hut. Als Chisham erwacht, ist er gar nicht sehr überrascht. Denn nachdem sein Kopf wieder so weit ist, dass er trotz einiger Schmerzen und Übelkeit wieder denken kann, sagt er heiser: »Also doch. Ich wollte nicht glauben, dass du hinter mir her bist, Lige Morgan. Ich wollte es nicht glauben. Und ich war mir auch nicht sicher, dass du jener Mann bist, den die Sioux
erschlagen haben sollen und dessen Frau mir nach Kalifornien folgte. Aber du hättest mich nicht niederzuschlagen brauchen. Deine Frau und das Kind starben unterwegs eines sehr natürlichen Todes. Ich kann nichts dafür, denn…« »Ich bin das Kind, welches gestorben sein soll!«, sagt Jim. »Und wenn Sie wollen, dann zeige ich Ihnen meine Zehen. Ich bin der Junge, den Sie mit meiner Mutter im Stich ließen. Sie wollten Hilfe holen, Wasser, Pferde, Helfer. Doch als Sie ein Pferd beschafft hatten, ritten Sie weiter nach Westen – nicht nach Osten zurück, wo eine erschöpfte Frau und ein krankes Kind, die Ihnen vertraut hatten, auf Hilfe warteten. Sie ritten nach Westen. Doch zuvor hatten Sie die arme Frau auch noch bestohlen. Sie nahmen den Kasten mit und das Tagebuch, damit wohl niemand erfahren sollte…« Thor Chisham unterbricht ihn heiser. »Was wollt ihr von mir? Rache nehmen für etwas, was sich nicht ändern ließ? Mich umbringen, nur weil ich mein Leben retten konnte? Hört, ihr zwei Narren. Ich konnte den Indianern nur allein entkommen. Wäre ich bei der Frau und dem Kind geblieben, hätten mich die Indianer bestimmt erwischt und getötet. Und das Kind war schon so gut wie tot. Ich glaube nicht, dass die Indianer es gesund gepflegt haben.« »Doch, wir glauben es«, sagt Lige. »Und wir glauben auch, dass es deine Pflicht gewesen wäre, zurückzukehren.« Es entsteht eine längere Stille. Thor Chisham sitzt noch am Boden und betastet seinen Kopf und die blutige Beule darauf. Die beiden anderen Männer betrachten ihn schweigend. Und plötzlich erkennen sie, dass sie diesen Burschen gar nicht töten können. Nein, es geht nicht. Sie würden es nicht fertig bringen. Dies ist nur ein Feigling, der Frau und Pflegesohn in der Not sitzen ließ. Doch kann man einen Mann wegen seiner Feigheit umbringen? Lige und Jim blicken sich an. Sie brauchen kein Wort miteinander zu reden. Sie wissen plötzlich, dass es für sie keine
Befriedigung brächte, wenn sie diesen Mann töteten. »Ich werde dich bestrafen, Chisham«, sagt Lige Morgan hart. »Ich bringe dich nach Mexiko hinüber, mit all den Papieren und Unterlagen, die dich als Boss der Waffenschmuggler überführen. Du hattest meine Frau und meinen Jungen dazu gebracht, dir nach Kalifornien zu folgen. Doch unterwegs, als die Not groß war, liefst du davon und…« Seine Stimme versagt ihm vor Grimm. »Bestohlen hast du sie sogar noch! Das Schachspiel mitgenommen.« »Warum nicht?«, fragt Thor Chisham zurück. »Mary-Ann hatte immer behauptet, es wäre ein Vermögen wert. Ich glaubte das, denn ich war noch jung und hatte noch nie echte Edelsteine gesehen. Ich glaubte, dass es hunderttausend Dollar wert sei. Mit diesem kostbaren Ding hatte sie mich damals gelockt, diese Mary-Ann. Sie war nicht sehr mutig, nicht sehr tapfer und nicht sehr stark. Doch sie war sehr schlau. Sie wollte einen Ernährer für sich und ihr Kind. Und ich war ihr gerade richtig. Sie hatte sonst nicht viel. Der ganze Besitz brachte nicht viel mehr als zweitausend Dollar. Und wenn ein Mann wie ich schon eine Frau nimmt, die Witwe ist und schon ein Kind hat, dann muss sie schon mehr zu bieten haben. Ich dachte damals, dass die Schachfiguren eine Menge wert wären. Doch das war ein Irrtum. Ich konnte nur Indianer damit entzücken – oder Unwissende. Geldleute gaben dafür nicht viel. Nun, es war wohl mein gutes Recht, damals das Schachspiel mitzunehmen.« »Du Hundesohn«, sagt Lige knurrig. »Du hattest überhaupt keine Rechte. Du hattest nur Pflichten. Als du mit Mary-Ann und dem Kind auf den Weg nach Kalifornien gingst, hattest du die Pflicht, deine Familie heil und gesund hinzubringen oder es zumindest aus ganzer Kraft zu versuchen. Das war deine einzige Pflicht.« Es ist nun still. Sie schweigen und überlegen. Dann sagt Lige: »Jim, pack alles ein, was ihn belasten wird.
