REIHE DER VILLA VIGONI Deutsch-italienische Studien Herausgegeben vom Verein Villa Vigoni e.V.
Band 20
Die Grand Tou...
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REIHE DER VILLA VIGONI Deutsch-italienische Studien Herausgegeben vom Verein Villa Vigoni e.V.
Band 20
Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne Herausgegeben von Joseph Imorde und Jan Pieper
Max Niemeyer Verlag T*bingen 2008
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet *ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-67020-4
ISSN 0936-8965
6 Max Niemeyer Verlag, T*bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch*tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul@ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f*r Vervielf@ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest@ndigem Papier. Satz: blotto design, Berlin Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Aldo Venturelli Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jan Pieper Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne – Zur Einführung
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Stefan Schweizer »Ein herrliches Bild der Geschichte der Baukunst«– Architektenreisen
zwischen beruflicher Bildung und Epochenimagination (1750–1850) Susanne Deicher Kunstform und Ursprung
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9
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31
Christina Ujma Roma Capitale oder Roma Eterna – Zur literarischen Rezeption des modernen Rom
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Joseph Imorde Antiklassik – Deutsche Michelangelo-Identifikation Maria Ocon Fernandez Die Grand Tour – Spanien: Ein »open issue«
65
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81
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101
Jan Pieper Tony Garnier – Das Romerlebnis und die Cité Industrielle (1901–1904)
......
131
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151
Regina Stephan »Uns bleibt nur Demut und Bewunderung« – Erich Mendelsohn 1911 in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
Martino Stierli Transatlantischer Ideentourismus – Robert Venturi, die Grand Tour und die italienische Architektur
189
Andreas Zeising Los von Italien! Karl Schefflers »Tagebuch einer Reise«
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Petra Richter »Ed io anche son’ in arcadia« – Deutsche Künstler im Dialog mit Italien Erik Wegerhoff Auf der Suche nach dem verlorenen Kanon
.....
225
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247
Stephan Y. Dietrich Der Neubau der Italienischen Botschaft am Berliner Tiergarten
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Klaus Theo Brenner Die Modernität italienischer Stadtarchitektur und ihre Bedeutung als Referenz für zeitgenössische Entwurfsexperimente
....
259
273
Aldo Venturelli
Grußwort
Es ist für das Deutsch-Italienische Zentrum Villa Vigoni eine besondere Freude, in seiner im Max Niemeyer Verlag erscheinenden Reihe den von Joseph Imorde und Jan Pieper herausgegebenen Sammelband zu veröffentlichen. Dieser Sammelband mit dem Titel Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne vereinigt die wichtigsten Ergebnisse der Tagung Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne. Italienerfahrung als Bildungsaufgabe in Architektur, Kunst und Kunstwissenschaft, die im Jahr 2005 in der Villa Vigoni stattgefunden hat. Der ursprüngliche Reiseweg der Grand Tour, wie ihn Jan Pieper in seiner Einführung meisterlich darstellt, sah gewöhnlich keine Etappe am Comer See vor. Dies änderte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Comer See für Reisende aus den verschiedensten europäischen Ländern, die in Italien ihre Bildung vervollkommnen wollten, zu einer wichtigen Station wurde. Der Sammelband ist somit unmittelbar mit Aspekten der historischen und kulturellen Realität der Villa Vigoni verbunden. Die Analyse dieser Realität widmet sich vor allem der Rekonstruktion des künstlerischen und landschaftlichen Erbes der historischen Villen am Comer See. Dieses Thema wurde im Rahmen verschiedener Initiativen der Villa Vigoni behandelt. Unzweifelhaft ist die Präsenz Heinrich Mylius’ nicht unmittelbar mit der Geschichte der Grand Tour verbunden. Mit Mylius’ Kauf der Villa Vigoni im Jahr 1829 begann deren Geschichte; fast zeitgleich, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde die Familie Sachsen-Meiningen Eigentümerin der Villa Carlotta; diese beiden Villen sind durch ihre Geschichte auf mehrfache Weise miteinander verbunden. Ihre Gärten sind noch heute Zeugnisse für die Reichhaltigkeit und die Tiefe des interkulturellen Dialogs, der durch die Grand Tour und andere Kommunikationsformen die herausragendsten europäischen Eliten miteinander verband; zumindest bis zum plötzlichen und unerwarteten Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Folgerichtig stellt der Sammelband eine direkte Beziehung zwischen der Grand Tour und einer Definition von kanonischen Werten einer allgemeinen Idee von Bildungsauffassung her. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl der Bildungsgedanke an sich als auch die Definition eines kulturellen Kanons an Einfluss verloren, nahm auch der Einfluss der Grand Tour ab bzw. veränderte sich. Gerade hierin besteht der Verdienst dieses Sammelbandes: in der genauen und sorgfältigen Untersuchung dieses Transformationsprozesses der Grand Tour bis zur Schwelle unserer heutigen Zeit. Wünschenswert wäre es, wenn diese Analyse des Transformationsprozesses eine Neudefinition eines Bildungsideals nach sich ziehen könnte, die sich in adäquater Weise der zunehmenden Fragmentierung und Dispersion des heutigen Lebens entgegensetzt. Wenn
2 diese neue Bildungsauffassung zu neuen Formen der Grand Tour führen sollte, werden sich die Türen der Villa Vigoni gerne neuen Reisenden öffnen. Es lässt sich sagen, daß die Wiederbelebung der Grand Tour zumindest teilweise durch die stetig wachsenden Aktivitäten des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni Wirklichkeit geworden ist. Aus diesem Grund freut sich die Villa Vigoni besonders, durch die Veröffentlichung dieses Sammelbandes, einen Beitrag zur erneuten Reflexion über ein solch wichtiges Phänomen der europäischen kulturellen Identität leisten zu können.
Jan Pieper
Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne Zur Einführung Als Federico Zuccari testamentarisch seinen Palast an der Via Sistina den Künstlern aus Flandern und Deutschland zur Verfügung stellte, fragte niemand, welchen Zweck diese Stiftung verfolgen sollte. Sie bediente die seit Anfang des 16. Jahrhunderts feststehende Gewohnheit nordeuropäischer Künstler, in Rom die Kunst der Antike und der Renaissance zu studieren. Die Tramontani, neben den Pilgern die zweite große Gruppe der Romfahrer, schulten sich in Rom an der Antike, die sie dort – und eben nur dort – studieren konnten und studieren mußten, da alle Kunst bis zum Ende des Historismus die absolute Beherrschung des klassischen Regelwerks voraussetzte. Nur in der eigenen Anschauung der Ruinen Roms, im eigenen Aufmaß der allenthalben noch in situ befindlichen Architekturfragmente der Säulen und Kapitelle konnten die Architekten den Kanon verinnerlichen, dem alle klassisch inspirierte Architektur bis ins 19. Jahrhundert unterworfen war. Nur so war es möglich, über Vitruv hinauszugehen und vor den Ruinen die Desiderate seines Traktes zu erarbeiten. Und nur in der eigenen Skizze der noch vorhandenen, wenngleich umgenutzten Großbauten, die das rekonstruierende Auge von allem späteren Beiwerk in der architektonischen Idealvedute ergänzte, konnte eine Vorstellung von den Typologien der klassischen Architektur gewonnen werden. Maler und Bildhauer, die oft gleichzeitig Architekten waren und somit gleichermaßen an den antiken Bauten interessiert sein mußten, hatten darüber hinaus in Rom die Gelegenheit, an den Statuen, die die Antikensucht der Päpste in den Jahrhunderten der Renaissance und der Barocke zu Tage förderte, das antike Ideal des menschlichen Körpers, die klassische Sicht auf seine Proportionen und die Ausdruckskraft der schon im Altertum kodifizierten Gesten- und Gebärdensprache zu studieren. Die einzigartige römische Durchdringung von Baukunst, Topographie und Natur, die als »Paysage Romain« aus Ruine in parasitärer Umnutzung und einer darüber hinweg wuchernden Vegetation überhöht wurde, lieferte zudem seit Claude Lorrain die Vorlage für alle Sehnsuchtlandschaften der Malerei, denen jede Epoche vom Klassizismus bis zur Romantik und zum Symbolismus neue Aspekte abgewinnen konnte. Schließlich war der Weg nach Rom unendlich lang, und er führte über die Wildnis der Alpen in ein für die Nordländer unbekanntes, mildes Klima, in eine paradiesische Landschaft, durchflutet von einem einzigartigen Licht, das den Malern allein schon Grund genug sein mußte, die Grand Tour auf sich zu nehmen. Die seit Anfang des 16. Jahrhunderts übliche Reise der Maler, Bildhauer und Architekten nach Italien, die nach dem Muster der Wanderjahre der Handwerksburschen angelegt war, gleichzeitig aber auch eine intellektuelle und akademische Übung darstellte und insofern als eine Analogie zur Zwitternatur des Berufsstandes des Künstlers zwischen Handwerker und Wissenschaftler begriffen wurde, war eine Art Lehre in dreifachem Sinne. Sie führte zur Anschauung der antiken Stätten, die man als Heimat aller Künste aus der Literatur kannte, sie beförderte die Aneignung
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Jan Pieper
fremder Sprachen und Lebensgewohnheiten und sie war zugleich eine Lehre der Selbständigkeit und Selbstbehauptung. Italien war ja bis zum 18. Jahrhundert eines der wildesten und unwegsamsten Länder Europas. In der berufsbedingten Gewohnheit der Maler und Bildhauer, nach Italien zu reisen, erkannte der praktische und sportliche Sinn der Engländer schon im 17. Jahrhundert eine ideale erzieherische Übung für die Elite der »landed gentry«. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde es üblich, daß gerade die begabtesten jungen Männer der englischen Aristokratie nach Abschluß ihrer Schulbildung nach Italien reisten. Diese Reise wurde zum Initiationsritual der adligen Führung vor ihrer Übernahme öffentlicher Ämter, für die sie qua Geburt bestimmt war. Die pädagogische Begründung lieferte das bereits 1670 erschienene Buch »The Voyage of Italy« von Richard Lassels, in dem erstmal der Begriff »Grand Tour« vorkommt, von Anfang an als kommentarlose, nicht weiter erklärte, sondern einfach nur englisch ausgesprochene Verwendung des französischen Wortes für »große Rundreise«. Darin wird die Grand Tour als praktische, anstrengende und sehr fordernde Ergänzung der Persönlichkeitsbildung geschildert, herausgelöst aus aller Sicherheit des elterlichen Hauses und seiner aristokratischen Umgebung. Das Buch schildert zugleich die Reiseroute, die Ziele und die Aufenthaltsdauer an den einzelnen Orten. Alles war bis ins einzelne festgelegt wie bei einem Ritual. Die Grand Tour dauerte etwa zehn Monate, sie begann in der Regel im September mit dem Alpenübergang, dies war das erste große Ereignis der Reise, das bezeichnenderweise weniger als ein Naturerlebnis gesehen wurde, – von Winckelmann weiß man, daß er die Vorhänge der Kutsche zuzog, weil ihm die Gebirgsmassen unerträglich waren – sondern als ein technischer Vorgang, bei dem die Kutschen am Fuß des Passes zerlegt und auf Maultieren über die Berge getragen wurden. Der Ort, wo dies geschah, war der Mont Cenis, der an der Reiseroute von Frankreich lag, auf der die Briten in der Regel anreisten. Das Prinzip der Grand Tour bestand darin, die Erlebnisintensität und den Intruktionswert der Ziele über mehrere Höhepunkte zu steigern bis man den absoluten Höhepunkt erreicht hatte, die Stadt Rom. Im September also überquerte man die Alpen, im Oktober reiste man nach Genua, dies war der erste Höhepunkt, wo man neben der einzigartigen topographischen Lage der Stadt vor allen Dingen die Antwort der Architektur auf die Topographie in den Palastbauten der Strada Nuova studierte. Weiter ging es nach Florenz und durch die Toskana. Dies war der zweite Höhepunkt, der dem Studium der Werke der florentiner Frührenaissance diente, danach musste man das unsichere Stück der Via Cassia bei Radicofani überwinden und im November gelangte man dann zu einem ersten kurzen Aufenthalt nach Rom, dem Höhepunkt der Grand Tour schlechthin. Noch im gleichen Monat reiste man weiter nach Neapel und in die Ebene von Paestum, das die südliche Grenze der Italienreise darstellte. Dies war eine natürliche und auch kulturelle Grenzlinie, die selten und erst verhältnismäßig spät überschritten wurde. Creuze de Lesser notiert noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts: »Europa endet in Neapel und dort nimmt es auch ein eher schlechtes Ende. Kalabrien, Sizilien und alles Übrige ist Afrika«. Den eigentlichen Winter verbrachten die Reisenden der Grand Tour in Rom und Umgebung, in den Castelli Romani, in den Albaner Bergen und in Olevano Romano. Nach dem Karneval begann die Rückreise. Da es nach Rom keine Steigerung der klassischen Reiseeindrücke mehr geben konnte, das Prinzip der Steigerung aber auch hier gelten
Einführung
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sollte, suchte man zum Abschluß der Reise einen unklassischen Höhepunkt: Das gotische Venedig. Vorher konnte man noch die Marken und dort insbesondere den Wallfahrtsort Loreto streifen, der die Nordländer aber weniger wegen seiner großartigen Architektur, denn als Ort eines archaischen Katholizismus interessierte. Den Frühsommer verbrachte man in der Poebene, im 18. Jahrhundert vor allem im Veneto. Seit Inigo Jones lag für die Engländer Vicenza, die Stadt Palladios, auf der Grand Tour und von dort aus besuchte man die palladianischen Villen im Alpenvorland. Im Juli ging es dann zurück über die Alpen. Dieses Schema der Grand Tour wurde bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein so oder so ähnlich beibehalten. Solange der klassische Regelkanon das vordringliche Bildungsziel der nach Italien reisenden Künstler darstellte, gab es auch wenig Anlaß die Route zu ändern oder die Grand Tour als solche aufzugeben. Die Grundlagen der Kunstreisen nach Italien mussten jedoch ins Wanken geraten, als Kunst- und Architektur sich von ihren antiken oder antikisierenden Voraussetzungen befreiten, sich schließlich überhaupt für voraussetzungslos erklärten. Endgültig vollzog diesen Schritt die Moderne, aber schon Messels Berliner Architektur, die Eisenbaukunst von Baltard oder Labrouste, die Skulpturen Rodins oder die Malerei der Schule von Barbizon markierten Stationen einer allmählichen Abkehr von Italien als Inspirationsquelle und Maßstab des Kunstschaffens. Von Liebermann ist das sarkastische Bonmot überliefert, in Italien gäbe es nichts zu sehen als »uffjeklappte oder zujeklappte Rejenschirme«. Gemeint sind vordergründig die mediterranen Pinien und Zypressen, aber damit zugleich alle Bildungslandschaften antiker, römischer, klassischer Prägung. Die Künstler der Moderne, die weiterhin nach Italien reisten, gaben der Grand Tour eine neue Zielrichtung. Sie stilisierten sie zu einer Reise ins Elementare. Für die Maler wurde das italienische Licht zum wesentlichen Gegenstand ihrer Studien. Die Kubisten wandten ihr Hauptaugenmerk der Elementargeometrie der italienischen Bergstädte zu und die Architekten studierten die Adaptionen elementarer Bautypologien, deren Anfänge bis in die Ursprünge der Architektur überhaupt zurückzureichen schienen. Die Lithographien von Kanold oder Corbusiers Erlebnis der Kartause von Galuzzo, die ihm die entscheidenden Anregungen für seine Unité d’habitation gab, mögen hier exemplarisch für die Wende der Italienrezeption stehen, die die Moderne hervorgebracht hat. Diese Rolle, unendliche Variationen über die Formen des Elementaren vor Augen zu führen, ist Italien bis heute geblieben. In dieser Art der Rezeption des Landes durch die zeitgenössische Kunst und die zeitgenössischen Künstler wird auch weiterhin die Aufgabe einer »Grand Tour in Moderne und Nachmoderne« liegen. Rom und die Paysage Romain ist natürlich einzigartig, die Durchdringung von Natur und Ruinenlandschaft, durchsetzt mit nachantiken Neubauten, gibt es nur hier, zumindest in dieser Konsequenz und architektonischen Qualität. Die Kontinuität der Typologie, die parasitäre Umnutzung antiker Großbauten als architektonisches Thema wird in dieser Stadt augenfällig wie in keiner anderen. Das Zusammenwirken von Architektur und Landschaft, von Natur und Artefakt, gefördert durch die expressive italienische Topographie, öffnet die Augen für den Zusammenhang des Vorgegebenen und des vom Menschen in den Raum gestellten Objektes wie in keinem anderen europäischen Kulturraum. Das Extrem eines einzigen architektonischen Gedankens, etwa die Kunst, das Wasser bewohnbar zu machen, ist so
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Jan Pieper
nur in Venedig zu erleben, auch wenn wir metaphorisch von allen möglichen anderen Städten als den »Venedigs des Nordens« sprechen. Ganz ähnlich verhält es sich mit anderen Elementarien des Bauens, etwa dem chthonischen Gestus der Monolitharchitektur in Matera oder Pitigliano. Nirgendwo wird das Souterrain in großen, meist kultisch genutzten Grotten so gefeiert wie in den Bergheiligtümern von Olevano sul Tusciano oder des Monte Gargano. Überhaupt ist Italien noch immer das Land einer archaischen Frömmigkeit, die die moderne Ratio mit einem nicht zu lösenden Rätsel konfrontiert. Man muß nicht gleich an die Schlangenprozession von Concullo in den Abruzzen denken, wo Paganes in katholischer Verbrämung vorgeführt wird, oder an eine schlicht antik zu nennende Objekt- und Ortsverehrung, wie etwa in der Casa Santa in Loreto. Die Kirche selbst ist als Institution der letzte noch lebende Baum, der in der Antike gepflanzt wurde. Das Erlebnis dieser Institution, die eben nur in Rom alle Facetten ihres Gesichtes präsentiert, ist für eine moderne Sozialisation nachdrücklich der Anlaß, über die irrationalen Wurzeln ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Einrichtungen nachzudenken. Mit dem Wegfall der klassischen Bildung, die auch in einem universitären Studium nicht mehr erworben werden kann, kommt heute den Italienaufenthalten der Künstler ein ganz neuer Bildungsauftrag zu. Die Akademien zur Förderung des Hochbegabtennachwuchses – wie die Villa Massimo, die Villa Medici oder die British School – müssen dies zumindest teilweise kompensieren und Programme anbieten, die die oben genannten Felder systematisch erschließen. Dazu können regelrechte Seminare sinnvoll sein, vor allem jedoch Begegnungen mit den römischen Realien wie auch mit jenen Orten an denen sich das Zusammenspiel von Natur und Artefakt, die Atmosphäre des Montanen und des Souterrain, der archaischen Religiosität, der klassischen kulturellen Antworten auf Gegebenheiten der Topographie exemplarisch erschließen. Die »Grand Tour in Moderne und Nachmoderne« gewinnt damit Dimensionen einer Bildungsreise in das Innere der Wissens- und Vorstellungslandschaften, die unser Bildungssystem längst nicht mehr erschließt, die aber für die Künste als System der Deutung und Sinngebung, vor allem auch der skeptischen Befragung der Welt nach wie vor Ursprung, Inspiration und eigentliche Heimat sind. In diesem Sinne behandeln die verschiedenen Beiträge dieses Bandes nicht nur einen weiten Zeitraum, der den Bogen von etwa 1750 bis zur Gegenwart schlägt, sondern sie entwerfen auch eine ideale Entwicklungslinie, die über das Studium der Geschichte und Theorie der Architektur bis hin zur heutigen Baupraxis reicht. Der Austausch von Kunsthistorikern, Baugeschichtlern und Architekten sollte während der Tagung ganz programmatisch die Frage nach der Aktualität der Italienerfahrung für die heutige Ausbildung von Architekten und bildenden Künstlern aufwerfen. Was dabei an Gesprächen entstand, sich zu langen Diskussionen entwickelte und dann auch zu fachlichen Kontroversen Anlaß gab, hat sich in diesem Buch leider nicht vollständig dokumentieren lassen. Doch erlauben die hier versammelten Texte gleichwohl einen Blick auf die Grundlage der fächerübergreifenden Fragestellung, und damit auf eine Problematik, die heute wieder von kulturhistorischer und auch kulturpolitischer Reichweite ist. Für die Möglichkeit, diese aktuellen Probleme anhand des Themas »Grand Tour in Moderne und Nachmoderne« erörtern zu können, gilt es Dank zu sagen, und das sowohl der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Tagung in großzügiger Weise unterstützt hat, wie auch ausdrücklich allen Mitarbeitern der
Einführung
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Villa Vigoni, denen es vom Portier über das Sekretariat bis hin zum Verwaltungsleiter zu danken ist, daß die oft intensive Arbeit in gelöster und unbeschwerter Atmosphäre hat vor sich gehen können. Ganz besonderer Dank gebührt dem Generalsekretär des Vereins Villa Vigoni, Herrn Aldo Venturelli, der nicht nur in der zuvorkommensten Weise die Tagung und die vorliegende Publikation befördert, sondern sich auch dazu bereit erklärt hat, das Grußwort für den Band zu verfassen.
Stefan Schweizer
»Ein herrliches Bild der Geschichte der Baukunst« Architektenreisen zwischen beruflicher Bildung und Epochenimagination (1750–1850) I. Unter dem 4. November 1790 notierte der Berliner Architekt Heinrich Gentz folgende Eindrücke seines Besuchs der Stadt Vicenza in sein Reisetagebuch: Auch sah ich 3 Façaden eines jungen Architekten, des Grafen Othon Calderari die mich entzückten. […] Diese Façaden thaten auf mich eine ganz besondre Wirkung. Die Thränen traten mir in die Augen u. ich hatte eine ordentliche Erschütterung. Calderari war auch in Rom gewesen. Ich faßte hier die besten Entschlüße mir alle mögliche Mühe zu geben um was zu lernen. Mein einziger Trost war daß Calderari die Fabriche des Palladio stets vor Augen hatte.1
Läßt man einmal unberücksichtigt, daß sich nur selten ein Reisender der Zeit um 1800 derart positiv über zeitgenössische italienische Architektur äußerte − Gentz selbst relativiert dies auch an anderer Stelle2 −, treten spezifische Wahrnehmungsmuster der Italienreise eines Architekten vor Augen. Da die ›Grand Tour‹ der Architekten von dem Anspruch bestimmt war, die Reise als einen eminenten Bestandteil der Berufsausbildung zu begreifen, bestand ihr Wert ganz überwiegend darin, als ›Schlüsselwerke‹ deklarierte Exempel der Architekturgeschichte mit eigenen Augen zu betrachten, zu studieren, zu zeichnen, zu vermessen und überhaupt Architekturgeschichte bzw. deren Kanon sinnlich wahrzunehmen. Ganz in diesem Sinn formulierte Gentz den seinerzeit gültigen architekturgeschichtlichen Dreisprung: Antike, Palladio, Gegenwart. Die Wiederentdeckung Griechenlands hatte den Kanon der europäischen Architekturgeschichte dank der zahlreich publizierten Stichwerke zwar deutlich verändert,3 doch blieb Italien für die Mehrzahl der europäischen Architekten das vorrangige Land ihrer beruflichen Qualifikationsreise; nur hier war die
1 Die hier verfolgten Fragen nach Reisepraxis und Geschichtsvorstellungen gehen auf das Projekt ›Epochenimaginationen‹ zurück, das unter Leitung von Otto Gerhard Oexle zwischen 2001 und 2005 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen verwirklicht wurde. Teilergebnisse im Rahmen der Tagung ›Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne‹ darstellen zu können, erachte ich wegen der damit verbundenen thematischen Zuspitzung als glückliche Fügung. Elisabeth Kieven gewährte mir dankenswerterweise die Möglichkeit, meine Untersuchung zu Daniel Engelhards ›Instruction für junge Architekten zu Reisen nach Italien‹ im Dezember 2004 an der Bibliotheca Hertziana in Rom diskutieren zu können. Für Hinweise und Anregungen danke ich darüber hinaus Sascha Winter (Heidelberg) und Hans-Erich Bödeker (Göttingen). Heinrich Gentz, Reise nach Rom und Sizilien 1790–1795. Aufzeichnungen und Skizzen eines Berliner Architekten, hg. v. Michael Bollé u. KarlRobert Schütze, Berlin 2004, S. 33; gemeint ist Ottone Calderari (1730–1803). 2 Ebd., S. 288. 3 Besonders nachhaltig durch: James Stuart/Nicholas Revett, ›Antiquities of Athens‹, 4 Bde., London 1762–1816.
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Stefan Schweizer
Konfrontation mit den architekturgeschichtlichen Realien des an den Akademien entworfenen verbindlichen Kanons möglich, woran auch die ›Entdeckung‹ des Mittelalters zunächst nichts änderte. Den Gipfelpunkt seiner Unternehmung erklomm der Italienreisende während eines längeren Aufenthalts in Rom. Die Romfixierung reisender Architekten, und bei weitem nicht nur dieser Berufsgruppe, wäre bereits ein eigenes Thema: Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff nannte die Ewige Stadt im Reisejournal 1766 die »Schule der Ausländer«; noch bei der zweiten Romreise 1789 erlebte er den »classischen Boden« als »neuen Unterricht«.4 Als Peter Joseph Krahe am 3. Oktober 1785 von seinen Abstechern nach Neapel und Paestum wieder nach Rom zurückkehrte, fühlte er sich »mit der Empfindung wie meine Vaterstadt begrüßt«.5 Die Stadt am Tiber bot Architekten eine geradezu idealtypische Verdichtung ihrer Vorstellungen vom gültigen architekturhistorischen Kanon, von den vorbildlichen Prototypen der Antike und der Renaissance bis hin zu den Beispielen ›barbarischer‹ Baukunst in Mittelalter und Barock. An keinem anderen Ort Europas konnte eine evolutionäre Vorstellung vom Werden und Vergehen architektonischer ›Gesinnung‹ exemplarischer entwickelt werden. In der »Vaterstadt der Architekten« bzw. im mütterlichen »Schoos der Musen«,6 wie es der Dresdner Architekt Christian Traugott Weinlig 1782 formulierte, ereilte viele der zu Ausbildungszwecken reisenden Architekten die Erfahrung der eigenen professionellen Unzulänglichkeit, ganz so, wie sie Gentz in Vicenza gemacht hatte. Mangelndes Wissen und Erfahrungsdefizite manifestierten sich sowohl mit Blick auf die antiken Bauten als auch auf solche aus der »Epoche des italienischen Geschmacks«,7 wie es Gentz ausdrückte und worauf zurückzukommen sein wird. Friedrich Weinbrenner berichtet in seinen 1828 publizierten ›Denkwürdigkeiten‹ vom niederschmetternden Eingeständnis der eigenen Unkenntnis, die ihm in Rom beim Studium der antiken wie der neueren Architektur bewußt wurde. »Weinend« betete er eine ganze Nacht zu Gott, die »Kräfte und den Geist« zu geben, »die fehlenden Kenntnisse einzuholen«.8 Der in den Selbstzeugnissen aufscheinende Typus des ›weinenden Architekten‹ im Angesicht antiker Ruinen bzw. der Antike verpflichteter Architektur scheint zwar nicht der Regelfall zu sein, gleichwohl spiegelt sich in dem beschriebenen emotionalen Ausnahmezustand die besondere Bedeutung der Autopsie italienischer Monumente für die reisenden Baueleven Europas wider. Die Begegnung mit den Realien des aus Stichen
4 Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf. Kunsthistorisches Journal einer fürstlichen Bildungsreise nach Italien 1765/66. Aus der französischen Handschrift übersetzt, erläutert und hg. v. Ralf-Torsten Speler (Kataloge und Schriften der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz 12), München/Berlin 2001, S. 123. 5 Zit. nach: Reinhard Dorn, Die Studienjahre Peter Joseph Krahes in Düsseldorf und Rom 1778–1786 (Peter Joseph Krahe Leben und Werk Bd. 1), Braunschweig 1969, S. 30. 6 Christian Traugott Weinlig, Briefe über Rom verschiedenen die Werke der Kunst, die öffentlichen Feste, Gebräuche und Sitten betreffenden Inhalts, nach Anleitung der davon vorhandenen Prospecte von Piranesi, Panini und andern berühmten Meistern, Bd. 1: Dresden 1782 [Bd. 2: Dresden 1784; Bd. 3: Dresden 1787], S. II. 7 Gentz, Reise (wie Anm. 1), S. 288. 8 Friedrich Weinbrenner, Denkwürdigkeiten (1829), hg. u. bearb. v. Arthur von Schneider, Karlsruhe 1958, S. 77.
«Ein herrliches Bild …»
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bekannten Architekturkanons erforderte einen geschärften Beobachtungssinn. Dementsprechend notierte Gentz zu Palladios Palazzo Chiericati in Vicenza: »Dieses Gebäude ist mir aus dem Briseux bekannt, thut aber in natura weit beßre Wirkung als in den erzwungenen Proportionen des Briseux.«9 Die Autopsie von Bauwerken und damit die Wahrnehmung ihres jeweiligen architektonischen Umfeldes, ihrer Materialität, ihrer räumlichen Disposition sowie ihrer Alltagstauglichkeit – über alles dies informierten die Stichwerke nur unzulänglich – bildete den Kern der Reiseerfahrung. Der bereits zitierte Weinlig legitimiert mit dieser spezifischen Erfahrungsmöglichkeit die Ausbildungsreise gegenüber dem Freund in Dresden: »Die Empfindung des Schönen sich zu erwerben, und die Regeln der Schönheit, die größtentheils ohne Anschauen gar nicht verstanden werden können, mit dem Kupfer in der Hand zu studieren, sind sehr verschiedene Dinge. Die Gebäude selbst verhalten sich zu ihren Abbildungen noch kaum, wie Statuen und Gemmen zu den besten Zeichnungen, die davon gemacht worden, sich verhalten.«10 Das hinter dieser Legitimation stehende »Beobachtungspathos der Aufklärung«11 ließ die Reise zu einer Erfahrung werden, die sich noch Jahre später als profitabel erweisen konnte. Der Sohn Peter Joseph Krahes, Friedrich Maria, überlieferte die starke Prägung seines Vater durch die italienischen Monumente, so daß dieser »noch in späten Jahren fast jedes Gebäude desselben, was er gesehen, aus dem Gedächtnisse skizzieren konnte«.12 Zugleich zog die Reise ein Bewußtsein für die Differenz von architekturhistorischer Vorstellung und architekturhistorischer Empirie nach sich. Weinlig hatte seine römischen Beschreibungen noch an den Graphiken und Gemälden Piranesis und Paninis ausgerichtet, bzw. auf diese hin orientiert, so daß der imaginäre Leser die Reisebilder in Druckwerken und auf Veduten nachvollziehen konnte. Er glich seine Wahrnehmung der in ganz Europa verbreiteten visuellen Vorstellung von Rom und Roms Baugeschichte an. Doch sollte Piranesis sublime Ästhetik im Zuge des Frühklassizismus bald aus der Mode kommen. Bereits Friedrich Weinbrenner kritisierte eine Generation nach Weinlig den aus Piranesis suggestiven und erhabenen Stichfolgen hervorgehenden ästhetisierenden Anspruch: Ich fand bald, daß mir meine Einbildungskraft die Bilder, welche ich mir vorher gemacht hatte, ganz anders vorgestellt, indem es jetzt beim wirklichen Anblick, mit Ausnahme des alten Roms, unter meiner Erwartung blieb. Die überspannten Bilder, wozu mich besonders die übertriebenen piranesischen Prospekte verleiteten, waren Ursache, daß im Anfang, bis ich ganz bekannt und vertraut war, mein Studium nicht die Ergiebigkeit versprach, die es wirklich mir gewährte.13
9 Gentz, Reise (wie Anm. 1), S. 31; er nimmt bezug auf: Charles Etienne Briseux, Traité du Beau Essentiell dans les arts […], Bd. 1, Paris 1752. 10 Weinlig, Briefe (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 6. 11 Joachim Rees/Winfried Siebers, Die Kunst der Beobachtung. Anmerkungen zum Wandel der Künstlerreise 1770−1780, in: Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildenden Kunst der Aufklärung, Ausstellungskatalog Frankfurt 1999, München 1999, S. 419−434, hier S. 419. 12 Dorn, Krahe (wie Anm. 5), S. 32. 13 Weinbrenner, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 8), S. 76.
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Stefan Schweizer
Die Reiseerfahrung wird hier zum Lehrmittel stilisiert: Sie half, falsche Erwartungen zu korrigieren und entblößte Piranesis Romveduten als Imaginationen, die mit der zeitgenössischen Wirklichkeit nicht mehr in Deckung zu bringen waren.
II. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht zunächst die Frage, ob und auf welche Weise von einer Institutionalisierung der Architektenreise zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen ›Anciene Regime‹ und bürgerlichem Zeitalter gesprochen werden kann.14 Dies beinhaltet Aspekte der Wandlung und Professionalisierung der Ausbildungspraxis sowie deren Verwandtschaft zum Typus der Bildungsreise. Ein weiterer Punkt setzt sich mit Geschichtsvorstellungen, genauer mit dem Wandel der Wahrnehmung von Architekturgeschichte bei reisenden Architekten auseinander. Das Reisen versetzte Architekten in die Lage, größtenteils historische Architektur zu studieren, wobei neben den Bauwerken der Antike immer auch die architektonischen Zeugnisse der Renaissance – oder dessen was man vor Michelet und Burckhardt darunter verstand – Interesse weckten. Die Reise verhalf mithin zu einem sehr empirischen Eindruck von Architekturgeschichte, von Epochen und einem architekturgeschichtlichen Kanon, wie er um 1800 fixiert wurde, um im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch um differenzierte Vorstellungen von mittelalterlicher, am Ende auch barocker Architektur erweitert zu werden. Eine solche Perspektive auf Architektenreisen zielt überdies darauf, das bis dato kaum als kunsthistoriographische Problemstellung erkannte Verhältnis zwischen den Italienreisen (hier müßte man auch die Griechenlandreisen nennen) und dem ausgeprägten Stilpluralismus in der Architektur des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts zu beleuchten.15 Stilpluralistische Auffassungen von Architektur setzten ein Mindestmaß an systema14 Es existieren nur vereinzelt Studien zu Architektenreisen, jedoch keine systematische Abhandlung oder eine Überblicksstudie – entgegen der Behauptung von Rees, daß »für die Reisepraxis von Baumeistern und Architekten neben zahlreichen Einzelstudien auch Überblicksdarstellungen vorliegen«; Joachim Rees, Lust und Last des Reisens. Kunst- und reisesoziologische Anmerkungen zu Italienaufenthalten deutscher Maler 1770–1830, in: Frank Büttner/Herbert W. Rott (Hg.), Kennst Du das Land. Italienbilder der Goethezeit. Ausstellungskatalog München, Köln 2005, S. 55–79; zu Recht der Verweis auf: Reinhard Wegner, Der Architekt auf Reisen. Von der Grand Tour zur technologischen Reise, in: Neue Impulse der Reiseforschung, hg. v. Michael Maurer, Berlin 1999, S. 227–235, wo aber der Schwerpunkt auf Englandreisen liegt; für die Frühe Neuzeit: Dirk Jonkanski, Oberdeutsche Baumeister in Venedig. Reiserouten und Besichtigungsprogramme, in: Bernd Roeck/Klaus Bergdolt/Andrew John Martin (Hg.), Venedig und Oberdeutschland in der Renaissance. Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Sigmaringen 1993, S. 31–39; eher dem Phänomen Kunsttransfer verpflichtet: Andreas Tönnesmann, Reisen und Bauen. Mobilität und kulturelle Aneignung in der Architektur der Renaissance, in: Grand Tour. Adeliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, hg. v. Werner Paravicini und Rainer Babel (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2005, S. 499−512. 15 Vgl. hierzu zwei anregende Beiträge: Klaus Jan Philipp, Die Architektur der ›großen Meister‹ im Urteil um 1800, in: Neorenaissance – Ansprüche an einen Stil. Zweites Historismus-Symposium Bad Muskau (Muskauer Schriften 4), Dresden 2001, S. 19–29; Helmut Pfotenhauer, Klassizismus und Ornament. Die italienischen Verzierungen in der deutschen Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts, in: FrankRutger Hausmann (Hg.), ›Italien in Germanien‹. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850. Akten
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tischen Zugriffen auf die Vergangenheit, ihre Strukturierung nach abstrakten historischen bzw. kunsthistorischen Epochenrastern voraus. Sie lassen sich demnach als ein Phänomen am Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne beschreiben. Spätestens seit Goethe hatte sich eine ›bifokale‹ kunsthistoriographische Perspektive etabliert, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine ›polyfokal‹ ausgerichtete Kunstgeschichtsvorstellung umgewandelt wurde.16 Seit Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ (1764) stand mit ›Stil‹ ein analytischer Begriff zur Verfügung, aus dem ein historisches Gliederungsprinzip abgeleitete werden konnte. Auf dieser Basis entwickelte sich ein Vokabular, welches die Wahrnehmungsfähigkeit architekturhistorischer Spezifika steuerte, das Architekten auf Reisen bei der Aneignung historischer Architektur anleitete. Im Zentrum der Darlegungen stehen ausnahmslos Reisen zum Zwecke der Ausbildung und ausdrücklich nicht das Phänomen der sog. Kunst- bzw. Künstlerwanderung,17 das schon in Antike und Mittelalter Träger eines internationalen Kulturtransfers war. Eine weitere Einschränkung bezieht sich auf den untersuchten Quellenbestand. Ich konzentriere mich überwiegend auf deutsche Architekten, obwohl das dargelegte Phänomen international ist. Das Quellenmaterial kann als einschlägig beschrieben werden. Dutzende Architekten haben Reiseschilderungen hinterlassen, die sie, wie im Falle Weinbrenners, schon zu Lebzeiten drucken ließen oder wie Heinrich Gentz, lediglich als persönliche Erinnerungen anlegten und für eine Publikation nicht vorsahen. Auf der anderen Seite stehen Reiseberichte wie diejenigen Simon Louis Du Rys oder Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs, die sich einer Kombination von fürstlicher ›Grand Tour‹ und Studienreise verdanken. Ergänzung finden die zwischen Topik und Subjektivismus changierenden Berichte in zeitgenössischen Reiseunterweisungen. In Ermangelung berufsspezifischer Apodemiken18 mußten sich Architekten noch lange auf die bekannten, an jedermann gerichteten Reisehandbücher stützen. Weinbrenner reiste wie vor ihm schon Goethe mit Volkmanns ›Historisch-kritischen Nachrichten von Italien‹.19 Mitunter hatten auch einige Akademien auf die Bedürfnisse ihrer Absolventen zugeschnittene Reiseunterweisungen erstellt;20
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des Symposiums der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Schiller Museum, 24.–26. März 1994, Tübingen 1996, S. 37–62. Siehe: Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995. Hierzu: Georg Troescher, Kunst- und Künstlerwanderungen in Mitteleuropa 800–1800. Beiträge zur Kenntnis des deutsch-französisch-niederländischen Kunstaustauschs, 2 Bde., Baden-Baden 1953/54. Wenn es solche gab, dann stammten sie nicht selten von Musikern; etwa: Hector Berlioz, Voyage musicale en Allemagne et en Italie, Paris 1844. Weinbrenner, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 8), S. 63: »Volkmann ist unser Führer«; Johann Jacob Volkmann, Historisch-kritische Nachrichten von Italien, welche eine Beschreibung dieses Landes, der Sitten, Regierungsform, Handlung, des Zustandes der Wissenschaften und insonderheit der Werke der Kunst enthalten, 3 Bde., Leipzig 1777/78. Paul Faerber, Nikolaus Friedrich von Thouret. Ein Baumeister des Klassizismus, Stuttgart 1949, S. 31; Franz Ludwig Posselt, Apodemik oder die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisender aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrten und Künstler, 2 Bde. Leipzig 1795, S. XVI., verweist auf eine Abhandlung unter dem Titel ›Wie sollen junge Künstler auf Reisen studieren‹ in der Monatszeitschrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin.