Nimm die Ledertasche und pack alles hinein. Wir bringen ihn mit dem Zeug zu den Mexikanern hinüber. Die werden sich freuen.« Jim gehorcht schnell, und er verspürt sogar eine gewisse Befriedigung dabei. Ja, es ist in seinem Sinne, dass dieser Mann jetzt für seine Feigheit und Schuftigkeit bezahlt. Jim packt die Abrechnungen, Quittungen und Briefe in die Tasche, die Aufschluss über den Waffenschmuggel geben. Dann ist er fertig und nickt Lige zu. »Fertig, Vater«, sagt er, und das Wort Vater kommt ganz selbstverständlich über seine Lippen. »Gut, mein Junge, gehen wir«, sagt Lige. »Ich gehe zuerst. Dann folgt Chisham. Und wenn er etwas macht, was uns nicht gefällt, dann schießt du, mein Junge, nicht wahr?« »Ja, dann werde ich schießen, Vater.« Sie treten unter dem etwas überragenden Hausdach hervor, haben den Gefangenen nun zwischen sich und wollen den Weg zu ihren Pferden antreten. Doch nun kommt die Überraschung. Sie kommen nämlich genau zehn Schritte weit. Dann krachen Revolver. Die Revolverschützen stehen bei den hinteren Hausecken und schießen ohne jede Warnung. An Jims Hüfte und über seinen Oberschenkel brennt es heiß entlang. Er wirbelt herum, stößt dabei einen schrillen und scharfen Schrei aus und beginnt auf die eine Hausecke zu schießen, indes er rückwärts läuft und die Ledertasche fest in der linken Hand hält. Rechts vor ihm wird Lige Morgan getroffen, fällt auf die Knie, feuert noch zweimal und ruft schmerzvoll: »Lauf, Junge, lauf!« Dann wirft sich Thor Chisham über ihn. Doch Jim feuert die letzte Kugel auf Chisham ab, trifft ihn und sieht noch, wie der Rancher über Lige Morgan liegen bleibt. Jims Waffe ist nun leer geschossen. Doch auch die
Revolvermänner, die hinter den Hausecken stehen und von Jims Kugeln in Deckung gehalten wurden, müssen nachladen. Jim spürt seine Streifwunde und läuft durch den Garten davon. Er weiß, dass es eine wilde Jagd geben wird. Die Ringolds hatten irgendwie herausbekommen, dass ihr Boss drinnen im Haus in Not geraten war. Und so hatten sie hinten und vorne gelauert. Jim erreicht die beiden Pferde, und unterwegs hat er schon überlegt, wie groß seine Chancen sind und was zu machen ist. Sein Vorsprung ist zu gering, und es ist eine mondhelle Nacht. Sie können seine Fährte nicht verlieren, werden ihn sogar zumeist in Sicht haben. Nein, er hat bei diesem kümmerlichen Vorsprung nicht viele Chancen, zu entkommen. Und so wagt er jetzt etwas, was vielleicht leichtsinnig ist: Er hängt die Ledertasche, in der sich all die Beweise gegen Thor Chisham befinden, ans Sattelhorn von Lige Morgans Pferd und gibt dem Tier einen heftigen Schlag. Dann sitzt er selbst auf und reitet davon. Als er die Deckung verlassen muss und über eine Ebene reitet, erblickt er die drei Ringolds ziemlich dicht hinter sich. Denn er musste ja den Weg zu seinem Pferd zu Fuß laufen, und es war eine Entfernung von fast einer halben Meile, weitab von der Ranch. Die Ringolds aber konnten dieses Stück reiten und aufholen. Doch all diese Not ist nichts gegen die immer wiederkehrende bange Frage: »Ist mein Vater, den ich heute wiederfand, tot?« Es ist schlimm für Jim, flüchten zu müssen und keine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Es ist schlimm. Und vielleicht ist es nur ganz natürlich, dass er sich in einem immer wilder und böser werdenden Zorn befindet, der ihn vielleicht noch dazu bringt, sich den Ringolds zum Kampf zu stellen.