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eigentliche Reisehandbücher für bestimmte Berufsgruppen entstanden gleichwohl selten und erst nach 1800. Die Notwendigkeit berufsspezifischer Reiseunterweisungen beruhte auf der im Verlauf des 18. Jahrhunderts spürbar gewachsenen Partizipation des Bürgertums an der internationalen Reisepraxis. Dies blieb nicht ohne Einfluß auf die Reisen von Künstlern bzw. Architekten, die aus den Dienstbarkeitsverhältnissen der Adelshöfe in die bürgerliche Unternehmerexistenz entlassen wurden. Die Wandlung der aristokratischen ›Grand Tour‹ zur bürgerlichen Bildungs- bzw. Ausbildungsreise manifestiert sich in keinem Werk deutlicher als in Franz Posselts 1795 publizierter Schrift ›Apodemik oder die Kunst zu Reisen‹,21 dem Gipfelpunkt universalistischer Apodemiken. Verfaßt für »junge Reisende aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehende Gelehrte und Künstler insbesondere« – so der Untertitel –, erfolgt die thematische Strukturierung entlang beruflicher Bildungsinteressen. Die Liste der einzelnen Berufe reicht von Staatsgelehrten, über künftige Regenten, Theologen, Ärzte, Naturforscher, Geschichtsforscher und Philosophen bis hin zu Malern, Kupferstechern, Bildhauern, Baumeistern, Gartenkünstlern und Musikern. An Architekten und Künstler gerichtet, sah Posselt in der Geschmacksbildung den Hauptzweck der Reise, und postulierte das den Klassizismus tragende ästhetische Ideal der Nachahmung: »Denn der Geschmack kann nicht durch Regeln, sondern bloß durch die besten Muster in jeder Art des Schönen gebildet werden.«22 Als historische Vorbilder führte er, dies wird uns noch beschäftigen, Bramante und Brunelleschi an, die ihr Genie auf Reisen ausgebildet hätten.23 Entsprechend ihres heterogenen, auf eine allgemeine Reisepraxis zielenden Inhalts vermittelt Posselts ›Apodemik‹ kaum spezifische normative Muster und appellierte nur bedingt an den Erfahrungshorizont eines auf beruflicher Bildungsreise befindlichen Architekten. Mehr als vier Jahrzehnte mußten noch ins Land gehen, ehe Berufsanfängern eine die Spezifik der Architektenreise berücksichtigende Abhandlung vorlag. Die Rede ist von der 1837 publizierten ›Instruction für junge Architekten zu Reisen nach Italien‹ aus der Feder des Kasseler Hofarchitekten Johann Daniel Engelhard.24 Hatte Posselt noch die unterschiedlichen beruflich orientierten Interessen einer Reise gleichsam durchdekliniert, wußte Engelhard um die spezifischen Bedürfnisse einer Architektenreise. Gleichwohl sollte seine Reiseunterweisung nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur jene sich zu höherem berufene Baueleven überhaupt auf Reisen begaben. Dies erklärt sich auch aus dem sich wandelnden Berufsbild des Architekten, weshalb die Ausbildungsgeschichte sowie die Anfänge der Ausbildungsreise bei Architekten kurz rekapituliert seien.
21 Posselt, Apodemik (wie Anm. 20); zu Posselt: Uli Kutter, Reisen – Reisehandbücher – Wissenschaft. Materialien zur Reisekultur im 18. Jahrhundert, Neuried 1996, S. 226–234. 22 Posselt, Apodemik (wie Anm. 20), S. 75. 23 Ebd., S. 182. 24 Daniel Engelhardt, Instruction für junge Architekten zu Reisen in Italien, in: Crelle’s Journal für die Baukunst 11/1; 11/2; 11/3; 11/4 (1837), S. 1−14, 155−174, 203−238, 303−331 sowie 12/1 (1838), S. 160–199.
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III. Es waren keineswegs nur antiquarische Interessen, das Bedürfnis nach Autopsie und Studium antiker Bauten, die Architekten auf die italienische Halbinsel zogen. Vielmehr entsprach die Reiseerfahrung einem allgemeinen Bildungsideal, das sich aus vielfältigen Facetten zusammensetzte. Bereits Joseph Furttenbach hatte in seiner 1627 publizierten Apodemik unterschiedlichste, auf der Reise tangierte Interessengebiete aufgeführt.25 Dies deutete er bereits im geradezu ausufernden Titel an: ›Newes Itinerarium Italiae: In welchem der Reisende nicht allein gründtlichen Bericht/durch die herzlichste namhaffteste Örter Italiae sein Reiß wohl zu bestellen: sonder es wird ihme auch ganz eygentlich beschrieben/was allda/als in einem Lustgarten di Europa, an Fürstlichen Hoffhaltungen/ wie nicht weniger bey den Löblichen Republichen/an Sitten und Gewohnheiten/im Geistlichen und Politischen: an Mechanischen Wercken/zu Land und zu Wasser/und also an Gebäwen in Stätten/Vestungen/Pallästen/Schiffen/zu Krieg und Friedenszeiten: auch in merckung der natürlichen Gaben/Gewächsen/Gethier/denckwürdig zu sehen […].‹ Die Schrift verstand sich als Basisinformation zur Vorbereitung der Reise, zudem als Beschreibung des Landes, seiner politischen und religiösen Konstitution, seiner Ingenieurs- und Baukunst sowie seiner Natur in Flora und Fauna. Trotz dieser Zusammenstellung heterogener Wissensgebiete und unbeschadet der Tatsache, daß er sich ganz explizit an eine ständische Leserschaft wandte,26 ruhte Furttenbachs Hauptinteresse auf Architektur, besonders auf dem zeitgenössischen Theaterbau, auf der Gartenkunst und schließlich den Zeugnissen antiker Geschichte. Bereits für reisende Architekten der Frühen Neuzeit erwuchs die Bedeutsamkeit Italiens nicht nur aus den antiken Denkmälern, sondern auch aus dem Umstand, daß die Halbinsel das Land der ›Wiedererweckung‹ antiker Architektur bildete. Die bereits von Zeitgenossen leitmotivisch als ›rinascità‹ deklarierte Baukunst des 15. und frühen 16. Jahrhunderts genoß noch unter den Zeitgenossen des 17. und 18. Jahrhunderts europaweit den höchsten Rang. Erinnert sei an die angelsächsische Rezeption Andrea Palladios durch Inigo Johns, Christopher Wren oder Colen Campbell,27 aber auch an die eng an italienische Vorbilder anknüpfende klassische Architekturtradition in Frankreich.28 Entsprechend lang und international ist die Liste der Architekten, für die eine Italienreise bezeugt ist. Man könnte sie mit dem württembergischen Baumeister Heinrich Schickhardt beginnen lassen. Dieser begab sich zunächst selbständig nach Oberitalien und begleitete 1599 noch einmal seinen Landesherrn, Herzog Friedrich von Württemberg, nach Rom.29 Mit Joseph
Joseph Furttenbach, Newes Itinerarum Italiae […], Ulm 1627. Vgl. die Vorrede, ebd., S. X–XXIII. Vgl. Joseph Summerson, Architecture in Britain 1530–1830, London 1963. Michael Hesse, Klassische Architektur in Frankreich. Kirchen, Schlösser, Gärten, Städte 1600–1800, Darmstadt 2004. 29 Wilhelm Heyd (Hg.), Handschriften und Handzeichnungen des herzoglich-württembergischen Baumeisters Heinrich Schickhardt, Stuttgart 1902, S. 7–301, enthält auch den 1602 in Mömpelgart gedruckten Text der herzoglichen Reise 1599 ›Beschreibung einer Reiß/Welche der Durchlauchtig Hochgeborne Fürst und Herr/Herr Friedrich Hertzog zu Würtemberg […] in Italiam gethan […]‹; zur Reise: Dirk Jonkanski, Die Italienreisen Heinrich Schickhardts, in: Robert Kretzschmar (Hg.),
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Heintz d.Ä.,30 dem Augsburger Stadtarchitekten Elias Holl,31 Jacob Wolff d.J.32 und dem bereits erwähnten Joseph Furttenbach33 reiste die erste Garde der deutschen Renaissancebaumeister nach Italien. Walter Rivius erklärte in seiner Vitruv-Übersetzung Reiseerfahrungen zu den unentbehrlichen Voraussetzungen für Erfolg im Architektenberuf.34 Auch Furttenbach wiederholte diesen Anspruch in der Vorrede zu seiner ›Architectura civilis‹: Die Reise diene nicht nur dem Zeichnen und Vermessen von Bauwerken, ebenso böte sie Gelegenheit zum Gespräch mit Architekten und Ingenieuren, Dinge, die man »nicht hinderm gewärmten Ofen […] erlernt«.35 Der Vollständigkeit halber seien auch Architekten anderer Nationalitäten aufgeführt, die bereits am Beginn der Frühen Neuzeit eine von beruflichen Interessen geleitete Italienreise absolvierten: die Franzosen Philibert de l’Orme36 und Salomon de Caus,37 der Portugiese Francisco de Hollanda,38 der Niederländer Pieter Koek van Aalst,39 die Engländer Inigo Johns und Henry Wotton,40 die Spanier Diego de Sagredo, Juan Battista Tauledo und Juan de Herrera.41 Interessant ist zugleich, wer nicht nach Italien reiste, Cornelis Floris etwa, oder Hans Vredemann de Vries,42 einer der einflußreichsten nordeuropäischen Architekturtheoretiker der Renaissance; des weiteren die niederländischen Erben Palladios, Jacob van Campen, Pieter Post, Salomon de Bray und Philips Vingbons.43 Was man für die Renaissance noch unter dem Signum unmittelbarer Antikenbegeisterung verbuchen konnte, fand nahtlos Fortsetzung nach dem Dreißigjährigen Krieg im
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Neue Forschungen zu Heinrich Schickhardt (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 151), Stuttgart 2002, S. 79–109. Jürgen Zimmer, Joseph Heintz der Ältere. Zeichnungen und Dokumente, München/Berlin 1988, bes. S. 23–34: Italienreisen 1585/88, 1593/95 Bernd Roeck, Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt, Regensburg 1985, bes. S. 65–76. Jörn Bohr, Jakob Wolf d.J., in: Arnold Bartetzky (Hg.), Die Baumeister der ›Deutschen Renaissance‹. Ein Mythos der Kunstgeschichte?, Leipzig 2004, S. 183−212, bes. S. 201; Jonkanski, Oberdeutsche Baumeister (wie Anm. 14), S. 32. Siehe oben sowie: Jonkanski, Oberdeutsche Baumeister (wie Anm. 14), S. 31. Jonkanski, Schickhardt (wie Anm. 29), S. 79. Joseph Furttenbach, Architectura civilis. Architectura recreationis. Architectura private, Reprograf. Nachdr. d. Ausgaben Ulm 1628 u. Augsburg 1640–1641, Hildesheim 1971, Vorrede (›Architectura civilis‹), ohne Paginierung; Jonkanski, Oberdeutsche Baumeister (wie Anm. 14), S. 31. Jean-Marie Pérouse de Montclos, Philibert de l’Orme. Architecte du Rois, Paris 2000. Christina Sandrina Maks, Salomon de Caus 1567–1626, Diss. Leiden, Paris 1935, S. 4f. Vgl. die Sammlung seiner Zeichnungen auf der Italienreise: 1538–1541: Elías Tormo (Hg.), Francisco d’Hollanda, Os desenhos des antigualhas que vio, Madrid 1940. Carel van Mander, Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615), übers. nach der Ausgabe von 1617 und Anm. v. Hans Floerke, Worms 1991, S. 94. Johannes Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, Bern 1974. Tönnesmann, Reisen und Bauen (wie Anm. 14), S. 511. Zu Leben und Werk: Heiner Borggrefe, Hans Vredeman de Vries (1526–1609), in: ders./Vera Lüpkes/ Paul Huvenne/Ben van Beneden (Hg.), Hans Vredeman de Vries und die Renaissance im Norden, Ausstellungskatalog Lemgo und Antwerpen, München 2002, S. 15–38. Konrad Ottenheym, ›Die Liebe zur Baukunst nach Maß und Regeln der Alten‹ − Der Klassizismus in den nördlichen Niederlanden des 17. Jahrhundert, in: Jörgen Bracker (Hg.), Bauen nach der Natur − Palladio. Die Erben Palladios in Nordeuropa, Ausstellungskatalog Hamburg, Ostfildern 1997, S. 127−146.
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Hochbarock. Unter den nach Süden reisenden Architekten sind stellvertretend zu nennen: Roland Fréart de Chambray, die Stockholmer Baumeister Nicodemus Tessin d. Ä. und d. J. sowie die Heroen der mitteleuropäischen Architektur des Barock und Rokoko: Fischer von Erlach,44 Matthäus Daniel Pöppelmann,45 Balthasar Neumann,46 Andreas Schlüter,47 Johann Conrad Schlaun,48 Georg Wenzelslaus von Knobelsdorff und Karl von Gontard.49 Obwohl die Dichte dieser unvollständigen Aufzählung zunächst frappiert, kann doch nicht von einer Institutionalisierung der Reise im Sinne einer systematischen Ausbildung gesprochen werden. Hier äußert sich in erster Linie ein berufliches Anforderungsprofil, das keinesfalls zwingend einzulösen war, wie die oben genannten Beispiele aus dem 16. und 17., aber auch noch die Person David Gillys im späten 18. Jahrhundert belegt. Die unmittelbare Verknüpfung mit dem Ausbildungssystem ist bekanntlich eine französische Erfindung und geht auf die Gründungswelle von Kunstakademien im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts zurück. Unter dem maßgeblichen Einfluß Jean Baptist Colberts wurde 1646 die Pariser Kunstakademie gegründet;50 es folgten diejenigen für Tanz (1661), für Wissenschaften (1666), für Musik (1669) und schließlich 1671 die ›Académie royale d’Architecture‹ mit ihrem ersten Direktor Nicolas-François Blondel. Ihre Gründung verdankte sich keineswegs einer Ausbildungsreform, sondern bezeichnenderweise dem Willen, Kunst und Wissenschaft im Sinne des von Colbert forcierten absolutistischen Merkantilismus dienstbar zu machen. Die Ausbildungsstruktur, wenn von so etwas im Sinne heutiger Curricula überhaupt gesprochen werden darf, änderte sich demgemäß nicht. Architekten erhielten ihre berufliche Qualifikation weiterhin in den Werkstätten bzw. Ateliers ihrer Lehrmeister. Die Architekturakademie existierte ganz überwiegend zu dem Zweck, einen höfischen Zugriff auf die Künstlerschaft durchzusetzen, eine verbindliche Architekturtheorie zu erarbeiten und »herausragenden Vertretern des Fachs Anerkennung zu verleihen«.51 Erst die Gründung einer privaten ›Ècole des Arts‹ durch Jacques-Françoise Blondel im Jahre 1739 bot auch bürgerlichen Architekten eine Ausbildungsstätte.52 Gleichwohl folgte auf die Akademiegründung eine schrittweise Institutionalisierung der Ausbildungspraxis, die schließlich – dies gilt zunächst nur für Frankreich – auch eine 44 Hans Sedlmayr, Johann Bernhard Fischer von Erlach, Wien 1976, S. 20ff. 45 Harald Marx (Hg.), Matthäus Daniel Pöppelmann. Der Architekt des Dresdner Zwingers, Leipzig 1989. 46 Bernhard Schütz, Balthasar Neumann, Freiburg/Basel/Wien 1986. 47 Heinz Ladendorf/Helmut Börsch-Supan, Andreas Schlüter. Baumeister und Bildhauer des preussischen Barock, Leipzig 1997, S. 11. 48 Florian Matzner/Ulrich Schulze, Johann Conrad Schlaun 1695–1773. Das Gesamtwerk, 2 Bde., Stuttgart 1995. 49 David Watkin/Tilman Mellinghof, German Architecture and the Classical Ideal 1740–1840, London 1987, S. 18 u. 26. 50 Hierzu: Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 92ff. 51 Rand Carter, Die Ausbildung der jungen Architektengeneration in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Europa, in: Mythos Bauakademie. Die Schinkelsche Bauakademie und ihre Bedeutung für die Mitte Berlins, hg. v. Frank Augustin, Berlin 1997, S. 37–49, hier S. 39. 52 Die keineswegs in strenger Opposition zur königlichen Akademie organisiert war, zumal die königliche Akademie Blondel 1762 zum Professor ernannte.
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Institutionalisierung von berufsqualifizierenden Italienreisen nach sich zog. Noch über den jährlichen ›Grand Prix‹ hinaus galt der ›Prix de Rome‹ als die höchste und begehrteste Auszeichnung, da er dem Gewinner ein vierjähriges Rom-Stipendium versprach.53 Damit entstand ein auch für die folgenden Jahrhunderte gültiges Zirkularsystem, das besonders begabten Absolventen eine Italienreise gewährte, deren Erfahrungen wiederum für höhere Bauämter und entsprechende Posten in der Bauverwaltung zu qualifizieren schien. Aber auch hiervon existierten zahlreiche Ausnahmen, zumal einflußreiche und vermögende Höflinge jederzeit Reisestipendien für ihre Protegeés vergeben konnten. Gleichwohl, die Akademiereise war königlich sanktioniert und nicht nur ein Privileg besonders begabter Berufsanfänger, sondern löste auch die höfischen Erwartungen an Ausbildung und Erfahrung von Baumeistern ein. Höfische Ansprüche bestimmten das Berufsprofil. Auf der anderen Seite entsprachen Architektenreisen damit in ganz eigener Weise der weitverbreiteten ›peregrinatio academica‹, der seit dem Mittelalter eingeführten Studienreise von Studenten an ausländische Universitäten.54 Die Ausbildungsreise wurde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar strukturell der ›Grand Tour‹ angenähert, was einer sozialen Statuserhöhung von Künstlern zugute kam, und sich auch in der bereits erwähnten Kombination von Kavalierstour und Studienreise äußert. Es existierte aber auch eine Schattenseite der Abhängigkeit von höfischen Interessen, seien sie königlich oder fürstlich gewesen. Sie besteht darin, daß das Reiseziel den Interessen der Stipendiengeber jederzeit angepaßt werden konnte. Besonders die Englandreisen des späteren 18. Jahrhunderts verdanken sich in diesem Zusammenhang entschieden staatlicher bzw. fürstlicher Einflußnahme, auch wenn sie seitens der Architekten von künstlerischer Neugier getragen wurden:55 Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf und Carl Gotthard Langhans bereisten England 1775 im Auftrag ihrer Fürsten.56 Während Erdmannsdorff gemeinsam mit einem Gärtner, einem Ökonomen und weiteren Bediensteten die Entourage der an englischen Landsitzen interessierten fürstlichen Familie bildete, hatte Langhans, der allein reiste, die Aufgabe, den englischen Wasserbau sowie Fabrikanlagen zu studieren. Wie nach ihm auch noch Gentz, dessen Englandreise sich unmittelbar an den Italienaufenthalt anschloß, und Schinkel, der 1828 Peter Christian Wilhelm Beuth, einen Abteilungsdirektor im Preußischen Handelsministerium begleitete, dienten die reisenden Architekten dem Interesse des preußischen Staates an Innovationen auf allen Gebieten des Handels, der industriellen Fertigung und zeitgemäßer Infrastruktur.57 Zu beobachten ist dieser höfische bzw. staatliche Einfluß besonders mit Blick auf England- und Holland-Reisen, die im Zeitalter merkantilistischer bzw. frühkapitalistischer Reformbestrebungen an Bedeutungen gewannen. Das antiquarisch-architekturhistorisch
53 Pevsner, Kunstakademien (wie Anm. 50), S. 106. 54 Hans Erich Bödeker, ›Sehen, hören, sammeln und schreiben‹. Gelehrte Reisen im Kommunikationssystem der Gelehrtenrepublik, in: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education XXXVIII (2002), S. 505–532, hier S. 505. 55 Zum kunstgeschichtlichen Einfluß Englands: Reinhard Wegner, Nach Albions Stränden. Die Bedeutung Englands für die Architektur des Klassizismus und der Romantik in Preußen, München 1994. 56 Hierzu: Wegner, Architekt auf Reisen (wie Anm. 14). 57 Ebd., S. 233f.
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bewunderte, aber wirtschaftlich und politisch rückständige Reiseland Italien58 trat in Dingen Industrie, Infrastruktur und politischer Partizipation deutlich hinter mittel- bzw. nordeuropäische Länder zurück. Mit Blick auf die oben erwähnte Englandreise Schinkels hat Reinhard Wegner völlig zu Recht vom Typus der ›technologischen Reise‹ gesprochen,59 der man in vergleichbarer Diktion den Typus der ›Baugeschichtsreise‹ von Architekten nach Italien entgegenstellen müßte. Exemplarisch sei auf die beiden Kasseler Hofarchitekten Simon Louis du Ry und Heinrich Christoph Jussow verwiesen. Du Ry, der ab 1748 die Bauschule Blondels besuchte, bat von Paris aus den Hessischen Landgrafen brieflich um Gewährung ein Reisestipendium nach Italien.60 Dies wurde ihm unter der Auflage gewährt, zunächst nach Kassel zurückkommen, dabei jedoch über Holland zu reisen und dort die Herstellung wasserdichter und bewohnbarer Kellergeschosse zu studieren und sich mit dem Schleusenbau vertraut zu machen. 1752 nach Kassel zurückgekehrt, wurde er zum landgräflichen Baumeister ernannt und begab sich mit einem Stipendium von 150 Talern nebst 400 Talern Gehalt auf Italienreise. Heinrich Christoph Jussow, der Konkurrent und Nachfolger Du Rys, befand sich bereits in Italien, als er 1785 in Rom die Nachricht von der Verlängerung seines Stipendiums erhielt.61 Landgraf Wilhelm IX. hatte sich jedoch entschlossen, seinen Architekten unmittelbar im Anschluß an die sich ihrem Ende zuneigende Italienreise nach England zu schicken, wo sich Jussow über Architektur und Gartenkunst informieren sollte. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, daß Architektenreisen – vermutlich nicht einmal selten – sehr konkreten fürstlichen Bedürfnissen, mithin den Ansprüchen aktueller bzw. zukünftiger Auftraggeber entsprachen. Die Reise an sich mochte für den Berufsstand gleichermaßen ein hohes Maß an Selbständigkeit, an Freiheit und auch eine Statuserhöhung auf der Skala sozialer Hierarchien bedeuten, denn bis dato reisten ganz überwiegend nur Adelige und Gelehrte. Zugleich bedeutete diese Form der Auftragsreise aber auch eine 58 Zur kritischen Rezeption Italiens: Stefan Oswald, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770−1840, Heidelberg 1985; aus Sicht der Kunstgeschichte: Elisabeth Schröter, Italien – ein Sehnsuchtsland? Zum entmythologisierten Italienerlebnis in der Goethezeit, in: Hildegard Wiegel (Hg.), Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos (Münchner Universitätsschriften des Instituts für Kunstgeschichte 3), München/Berlin 2004, S. 187–202; unter historiographischer Fragestellung: Hans Erich Bödeker, German Travellers to Italy in the Eighteenth Century. Motives, Intentions, Experiences, in: Unravelling Civilisation. European Travel and Travel Writing, hg. v. Hagen Schulz-Forberg, Brüssel 2005, S. 181–223. 59 Wegner, Architekt auf Reisen (wie Anm. 14), S. 133, Anm. 11; der Begriff geht auf die zeitgenössische Terminologie in den Reiseakten Beuths zurück (Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 120, Fabrikation Generalia, D. Abt. I, 1, Nr. 13): »Die technologische Reise des Herrn Geheimen Finanz Raths Beuth durch England und Frankreich«. 60 Hans-Kurt Boehlke, Simon-Louis du Ry als Stadtbaumeister von Hessen-Kassel, Kassel 1958, S. 40ff.; Hans-Kurt Boehlke, Simon Louis du Ry. Ein Wegbereiter des Klassizismus in Deutschland, hg. v. der Stadtsparkasse Kassel, Kassel 1980, S. 16–27; zur zweiten Italienreise mit dem Landgrafen: Wolf von Both/Hans Vogel, Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel. Ein Fürst der Zopfzeit, München/Berlin 1973, S. 218–226. 61 Gerd Fenner, ›Als Künstler und Mensch ganz vorzüglich ausgezeichnet‹. Zum Leben und Werk des Heinrich Jussow, in: Heinrich Christoph Jussow. Ein hessischer Architekt des Klassizismus, Ausstellungskatalog Kassel, Worms 1999, S. 19−35; F. Carlo Schmid, ›Und sammelte sich einen Schatz von Kenntnissen‹. Heinrich Christoph Jussow in Italien, in: ebd., S. 37−51.
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Verpflichtung auf die ästhetischen Normen adeliger Milieus, was für alle ambitionierten Höfe Europas gleichermaßen gelten dürfte.62 Die Technisierung des Bauwesens, seine Prägung durch die Ingenieurswissenschaften löste seit der Mitte des 18. Jahrhunderts starke Modifikationen im Berufsfeld des Architekten aus, die sich in der Ausbildungspraxis niederschlugen. Den neuen Ansprüchen an eine Ingenieursausbildung wurde zunächst 1747 durch die Gründung der Pariser ›École des Ponts et Chaussées‹ für Brücken- und Straßenbauingenieure entsprochen.63 Erst nach der Revolution, im Jahre 1794, erfolgte die Gründung der ›École centrale des Traveaux publics‹, aus der im Jahr darauf die berühmte ›École Polytechnique‹ hervorging. Dem bestens erforschten, maßgeblich von Jean-Nicolas-Louis Durand geprägten Ausbildungsprogramm, soll hier nichts hinzugefügt werden.64 Bekannt ist, daß das praxisorientierte Pariser Studiensystem in den folgenden Jahren in den meisten europäischen Ländern kopiert werden sollte. Für unser Thema ist von Interesse, daß sich mit der Anziehungskraft der ›École Politechnique‹ auch die Reisepraxis veränderte. Für eine Vielzahl deutscher Architekten schloß sich die nach wie vor obligatorische Italienreise nun an den Ausbildungsaufenthalt in Paris an. Ganze Architektengenerationen studierten in Paris und zogen von dort über die Alpen. Dies betraf u. a. Friedrich Weinbrenner, Friedrich Gilly, Louis Catel, Karl von Fischer, Friedrich von Gärtner, Jacques-Ignaz Hittorf, Franz Christian Gau, Clemens Wenzelslaus Coudray, Leo von Klenze, Gottlob Georg Barth, Johann Friedrich Christian Hess, Peter Joseph Lenné und Gottfried Semper − eine Aufzählung, nur um die Bedeutung zu veranschaulichen, die die Stadt- und Hofbaumeister von Berlin, München, Frankfurt, Weimar, Stuttgart und Dresden einschließt.65 Der Zusammenhang zwischen der späteren beruflichen Reputation bzw. einer erfolgreichen Kariere und einer Italienreise darf freilich nicht zu eng gedacht werden. Noch ehe Baueleven gemeinhin eine Reise antraten, hatten sie ihre Lehrer und fürstlichen bzw. staatlichen Förderer bereits von ihrem Talent und ihren Fähigkeiten zu überzeugen gewußt. Aber vieles spricht für die These, daß die Italienreise eine Grenze zog zwischen denjenigen Architekten in hohen, einflußreichen Positionen und ihren zahllosen zweit- und drittrangigen Berufskollegen, den Bauaufsehern, den Land- und Straßenbaumeistern, den künftigen Bauingenieuren. Die Erfahrungen der Reise, vermutlich auch die währenddessen gereifte Persönlichkeit, glichen ein Ausbildungssystem aus, das den Bedürfnissen der Profession noch lange hinterherhinkte. Daran änderte auch der durch Durand systema-
62 Günther Binding, Meister der Baukunst. Geschichte des Architekten- und Ingenieursberufs, Darmstadt 2004, S. 235: Erst mit Blondels privater Bauschule schickten Fürsten ihre Architekten nach Paris zur Ausbildung, wie das der Bayerische Kurfürst Max Emanuel mit seinen Architekten Joseph Effner und Françoise de Cuvilliérs tat. 63 Ulrich Pfammater, Die Erfindung des modernen Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbildung, Basel/Boston/Berlin 1997, S. 8ff. 64 Ebd., S. 53ff.; exemplarisch zum Einfluß Durands auf Klenze: Winfried Nerdinger, ›Das Hellenische mit dem Neuen verknüpft‹ – der Architekt Leo von Klenze als neuer Palladio, in: ders. (Hg.), Leo von Klenze zwischen Kunst und Hof 1784–1864. Ausstellungskatalog München, München/London/New York 2000, S. 8–49, bes. 10ff. 65 Ebd., S. 73ff.
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tisierte und standardisierte Entwurfsunterricht nichts. Weinbrenner verweist auf dieses kompensatorische Charakteristikum der Reise und legitimiert damit immerhin die Publikation seines ›Architektonisches Lehrbuchs‹: »Hiebei leitete mich zugleich ein lebhaftes Gefühl der Mängel des schriftlichen und mündlichen architektonischen Unterrichts, das ich hauptsächlich während eines sechsjährigen Aufenthaltes in Rom, an mir und anderen oft zu beobachten die Gelegenheit hatte.«66
IV. Die Italienfixierung der aristokratischen ›Grand Tour‹ beruhte ganz überwiegend auf einer über Jahrhunderte stabilen apologetischen Auffassung der Antike. Das griechische und römische Altertum bildete einen historischen wie ästhetischen Fluchtpunkt und wurde topologisch als Ursprung der eigenen Identität beschworen. Es versteht sich von selbst, daß Architektenreisen an diese abendländische Tradition anschlossen. Das architekturhistorische Ordnungsmodell des 18. Jahrhunderts kannte nur zwei Zäsuren, die gleichsam identifikatorischen Charakter besaßen: die Antike und die Architektur Andrea Palladios. Auch wenn der Palladianismus in Deutschland vergleichsweise spät einsetzte, vertrat er das Ideal einer überzeitlich gültigen Antikenrezeption. Mit ihm wurden neben Palladio zudem Brunelleschi, Bramante und Vignola als Vertreter einer der eigenen Zeit eng verwandten Kultur angesehen. Erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert hat man versucht, das später ›Renaissance‹ genannte Zeitalter, als ein gesamtkulturelles Phänomen zu verstehen, die Reiseberichte belegen jedoch, daß ein diffuses Epochenbewußtsein bereits zuvor virulent war. Den schlicht nicht zu übersehenden mittelalterlichen Bauwerken näherte man sich höchst widersprüchlich. Erdmannsorff bezeichnet einerseits das Theoderich-Mausoleum in Ravenna als »für jene Zeit schön«, und erklärt damit Geschmack bzw. Stil zu einem zeitgebundenen Phänomen, andererseits vermeldet er über San Apollinare Nuovo am selben Ort: »Die Kirche […] wurde früher für den arianischen Kult genutzt, dieser Sekte hingen die Goten an. Die Architektur zeigt den Geschmack dieser barbarischen Jahrhunderte.«67 Solche Verdikte betrafen bekanntlich nicht nur mittelalterliche Architektur, gotisch wurde, ganz in der Tradition Vasaris, von Erdmannsdorff geradezu als Synonym für das den guten Regeln Widersprechende benutzt. Diese Einstellung äußert sich in normativ geprägten Wahrnehmungsformen, wenn Erdmannsdorff etwa über Albertis ›Tempio Malatestiano‹ in Rimini schreibt: »Die Kirche S. Francesco ist von einer Architektur bei welcher der gotische Geschmack noch die Oberhand über die guten Regeln gewinnt.«68 Evidente Zeugnisse bauhistorischer Zäsuren blieben unbeobachtet, denn bei San Francesco handelt es sich bekanntlich um einen Sakralbau, dessen gotische Ursprungsanlage durch Alberti in einer strengen antikischen Formensprache ›zurückgebaut‹ wurde. 66 Friedrich Weinbrenner, Architektonisches Lehrbuch. Drei Teile, Tübingen 1810−1819, zit. nach: Bernd Evers, Friedrich Weinbrenner, in: Architekturtheorie von der Renaissance bis zur Gegenwart, Köln/ London/Paris 2003, S. 587f. 67 Erdmannsdorff, Journal (wie Anm. 4), S. 106 und 108. 68 Ebd., S. 111.
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Die Perspektive auf Bauwerke ›all’antica‹ war mitunter eng, auf eine Dichotomie von ›klassisch‹ vs. ›gotisch‹ ausgerichtet und demnach nicht gerade offen für die Anerkennung hybrider architekturhistorischer Übergangsformen. Ein reflexives Bewußtsein für die Kategorisierung der Baugeschichte äußerte sich nur mit Blick auf die Zäsur am Beginn der Frühen Neuzeit. Zwar kam das noch luftige architekturhistorische Gerüst nicht ohne Fundament im Sinne eines Ursprungsmythos’ aus, wenn Erdmannsdorff aus Paestum berichtet: »Man sieht hauptsächlich die Ruinen von drei Tempeln aus dem fernsten Zeitalter der Baukunst, und man kennt nichts Älteres, ausgenommen die ägyptischen Denkmale.«69 Doch zweifelt er zugleich an der Authentizität des Vergil-Grabs nahe Neapel: »Die Ungewißheit dieser Überlieferung und die dürftige Bauart des Grabmals sind allerdings kein Anlaß, ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Man läßt sich Lorbeer pflücken, der auf dem angeblichen Grab dieses Dichters wächst, und amüsiert sich, die Albernheiten zu hören, die sich die guten Leute dieses Landes erzählen.«70 Der zarte Ansatz einer modernen Vorstellung von kritischer Architekturgeschichte unterzog historische Bauwerke noch einer Bedeutungsperspektive, die abstrakte Geschichtlichkeit und damit einen historischen Eigenwert nicht kannte. Knapp drei Jahrzehnte später hatte sich der historische Wahrnehmungshorizont eines Architekten bereits beträchtlich erweitert. Friedrich Weinbrenner beobachtet nicht nur neugierig Landhäuser, die ihm »teilweise ingeniöser und zweckmäßiger [erschienen] als die Paläste«.71 Sein besonderes Interesse galt Hybridensembles – Wohnbauten, die an bzw. um antike Reste bzw. Spolien errichtet worden waren.72 Seine gegen »sclavische Nachahmung« und »ängstliches Formenspiel« gerichtete Offenheit ermöglichte ihm wenigstens partiell neue Erfahrungen: Unter den Gebäuden von Pisa zogen mich besonders an: der Dom, das Baptisterium mit dem Schiefenturme, das Campo Santo mit den herrlichen Werken des Fiesole. Nie hatte ich vorher so viele merkwürdige Gebäude, Gemälde usw. auf einen Punkt vereinigt gesehen. Wenn es hier der Ort wäre, so würde ich gerne vieles von diesen so einzigen Monumenten aus dem modernen heroischen Zeitalter anführen.73
Mit ›modern‹ und ›heroisch‹ chiffrierte Weinbrenner ganz offenbar die zunächst verstörende, dann aber als der eigenen Zeit verwandt empfundene Monumentalität der Pisaner Bauten. Nichtsdestotrotz beharrte er auf dem einmal eingeübten Kanon, der eine Seelenverwandtschaft mit den Architekten der Frühen Neuzeit verhieß. Wie kompliziert es jedoch war, den internalisierten Kanon mit der erfahrenen Wirklichkeit abzugleichen, belegt die Äußerung Weinbrenners, er habe in Florenz »die unsterblichen Werke von den berühm-
Ebd., S. 223f. Ebd., S. 214. Weinbrenner, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 8), S. 71. Hierzu: Ulrich Maximilan Schumann, Friedrich Weinbrenner − Italienerfahrung und praktische Ästhetik, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68 (2005), S. 234−262. 73 Weinbrenner, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 8), S. 70. 69 70 71 72
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testen Baumeistern des Mittelalters: Brunelleschi, Bramante, Serlio, Palladio usw.«74 bewundert, von denen die letzten drei Genannten nie in Florenz beschäftigt waren. In ganz ähnlicher Manier kartierte auch der Weimarer Stadtbaumeister Clemens Wenzelslaus Coudray die Architekturgeschichte Italiens in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer, vom Mai 1805: Da die Überzeugung in Rom jeden lehrt, wie vorzüglich und ich möchte sagen allein die Gebäude aus dem 15. Jahrhundert bis zur Haelfte des 16. das höchste Interesse dem hellsehenden Architecten darbiethen, so muß Florenz mit seinen Häußern und Palästen aus diesem merkwürdigen Jahrhundert als ein steinernes Schulbuch der Baukunst betrachtet werden können, und die nähere Kenntnis dieser Stadt für den deutschen Architekten besonders nützlich seyn. Es ist auffallend welch dicke Finsternis nach der schönen Morgenröthe des 15. Säculums, die Köpfe der Architecten des folgenden Jahrhunderts verrückte, und wie sie anstatt zur Vervollkommenheit hinan stiegen, auf dem schlechtesten Weg der Kunst in dies niedrigste Nicht hinabstürtzten, wie es die römische Architectur heute bietet.75
Coudray formuliert hier das vage Bewußtsein für die epochale Eigenständigkeit der Renaissancearchitektur und deren vermeintliche Nähe zum klassizistischen Ideal der eigenen Zeit. Man könnte Dutzende ähnlich lautender Äußerungen anführen. Nicht zuletzt von Heinrich Gentz, der sein Reisetagebuch zunehmend dazu nutzte, um Vitruv ins Deutsche zu übersetzen bzw. zeitgenössische Schriften zu exzerpieren, darunter auch BertottiScamozzis Grundlagenwerk zu Palladio.76 Spätestens mit Schinkel war diese Palladiofixierung obsolet geworden. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig, ihr Rahmen wird markiert vom Nationaldiskurs, von der Graecomanie und nicht zuletzt von der auch politisch motivierten ästhetischen Erweckung des Mittelalters, die sich in Deutschland etwa in den seit 1795 verbreiteten Aquatintaradierungen von der Marienburg ausdrückt, die auf Zeichnungen Friedrich Gillys beruhten.77 Schinkels Bericht von der ersten Italienreise zwischen 1803 und 1805 kann als erste Reaktion auf ein neues Verständnis von Architekturgeschichte gelesen werden. Seine Reise stellt ohnehin eine Ausnahme dar, denn Schinkel reiste im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen auf eigene Kosten, die er mit einer Erbschaft sowie ersten eigenen Verdiensten bestritt. Den mit neuer Offenheit ins Visier genommenen mittelalterlichen Monumenten begegnete er zunächst ohne adäquates Verständnis ihrer Geschichtlichkeit, nicht zuletzt deshalb, weil dies auch historiographisch ›terra incognita‹ war. Schinkel benutzt etwa den Begriff ›sarazenisch‹ sowohl für Bauwerke, die wir heute der Romanik zuordnen würden als auch für solche der Gotik. Der Dogenpalast erscheint ihm sarazenisch, der ältere Dom zu Ferrara dagegen gotisch. In einem Brief an Johann Friedrich Unger 74 Ebd. 75 Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign. Coudray 5/4: Brief von Coudray an Rumpf, 21. Mai 1805, zit. nach: Hermann Wirth, Clemens Wenzelslaus Coudray als Architekturtheoretiker, in: Anita Bach/ Dieter Dolgner/Konrad Püschel/Hermann Wirth (Hg.), Clemens Wenzelslaus Coudray. Baumeister der späten Goethezeit. Architekturtheoretiker, Gestalter des Weimarer Stadtbildes, Landbaumeister, Weimar 1983, S. 7–28, hier S. 10. 76 Siehe hierzu: Michael Bollé, Kommentar zu den Aufzeichnungen und Skizzen der Reise von Heinrich Gentz nach Rom und Sizilien, in: Gentz, Reise (wie Anm. 1), S. 292−345. 77 Gottfried Riemann, Nachwort, in: Karl Friedrich Schinkel, Reisen nach Italien. Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Aquarelle, Berlin 31988, S. 276.
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berichtet er: »Eine Menge Anlagen aus früher Mittelalterzeit, selbst aus der der Sarazenen, woran Sizilien vorzüglich reich ist, tragen das wahre Gepräge philosophischen Kunstsinns und Charakterfülle«. Diese Terminologie war nicht ungebräuchlich. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Christopher Wren den Vorschlag unterbreitet, den gotischen Stil ›sarazenisch‹ zu nennen.78 Obwohl es an einem präzisen Vokabular mangelte, erkannte Schinkel eine autonome ästhetische Qualität mittelalterlicher Architektur an. Doch vermag er den Bruch zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit nicht genau zu beschreiben, wenn er lamentiert: Man bemühte sich bisher, entweder die Monumente griechischer oder römischer Zeit oder die Gebäude aus den Zeiten der wiederauflebenden Künste zu Tausenden zu bearbeiten. Letzteres war für den ästhetischen Wert der Architektur von wenig Nutzen, da unstreitig mit Bramante der beste Stil der Architektur aufhörte, und gerade die Periode nach ihm vorzüglich bringt Unheil.79
Die architekturgeschichtliche Narration entsprach dem von Aloys Hirt entworfenen Modell der Evolution und bestand demnach aus Ursprung, Blüte und Vergehen, noch weit entfernt von einem engen, zudem logisch begründeten kunsthistoriographischen Beschreibungsraster. Als Schinkel dies 1803 schrieb, steckte eine systematische Architekturgeschichtsschreibung noch in den Kinderschuhen.80 Außer einem zweiteiligen Artikel David Vogels81 konnte man sich in Deutschland lediglich auf die von Christian Ludwig Stieglitz zusammengestellten historischen Informationen unter dem Lemma ›Baukunst‹ in dessen ›Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst‹ stützen.82 Dies blieb natürlich nicht ohne Einfluß auf den Wahrnehmungshorizont reisender Architekten. Doch in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts änderten sich die architekturhistorischen Zugangsweisen.83 1824, auf der zweiten Italienreise, sind Schinkels Geschichtsvorstellungen bereits konkreter und im Anschluß daran auch sein Verständnis für die Ästhetik des Mittelalters.
78 Christopher Wren, Parentalia, or Memoirs of the Family of the Wren […], London 1750, S. 297: »[…] according to the Mode, which came into Fashion after the Holy War. This we now call the Gothic Manner of Architecture (so the Italian called what was not after the Roman Style) tho’ the Goths were rather Destroyer then Builders; I think it should with more Reason be called Saracen Style«; »Diese nennen wir nun die gotische Bauart (so nannten die Italiener, was nicht entsprechend dem römischen Stil war), obgleich die Goten eher Zerstörer als Erbauer waren; ich denke man dürfte es mit mehr Recht den sarazenischen Stil nennen.« 79 Schinkel, Reisen (wie Anm. 77), S. 115, aus einem Brief an Johann Friedrich Unger. 80 Hierzu: Klaus-Jan Philipp, Gänsemarsch der Stile. Skizzen zur Geschichte der Architekturgeschichtsschreibung, Stuttgart 1998. 81 David Vogel, Grundlinien einer Geschichte der Baukunst […], in: Teutscher Merkur 1790, Bd. 1, S. 113–142 u. 379–421. 82 Christian Ludwig Stieglitz, Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirte, 5 Bde., Leipzig 1792–98, Bd. 1, 1792, S. 210f. 83 Siehe die Diskussion bei: Elke Katharina Wittich, ›Muster‹ und ›Abarten‹ der Architektur. Was Karl Friedrich Schinkel von Aloys Hirt lernen konnte, in: Claudia Sedlarz (Hg.), Aloys Hirt. Archäologe, Historiker, Kunstkenner (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800, Bd. 1), Hannover 2004, S. 217–246, bes. 222ff.