Doch da hätte er wenig Chancen – nicht gegen die drei Ringolds! *** Doch indes dies alles auf der Chisham Ranch geschieht und Jim von den Ringolds gejagt wird, indes es ungewiss ist, was mit Lige Morgan und Thor Chisham geschah, da erlebt das Mädchen Nell Loke eine freudige Überraschung. Das Mädchen Nell Loke schreckt auf, als nach Mitternacht jemand an die Fensterläden klopft. Sie liegt bewegungslos und fast starr im Bett und hält den Atem an. Sie lauscht erschreckt, denn sie denkt an die drei Ringolds. Doch dann hört sie eine leise Stimme dicht am Fensterladen sagen: »Nell! Hörst du mich, Nell? Mach das Fenster auf! Ich bin es, Ringo, dein Bruder. Nell, wenn du dort drinnen bist und mich hören kannst, dann öffne mir!« Sie liegt immer noch ganz still und zittert nur. Sie hält das alles für einen schmutzigen Trick. Sie gleitet aus dem Bett, nimmt die Schrotflinte, die daneben an der Wand lehnt. Sie spannt die Hähne. Und dann tritt sie ans Fenster und ruft durch den geschlossenen Laden: »Scheren Sie sich zum Teufel! Gehen Sie von diesem Haus fort. Sie…« »Nell, ich bin es doch, ich, Ringo, dein Bruder!« Der Mann dort draußen ruft es nun laut, und es klingt so eindringlich und irgendwie freudig, dass sie unwillkürlich schweigt und sich ihre Gedanken zu jagen beginnen. Sollte Thor Chisham sie angelogen haben? Sollte Ringo am Leben sein? Ja, warum war man auf der Chisham Ranch so unfreundlich zu ihr? Warum gab Thor Chisham der Schwester eines seiner Vorleute, der doch für ihn oder zumindest für die Interessen der Ranch den Tod fand, nicht mehr Hilfe? Sie tritt noch dichter an den Fensterladen heran und spricht:
»Ringo, wenn du es bist, dann sag mir, wie viele Junge unser schwarzer Hund hatte, den wir Black Jack nannten?« »Wir hatten nie einen Hund«, klingt es sofort zurück. »Doch wir hatten damals als Kinder einen Kater, den wir ›Black Jack‹ nannten. Die weiße Katze ›Schneeball‹ bekam Junge von ihm. Und alle waren gescheckt.« Nun weiß es Nell Loke genau. Sie entspannt die Flinte, stellt sie so fort und öffnet das Fenster. Ein Mann schwingt sich zu ihr herein. Sie fällt in seine Arme. Denn es ist wirklich Ringo, der angeblich tot sein soll. Aber er lebt. Er ist sogar sehr lebendig, wenn auch sehr dünn und mager. Sie stehen eine Weile so und spüren ihren Herzschlag. »Liebe kleine Nell«, murmelt Ringo dann. »Liebe Nell, ich weiß schon alles. Ich habe Freunde in der Stadt Langtry. Sie sagten mir alles. Und ich weiß auch, dass ich als tot gelte. Ich war auch fast tot und lag viele Wochen krank danieder.« Er löst sich von ihr, schließt den Fensterladen und sagt: »Kannst du mir etwas zu essen machen, Nell? Ich nahm mir in Langtry keine Zeit mehr. Ich wollte zu dir, als ich hörte, dass du hier bist.« Sie berichtet Ringo alles, indes sie nach vorn in die Wohnküche gehen, die Lampe anzünden und Ringo im Herd das erloschene Feuer anfacht. Sie berichtet ihm ihren ganzen Weg und alle Abenteuer, während sie Kaffee kocht und das Essen wärmt, welches für Lige Morgan und Jim bestimmt war. Zwischendurch betrachten sie sich, und es entgeht ihr nicht, wie hager und blass ihr Bruder noch ist. Als sie das Essen auf den Tisch bringt, weiß er alles in den wesentlichsten Dingen. Und er sitzt einen Moment mit gesenktem Kopf da. Er denkt wohl an den Bruder, mit dem es ein schlimmes Ende fand. Und er schüttelt traurig und mit starkem Bedauern den Kopf.
Doch dann siegt sein Hunger. Schließlich beginnt er zu sprechen. »Ich war ebenfalls ein schlimmer Bursche, Nell. Und ich tauge nicht viel. Ich musste damals kurz nach dem Krieg ins Pecos-Land flüchten, denn ich habe zu Quantrills Leuten gehört, die sich nach Friedensschluss nicht der Besatzungsarmee stellten. Ich wurde ein Satteltramp und ein Revolverheld. Eines Tages erwischten mich die Texas Rangers. Ich dachte, dass es jetzt aus mit mir wäre, doch sie machten mir einen Vorschlag. Sie wollten mich als Spion, und sie sicherten mir Straffreiheit zu. Sie stellten mir in Aussicht, dass ich eines Tages wieder aus dem Pecos-Land fort und überallhin reiten könne, ohne befürchten zu müssen, verhaftet zu werden. Ich schlug ein. Und so schickten sie mich zur Chisham Ranch. Ich sollte dort spionieren und meine Beobachtungen an Verbindungsleute weitergeben. Es ist nämlich so, dass Thor Chisham Waffen nach Mexiko schmuggelt und dafür von seinen mexikanischen Geschäftspartnern hauptsächlich Silberbarren bekommt.« Er verstummt und isst und trinkt wieder eine Weile. Dann spricht er weiter: »Ich wurde nach einiger Zeit sogar Vormann auf der Chisham Ranch – zumindest eine Art Vormann. Und ich wurde Schmuggler. Nun, ich schrieb damals an euch, dass es mir gut ginge und ich Vormann wäre. Ich wollte euch beruhigen. Ich dachte nicht, dass ihr euch auf den Weg zu mir machen würdet. Ich glaubte euch daheim besser aufgehoben.« Wieder verstummt er, und nun starrt er ins Leere. »Thor Chisham bekam dann irgendwie heraus, dass ich in Verbindung mit den Texas Rangers stehe«, sagt er dann bitter. »Er schickte mich unter einem Vorwand nach Mexiko und ließ mich dort niederschießen. Es waren die Ringolds. Sie ließen mich für tot liegen. Doch ich war nicht tot. Männer, denen ich in Chishams Auftrag mal Waffen brachte, fanden mich und pflegten mich gesund. Und nun bin ich gekommen, um mit
Chisham und den Ringolds abzurechnen. Ich konnte zwar keine Beweise finden und sammeln, die vor einem ordentlichen Bundesgericht…« Er verstummt und lauscht. Dann springt er plötzlich auf und sagt: »Da kommt ein Pferd. Doch ich glaube nicht, dass es geritten wird.« Er erhebt sich, rückt seinen Revolver zurecht und gleitet hinaus ins Freie. Nell holt erst die Schrotflinte. Dann folgt sie ihm. Und sie ist entschlossen, bei ihm zu bleiben in jeder Gefahr. Sie brauchen nicht lange zu warten, dann sehen sie das Pferd angetrabt kommen. Sie erkennt es sofort. Es ist Lige Morgans Pferd. Etwa eine halbe Stunde später wissen sie gut Bescheid, denn sie haben die Ledertasche mit ins Haus genommen, geöffnet und den Inhalt geprüft. Und sie fanden noch etwas – nämlich das Tagebuch von Jims Mutter. Nell sagt: »Jetzt weiß ich alles! Hier in diesem Buch steht es! Lige Morgan war hinter jenem Mann her, der damals die Frau mit dem kleinen Kind im Stich gelassen hatte. Und jenes Kind von damals ist Jim Pecos! Ich weiß es! Hier steht es auch! Seine Zehenspitzen wurden einmal von einem eisernen Radreifen abgefahren. Ich – ich habe einmal Jims Fuß ohne Strumpf gesehen. Oh, es muss auf der Chisham Ranch etwas geschehen sein. Und…« »Es gibt Arbeit für mich«, sagt Ringo Loke. Er legt all die Papiere wieder in die Tasche. »Das sind die Beweise, die die Texas Rangers gerne beschafft haben wollten. Nun gut. Ich werde dafür meinen Preis zahlen. Ich werde zusehen, was ich für Jim und Lige Morgan tun kann.« Er betrachtet die Schwester ernst. »Versteck die Tasche gut und gib sie nicht heraus. Bleib im Haus und lass keinen Menschen zu dir herein. Es ist möglich, dass Lige Morgan vom
Pferd geschossen wurde und – nun, ich werde sehen. Ich reite, Schwester.« Er tritt schnell zu ihr und küsst sie auf die Stirn. Bevor sie ihn anfassen kann, wirbelt er herum und eilt hinaus. Irgendwo dort draußen stand sein Pferd. Nell hört nun den Hufschlag leiser werden. Sie schließt langsam die Tür ab und legt den Riegel vor. Dann nimmt sie die Tasche und überlegt, wo sie diese verstecken könnte. Dabei verspürt sie Furcht, Furcht um den Bruder. Furcht um Jim und Furcht um Lige Morgan. *** Um diese Zeit schießt Lee Ringold sein Gewehr ab und trifft Jims hinkendes Pferd. Das Tier stürzt und wirft Jim in einen Stachelbusch. Er verliert dabei seinen Revolver und kriecht blutend heraus, mit bösen Stacheln bespickt, den Stiefel voller Blut, erschöpft und noch vom Sturz halb benommen. Er hatte Pech gehabt, dass sein Pferd schon bald zu lahmen begann. Und er hatte keine Zeit gefunden, nach der Ursache des Lahmens zu forschen. Nun haben sie ihn. Sie kommen die letzten paar Yards ganz langsam herangeritten, halten im Halbkreis vor ihm an und betrachten ihn. Sie keuchen dabei und sind staubig und gleichfalls ziemlich erschöpft. Ihre Pferde sind mit Schweiß und flockigem Schaum bedeckt und atmen rasselnd. Als sie absitzen, schwanken die Tiere. »Nun gut«, sagt Lee. »Jetzt können wir ihm den Rest geben. Er hat nicht einmal mehr seinen Revolver. Und das will der berühmte Jim Pecos sein, der die Clayborne-Sippe erledigte und von dem man sich Wunderdinge erzählt?« Er zieht den Revolver. »He, Pecos!«, ruft Curly Dick und gibt seinem Bruder Lee ein Zeichen, noch etwas zu warten. »He, Pecos, was soll ich
dem Mädel von dir bestellen? War es schön mit ihr? Was muss man tun, um bei ihr Glück zu haben?« Jim betrachtet ihn. Er hat nun wieder einen etwas klareren Kopf und begreift, dass er etwas tun muss, etwas in Gang bringen muss, wenn er sein Leben retten will. Er sagt: »Wenn ihr mich umbringt, wird Thor Chisham euch bis in alle Ewigkeit verwünschen.« »Oh, warum sollte er das?«, fragt Lee Ringold sofort, und seine Stimme klingt kühl und wachsam. Jim versucht ein Lächeln. Doch es ist nur ein verzerrtes Grinsen. »Weil wir Thor Chishams Geldschrank geöffnet und aus ihm allerlei Papiere und Beweise entnommen haben«, sagt er. »Und weil er das ganze Zeug gerne wieder in seinem Besitz hätte, sollte er nicht tot sein und die Chance haben, gesund zu werden. Gentlemen, ich habe eurem Boss eine Menge Zeug entführt, und ihr könnt es nicht zurückbekommen, wenn ihr mich jetzt umbringt.