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Wir erfuhren von [Legationsrat Christian Karl Josias von] Bunsen, daß nach einer Stelle bei Muratori, die Niebuhr gefunden, die Kaiserpaläste zu Otto des Großen Zeiten, also im 10. Jahrhundert, noch in ziemlichem Stande gewesen sein mußten, weil diesem Kaiser, als er mit seiner Gemahlin zur Krönung ging, diesem darin noch Zimmer eingerichtet wurden. Im frühern Mittelalter, als die Exarchen von Konstantinopel aus in die italischen Länder zur Verwaltung geschickt wurden, traten diese, wie Narses, Belisar pp., ebenfalls im Palatinus ab und ließen sich den Papst oder Bischof von Rom dann zu sich kommen. Das 10. und 11. Jahrhundert, der Krieg mit Robert Guiscard hat das meiste des alten Roms erst zerstört; bis dahin muß noch viel geblieben sein, was auch aus Karls des Großen Erstaunen über die Stadt hervorgeht.84
Mittelalterliche Herrscher, so Schinkels historische Vorstellung, richteten sich demnach noch lange in antiken Palästen ein, deren Zerstörung ganz überwiegend auf Krieg und ungünstiger politischer Entwicklung beruhte, nicht etwa auf Geschmacklosigkeit oder mangelndem Formgefühl! Karl und Otto der Große zeigten sich demnach ganz ähnlich von den antiken Bauwerken beeindruckt wie Schinkel selbst. Auch wenn es sich hier um eine naive Projektion auf der Basis von Reiseerfahrungen handelt, steht Schinkels Interpretation in einem deutlichen Gegensatz zu zeitgenössischen Thesen vom degenerierten Weiterleben antiker Formen in der mittelalterlichen Architektur, wie sie etwa Jean Baptiste Séroux d’Agincourt vorbrachte.85 Überdies scheint bemerkenswert, daß Schinkel nun für die mittelalterliche Geschichte historische Informationen heranzieht, um einen architekturgeschichtlichen Verlauf – wenn auch den eines Untergangs – zu entwerfen. Im Zuge dessen, sieht er sich nun in der Lage, den Erfindungsreichtum mittelalterlicher Baukunst zu würdigen, wenn sich der preußische Architekt im Sieneser Dom von der Ästhetik des Mittelalters überwältigt zeigt: Das Äußere sowie das Innere der Kathedrale ist ganz vollendet und in seinem Zustande so vollkommen erhalten wie kein zweites Gebäude des Mittelalters in Italien. Über das Genie des Niccolò Pisano, der zwischen 1220 und 1275 lebte, muß man erstaunen. Er ist mit van Eyck zu vergleichen. Alle seine Ornamente sind nach schönen antiken Mustern gebildet und haben nichts von der Roheit, die um diese Zeit in Europa herrschte; Siena und Pisa scheinen damals den Gipfel der Kultur innegehabt zu haben.86
Nun beobachtet Schinkel also doch einen ›Gipfel der Kultur‹, eine neue kulturgeschichtliche Amplitude, womit die Eigenständigkeit des Mittelalters als baugeschichtliche Epoche konstituiert wäre. Die Italienreise war für diese fundamentale Erkenntnis unerläßlich!
V. Als der Kasseler Hofbaumeister Daniel Engelhard87 1837 die Erfahrungen seiner zwei Jahrzehnte zurückliegenden Reise nutzte, praktische Reiseinstruktionen für junge Architekten zu verfassen, hatte sich das Bild von baugeschichtlichen Verläufen im Zuge eines
84 Schinkel, Reisen (wie Anm. 77), S. 211. 85 Jean Baptiste Séroux d’Agincourt, Histoire de l’art par les monumens, depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe, 6 Bde., Paris 1811–1823. 86 Schinkel, Reisen (wie Anm. 77), S. 230. 87 Zur Person: Gottfried Ganßauge, Daniel Engelhard (1788–1856), in: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830–1930, hg. v. Ingeborg Schnack, Bd. 6, Marburg 1958, S. 67–83; ebd. S. 82f. ein Schriften-
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aufstrebenden Stilpluralismus gegenüber den architekturgeschichtlichen Vorstellungen des Frühklassizismus deutlich gewandelt. Als Zäsur ist die 1827 in Nürnberg erschienene ›Geschichte der Baukunst vom frühesten Alterthume bis in die neuern Zeiten‹ von Christian Ludwig Stieglitz anzusehen. Architekturgeschichte ließ sich seither mittels Chronologien und stilgeschichtlicher Raster zu einem verbindlichen historischen Ordnungsmodell entwickeln.88 Seinen Lesern empfiehlt Engelhard: Ich würde rathen, auch zu diesem Studio Tabellen, und zwar in chronologischer Ordnung, zu entwerfen. Hier werden anfänglich nur Namen und Jahreszahlen stehen. Wenn man nun aber in jeder Epoche die Namen der Gebäude, welche man zu sehn bekommt, einrückt, so wird nach und nach vor der Phantasie des Reisenden ein herrliches Bild der Geschichte der Baukunst erstehen, von dessen Größe man vielleicht zurückschreckt, das aber später immer reizender und interessanter werden wird.89
Das historische Raster der Architekturgeschichte konnte sich, wer einmal mit der Systematik vertraut war, jeder auf der Basis eigener Reisebeobachtungen erarbeiten. Engelhard, der dies auf seiner Italienreise 1811 wohl ausprobiert hatte, ließ es aber auch an einer entscheidenden Stelle erblinden. Da Italien das unmittelbare Anschauungsgebiet des neuen Architekturkanons blieb, wurden nun alle bekannten historischen Stilstufen auf die Kunstlandschaften zwischen Südtirol und Sizilien projiziert. Nach dieser Logik mußten auch die mittelalterlichen Baustile, so Engelhards Auffassung, von hier aus ihren Ausgang genommen und zugleich ihren künstlerischen Gipfelpunkt erreicht haben: Die Markuskirche Venedigs sei demnach als Vorbild für die ›byzantinische‹ Baukunst in ganz Europa zu betrachten, während der Dogenpalast für die »italienisch-gothische Bauart […] als Muster gedient«90 habe. Der Anspruch, in Italien nun auch jede Facette der europäischen Baugeschichte in komprimierter Form beobachten zu können, wird deutlich, wenn es heißt: In der »nächsten Umgegend Venedigs« trete dem Reisenden »eine vollständige steinerne Baugeschichte […] vor Augen«.91 Diese Aussage entspricht fast aufs Wort der oben zitierten Bemerkung von Clemens Wenzelslaus Coudray zur architekturgeschichtlichen Stellung von Florenz und entpuppt sich so als ein Topos, der den Anspruch an die Reise zur Norm erklärt. Das Reisen kam demnach der Ausbildung insofern zugute, da sie die sinnliche und exemplarische Wahrnehmung von Architekturgeschichte ermöglichte. Indem der Erfahrungsschatz der Italienreise nun die Baukunst unterschiedlicher Epochen umfaßte, und Engelhard eine solche ›polyfokale‹ Wahrnehmung auch als Norm beschrieb, fanden die stilpluralistischen Auffassungen der zeitgenössischen Baukunst eine Legitimation jenseits nationaler oder politischer Ansprüche. Schwerlich wird zu entscheiden sein, ob die Wandlung architekturästhetischer Ideale auf die Reiseerfahrungen
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verzeichnis Engelhards; auf der Reise entstanden zahlreiche Aquarelle, die erstmals 2004 im Kasseler Brüder-Grimm-Museum ausgestellt waren. Ein konkurrierendes Ordnungsmodell entwarf Aloys Hirt in seiner 1809 in Berlin publizierten ›Baukunst nach den Grundsätzen der Alten‹, die sich nicht auf ein historisches Raster berief, sondern mit Carl von Linnés ›Natursystem‹ ein evolutionsgeschichtliches Modell adaptierte, hierzu: Wittich, Muster und Abarten (wie Anm. 83), S. 225f. Engelhard, Instructionen (wie Anm. 24), S. 9. Ebd., S. 161. Ebd., S. 9.
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zurückzuführen ist, oder lediglich den Erwartungshorizont der Reisenden neu orientierte. Für die komplexen Interdependenzen nur ein Beispiel: Das zwischen 1773 und 1813 in den Wörlitzer Gartenanlagen nach Plänen Erdmannsdorffs errichtete Gotische Haus zitiert an der Kanalseite bekanntlich Elemente der Fassade von Santa Maria dell’Orto in Venedig. Man könnte angesichts der Italienreise von Architekt und Bauherr davon ausgehen, daß die Visitation dieser Kirche einen Niederschlag im Reisejournal gefunden haben müßte, der das Bauzitat irgendwie mit der Reise in Verbindung bringt. Doch sieht man sich getäuscht. Die Kirche wird weder im Reisejournal92 erwähnt noch dient sie als Beweis eines neuen, stilpluralistischen architekturhistorischen Verständnisses. In seinem 1788 in erster und 1814 in zweiter Auflage erschienenen Gartenführer qualifiziert August von Rode das gotische Haus sogar ab: »Es ist ein großes Gebäude von weit mehr Tiefe als Länge, mit vielen Thürmchen und Spitzen und großen Fenstern mit gemalten Glasscheiben geziert. Man bemerkt daran all das Mühsame, Gezierte, Seltsame und einigermaßen Abentheuerliche, nebst der unbeschreiblichen Verschwendung der Arbeit, so dem sogenannten Gothischen Geschmacke eigen ist. Kurz es trägt ganz das Gepräge jener Jahrhunderte des Aberglaubens, der Zwietracht und der Galanterie […].«93 Angesichts dieser Worte sollte man den Zusammenhang zwischen Reisen und den ersten tastenden Formen eines historischen Stilbewußtseins nicht zu eng veranschlagen. Ideologische Begründungen, auch dies scheint bemerkenswert, wurden für die Anerkennung oder Bevorzugung eines Stils in den Reiseberichten nicht vorgebracht. Das von Engelhard empfohlene Gerüst architekturgeschichtlicher Epochen besaß in der »Verzierungskunst«, der Lehre vom architektonischen Dekorum einen bemerkenswerten Bezugspunkt. Sein den reisenden Baueleven angedientes architekturgeschichtliches Verständnis beruhte auf einem an der Formensprache interessierten Modell und nicht, wie man hätte vermuten können, an einem, das die Baugeschichte als eine Abfolge technischer bzw. technologischer Errungenschaften begreift. Den Zusammenhang stellt unser Autor wie folgt dar: Die Verzierungskunst mag man mit einem allgemeinen Theile, worin ihr Wesen und Ursprung entwickelt wird, beginnen, solche nach ihren Mitteln, nemlich Formen, Farben, Baustoffen, Gemälden, Bildhauerarbeiten, Arabesken, Beleuchtung, Vegetation und Wasserkünsten, in verschiedene Capitel theilen, und dann zu einem specielleren Theile übergehn, worin der Vollständigkeit wegen der ägyptischen, altindischen, altgriechischen, persepolitanischen, altrömischen, byzantinischen, arabischen, sogenannten neugothischen, und neuen griechisch-römischen Bauart besondere Abschnitte gewidmet werden, wenn auch schon in Italien von ägyptischen Monumenten nur wenig und von sonstigen orientalischen Bauwerken, einiges arabische ausgenommen, gar nichts vorkommt.94
Damit ist das historische Raster fixiert: Es kennzeichnet architekturgeschichtliche Epochen nach ihren Ursprüngen und übernahm damit ein eingeführtes Muster, das jedoch mit Gotik bzw. »Neugothik« und frühneuzeitlicher Architektur, der »neuen griechischrömischen Bauart« kollidieren mußte. Doch versuchte Engelhard, verglichen mit anderen 92 Erdmannsdorff, Journal (wie Anm. 4), S. 100ff. 93 August von Rode, Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz. Neue vollständige Ausgabe, Dessau 1814 (Reprint Wörlitz 1996), S. 119. 94 Engelhard, Instruction (wie Anm. 24), S. 6.
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Architekten, eine differenzierte Stilterminologie zu entwickeln. Dabei lag der Schwerpunkt auf dem Mittelalter, das in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhundert noch im Hinblick auf seine Stimmungswertigkeit, aber auch seiner Tektonik wegen einen Grundpfeiler der architektonischen Romantik bildete. Bei Engelhard finden wir schließlich auch einen Beleg für den Zusammenhang zwischen Reise und Stilpluralismus, wenn er ausführt Ich will hier besonders auf die Geschichte des Mittelalters in Italien aufmerksam machen. Die mittelalterliche Bauart, in welcher in Italien unzählige, im Norden gar noch nicht bekannte, ja kaum geahnte Schätze besitzt, wird in unseren Tagen von dem Zeitgeschmack immer eifriger aufgenommen, studiert, benutzt; und ich habe bei der Reiseroute, die ich anrathe, Rücksicht darauf genommen.95
Die von Engelhard angeregte systematische Wahrnehmung der Architekturgeschichte als ein zentrales Kriterium der Italienreise hatte Konsequenzen für die Reisepraxis. Wenn ganz Italien als baugeschichtlicher Erfahrungsraum betrachtet wurde, dann kam jedem Ort eine spezifische Wertigkeit innerhalb der imaginären Architekturgeschichte zu. Der reisende Baueleve mußte um diese Wertigkeit wissen (und er besaß dafür mit Engelhards ›Instruction‹ einen Schlüssel), sonst konnte es vorkommen, daß das baugeschichtliche Raster bei der Rückkehr Lücken aufwies: Mailand ist, wie bekannt, eine sehr große Stadt, in der man Gebäude von aller Art und Benutzung findet. Ich halte sie, da es gewöhnlich die letzte große italiänische Stadt ist, die der nach Norden zurückreisende Fremde zu sehen bekommt, zu seiner Studien-Recapitulation ganz besonders geeignet. Jeder Architekt, der Italien bereiset hat, wird sich gewiß später noch manches Gegenstandes erinnern, von dem es ihm leid ist, daß er sich danach nicht in Italien umgesehn und erkundigt habe. Ist er erst einmal wieder im Schatten der Alpen, so ist es zu spät, und es muß dann jede Erkundigung auf eine weitläufige, unvollkommene Weise durch einen Dritten geschehen. Ich glaube, das beste Mittel solche Vergeßlichkeiten so viel als möglich zu vermindern, wäre, in Mailand eine Studien-Recapitulation vorzunehmen, die wohl am angenehmsten dadurch geschähe, daß man die auf der ganzen Reise gemachten StudienZeichnungen und schriftlichen Notizen in ein architektonisches System ordnete, etwa in das oben vorgeschlagene; was sich einfach durch rubricierte Umschlagebogen thun ließe, und besonders dann leicht sein wird, wenn man die Notizen verschiedener Art nicht so zusammengeschrieben hat, daß sie sich nicht voneinander trennen ließen; was überhaupt nützlich sein möchte und keineswegs hindert, daß man sie, bevor man sie von einander trennt, in ein zusammengeheftetes Buch schreibt; was allemal auf einer Reise bequem ist. Bei solchen Ordnern wird sich nun manche Lücke ergeben, und dann ist in Mailand noch Zeit, Manches nachzutragen; nur darf es gerade nicht antike Architektur betreffen. Mit dieser muß man in Pompeji fertig werden; dagegen findet sich noch desto mehr aus dem Mittelalter […].96
Die Reise-Instruktion Engelhards eröffnet die Möglichkeit systematischer Aneignung von Architekturgeschichte, sie zielt auf chronologische Vollständigkeit, auf den Abgleich von zeichnerischer Dokumentation und schriftlicher Reflexion, auf Rekapitulation und auf Epochenbewußtsein. Dies stellt, verglichen mit den Defiziten, die ältere Reiseautoren an sich selbst beobachteten, aber auch mit den allgemeinen Apodemiken, eine völlig neue Qualität dar. Niemals zuvor und auch nicht nach Engelhard ist die Reise derart unmittelbar an Ausbildungsbedürfnisse angepaßt worden. Mit Blick auf die Architekturgeschichte Venedigs reflektiert Engelhard die notwendige semantische Definition und Abgrenzung kunsthistoriographischer Begriffe. Den 95 Ebd., S. 9. 96 Ebd., S. 191.
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Terminus »italienisch-gothische Bauart« verwendet er nach eigener Aussage, um ihn von »dem reineren Stile dieser Bauart in Deutschland, Frankreich, England, Spanien und Portugal«97 zu unterscheiden. Die an und für sich unpassende Benennung ›gothisch‹ muß hier, als einmal aufgenommen, gebraucht werden, da noch keine passendere an ihre Stelle gekommen ist; denn daß man nicht das ›altdeutsch‹ oder ›deutsch‹ an deren Stelle setzen dürfe: darüber sind jetzt wohl alle Kunstverständigen eben so sehr einverstanden, als daß der Spitzbogenstyl nicht von den Gothen herrühre.98
An solchen Stellen der ›Instruction‹ wird deutlich, daß es an einem zeitgenössischen architekturgeschichtlichen Diskurs mangelte, dessen Argumente mit begrifflicher Exaktheit hätten vorgetragen werden können. Das Beispiel der begrifflichen Bestimmung mittelalterlicher Architektur und damit die auf selbständiger Beobachtung und Forschung beruhende fachliche Verständigung lassen sich mit den tastenden Versuchen der epochalen Bestimmung des später ›Renaissance‹ genannten Zeitalters vergleichen. Erkenntnisse und Anschauungen hatten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts das Potential einer kritischen Masse, eines architekturhistoriographischen Umschlagspunkts noch nicht erreicht. Dies wird deutlich, wenn Engelhard für die Zäsur zwischen Mittelalter und ›moderner‹ Zeit zwar ein Sensorium, aber eben noch keinen Begriff besitzt.99 In bezeichnender zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung der ›Instructionen‹, genauer im Jahre 1838, begann sich der architektonische Stilbegriff ›Renaissance‹ in Deutschland unter Vermittlung eines Architekten, nämlich Gottfried Sempers, durchzusetzen.100 Fast überflüssig zu erwähnen, daß Sempers eigene Italienreise zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre zurücklag, seine Vorstellung von ›Renaissance‹ mithin ganz entschieden durch den Italienaufenthalt bestimmt wurde.101 Das Verständnis dafür, die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts als Bruch mit der Vergangenheit und eigenständige Epoche zu bewerten, war selbst unter Historikern zu diesem Zeitpunkt noch kaum ausgeprägt. Erst 1835 hatte Leopold von Ranke, dem Kunsthistoriker Carl Friedrich von 97 Ebd., S. 161. 98 Ebd., S. 161. Engelhard hatte sich intensiv mit der Gotik beschäftigt und trat auch als Übersetzer dementsprechender Literatur in Erscheinung: Jacob Murphy, Ueber die Grundregeln der Gothischen Bauart. Aus dem Englischen übersetzt von J. D. E. W. Engelhard, Curhessischer Oberbaumeister und Mitglied der Academie der Bildenden Kuenste zu Cassel, Leipzig/Darmstadt 1828. 99 Das neue Stilbewußtsein ging von der Pariser Akademie und den dort publizierten Stichwerken zur italienischen Architekturgeschichte aus, etwa: Charles Percier/Pierre-Françoise-Léonard Fontaine, Palais, maisons, et autres édifices modernes dessinés à Rome, Paris 1789, sowie Auguste Grandjean/Auguste Famin, Architecture Toscane. Palais, maisons et autres édifices de la Toscane, Paris 1806. 100 Hendrik Karge, Renaissance. Aufkommen und Entfaltung des Stilbegriffs in Deutschland im Zuge der Neorenaissance-Bewegung um 1840, in: Neorenaissance – Ansprüche an einen Stil. Zweites Historismus-Symposium Bad Muskau (Muskauer Schriften 4), Dresden 2001, S. 39–66, hier S. 59; vgl. im Zusammenhang des Epochenbewußtseins auch die Hinweise auf Hegels ›Vorlesung über die Ästhetik‹ von 1828/29 sowie auf Heines ›Lutetia‹ bei: Karlheinz Stierle, Italienische Renaissance und deutsche Romantik, in: Hausmann, Italien-Rezeption (wie Anm. 15), S. 373–404, hier S. 392ff. 101 Gisela Moeller, ›Grau teurer Freund ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum‹. Sempers Studienreise durch Italien, Sizilien und Griechenland 1830–1834, in: Winfried Nerdinger/Werner Oechslin (Hg.), Gottfried Semper 1803–1879. Architektur und Wissenschaft, Ausstellungskatalog München und Zürich, München 2003, S. 105–108.
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Rumohr darin folgend, die Auffassung vertreten, daß die Phase zwischen Mittelalter und Neuzeit epochal aufgefaßt werden müsse, »so durchgreifend und vollständig« erschien ihm jene Zeitstufe, die »das Mittelalter von der modernen Zeit trennt.«102 Der Paradigmenwechsel hin zum Verständnis der Renaissance als Epoche erfolgte erst zwei Jahrzehnte später und verbindet sich mit den Namen Georg Voigt und Jacob Burckhardt. Seine Verknüpfung von historischen Stilbrüchen und Epochencharakterisierung führte Engelhardt bis 1849 zu einem völlig neuen Verständnis der Architekturgeschichte. Diese lieferte er in seiner Schrift ›Über die italienische Bauart zur Zeit der Wiederherstellung der Künste (Renaissance)‹.103 Hier, dies soll nur im Sinne eines Ausblicks angerissen werden, unternahm er nun den Versuch einer sozioökonomischen Begründung für die Entstehung der Renaissance-Baukunst: Der Florentinische Baustyl herrschte auch nicht in Florenz allein: es finden sich vielmehr in den Städten Ober-Italiens, besonders Bologna, so wie auch Venedig, viele schöne Denkmäler desselben, und man muß daher als wesentliche Förderung dieses Styls, den Reichthum des Bürgerstandes, der damals in diesen Städten so sehr zugenommen hatte, betrachten; um so mehr da es bekannt ist, wie sehr die reich gewordenen bürgerlichen (Handels-)Familien […] Künste und Wissenschaften liebten und förderten. Man denke nur z.B. an die Mediceer. Da sich dieser bürgerliche Reichthum in Rom und UnterItalien damals wenigstens nicht in dem Maaße fand, findet sich daselbst auch die Florentinische Bauart nicht […].«
Das hier zum Ausdruck kommende Bewußtsein dafür, daß stilistische Brüche nicht nur formgeschichtlich oder mit dem Genie des Architekten erklärt werden können, bildete auch für die Entwicklung des Fachs Kunstgeschichte eine Zäsur. Die Reisepraxis veränderte diese neue Justierung der architekturhistorischen Aneignung Italiens nicht, sie eröffnete aber eine moderne, weil endgültig aus der Tradition der ›Grand Tour‹ tretende Perspektive auf die Architektur Italiens.
102 Zit. nach Walter Goetz, Mittelalter und Renaissance, in: Historische Zeitschrift 98 (1907), S. 30−54, hier S. 35; Rankes Schrift trägt den Titel ›Zur Geschichte der italienischen Poesie‹. 103 Daniel Engelhardt, Über die italienische Bauart zur Zeit der Wiedergeburt der Künste (Renaissance), in: Journal für die Baukunst in zwanglosen Heften, hg. v. A. L. Crelle, 29. Band 1850, S. 209−250; beendet, so ein Verweis, 1849.
Susanne Deicher
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I Zum Erwartungshorizont von Schinkels Italienreise Im Jahre 1803 trat Karl Friedrich Schinkel eine Reise nach Italien an. Die Grand Tour war im Kreise der »Privatgesellschaft junger Architekten« in Berlin vorbereitet worden; Friedrich Gilly, Konrad Wachsmann, Schinkel und andere hatten gemeinsam archäologische, ästhetische und kunsthistorische Literatur über die Denkmäler Italiens studiert und kommentiert. Zunächst hatte nur Gilly, der 1800 noch vor Beginn der Reise verstarb, geplant, »den Anblick jener Meisterwerke und die Wärme des heiligen Landes selbst zu genießen.«1 1803 waren dann Schinkel und Konrad Levezow, beide Mitglieder der »Privatgesellschaft […]«, in Rom anzutreffen.2 In ersten Briefen berichtete Schinkel von einem Aufenthalt in einem »Italien mit allen bekannten Attributen« – trotz der Schilderung des »Genusses«, den er vor allem vor der Landschaft empfand, beschrieb er das Gefühl einer Enttäuschung. An Heinrich von Köstritz, der ebenfalls nach Italien aufbrechen wollte, richtete er den Hinweis: »Fast alles das, wovon die ganze Welt erfüllt ist, was jeder weiß zu nennen, wird Ihnen die Erwartung häufig täuschen, vielleicht weil unsre Phantasie, zu hoch gespannt, zu kühne Bilder schaffte.«3 Im Ausdruck der Enttäuschung, ja der Langeweile angesichts des allzu Bekannten artikuliert sich ein überraschend modernes Bewußtsein, daß mit älteren Vorstellungen
1 Friedrich Gilly, Konzept einer Rede vor der Privatgesellschaft junger Architekten vom 30. Januar 1799. Manuskript, Berlin, Privatbesitz, in: Friedrich Gilly 1772–1800 und die Privatgesellschaft junger Architekten, Aust.-Kat. Berlin Museum, Berlin 1987, 178. Die Rede Gillys wurde offenbar im Zusammenhang eines ›Seminars‹ gehalten, das der Auseinandersetzung der Mitglieder der Gesellschaft mit dem in seiner Bibliothek enthaltene Stichwerk von Percier, Fontaine und Bernier, Palais, Maisons et autres Edifices modernes, dessinés a Rome, Paris 1798, galt. Ausweislich des »Verzeichnis der von dem verstorbenen Professor und Hof-Bau-Inspektor Gilly hinterlassenen […] Sammlung von Büchern […] Berlin 1801« befanden sich in Gillys Bibliothek weiterhin, neben einer über 130 Bände umfassenden Sammlung von Stichwerken in Folio zur klassischen Architekturtheorie und zu den Denkmälern Italiens und Griechenlands auch literarische und philosophische Werke, u. a. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Berlin 1800; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790; Lehrbücher und Essaybände zur Ästhetik, darunter Schmidt-Phiseldek, Briefe ästhetischen Inhalts mit Hinsicht auf die Kantsche Theorie, Altona 1797; Werke zur Kunsttheorie, u. a. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1786; die Schriften von Karl-Philipp Moritz und Winckelmann; einzelne Titel von Schiller, Lessing, Gilpin, usw. Das Verzeichnis ist wiedergegeben in Friedrich Gilly, Essays zur Architektur, hg. v. Fritz Neumeyer, Berlin 1997, S. 195–230. 2 Über Levezows Aufenthalt berichtet Gottfried Riemann in: Karl Friedrich Schinkel, Reisen nach Italien, Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Aquarelle, hg. von Gottfried Riemann, Berlin 1979, S. 296, Anm. 60. 3 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 70.
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vom Italienaufenthalt als Erfüllung einer Sehnsucht und als Quell künstlerischer Inspiration nicht vereinbar ist.4 Das Gefühl, das Schinkel artikuliert, fügt sich aber auch nicht recht in das Bild, das eine neuere Forschung von der Italienreise als rational bestimmtem Unternehmen entworfen hat.5 Eine international agierende Schicht von Intellektuellen und Künstlern, Ästhetikern, Schriftstellern, Malern und Architekten traf sich damals in Rom. Das Viertel oberhalb der Spanischen Treppe war von den Wohnungen der Deutschen belegt, es gab bekannte Treffpunkte, wie das Haus des preußischen Gesandten Wilhelm von Humboldt, zu dem auch Schinkel schnell Zugang fand. Der Aufenthalt in Rom erschien vielen nordeuropäischen Künstlern bald als unverzichtbarer Ausgangspunkt6 für den beruflichen Weg im Heimatland – es kam dort zu Kontakten, wie dem karriereentscheidenden Zusammentreffen Schinkels mit Wilhelm von Humboldt. Schinkel, der mittellos in Rom ankam und bald von Humboldt auch finanziell unterstützt wurde,7 war von Altersgenossen umgeben, für die die Italienreise ein lange erstrebtes Ziel war und die, wie er, in diese Reise ihr ganzes »Vermögen«8 investiert hatten. Sie alle erwarteten nicht nur viel von der Italienreise, sie erfüllte meist auch ihre künstlerischen und professionellen Hoffnungen. Schinkel brachte von der Italienreise Material mit nach Hause, auf das er spä-
4 Vgl. etwa die Darstellungen bei Hermann Riegel, Geschichte des Wiederauflebens der deutschen Kunst seit Carstens, Hannover 1876 oder bei Franz Koch, Deutsche Kultur des Idealismus (Handbuch der Kulturgeschichte, I. Abteilung, Geschichte des deutschen Lebens), Potsdam 1935. 5 Vgl. Künstlerleben in Rom, Bertel Thorvaldsen (1770–1844), der dänische Bildhauer und seine Freunde, hg. von Gerhard Bott, Heinz Spielmann (Ausst.-Kat.), Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum 1991. 6 Wer als Künstler eine Italienreise ablehnte, mußte dies unter Umständen begründen – das zeigen einige Texte Caspar David Friedrichs, z. B. der um 1803 datierbare »Brief in Versen«, ein episches Gedicht, in dem Friedrich seine damals in Rom weilenden Künstlerfreunde erwähnt, die Schönheit der deutschen Landschaft lobt und darstellt, wie sehr diese doch für die Zeichentätigkeit und Inspiration des Künstlers geeignet sei. Vgl. Caspar David Friedrich, Ein Brief in Versen, in: ders., Bekenntnisse, hrg. v. Kurt Karl Eberlein, Leipzig 1924, S. 74–81. 7 Die Reisebriefe Schinkels belegen, daß dieser nach seiner Ankunft in Rom im Herbst 1803 mittellos war und nicht auf Bekanntschaften oder Empfehlungen zurückgreifen konnte – er zog zunächst in ein günstiges Privatquartier an der Trinità dei Monti, wo ihn der Wirt unterstützte. Von dort aus zeichnete er das Panorama Roms (Abb. 1). Erst etwas später, vielleicht gegen Ende des Jahres, bekam er Kontakt zu den Deutschen in Rom – vielleicht über Schick hat er Zugang zu dem Kreis um Wilhelm von Humboldt gefunden. Waagen berichtet, »in dem […] Hause des Ministers von Humboldt fand er die freundlichste Aufnahme und knüpfte ein Verhältnis an, welches für das ganze Leben beiden Theilen die schönsten Früchte tragen sollte.« G[ustav] F[riedrich] Waagen, Karl Friedrich Schinkel als Mensch und Künstler, in: Berliner Kalender auf das Schalt-Jahr 1844, hg. v. d. Königlich Preussischen Deputation, Berlin 1844, S. 306–428, hier S. 313. Schinkel, dessen Reisekasse in Rom aufgebraucht war, erhielt von Humboldt Geld für die Weiterreise. Eine Geldsendung an Schinkel in Neapel ist Gegenstand eines Briefs Humboldts vom 24. April 1804. Am 27. Oktober 1809 schrieb dieser an Schinkel aus Königsberg: »seyn Sie überzeugt, daß ich mich noch immer mit lebhaftem Vergnügen der Zeit erinnere, welche Sie in meiner Nähe in Rom zubrachten.« Brief an Schinkel, Königsberg, den 27. November 1809, in: Wilhelm von Humboldt, Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen und Tagebüchern, hg. v. Rudolf Freese, Darmstadt 1986, S. 496. 8 Karl Friedrich Schinkel, Selbstbiographie, verfaßt für das Brockhaus Konservationslexikon 1825, nach dem Manuskript abgedruckt in: Karl Friedrich Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken, hg. von Hans Mackowsky, Berlin 1922, S. 25–29, hier S. 26.
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ter immer wieder zurückgriff. Anders als viele seiner Generationsgenossen entging er auch den Gefahren, die die Italienreise mit sich brachte – er wurde nicht krank, fiel Räubern nicht zum Opfer und machte auch keine psychische Krise durch.9 Zur Äußerung eines derartigen Ennui hätte er also, versteht man die Italienreise als Investition in die Karriere und als Weg zur Selbstfindung eines professionell orientieren »Künstlers«,10 eigentlich wenig Grund gehabt. Die Alternativen, die die Forschung präsentiert hat, treffen den Sinn des Italienaufenthalts offenbar noch nicht. Die Italienreise war weder aus Zeit und Welt herausgehoben noch konnte sie als ein künstlich isoliertes Kalkül betrieben werden. Sie war nichts als ein Moment in einer ideologischen Ganzheit. Als solche war sie auch Ausdruck einer Erkenntnisbewegung, in ihr artikulierte sich das Streben nach einem bestimmten Typus des Wissens. Die Zeitgenossen haben hervorgehoben, daß Schinkel auf die Italienreise 1803 Schriften Fichtes, vielleicht dessen Hauptwerk, die »Wissenschaftslehre« mitnahm, vor Ort las und in Rom selbst philosophische Traktate zu schreiben begann, die sich mit der Verfaßtheit des empirischen Raums für den erkennenden Geist auseinandersetzten.11 Die »Privatgesellschaft«, in der die Reise vorbereitet worden war, war bezeichnend für die Struktur der Öffentlichkeit in Berlin in jenen Jahren – in Zirkeln wie diesen bildeten sich, etwa 20 Jahre später als in den Zentren der Weimarer Klassik, an diese anknüpfende
9 Um 1800 waren viele Krankheits- und Todesfälle unter jungen Nordeuropäern in Rom zu verzeichnen. Dafür verantwortlich waren nicht nur die hygienischen Verhältnisse in preiswerten Quartieren oder die in Rom grassierende Malaria. Auch die Suizidrate stieg an. Zu meistern war nicht nur die Entfernung aus dem gewohnten sozialen Umfeld. Dazu fanden die meisten ein Verhältnis – sei es in Askese und Einsamkeit oder durch die Wahl eines freieren Lebensstils – seit Winckelmann und Goethe galt Rom auch als ein möglicher Ort erotischer Erfüllung (vgl. dazu K. R. Eissler, Goethe. Eine psychoanalytische Studie, Frankfurt 1985, 2 Bde.). Bedrohlich wurde für viele vielmehr eine psychische Krise, in deren Erwartung sie sich nicht zuletzt überhaupt nach Rom begeben hatten. Das normative Ideal dieser Krise hat Goethe in seiner erst 1815 gedruckten Italienischen Reise gestaltet – in Italien geschah eine Erweckung des ästhetischen Subjekts, die Transformation der erworbenen Bildung. Ziel war die Indienststellung aller personalen Fähigkeiten in den erneuerten Rahmen einer Künstlerschaft, die am Ende eines italienischen Aufenthalts stehen sollte. Durch die persönliche Begegnung mit den Denkmälern sollte der reisende Künstler, so hat es Goethe formuliert, ein »anderer« werden, erneuert an Körper, Geist und Psyche. Eine strenge Selbstbeobachtung der am eigenen Ich vorgehenden Prozesse war Grundbedingung der Möglichkeit einer solchen Krise. Der Imperativ »Erkenne Dich selbst« setzte den Einzelnen in die Lage, sich zum Künstler umzubilden. Daß dies mißlingen konnte und an die Stelle der produktiven Transformation zum Subjekt der Kunst eine Selbstbeobachtung mit depressiver Tendenz treten konnte, das führen zahlreiche Dokumente vor, darunter etwa Julius Schnorr von Carolsfeld: Briefe aus Italien, geschrieben in den Jahren 1817 bis 1827, hg. v. Franz Schnorr von Carolsfeld, Gotha 1886. Dagegen berichtete etwa Ludwig Richter in seinen Lebenserinnerungen von einer produktiven inneren Krise in Rom, die er 1824 erlebte: »(ich) war mir an jenem Abend der Umwandlung nicht bewußt, die in mir vorging. Aber alle die kleinen, unscheinbaren Ereignisse der letzten Wochen und Tage hatten den Keim hervorgelockt, der so lange Zeit, mit schwerer Erde bedeckt im Winterschlaf gelegen hatte […] Ich erwachte plötzlich mit dem Gefühl […], daß ich mich wie neugeboren fühlte«. Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, hg. v. Erich Marx, Leipzig 1944, S. 217–218. 10 Vgl. Andreas Haus, Karl Friedrich Schinkel als Künstler, München 2001. 11 Vgl. Susanne Deicher, Ästhetische Fragmente über die Ordnung in der Architektur. Karl Friedrich Schinkel und Wilhelm von Humboldt in Rom, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68 (2005), S. 391–412.
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Bestrebungen heraus. Bedeutsam für das Einsetzen dieser Richtung waren Wilhelm von Humboldt und auch der von Goethe protegierte Karl Philipp Moritz gewesen, der bis zu seinem frühen Tod 1798 an der Berliner Kunstakademie eine Professur inne gehabt hatte. Seit Mitte der 90er Jahre war die zuvor in Berlin allgemeine Orientierung am englischen Empirismus und Utilitarismus einem Interesse an Kants Erkenntniskritik gewichen. Man las Rousseau und die Denker der französischen Revolution und besuchte die Stätten ihres Wirkens – wie vor ihm andere Berliner reiste auch Schinkel nicht nur nach Rom, sondern auch nach Paris.12 In Salons und Gesellschaften wurde über ein neues Forschungsinteresse debattiert, das sich durch die Ausrichtung auf die Untersuchung der sozialen Leistungspotentiale der Sprache, der Architektur, der Musik und anderer Künste auszeichnete. Tradierte preußische Orientierungen am Wert der Nützlichkeit und an der Staatsräson wurden abgelehnt – an die Stelle der Selbstverpflichtung der Eliten auf schlichte Bürgentugenden trat eine anspruchsvolle Modellbildung, die das Gemeinwesen als gleichsam künstlerische Schöpfung vieler aufeinander bezogener Einzelner ansah.13 1801 wurde Kants Schüler Fichte, der seine Professur in Jena verloren hatte, durch den König eingeladen, in Berlin regelmäßig Vorlesungen abzuhalten, zu deren Zuhörern vielleicht auch der junge Schinkel zählte. Wie erhaltene Mitschriften der Publikumsdebatten nach diesen Vorlesungen zeigen, machte Fichte sich zum Fürsprecher der neuen Richtung, er opponierte dem gesunden Menschenverstand und stritt sich öffentlich mit Vertretern des Berliner Empirismus. Daß Schinkel 1803 gerade Schriften Fichtes als die richtigen Begleiter auf seiner Italienreise ansah, macht seine intellektuellen Interessen zu diesem Zeitpunkt kenntlich. Der Sinn der Grand Tour hatte sich in der Kultur der Klassik gewandelt – die Italienreise galt nicht mehr in erster Linie der Besichtigung der Vorbilder oder der Erarbeitung eines architektonischen Vokabulars, welches an die Systeme der antiken Architektur würde anschließen können. In Italien wurden, voller »Erwartung«, geleitet von hochgestimmten ›Phantasien‹, die Anfangsgründe der eigenen Kultur und der Umriß des Neuen gesucht. Für die Mitte des 18. Jahrhunderts ist dieses doppelte Streben anhand der Villa Albani beschrieben worden.14 Die Reisenden eigneten sich zunehmend die Instrumente
12 So reiste Wilhelm von Humboldt nach Frankreich, um nicht nur das Grab Rousseaus aufzusuchen, sondern auch mehrere Monate im revolutionären Paris zu verbringen. Vgl. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 14: Tagebücher I, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1916. Schinkel hielt sich 1804 nach Abschluß der Italienreise in Paris auf, vgl. Schinkel ed. Riemann (wie Anm. 2). 13 Ein wichtiger Vertreter dieser Denkrichtung war Wilhelm von Humboldt, der seit 1792, u. a. in seiner Schrift »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«, diese Werte vertrat. Vgl. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, in: Humboldt, Schriften (wie Anm. 12), Bd. 1, Werke 1785–1795, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1903, S. 97–254. Vgl. dazu Susanne Deicher, »So liessen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden.« Zur Konzeption einer medial vermittelten Öffentlichkeit bei Wilhelm von Humboldt, in: Eric J. Engstrom, Volker Hess, Ulrike Thoms (Hg.), Figurationen des Experten: Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, hrg. v. Wolfgang Höppner, Bd. 7), Frankfurt 2005, S. 43–60. 14 Vgl. Forschungen zur Villa Albani. Antike Kunst und die Epoche der Aufklärung, hg. v. Herbert Beck u. Peter C. Bol (Frankfurter Forschungen zur Kunst 10), Berlin 1982, darin auch der Aufsatz von Horst
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der wissenschaftlichen Disziplinen an. Philosophie und Altertumsforschung wurden zum methodischen Handwerkszeug der Künstler, die die Italienreise nun als eine Art Forschungsunternehmen aufzufassen begannen. Das hohe Alter der antiken Monumente Italiens hatte im Denken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht als Schranke für die Forschung gegolten – man war überzeugt, man werde die fehlenden Tatsachen auffinden und die Denkmäler in das System des bekannten Wissens einordnen können,15 die Sprache ihrer Architektur verstehen und schließlich nicht nur selbst mit den Elementen der klassischen Sprache der Architektur arbeiten können, sondern auch einen ungehinderten Blick auf die Lebenswelt der Alten und auf die früheste Stufe einer schönen Kunst genießen können. Winckelmann brachte 1755 diese enthusiastische Perspektive zum Ausdruck: »Die reinsten Quellen der Kunst sind geöfnet: glücklich ist, wer sie findet und schmeket!«16 Bezeichnend für die Konzeption einiger Denker im Umkreis der deutschen Klassik war es, daß sie der Idee der »Quelle« eine doppelte Bedeutung zuwiesen – als historischer Anfang und als erster Grund des Wahren. Diese spekulative Metapher verband drei Terme miteinander, nämlich den Quellort des Wassers, den Anfang und das Wahre. Sie verwies auf die Sinngebung der christlichen Schöpfungsgeschichte als Einheit von Anfang und göttlichem Wissen – die Berechtigung der Verwendung solcher begrifflicher Konstruktionen wurde von einigen Zeitgenossen
Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, der sich mit der doppelten Orientierung des Wissens im 18. Jh. anhand der Kunstkammer auseinandersetzt. 15 Vgl. Alain Schnapp, Discovery of the Past. The Origins of Archaeology, London 1996, der zwischen »the middle of the seventeenth century« (179) und 1780 eine Transformation der frühen Altertumswissenschaft beschreibt: Die Zunft der universal orientierten »Antiquarians«, deren Ziel darin bestanden habe, ein Denksystem im Stil des 17. und 18. Jh.s zu komplettieren und »to fill the gaps in the classicals texts« (206) wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgelöst von »Archaeologists«, Forschern eines neuen Typs, die sich dem zunächst unvertrauten Material der Funde zuwandten und die Geschichte nur einzelner Völker oder Regionen erkundeten. Schnapp nennt, als ein auslösendes Moment der Hinwendung zur Empirie in Deutschland, Leibnizens Aufforderung zur Erforschung der Ursprünge der Germanen und an die Umsetzung dieser Aufforderung durch das Werk von Eccard, De Origine Germanorum, Göttingen 1750. Winckelmanns Werk entstand in der Phase des Übergangs zwischen den ›Antiquarians‹ und den ›Archaeologists‹ und trägt Züge beider Konzeptionen. 16 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: ders., Sämtliche Werke. Donaueschingen 1825, Bd. 1, S. 1–58, hier S. 3. Alex Potts, Flesh and the Ideal. Winckelmann and the Origins of Art History, New Haven 1994, hat in seiner Interpretation Winckelmanns darauf hingewiesen, daß auch bei diesem bereits das Motiv der griechischen Kunst als uneinholbar entfernter auftaucht – dennoch überwiegt bei Winkkelmann noch das Vertrauen in die vollständige Rekonstruierbarkeit der Lebenswelt der Alten. Die griechischen Werke sind in erster Linie darum so fern, weil die in ihnen angedeutete Schönheit aller Lebensverhältnisse sich von der heutigen Welt so positiv unterscheidet. Dennoch ist für Winckelmann ein systematisches Verwandtschaftsverhältnis gegeben: »Der schönste Körper unter uns wäre vielleicht dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher, als Ophikles dem Herkules, seinem Bruder, war.« (Ebd., 10). Wenn der zeitgenössische Künstler »auf diesem Grund bauet, und sich die griechische Regel der Schönheit Hand und Sinne führen lasset, so ist er auf dem Wege« – hin zu einer Erneuerung dieser Schönheit in der Lebenswelt der Zeitgenossen. (Ebd., 21). Daß es eine Regel gibt, sorgt dafür, daß sich die Schönheit vollkommen verstehen und auch nachvollziehen und erneuern läßt.