« Sie denken über seine Worte nach. Und dabei kommt ihnen wieder zu Bewusstsein, dass sie wirklich zu schnell hinter ihm hergesaust sind, zu hastig und zu schnell, ohne nachzusehen, was aus Lige Morgan und Thor Chisham wurde. Das überließen sie den Mexikanern, die von ihrem nahen Dorf herüberkamen. Keiner von ihnen könnte sagen, ob Chisham noch lebt. Sie sahen ihn nur über Lige Morgan fallen. Lee steckt plötzlich den Revolver weg und sagt: »Er hat Recht, der liebe Pecos-Junge, er hat wahrhaftig Recht! Wenn der Boss noch lebt, wird er seine Papiere oder was sonst noch aus dem Geldschrank entnommen wurde, zurückhaben wollen. Und dazu brauchen wir den lieben Jimmy vom Pecos!« Seine Stimme klirrt zum Schluss voller Härte und kaltem Spott. Er tritt näher an Jim heran und beugt sich etwas vor. »Wo hast du denn das Zeug, das du Chisham weggenommen hast? Wo hast du es verborgen, Pecos-Junge?« Jim blickt ihn fest an. »Irgendwo ist es! Ich werde mit
Chisham einen Handel machen. Und wenn er tot ist, werde ich sicherlich mit euch einen Handel machen. Bringt mich erst einmal zurück. Doch sagt mir eines: Wie konntet ihr wissen, dass Thor Chisham in unserer Gewalt war?« Nun lächeln alle drei Ringolds auf eine selbstgefällige Art. »Wir sind keine Anfänger«, sagt Curly Dick dann gönnerhaft. »Wir sind gewöhnt, Licht durch die Ritzen der Fensterläden schimmern zu sehen, wenn der Boss im Hause ist. Der Boss ging nie im Dunkeln durch das Haus und so schnell zur Ruhe. Er machte immer erst Licht und trank ein Glas. Nun, als wir kein Licht durch die Fensterläden sahen, ging ich noch einmal leise zum Haus hinüber und lauschte unter den Fenstern. Ich steckte mein Messer durch eine Fensterladenritze und stieß durch einen Vorhang ein Loch. Es war nur ein kleines Loch, doch ich konnte sehen, dass kein Licht brannte. Ich konnte eure Stimmen hören. Es war uns klar, dass Thor Chisham überrumpelt worden war. Und so warteten wir auf euch. Als Chisham aus dem Haus trat, sagte er laut genug: ›Das werdet ihr noch bedauern, ihr zwei Narren!‹ Diese Worte sagte er etwa. Sie waren für uns das Zeichen. Jetzt weißt du es also, Pecos. Und vielleicht bist du jetzt genauso freundlich wie wir und sagst uns auch etwas, was wir gerne wissen möchten. Warum seid ihr hinter Chisham her?« Jim sagt es ihnen. Er sagt es ihnen in kurzen Worten, und er verspürt dabei die leise Hoffnung, dass sie nun Verständnis für ihn und Lige Morgan haben. Doch sie grinsen nur und geben mit leisen Lauten ihr überraschtes Staunen kund. »So einer ist Thor Chisham also«, murmelt Lee Ringold. Curly Dick pfeift durch die Zähne. Und Brack Ringold sagt nur: »Oha, oha!« Dann sagt Lee: »Weil du so nett warst, wirst du nicht laufen müssen. Wir werden dich abwechselnd zu uns aufs Pferd nehmen.«
Etwa eine Stunde später weiß Jim, dass Lige Morgan noch lebt. Und auch Thor Chisham lebt noch. Doch sie sind beide bewusstlos, und aus Paradise wurde ein Mann geholt, der vorgibt, Arzt zu sein, und als solcher eine Praxis eröffnete. Doch was der Mann auch sein mag – er versteht etwas von Schusswunden und Entfernen von Kugeln aus menschlichen Körpern. Jim und die drei Ringolds sitzen im großen Wohnzimmer des Ranchers herum, das ja zugleich sein Arbeitszimmer und Büro ist. Sie warten. Sie alle sind müde. Doch ihre innerliche Anspannung hält sie wach. Sie warten mit immer größer werdender Ungeduld. Die Ringolds haben Jim nicht gefesselt. Das haben sie nicht nötig. Er ist waffenlos, und er könnte nicht entkommen. Sie sind keine zweitklassigen Revolvermänner wie die Claybornes. Sie lassen sich Kaffee und ein Frühstück herüberbringen. Auch für Jim gibt es Frühstück. Als sie damit fertig sind, ist auch der Doc fertig und schickt die beiden Mexikanerinnen fort, die ihm geholfen haben. Er wäscht sich am Waschständer in der Ecke die Hände. »Sie werden beide am Leben bleiben«, sagt er dann. »Mr. Chisham bekam von hinten eine Kugel in die Schulter. Doch die Lunge blieb unverletzt. Er verlor ziemlich viel Blut und erlitt wohl auch einen ziemlichen Schock. Ich habe die Kugel entfernt. Er wird im Laufe des Tages aufwachen.« »Und Lige Morgan? Was ist mit ihm?« Pecos entfahren diese Worte. Er erhebt sich von seinem Sitz und macht zwei Schritte auf den Arzt zu. »Der andere Mann hat drei Wunden«, sagt der Arzt. »Es sind Fleischwunden, die einen starken Blutverlust verursachten. Ich bekomme dreißig Dollar für meine Bemühungen und zwanzig Dollar für all die Dinge, die ich verbrauchte. Es ist sehr schwer, Watte, Binden, Pflaster und