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auch kritisiert.17 Viele Italienreisende legten, im Sinne dieser Metapher, ihre Italienreise als Suche nach der »Quelle« an. Am Ort der ältesten Denkmäler forschten sie nicht nur nach den Anfängen der Geschichte, sondern auch nach dem tiefsten Grund der Dinge. Wer aus Italien zurückkam, von dem wurde angenommen, daß er sich, jenseits der eigenen, nördlichen Lebenswelt, auf eine Suche nach dem Wahren begeben hatte. Von ihm konnte erwartet werden, daß er über Einsicht in allgemeine Prinzipien verfügte, die geeignet schienen, seine eigene Arbeit auf die Wirklichkeit vieler anderer sinnvoll zu beziehen.18
II Die Suche nach dem Ursprung Die Herausgeber der aus Italien überlieferten Texte haben sich verwundert darüber gezeigt, daß Schinkel auf der Reise eine umfangreiche und systematisch angelegte Textproduktion betrieb. Der gleiche Gegenstand wurde unterschiedlichen Bearbeitungen unterzogen – in Schinkels Nachlaß existieren Reisebriefe an Freunde oder Gönner, sachliche Berichte für den Kreis der Berliner Bauakademie, Fragmente philosophischer Abhandlungen und schließlich Selbstreflexionen. Das Textkonvolut, das in der Forschung gewöhnlich Schinkels »Tagebücher«19 genannt wird, obwohl es weder kontinuierlich geführt wurde noch stilistisch einheitlich ist, enthält ausführliche und genaue Beschreibungen seiner Wahrnehmungen. Zeichnungen von der Reise ergänzen das Protokoll des Gesehenen – Schinkel, von dem bekannt ist, daß er in Rom bedeutende Vertreter der deutschen Zeichenkunst seiner Zeit kennenlernte, wandte sich dem vor allem durch Johann Christian Reinhart vertretenen Ideal der äußersten Präzision in der Darstellung von Einzelheiten zu (Abb. 1).20
17 Wilhelm von Humboldt etwa polemisierte gegen religiöse »Schwärmer«, die in ihren wissenschaftlichen Versuchen die Erkenntnisweisen des Gefühls und der Vernunft begrifflich falsch gegeneinander abgrenzten. Humboldt, Tagebücher (wie Anm. 12), 159. 18 Vgl. z. B. Friedrich Hölderlins Begründung für ein Interesse an der Bestimmung eines »Ur-grunds«: »daß wir im Urgrunde aller Werke und Taten der Menschen uns gleich und einig fühlen mit allen, sie seien so groß oder so klein«. Friedrich Hölderlin, Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben, in: ders., Werke und Briefe, hg. v. Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Frankfurt 1969, Bd. 2, S. 593–595, hier S. 595. 19 Das Textmaterial, das seit Alfred Freiherr von Wolzogen, Aus Schinkels Nachlaß, Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen (3 Bde.), Berlin 1862–1864, unter dem Titel »Reisetagebücher« geführt wird, unterscheidet sich durch seine Heterogenität – rein berichtende Notate wechseln ab mit Passagen hoher stilistischer Qualität, die offenbar ästhetisch motivierten Bearbeitungen unterzogen wurden – von modernen Begriffen eines ›Tagebuchs‹. Den Gedankenreichtum der Texte hat bereits ihr zweiter Editor, Hans Mackowsky (wie Anm. 8), zu fassen gesucht, während Riemann (wie Anm. 2), S. 278 einerseits »poetische« Qualitäten hervorhob, andererseits meinte, die meisten Texte seien »ohne literarischen Ehrgeiz« verfaßt worden. Anhand der Manuskripte wäre zu überprüfen, ob eigentlich überhaupt von einem einheitlichen ›Tagebuch‹ die Rede sein kann und ob nicht die Texte womöglich für unterschiedliche Zwecke bestimmt waren. 20 Schinkels italienische Zeichnungen machten in Rom »unter den dortigen Künstlern das größte Aufsehen […] und jeder wollte etwas davon haben«, wie Waagen berichtet, Schinkel habe zahlreiche Blätter verschenkt. Daß dieser überhaupt Ansichten Roms aufnahm und dabei avancierten Überlegungen zum Realitätsgehalt der Zeichnung zu folgen schien, ist womöglich auf seine römischen Kontakte zurückzuführen, »Während eines fünfmonatlichen Aufenthalts in Rom kam er mit den dortigen Künstlern mit dem Maler Kaaz, dem Tyroler Koch und Schick in näheren Verkehr.« Waagen (wie Anm. 6), S. 327.
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Daneben existieren Zeichnungen (Abb. 2), die Schinkel und seine Gefährten als Reisende der Epoche des ›Sturm und Drang‹ zu zeigen scheinen. Die Pathosformel der erhobenen Hand mit dem wehenden Umhang war eine am Ende des 18. Jahrhunderts gern gebrauchte Chiffre für die poetische Inspiration – sie findet sich etwa in Nicolai Abildgaards durch Kupferstiche weit verbreiteten Darstellung Ossians (Abb. 3). Der in Schinkels Zeichnung dargestellte Aufstieg auf den Ätna war keineswegs nur eine Wanderung in sublimer Natur, sondern auch eine Übung der Annäherung an das klassische Erbe – die Reisenden am Ende des 18. Jahrhunderts wußten sich auf den Spuren des griechischen Philosophen Empedokles, der, nach einer in der deutschen Dichtung gestalteten Vorstellung, durch einen Sprung in den Krater des Ätna zum »Anfang von Zeit und Welt« hatte zurückkehren wollen.21 In Schinkels Zeichnung wird deutlich, daß er sich an einem Programm im Bildungshorizont der deutschen Klassik orientierte, das die Italienreise unter anderem als einen Nachvollzug antiker Strategien der Suche nach metaphysischem Wissen verstand. Wir wissen nicht, welche zeitgenössischen literarischen Modelle Schinkel rezipiert haben könnte.22 In Gillys Bibliothek die, wie die Quellen belegen, als Basis des Bildungs-
Schinkels Arbeit entspricht den Qualitätskriterien, die in Debatten über ›die Kunstansicht‹ in Humboldts Haus damals genannt wurden. Als wichtig galten das »gründliche Studium« in der Phase der zeichnerischen Vorbereitung eines Gemäldes, das »Studium aller Details« und klare, durch Genauigkeit vermittelte »Bestimmtheit«. Aus Rom wurde 1803 an Goethe berichtet: »Von Landschaftsmalern hat für den Moment jetzt Denis, ein Franzose, oder vielmehr ein Belge, den größten Ruf. […] Es fehlt ihm ganz an Mannigfaltigkeit und Reichtum der Komposition und vielleicht ebensosehr an gründlichem Studium. Seine Hauptkunst besteht in Lufteffekten, durch die er eine gleichsam blendende Wirkung hervorbringt und den Mangel an Bestimmtheit verdeckt. Sein gerades Gegenteil ist Reinhart. Aus einem Bilde von ihm macht man fünf von Denis, und das genaueste Studium aller Details bringt Festigkeit in jedem einzelnen Teile.« Wilhelm von Humboldt an Goethe, Rom, 28. Januar 1803, zit. nach Humboldt, Briefe (wie Anm. 7), S. 372. 21 Empedokles stürzt sich in Hölderlins unvollendeten Drama in den Ätna, »hinab in heil’ge Flammen«, im Bewußtsein, »Eines Sinnes mit ihm«, dem »schlummerlosen Gott« zu sein. Mit dem Sprung in den Vulkankrater kehrt er zurück ins »Herz der Erde«, wo »eingedenk der alten Einigkeit die dunkle Mutter zum Aether aus die Feuerarme breitet.« Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles, Dritte Fassung, in: Hölderlin Werke Bd. 2 (wie Anm. 18), S. 550–566, hier S. 564. Der Philosoph, der aus »Kulturhaß« so handelt, stirbt, um einen neuen Anfang für sein »Volk« zu setzen. Friedrich Hölderlin, Frankfurter Plan zum Empedokles, in: ebd., S. 567–570, hier S. 567. In Friedrich Hölderlins Philosophie wird die Thematik des Ursprungs meist doppelt gefaßt, als Paar von »Anfang« und »Untergang«. Im Fragment »Das Werden im Vergehen« bezieht Hölderlin jede Äußerung in der Zeit, jeden »Moment« auf die große geschichtsphilosophische Figur von Ursprung und Untergang aller Dinge – darum spiegelt sich für ihn in der poetischen Artikulation, in jedem Sprechen, in den Sätzen der »Sprache« immer auch der »Anfang von Zeit und Welt«. Friedrich Hölderlin, Das Werden im Vergehen, in: ebd., S. 641–646, hier 641. 22 Eine Kenntnis Hölderlins wird man bei Schinkel nicht voraussetzen dürfen. Auch die »Italienische Reise«, die erst 1815 erscheinen sollte, konnte Schinkel noch nicht gelesen haben – dennoch erinnern insbesondere viele Motive der Sizilienreise Schinkels stark an Goethes spätere Beschreibung seines Sizilienaufenthalts. In Sizilien bestieg Goethe den Aetna, er las Homer, er suchte und fand die »Urpflanze« und gestaltete seine Ursprungssuche damit als einen gelingenden, doppelten Weg zu den ersten Anfängen der Natur und der Dichtung. Der mit Goethe persönlich vertraute Wilhelm von Humboldt finanzierte Schinkels Sizilienreise – denkbar wäre, daß er für diese auch das Programm gestaltete, mit
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programms der »Privatgesellschaft« diente, hätte Schinkel die zentralen Texte finden können, die eine derartige Suche beschrieben. Vorhanden waren unter anderem Winckelmanns und Karl Philipp Moritzens Berichte aus Italien und Wilhelm Heinses »Ardinghello und die glückseligen Inseln« (1787).23 In diesem Roman wird die Italienreise einer Gruppe junger Künstler beschrieben. Programm der Reise ist die Suche nach Sinn und Leistungsvermögen der künstlerischen Formgebung. Zu diesem Zweck werden die italienischen Monumente der ältesten Zeit aufgesucht – römische und griechische Bauten und Kunstwerke vertreten den historischen »Anfang« der Kunst und Architektur. Die Monumente der Antike bieten der Reflexion nur den Ausgangspunkt – die Reisenden versuchen darüber hinaus in Gedanken, »in der ägyptischen Zeittiefe«, »vor Moses und den Propheten« oder in den hypothetischen griechischen Ereignissen, die den geschichtlichen Stoff für Homers Dichtung geliefert haben mußten, noch vor die frühesten bekannten Denkmälern und vor die ältesten überlieferten Schriften denkend zurückzugreifen. Durch die Betrachtung der Natur und durch die Lektüre und Diskussion antiker Philosophie und Dichtung wird die Suche nach dem »ersten Ursprung«24 vertieft. In den philosophischen Debatten, die die Italienreisenden führen, wird die künstlerische »Form« auf die Idee eines historischen Anfangs und zugleich auf eine metaphysische »unbekannte Ursache«25 aller Dinge bezogen. Letztere Ursache wird, nach dem Vorbild Platos, »Weltseele« genannt. Auch Heinse überblendet in seinem Text den historischen »Ursprung« der Kunst immer wieder mit der »ersten Ursache« aller Dinge – die poetologische Struktur des Romans könnte aus der Metapher der »Quelle« heraus verstanden werden. Der Versuch, die erste Ursache genauer zu betrachten oder zu definieren, wird freilich nicht unternommen – die Metaphysik, von der im Roman beständig die Rede ist, erscheint im Text niemals losgelöst von ihrer Geschichte. Nur im Referat der Gedanken des Empedokles, des Platon, des Heraklit oder des Thales können die Handelnden sich ihr zuwenden. Beklagt wird von den jungen Reisenden des Romans schließlich die Unzugänglichkeit der ersten Ursache, da »die erste Quelle nun unbekannt geworden ist«.26 Konfrontiert mit der Entzogenheit des Ursprungs kann das Subjekt die Spur der ersten Ursache durch eine Reflexion auf die Geschichte des Denkens oder auf sich selbst ergründen: »das Selbstgefühl ist Grund und Boden; denn alles, was ist, hat Kraft, wodurch es ist, was es ist«. Die »Formen«, die im »Denken, Urteilen, […] Aufnehmung, Schaffung von Formen« entstehen, können daher als Spur des Wirkens der frühesten, ersten Ursache aufgefaßt werden.27 Es müsse, so wird betont, stets bedacht werden, daß der Blick auf die ›trüb‹ und unerkennbar gewordene erste Ursache selbst dabei immer verwehrt bleibt, »denn alle Form ist Schranke«.28 Die Künstler wissen, »den Grund und die Wahrheit von allem
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Schinkel Goethes Ideen für eine Reise zu den Anfängen der Dichtung und der Natur diskutiert haben könnte. Vgl. zu Schinkel und Humboldt auch Deicher (wie Anm. 11). Vgl. das Verzeichnis von Gillys Bibliothek bei Neumeyer (wie Anm. 1). Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln, Kritische Studienausgabe hg. v. Max L. Baeumer, Stuttgart 1975, S. 263. Heinse (wie Anm. 24), S. 274. Heinse (wie Anm. 24), S. 265. Heinse (wie Anm. 24), S. 283–284. Heinse (wie Anm. 24), S. 306.
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anderen Lebendigen haben wir in uns« – ergreifen können sie diese Wahrheit freilich nicht, ihr vielmehr nur nachspüren, indem sie sich auf Motive aus der Geschichte des Denkens beziehen, denn »Pythagoras hatte recht: die Welt ist eine Musik«.29 Von ihren antiken und frühneuzeitlichen Vorbildern unterscheidet sich diese begrifflich komplexe und mystische Variante des platonischen Denkens erstens durch die Zuspitzung auf eine geschichtlich bedingte Unerkennbarkeit der metaphysischen »ersten Ursache«, die durch die historische Distanz vom »Ursprung«, durch eine immer schon gegebene Verspätetheit der aktuell Denkenden bedingt scheint und zweitens durch die doppeldeutige Rolle der Kunstform. Denn wenn ›alle Form Schranke‹ ist, kann das Kunstwerk – anders als etwa in den Konzeptionen der italienischen Renaissance30 – die »Wahrheit« nicht in seiner Struktur enthalten, sondern nur an sie erinnern. Die ontologische Differenz, die die italienischen Denkmäler von der Lebenswelt der Reisenden unterschied, ihre Entfernung von dieser in Zeit und Raum, ist in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und wird nun als eine Trennung vom Wahren interpretiert. Voller ›Sehnsucht‹ und ›Erwartung‹ ziehen die Reisenden nach Italien – dort finden sie zur Philosophie. Im Zug nach Süden gewinnt für sie ein Modell des Denkens Gestalt, das an Kants etwa gleichzeitig formuliertes Konzept des »Ding an sich« gemahnt. Das unerreichbare »Ding an sich«, wird denen, die sich denkend auf der Suche befinden, nie zugänglich sein – ebensowenig sind der Grund und die ersten Prinzipien in Italien wirklich vorzufinden. Die Denkfigur der Suche nach dem »Ursprung«, wie sie bei Heinse formuliert ist, faßt die Kunstform als Verweis auf eine nicht ausfüllbare Leerstelle und definiert sie als Monument einer nicht mehr einholbaren Verspätung derjenigen, die nach der Wahrheit suchen.
III Quellen der Kunst Zahlreiche Passagen der sogenannten ›Tagebücher‹ Schinkels handeln von seiner Begegnung mit bekannten Denkmälern, mit berühmten Landschaften Italiens. Die Wirklichkeit dieser Gegenstände wird innerhalb ihres Kontexts geschildert. Der Autor gibt sich als Zeuge der Verwandlung einer sehnsuchtsvollen Erwartung in erlebte Gegenwart, von sicher geglaubtem Wissen in eine nicht zu ordnende Fülle der Eindrücke. Bei der Beschreibung der Ankunft in Venedig wird der Weg zum Denkmal geschildert: Mein erster Gang vom Wirtshause war auf den St.-Markus-Platz. Die erstaunlich engen Gassen, wo oft mit Mühe einer dem anderen ausbeugt, gepfropft mit Budiken aller Art, die in den unteren Etagen der Häuser großteils untereinanderstehn. Die Menge der Bettler von der ekelhaftesten Art, mit Gebrechen
29 Heinse (wie Anm. 24), S. 306 u. S. 275. 30 Vgl. Wilhelm Perpeet, Das Kunstschöne. Sein Ursprung in der italienischen Renaissance, Freiburg, München 1987. Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 120, hat darauf hingewiesen, daß moderne Ästhetiker, darunter Paul Valéry in seinem Aufsatz »Leonardo und die Philosophen« (1929), zu Recht herausgearbeitet hätten, daß es eine Tendenz der Renaissanceästhetik gäbe, »die Formen aus ihren Ursachen« zu erfassen. Dies sei jedoch in der Renaissance anders begründet gewesen als zur Zeit Valérys, da im Übergang vom mittelalterlichen Aristotelismus zum neuzeitlichen Empirismus spezifische Probleme bei der begrifflichen Erfassung der Phänomene und der Formen aufgetreten seien – diese Problematik habe Leonardos Untersuchungen zur »ontologischen Natur« ausgelöst.
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Susanne Deicher und Schäden, die man nicht ohne Abscheu betrachten kann, deren beständiges Winseln und Beten dem Vorübergehenden [die] Not des verfallenen Staates klagen. Das unerträgliche Geschrei der Fruchthöker, die an allen Ecken mit größter Anstrengung in den unangenehmsten Tönen ihre Waren anbieten und sich darin einer den andern zu übertreffen suchen. Dies alles läßt einen widrigen Eindruck nach. Von dem engen Platz dieses schmutzigen Schauspiels trat ich plötzlich in den weiten, in der ganzen Welt gepriesenen Markusplatz. Pracht, Schönheit, Größe wirken gleich stark bei dem ersten Überblick. Von 3 Seiten ist die schön gepflasterte Ebene des Platzes mit Arkadengebäuden einer schönen und zum Teil reichen Architektur umschlossen. Die 4. Seite begrenzt die Kirche von St. Markus mit ihren Kuppeln, großen Bogen und der Menge kleiner Säulen und Verzierungen.31
Das, was zuvor nicht bekannt war und als das eigentlich Neue erscheint, ist der Zustand der Verderbnis, den Schinkel mit Hingabe an den Bettlern beschreibt. Er benennt den »Abscheu« vor dem Verfall, in dem das Land der ›hochgespannten Phantasien‹ von der Kunst geraten ist. Die Aufmerksamkeit Schinkels für derartige Phänomene bleibt während der gesamten Italienreise erhalten. In Pola etwa sieht er »Kaffeehäuser an allen Ecken […]. Die Liebe der Einwohner, sich in diesen Häusern umherzutreiben, ist entsetzlich und gibt ein Bild des faulen Lebens, welches durch ganz Italien und diese Kolonien herrscht.«32 Der vermutete Verfall hat über eine lange Zeit stattgefunden – Reste des arkadischen Zustands sprechen von ihm: Schinkel trifft antike Bauten in Syrakus unversehrt an, sie wurden von den Italienern seiner Zeit umgenutzt: »Viele Festungswerke und Brücken von sehr solidem Bau aus gehauenem Stein lassen ein elegantes Inneres vermuten; aber getäuscht empfängt ein enges, unreinliches Örtchen den Wanderer und weckt tiefes Bedauern von der verwandelten Zeit.«33 Natürlich ist das ein Topos: eine ritualisierte Klage über die Verderbnis des heiligen Landes in der Jetztzeit. Die Texttradition, aus der hier variiert wird, ist lang: sie prägt bereits die Reiseberichte der Entdecker fremder Länder im 15. und 16. Jahrhundert. Stephen Greenblatt34 hat die Texte der Reisenden der frühen Neuzeit analysiert – sie suchten das Paradies, wie es die Bibel beschrieb und fanden es nicht. Was sie sahen, konnten sie nur als Abwesenheit des Paradieses sehen, als Spuren seines Verfalls interpretieren. Die Sitten der eroberten Länder verstanden sie als Spiegel eines Zustands der sittlichen Verderbnis, der zum Verlust des Paradieses geführt hatte – auf die scheinbar dafür Verantwortlichen richtete sich darum der Hass, der Vernichtungswunsch der Eroberer. In dieser Texttradition steht Schinkel ebenso wie Goethe – auch der Weimarer sah die Baudenkmäler Italiens »durch das enge schmutzige Bedürfnis der Menschen entstellt«,35 durch das Elend des Staates, durch »Flut und Morast« bedroht, von »beizendem Kot besudelt.«36 Goethes Reisebericht ist stärker als derjenige Schinkels getragen von dem 31 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 45. 32 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 41. 33 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 94. Vgl. auch: »Nahe an dem Hauptplatz der Stadt steht der Tempel von korinthischer Ordnung im schönstem Verhältnis, der dem Augustus und der Stadt Rom gewidmet war. Man sieht 6 Säulen, die eine Vorhalle bilden und ein Giebelfeld von reicher Architektur unterstützen; im Innern ist ein Stall für Esel und anderes Hausvieh angelegt.« Ebd., S. 41. 34 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994. 35 Goethe, Italienische Reise, hg. v. Jochen Goltz, Berlin 1976, S. 63–64. 36 Goethe (wie Anm. 35), S. 48.
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ebenfalls traditionsreichen Motiv der Schilderung der Einwohner eines fremden Landes als einer Schar Kinder, die dem Paradies, das sie verspielt haben, im Grunde noch nahe sind: Überall schreien, schäkern und singen sie den ganzen Tag, werfen und balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich […] Die uns so sehr auffallende Unreinlichkeit und wenige Bequemlichkeit der Häuser entspringt auch daher: sie sind immer draußen und in ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts.37
Der Schmutz, der Verfall, der Lärm – all dies wird bei Goethe eingetragen in ein topisches Panorama, das die Erlösung durch die Kunst, die Goethe dann beschreibt, als spielerisch erlangten Fund des Paradieses inmitten des italienischen Lebens erkennbar werden läßt: »Und so hat mich Apoll von Belvedere aus der Wirklichkeit hinausgerückt. […] Ich lebe hier nun mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange kein Gefühl hatte.«38 Bei Schinkel dagegen erscheint eine solche Erhebung des Reisenden in die Gefilde der Seligen, das Wiederfinden der klassischen Schönheit im Zustand ihrer Zerstreuung im italienischen Alltag als nicht mehr realisierbar. In Syrakus etwa suchen die Reisenden des Jahres 1804 die im Seehafen gelegene, nach der Nymphe Arethusa benannte Süßwasserquelle auf, die den Griechen die Anlage von Stadt und Akropolis an dieser Stelle ermöglicht hatte: Der oft gesungene Quell der schönen Arethusa, welcher häufig unsere Einbildungskraft beschäftigt hatte, lockte uns zuerst am Morgen nach der Ankunft. Man führte uns in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo schlechte Baracken einen Raum umschließen, den zwei aus dem Boden herausrieselnde Wasser füllen und von dort ins Meer einen Abfluß haben. Es wimmelte im Wasser von alten, schmutzigen, halbnackten Waschweibern, welche die heiligen Quellen durch den Schmutz der Kleider aus ganz Syrakus entweihten. Getäuscht auf das unangenehmste, verließen wir plötzlich den Ort, der uns das schöne Bild der Phantasie verdarb.39
Nach einem griechischen Mythos hat sich in Syrakus die Vereinigung der Nymphe Arethusa mit dem Flußgott Alpheios vollzogen, welcher unter dem Meer von Elis nach Sizilien geflossen war, um die Geliebte zu finden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Begegnung des weitgereisten modernen Architekten mit den Waschweibern erst ihre negative Kontur.40 Der Architekt trifft auf Frauen, die nicht für ihn bestimmt scheinen – sie sind beschäftigt mit einer niederen Form der täglichen Arbeit. Er kann sich unmöglich als Nachfolger des Gottes in Szene setzten. Arethusa ist in ihrer Reinheit nur noch gebildete Phantasie – Realität sind die »schmutzigen, halbnackten Waschweiber«, die die Quelle »entweihen« und auf die der im Text zum Ausdruck kommende Haß, die Verachtung zielen. Man wird die Ambivalenz bemerken – in ihrer fetten, überaus gegenständlichen und reifen Körperlichkeit sind die Frauen gleichwohl weibliche Objekte. Ihre Gegenwart stellt die matt konturierte Nymphe in eine historische Ferne, in der sie uneinholbar scheint.41
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Goethe (wie Anm. 35), S. 45–48. Goethe (wie Anm. 35), S. 121–122. Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 94. Vgl. Herbert J. Rose, Griechische Mythologie, Ein Handbuch, München 1974, S. 276. Es ist dies kein Einzelfall – Schinkels Schilderungen enthalten häufig diesen, der Fremdheit der Objekte zugewandten Zug, so in der äußerst knappen Darstellung des Besuchs des Tempels von Segesta:
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Wie Karl Philipp Moritz in seiner Schinkel bekannten ›Götterlehre‹42 berichtet, war Arethusa auch der Name einer Hesperide43 – sie stammte aus Arkadien44 und war eine der Töchter der Nacht, der »Mutter alles Schönen«, einer mythischen Gestalt des Ursprungs aller Dinge. Moritz schreibt: »aus ihrem Schosse wird des Tages Glanz geboren, worin alle Bildungen sich entfalten«.45 Der Name Arethusas ist damit direkt verknüpft mit der Produktivkraft des die Formen bildenden Künstlers. Die mythische Kraft zur Formbildung könnte sie dem Künstler verleihen, der sich in Liebe mit ihr vereinigen oder sie durch Schliche um ihre Kraft betrügen, sie an sich reißen könnte. Ein zweiter griechischer Arethusa-Mythos berichtet davon. Arethusa und ihre Schwestern bewachten die goldenen Äpfel der Hesperiden, Früchte eines von Ge dem Zeus und der Hera geschenkten Baumes, deren Genuß zu der von den Göttern den Menschen vorenthaltenen Unsterblichkeit führte – sie wurden von Herakles geraubt.46 Als Besieger der Kräfte von Natur und Mythos, als Erringer der Früchte der Ur-Bildung und der Unsterblichkeit wurde Herakles nicht nur zum imaginären Ahnherrn zahlreicher Herrscherhäuser, sondern auch zum Vertreter der naturbeherrschenden Kraft der Kunst – noch in Goethes italienischer Reise hat die Auseinandersetzung mit einer Statue des Herakles, der Goethe sich, sie wiederholt betrachtend, stets ähnlicher fühlt, diesen Sinn.47 Obgleich auch Schinkel in einem zu Beginn der Italienreise geschriebenen philosophischen Fragment die Voraussetzung macht, die Kunst sei Werkzeug der Naturbeherrschung48 des Menschen, schreibt er in Italien Texte, deren Pointe darin zu bestehen scheint, daß der reisende Künstler in Italien weder zum Alpheios noch zum Herakles werden kann, weder seine Sehnsucht nach Verschmelzung mit der Natur noch den Sieg über sie zu genießen vermag. Nirgends in den Texten der italienischen Reise empfängt er die aus der Tradition vertraute mythisch-schöpferische Männlichkeit, nirgends sieht er sich selbst in den Parnass erhoben, nirgends gewinnt er die die Sterblichen überragende Statur eines Halb-
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»Wüstes Land. Räuber, die in der Ferne vorbeiziehn. Tempel von Segest.« Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 85. Die ›Götterlehre‹ befand sich, zusammen mit zahlreichen anderen Werken Moritzens, in Gillys Bibliothek (siehe Neumeyer, wie Anm. 1). Jörg Trempler, Das Wandbildprogramm von Karl Friedrich Schinkel, München, Berlin 2001, S. 46, hat in seiner Publikation wiederholt zeigen können, daß Schinkels Kenntnisse der Mythologie von Moritz »vorgeprägt« sind. Auch Christine und Ulrich von Heinz, Wilhelm von Humboldt in Tegel, Ein Bildprogramm als Bildungsprogramm, München, Berlin 2001, 73, Anm. 26, setzen die Kenntnis der Götterlehre zumindest für Werke der 1820er Jahre voraus. Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, hg. v. Horst Günther, Frankfurt 1999, S. 174. Rose (wie Anm. 40), S. 21. Moritz (wie Anm. 43), S. 36. Rose (wie Anm. 40), S. 21. Goethe (wie Anm. 35), S. 115. »Die höhere Herrschaft über die Natur, wodurch der widerstrebenden das majestätische Gepräge der Menschheit als Gattung, das der Idee, aufgedrückt wird, diese Herrschaft ist das eigentliche Wesen der schönen Kunst. Sie ist das Werkzeug der Ewigkeit der Ideen.« Karl Friedrich Schinkel: [Textentwürfe für das systematische Werkchen über das Ideal der Architektur] (Ms), in: Schinkel, Das Architektonische Lehrbuch, hg. v. Goerd Peschken, München, Berlin 1979 (Schinkel Lebenswerk, hg. von Margaret Kühn), S. 19–20, hier S. 19.
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gotts und Heros, welche so häufig für die Gestalt des Künstlers in Anspruch genommen worden war. Nicht nur Ekel und Müdigkeit ergreifen ihn bisweilen, sondern vor allem die Empfindung, nicht länger der traditionsreichen Aufgabe des Künstlers, symbolische Ordnungen der empirischen Dinge zu erschaffen, nachkommen zu können.49 Zugleich mit der die Natur ordnenden Fähigkeit zerbricht die Möglichkeit einer vom Mythos her strukturierbaren Verbindung mit der antiken Welt. Die Positur des Künstlerheros erscheint wie ausgelöscht – Schinkel wird diese Rolle nie einnehmen. Sein Text über die Arethusa-Quelle stellt dar, daß sich der Zugang zum historischen und mythischen Ursprung für den Künstler durch die Alltagspraxis langer Jahrhunderte zugeschüttet, versperrt vorfindet – er ergreift, in einer, freilich selber noch den Mythen abgelesenen Bewegung, die Flucht. Schinkel bricht aber die Suche nicht ab, er sucht vielmehr nicht nur während der Italienreise hindurch die klassischen Orte, die klassischen Topoi der Reiseliteratur, die antiken Stätten, die Orte Winckelmanns, Hackerts, Vossens und anderer auf, sondern er wird auch später bekanntlich ein Architekt, der sich im Rahmen der Klassik bewegt und immer erneut ihre Motive in sein Werk hineinholt. Permanent aufrechterhalten wird die Anschauung der Unmöglichkeit eines heroischen, herakleischen Künstlers.
IV Schinkels Manuskript zu einer Urgeschichte der Architektur von 1804 Erst am Ende des 18. Jahrhunderts knüpften die Deutschen an den Begriff einer kritischen, der wissenschaftlichen Systematik und zugleich der Invenzione verpflichteten Architektur an, wie er in der französischen und italienischen Klassik entwickelt worden war. Um 1795 etwa setzte sich Friedrich Gilly in Berlin mit dem neuen Architekturbegriff auseinander.50 Er, der das Programm seiner geplanten Italienreise noch in traditionellen Termini, nämlich als auf das Studium von ›Vorbildern‹ gerichtetes beschrieb, war ein guter Kenner Piranesis, Fischer von Erlachs und anderer Architekturtheoretiker des 18. Jahrhunderts. Im Kreise der »Privatgesellschaft« konnte man sich über das Vorhaben etwa der »Antiquità Romane« Piranesis, antike Architektur im Bild zu fragmentieren und zu einen Baukasten zeichenhaft zu handhabender Elementarteile einer universalen Sprache der Architektur umzubilden, informieren. Bruno Reudenbach hat Piranesis Verfahren eine »strukturale Ikonologie«51 genannt und mit den Prinzipien in Zusammenhang gebracht, die gleichzeitig »das Unternehmen der französischen Encyclopédie d’Alemberts« leiteten, nämlich »›l’ordre et l’enchaînement des connaissances humaines‹ aufzuzeigen.«52 In diesem Zusammenhang war auch die Forschung nach der ersten Ursache der logisch geordneten ›Kette‹ der Bauformen als Aufgabe des Architekten definiert worden. In Gillys Biblio49 Einer der architekturtheoretischen Texte Schinkels aus Italien beschreibt das zeitgenössische Ende der Möglichkeit einer architektonisch-symbolischen Ordnung des Raums, vgl. hierzu Deicher (wie Anm. 11). 50 Vgl. auch Neumeyer (wie Anm. 1), Einleitung, S. 9–115, der eine grundlegende Innovation Gillys gegenüber ›dem 18. Jahrhundert‹ in einer »Wiedervereinigung von Kunst und Wissenschaft« mit der »Dichterschaft« in der Architektur sieht. 51 Bruno Reudenbach, G. B. Piranesi. Architektur als Bild. Der Wandel in der Architekturauffassung des 18. Jahrhunderts, München 1979, S. 32, Kapiteltitel, »Die Entwicklung einer strukturalen Ikonologie«. 52 Reudenbach (wie Anm. 51), S. 66.
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thek befanden sich nicht nur alle wichtigen Werke Piranesis, sondern auch der Entwurf des französischen Romstipendiaten Jean Charles Delafosse zu einer ›Nouvelle Iconologie Historique‹ der Architektur (Paris 1768).53 Delafosse hatte Szenen historischer Frühe und des Ursprungs des Kunstschaffens, vermittelt durch eine von ihm selbst ›hieroglypisch‹ genannte allegorische Darstellungsweise zu Gegenständen architektonischer Denkmäler gemacht. (Abb. 4). Weder die griechische Klassik noch die vorgeschichtliche Epoche der ›Urhütten‹ war die früheste, derart repräsentierte Entwicklungsstufe – imaginiert wurde ein noch vor den bekannten Anfängen der Geschichte liegendes »Chaos«, aus welchem sich Formen und Lebewesen zuerst herausgebildetet hatten. Die monumentale Repräsentation wurde in Bezug zu dieser, aus dem biblischen Schöpfungs- und Sintflutbericht abgeleiteten, idealen Genese der architektonischen Form gesetzt. Die Architektur konnte auf diese Weise immerfort als auf ein Szenario ihrer ursprünglichen Produktion bezogene gedacht werden und erschien niemals willkürlich, konnte vielmehr im Rahmen einer stabilen wechselseitigen Beziehung zwischen der Form und einem von ihr bezeichneten Ursprung aller Dinge gesehen werden. Karl Friedrich Schinkel schrieb während seiner Italienreise 1804 einen Entwurf zu einem Traktat, das, wäre es vollendet worden, in dieser architekturtheoretischen Tradition gestanden hätte, denn es sollte sich der »Entstehung der Baukunst« widmen. Im erhaltenen Manuskript beschäftigen Schinkel vor allem die hypothetischen Anfänge: »Es ist ein wesentlicher Umstand, unter welchen Bedingungen eines Volkes, unter welchen Naturumständen, in einem Volke die Baukunst zuerst entstand.« Er kontrastierte zwei ideale Typen des Ursprungs der Architektur, wobei er auch auf die Theorie des Abbé Laugier von der aus dem Holz des Waldes errichteten, ersten »Hütte« Bezug genommen haben mag. Wesentlich sei »Ob zuerst von Holz gebaut wurde« oder »Ob zuerst von Stein gebaut wurde«. Der Anfang der Steinarchitektur liegt für Schinkel in den »Höhlen welche aptirt wurden«. Er will die »Nachweisung« führen, »wie das System der Höhlenbaukunst in den Ländern wo sie entstand einwirkt auf die nachmaligen Formen der später entstehenden constructiven Baukunst«. Schinkel faßt, noch ganz nach der Art des 18. Jahrhunderts, in seinem Text ein vollständiges System ins Auge, das die Reihe möglicher Varianten der reinen Höhlen- und Hüttenarchitektur oder der Vermischung beider umfaßt. Die gemischten Typen sollen geordnet werden 1. nach dem Zeitpunkt der Vermischung bzw. der Rezeption durch eine andere Nation, 2. nach dem Klima bzw. der klimatischen Notwendigkeit solcher Konstruktion in ihren Entstehungsländern und 3. nach ihrem ursprünglichen Zweck. So trennt Schinkel analytisch zwischen den Wohnhöhlen (des Nordens?) und den »Höhlentempeln in Indien und Oberägypten« – diente die Höhle einst der »Versammlung roher Nationen […] zur Verehrung von Gottheiten«, so wird daraus wiederum eine anderer »Grund« der historischen Architektur erwachsen, andere »Verzierungen« werden später die jeweilige Nationalarchitektur kennzeichnen. Das genetische System birgt in sich das Potential zur Erklärung aller gegenwärtigen Formen der
53 Mit Delafosses Konzeption der Kontemplation der idealen Ursprungsszenerien im Monument wäre etwa Gillys Projekt zu einem Friedrichsdenkmal zu verbinden, in welchem Ursprung und Vergangenheit Preußens dargestellt werden sollten.
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Baukunst »Europens« und des Orients – die ›charakteristischen‹ Formen der Baukunst werden abgeleitet aus den jeweiligen Typen ihres Ursprungs, welcher selbst wiederum nur hypothetisch aus denselben Formen abzuleiten sind. Wichtig schien Schinkel, zur Zeit der Abfassung dieses Manuskripts, daß der »Grund« der Architektur, aufgrund der zu erstellenden abgeschlossenen historischen Typenreihe, streng ableitbar sein sollte aus dem »Klima«, dem Material, den »Naturumständen« und den Formen des Kults und des Alltagslebens. Es sind die gegenwärtigen Formen der Architektur, die allein in diesem eigentümlichen System für die Vernunft greifbar sind – sie sollen expliziert werden aus ihrem »Grund«, aus ihrer unverlierbaren und zugleich dunklen Bezogenheit auf eine »erste(n) Stufe der Entwicklung«. Die Formen der Baukunst sind das, was einzig gegenwärtig ist – es ist, als würden diese Formen über einen Ursprung gelegt, der nicht mehr, wie noch bei Winckelmann, in allen Einzelheiten »offen« zutage liegt und sich der Kontemplation darbietet. Der Ursprung ist wenig mehr als nur eine Stelle in einer Deduktionstabelle, er wird durch die Gegenwart der Form ganz und gar verdeckt – dennoch beruft sich die Form, als Form der »Construction« oder der »Verzierung,« auf den »Grund« und faßt in ihm ihre Verbindung zur Natur, den Materialien und den Lebensweisen der Menschen. In der Anschauung ihrer je typischen Form der Baukunst können die Nationen, so Schinkel, ihres in der Geschichte entwickelten »Charakters« innewerden – die Menschengruppen erkennen durch die Form ihren Ursprung und die Art ihres gegenwärtigen Daseins. Dies ist »Princip der Kunst«.54 Die Verschiebung, die im Vergleich mit Winckelmanns oder Rousseaus Konzept der »Quelle« vorgenommen wird, ist gering, aber folgenreich. Auch für Schinkel ist die Kunstform aus einer »Quelle« entstanden, die jedoch, da sie wiederum nur aus der Form zu erschließen ist, mit dieser faktisch zusammenfällt. Die Struktur der Metapher der »Quelle« wird so sehr zusammengezogen, daß sie der Aufmerksamkeit entgehen kann. Dieser Vorgang markiert den Übergang zu einer neuen Bedeutung der Form. Sie wird nun selbst zum Gegenstand eines historischen Wissens von der Geschichte der Kunst- und Bauformen. Von da an wird die Form rein sein um den Preis, daß sie immer schon als abhängig erscheint von verdunkelter Vorzeit, von ihrem unerkennbar gewordenen Ursprung in Natur und Praxis.
V Mimesis an Homer Schinkels Entwurf zu einer Abhandlung über den ›ersten Anfang‹ der Architektur und die Urgeschichte der Nationen erinnert in einzelnen Zügen auch an einen wissenschaftlichen Entwurf des 18. Jahrhunderts, der im Kreis der deutschen Klassiker damals erst vor wenigen Jahren intensiv diskutiert und revidiert worden war – an Giambattista Vicos »Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker« (1727). Vico hatte postuliert, aus dem vorausgesetzten frühen Lebensraum der Menschen in der Natur, aus dem »Waldleben« oder der Höhle, könnten alle ihre späteren reifen Kulturformen nacheinander systematisch abgeleitet werden, »so wie die Völker aus der
54 Schinkel, [frühe Studien zu Lehrbuchtexten], in: Schinkel, Das Architektonische Lehrbuch (wie Anm. 22), S. 21–23.
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Verschiedenheit des Klimas verschiedene Wesensart bekommen haben, woraus die Verschiedenheit ihrer Sitten hervorgegangen ist; so sind daraus wiederum verschiedene Sprachen entstanden« und auch die Art, wie die Völker »die nützlichen Dinge des Lebens« ausformten. Die »Nuova Scienza« wollte aus der kritischen Analyse des Überlieferten eine Urgeschichte der »Entwicklung der menschlichen Dinge« rekonstruieren. Vico schwebte eine »Ordnung der Geschichte und der Ideen« vor, welche die Wissenschaft in einer einzigen Tafel präsentieren solle – die Methode der »metaphysischen Kritik« sollte diese Ordnung aus den Bruchstücken der Tradition gewinnen. Die Vorstellung von einer Kette der Ursachen für alle Kulturformen hatte Vico auf der Annahme gegründet, daß »Physik« und »Klima« nicht nur gleichsam von außen die Lebensformen determiniert hätten, sondern daß auch innerhalb der Kultur ein produktiver Selbstbezug geherrscht habe. Nähme man an, daß alle Formen der menschlichen Kultur entstanden seien, indem sie »durch die besondere Physik des Menschen gewissermaßen sich selbst erzeugten«,55 dann könne der Wissenschaftler, der selber ein Mensch sei, mit Recht von den jetzigen Kulturformen auf vorherige, urzeitliche schließen. Bei Vico findet sich die methodische Begründung für den logischen Zirkel, der Schinkels Argumentation im Entwurf seiner Abhandlung von 1804 prägt. In Kunst und Dichtung liegt nach Vico ein Archiv der Wahrheit über die älteste Geschichte vor, es »ist das poetisch Wahre, wenn man es recht bedenkt, ein metaphysisch Wahres«.56 Wer daher die frühesten Kunstwerke im Hinblick auf ihre eigentlich künstlerischen Eigenschaften betrachte, wer etwa den Rhythmus der ältesten Versepen nachspreche oder lese, der dringe wissenschaftlich erkennend zu den Wurzeln der menschlichen Geschichte vor. Als Schinkel Rom im Frühjahr 1804 verließ, begann er damit, lange Passagen seines »Tagebuchs« in antikisierenden Rhythmen zu verfassen. Mit günstigem Ost verließ ich am 8ten Mai den Hafen Neapels, als noch des Vesuvs zwiegespaltener Gipfel die frühe Sonne barg. […] Später stiegen am Horizont die Liparischen Inseln empor; zunächst der Stromboli, dem wir mittags nahe vorbeisegelten. Sein dampfendes Haupt warf zuckend Asche in die Luft, und Felsen, die sich aus des Kraters Rande lösten, rollten rauchend über die herabgeglittene Asche in’s Meer. Östlich zieht ein sanftes Ufer herauf, ein wohlbebautes Ländchen, dessen Bewohner, den drohenden Gipfel nicht fürchtend, zufrieden des Weinbaus und des Fischfangs pflegen. Am Abend dämmerte die Küste Siziliens. Langsam näherten wir uns; das frühe Tageslicht zeigte uns deutlicher das gigantische Ufer Calabriens und die mit sanfterem Gebirg sich vor ihm breitende Insel, gekrönt vom glänzenden Schneehaupt des Ätna; in gerader Säule stieg aus seinem Gipfel der Dampf in die Höhe und bildete hoch über ihm Wölkchen, die bald im reinen Äther verschwanden.57
Schinkel weist selbst darauf hin, daß er, angesichts der Felsen der Scylla und Charybdis (Abb. 5), die lange Tradition der Mimesis der Odyssee aufnimmt: Das Bild Homers stand lebhaft vor meiner Seele; ich sah den irrenden Odysseus, wie er der brausenden Charybdis wich, um an dem starrenden Felsen der Scylla die werthen Genossen zu verlieren, um sein und der übrigen Leben zu retten – Noch immer brauset Charybdis dunkelwogend, doch ist sie dem großen Schiff im Sturme nur gefährlich. Der Fels von Scylla ragt wie das entstürzte Haupt des jähen
55 Giambattista Vico, Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744 hg. v. Erich Auerbach, München 1924, S. 149. 56 Ebd., S. 94. 57 Schinkel, Tagebücher, ed. Mackowsky (wie Anm. 8), S. 60.
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calabrischen Gebirgs aus der Fluth und wöbt die dunklen Grotten, in denen uns Homer das raubende Ungeheuer malt. […] Die Küste Calabriens ist groß und fürchterlich; sanfter und freundlicher zieht mit milderer Natur das Sikulische Land hinan, bis zum hohen Gipfel des Aetna. Die Nacht brach ein; gewitterhaft umwölkte sich der Himmel und Sturm erhub sich in der Enge. Viermal trieb das Schiff zurück in die strudelnde Flut der Charybdis. Der Hauptmann, der des übertriebenen Preises wegen, den Dienst des Lootsen ausschlug, hatte seine ganze Gegenwart nöthig, der Strandung zu entgehen, Mit der Mitternacht liefen wir in den Hafen Messinas. Kein Ort erlitt mehr durch die Revolutionen der Natur, als Messina; in jedem Jahrhundert von Erdbeben zertrümmert, trägt es den ganzen Charakter seines Schicksals. Am Hafen steht die lange Reihe der Ruinen ehemaliger Paläste und durch die ganze Stadt herrscht ein beständiger Bau.58
In Passagen wie »Mit dem Grau des Morgens war jede Aussicht aufs Land verloren; nur Himmel und unendliche Fluth« scheint der Versuch gemacht, durch den gleichsam malerischen Fall der wechselnd gesetzten Vokale die »musikalische Einheit der (…) [altgriechischen] Hymnen«59 – um eine Formulierung Humboldts aufzunehmen – in die deutsche Prosa hineinzutragen. Die von Gottfried Riemann schon benannten, doch nicht näher spezifizierten »literarischen Tendenzen« von Schinkels italienischem Tagebuch werden hier greifbar. Geradezu als ein Schul- oder Übungswerk erscheint dieser Text – er führt ein Programm aus, das seit Herder und Johann Heinrich Voß in der deutschen Literatur bedeutsam war. Der Versuch war unternommen worden, die antiken Längenversmaße mit dem deutschen Versbau, der in der Regel durch Betonung Gliederungen schuf, zu versöhnen. Das geschah zunächst in rein praktischer Absicht, um die Übersetzung Homers im Deutschen möglichst nahe am Original verwirklichen zu können. Spätestens aber seit Goethes »Hermann und Dorothea« galt die Absicht der Verschmelzung des griechischen mit dem deutschen Sprachgeist – eine kreative Leistung, die im Namen des Postulats einer allgemeinen Natur aller historischen Sprachen erbracht werden sollte.60 Am radikalsten war der Versuch einer Bewahrung der originalen Eigenschaften des Griechischen im Deutschen in den Sophokles- und Pindarübertragungen von Hölderlin und von Wilhelm von Humboldt gemacht worden.61 Beide schärften die Aufmerksamkeit dafür, daß nicht nur die Worte der fremden Sprache im Deutschen nachklingen konnten, sondern auch der lautmalerische Rhythmus der griechischen Verse an eine ursprüngliche Nähe von Sprache und Musik gemahnen konnte und damit zurückführte zu einer grundlegenden medialen Fähigkeit des Menschengeschlechts, die eigenen Lebensäußerungen im Fluß der Zeit zum Ausdruck zu bringen.62
58 Ebd., 61. 59 Wilhelm von Humboldt, Übersetzungen aus dem Pindar. In den Jahren 1791–1804, in: Humboldt, Schriften (wie Anm. 12), Band 8, Übersetzungen, Berlin 1908, S. 1–116, hier S. 77. 60 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Ästhetische Versuche. Erster Theil: Über Goethes Hermann und Dorothea (1797–98), in: Humboldt Schriften (wie Anm. 12) Bd. 2, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1904, S. 113–323. 61 Vgl. Friedrich Hölderlin, Die Trauerspiele des Sophokles, in: Hölderlin Werke Bd. 2 (wie Anm. 13), S. 675–789 u. ders., Pindar, Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe, hg. v. D. E. Sattler, Bd. 15, Frankfurt, Basel 1987. 62 Vgl. den Bericht Humboldts von seinem Besuch bei J. H. Voß, in: Humboldt, Tagebücher (wie Anm. 12).
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Auch die Mimesis an Homer auf dem Boden Italiens ist ein Topos, der mit der Suche nach dem Ursprung der Kunst und der menschlichen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert unmittelbar verknüpft ist. In dieser Zeit galt Homer nicht – wie heute in den Augen des großen Publikums und auch in Teilen der deutschen Homerforschung63 – als eine historische Person, die im 8. Jahrhundert in Kleinasien gelebt hatte und deren Werke mündlich überliefert wurden. Die frühe Philologie hatte diese Ansicht kritisch destruiert.64 Humboldts Freund Friedrich August Wolf hatte seit 1785 in einer Reihe von Arbeiten im bestehenden Text der Ilias die Spuren mehrerer mündlicher Überlieferungen entdeckt und daraus geschlossen, den historischen Dichter Homer habe es nie gegeben – 1807 mußte er öffentlich einräumen, dies keineswegs als erster entdeckt zu haben.65 Die These, Homer habe als Person nie existiert und sein Werk sei das Ergebnis mehrerer, verschieden alter mündlicher Überlieferungen aus der unmittelbar vorpeisistratidischen Zeit und aus der ›barbarischen‹ Epoche der griechischen Geschichte, stammt nicht von Wolf, sondern von Giambattista Vico, der sie in seiner ›Neuen Wissenschaft‹ an zentraler Stelle verteidigte, seinerseits zurückgreifend auf die Renaissancephilologie. Das philosophisch begründete Unternehmen der »Nuova Scienza« sollte im Horizont der Wissenschaft alle Gegenstände versammeln, die allein für die Vernunft gewiß und von ihr deutbar seien, weil sie einst ›von Hand gemacht‹ worden sei – »die Ordnung der Ideen muß fortschreiten nach der Ordnung der Gegenstände« und »verum est manum factum«. Vico interessierte sich besonders für die frühen »Institutionen«, wie er sie nannte – »erst waren die Wälder, dann die Hütten, dann die Städte und zuletzt die Akademien«.66 Die wichtigsten Institutionen, mit deren Begründung die Menschheit sich aus der Tierheit erhoben und
63 Joachim Latacz, Homer. Eine Einführung, München 1985 u. ders., Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, Darmstadt 1991 hat in zahlreichen Schriften immer wieder die These vertreten, Homer sei eine historische Person gewesen, der als Verfasser des vollständigen Texts der Odyssee deshalb in Frage komme, weil diese zu einheitlich sei, um als das Produkt einer heterogenen mündlichen Überlieferung entstanden sein zu können. Die Ansichten F. A. Wolfs hat er als unbegründet zurückgewiesen. 64 Diese Ansicht der frühen Philologen, derzufolge Homer nicht der Verfasser der Ilias und der Odyssee sei und Homers ›Werk‹ vielmehr erst im Laufe der Überlieferungsgeschichte entstanden sei, hat sich in den letzten Jahrzehnten erneut international durchgesetzt. Vgl. dazu Gregory Nagy, Greek Mythology and Poetics, Ithaca 1990 u. ders., Homeric Questions, Austin 1996 u. ders., Poetry as Perfomance. Homer and Beyond, Cambridge 1996, der erneut auf die Peisistratidische Redaktion und auf die öffentlichen Rezitationen Homers zur Zeit Platons hingewiesen hat – erst zu dieser Zeit sei, so zeigt Nagy m. E. überzeugend, die in sich weitgehend einheitliche Textgestalt der Odyssee entstanden. 65 Wolf, der die These in seinen Prolegomenis ad Homerum, Göttingen 1795, ausführlich vertrat, hatte bereits in seiner Praefatio ad Iliadem 1785 bemerkt, »in controversiam veniet, quantae partes Homericorum Homerus videatur auctor esse, atque utrum ipsi an Homeridis, Pisistratidis et criticis tribuenda sit huius splendidissimorum duorum opera artificiosum formae et compositionis perfectio.« Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, hg. v. G. Bernhardy, Halle 1869, Bd. I, Scripta Latina, S. 175–212, hier S. 200–201. 1807 veröffentlichte Wolf, nach einem öffentlichen Plagiatsvorwurf, eine kleine Schrift über Vicos Homerkritik, in der er jedoch ein Plagiat nicht einräumte und festhielt, was er selbst »methodisch entdeckt« habe, sei bei Vico »im voraus geträumt.« Friedrich August Wolf, Giambattista Vico über den Homer, in: ebd., Bd. II, Deutsche Aufsätze, S. 1157–1166, hier S. 1157. Die oben zitierte Bemerkung von 1785 deutet jedoch bereits in ihrer Formulierung auf eine frühe Kenntnis Wolfs von einer älteren ›Kontroverse‹ in der Forschungsliteratur seiner Zeit. 66 Vico (wie Anm. 56), S. 100.
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eine eigene Geschichte und die Identität der Völker für sich selbst geschaffen habe seien die Sprache, die Dichtung und das Recht gewesen – ganz am Anfang habe die Dichtung gestanden, als früheste Form der geformten Artikulation des Gefühlten, in der ursprünglichen Einheit von Musik, Rhythmus und Wort, und zugleich als die erste Erzählung, die erste Geschichte – die in der Dichtung sich selber geschaffen habe. Vico nimmt an, daß die älteste Artikulationsweise der Völker in der »Sprache in Versen« bewahrt sei, »daß die Sprachen mit Gesang begannen« und daß die Einwirkung der Natur auf die ursprüngliche poetische Gestimmheit der Menschen die Form der ersten Laute und den Rhythmus erschaffen habe – vorstellbar sei als Ursache der Entstehung der ersten geformten Laute zum Beispiel eine schockartige Einwirkung der Beobachtung des »erstes Blitzes« – erst später seien dann die »intelligible« Redeweise und die Prosa entstanden.67 Der homerische Text ist für Vico das Exempel, an dem er seine These von der Begründung der Institutionen durch die Tradition und die Urgeschichte hervorragend darlegen kann – das hohe Alter der Dichtung, ihre Uneinheitlichkeit und die Tatsache, daß sich gut zeigen läßt, daß aus der mündlichen Überlieferung einer Dichtung, die offenbar zunächst spontan an mehreren Orten und zu mehreren Zeiten auf ähnliche Weise entstand – und somit eine Urform der Produktion von Artikulation, ›Erzählung‹ und Verständigung darstellte – sodann durch ›Rhapsoden‹, durch Sänger im Volk überliefert und stets poetisch verändert wurde, schließlich durch die Peisistratiden zu einer Institution des athenischen Staats erhoben, niedergeschrieben und noch später, zur Zeit Platons, zum Gegenstand von immer wiederkehrenden Aufführungen und zum konstituierenden Werk für die kulturelle Identität des athenischen Staates wurde, ermöglichte die Demonstration der Bedeutung des Studiums der kulturellen Überlieferung: aus ihr war die Einsicht in die Entstehung der Nationen und die Grundlage einer allgemeinen Wissenschaft von der »Ordnung der Ideen« und der »der Gegenstände« zu gewinnen. Diese These und ihre philosophische Begründung sind für den Kreis der deutschen Klassiker und auch noch für die Romantiker von überragender Bedeutung gewesen – allerdings erst nachdem sie durch Goethe, durch Jacobi und durch Wolf modernisiert worden waren. Jacobi vor allem hat die Möglichkeit erkannt, Vicos ›verum est manum factum‹ mit Kants Erkenntnistheorie in Übereinstimmung zu bringen und er hat Vicos Argumentation entschlossen auf den Kopf gestellt: an die Stelle von Vicos Absicht auf die Repräsentation einer universalen Ordnung der Geschichte als ›natürlicher‹ Abfolge sich entwickelnder Institutionen – welche gemeinsam genommen eine eigene Abteilung in der ›Ordnung‹ eines Ganzen bilden, welcher die anders begründete ›Ordnung‹ der Naturwissenschaften gegenübersteht – tritt nunmehr die zugespitzte These, allein die Tatsachen der kulturellen Überlieferung seien dem deutenden Menschengeist zugänglich, weil er nur das verstehen könne, was er selber geschaffen habe. Die Dichtung (und alle anderen Institutionen) sind daher das Terrain, auf dem allein der Mensch sich verstehend bewegen kann. Die Natur und der ausgedehnte Raum sind ihm als erkennendem Wesen an sich unzugänglich – durch Versuche, etwa über diese Gegenstände nachzudenken oder zu schreiben, entstehen Reflexionsketten in der Zeit, die zwar relevantes Material enthal-
67 Vico (wie Anm. 56), S. 196–205.
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ten, aber als menschengemachte selber die Produzenten von dem von ihnen gesuchten Ursprung immer weiter entfernen. Nach der Darstellung, die Jacobi von dieser Problematik in seinem Roman »Woldemar« gegeben hat, führt das dazu, daß der Denkende, der Künstler, der Forscher, der sich in den Gegenstand seiner Untersuchung immer tiefer einarbeitet und ihm daher näher kommt, zugleich progressiv von diesem entfernt – »suchender und forschender mit jedem Tage; wurde (er) mit jedem Tage: Was er suchte? Was er finden wollte? inniger gewahr. So kam er seinem Gegenstande immer näher: so entfernte in gleichem Maße sein Gegenstand sich immer mehr von ihm«.68 Umgekehrt ist davon auszugehen, daß die Menschen sich das, was ihre Geschichte ist, selber geschaffen haben – und auch schaffen mußten, um sich überhaupt als in der Welt Seiende begreifen zu können. Sie handeln und verstehen die eigenen Handlungen – daher können sie sich gegenseitig oder selbst auch nachahmen und variieren. Sprechen und Handeln sind einander tief verwandt – als komplementäre Werkzeuge, aber auch als gleichgerichtete Tätigkeiten in die unverstehbare Welt hinein. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Werken der Dichtung und allen anderen Werken des handelnden Menschen. Daher eignet sich die Dichtung – besonders wenn man, wie Vico, annimmt, sie stelle die historisch früheste Artikulationsform dar – als Paradigma. Dichtung ist die erste Form des konzeptuellen Handelns und Verstehens, das allein ermöglichte, daß der Mensch sich seine Geschichte und seine Welt schuf. Dichtung ist zugleich, als Objekt des Verstehens, aufzufassen als Hinweis darauf, daß der Mensch nicht die Welt verstehen kann, sondern immer nur das, was er selber in sie hineingebaut hat. Seine eigene Produktivität steht für ihn daher auch vor den Dingen an sich, versperrt sie und verdüstert durch die Faktizität ihrer eigenen Geschichte den eigentlich tiefsten Grund der Dinge und ihre erste Ursache. Indem der Mensch sich seine Welt schafft, entfernt er sich unwiderruflich vom Ursprung und zerstört seine Chance auf Metaphysik. Das ändert die Einstellung zum Ursprung. Denn während Vico etwa davon ausgeht, »entsprechend dieser Reihenfolge menschlicher Dinge muß sich auch die Geschichte der ursprünglichen Sprachen erzählen lassen«69 und zwar ausdrücklich als Zurückgreifen hinter die bekannten ursprünglichen und ältesten Sprachen, als eine ideale Genese, die aus dem Begriff bzw. aus der Stellung in der Ordnung der Dinge des ältesten Bekannten abzuleiten ist, so wird nach der erkenntniskritischen Wendung dieses Gedankens der Ursprung im Gegenteil als versperrt gedacht. Das ist der Ausgangspunkt Schinkels, wie er in den Tagebüchern der Italienreise thematisiert wird. Eine der Sinngebungen der Italienreisen im 18. Jahrhundert – so wie sie etwa von Winckelmann gesehen worden war, auch von Goethe noch einmal im Tagebuch der sizilianischen Reise, die der Dichter als Suche nach den Urformen verstand, konnte von Schinkel nicht mehr realisiert werden. Ihm schien weder eine explizite Rekonstruktion einer idealen Genese der Architektur möglich, noch hätte diese zu einer Stabilisierung der Position des Künstler-Architekten als Nachfolger der schöpferischen Heroen führen
68 Friedrich Heinrich Jacobi, Woldemar, in: ders. , Ausgewählte Werke, Leipzig 1854, 1. Bd., S. 11. 69 Vico (wie Anm. 56), S. 100.
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können. Möglich blieben die Betrachtung der Orte des versperrten Ursprungs und die Auseinandersetzung mit der Form. Wahrscheinlich ist, daß Schinkel sein Selbstverständnis als Künstler nach dem Bilde Homers formte, wie es die Wissenschaft seiner Zeit gezeichnet hatte. Vico und nach ihm Friedrich August Wolf haben behauptet, daß »Homer ein idealisirter Dichter gewesen sei, der niemals ein wirklicher, natürlicher Mensch war […] ein solcher Homer lebte wirklich im Munde und im Gedächtniss der Griechischen Völker vom Trojanischen Kriege an bis zu den Zeiten des Numa; also in einem Zeitraum von 460 Jahren«. Auch die Überlieferung, Homer sei ein Blinder gewesen und die Armut Homers komme von den Rhapsoden; »die, weil sie blind waren (daher ein jeder sich Homer nannte), ein gutes Gedächtniss hatten und, da sie arm waren, ihren Unterhalt durch Absingen der Homerischen Gesänge in den Städten Griechenlands erwarben.« Alle Texte ›Homers‹ seien vor der Entstehung der »Buchstabenschrift« zu verschiedenen Zeiten entstanden.70 In dieser Sicht ist der Autor des großen Epos, der »niemals ein wirklicher Mensch war«, »ein jeder«, seinen Name haben viele geführt – real ist dagegen die jahrhundertealte Praxis der Sänger und Rhapsoden, die außerhalb des homerischen Textes als Praxis der Überlieferung von Dichtung fortbesteht. Wegen dieser seit den Anfängen der Kultur ›vor der Erfindung der Malerei‹ (Vico) im historischen Dunkel der »barbarischen Epoche« anzusiedelnden Praxis könne, so hatten Vico und Rousseau behauptet, mit Recht gesagt werden, daß die Poesie am Anfang der menschlichen Geschichte gestanden habe. Von Vico hatte Rousseau seine These abgeleitet, vor dem Sprechen habe es den Gesang gegeben – man meinte zu wissen, daß der Vortrag von Dichtung mit Musik die erste und ursprüngliche Form gewesen sei, erst danach sei die Rezitation und schließlich die schriftliche Form gefolgt. In Italien beobachtete Schinkel zu mehrfachen Gelegenheiten die Sänger auf den Straßen, er sah in Neapel den Vortrag der alten Dichtungen durch Sänger: »Nicht selten sieht man in einem Kreis von Lazzari den aufmerksamen Ohren von einem Volkssänger Gesänge Tassos oder Dantes klingen, oft sammelt abends eine gut gespielte Zither ein weites Auditorium von allen Klassen«71 – mit dieser Deskription folgte er Rousseaus Spuren, der die venezianischen Gondolieri, die den Tasso in den Gondeln sangen, als Zeugen für den Fortbestand der antiken Praxis in der Jetztzeit angeführt hatte.72 Diese Szene war Schinkel so wichtig, daß er sie mehrfach zeichnete (Abb. 6) und schließlich an zentraler Stelle, unter dem Titel »Griechischer Sänger« in das Bildprogramm des Berliner Museums aufnahm (Abb. 7). Jörg Trempler hat darauf hingewiesen, daß zu dem bereits von Helmut Börsch-Supan benannten Vorbild, Gottlieb Schicks
70 Wolf 1807 (wie Anm. 65), S. 1164–1165. 71 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 71. 72 Rousseau berichtete, »daß die meisten Gondolieri einen großen Teil seines Epos »Das befreite Jerusalem« auswendig kennen, mehrere sogar ganz, und daß sie die Sommernächte auf ihren Gondel damit zubringen, sie wechselweise von Gondel zu Gondel zu singen. Gewiß ist das als Barkarole ebensoschön wie das Gedicht von Tasso, vor welchem allein Homer die Ehre hatte, so gesungen zu werden; seither ist keinem epischen Gedicht ähnliches widerfahren.« Jean Jacques Rousseau, Artikel »Bargarolles«, aus dem »Wörterbuch der Musik« (1767), in: ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, hg. v. Peter Gülke, Leipzig 1989, S. 226.
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›Apoll unter den Hirten‹,73 eine deutliche Differenz bestehe – Schinkel habe den »Gott der Poesie zu einem Dichter umgeformt«. Trempler hat dies aber nicht deuten können, seiner Meinung nach bleibt der »Sinngehalt« der Darstellung »erhalten«.74 Tatsächlich scheint es aber wichtig zu sein, daß der Gott nicht zu sehen ist, vielmehr einer der Rhapsoden, der, indem er den göttlichen Ursprung der Musik nachahmt, sich von ihm entfernt und nur noch durch den Filter der Überlieferung hindurch ahnt, wie die göttlichen Verse gelautet haben könnten. Die Rhapsoden wissen schon nicht mehr, ob sie noch eine göttliche Quelle oder nur den Text eines Autors nachahmen, der selber wiederum zeitlich so weit von ihnen entfernt ist, daß er »ein jeder« geworden ist und wiederum nur in ihnen, den Rhapsoden, weiterlebt. Gegenstand von Schinkels Darstellung in den programmatischen Fresken des Berliner Museums war die Adresse an das Publikum des Museums. Die Figur des Rhapsoden steht für die Idee, daß alle, auch die Besucher des Museums, am Prozeß der Überlieferung der Werke teilnehmen und gemeinsam an der Herausbildung der kulturellen Identität einer Nation wirken, die sich im Namen des Autors, der keine empirische Person, sondern vielmehr ein jeder ist, benannt findet. Wolf formulierte, die Debatte über das Konzept ›Homer‹ zusammenfassend, daß »diese Griechischen Völker selbst dieser Homer waren«.75 Schinkel wird darauf verzichten, sich jemals als Autor selbst öffentlich in den Mittelpunkt zu stellen oder auch nur hervorzutreten – wie man weiß, figurierte er nur als Beamter und trat öffentlich nicht auf, schuf auch kaum Bilder von sich. Daß er darum als Künstlerarchitekt nur um so präsenter war und ist, gehört zur Struktur der Konstruktion des Autors als »ein jeder« und als »Blinder«, der nur in seinem Werk eine Person und ein Heros ist. Zugleich tritt die Form der Kunst als das Ergebnis des langen kollektiven Prozesses, der in seinen Einzelheiten niemals mehr rekonstruierbar sein wird, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
VI Schinkels Entwurf zu einem Epos der Architektur Eines der Ergebnisse der italienischen Reise war der Entwurf eines Publikationsplans, den Schinkel am Ende der Reise brieflich dem Berliner Verleger Unger vorstellte. »Auf einer Reise durch das feste Land Italiens und seine Inseln fand ich Gelegenheit, eine Menge interessante Werke der Architektur zu sammeln, die bis jetzt weder betrachtet noch benutzt worden.« Solche Bauten sollten detailgenau auf Tafeln im Großfolioformat präsentiert werden, begleitet von Texten, ›Fragmenten‹ der »Ideen« Schinkels.76 Er hatte den Plan, 73 Vgl. Helmut Börsch-Supan, Karl Friedrich Schinkel – Persönlichkeit und Werk, in: Helmut BörschSupan, Karl Friedrich Schinkel. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, hg. v. Helmut Börsch-Supan, Lucius Grisebach (Ausst.-Kat.) Berlin-Charlottenburg 1981, S. 10–45. hier S. 18. 74 Trempler (wie Anm. 42), S. 131. 75 Wolf 1807 (wie Anm. 65), S. 1164. 76 Peschken (wie Anm. 48) hat versucht, die direkt zum Publikationsplan zugehörigen Zeichnungen zu bestimmen – sein Ergebnis ist Gegenstand einer Diskussion in der Forschung gewesen, die jedoch zu keinem neuen Ergebnis geführt hat. Am wahrscheinlichsten ist es, daß jeweils eine ganze Reihe von Zeichnungen wirklicher Bauten Italiens synthetisch zu exemplarischen Typen zusammengefaßt werden sollten.
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der über ›das ganze Land Italien‹ verbreiteten Architektur, welche, wie er dem Berliner Verleger Unger schrieb, nicht den Regeln des Palladio folge, vor der Renaissance entstanden oder aber in der einfachen Gebrauchsarchitektur Italiens anzutreffen sei, erstmals eine Betrachtung zu widmen.77 Schinkel war der Meinung, die ursprüngliche Architektur sei durch einen langen Prozeß der Nutzung tradiert worden – eine Tradition, die jenseits der ›großen‹ Architektur und lange nach der Codifizierung etwas durch die Regeln des Vitruv und des Palladio weiter auf die alte Weise überliefert und fortgeschrieben worden war. Dieser Publikationsplan- und das ist nicht gesehen worden – stellt den Entwurf zu einem visuellen Epos dar, einem Epos des Gebrauchs, das für Schinkel sicherlich parallel zum homerischen Text angesiedelt war. Die einfachen Wohngebäude, in denen die Menschen etwa auf Anacapri wohnten (Abb. 8), waren über sehr lange Zeiten dem immer gleichen Typus gefolgt – so waren sie, wie Schinkel an Unger schreibt, zu Bauten geworden, die »den wahren Charakter ihres Landes und ihrer Bestimmung tragen«. Der Gebrauch als solcher wird poetisiert, indem er zum ursprünglichen Produktivfaktor der Formen der Kunst wird. Nicht ›die Funktion‹, wohl aber ›der Gebrauch‹, den die Menschen von der Kunst und von den Gebäuden machen, die Art, wie sie diese Formen technisch erzeugen und wie sie Form von Nichtform scheiden, das wird zum Inhalt einer eigenen epischen Tradition erklärt, an welcher seit Anbeginn gearbeitet wurde und an der noch immer gearbeitet wird. In sie kann und wird sich ein jeder einschreiben, an ihr teilhaben werden noch künftige Generationen. Ein modernes Epos der Arbeit an der Architektur wird konzipiert. Aus den Dokumenten und Techniken der einfachen Architektur, so etwa der bäuerlichen Wohnarchitektur Siziliens, der Schinkel sich während der Italienreise immer wieder zuwendet (Abb. 9), kann es abgelesen werden. Vermittelt durch das dem Verleger Unger vorgeschlagene Projekt, welches noch im Geiste des 18. Jahrhunderts eine ideale Genese der Architektur im Stile der Überlieferungshypothese zu Homer formulieren sollte, wurde die architektonische Mimesis durch Schinkel einer neuen Begriffsbestimmung unterzogen. In Winckelmanns Konzeption hatten die Künstler sich noch unmittelbar selbst in ein Verhältnis zur den antiken Vorbildern setzen müssen (Abb. 10), um dem Ziel der Nachahmung der Antike und damit der erneuten Annäherung an die »Quellen« näher zu kommen. Im Kopieren nach kanonischen Vorbildern sollte die Kunst zum Ursprung und zum Wahren zurückkehren – damit war aber die moderne künstlerische Tätigkeit, so hatten Denker wie Jacobi bereits am Ende des 18. Jahrhunderts erkannt, in das Dilemma einer immer größer werdenden Verspätung verstrickt worden, die die Nachahmenden immer weiter vom Ursprung entfernte, je mehr sie an seiner Erneuerung arbeiteten. In der Perspektive der homerischen Epen jedoch gibt es eigentlich keinen erkennbaren, ersten Ursprung mehr – wurde er doch längst überschrieben in einer unendlichen Folge von mimetischen Akten. Mimesis ist grundsätzlich ein Akt der Verdunkelung des Ursprungs, sein Überziehen mit einer imitierenden Hülle. Aus der Imitatio des Göttlichen wird ein anthropologisches Grundverhalten. Jeder Rhapsode, jeder griechische Sänger und auch jeder Bewohner und Nutzer historischer Typen alter Architektur verändert
77 Schinkel, Tagebücher, ed. Riemann (wie Anm. 2), S. 116.
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die Tradition, während er sie fortsetzt. In welchem Grade er sie schlecht verändert, gar verfehlt hat, ist dabei gar nicht festzustellen, da das Urbild nicht zu haben ist. Nicht das echte Original ist den Zeitgenossen zugänglich, sondern eine Vielzahl von späten Versionen, welche immerfort nachahmend entstanden sind. Im Prinzip ist jedes Gebäude, das irgendwo steht, Teil der Tradition. Einen Kanon kann man daher nicht a priori bilden. Vom kritischen Architekten aufgesucht und angeschaut wird die Praxis der Lebenden.
VII Rhythmus und Form Als weiteres Resultat der Italienreise sollte Schinkel beginnen, den architektonischen Rhythmus als eine Folge von freien Formen zu handhaben. Rhythmus wurde nicht länger als ein Wechselspiel definierter Formen verstanden (z. B. als ein Stützenwechsel), sondern als Markierung eines ersten Einschnitts, eines Unterschieds im Regelmaß. Konnte doch bereits eine jede Artikulation eines Unterschieds in der Fläche der Wand an die Idee einer ersten Artikulation überhaupt, an die Bildung des ersten Unterschieds erinnern. In der Nachfolge von Vicos Theorie von der Entstehung des ersten Lautes der Sprache konnte Form als Resultat einer Markierung im sinnlichen Material begriffen werden und damit als der Beginn einer Abfolge von markierten und nichtmarkierten Elementen. Der Begriff der Form und der des Rhythmus sollten für Schinkel nahe aneinander rücken. Daß er sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit der altgriechischen Bedeutung des Wortes Rhythmos als ›Form‹ befand,78 könnte er, der in Rom von Kennern des Altgriechischen und von Liebhabern einer Erneuerung der griechischen Auffassung der metrischen Gliederung durch die Modulation des Materials umgeben war, womöglich gewußt haben. Als Konsequenz der auf der Italienreise entwickelten Konzeptionen konnte jegliche Bauform an die Bildung des Unterschiedenen, an den Uranfang des Rhythmus unter dem Eindruck des Naturereignisses gemahnen. Wenn Schinkel in seinen reifen Arbeiten in der Lage war, eine Wand so zu gliedern, daß die bekannten Gliederungsformen sehr weitgehend in reine Eintiefungen in die Wand überführt wurden (Abb. 11), dann bedeutete dies nicht die schlichte Aufgabe der klassischen Sprache der Architektur, sondern vielmehr ihre Rückführung auf eine Idee von ihrer Geschichte. Die Reduktion der traditionellen Weise der Gliederung erinnerte stets an ihren ersten denkbaren geschichtlichen Augenblick, an die Grundlegung aller möglichen Artikulation in der Architektur. Diese Konzeption war aus der Geschichte der Poesie entwickelt worden und blieb an sie gebunden. Indem jede Form als Resultat einer ursprünglichen Artikulation verstanden wurde, mußten die Elemente der klassischen Sprache der Architektur aus ihrer Bindung an die Gattung entlassen werden. Eine kanonische Tafel sämtlicher möglichen Elemente der Architektur konnte damit nicht mehr erstellt werden – Schinkel hat sein Lehrbuch der Architektur nie geschrieben.79 Jede Form bezog sich von nun an auf die Idee einer allgemei78 Vgl. Emile Benveniste, Der Begriff des ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. München 1974, S. 370–386. 79 Peschken (wie Anm. 48) hat verschiedene Stadien der ›Lehrbuchpläne‹ aus den hinterlassenen Skripten rekonstruiert.
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nen Sprache der Menschheit und ihres Ursprungs in der ursprünglichen Artikulation des ersten Ausdruckslauts. Dieser Ursprung war jedoch für die Reflexion verloren – Schinkel hatte im Einklang mit seinen Zeitgenossen in Italien eine Theorie der architektonischen Mimesis entwickelt, die den Überlieferungsprozeß als Überschreiben des Ursprungs, als Prozess der allmählichen Unkenntlichmachung der Geschichte der Form verstand. Die Figur des homerischen Rhapsoden, die Schinkel in das Bildprogramm des Berliner Museums aufnahm, sollte zwar die im Anschluß an Vico entwickelten Theorien vom Ursprung der Form darstellen, die Bauformen der sie tragenden Architektur konnte die Bildfolge jedoch nicht mehr je konkret aus ihrem tatsächlichen Ursprung erklären und sie darin bedeutend werden lassen. Die reinen Bau-Formen hatten sich, im Prozess der Überlieferung, von ihrem Ursprung unwiderruflich abgelöst – an diesen aber erinnerte das Bild des griechischen Sängers.
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Abb. 1 Karl Friedrich Schinkel: Veduta di Roma da mia Locanda in Monte Pinso presso la chiesa di Santa Trinita dell’ Monte. Federzeichnung. Staatliche Museen Berlin.
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Abb. 2 Karl Friedrich Schinkel: Auf dem Gipfel des Monte Ghibello oder Ätna. Feder in Schwarz, Bleistift. Staatliche Museen Berlin.
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Abb. 3 J. F. Clemens: Stich nach Nicolai Abildgaards Gemälde ›Ossian‹, 1787. Kopenhagen, Königliche Bibliothek.
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Abb. 4 Jean Charles Delafosse: Le Cahos, in: ders., Nouvelle Iconologie, Paris 1768, Taf. 1.
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Abb. 5 Karl Friedrich Schinkel: Scylla, Charybdis, Pharo di Messina. Feder in Braun, laviert, Bleistift. Staatliche Museen Berlin.
Abb. 6 Karl Friedrich Schinkel: Griechischer Sänger. Feder und Tusche. Staatliche Museen Berlin.
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Abb. 7 Karl Friedrich Schinkel: Museum am Lustgarten. Innere Perspektive, Ausschnitt. Feder und Tusche. Staatliche Museen Berlin.
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Abb. 8 Karl Friedrich Schinkel: Anacapri. Feder und Pinsel in Braun, laviert, Bleistift. Staatliche Museen Berlin.
Abb. 9 Karl Friedrich Schinkel: Ländliches Anwesen auf Sizilien. Federzeichnung. Staatliche Museen Berlin.
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Abb. 10 Adam Friedrich Oeser: Frontispiz zur zweiten Auflage von J.J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke. Dresden, Leipzig 1756.
Abb. 11 Karl Friedrich Schinkel: Museum am Lustgarten, Westseite. Detail.