Medikamente zu besorgen. Ich bekomme fünfzig Dollar.« Bei seinen Worten schielt er auf den noch halb geöffneten Geldschrank in der Ecke. Lee Ringold erhebt sich, geht hin, öffnet ihn und holt Geld heraus. Er legt dem Arzt zwei Zwanzigdollarstücke hin und sagt: »Vierzig Dollar sind genug, Doc! Werden Sie nicht unverschämt! Lassen Sie sich drüben in der Küche ein Frühstück geben und verschwinden Sie.« »Ich muss morgen wiederkommen«, sagt der Mann. »Ich komme für zehn Dollar wieder.« »Sie kommen wieder her, weil ich es so will«, sagt Lee Ringold mit kühler Stimme. Der Arzt blickt ihn seltsam an, doch es ist ein Blick, den man nicht deuten kann. Dann nimmt er das Geld, packt seine Tasche und geht hinaus. Die Männer schweigen und warten. Es dauert nicht lange, da erwacht Thor Chisham. Sie gehen alle hinein in das andere Zimmer. Jims Blick richtet sich auf das Bett, in dem Lige Morgan liegt. Er geht zu seinem Vater hinüber, setzt sich auf den Bettrand und betrachtet ihn. Jim blickt in das jetzt so blutleer und unter der wettergebräunten Haut so blass wirkende Gesicht des Vaters. Es ist eingefallen und erschlafft. Man erkennt nun, dass er ein alter Mann ist, alt geworden von all den langen Wagentrecks durch raues und gefährliches Land. Neben dem Bett liegen Lige Morgans Weste und die Jacke. Denn die Nacht war ja frisch und kalt gewesen. Jim erinnert sich plötzlich daran, dass Lige Morgan in seiner Jacke stets einen kleinen Colt-Derringer trägt, den er einmal einem betrügerischen Kartenhai abgenommen hat, als dieser auf ihn anlegte. Ob diese kleine Waffe immer noch in der Jackentasche ist? Diese Frage stellt sich Jim. Er blickt auf die Ringolds. Diese
lauschen jetzt auf Thor Chishams schwache Stimme, die irgendwelche Fragen stellt. Lee Ringold beantwortet diese Fragen immer geduldig. Jim hört ihn jetzt sagen: »Nein, wir haben noch nicht wiederbeschaffen können, was aus dem Geldschrank geraubt wurde. Doch wir haben Jim Pecos in unserer Hand. Er wird uns sicherlich sagen, wo er das Zeug versteckt hat, wenn er damit sein und Lige Morgans Leben retten kann.« Als er verstummt, ist es eine Weile still. Die Ringolds stehen dicht bei Chisham am Fuße oder an der Seite seines Bettes. Sie betrachten ihn aufmerksam. Denn seine Stimme klingt leise und ist manchmal undeutlich. Sie müssen die Worte oft von seinen Lippen ablesen. Doch als er nun spricht, tönt seine Stimme lauter und klarer als zuvor. Ein wilder Zorn und der Wunsch nach Vergeltung erwecken in ihm noch einmal Kraft und Energie. Er sagt heiser: »Schneidet seine Haut in Streifen, dann wird er sagen, wo er mein Eigentum versteckt hat. Ich tausche es nicht gegen sein und Lige Morgans Leben ein! Los, fangt an mit ihm! Holt die Beichte aus ihm heraus! Ich will eine Weile schlafen, denn ich fühle mich so schwach und müde. Doch wenn ich aufwache, will ich die ganze Sache erledigt haben!« Nach dieser letzten Kraftanstrengung versinkt er in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf. Die drei Ringolds richten sich auf, wenden sich um und sehen Jim Pecos an. Dieser steht nun am Bett des Vaters, und er hat den kleinen Derringer in der Jackentasche finden und in seine Hosentasche stecken können. Doch was ist schon ein Derringer gegen die drei Ringolds? Gar nichts! Denn in dieser kleinen und doppelläufigen Waffe, die man in einer Männerhand verbergen kann, sind nur zwei Kugeln. Man kann nur die beiden Doppelläufe abfeuern, also nur zwei Kugeln verschießen. Die Treffsicherheit ist auch
nicht groß. Nur aus der Nähe wirkt die Waffe etwa wie ein Colt. Jim ist also bewaffnet, doch sehr unvollkommen. Die Ringolds haben vor einem Derringer sicherlich nicht viel Respekt. Er könnte im günstigsten Fall auch nur zwei der Ringolds ausschalten. Der dritte Ringold jedoch würde ihn töten. Sie sehen ihn an. Dann spricht Lee Ringold kühl: »Also, Jim, Pecos-Junge, gehen wir hinaus. Lassen wir die beiden Männer ruhen. Gehen wir!« Er nickt den Brüdern zu, damit diese vorgehen. Dies tun sie, zuerst Curly Dick, dann Brack. Jim hört, wie sie durch den vorderen Wohnraum gehen und aus dem Haus treten. Die Fensterläden sind noch geschlossen, und es brennen auch noch die Lampen. Doch durch die offenen Türen fällt von draußen Tageslicht herein, durch den Wohnraum bis ins Schlafzimmer. Lee blickt Jim an und sagt knapp: »Vorwärts, mein Freund! Du sitzt schlimm in der Tinte! Sag uns, wo das Zeug versteckt ist, und wir machen es kurz mit dir.« Weiter kommt er nicht. Jim stellt sich breitbeinig hin und schiebt wie trotzig die Hände in die Hosentaschen. Es sieht so aus, als wolle er damit ausdrücken: Ich stehe hier und bewege mich nicht. Wenn ihr mich draußen haben wollt, dann müsst ihr mich hinaustragen. So sieht es aus. Doch seine Hand umfasst die kleine Pistole in der Tasche. Lee Ringold bemerkt wohl die Bewegung seiner Finger. Vielleicht erkennt er durch den Stoff der Hose, dass Jim in der Tasche einen Gegenstand umfasst. Er schnappt plötzlich nach dem Revolver – blitzschnell und mit einem Einatmen, welches ein scharfes, pfeifendes Geräusch ist.