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Roma Capitale oder Roma Eterna Zur literarischen Rezeption des modernen Rom Die wissenschaftliche Rezeption der Grand Tour, zu Deutsch Kavalierstour, ist untrennbar mit der der Weimarer Klassik verknüpft – wer Grand Tour sagt, denkt oft genug an Goethe und Winckelmann und nicht an die vielen mediokren Reisebeschreibungen, die aus diesem verlängerten Bildungsurlaub hervorgingen. Vor allem Goethes Italienische Reise ist mittlerweile fast zum kanonischen Text geworden, der wie ein Alp auf den Hirnen nachgeborener Germanisten liegt. Gelegentlich werden noch Moritz oder Seumes Italienreisebeschreibungen und Heinrich Heines Reise von München nach Genua als Parodie Goethes rezipiert, aber insgesamt bleibt der literaturwissenschaftliche Blick auf die Italienliteratur dem 18. Jahrhundert verhaftet. Die Werke des 19. Jahrhunderts scheinen dagegen kaum der Rede wert, obwohl sie zahlreicher und heterogener sind als die des vorhergegangenen Jahrhunderts. Die Internationalität und Vielschichtigkeit des Phänomens Grand Tour, wie die Tatsache, daß es sich dabei auch um ein Modell der Fremdwahrnehmung, besonders der Italien-Wahrnehmung gehandelt hat, bleibt meist unbeachtet. Allerdings spielte Italienwahrnehmung im Selbstverständnis der Reisenden des 18. Jahrhunderts, denen es vor allem um Kunstbetrachtung in situ, um Schulung von Geschmack und Kennerschaft sowie um persönliche Weiterentwicklung ging, nicht unbedingt eine wichtige Rolle, wie Hermann Wetzel ausführt: Wie wenig Italiens Kultur als etwas exklusiv Italienisches galt, zeigt sich auch an der Sitte der Kavalierstour, die ja nicht dazu diente, die Fremde als etwas Fremdes kennenzulernen, sondern ad fontes zu gehen und die klassische Bildung in die eigene Identität zu integrieren als etwas Eigenes.1
Für den allgemeinen Impetus der Reise trifft diese Feststellung sicherlich zu, aber die Grand Tour ist immer auch ein sehr vielfältiges Phänomen gewesen,2 der Engländer Brian Dolan hat sogar eine Grand Tour der Frauen entdeckt, die auf einer Italienreise weniger die Antike studieren als Bildung und Welterkenntnis erlangen wollten, zu der gelegentlich auch das Kennenlernen der gastgebenden Kultur gehörte.3 Für die Grand Tour des
1 Hermann H. Wetzel, Italiens »Lieux de mémoire«, Versuche der Identitätsstiftung, in: Italianità, Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster, hg. von Reinhold R. Grimm, Peter Koch, Thomas Stehl, Winfried Wehle, Tübingen 2003, S. 174. 2 Vgl. dazu Grand Tour, Adeliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Rainer Babel und Werner Paravicini. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000. Ostfildern 2005. Chloe Chard, Pleasure and Guilt on the Grand Tour, Travel Writing and imaginative Geography 1600–1830, Manchester 1990. 3 Vgl. Brian Dolan, Ladies of the Grand Tour, London 2001.
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19. Jahrhunderts,4 wenn man überhaupt noch davon sprechen kann, ist mit dem Beginn der europäischen Romantik die römische Antike nicht mehr die allein maßgebliche Modellkultur, wie Catherine Edwards feststellt.5 Zwar nehme die Auseinandersetzung mit der römischen Antike noch immer einen wichtigen Stellenwert in der europäischen Kultur ein,6 aber die Sicht der Romantik unterscheide sich doch deutlich von der kritiklosen Bewunderung des 18. Jahrhunderts. Zugespitzt lässt sich also sagen: mit Ende der traditionellen Grand Tour kam die literarische Italienwahrnehmung eigentlich erst richtig in Schwung. Zumindest begann das Interesse an Land und Leuten sich auf ganz neue Art zu entwickeln, was sich zum Beispiel in Madame de Staëls Corinne ou Italie oder Byrons Childe Harold IV wiederspiegelt,7 die jeweils auch eine Kritik an der Italienrezeption der Grand Tour vorbringen.8 Nun suchen vor allem die gebildeten Besucher das besondere und authentische Erlebnis, wie James Buzard in seiner wichtigen Studie The Beaten Track ausführt, welches sie vorzugsweise jenseits des beaten track, der ausgetrampelten Pfade, zu finden hoffen.9 Dies führt, wie Buzard sagt, zwar binnen kurzem auch zu Standardisierungen, kehrt aber immerhin die Rezeption der Grand Tour um, nicht mehr die berühmten vor allem antiken Sehenswürdigkeiten stehen im Mittelpunkt des literarischen Interesses, sondern die Begegnung mit dem Land selber. Es ist vor allem Lord Byron, der den Aspekt der kreativen und individuellen Aneignung Italiens zur neuen Herangehensweise macht, die in der Postromantik zu einer veränderten literarischen Aneignung Italiens führt: Byron furnished post-Romantics with accredited anti-touristic gestures that were performable within tourism […] Where the Grand Tourist had enacted a repetitive ritual of classicism and class solidarity, his nineteenth-century counterpart, self-consciously treading the Grand Tourist’s well beaten path in the midst of inevitable compatriots, would lay claim to an aristocracy of inner feeling, the projection of an ideology of originality and difference. Byron could make even the most familiar routes and stops shed their carapace of clichés and take on powerful new meanings […].10
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Literaten traditionelle Sehenswürdigkeiten ignorierten, aber die intensive Beschäftigung mit der Antike wurde je nach Erhaltungszu-
4 Die Italienrezeption des 19. Jahrhunderts ist bislang nur ansatzweise aufgearbeitet worden, vgl. Dieter Richter, Napoli Cosmopolita, Viaggiatore e comunità straniere nell’Ottocento, Neapel 2002. Thorsten Fitzon, Reisen in das befremdliche Pompeji, Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 29), Berlin/New York 2004. 5 Vgl. Catharine Edwards, Introduction: Shadows and Fragments, in: Roman Presences, Receptions of Rome in the European Culture, 1789–1945, Cambridge 1999, S. 3–4. 6 Ebd., S. 3–4. 7 Vgl. Jerome J. McGann, Rome and its Romantic Significance, in: Roman Images, hg. v. Annabel Patterson (Selected Papers from the English Institute, New Series 8), Baltimore, London 1984, S. 83–104. 8 Dies ist eine Entwicklung, die sich in der gesamten europäischen Italienliteratur finden lässt, Kenneth Churchill spricht von einem ›total reversal of attitudes‹ im 19. Jahrhundert. Vgl. Kenneth Churchill, Italy and English Literature 1764–1930, London 1980, S. VII. 9 Vgl. James Buzard, The Beaten Track, European Tourism, Literature, and the Ways to Culture 1800–1921, Oxford 1993. 10 Vgl. Buzard, The Beaten Track (wie Anm. 9), S. 121–122.
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stand der Monumente zunehmend die Domäne von Archäologen, Altphilologen oder Architekten.11 Im Mittelpunkt des literarischen Interesses stehen nun oft italienische Städte, die in statuenfreien Reisebeschreibungen beschrieben werden, wie Charles Dickens in seinen Pictures from Italy proklamiert.12 Auf deutscher Seite sind Waiblingers italienische Novellen und Skizzen wie Wilhelm Müllers Rom, Römer und Römerinnen als Beispiele für diese Tendenz zu nennen. Bis zur verkehrstechnischen Modernisierung des Reisens, die die Annäherungsweisen an Italien erneut standardisiert, dominierte eine Vermischung alter und neuer Rezeptionsformen. Ein schönes Beispiel hierfür ist das Italienische Bilderbuch der Schriftstellerin Fanny Lewald, eine der interessantesten Italienreisebeschreibungen des Vormärz.13 Ganz traditionell folgt ihre italienische Reise weitgehend den bekannten Stationen, was sie dort entdeckt ist jedoch überhaupt nicht traditionell. Die berühmten Sehenswürdigkeiten werden für interessant befunden und teilweise auch in originellen Bildern beschrieben, im Mittelpunkt der nord- und mittelitalienischen Reiseimpressionen steht aber die lebendige Urbanität der Städte, das demokratische Straßentheater und die Institutionen der bürgerlichen Alltagskultur wie Theater oder Kaffeehäuser. Bei dem gelungenen Versuch, dem vielbeschriebenen Land Neues abzugewinnen, ist es vor allem Genua, eine von Deutschen wenig geschätzte und wenig beschriebene Stadt, deren turbulente mediterrane Urbanität die Autorin in Bann schlägt.14 Rom erscheint dagegen altmodisch und archaisch und trotzdem nicht weniger faszinierend. Natürlich wird auch den antiken Ruinen Respekt gezollt, nicht ohne anzumerken, daß diese auch Auskunft über Unterdrückung geben. Es ist die Volks- und Festkultur, welche die Schriftstellerin besonders fasziniert. Buch und Reise folgen formell der Tradition, sind aber von anderen Motiven geleitet, beziehen sich zwar häufiger auf Goethe, aber es sind Motive von Byron und de Staël,15 die die Erzählhaltung wesentlich stärker prägen, wie bei letzteren ist auch für Lewald die Sympathie mit dem Risorgimento ein Element, das ihr die Italiener näher bringt.16 Als sie 1866/67 zusammen mit ihrem Ehemann und Liebhaber der ersten Italienischen Reise, Adolf Stahr nach Rom zurückkehrt, schreiben beide, die jeweils für sich eine erfolg11 Vgl. Frank Salmon, The Impact of the Archaeology of Rome of British Architects and Their Work, 1750–1840, in: The Impact of Italy, The Grand Tour and Beyond, hg. v. Clare Hornsby, Rom/London 2000, S. 219–243. 12 Charles Dickens, Pictures from Italy, hg. v. Kate Flint, Harmondsworth 1998, S. 5. 13 Fanny Lewald, Italienisches Bilderbuch, hg. und mit einem Nachwort vers. v. Ulrike Helmer, ungekürzte Neuausgabe der Original-Fassung aus dem Jahre 1847, Frankfurt a. M. 1992, S. 230. 14 Vgl. ebd., S. 37–53. 15 Wie viele nachromantische Autoren und Autorinnen bewunderte Lewald Byron sehr, vgl. dazu Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, Bd. 2 Leidensjahre, hg. v. Ulrike Helmer, Frankfurt 1989, S. 222 sowie Fanny Lewald, Römisches Tagebuch 1845/46, hg. von Heinrich Spiero, Leipzig 1927, S. 53. Zu Lewald und de Staël vgl. Fanny Lewald, Vom Sund zum Posilip! Briefe aus den Jahren 1879 bis 1881, Berlin 1883, S. 292–293. Zum Einfluss von de Staëls Corinne auf die europäische Frauenliteratur, vgl. Clarissa Campbell Orr, The Corinne Complex, Gender, and National Character, in: Women in the Victorian Art World, hg. v. Clarissa Campbell Orr, Manchester 1995, S. 89–106. 16 Zu den politischen Dimensionen romantischer Italienbegeisterung vgl. Marilyn Butler, Romantics, Rebels and Reactionaries, English Literature and its Background 1760–1830, Oxford 1981, S. 118–125.
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reiche Italien-Reisebeschreibung verfasst haben,17 das Gemeinschaftswerk Ein Winter in Rom, das dadurch hervorsticht, daß alte und neue Art der Reisebeschreibung in einem Werk vereint sind.18 Das liegt daran, daß Adolf Stahr Altphilologe und damit schon von Berufs wegen der Antike sehr zugetan war, der er sich gern in langatmigen Beschreibungen widmet, während Lewald Rom eine ihrer schönsten und farbigsten Stadtbeschreibungen abgewinnt, was die Prosa Stahrs noch dürrer erscheinen lässt. Vielleicht liegt der hölzerne Stil auch an einer gewissen Unlust Stahrs sich seinem angestammten Thema zu widmen, denn 1866 und 1867 sind eine tumultige Periode des Umbruchs, was das Schriftstellerehepaar auf der Reise deutlich zu spüren bekommt. Schließlich haben gerade Preußen und das neugegründete Königreich Italien gemeinsam die Österreicher geschlagen, in Como sind deshalb noch jede Menge Garibaldianer in kleidsamen roten Hemden zu sehen, was den Risorgimentofreunden Lewald und Stahr ausnehmend gefällt.19 Sie beschreiben die verschiedenen Entwicklungsstufen des neuen Italien anhand ihrer Route: Krieg und Revolution am Comer See, die Verkultung des Risorgimento anhand des Ugo Bassi Gedenkens in Bologna und, ganz wichtig, Abbruch und Umbruch in Florenz, der neuen Hauptstadt Italiens, wo gerade Poggis Modernisierungs- und Erweiterungsplan umgesetzt wurde, was zu allererst mit dem Abbriß von Stadtmauern und Klöstern verbunden war. Diese baulichen Maßnahmen und die neuzugezogene piemontesische Beamtenschaft fällt Lewald und Stahr störend auf, obwohl sie die politische Einigung so sehr begrüßen, wie der Neid auf die politischen Errungenschaften der Italiener es eben zulässt. In ihrem römischen Winter finden Lewald und Stahr die ewige Stadt äußerlich unverändert, ohne den Stadtumbau, von dem sie in der frisch gebackenen Hauptstadt Florenz so angewidert worden waren. Das hat einen ganz simplen Grund, Rom ist zur päpstlichen Insel im geeinten Italien geworden und die Zustände sind alles andere als ideal. Die ewige Stadt ist verarmt, von Franzosen besetzt und zu einer Enklave der Rückständigkeit im nach Fortschritt strebenden Königreich Italien geworden. In der Stadt, die Lewald und Stahr beschreiben, lassen sich die alten Verhältnisse nur noch mit Waffengewalt aufrechterhalten, Konturen eines neuen Rom zeichnen sich noch nicht ab. Daß sich die Stadt aber dringend verändern muss, daß das Papstregime vielleicht die Kulisse konserviert, dahinter das Elend aber zunimmt, ist für Lewald nicht hinnehmbar. Wie die europäische Öffentlichkeit jener Jahre insgesamt, lassen auch Lewald und Stahr recht deutlich durchscheinen, daß sie den Papststaat für ein untergehendes politisches Gebilde halten. Die Lust am Untergang der Stadt, die Lust daran, einen europäischen Staat zu besichtigen, in dem der Feudalismus noch lebendig ist,20 hält Lewald allerdings für unanständig. Touristen oder 17 18 19 20
Adolf Stahr, Ein Jahr in Italien (3 Bde.), Oldenburg 1847–1850. Adolf Stahr, Fanny Lewald, Ein Winter in Rom, Berlin 1869 Ebd., S. 12–14. Gustav Seibt schreibt dazu: »Und so war auch die Meinung bei nüchternen Beobachtern in Rom, man lebe auf Abruf. Diesem fatalistischen Preisgeben entsprach vor allem unter den Reisenden aus den anderen europäischen Nationen eine unverhohlene Lust: die Lust am Untergang dieses alten, sonderbaren und ehrwürdigen Staatsgebildes. Was hat man nicht alles geschrieben, über die Zurückgebliebenheit, die unhaltbaren Zustände im Kirchenstaat, die Verfallenheit Roms, die Verlassenheit der Campagna, die Wildheit und Kulturlosigkeit der Bevölkerung, die klerikale Bedrückung, die Stagnation der Wirtschaft. Gleichzeitig klingt aus den Schilderungen der Nordeuropäer ein einziger langer
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Reisenden, die aus atmosphärischen Gründen für eine Musealisierung Roms plädieren, tritt sie vehement entgegen: Alle Tage kann man es hier von den halbgebildeten unter den Fremden hören, daß Rom und die römischen Zustände durchaus erhalten bleiben müßten, wie sie sind. Nichts wollen sie missen, nicht die grenzenlose Verkommenheit des Volkes, nicht seine geradezu beispiellose Zerlumptheit, nicht die wahrhaften Höhlen, in denen das Volk wohnt, nicht seine Unwissenheit, nicht seinen Aberglauben; nur die Briganten im Gebirge, die sind ihnen doch zuwider, und die möchten sie doch lieber nicht haben! […] Die Annahme, daß Rom dazu bestimmt sein soll, für alle Zeiten ein Raritätenkabinett von Trümmern bleiben soll, ist eine Abgeschmacktheit und enthält zugleich den Gedanken an eine Grausamkeit.21
Diese Passage ist natürlich eine Stellungnahme zur berühmten Questione Romana, zum Schlachtruf Roma o morte der Garibaldianer. Rom soll Hauptstadt werden und die damit verbundenen Veränderungen sind für Lewald und Stahr akzeptabel, trotz der ambivalenten Bewertung der damaligen Hauptstadt Florenz. Beide wissen, daß dies das Ende der ewigen Stadt, so wie sie sie kennen, sein wird. Bereits jetzt sei die Stadt kaum ein funktionsfähiges urbanes Gebilde, um Rom in eine Hauptstadt zu verwandeln, seien umfangreiche Eingriffe notwendig, die ihrem romantischen Charakter den Garaus machen werden. Fanny Lewald, pragmatisch wie immer, fabelt den Modernisierung- und Zerstörungsprozess, den Roms Umwandlung in die Hauptstadt des neuen Italiens mit sich bringen wird, ganz unsentimental aus: Wenn das Kolosseum, wenn das Pantheon und die großen Säulengruppen auf dem Forum Romanum erhalten bleiben, wenn die großen Triumphbögen, welche in die alten Tempel und Bäder hineingebaut sind, wie S. Lorenzo in Miranda, wie S. Maria degli Angeli und so viele andere aufrecht stehen, um von der Vergangenheit zu zeugen, so mögen und müssen die riesigen Mauern der Caracalla-, der Titus und der Diokletiansthermen in Gottes Namen niedergeworfen werden, und man wird es zu segnen haben, wenn daraus Wohnungen aufgerichtet werden, in denen die Bewohner der Campagna vor dem Fieber Zuflucht finden.22
Stahr fügt weitergehende denkmalschützerische Präferenzen hinzu, aber im Prinzip ist auch er der Meinung, daß Rom italienische Hauptstadt werden solle und daß dafür ungefähr zwei Drittel der damaligen Bebauung, inklusive viele der 330 Kirchen, niedergerissen werden sollten.23 Beider Anliegen ist weniger Denkmalstürmerei, obwohl Fanny Lewald immer schon eine vormärztypische Neigung zu dieser hatte, als die Forderung
Abschiedsseufzer. Man besucht Rom und seine Menschen als ein gerade noch lebendes Denkmal einer viel älteren Zeit […]«, Gustav Seibt, Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt, Berlin 2001, S. 194. 21 Stahr/Lewald, Ein Winter in Rom (wie Anm. 18), S. 240–241. 22 Ebd., S. 241. 23 Adolf Stahr schreibt: »Kommt es wirklich dazu, dass Rom Hauptstadt Italiens wird, so ist es um seine jetzige Gestalt, mit all’ ihrer düsteren Romantik geschehen, und es wird ein Umbau in Angriff genommen werden müssen, von dem die Geschichte der neueren Zeit kaum ein Beispiel zeigt, ein Umbau, der ohne die völlige Niederlegung von nahezu zwei Drittheilen der heutigen Stadt, nicht zu bewerkstelligen sein wird. Wenn dabei viel von der Romantik zu Grunde geht, so werden doch Reinlichkeit, Gesundheit und Wohnlichkeit, an denen es hier mehr als in irgendeiner Stadt Europa’s fehlt, unendlich gewinnen […]«. Stahr/Lewald, Ein Winter in Rom (wie Anm. 18), S. 323–324.
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nach Umwandlung Roms in eine für ihre Einwohner angenehme, wohnliche Stadt nach modernen fortschrittlichen Maßstäben. Was Lewald und Stahrs Winter in Rom spannend macht, ist, daß er direkt aus der Gründungs- und Umbruchsphase stammt und es in der Reisebeschreibung gelegentlich genauso durcheinander geht, wie im Land selber. Das beste Beispiel dafür sind die Eisenbahnen, deren Bau der italienische Staat mit enormem Sendungsbewusstsein vorangetrieben und sich davon den Anschluss an die entwickeltsten europäischen Staaten erhofft hatte, in mehr als verkehrstechnischer Hinsicht. Das zum Zeitpunkt der Reise bruchstückhaft vorhandene Streckennetz, das immer wieder zum Umsteigen in die Kutsche und damit zum Aussteigen aus der Moderne führt, irritiert ungemein. Aus politischen Gründen sind beide für die Eisenbahnen, was die Ästhetik der Reise angeht, empfindet gerade Stahr den Bruch mit der hergebrachten Reiseform und Ästhetik der Grand Tour als schmerzlichen Verlust nicht nur der Landschaft, sondern eines entscheidenden Teils der Reisekultur. Noch schlimmer ist es, mit der Eisenbahn und nicht mit der Kutsche in Rom einzufahren: Diese Ankunft werde ich nie vergessen; sie war der abscheulichste Gegensatz zu meinem Einzuge in Rom vor einundzwanzig Jahren. Damals hatte ich mich in sonnigster Frühlingshelle eines schönen Junitages der Vetturin von den Hügeln der Campagne hinab der Siebenhügelstadt entgegengeführt, vor mir im Sonnenglanze strahlend die majestätische Kuppel des Dom’s der Dome, das Wahrzeichen der christlichen Weltherrscherin. Jetzt – raste das feuerschnaubende Dampfungethüm mit uns durch die rabenschwarze Regennacht hinein in die Mauern der ewigen Stadt und in den stockfinsteren Bahnhof, auf dem ein elender Nothschuppen […] das Bahnhofsgebäude der Hauptstadt darstellte.24
Dies ist mehr als die zeittypische Verklärung der Postkutsche, die regelmäßig dann einsetzte, wenn man deren Unbequemlichkeiten fast vergessen hatte. Der garstige Bahnhof Roms war unter Literaten lange Stein des Anstoßes und der Ort, an dem das Missfallen am neuen Italien regelmäßig zum Ausdruck gebracht wurde. So schrieb Herman Grimm in seiner berühmten Goethevorlesung: Ich selbst habe noch einen allerletzten Schimmer der Abendröte erleben zu dürfen geglaubt, in welcher Goethe Rom erblickte. Ich bin vor zwanzig Jahren noch eingefahren durch die Porta del Popolo, nachdem ich in langer Fahrt Rom näher und näher gekommen war […] Heute dringt man, wie durch eine Bresche, durch einen Mauerdurchbruch an ganz anderer Stelle ein und findet sich am Bahnhofe in einem neuen Quartiere mit glatt aufgeschlossenen, eleganten Häusern, die ebensogut Berlin, Wien oder einer anderen modernen Stadt gehören könnten. Von da aus sucht man dann das alte Rom erst auf wie eine abseits liegende Merkwürdigkeit. Früher wurde man gleich ins Herz der alten Stadt geführt und sah sich von ihr umgeben und eingeschlossen.25
Dies ist in der Tat ein Verlust in der Erlebnisqualität der Reise, den auch heutige Leser nachvollziehen können. Weniger nachvollziehbar erscheint dagegen aus Angst vor dem Verschwinden der kulturellen Größe und ästhetischen Anziehungskraft Roms auf die Errungenschaften der Moderne einfach ganz zu verzichten. Einer der wenigen berühmten Romkenner, der die Eisenbahnen, auch die in Arkadien, zunächst vorbehaltlos bejahte, war Ferdinand Gregorovius. Der reiselustige Gelehrte änderte allerdings seine Meinung,
24 Ebd., S. 89–90. 25 Vgl. Heinrich Spiero, Einleitung, in: Lewald, Römisches Tagebuch 1845/46 (wie Anm. 15), S. 3.
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nachdem deutlich wurde, daß durch das neue Transportmittel Rom von unpassenden Besuchern überschwemmt wurde.26 Jens Petersen beschreibt dies folgendermaßen: Ihm ist schrittweise deutlich geworden, daß die revolutionären Veränderungen des Reisens den Erlebnisraum und die Realität Italiens tiefgreifend verwandelten. Nicht ohne einen Beiklang von aristokratischem Kulturpessimismus und weit entfernt von seinem ursprünglichen Fortschrittsenthusiasmus schrieb er schließlich 1881, den in Rom praktizierten ›Vandalismus‹ und ›Amerikanismus‹ könne man nur mit Trauer betrachten.27
Fortbewegung war nun kein Abenteuer mehr, bei dem die Reisenden Kutschern, Wirten und Räubern am Wege ausgeliefert waren und der Zustand von Wegen, Straßen und Pässen sowie die Launen des Wetters das Reisetempo schwer kalkulierbar machten.28 Stattdessen bot die neue Transporttechnologie eine sichere und vorhersehbare Form des Reisens, was aber viele Literaten als Verlust an Reiseatmosphäre begriffen.29 Die Erfindung des Massentourismus, die das vormals exklusive Reiseerlebnis demokratisierte, verkürzte und standarisierte, tat ein zusätzliches, um dem alten Reisebericht den Garaus zu machen. Viele potentielle Leser konnten sich nun Reisen, auch italienische Reisen, selber leisten, das stellte auch neue Anforderungen an die Reiseschriftstellerei.30 Ähnlich wie die Postkutschen wurde nun das Rom Goethes, und Winckelmanns idealisiert, wurde zum Mythos des späten 19. Jahrhunderts, von dem sich, wie eingangs erwähnt, die Germanistik bis heute nicht befreit hat. Ein Grund für die verstärkte deutsche Romkritik war nicht nur die verkehrstechnische Modernisierung des Landes, sondern auch die Hauptstadtwerdung Roms in den Jahren 1870/71, die einen städtischen Umbau zufolge hatte, der die Stadt grundlegend veränderte. Die Stadtväter Roms ließen sich zunächst auch von denkmalschützerischen Grundsätzen leiten und die Regierung kam vor allem in den vormals päpstlichen Palästen und aufgehobenen Klöster unter. Für den vom Norden nachgezogenen Staatsapparat wurden vor allem Parks und die landwirtschaftlich genutzten Grünflächen u. a. hinter dem Bahnhof Termini in Neubauviertel umgewandelt, die durch ihre Hässlichkeit wenig Gefallen fanden und den Kontext alter Gebäude zerstörten, wie Herman Grimm beklagt: In den ehemaligen stillen Weingärten und Einöden entstehen jetzt lärmende Stadtviertel. Hügel werden geebnet und Täler ausgefüllt. In einem grünen Tale lagen bisher die Trümmer der Villa des Sallust; heute ist diese Tiefe zugeschüttet und zum Bauplatz geworden. Aus Vignen ragte die schöne Ruine der Minerva Medica einsam hervor; heute steht sie in einem beginnenden Straßenquadrat […] Die großartige Wildnis am Colliseum weicht einem Straßenviertel. Das einst zauberisch stille Feld am Monte
26 Vgl. Cesare De Seta, Gregorovius und die Polemiken über den Wandel des römischen Stadtbildes nach 1870, in: Ferdinand Gregorovius und Italien, Eine kritische Würdigung, hg. v. Arnold Esch, Jens Petersen (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 78), Tübingen 1993, S. 203–216. 27 Jens Petersen, Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius, in: Jens Petersen, Italienbilder – Deutschlandbilder, Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 54. 28 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989, S. 51–56. 29 Vgl. Hermann Glaser, Romantik der Postkutschenfahrt, in: Zeit der Postkutschen, Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, hg. v. Klaus Beyrer, Deutsches Postmuseum, Frankfurt a. M. 1992. 30 Vgl. Andreas Braun, Tempo, Tempo. Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert (Werkbund-Archiv 28), Frankfurt 2001.
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Christina Ujma Testaccio und der Pyramide des Cajus Cestius bedeckt sich mit Häuserreihen […] So sprengt das wachsende Leben die zu eng gewordenen Schranken der Stadt, und das alte schöne Rom geht unter.31
Vor allem die veränderte Bevölkerungsstruktur konnte die Atmosphäre in der Stadt nicht unverändert lassen, was von Schriftstellern wie Fanny Lewald durchaus begrüßt wurde, der die intellektuelle Öde der Stadt nie gefiel und sich daran freut, daß die Stadt der Zensur und des Analphabetismus nun Tummelplatz für Zeitungen und Journalisten ist, wie sie ihren Lesern in der Kölnischen Zeitung mitteilt, für die sie in den späten Siebziger und frühen Achtziger Jahren regelmäßig aus dem neuen Rom berichtet. Der Kunsthistoriker und Kunstschriftsteller Herman Grimm dagegen erging sich in konservativen Blättern in Polemiken gegen den Umbau und Beschwörungen des Goetheschen Roms. Seine Gattin, Gisela von Arnim-Grimm, die lange in Italien gelebt hatte, übte sich in ihrer Schrift über Rom und Berlin in kulturkritischen Lamenti über die Vereinheitlichung der Lebensstile, die dem Leben die Poesie raube: Es ist für sie ganz unverständlich, daß Rom auch eine Stadt der Römer ist, also eine Stadt, in der man leben, arbeiten und sich amüsieren kann wie in Paris, Wien oder Berlin, unbegreiflich auch, […] daß eine Menge gewöhnlicher Leute nach Rom ziehen, um sich dort niederzulassen […] Von jeher zogen Künstler und bedeutende Menschen nur zeitweise dorthin, um dort auf dem Welttheater zu lernen und zu walten.32
Den italienischen Bedürfnissen nach einer Hauptstadt mit europäischen Standards in Leben, Arbeit, Unterhaltung, Repräsentation und Hygiene hält sie entgegen: »O Römer! dadurch ändert ihr Italien nicht, nein! das bringt weder Ruhe noch Reinlichkeit, nur Häßlichkeit, Krankheit und Langeweile.« Und sie schließt mit einem Wort des deutschflorentinischen Bildhauers Adolf von Hildebrand: »[…] die Italiener, wenn sie unsere Art zu leben nachahmen, werden langweilig, statt sich zu verbessern.«33 Diese Position weist Italien insgesamt die Rolle des unterentwickelten, authentischen Gegenparts zum entwikkelten, aber hässlichen Norden zu. Diese Sichtweise war so mächtig, daß sie sogar eingeschworene Italienfreunde nicht unbeeinflusst ließ, die retrospektiv ihre frühen Italienerlebnisse idealisierten. So schrieb Paul Heyse, der sich als Vermittler zwischen deutscher und italienischer Literatur große Verdienste erworben hat, in seinen im Jahr 1900 erschienenen Jugenderinnerungen über seinen ersten Romaufenthalt im Jahr 1852: Es war noch das alte Rom, fast unverändert, wie es zur Zeit des Rinascimento gewesen war, jedenfalls das Rom der Winckelmann, Goethe und Wilhelm von Humboldt, das Rom des Papstes und seines geistlichen Hofstaates, der zahllosen Mönchsorden jeder Observanz, das Rom der engen, schmutzigen, winkeligen Gassen […]. Dann aber auch vor Allem das Rom der alten Welt, dessen gigantische Baudenkmäler noch nicht wie heutzutage durch den vandalischen Forschergeist der Archäologen in ihren Grundvesten durchwühlt und aus ihrer Jahrhunderte langen Verschüttung bloßgelegt waren, sondern von wilder Vegetation überwuchert in traumhaft malerischer Erhabenheit den Beschauer fesselten. Noch war weder im Forum noch im Coliseo der Boden aufgegraben, noch wandelte man zwischen den
31 Ferdinand Gregorovius, Der Umbau Rom’s, in: Ferdinand Gregorovius, Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur (3 Bde.), Leipzig 1887–1892, Bd. 2, S. 300–301. 32 Gisela Grimm, Ein Brief über Rom und Berlin, Berlin 1887, S. 50. 33 Ebd., S. 36.
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geheimnisvollen Palastruinen des Palatin ohne genauen Wegweiser herum, und aus den verwilderten Gärten der Villen schweifte der Blick über die weite Campagna mit ihren trümmerhaften Aquäducten bis an die Albaner- und Sabinerberge, ohne durch die ungefügen Zinskasernen einer neuen, nüchternen Zeit gehemmt und beleidigt zu werden.34
Die Moderne in Rom beleidigt den Geschmack des Gebildeten und beim Versuch, diese anzuprangern geht nun wirklich alles durcheinander, das Rom der Renaissance, das Rom Goethes und das Rom ohne Zinskasernen. Dabei kann es einem Italienkenner wie Heyse eigentlich nicht verborgen geblieben sein, daß zwischen dem Rom der Renaissance und dem Rom Goethes wenig Ähnlichkeit bestand, schließlich haben die Päpste des Barock umfangreiche Umbauten unternommen, die durchaus auch eine politische Dimension hatten, nämlich eine katholische Machtdemonstration im Zeitalter der Gegenreformation.35 In der analytischen Nacht von Heyses Romschelte sind alle Kühe schwarz, selbst der Arbeit der römischen Archäologen kann er nichts abgewinnen und bezeichnet sie deshalb als Vandalen. Ungewollt gibt Heyse über die Ambivalenzen des Italienverständnisses der letzten Nachfahren der Grand Tour Auskunft, einerseits erlebt er 1852 Rom in bester Gesellschaft, hat seinen Onkel, den Altphilologen Theodor Heyse, als Führer, verkehrt mit bedeutenden Kunsthistorikern und Künstlern, unter denen heute Jakob Burckhardt, Ferdinand Gregorovius und Arnold Böcklin die berühmtesten sind; andererseits ist ihm das Land wirklich nur Kulisse, in dem er ausschließlich das sucht, was bei deutschen Besuchern Bedeutung besitzt, was dann immer wieder zum Anlaß für ein Gedicht oder eine Novelle wird. Was in der deutschen Italientradition keine Bedeutung hat, spielt keine Rolle, Mailand und Genua werden abgekanzelt und in Rom wird die Kunst des Vorbeisehens an späteren sogenannten charakterlosen Epochen praktiziert.36 Die Einheimischen sind Störfaktor oder dienstbare Geister, haben hübsch, gesittet oder pittoresk zu sein, an ihrer Kultur gibt es so wenig Interesse, daß sich Heyse und Freunde nicht scheuen, im Petersdom die lutheranische Hymne Ein feste Burg ist unser Gott anzustimmen. In seinen Erinnerungen gewinnt lediglich in Florenz das Italien der Italiener Kontur, hier trifft Heyse bürgerliche Geselligkeit, ein funktionierendes Theater- und Bibliothekswesen. Rückblickend trauert er zwar dem durch den italienischen Staat vertriebenen Großherzog nach, aber die Modernisierung der Stadt sei glimpflich verlaufen: In keiner der großen italienischen Städte hat sich die neue Zeit mit der mittelalterlichen so glücklich verschmolzen, daß Alles wie aus einem Gusse erscheint. Auch heute noch, wo in Rom durch die plumpen hastigen Neubauten zwischen den antiken Trümmern und den Palästen der Renaissance das Stadtbild sich immer unharmonischer darstellt, liegt die reizende Blütenstadt in ihr breites Thal eingebettet, wie wenn sie dem schöpferischen Geist eines einzigen Baumeisters entsprungen wäre. Keine Wohnkasernen beleidigen, wie in den Mauern Roms, das Auge, das zu den Hügeln von San Miniato und nach dem lustig thronenden Fiesole emporschweift, und der moderne Via die Colli, der vor fünfzig Jahren
34 Paul Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin 1900, S. 121. 35 Vgl. Angelica Gernert, Michael Groblewski, Von den italienischen Staaten zum ersten Regno d`Italia. Italienische Geschichte zwischen Renaissance und Risorgimento, in: Kleine italienische Geschichte, hg. v. Wolfgang Altgeld, Stuttgart 2002, S. 190. Dorothy Metzger Habel, The Urban Development of Rome in the Age of Alexander VII, Cambridge 2002, S. 324. 36 Vgl. Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse (wie Anm. 34), S. 122.
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Christina Ujma noch zu keiner Piazza di Michelangelo hinaufführte, hat sich so wenig durch ehrwürdige charakteristische Stätten Bahn machen müssen, daß einem ist als hätte er nie in dem Gesamtbilde der Stadt und ihrer Umgebung fehlen können.37
So wie Heyse dachte unter anderen auch Herman Grimm,38 aber die Aufgabe, welche die Florentiner Stadtväter zu erledigen hatten, war etwas überschaubarer als die Modernisierung Roms, zumal Florenz die Hauptstadtfunktion losgeworden war, bevor diese zuviel Schaden am Stadtbild angerichtet hatte. In jenen Jahren wurde das Roms Goethes endgültig zum Mythos, zum Inbegriff der steingewordenen Literatur. Der Sog, den dieser Mythos ausübte, war so stark, daß das neue Rom wie das neue Italien insgesamt in Deutschland eine recht schlechte Presse hatte. Dabei spielten natürlich noch andere Faktoren eine Rolle, wie die Tatsache, daß im Unterschied zu Deutschland, wo die Staatsgründung ein Meisterwerk der politischen Kunst und des Kriegshandwerks war, im italienischen Risorgimento eher der liberale Geist triumphiert hatte,39 so sah es jedenfalls damals die von Benedetto Croce beeinflußte europäische Geschichtsschreibung.40 Und es kann gut sein, daß die Fortschrittseuphorie der Gründerzeit die fortschrittsskeptischen deutschen Intellektuellen abgeschreckt hat.41 Nachdem der fortschrittsoptimistische Schwung der italienischen Gründerjahre dahin war, gewann die Stadt viel Popularität zurück, junge Leute wie Ludwig Curtius, die in den 1890ern zum erstenmal nach Italien kamen, waren genauso begeistert wie Fanny Lewald fünfzig Jahre zuvor. Den Status als Hauptstadt der europäischen Malerei hatte Rom schon verloren, bevor sie zu Roma Capitale wurde, wie Fanny Lewald bereits 1866 feststellte: Rom hat eben aufgehört die Hochschule der Malerei zu sein. Die Maler gehen nach Paris oder nach Belgien um ihre eigentliche Lehrzeit zu vollenden; wer von ihnen nach Rom kommt, thut es um Studien für bestimmte Gegenstände zu machen […] oder um sich hier für die römische Landschaft und das römische Costüm- und Genrebild einen ständigen Markt zu eröffnen. Auf dem großen Ganzen des hiesigen deutschen Künstlerthums liegt […] der Druck jener geistigen und materiellen Verkommenheit, der sich über alles hiesige Leben und Treiben gelagert hat.42
37 Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse (wie Anm. 34), S. 162. 38 Zu Herman Grimm und Florenz vgl. Rotraut Fischer, Christina Ujma, Italienische Miszellen II – Hermann Grimm und das neue Florenz, in: Jahrbuch der Brüder-Grimm-Gesellschaft VI (1996/2000), S. 163–174. 39 Vgl. Angelo Ara, Einleitung, in: Imagini a Confronto, Italia e Germania. Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder, hrsg. v. Angelo Ara, Rudolf Lill ( Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 4) Bologna/Berlin 1991, S. 20. 40 »Das nationalpolitische Werk, das 1870 vollendet wurde, ist von Ausländern oft noch mehr als von Italienern bewundert worden; man meinte, nur die italienische Begabung, kühn und maßvoll, idealistisch und zugleich wirklichkeitsnah, habe diese Tat vollbringen […] können […] auch der gemessensten Kritik erscheint das ›Risorgimento‹ Italiens, sein nationaler Aufschwung, die rasche Verschmelzung zur staatlichen Einheit als eine besonders glückliche und klare Verwirklichung dessen was der europäische Geist sich seit mehr als einem halben Jahrhundert zum Ziel gesetzt hatte, was er als schönes Ende seiner Träume ersehnte.« Benedetto Croce, Geschichte Italiens 1871–1915, übers. v. E. Wilmersdorfer, Berlin 1928, S. 31. 41 Zur Romrezeption der Gründerzeit vgl. auch Gunter Grimm et. al., »Ein Gefühl von freierem Leben«, Deutsche Dichter in Italien, Stuttgart 1990, S: 172–187. 42 Stahr/Lewald, Ein Winter in Rom (wie Anm. 18), S. 365.
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Im 20. Jahrhundert sollte die Politik die deutsch-italienischen Beziehungen empfindlich stören. Dabei fing es eigentlich ganz vielversprechend an, denn Ricarda Huch machte in ihren Geschichten von Garibaldi, Die Verteidigung Roms und Der Kampf um Rom (1906/7), ähnlich wie Lewald und Stahr in ihrem römischen Winter, die ewige Stadt zum Schauplatz eines Kampfes zwischen Freiheit und Reaktion.43 Folgenschwerer war allerdings die Tatsache, daß Italien nach anfänglicher Neutralität dem ersten Weltkrieg auf Seiten der Gegner Deutschlands beitrat und der Bruch der Achse Rom-Berlin während des 2. Weltkriegs bei vielen Deutschen für nachhaltige Verärgerung sorgte.44 Dazwischen liegt eine Zeit, in der Italien wie schon im Risorgimento zu einer Art Vorbild für deutsche Intellektuelle wurde, einige Konservative und bürgerliche Denker waren vom italienischen Faschismus recht angetan: Rainer Maria Rilke lobte Mussolini, Gerhardt Hauptmann ließ sich 1929 vom Duce empfangen,45 der frühe Ernst Jünger hielt die faschistische Technikbejahung für vorbildlich. Von wütenden Protesten deutscher Dichter und Denker gegen den faschistischen Brutalismus im Städtebau, besonders gegen dessen römische Bauprojekte ist nichts bekannt. Mussolinis Projekt der autoritären Modernisierung Italiens wurde selbst von den Schriftstellern der inneren Emigration, die in der Nazizeit gern Zuflucht in Italien suchten, bewundert. In den Werken Kasimir Edschmids, Hans Carossas, Rudolf Alexander Schröders oder in Rudolf Hagelstanges italienischen Impressionen wird das moderne und urbane Italien allerdings weitgehend ausgeblendet, das Land wird zum Zufluchtsort, zum ländlichen Refugium, zur heilen Welt vergangener Zeiten fern von den Zumutungen der Moderne.46 Der atmosphärisch intensive Ton, der der Italienbeschreibung der inneren Emigration eigen war, verbindet diese mit Marie-Luise Kaschnitz’ Engelsbrücke, Römische Betrachtungen von 1955, deren Intention allerdings entgegengesetzt ist, denn es geht ihr um Rom, zehn Jahre nach dem Krieg, wie der Titel der Reisebeschreibung eigentlich lauten sollte.47 Es finden sich hier besinnlich schöne Skizzen und Essays, die der Engelsbrücke alle Ehre machen, es findet sich aber auch eine Bestandsaufnahme von Roma Capitale und der deutschen Romrezeption zehn Jahre nach dem Krieg. Kaschnitz ist dafür, wie kaum eine andere Schriftstellerin geeignet, denn in den zwanziger Jahren hat sie am Deutschen Archäologischen Institut in Rom gearbeitet, 1925 heiratete sie den dort tätigen Wissenschaftler Guido
43 Mit ihren Werken »Die Geschichten von Garibaldi« (1906/7), »Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento« (1908), »Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri« (1910) gehört Huch neben Fanny Lewald und den heute weitgehend vergessenen Schriftstellerinnen Ludmilla Assing und Elpis Melena zu den wenigen deutschen Literaten, die das Risorgimento zum Gegenstand ihrer Prosa machten. Im restlichen Europa war es um den literarischen Freundeskreis des Risorgimento besser bestellt, es gehörten u. a. Alexandre Dumas, Charles Dickens, Elizabeth Barrett-Browing, George Sand und George Eliot dazu. 44 Vgl. Italo Michele Battafarano, Hildegard Eilert, Von Linden und roter Sonne, Deutsche Italien-Literatur im 20. Jahrhundert (IRIS, 14), Bern, Berlin etc. 2000, S. 13–22. 45 Ebd., S. 33. 46 Vgl. Grimm et. al., »Ein Gefühl von freierem Leben«, Deutsche Dichter in Italien (wie Anm. 41), S. 258. 47 Vgl. Marie Luise Kaschnitz, Engelsbrücke, München 1962, S. 8–9.
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von Kaschnitz und verbrachte, auch nachdem ihr Gatte Anfang der dreißiger Jahre Professor in Königsberg geworden war, bis zum Kriegsausbruch jedes Jahr Wochen und Monate in der ewigen Stadt. Freundschaften, nicht zuletzt zum langjährigen Leiter des Instituts Ludwig Curtius, lassen sie zum Mitglied des deutsch-römischen Wissenschaftlerzirkels werden, durch ihre Stellung als Ehefrau bleibt sie aber auch immer an der Außenseite, und das ist eine Perspektive, aus der es sich bekanntlich am besten beobachtet. Als sie mit ihrem Gatten, der 1953 Direktor des wiedereröffneten Archäologischen Instituts wird, wieder ganz nach Rom übersiedelt, kehrt sie in eine veränderte Stadt zurück. Engelsbrücke klammert die Umbrüche nicht aus, die zum einen durch das starke und weitgehend ungeregelte Bevölkerungswachstum hervorgerufen wurden, das mit entsprechender Motorisierung und Suburbanisierung einherging, zum anderen mit der jüngsten Vergangenheit zusammenhingen. Die Stellung des deutschen Besuchers hat sich drastisch verändert, Krieg und deutsche Besetzung Roms, zu deren Symbol Kaschnitz in ihrer Rombeschreibung das Massaker an den Fosse Adreatina macht, haben dem naiven Kunstgenuss der Besucher aus dem Norden ein Ende bereitet.48 Italien als Ort, wo die Zitronen blühen, als Land, wo der gebildete Deutsche Ferien von der Gegenwart machen kann, gibt es nicht mehr, sagt Kaschnitz.49 Bei aller Behutsamkeit in der Ausdrucksweise war das angesichts der damalig grassierenden Kulturkritik und hartnäckigen Verdrängung der Nazigräuel, für eine adlige Schriftstellerin mittleren Alters dann doch starker Tobak. Zumal sie auch noch das Recht der Massen auf die Capella Sistina und die anderen Sehenswürdigkeiten Roms proklamiert und den Gebildeten, die den Zugang an einen Befähigungsnachweis knüpfen wollen, damit ihresgleichen sich diesen Kunstwerken mit der nötigen Ruhe und Muße widmen können, dezidiert widerspricht.50 In Italien wirken sowieso eher die Fremden mit ihren den Italienern entgegengesetzten Bedürfnissen drollig und pittoresk als die Einheimischen, befindet sie und kehrt so die dominante Sicht der Dinge um. Sie insistiert auf dem Recht der Römer an ihrer eigenen Stadt, wobei sie sogar der damals verteufelten kommunistischen Partei schüchterne Sympathien entgegenbringt. Gelegentlich ist ihr Ton abschiednehmend und melancholisch, aber sie beharrt darauf: Die Modernität Roms ist unhintergehbar, ihren Verächtern hilft weder Wegschauen noch das strenge Verharren in Museen, Bibliotheken oder anderen Reservaten der Gebildeten, denn die Moderne beschränkt sich nicht mehr auf ungeliebte Bauten und Straßen, sie ist Teil des Rhythmus Roms geworden und mit allen Sinnen wahrnehmbar. Im grünen Lichte eines Trambahnblitzes oder in der Glorie des südlichen Abendhimmels erscheinen steinerne Gebilde von vollkommener Harmonie. Das fremde, schwer zu durchschauende Volk spielt seine Rolle, die ganz gewiß nicht die von in malerische Lumpen gekleideten und beständig singenden Statisten ist. Von einem dauernden ästhetischen Freudenrausch ist nicht mehr die Rede und nur für Ferienreisende ist Rom noch ein Museum oder ein historisches Seminar. Es ist eine moderne Großstadt, eine brüllende ratternde Verkehrshölle, in der gehetzte und mürrische Leute ihren mühsamen Tag bestehen. Es ist ein verwirrendes Nebeneinander widersprechender Erscheinungen und eine geheim-
48 Ebd., S. 105. 49 Ebd., S. 153. 50 Ebd., S. 143–145.
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nisvolle Einheit zugleich. Die neuen Stadtviertel, von römischem Licht umflossen, sind immer wieder Rom.51
Roma Capitale hat sich vom alten Rom-Mythos emanzipiert, ist endgültig zur Großstadt mit eigenem Charakter geworden, die Goethes Rom inkorporiert, aber schon lange nicht mehr darauf zu reduzieren ist. Das andere, das alte Rom ist zwar noch auffindbar, aber es ist in die moderne Stadt eingelagert, nicht mehr wie einst, vor Krieg und Mussolini, als die Hauptstadt noch als etwas, das dem alten Rom peripher war, betrachtet werden konnte. Bemerkenswert, daß eine Autorin, die mit dem Rom der Gebildeten so eng verbunden ist wie Kaschnitz, nicht nur durch ihren Gatten, sondern auch durch die Freundschaft mit Ludwig Curtius, dessen Tod sie in Engelsbrücke schildert, genau diesem Rom in der Essenz, wenn auch nicht im Ton eine radikale Absage erteilt und für das moderne Rom plädiert, das sie als eine Mischung aus alt und neu darstellt. Die jüngere Generation schlug bezüglich der Italientradition einen anderen Ton an, wie zum Beispiel Ingeborg Bachmann, damals eng mit Marie-Luise Kaschnitz befreundet, in ihrem ebenfalls von 1955 stammenden Essay Was ich in Rom sah und hörte, erinnert auch an die Gräuel der Naziherrschaft, genauer gesagt an die Deportation der Juden aus dem römischen Ghetto, aber auch an die diktatorische Macht der katholischen Kirche, die Ketzerverfolgungen und andere wenig ruhmreiche Ereignisse. Es geht Ingeborg Bachmann in Was ich in Rom sah und hörte um das Sehen und Hören der Stadt der Gegenwart, der ihre Liebe gehört, nicht um die Stadt als steinerne Metapher und Sinnbild der abendländischen Geschichte. Die Schönheit und der Charme des Alltagslebens ist ein wichtiger Aspekt des Essays, sogar an dem neuen monumental hässlichen römischen Bahnhof Stazione Termini, Schreckensbild traditionell gesinnter Rombesucher, entdeckt Ingeborg Bachmann Faszinierendes: Auf dem Bahnhof Termini sah ich, daß in Rom die Abschiede leichter genommen werden als anderswo. Denn die fortfahren, lassen denen, die bleiben, einen Gepäckschein auf Sehnsucht zurück. An den Bahnhof grenzt ja ein Rest der Diokletiansmauer, und gegen die neue schwebende Glaswand gestochen erscheinen drei Zypressen in einer unmißverständlichen Schrift. Das Klassische ist das Einfachste, und alte und neue Texte vertreten es gleich gut.52
Ein weiterer Hieb auf die Tradition – Goethes Verdikt das Klassische ist das Einfachste, angesichts dieser Bahnhofshalle im Funktionalstil der fünfziger Jahre erbaut, verkommt dessen Vision von edler klassizistischer Einfalt und stiller Größe hier zur Groteske. Aber dann war es seit Mussolinis Rückgriff auf die Antike zur Rechtfertigung seiner Herrschaft und seit seinem Brutaloklassizismus schwieriger geworden, sich positiv auf die antike Vergangenheit Italiens zu beziehen. Die faschistischen Säulenalleen und Triumphadler erscheinen nun häufig als gigantischer Widerruf des humanistischen Pathos’ früherer Klassizismusentwürfe. Für Bachmann hat die scharfe Abgrenzung von der traditionellen Italienrezeption noch eine andere Ursache, sie lehnt damit ein Erbe ab, das ihr nicht nur angetragen, sondern fast aufgezwungen wurde – die Fortsetzung der deutschen Tradition
51 Ebd., S. 8. 52 Ingeborg Bachmann, Werke, hg. v. Christine Koschel, Zürich 1982, IV, S. 32–33.
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der Italiendichtung. Ehrwürdig ist sie schon, diese Tradition, aber auch belastet mit dem Nichtsehen und Nichthören der Barbarei, gar deren Idealisierung in Architektur und Geschichte. Bewusst oder unbewusst wird die literarische Tradition der Grand Tour von Nachkriegsschriftstellerinnen und Schriftstellern zu Grabe getragen. Ihre Bewunderung gilt oft dem lebendigen Rom. Nicht nur im Vergleich mit der jungen Bundesrepublik, mit Bonn oder Berlin, war Rom eine lebendige Kulturmetropole und eine politisch ausgesprochen interessante Stadt, wo Neorealismus und Eurokommunismus gleichermaßen zu Hause waren, was Alfred Andersch,53 dem die erneute Modernisierung Roms überhaupt nicht gefiel, in seiner Essaysammlung Aus einem Römischen Winter begeistert beschreibt.54 Als Brinkmann in Rom, Blicke den tradierten Mythos der ewigen Stadt unter spätpubertären Tiraden begraben wollte, kam er 20 Jahre zu spät zur Beerdigung. Italien hatte inzwischen schon wieder eine neue Bedeutung erhalten, die meisten von Brinkmanns gleichaltrigen Kollegen kamen in den Siebzigern wegen des Euromarxismus und der politisch engagierten Literatur nach Italien.55 Auch das Nachlassen der linken Bewegung hat nicht zu nachlassendem Italieninteresse geführt, dank Ryan Air und Easy Jet kann sich heute auch der ärmste Nachwuchspoet die Reise leisten und die etablierten Schriftsteller lockt immer noch die Villa Massimo.56 Abgesehen von gewissen historischen Romanen, die passend zum Jubiläum Goethes italienische Reise nacherzählen und meist vergeblich versuchen, hinter die Geheimnisse des Meisters zu kommen, nähert sich die Gegenwartsliteratur der ewigen Stadt meist noch betont unsentimental. Ab und zu findet sich ein fernes Echo auf die Grand Tour, wie z.B. beim popliterarischen Nachwuchsautor Helmut Krausser: Jeder gebildete Europäer fühlt sich durch seine pädagogisch-historische Sozialisation als Nachfahre Roms. Der Deutschen Germanenkult um die Varusschlacht war Gedöns für den Pöbel.57
Eine literarische Rolle spielt diese Nachkommenschaft allerdings kaum mehr. Rom wird in der Gegenwartsliteratur immer mehr zur vielschichtigen und facettenreiche Metropole, in diesem Prozess ist nicht nur der garstige Bahnhof Termini zu Ehren gekommen, sondern auch die einst so geschmähten Neubauviertel. In Josef Winklers Roman Friedhof der bitteren Orangen (1990) und dessen 2001 erschienenen Fortsetzung Natura Morta werden
53 Vgl. Christina Ujma, Alfred Anderschs Italienbild im Kontext der Nachkriegsliteratur, in: ›Th e Gruppe 47‹ Fifty Years On, A Re-Appraisal of its Literary and Political Significance, hg. v. Stuart Parkes, John White, Amsterdam 1999, S. 89–104. 54 Vgl. Alfred Andersch, Aus einem römischen Winter, Berlin/Weimar 1979. 55 Vgl. Uwe Timm, Römische Aufzeichnungen, München 2000, vom Autor neu durchgesehene und um ein Nachwort erweiterte Ausgabe des Buches »Vogel, friß die Feige nicht«. 56 Vgl. zur Rezeption Italiens in der Gegenwartsliteratur: Manfred Beller, »Zeit« und »die Zeiten« in aktuellen deutschen Italien-Büchern, in: Italien in Deutschland – Deutschland in Italien, Die deutschitalienischen Wechselbeziehungen in der Belletristik des 20. Jahrhunderts, hg. v. Anna Comi, Alexandra Pontzen, Berlin 1999, S. 40–44. 57 Helmut Krausser, Oktober, Tagebuch des Oktober 1997 November, Tagebuch des November 1998, Dezember, Tagebuch des Dezember 1999, Frankfurt a. M. 2000, S. 26.
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römische Gegenden porträtiert,58 in die sich normalerweise weder arme Nachwuchspoeten noch die Bewohner der Villa Massimo verirren. Friedhof der bitteren Orangen beschreibt die Schattenseiten Roms, das Tote, das Groteske und Vulgäre.59 Der Roman hält sich von Pomp und Pracht des historischen Zentrums der Stadt Rom weitgehend fern, sein Erzähler verkehrt vor allem in den Quartieren der Unterschicht, die er mit weniger an Fellini als an Pasolini geschultem Blick beschreibt. Zu seinen bevorzugten Schauplätzen zählt das Gründerzeitviertel Esquilin, dessen herausragendstes Bauwerk der Bahnhof Stazione Termini ist. Hier leben die Armen, die Huren, die Junkies, die Stricher, die illegalen Farbigen und die Zigeuner, die sich im Umfeld der Piazza Vittorio Emmanuele treffen, auf der der tägliche Hauptmarkt Roms stattfindet. Der homosexuelle Erzähler streift dabei meist durch eine fremde dunkle Schattenwelt, Armut, Elend und surreal angehauchter Todeskult sind besondere Kennzeichen seines barock opulenten Narrativs. Dabei ist Winklers Darstellung keineswegs voraussetzungslos, ganz im Gegenteil, im Roman Friedhof der bitteren Orangen, der seinen Namen von einem Neapolitaner Armenfriedhof entlehnt, der bereits in Fanny Lewalds Italienischem Bilderbuch vorkommt,60 findet sich so manche Anspielung auf die Tradition der unidealisierten Italienwahrnehmung. Mit Winklers Roman, eine Art Rettungsprojekt für die Opfer von religiöser Ignoranz, Armut und Unterdrückung, für die Rom in der abendländischen Geschichte auch immer Symbol war, ist die literarische Emanzipation der Stadt von ihrer eigenen Geschichte und vom jeweiligen Kunstgeschmack ihrer nordeuropäischen Besucher endgültig abgeschlossen.
58 Vgl. Josef Winkler, Natura Morta, Eine römische Novelle, Frankfurt a. M. 2001. 59 Vgl. Josef Winkler, Friedhof der bitteren Orangen, Frankfurt a. M. 2001. 60 Vgl. Lewald, Italienisches Bilderbuch (wie Anm. 13), S. 239.
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Antiklassik Deutsche Michelangelo-Identifikation1 Georg Simmel meinte einmal, daß die uralte Sehnsucht des Deutschen nach Italien eigentlich nur einen Grund gehabt habe und weiter habe, nämlich den, daß der Deutsche dort, also in Italien, auf der Suche nach seiner Ergänzung sei,2 auf der Suche nach dem ihm zugehörigen aber noch ausstehenden Anderen seines wahren Selbst. Stärker als andere europäische Nationen – soviel läßt sich sagen und auch belegen – machten die Deutschen Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Werkzeug einer eigenmächtigen Kulturpolitik und damit zum Instrument einer politisch verordneten wie auch pädagogisch ausgreifenden »Selbstvollendung«.3 Da fehlte etwas und nach diesem Fehlenden fahndete der Tourist vor der Kunst des fremden Landes. Während das biedermeierliche 19. Jahrhunderts noch dringlich nach Raphael Ausschau hielt, um in ihm das seelische Kompliment zu finden, also in ihm jene harmonische Ergänzung des vermeintlich griechischen Deutschtums zu ergreifen, entdeckte die Gründerzeit nach und nach Größeres und Härteres an sich und dieses neue und raue Ideal trug den Namen Michelangelo. War es bis ins Jahr 1840 noch ganz normal gewesen, in Florenz und Rom schlecht über Michelangelo zu urteilen,4 änderten sich die Präferenzen nach der Reichsgründung ins Gewaltige. Als ein spätes Beispiel der uneingeschränkten Raphael-Begeisterung wäre etwa das Tagebuch von Sulpiz Boisserée anzuführen, der am Mittwoch, den 11. April 1838 »Früh-
1 Der Text ist Teil einer größeren Arbeit mit dem Titel »Michelangelo Deutsch«. 2 Georg Simmel, Die Dialektik des deutschen Geistes [Der Tag, 28. September 1916, Ausgabe A, Illustrierter Teil, Nr. 228], in: Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Band II. Herausgegeben von Klaus Latzel. (= Gesamtausgabe 13) Frankfurt am Main 2000, S. 224–430, hier S. 224. 3 Ein Wort, Eduard Spranger, Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland von Professor Dr. Eduard Spranger Leipzig. (= Deutsche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Sechster Vortag) Berlin 1916, S. 9: »Selbstvollendung, dies individualistische Ideal, leuchtet also als Stern über dem Gymnasium des 19. Jahrhunderts.« 4 Etwa Sulpiz Boisserée, Tagebücher 1808–1854. Im Auftrag der Stadt Köln herausgegeben von Hans-J. Weitz. [5 Bde.] Darmstadt 1978, III, S. 346 [Rom. Mittwoch 11. April 1838]: »Frühmorgens allein in d. Stanzen und d. Sixtin. Kapelle in der Sacristei Veronica von Carpi. Superiorität Raphaels als Künstler nochmal betrachtet in jeder Hinsicht. – M[ichel] A[ngelo] mehr Virtuos als wahrhafter vollkommener Künstler.« Doch auch für Sulpiz Boisserée zeitigt die Parteinahme für Raphael Probleme. Siehe III, 459 [Rom. Samstag 29. Dezember 1838]: »Abends Platner. Bildhauer Widmann. Melville lebhaft Gespräch mit Platner über Michel Angelo von dessen absoluter Verehrung er nicht lassen will.« Und III, 460 [Rom. Montag 31. Dezember 1838]: »Mit Melville in der Vesper der päpstlichen Kapelle. – Mit Braun empfindliche Erklärung über meine Beurteilung des Michel Angelo. Der gute Freund kann sich in meine Ansicht nicht finden und nun fällt mir auf, daß er sich auf eine mir empfindliche Art darüber äußert.«
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morgens allein in d. Stanzen und d. Sixtin. Kapelle« stand und dort die »Superiorität Raphaels« über Michelangelo in jeder Hinsicht konstatierte.5 Er sah in Michelangelo nur ein Talent, nur einen Virtuosen und keinen wahrhaften Künstler, glaubte, daß der Maler der Sixtina immer nur Verzweiflung, nie aber Seligkeit habe darstellen wollen.6 An der Decke und der Altarwand der päpstlichen Kapelle gewahrte er eine Horde »nackter Sackträger«, von denen er annahm, Michelangelo habe sie nach übertrieben muskulösen Modell-Figuren geformt7 – überall fand er die furchtbarste Manier, eine Affectation, die, seiner Meinung nach, dem Wahren und Echten des Raphael diametral entgegengesetzt war.8 Ähnlich entschieden sprach sich – um hier noch eine Stimme anzuführen – die heute weitestgehend vergessene Schriftstellerin Ida Hahn-Hahn aus. Während der Maler aus Urbino der vielschreibenden Gräfin in ihrem Reisebuch »Jenseits der Berge« von 1840 noch »wie ein Sonnenstral« in Auge und Herz leuchtete, stand sie vor Michelangelos Medicigräbern »ganz fassungslos vor Schreck«. Denn da hatte sich jemand in das »Gewaltsame« und »Übertriebene« hineingearbeitet9 und steinerne Stoffmassen auf das brutalste verformt. Unter dem Eindruck dieser Brutalität erschien der Autorin Raphael als der Genius des Lichts, Michelangelo aber als der »Bote der Finsterniß«.10 Der Bildhauer war ihr »in der tiefsten Seele zuwider, sowol in den Werken« wie auch in seiner äußeren Erscheinung, die sie als abstoßend, wild und hart charakterisierte.11 Was solche Ansichten belegten, war die schlichte Tatsache, daß das allgemeine Kunstgefühl um 1850 einfach noch daran gewöhnt war, »den Schöpfungen des schwer zugänglichen Willkürmenschen die korrekteren Schönheitsformen des Urbinaten vorzuziehen«.12 Das sollte sich schnell ändern. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1894, wollte es der Dichter Richard Dehmel nicht mehr fassen, daß »man Rafael und Michelangelo immer noch in einem Atem« nennen konnte. Allein Michelangelo habe doch »alle tiefe Zeugungskraft und hohe Seelenreife seiner Zeit« in sich zusammengefaßt, während von Raphael nur überlebte Gefühle oder lebensunfähige Geistesbildung dargestellt worden seien – im besten Falle, »ein limonadiges Gemisch aus Beidem«.13 Für Dehmel war Raphael »ein großer Decorationsmaler, nicht mehr und nicht weniger«,14 seine Kunst, eine Kunst aus zweiter Hand. Die vielbeschworene Umwertung der Werte ließ für ihn nur einer greifbar werden: Michelangelo. Bei diesem fand Dehmel »die natürliche Machtvollkommenheit des zweckbewußten,
Ebd., III, S. 346. Ebd., III, S. 1003. Ebd., III, S. 1003. Ebd., III, S. 453. Ida Hahn-Hahn, Jenseits der Berge. [Zwei Theile.] Leipzig 1840, S. 138. Ebd., I, S. 140. Ebd., I, S. 134. Heinrich Weizsäcker, Michelangelo in den Malereien der Sixtinischen Kapelle, in: Preußische Jahrbücher 139 (1910), 3. Heft, S. 454–467, hier S. 464. 13 Richard Dehmel, Bekenntnisse. Erste und zweite Auflage. (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben) Berlin 1926, S. 40 [18. Februar 1894]. 14 Ebd., S. 42 [18. Februar 1894]. 5 6 7 8 9 10 11 12
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willensfreien, schöpferischen Individuums.«15 Michelangelo sei – so sah das dann Otto Lyon im Jahr 1900 – mannhaft gegen die weichliche Süße oder marklose Geziertheit des Epigonentums angetreten, um im Gegensatz zu einer nur schönmachenden Kunst »die Dinge in ihrer vollen Nacktheit und Unmittelbarkeit der Welt zu offenbaren«.16 »Nicht das sinnfällig Schöne, wie die Antike es pflegte, sollte das Ziel der Kunst sein, sondern die innere Beseelung, das Charakteristische in Form und Ausdruck wurde das neue Ziel, das jetzt die Geister zu erregen begann.«17 Was das deutsche Publikum zunehmend an den Werken Michelangelos fesselte, war bezeichnenderweise nicht das sinnfällig Schöne, »sondern die Macht des Ausdrucks, der Geist und das Gemüth« des Künstlers.18 In der Geschichtsschreibung stand der Mann nun höher als seine Werke.19 »Der Persönlichkeitscultus trat« – um es mit Richard Muther zu sagen – »an die Stelle ästhetischer Abstraction.«20 Bis in die untersten Schichten hinein wurde Michelangelo zum Gegenstand des anempfindenden Enthusiasmus. Die Betrachtungen richteten sich auf die Innerlichkeit des Geschaffenen, weil man sich zum Beispiel einreden konnte, daß dem Deutschen vor jedem anderen Erdenbewohner ein tiefes Gemüt auszeichne,21 ein Hang zur Verinnerlichung, ein lauteres Streben nach Tiefe und das »Vermögen, von aller äußeren Erscheinung zu Gunsten des im Innern erkannten und geglaubten Wesens abzusehen«.22 Als Merkmale einer germanischen, das heißt deutschen Kunstanschauung nannte der schon zitierte Otto Lyon die tiefe innere Beseelung und den wunderbaren Sinn für das Charakteristische, Persönliche, Individuelle.23 Weg von holder Oberflächlichkeit hin zur Gesamttiefe der Seele. Dem deutschen Kunstsinn, so Lyon, gelte »das Männliche, Kräftige, selbst das Eckige, Derbe, Harte, Schwielige« mehr als das Weibliche, Anmutige, Weiche und Süße.24 Erst der einseitige Hang »zum Grüblerischen, Philosophisch-Vertieften« verleitete dazu, die »Form zu Gunsten des Inhaltes« zu vernachlässigen. Es war die »moderne, stark auf das bedeutsam Individuelle hindrängende Zeit«, so meinte dann Fritz Knapp, die »in Michelangelo das Höchste« sehen wollte.25 Er habe »keine Süßigkeit, nur Bitterkeit«
15 Ebd., S. 41 [18. Februar 1894]. 16 Otto Lyon, Das Pathos der Resonanz. Eine Philosophie der modernen Kunst und des modernen Lebens. Leipzig 1900, S. 11. 17 Ebd., S. 11. 18 Alfred von Mollin, Die Kunst in der heidnischen und christlichen Welt bis zum Todes des Michel Angelo Buonarotti im fragmentarischem Überblick. Leipzig 1870, S. 440. 19 Herman Grimm, Raphael und Michelangelo [1857], in: Herman Grimm, Zehn Ausgewählte Essays zur Einführung in das Studium der Modernen Kunst. Berlin 1871, S. 7–103, hier S. 34. 20 Richard Muther, Arnold Böcklin, zum 70. Geburtstag, in: Richard Muther, Studien und Kritiken. Band I: 1900. Fünfte Auflage. Wien: Wiener Verlag o. J. [1901], S. 140–157, hier S. 140–141. 21 Anonym, Ästhetisch-politische Briefe von einem Ästhetiker. Leipzig 1896, S. 30. 22 Henry Thode, Kunst, Religion und Kultur. Ansprache an die Heidelberger Studentenschaft gehalten bei der anläßlich seiner Ablehnung des Rufes and die Berliner Universität veranstalteten Feier von Henry Thode. Heidelberg 1901, S. 5. 23 Lyon, Das Pathos der Resonanz (wie Anm. 16), S. 11. 24 Ebd. 25 Fritz Knapp, Die Kunst in Italien. Eine Einführung in das Wesen und Werden der Renaissance. (= Vorlesungen zur Geschichte der Kunst III) Berlin 1908, S. 160.
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gekannt,26 »süssliche und weibliche Schönheit« seien ihm unerträglich gewesen.27 »Nie klein, niedlich, hübsch«,28 »ein gewaltiger Verächter alles Sanften, Lieblichen und Zarten«29 – »nicht mehr das ruhige Leuchten des Harmonischen, sondern das dunkle Pathos der Intensität«.30 Ihm fehlte »die heitere Ruhe, welches fröhliches Vollbringen schafft«, weil er »stolz und mißtrauisch, gewalttätig und trotzig« war.31 Der deutsche Betrachter wünschte sich den Künstler jetzt eigenwillig, als einen, der mehr von der Kunst verlangte, als allein das Gestaltungsproblem zu lösen. An diesem Bekenner, an diesem Selbstaussager und Eigenbrödler arbeitete sich – um hier Wilhelm Waetzold anzuführen – die »ganze Neigung der deutschen Seele zum Selbstbekenntnis, zur Selbsterziehung« ab.32 Den schöpferischen Menschen dachte man sich als einen, der zwanghaft nach Ausdruck dränge, nach der vorbehaltlosen Mitteilung seines ganz Individuellen und Persönlichen.33 Das durfte in der Form kraus und dunkel sein, wenn es nur stark und leidenschaftlich im Gehalt war.34 Der Deutsche fahndete stärker als Vertreter anderer Nationen nach sich selbst am Werke.35 Er wollte sich in den versteinerten Zuständen der Künstlerseele abspiegeln,36 weil er – um mit Wilhelm Hausenstein zu sprechen – »in einem schon metaphysischen Maß« über sich selbst unorientiert war.37
26 Paul Schubring, Die Kunst der Hochrenaissance in Italien von Paul Schubring. (= Propyläen-Kunstgeschichte IX) Berlin 1926, S. 33. 27 P. Johansen, Renaissance. Entwicklung der künstlerischen Probleme in Florenz–Rom von Donatello bis Michelangelo. Mit 284 Abbildungen. Kopenhagen 1936, S. 396. 28 Theodor Hetzer, Notizen aus dem Nachlass Theodor Hetzers. Als Manuskript vervielfältigt in 100 Exemplaren. [Erstellt von Charlotte Hetzer.] Überlingen a. B., Juli 1952, S. 8–20 [Michelangelo], hier S. 20. 29 Max Schmid, Kunstgeschichte nebst einem kurzen Abriss der Geschichte der Musik und Oper von Dr. Clarence Sherwood, Berlin. 411 Abbildungen im Texte. 10 Tafeln in Schwarz- und Farbendruck. (= Hausschatz des Wissens Abteilung IX (Band 14)) Neudamm o. J. [1903], S. 495. 30 Karl Groos, Der aesthetische Genuss. Giessen 1902, S. 43. 31 Wilhelm Lübke, Die Kunst der Renaissance in Italien und im Norden. Vollständig neu bearbeitet von Professor Dr. Max Semrau. (= Grundriss der Kunstgeschichte von Wilhelm Lübke. Dreizehnte Auflage vollständig neu bearbeitet von Max Semrau III.) Esslingen a. N. 1907, S. 231. 32 Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker. Zweiter Band: Von Passavant bis Justi. Leipzig 1921, S. 213. 33 Das konnte Richard Hamann 1907 noch als »Impressionismus« brandmarken. Vgl. Richard Hamann, Der Impressionismus in Leben und Kunst. Köln 1907, S. 121. 34 Siehe dazu etwa Berthold Haendcke, Malerei und Plastik, in: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. Die Wissenschaften, Schöne Literatur und Künste, Öffentliches Leben, Schlußwort. Schriftenleitung Philipp Zorn und Herbert von Beyer. Berlin 1914, S. 1576–1595, hier S. 1593: »Die Eigentümlichkeit des deutschen Künstlers, von den individuellen Eigenschaften auszugehen, um von dort zur Einheit zu gelangen, also in einem gewissen Gegensatz zur Antike sich nicht von objektiven Gesichtspunkten beherrschen zu lassen, tritt klar heraus.« 35 Und das natürlich deshalb, weil er nicht wußte, wer er war. Siehe Karl Scheffler, Was will das werden? Ein Tagebuch im Kriege. Leipzig 1917, S. 110: »Die deutsche Nation ist die einzige, in der immer wieder gefragt wird: was ist deutsch? Mehr als alle andern Völker sind wir im unklaren über uns selbst.« 36 Hans Sedlmayr, Michelangelo. Versuch über die Ursprünge seiner Kunst. München 1940, S. 16. 37 Vgl. Wilhelm Hausenstein, Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. München 1919, S. 107.
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Nach 1900 versuchte man sich, nach einem Wort Theodor Hetzers, über die sentimentale Seite bei Michelangelo einzuschleichen.38 Er galt als »der erste italienische Künstler, der in seinem Schaffen seine inneren Empfindungen zum Ausdruck gebracht und dazu der Kunst die Ausdrucksfähigkeit gegeben« hatte.39 Diese Erkenntnis sollte den Wandel von einer humanen und heiteren Gestaltung zum mächtigen und überhumanen Ausdruck, sprich den Wandel von Renaissance zu Barock, erklären helfen und für den einfachen Menschen nachvollziehbar machen, eben für den Laien, der auf künstlerische Eindrücke wesentlich mit Gefühl und Empfinden reagierte. Denn statt Leichtigkeit und Freiheit wuchteten bei Michelangelo Schwere und Ernst; statt offener und gleichsam unschuldiger Bewegungen von Körpern und Gliedern hob mit ihm ein Drängen und Pressen gewaltiger Körpermassen an.40 Michelangelo war eben nicht von sonniger Klarheit wie Raphael, sondern in ihm walteten, wie in Beethoven, titanische Mächte mit Urweltwucht, und mit vulkanischer Gewalt brach »die aufgeschichtete Glut dieses Feuergeistes aus der Tiefe hervor«.41 Wer »in der Befreiung der künstlerischen Individualität das Wesen der Renaissance« erkennen wollte, fand »ihre eigentliche Erfüllung« in Michelangelo, nicht in Raphael.42 Man wollte in Deutschland nun Kunst aus erster Hand, nicht aus zweiter Hand.43 Das bedeutete aber auch, daß das Wort Renaissance für ganz maßlos urteilende Gefühlsenthusiasten den Niedergang der Verinnerlichung bezeichnen konnte. Der Begriff des Klassischen beinhaltete für viele jetzt das Eingeständnis der Unlebendigkeit und des Nichtvermögens.44 Raphaels »Allerweltstum«45 – auch dies eine Wort Theodor Hetzers – galt den Freunden innerster Aufwühlung nach Form und Wesen für areligiös, das heißt für empfindungsarm, akademisch und jenseitsfern. Während Raphael als Akademiker verunglimpft wurde,46 heroisierte man in Michelangelo den mit niemandem zu vergleichenden Helden.47 »Weder Regeln noch Überlie38 Hetzer, Notizen aus dem Nachlass Theodor Hetzers (wie Anm. 28), S. 8–20 [Michelangelo], hier S. 8. 39 Handzeichnungen grosser Meister. Herausgegeben von Dr. Heinrich Leporini. Michelangelo. Vierundzwanzig Kupfertiefdrucke mit einleitendem Text von Dr. Heinrich Leporini. Berlin 1941, [ohne Seitenzählung] S. 4. 40 Albert Erich Brinckmann, Welt der Kunst. Künstlerische Anschauung, Schöpfung, Wirkung. BadenBaden 1951, S. 146. 41 Karl Storck, Michelangelo (Gest. am 18. Februar 1564), in: Der Türmer 16 (1914), S. 955–968, hier S. 965. 42 Robert Oertel, Michelangelo. Die Sixtinische Decke. (= Heimbücher der Kunst) Burg 1940, S. 20. 43 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Sechsundvierzigste Auflage. Leipzig 1903, S. 29. 44 Carl Neumann, Die Entdeckung der Renaissance, in: Carl Neumann, Jakob Burckhardt, Deutschland und die Schweiz. (= Brücken I) Gotha 1919, S. 49–65, hier S. 52. 45 Hetzer, Notizen aus dem Nachlass Theodor Hetzers (wie Anm. 28), S. 8–20 [Michelangelo], hier S. 20. 46 Vgl. etwa Dehmel, Bekenntnisse (wie Anm. 13), S. 40 [18. Februar 1894] und S. 45–46 [20. Februar 1894]. 47 Bezeichnend das Urteil Karl Schefflers über beide Künstler in seinem Reisebuch. Karl Scheffler, Italien. Tagebuch einer Reise. Leipzig 1913, S. 242–243: »Raffael! wie gern möchte auch ich dich lieben und bewundern, wie dich seit Jahrhunderten schon eine Menschheit liebt und bewundert! Wie gern möchte ich einstimmen in den Chor der Entzückten und mich ganz deiner Kunst hingeben. […] ich glaube dir nicht. Ich glaube dir ein fast krankhaftes Glückseligkeitsbedürfnis, einen nahezu verabscheu-
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ferung beachtend«48 waren seine Werke »Werke eines Einzelnen und Einzigen«.49 Vor ihnen gab man sich vermeintlich originalen »Gefühls-, Glaubens- und Gedankenwelten« hin und konnte dieses nicht selten rauschhafte Anempfinden als beglückend erachten.50 Denn da war alles Person – »Einmalige Person, einmaliger Wille, einmaliger Ausdruck«.51 Das Kunstwerk hexte einen, um Ferdinand Avenarius zu zitieren, in den Künstler hinein.52 Die Form wurde »zum Träger gewaltiger Innerlichkeit«, sie war durchdrungen »mit leidenschaftlichstem Leben«, gestaltet »zur Versinnlichung innerer Seelenbewegungen wie überirdischer Naturgewalten«.53 Man sah an Michelangelo beispielhaft, wie sich die formale Reinheit gewaltsam trübte und »eine neue Innerlichkeit fast expressionistisch nach Ausdruck« rang.54 Das war keine romanische Formkunst mehr, sondern ganz und gar germanische Gehaltkunst,55 keine Schmuckkunst, sondern »Schreckkunst« einer faustischen Seele.56 Als symptomatische Erscheinung wertete man um 1900 den Umstand, daß mit dem Vordringen der individualistischen Kunst gegenüber dem akademischen
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ungswürdigen Normalzustand des Gemüts, und eine Ruhe, die der Unbewegtheit der Seele entspricht, ich glaube dir die in geometrischer Vollkommenheit sich bewegende Arabeske, das melodiös in sich selbst fließende Ornamentale und die gedankenlose Schönheit der Dekoration; aber ich glaube dir nicht jene tiefe Menschlichkeit, woran deine Stanzenbilder ebenso glauben machen wollen wie deine Madonnen, ich glaube dir nicht Himmel und Hölle und noch weniger das von dir geschilderte Erdenleben. Ich glaube nicht an die Kraft und Schönheit deiner Seele. Ich halte deinen hohen Idealismus für Schwäche, in den Farben antiker Gesundheit. Ich halte dich für einen der größten Schönheitskomödianten, die je gelebt haben; für einen Komödianten, [S. 243] der gar nicht weiß, daß er einer ist, und der darum die Bühne in voller Naivität mit dem Leben verwechselt.« Und zu Michelangelo zum Beispiel ein Stück Empfindungsprosa S. 254: »In der Sixtina fühlt man das Leben neu. Es stellt sich nicht ein wohlfeiler Rausch ein; es kommt die große Ruhe, und es senkt sich ein Glaube herab. Ein Glaube, dem die katholisch-heidnische Zeremonie, die unten im Saal getrieben wird, bemitleidenswert klein erscheint. Eine Gewißtheit erfüllt die Seele, daß der Mensch trotz alledem göttlichen Ursprungs ist, daß eine Höhe, wie dieses wahrhaft menschliche Genie sie erreicht hat, indem es sich mit den Leiden der Welt auseinandersetzte, auf die Menschheit, aus deren Lenden es hervorgegangen ist, rückstrahlend ein hell verklärendes Licht wirft.« Johannes Emmer, Illustrierte Kunstgeschichte. Berlin o. J. [1901], S. 465. Fritz Stahl, Weg zur Kunst. Einführung in Kunst und Kunstgeschichte. Berlin 1927, S. 415–416. Johannes Volkelt, Ästhetische Zeitfragen. Vorträge. München 1895, S. 77–109 [Dritter Vortrag: Die Kunst als Schöpferin einer zweiten Welt], hier S. 105. Otto Zoff, Die Handzeichnungen des Michelangelo Buonarroti in Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Otto Zoff. (= Die Handzeichnung 1) Potsdam 1923, S. VI. Ferdinand Avenarius, Kunstgenuß und helfendes Wort, in: Kunstwart 16 (1902), S. 1–5, hier S. 3. Fritz Knapp, Die Künstlerische Kultur des Abendlandes. Eine Geschichte der Kunst und der künstlerischen Weltanschauungen seit dem Untergang der alten Welt. Band II. Der Sieg der malerischen Anschauung: Hochrenaissance, Barock und Rokoko. Bonn und Leipzig 1922, S. 76–77. Siegfried Aschner, Die Kunst der Gemäldebetrachtung. (= Führer zur Kunst 19. Bändchen) Esslingen a. N. 1922, S. 25. Siehe Heinrich Lützeler, Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund [Rezension], in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 251–260, hier S. 254. Diese Worte über die deutsche Kunst bei Karl Kurt Eberlein, Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst? (= Schriften zur deutschen Lebenssicht) Leipzig 1934, S. 9–10.