Er ist schnell, so schnell, wie Jim noch keinen Revolvermann ziehen sah. Doch Jim ist schneller. Er schießt durch die Hose, und er drückt beide Läufe ab. Er setzt alles auf eine Karte, und seine beiden Kugeln treffen auch wirklich. Dabei spielt ganz gewiss das Glück eine große Rolle, denn es ist wirklich ein Glücksspiel, mit solch einer kleinen Waffe, ohne zu zielen, nur nach dem Gefühl, aus der Tasche zu schießen. Nur ein verzweifelter Mann, der genau weiß, dass er einen Gegner wie Lee Ringold nicht zum Schuss kommen lassen darf, wagt eine solch verzweifelte Sache. Beide Kugeln treffen Lee Ringold in jenem Moment, da dieser die Mündung seines Revolvers auf Jim richten will. Sie stoßen ihn zurück. Jim springt seinen Kugeln nach, denn er weiß, dass es jetzt darauf ankommt, einen Colt in die Hand zu bekommen. Jim schafft es. Er kommt an den schwer getroffenen Lee Ringold heran und entreißt ihm mit der Rechten den Revolver. Er achtet nicht mehr auf Lee Ringold, sondern wirbelt geduckt herum und schießt durch die Tür, durch die Curly Dick Ringold mit gezogenem Revolver kommen will. Doch Curly Dick zuckt im selben Moment zurück, schießt dabei. Jim spürt die Kugel dicht an der Wange. Er hört Curly Dicks Aufschrei und weiß, dass er ihn zumindest leicht verwundet hat. Doch dann muss er in Deckung. Curly Dick und Brack schießen durch die offene Tür ins Schlafzimmer, und sie ziehen sich dabei sicherlich in die geschützten Ecken des Wohnraumes zurück. Es wird einige Atemzüge lang still. Dann sagt Curly Dicks Stimme heiß und hassvoll: »Junge, das hast du gut gemacht. Du bist sogar mit Lee fertig geworden. Doch wir bekommen dich bestimmt! Wir jagen dich von dieser Erde, darauf kannst du wetten.« Wieder wird es still. Dann hört Jim ein schleifendes und
schabendes Geräusch. Er richtet den Revolver auf das offene Türrechteck. Ein Revolver und eine Hand werden nun sichtbar. Es muss Brack Ringolds Hand sein. Brack schießt nun seinen Revolver leer. Er feuert in alle Richtungen, und er schießt blind. Jim schießt sorgfältig zielend. Er trifft Colt und Hand. Brack stößt einen Schmerzenslaut aus. Dann ist es wieder still. Doch draußen ist es laut. Gewiss kommen alle Hilfskräfte der Ranch, die zurzeit hier sind, herbeigelaufen. Jemand von den beiden Ringolds ruft jetzt nach draußen: »He, Miguel! Setz dich auf dein Pferd und holt die Jungs vom Santana Creek herbei!« Jim hört es. Es war Curly Dicks Stimme. Und er weiß auch, dass am Santana Creek einige besonders harte Burschen auf einem Vorwerk stationiert sind. Wenn diese harten Burschen hier eintreffen, wird er nicht mehr lange leben. Er hört nun Curly fragen: »Bruder, was ist mit deiner Hand?« »Nur ein Kratzer. Es war ja auch die Linke. Stoß mir den Colt herüber. Er wurde auf deine Seite geprellt.« Jim sieht und hört, wie der Revolver vor der offenen Tür auf die andere Seite schlittert. »Was machen wir nun, Curly?«, fragt Brack ungeduldig. Curly scheint nachzudenken. Dann sagt er laut: »Jim Pecos?« »Ich höre euch«, sagt Jim. Dann sagt Curly Dicks Stimme: »Es ist nicht gut für unser Prestige in diesem Land, wenn wir dich nur mit Hilfe der Jungs vom Santana Creek bekommen. Wir müssen dich allein erledigen. Und so machen wir dir einen Vorschlag: Komm heraus! Stell dich! Dann geben wir dir unser Wort, dass dein Vater vom Doc in die Stadt gebracht werden wird. Der Doc ist noch auf der Ranch und…«
»Er soll mit einem Helfer hereinkommen, meinen Vater herausholen und in einen Wagen legen. Er soll mit dem Wagen die Ranch verlassen. Ich kann es durch eines der Fenster kontrollieren. Wenn der Wagen fort ist, werde ich kommen.« Erst nach einer Weile sagt Curly Dick heiser: »Gut, gut, mein Junge! Das kannst du haben. Wenn du nachher nicht kommen solltest, so holen wir den Wagen rasch wieder ein und haben deinen Vater in unserer Hand.« Jim wartet, und er hockt mit gezogenem und schussbereitem Colt in der Ecke hinter einem Ledersessel, dessen Polster jede Kugel auffangen kann. Dann kommt der Arzt mit einem Mexikaner herein. Sie haben beide die Hände erhoben und bewegen sich langsam. Der hagere Arzt wirkt sehr bleich und hat Schweiß im Gesicht. Aber er sagt: »Wenn ich mit dem Kranken in die Stadt komme und nicht daran gehindert werde, will ich für ihn sorgen.« »Miss Nell Loke wird Sie dafür bezahlen«, sagt Jim. Dann sieht er zu, wie sie Lige Morgan hinaustragen. Ein starkes Bedauern ist in ihm. Es wäre alles so gut und so schön geworden. Er hatte seinen Vater gefunden. Und er hätte vielleicht eines Tages auch Nell erringen können. Doch nun… *** Ringo Loke lauert schon in der Nähe der Ranch. Als er den Doc mit dem Wagen kommen sieht, tritt er an den Rand des Weges und winkt. Der Doc hält an, betrachtet ihn und sagt: »Ich denke, Sie sind tot, Ringo. Das ganze Land glaubt, dass Sie tot wären. Dieser Mann da hinter mir im Wagen wird vielleicht leben. Doch jenen Jim Pecos, den töten sie jetzt gleich. Er hat Lee Ringold getötet. Und nun stellt er sich den beiden anderen
Ringolds zum Revolverkampf, damit ich diesen Mann hier…« Weiter hört Ringo Loke nicht zu. Er wirbelt herum und läuft zu seinem Pferd, welches hinter den Büschen angebunden ist. Er gibt dem Tier dann heftig die Sporen. Und er kommt auf den Ranchhof, als drüben Jim Pecos aus dem Haus tritt. Die Ringolds stehen beim Brunnen rechts und links davon. Curly Dick ist es, der vortritt und damit zu erkennen gibt, dass er es zuerst mit Jim austragen will. Er zieht wortlos und schießt. Er ist nicht schneller als Jim. Und er trifft ihn sogar. Doch auch Jim trifft ihn, und er trifft ihn besser. Und dann steht Jim schwankend da, spürt, dass er hoch in der Schulter getroffen wurde, und erträgt stöhnend den Schmerz, der nun mit dem scharfen Schock durch seinen Körper jagt. Curly Dick liegt am Baum. Jim wendet den Kopf. Er blickt auf Brack Ringold und sieht ihn am Boden liegen. Nun erst erinnert er sich an andere Schüsse. Er sieht einen großen, dunklen und etwas mageren Burschen auf sich zukommen: »Nur nicht schießen«, sagt der Bursche und lächelt blitzend. »Denn ich bin Ringo Loke, Nells Bruder. Ich bringe dich zu Nell. Ich hielt dir Brack Ringold vom Leib. Willst du zu Nell?« »Das wäre wohl gut«, murmelt Jim und spürt, wie ihm die Knie weich werden. *** Nell Loke sieht sie kommen. Ringo hat Jim vor sich auf dem Pferd. Und das Pferd geht im Schritt. »Spann nur den Wagen an, Schwester«, sagt Ringo. »Wir müssen ihn nach Paradise bringen. Und dort ist Lige Morgan gewiss schon angekommen…« Und das Ende der Geschichte?
Nun, die Texas Rangers kamen über den Pecos. Sie holten die Beweise gegen Thor Chisham und nahmen auch diesen mit. Lige und Jim Morgan und die Geschwister Loke siedelten einige Tage später sogar wieder in jenes Blockhaus über, welches Lige Morgan gemietet hatte. Und die Banditen in Langtry behelligten sie nicht. Sie waren sogar froh, dass man ihnen eine unliebsame Konkurrenz vom Hals geschafft hatte. Es vergingen Wochen und Monate. Es war dann April, als die fahrende Schlange wieder unterwegs nach Kansas City war. Jim und Nell reiten mit Lige an der Spitze. Und Jim sagt jetzt: »Wir wollen in Kansas City heiraten, Vater! Doch ich glaube nicht, dass ich Frachten fahren werde. Ich…« »Das ist richtig, mein Junge! Sollst du auch nicht! Denn die Zeiten der fahrenden Schlangen sind bald vorbei. Man wird Eisenbahnen bauen. Ein Mann sollte sich jetzt nach einem festen Platz umsehen und etwas aufbauen, was ihn überlebt. Eine Ranch mit Pferden zum Beispiel, wenn er was von Rindern und Pferden versteht.« ENDE