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Schematismus der Kult um Raffael und den Klassizismus nachließ und das Interesse an Rembrandt und Michelangelo zunahm.57 Auf Michelangelo richtete sich der ausgesprochen deutsche Wunsch, sich von Leistungen übermenschlicher Künstler berauschen zu lassen, um am Grad der nachschöpferischen Trunkenheit womöglich die nationale oder auch je eigene Bedeutung abzumessen.58 Dieser Lust auf ekstatische Vergeistigung schmeckte die »süße Leere«59 Raphaels – um es hier mit Jacob Burckhardt zu sagen – wie Zuckerwasser.60 Der späte Burckhardt machte für den rohen Geschmack, dem nun der Sinn fürs Sanfte, Liebliche und Zarte abging und der deshalb Raphael zum »Allerweltsillustrator«, »Decorationsmaler«61 oder »Schönheitskomödianten«62 verkleinern konnte, einen fehlgeleiteten Kunstenthusiasmus verantwortlich,63 namentlich nicht nur »Halbnarren«, die nur nach dem »Gewaltmenschen« Michelangelo Ausschau hielten,64 sondern auch »nordische Größenwähnler«,65
57 Paul Drey, Die wirtschaftlichen Grundlagen der Malkunst. Versuch einer Kunstökonomie. Stuttgart und Berlin 1910, S. 25–43 [Psychologie des Kunstbedürfnisses; der Wert des Kunstwerks], hier S. 34. 58 Hugo v. d. Palten, Malerei der Alten im Gesichtswinkel der Modernen. Dresden und Leipzig 1900, S. 117. 59 Kurt Breysig, Stoff- und Formenkunst bei den italienischen Malern des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts, in: Nord und Süd 114 (1898), Nr. 340, S. 106–130, hier S. 128. 60 Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie. Band III. Die Zeit der klassischen Werke. Basel/ Stuttgart 1956, III, S. 528. Emil Maurer, Burckhardts Michelangelo: »der gefährliche«, in: Jacob Burckhardt und Rom. Beiträge von Yvonne Boerlin-Brodbeck, Max Burckhardt, Hans R. Guggisberg , Emil Maurer, Nikolaus Meier. Herausgegeben von Hans-Markus von Kaenel. (= Bibliotheca Helvetica Romana XXIV) Rom 1988, S. 69–85, hier S. 71. Maurer zitiert Dokumente aus dem Staatsachiv Basel, hier mit der Signatur PA Blatt 150. 61 Dehmel, Bekenntnisse (wie Anm. 13), S. 41–42 [18. Februar 1894]. 62 Scheffler, Italien (wie Anm. 47), S. 242. 63 Ein Beispiel für die Umwertung der Werte auch bei Treitschke. Heinrich von Treitschke, Briefe. Herausgegeben von Max Cornicelius. Dritter Band. Drittes und viertes Buch 1866–1896. Leipzig 1920, S. 510–511 [Rom, den 8. Oktober 1879], hier S. 510–511: »Wer Geduld hat und aus der grauen Decke der Sistina die Marmorbögen allmählich herauserkennt, die dem Durcheinander der Gestalten erst Halt und Ordnung geben, dem bleibt ein unvergeßlicher Eindruck: Schöneres als die Beseelung Adams und die Erschaffung Evas ist doch nie gemalt wor- [511] den. In den Stanzen hab’ ich wieder dieselbe ketzerische Meinung gehabt wie vor den Kupferstichen: die Schule von Athen und die Disputa sind nicht das Höchste der Kunst, es sind doch nur schöne Gruppen, deren Sinn man sich erst ausklügeln muß […].« 64 Adolf Bayersdorfer, Adolph Bayersdorfer. Leben und Schriften. Aus seinem Nachlaß herausgegeben von Hans Mackowsky, August Pauly, Wilhelm Weigand. München 1902, S. 88. 65 Ein Wort Jacob Burckhardts, das ich auch bei Jan Bialostocki zitiert finde. Jan Bialostocki, Michelangelo: Auswirkung und Forschung, in: Künstlerisches und kunstwissenschaftliches Erbe als Gegenwartsaufgabe. Referate der Arbeitstagung vom 16. bis 18. April 1975. Herausgegeben von der Abteilung Dokumentation und Information der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. [2 Bde.] Berlin 1975, II, S. 1–23, hier S. 8: »Man wird an die prophetischen Worte des alten Jacob Burckhardt erinnert, der einmal gesagt hatte: ›Was werden noch binnen der nächsten Jahrzehnte nordische Größenwähnler, Diftler und Halbnarren alles über Michelangelo zusammenschreiben? Bis auf einmal durch Weltschicksale solches und anderes Druckenlassen aufhört‹.« Siehe auch Max Seidel,»Nur künstlerische Gedanken«. Die Bedeutung Michelangelos in Jacob Burckhardts »Kunst der Renaissance«, in: Jacob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte. A cura di Maurizio Ghelardi e Max Seidel. (= Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz 6) Venezia: Marsilio Edi-
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die vor den muskulösen, wie zackige Felsengebirge ragenden Riesenmenschen66 glaubten, den »Gipfel der Genialität« selbst auch besteigen zu müssen.67 Und in der Tat betrachtete man in Deutschland den rücksichtslosen Ausdruck von Michelangelos höchst gesteigerter Eigentümlichkeit als den der eigenen Zeit gemäßen Stil.68 In den Werken des Meisters fand die deutsche Kunstschriftstellerei, hier in den Worten Oskar Bies, Vorahnungen, verwandte Neigungen, gleiche Blicke und Gefühle, in einem Wort: die große Gemeinsamkeit.69 Das ging so weit, daß der Künstler von Kurt Breysig als »Hort und Hüter des germanischen, des wildbewegten, leidenschaftlich ganz unantikischen Kunstgeistes«70 in Dienst genommen wurde. Dem Deutschen, so meinte Breysig, beginne Michelangelos Gewalt im Blute zu kreisen71 und eben darum müsse es zu einer der erhabensten Aufgaben deutscher Kunstgeschichte werden, den Künstler und damit immer wieder sich selbst auszudeuten.72 Das – soviel läßt sich sagen – gelang auf ganzer Strecke! Denn Michelangelo stand nicht nur vor dem ersten Weltkrieg, er stand auch noch nach 1920 im »Brennpunkte kunstgeschichtlicher Forschung«,73 und das nicht nur wegen seiner immer und immer
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tori 2002, S. 63–98, hier S. 78–79. Dort wird die gesamte Passage zitiert nach Jacob Burckhardt-Archiv 207, 163, fol. 150–150v. Schmid, Kunstgeschichte (wie Anm. 29), S. 495. Emil Maurer, Burckhardts Michelangelo: »der gefährliche«, in: Neue Zürcher Zeitung, Literatur und Kunst, Samstag/Sonntag, 20./21. Juni 1987, Nr. 140, S. 65. Adolf Lasson, Stilvoll. Eine Studie, in: Preußische Jahrbücher 66 (1890), S. 315–344, hier S. 324. Oskar Bie, Über den Genuss alter Kunst, in: Oskar Bie, Reise um die Kunst. Berlin 1910, S. 27–40, hier S. 38. Hermann Muthesius, Italienische Reise-Eindrücke. Berlin 1898, S. 39: »Für mich waren die in jedem Kunsthandbuche mit dem größten Aufwand von Begeisterung angepriesenen Bilder Rafaels keine weitere Ueberraschung; Michelangelo dagegen übte, wo immer ich seinen Gemälden und Bildwerken begegnete, eine geradezu bannende Wirkung auf mich aus.« Kurt Breysig, Vom deutschen Geist und seiner Wesensart. Stuttgart und Berlin 1932, S. 259. Siehe auch Kurt Breysig, Die letzte Wiedergeburt der Antike, in: Neue Deutsche Rundschau 13 (1902), Heft 6, S. 561–581, hier S. 581, wo er sich gegen die Nachahmer ausspricht. Kurt Breysig, Gedankenblätter. Berlin 1964, S. 24 [15. Januar 1922]. Albert Erich Brinckmann, Zwei Völker erleben Italiens größten Bildhauer, in: Illustrierte Zeitung (Leipzig) 100 (1942), 10. Dezember 1942, S. 69–74, hier S. 74. Mit Matthias Grünewald. Vgl. Anton Groner, Die Geheimnisse der Isenheimer Altares in Colmar. (= Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 212. Heft) Strassburg 1920, S. 5: »In den letzten Jahren stand er [Grünewald] gleich Michelangelo in dem Brennpunkte kunstgeschichtlicher Forschung. Man war emsig bemüht, das Geheimnis zu lüften, das seine Persönlichkeit und seine Kunst umschleiert.« S. 34: »Bisher glaubte man, daß der Isenheimer Altar nur der dunkeln Gefühle Gewalt, die in einem einsamen Künstlerherzen wunderbar schliefen, zum Ausdruck bringe. Nunmehr enthüllt sich uns das ganze Werk als die Verwirklichung eines straffgegliederten, in allen Einzelheiten wohlabgewogenen geistigen Programmes, bei dessen Verkennung ein volles Verständnis des Gesamtwerkes und aller einzelnen Teile ganz unmöglich ist. Diese Eigentümlichkeit teilt es mit Werken Raffael und Michelangelo. Merkwürdig genug, daß das Hauptwerk der deutschen Malerei gleichzeitig in dem stillen elsässischen Oertchen entstand (1509/11), während im Vatikan zu Rom Michelangelo die Decke der Sixtinischen Kapelle bemalte (1508/12) und Raffael nebenan in der Camera della Segnatura seine Fresken ausführte (1508/11), jene Wunder der Kunst, welche den Höhepunkt der christlichen Malerei jenseits der Alpen bedeuten. Freilich scheint der deutsche Altar mit den römischen Monumentalwerken sonst wenig gemein zu haben. Und doch müssen wir ihn zusammenstellen mit dem Bildschmucke der Sixtinischen Kapelle, zu welchem außer der Deckenmalerei noch der ältere Wandbilderkreis und Raffaels Teppi-
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wieder als kompromißlos gekennzeichneten Leidenschaft,74 das vor allem wegen des schmiegsamen Gefühls der deutschen Kunstschriftstellerei, die nicht davon lassen mochte, sich mit allerhand anempfindender Seh- und Geistesgymnastik in die steinernen Gestalten des großen Künstlers einzuhausen. »Die übersinnliche Neigung seines Wesens bestimmte den Deutschen dahin, auch in der Kunst lediglich eine Ausdrucksmöglichkeit zu sehen, eine Hilfskonstruktion zur Festigung und Regulierung des eigenen, der Natur abgekehrten Innenlebens.«75 Für diese phantasiegesättigten Schöpfungen eigener Selbstversessenheit76 stellte sich die Idealwelt der klassischen Renaissance schlicht als zu eng heraus!77 An die Stelle der emotionalen Zurückhaltung trat eine Begeisterung, die beinahe keine Grenzen mehr kannte und »eine Flutwelle von literarischen Publikationen« entstehen ließ.78 Michelangelo als Klassiker zu denken, hatte in jenen Jahren geradezu etwas Undeutsches, unzweifelhaft aber etwas Gefühlskaltes. Der Künstler stand, um hier das bisher Gesagte zusammenzufassen, »in direktem Antagonismus« zu dem, was man als Klassik empfand79 und als Renaissance betrachtete.80 Die Medici-Gräber waren der gemeißelte Antiklassizismus: Denn wie anders hatte »Michelangelo gearbeitet, als der Griechische Bildhauer!«81 »Jugendliche Lieblichkeit und Glätte der Körperoberfläche« genügten ihm nicht. Er legte lieber »breite, lastende, zu jeder Leistung fähige Eisenmuskeln auf das Knochengerüst«, und übertrieb bewußt die Form, um eine distinkte Wirkung im Betrachter zu erzielen.82 »Von der hohen und reinen Typik der Griechen« war das deshalb so unendlich weit entfernt, weil es sich nach Einschätzung Edmund Hildebrandts um die »Verkörperung moderner Gedanken und Empfindungen« handelte.83 Die pure Leidenschaft zum Großen kam da gerade als Ungriechisches in Form.84 Da wirkten innerliche Kräfte, das heißt seelische Stimmungen von so ungeheurer Spann-
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che gehören, ferner mit Raffaels Segnaturabildern und Michelangelos plastischem [S. 35] Hauptwerke, den Medicigrabmälern in Florenz. Diese Werke bieten trotz einer Unsumme von Arbeit, die seit Jahrzehnten zu ihrer Aufklärung geleistet worden ist, noch immer eine Menge Rätsel und sind von einem erschöpfenden Verständnisse gleichweit entfernt.« Heinrich Maria Lützeler, Formen der Kunsterkenntnis. Mit einem Vorwort von Max Scheler. Bonn 1924, S. 11. Diese über Matthias Grünewald gesprochenen Worte möchte ich hier gerne auf Michelangelo angewandt wissen. Vgl. Lothar Brieger, Altmeister deutscher Malerei. (= Das Deutsche Museum. Eine Reihe Bücher über nationale Kunst) Berlin o. J. [1913], S. 20. Vgl. Lyon, Das Pathos der Resonanz (wie Anm. 16), S. 5. Bela Lázár, Das Grundgesetz der monumentalen Skulptur, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 10 (1915), S. 1–10, hier S. 7. Weizsäcker, Michelangelo in den Malereien der Sixtinischen Kapelle (wie Anm. 12), S. 465. Palten, Malerei der Alten im Gesichtswinkel der Modernen (wie Anm. 58), S. 115. Alfred Werner, Philosophie der Kunst. (= Philosophische Reihe 38. Band) München 1921, S. 17–18. Leopold Witte, Michelangelo Buonarroti. Leipzig 1878, S. 27. Ebd. Edmund Hildebrandt, Michelangelo. Eine Einführung in das Verständnis seiner Werke. (= Aus Natur und Geisteswelt 392. Bändchen) Leipzig und Berlin 1913, S. 86. Hans Preuß, Dürer, Michelangelo, Rembrandt. (= Lebensideale der Menschheit 1. Heft) Leipzig 1918, S. 37.
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kraft, daß sie die Gefäße ihrer wirklichen Erscheinung zu sprengen drohten.85 Wo die Griechen den schönen, wohlproportionierten Körper erfunden hatten, erfand Michelangelo »muskulöse Riesenmenschen, ein rauhes Athletengeschlecht«.86 Nach dem Dafürhalten Julius Meier-Graefes hatte kein Gestalter je weniger klassisch empfunden.87 Michelangelo war eben der »Antipode der Griechen«88 und deshalb, so konnte man es bei Emil Lucka lesen, eigentlich Gotiker,89 »seine Kunst unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft«, geradeso wie bei Matthias Grünewald.90 Die Elemente der Welt hätten dem Genius allein dazu gedient, »den Brand des Inneren zu verfesten und einzukörpern.«91 Aus dem Jüngsten Gericht wehe einen deshalb das Glutvolle in atembeklemmender Weise an, ein inbrünstig wilder Drang spreche sich dort aus, wie »in jedem gotischen Kunstwerk«.92 Doch verstand Lucka seinen Helden gleich auch als Heiden, fand seine Gestalten und besonders den richtenden Christus »eddischen Riesen« gleich.93 Im Gewühl der »verknäuelten Massen« des »Jüngsten Gerichts« war für ihn »der Schritt von prometheischer Gestaltung in faustische Grenzenlosigkeit« getan. Dort verband sich der Geist des Südens mit dem Furor des Nordens zur allergrößten Künstlerpersönlichkeit94 – freilich nicht in harmonischer Weise, sondern in unaufhörlicher Auseinandersetzung mit sich selbst, das heißt in abgründiger Tragik.95 Diese innere Zerrissenheit des Künstlers96 zu bemerken, war nun aber alles andere als originell, gehörte vielmehr zu den abgegriffensten Selbstverständlichkeiten der deutschtümelnden Biographik.97 Widerstreitendes sah ein jeder in die Werke 85 Siehe Hildebrandt, Michelangelo. Eine Einführung in das Verständnis seiner Werke (wie Anm. 83), S. 87. 86 Schmid, Kunstgeschichte (wie Anm. 29), S. 495. 87 Julius Meier-Graefe, Einleitung, in: Michelangelo. Die Terrakotten aus der Sammlung Hähnel. Vierzig auf der Handpresse gedruckte Heliogravuren in der Grösse der Originale. Mit einer Einleitung von Julius Meier-Graefe und dem Ergebnis der Forschungen Henry Thodes. Berlin 1924, S. 1–26, hier S. 21: »Es hat keinen weniger klassisch empfindenden Gestalter in der Renaissance gegeben, keinen, dem apollinische Gelassenheit und jede Ordnung, auch die griechische, fremder war.« 88 Wilhelm Wyl (Wilhelm Ritter von Wymetal), Franz von Lenbach. Gespräche und Erinnerungen. Viertes Tausend. Stuttgart und Leipzig 1904, S. 123 [Aphorismen über alte und neuere Künstler]. 89 Vgl. Karl Scheffler, Der Geist der Gotik. Leipzig 1917, S. 96–98. 90 Vgl. Ernst Kretschmer, der in Michelangelo und Grünewald typische Schizotymiker mit der Tendenz zum äußersten Pathos erkennen möchte. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. Neunte und zehnte verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1931, S. 217. 91 Emil Lucka, Michelangelo. Ein Buch über den Genius. Mit einunddreissig Bildtafeln. Berlin 1930, S. 119–120. 92 Ebd., S. 120. 93 Ebd., S. 126 und S. 140. 94 Ebd., S. 144. 95 Ebd., S. 144. 96 Waldemar Frey, Italia Sempiterna. [3 Teile] München 1927, III, S. 342: »Michelangelo litt an sich selbst. Innere Zerrissenheit verzehrte seine Kraft. Er genügte sich selbst nicht und er stellte sich unmögliche Aufgaben. Er empfand die eigenen Mängel schmerzhaft und rieb sich auf im Kampfe gegen seine Natur.« Vgl. Lucka, Michelangelo (wie Anm. 91), 258: »Wie in früheren Gotikern, wie in späteren Barockisten, so ist auch in Michelangelo der wilde Drang, im Sturm der Leidenschaft die Menschenleiber umzubiegen in ein neues, geahntes Reich – aber der Genius der Renaissance hält ihn fest.« 97 Siehe Witte, Michelangelo Buonarroti (wie Anm. 81), S. 24.
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hinein,98 so auch – um hier vielleicht eines der originellsten Beispiel der Vereinnahmung Michelangelos zu geben – der späte Josef Strzygowski.99 Der wollte in den Figuren der Neuen Sakristei schwere Gemütskämpfe erkannt wissen, Gemütskämpfe allerdings eines reinen Nordmenschen. Während der große Künstler in den Sarkophaggestalten selbstvergessene Sinnbilder seiner schwerblütig-atlantischen Persönlichkeit gemeisselt und so gleichsam sich und seine innere Qual viermal ausgelegt habe,100 seien die Sitzfiguren des Lorenzo und Giuliano, des Sinnenden und des Kriegers, eindeutige Hinweise auf das doppelgestaltige Wesen des Nordischen, das Strzygowski mit weithergeholten Deduktionen und allerlei Selbstzitation als steten Kampf zwischen atlantischem Geist und indogermanischem Gefühl zu definieren trachtete.101 Die künstlerische Entwicklung Michelangelos führte für ihn über die griechisch-römischen Vorbilder seiner Umgebung und über die in ihm nachwirkende Kraft der Gotik in Italien, bis hin zum Durchbruch des schöpferischen Urerbes seines eigenen Blutes, das der in eloquenter Altersdemenz daherschreibende Kunstforscher markig als »die Wucht eines bleiernen Machtwillens« kennzeichnete.102 Michelangelo war für Strzygowski Gewaltmensch und Gefühlstyp in einem,103 seine Figuren immer Gestaltungen eines unbändigen Ringens, die Medicigräber folglich Höchstleistung im nordischen Sinne,104 eben atlantisch und indogermanisch zugleich.105
98 Dagobert Frey, Michelangelo. Ein Vortrag. Herausgegeben von den Freunden des Wallraf-RichartzMuseums e. V. Köln 1942, S. 6: »[…] nicht die Dimensionen des künstlerischen Werkes sind es allein, die die Persönlichkeit Michelangelos so schwer faßbar machen, sondern die innere Problematik, das Vieldeutige, Widerspruchsvolle.« Diese Spannung war typisch deutsch, vgl. Ulrich Christoffel, Die deutsche Kunst als Form und Ausdruck. Augsburg 1928, S. 3: »Von Anfang an mußte der Deutsche die Spannung zwischen seinem äußeren Dasein und dem Reichtum seines inneren Lebens empfinden, und er verlangte danach mit den Händen, die gewohnt waren zu wirken, den auf ihn einstürmenden metaphysischen Ereignissen Gestalt und gegenständliche Form zu geben.« 99 Ernst Diez, Zur Kritik Strzygowskis, in: Kunst des Orients IV (1963), S. 98–109, hier S. 107: »Mit Strzygowski steht […] eine neue Art von Persönlichkeit vor uns, nämlich der seltene, ja in diesem Ausmaß ziemlich einzigartige Fall eines kämpfenden Kunsthistorikers. […] Er nahm nämlich den Kampf immer wieder auf, auch wenn seine Gegner schon längst tot waren, ja ohne die Namen Wickhoff und Riegl erschien kaum je ein Buch bis herauf in sein Alter.« 100 Josef Strzygowski, Die deutsche Nordseele. Das Bekenntnis eines Kunstforschers. Wien und Leipzig 1940, 175. 101 Ebd., S. 176. 102 Ebd., S. 176. 103 Ebd., S. 175. 104 Ebd., S. 174. 105 Vgl. für frühere Ansichten des Autors: Josef Strzygowski, Heidnisches und Christliches um das Jahr 1000. Unter Mitwirkung von Bruno Rehm, Ernst Klebel, Friedrich Wimmer, Johannes Schwieger herausgegeben von Josef Strzygowski. (= Der Norden in der bildenden Kunst Westeuropas) Wien 1926, S. 144–145: »Die europäische Kunst kann nur verstanden werden, wenn wir zu allen Zeiten das ›Mittelalter‹, den Norden und die ›Renaissance‹, den Süden, nicht wie es geschieht, hintereinander gruppieren, sondern nebeneinander hergehen lassen und mit der Anerkennung der Renaissance als Blütezeit vorsichtig zu werden anfangen. Vielleicht dürfen wir der Sachlage eher gerecht werden, wenn wir jene Zeiten [145] und Künstler als Blüte bezeichnen, in denen der Norden die stärkere Kraft ist, also vor allem das ›Mittelalter‹ selbst, und jene Künster, die den Kampf zwischen Nord und Süd in spannendstem Ringen anschaulich werden lassen, wie Dürer und Michelangelo.«
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Wer Michelangelo vom Nordstandpunkte sah, oder auch nur von Norden betrachtete, bemerkte aus selbstverliebter Empathie gerne,106 was da alles unter »Schmerzen schöpferisch gestaltet«107 worden war, denn dieses innere Ringen wurde gerne als typisch deutsch oder typisch germanisch charakterisiert, so etwa bei Karl Großhans: »Echt germanisch ist der seltsame Zug der inneren Unabgeschlossenheit, das Nichtfertigwerdenkönnen, das Unvermögen, in einem bestimmten Zeitpunkt mit sich selber abzuschließen, das immerwährende Ringen und Kämpfen, dem nie Vollendung wird […].«108 Kein Wunder, daß Michelangelo einer solchen Kunstgeschichte als letzter Ausläufer der nordländisch-gotischen Richtung galt.109 Wer Michelangelo – wie etwa Karl Scheffler, Wilhelm Worringer oder auch Georg Simmel110 – zum Protagonisten einer barocken Gotik oder eines gotischen Barock machte,111 mußte auf die besondere Natur des Schöpfers verweisen, auf eine Natur von immenser Extensität und Intensität, auf eine Natur die immer auf Ausdruck gestellt war: »Nie wollte seine Kunst gefallen; nie wollte sie die Menschen unterhalten und erfreuen, sondern stets strebte sie, wie mit wilder Wut, die Menschen zu verändern, sie umzuformen, sie emporzureißen und durch alle Fegefeuer des Lebens einem höheren Zustand entgegenzutreiben.«112 Das war – um es in einem Wort zusammenzuziehen – die personifizierte Antiklassik. Nur als Empfindungsmensch konnte Michelangelo zum Gotiker werden, nur als Gotiker zum Germanen,113 nur als Germane zum Deut-
106 Strzygowski, Die deutsche Nordseele. Das Bekenntnis eines Kunstforschers (wie Anm. 100), S. 225: »Unser deutsches Grundwesen ist nun einmal der Seelenmensch, wie er aus Hellas, Iran, der ›Gotik‹ und unserer ›Romantik‹ für den ursprünglichen Norden zu erschließen ist.« 107 Ebd., S. 175. 108 Karl Großhans, Romain Rolland und der germanische Geist. Würzburg 1937, S. 15. 109 Berthold Haendcke, Der französisch-deutsch-niederländische Einfluß auf die italienische Kunst von etwa 1200 bis etwa 1650. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie. (= Études sur l’art de tous les pays et de toutes les époques 4) Strasbourg 1925, S. 22. 110 Georg Simmel, Gestalter und Schöpfer [1916], in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Band II. Herausgegeben von Klaus Latzel. (= Gesamtausgabe 13) Frankfurt am Main 2000, S. 184–189, hier S. 187. 111 Vgl. dazu Georg Dehio, Über die Grenzen der Renaissance gegen die Gotik [1900], in: Georg Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. München/Berlin 1914, S. 49–60, hier S. 60: »Der Weg der Entwicklung geht von der Spätgotik in gerader Linie zum Barock, an der Renaissance vorbei, öfters durch Flankenangriffe der Renaissance beunruhigt, aber nie von ihr ganz durchbrochen. Vielleicht wird weitere Überlegung – die aber im Rahmen dieser kritischen Erörterung nicht mehr angestellt werden kann – noch einmal zur Einsicht führen, daß das historische Verhältnis von Renaissance und Barock nicht ein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander ist. Damit wäre auch der eben so eifrig als fruchtlos geführte Streit über die Spätgotik geschlichtet. Sie wäre dann nicht sowohl Übergang zur Renaissance als Übergang zum Barock. Und vielleicht findet sich einmal in guter Stunde auch noch ein Name für sie. Etwa ›Vorbarock‹? wir wir ja schon lange gewöhnt sind, bekannte andere Erscheinungen als ›Vorrenaissance‹ zu bezeichnen. Oder noch präziser: ›gotisierender Barock‹.« 112 Scheffler, Italien (wie Anm. 47), S. 249. 113 Carl Limprecht, Der Ursprung der Gothik und der altgermanische Kunstcharakter. Elberfeld o. J., S. 25–26: »Kurz, wo in der deutschen Kunst ein Aufschwung zum Nationalen hin stattgefunden hat, ist dies stets mit einem Zurückschlagen auf Geist, Wesen, Charakter und Formgebung der Gothik verbunden gewesen. Und daraus ist der dritte Vernunfts- und kunstphilosophische Beweis zu folgern, daß die Gothik voll und ganz eine echte germanisch[26]-deutsche Kunsterscheinung ist, die dem romanischen und französischen Kunstgeist extrem und fremdartig gegenüber steht.«
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schen.114 Nordische Empfindsamkeit trieb ihn dazu, teutonischer Gefühlsüberschwang drängte ihn dahin.115 Er war – um mit Ferdinand Avenarius zu sprechen – der »Faust der Bildnerkunst«,116 ausgezeichnet durch tiefste germanische Innerlichkeit.117 Das deutsche Wesen118 und die deutsche Sehnsucht wollten an den Werken das Übermenschen-Gefühl nachempfinden, dort »die großartigste Steigerung alles Menschlichen ins Übermenschliche« genießen.119 Und wen hätte dieses »erste Austoben eines subjektivistisch gestimmten Künstlereigenwillens« nicht erschüttert,120 war doch der Deutsche als Typus selbst ein faustischer Charakter, gewissermaßen »ewig gotisch«,121 und deshalb vom Drang beseelt, »das Individuelle zum Universalen zu steigern«.122 Michelangelo war nach den Handbü-
114 So bei Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik. München 1911, S. 126–127: »Denn die Germanen, [S. 127] so sahen wir, sie sind die conditio sine qua non der Gotik. Sie tragen in selbstsichere Völker den Keim sinnlicher Unsicherheit und seelischen Zwiespalts hinein, aus dem das transzendentale Pathos der Gotik dann so mächtig emporschiesst. […] Im Barock ist der gotische Charakter ja trotz der ungotischen Ausdrucksmittel noch ganz offenkundig.« Siehe zum »ricetto« Schubring, Die Architektur der italienischen Hochrenaissance, 56: »So viel ist gewiß, man kann die Vorhalle nur mit tiefer Ergriffenheit betrachten; Burckhardts Tadel ist ungerechtfertigt. Nicht um der Seltsamkeit willen, sondern weil hier alle Grundgesetze in neuen Formen sich ausdrücken wollen. Michelangelo erscheint hier als Gotiker!« 115 Und so wurde er, als Gotiker, der Vater des Barock im Süden, Grünewald, als Gotiker, der Vater des Barock im Norden. Vgl. Franz Bock, Die Werke des Matthias Grünewald. (= Studien zur deutschen Kunstgeschichte 54. Heft) Strassburg 1904, S. 95. 116 Ferdinand Avenarius, Michelangelo der Bildhauer, in: Der Kunstwart und Kulturwart 27 (1914), S. 286–290, hier S. 289–290: »Das größte Bildhauergenie aller Zeiten ward zum Zerstörer der Kunst seiner Zeit. Wir Nachgeborenen aber sehen, daß trotzdem kein Künstlerschaffen prometheisch war, wenn nicht dieses, dem wahrlich nicht bloß im banalen Sinn kein Herdfeuer brannte. Und fühlen als sein höchstes Ewigkeitsgeschenk an die Menschheit: daß wir sein Sehnen, Wollen, Streben [290] über das Mögliche hinaus nachfühlen können, und das ist ja nur ein anderes Wort für: über das Irdische hinaus. In diesem Sinne war er der Faust der Bildhauerkunst, mit dem ein Stück zu leben Übermenschen-Gefühl des Schöpfers auch uns noch ahnen läßt. Und uns damit hoch über allen Alltag hebt.« Großhans, Romain Rolland und der germanische Geist (wie Anm. 108), S. 14: »Germanisch ist auch das faustische Streben nach der Erkenntnis der letzten Dinge, nach dem Erfassen des Uranfänglichen […].« 117 Thode, Kunst, Religion und Kultur (wie Anm. 22), S. 9. 118 Eugen Kurt Fischer, Deutsche Kunst und Art. Von den Künsten als Ausdruck der Zeiten. Dresden 1924, S. 109: »Die tieffste Triebkraft der Renaissancebewegung, der Drang, Persönlichkeit zu gestalten, offenbart eine starke Übereinstimmung mit deutschem Wesen.« 119 Hans Wolfgang Singer, Kunstgeschichte in einer Stunde. Leipzig 1922, S. 52. 120 Martin Spahn, Michelangelo und die Sixtinische Kapelle. Eine Psychologisch-historische Studie über die Anfänge der Abendländischen Religions- und Kulturspaltung. Berlin 1907, S. 176. 121 Eberlein, Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst? (wie Anm. 56), S. 50: »Dieser deutsche Stil lebt in der romanisch-staufischen Kunst, in der Spätgotik, in der Spätrenaissance, im Ohrmuschel- und Knorpelstil, im Spätbarock des Rokoko, im Stil der Romantiker und Neudeutschen, im Jugendstil, in der Heimatkunst u. a. so unverkennbar fort, daß man von einer ›ewigen Gotik‹ sprechen könnte, um das Faustisch-Deutsche anzudeuten.« 122 Arthur Moeller van den Bruck, Die Überschätzung französischer Kunst in Deutschland, in: Kunstwart 18 (1905), S. 501–508, hier S. 501: »Deutsch sein heißt universal sein. Kein Volk hat es von jeher mächtiger getrieben, aus sich herauszugehen, die Schranken des Eigenen und Inneren zu durchbrechen, sich ins Aeußere und Fremde vorzuwagen und alle Lebens-, Denk- und Kunstkreise, mit denen es dort in Berührung kam, in die eigenen einzubeziehen – wie eben das unsere. Es ist das Faustische in uns,
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chern eine in sich gekehrte leidenschaftliche, tief-denkerische Natur, einsam für sich in ernster fast düsterer Weltanschauung lebend, seine Werke »monumentale Schöpfungen mächtigster innerer Erhebung, nicht anmutend, weich, sondern herb und menschlich groß, nur intensivster Konzentration übermächtiger Manneskraft entsprungen.«123 Bei ihm trat jede Art von verfeinerter Empfindung zurück und macht der Energie eines gewaltigen Könnens, Wollens und Machens Platz.124 Darin war er dem deutschen Wesen so verwandt, sein Werk der deutschen Kunst,125 denn auch diese neigte zur seelischen Höchstspannung, zu gefühlsbetontem Gehalt und zum Übersinnlichen. Sie brachte starke seelische Triebkräfte zur Anschauung126 und war deshalb per se romantisch und irrational.127 Die Bilder der sixtinischen Kapelle konnten da selbst wie gewaltige Illustrationen zu Nietzsches Zarathustra anmuten.128 Das, was deutsche Kunst eigentlich zur deutschen Kunst machte, hatte Henry Thode einmal folgendermaßen zusammengefaßt – »da ist Alles und in der Fülle der Kraft vorhanden: starker Gefühlsausdruck, Universalismus, Naturtreue und lebendigste Phantasie«.129 Das Schaffen Michelangelos – da herrschte weitestgehender Konsens – war die perfekte Verkörperung dieser Definition. Starker gefühlsmäßiger Ausdruck galt nun als »zeitlose Rassenerscheinung«130 und der eigentliche Wert des Gotischen, Barocken oder Expres-
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das sich nicht mit dem Menschen begnügen, sondern auch noch die Welt haben will: und zweifellos verdanken wir diesem Faustischen, diesem ewigen Drang, das Individuelle zum Universalen zu steigern, unseren Reichtum und unsere Schönheit als Volk – unsere ganze Geschichte, heldisch bis zum Abenteuernden, gleichgültig, ob wir sie nun von ihrer politischen oder von ihrer geistigen Seite nehmen, leitet sich von ihm her.« Friedrich Freiherr Goeler von Ravensburg und Max Schmid-Burgk, Grundriß der Kunstgeschichte. Handbuch für Studierende. Auf Veranlassung der Preußischen Unterrichtsverwaltung verfaßt. Vierte verbesserte Auflage. [2 Bde.] Stuttgart/Berlin/Leipzig o. J. [1923–1925], II, S. 46. Wilhelm Henke, Michelangelo, in: Deutsche Rundschau 5 (1875), S. 216–241, hier S. 217. Cornelius Gurlitt, Von deutscher Art und deutscher Kunst. Berlin 1915, S. 22: »Der Gegenpol dieser Kunstweise [des Klassizismus] ist Beethoven, der kein klassisches Vorbild hatte, sowenig wie Bach, sondern nur nach dem Ausdruck seiner Seelenstimmungen suchte, und damit nicht eine vorbildliche Form, sondern ein auf andere sich gewaltig übertragendes seelisches Erlebnis zutage förderte, etwas, was sich nicht nachahmen läßt, weil es auf dem Wesen des einen, einzigen, beruht. Darin ist Michelangelo und Rembrandt deutschem Wesen so verwandt, darum haben beide den späteren klassisch und idealistisch gesinnten Geistern mißbehagt: Sie galten ihnen als betrunkene Wilde, so wie Shakespeare auf Voltaire wirkte, als unzivilisiert, weil nicht dem äußeren Gesetz unterworfen.« Hans Jantzen, Geist und Schicksal der deutschen Kunst. Köln 1935, S. 5–6: »Dabei wird man häufig finden, daß in der deutschen Kunst das Verhältnis von Inhalt und Form ein von Grund auf anderes ist als in der Kunst der romanischen Völker. Deutsche Kunst zeigt fast zu allen Zeiten einen Zug [6] zu geistiger und seelischer Höchstspannung, zu gefühlsbetontem Gehalt und zum Übersinnlichen, unbekümmert um die für das Anschauliche gegebenen Formgrenzen, während bei den romanischen Völkern das sinnlich Faßbare und leibhaft Greifbare eines zu formenden Inhalts zumeist in maßvoller Ordnung erscheint.« Christoffel, Die deutsche Kunst als Form und Ausdruck (wie Anm. 98), S. XI. Wilhelm Uhde, Am Grabe der Mediceer. Florentiner Briefe über deutschen Kultur. Dresden und Leipzig 1899, S. 95. Henry Thode, Böcklin und Thoma. Acht Vorträge über neudeutsche Malerei. Gehalten für ein Gesamtpublikum an der Universität Heidelberg im Sommer 1905. Heidelberg 1905, S. 168. Worringer, Formprobleme der Gotik (wie Anm. 114), S. 126.
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sionistischen machte die deutsche Identifikation mit Michelangelo geradezu unabdingbar. Wie meinte Kurt Breysig: »Michel Angelo, der alle Ruhe und alle Einklänge der Renaissance in Leidenschaft und Widerklang zerriß, ist nichts anderes denn der große Rebell germanischen Geistes, der der in Wahrheit völlig romanischen Renaissance in ihrem eigenen Lager als ihr ärgster Widersacher erwuchs; denn der gleiche Sinn unendlicher Bewegtheit, der einst die germanische Gotik bestimmte, beherrschte auch ihn.«131 Für Breysig war Michelangelo der Retter des germanischen Geistes und der deutschen Kunst im Süden und eben deshalb durfte die Heimat der Innerlichkeit nicht darin ermüden, ihm dankbar zu sein.132 Die zwanghafte Eingemeindung des größten Künstlers der Renaissance hatte vor allem ein sogenannter »Kulturanthropologe« vorbereitet, nämlich Ludwig Woltmann.133 In dem Buch »Die Germanen und die Renaissance in Italien« aus dem Jahr 1905 vertrat der Autor die These, daß man in der »Renaissance« nicht etwa eine Reaktion des romanischen Volksgeistes gegen den germanischen erkennen dürfe,134 sondern ganz im Gegenteil »eine letzte große Erhebung des germanischen Italiens«135 gegenüber der degenerierten Rasse des Südens.136 Woltmann versuchte anhand der blonden Haare Leonardos und der blauen
131 Kurt Breysig, Vom deutschen Geist und seiner Wesensart. Stuttgart und Berlin 1932, S. 12. 132 Ebd., S. 260. 133 Zum Gobineau-Bezug Woltmanns etwa Ludwig Curtius, Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. (= Bücher der Neunzehn 45) Stuttgart 1958, S. 98: »Bei Spithoffs traf ich öfters einen jungen, blonden, gutmütigen, zarten Menschen, der die These verfocht, alles, was auf der Welt groß sei, hätten die Germanen geschaffen. So fest war sein auf das Studium Gobineaus zurückgehender Fanatismus, daß ihn meine Gegenfrage, warum nie jemand in der Mark Brandenburg ein so formstrenges Gedicht wie die Göttliche Komödie oder so rein plastische Form wie die des Juliusgrabes hervorgebracht habe, kaum berührte. Der stille Gelehrte war Ludwig Woltmann, der erste der modernen Rassentheoretiker.«. 134 Ludwig Woltmann, Die Germanen und die Renaissance in Italien. Leipzig 1905, S. 3. Bezieht sich wohl auf Arthur Graf Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann. Zweite Auflage. [4 Bde.] Stuttgart 1902–1904, IV, S. 224–225. 135 Ludwig Schemann, Gobineaus Rassenwerk. Aktenstücke und Betrachtungen zur Geschichte und Kritik des Essai sur l’inégalité des races humaines. Stuttgart 1910, S. 371: »An zwei Punkten hat Gobineaus Erkenntnis germanischer Betätigung mehr oder minder versagt: einmal in seiner Auffassung der Renaissance, die ihm, zur Zeit des Essai wenigstens, noch vorwiegend eine ›résurrection du fond romain‹, ein Wiederaufleben des Römertums gegen Mittelalter und Germanentum, anstatt vielmehr eine letzte große Erhebung des germanischen Italien bedeutete.« 136 Schon in Ludwig Woltmann, Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker. Eisenach und Leipzig 1903, S. 293–294: »Es läßt sich der anthropologische Nachweis erbringen, daß die ganze europäische Civilisation, auch in den slavischen und romanischen Ländern, eine Leistung der germanischen Rasse ist. Die Franken, Normannen und Burgunden in Frankreich, die Westgoten in Spanien, die Ostgoten, Langobarden und Bajuvaren in Italien haben die anthropologischen Keime zu der mittelalterlischen und neueren Kultur dieser Staaten gelegt. Das Papsttum, die Renaissance, die französische Revolution und die napoleonische Weltherrschaft sind Großtaten des germanischen Geistes gewesen. Die bedeutendsten Päpste haben zum großen Teil germanischen Typus. Die herrschenden Dynasten und Patrizier in Florenz, Genua, Venedig, Mailand sind Abkömmlinge ›germanischer Barbaren‹, ebenso die großen künstlerischen Genies, welche die geistige Wiedergeburt der Menschheit schufen.«
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Augen Raphaels den Beweis zu führen, daß die Renaissance als Ganzes eine »eigenartige Leistung der eingewanderten germanischen Rasse« gewesen sei.137 Mit dem dickfließenden Dünger seiner rassistischen »Phantastik«138 ließ er nun nahezu alle italienischen Genies aus germanischem Mutterboden erwachsen, Arnolfo di Cambio139 nicht weniger als Giuseppe Verdi.140 Die gesamte nachrömische Kulturentwicklung Italiens bis hinein in das 19. Jahrhundert war nun das Werk eingewanderter germanischer Individuen und ihrer Nachkommen.141 Woltmanns Theorie wurde schnell übernommen und zeitigte auch in der Kunstgeschichte einige Wirkung. In den klangvollsten Namen transalpiner Geschichte – Dante Alighieri und Giuseppe Garibaldi – erkannte etwa der Rembrandt-Forscher Carl Neumann142 Blüten von langobardischen Familien- und Wortstämmen,143 Karl Ipser im langobardischen Volk nichts weniger als den »gewaltigen 137 Woltmann, Die Germanen und die Renaissance in Italien (wie Anm. 134), S. 150. Die wenigen Mischlinge zählten da nicht. In ironischer Zuspitzung Mynheern Dirk van Waterloo (alias Hans Freiherr von Weissenbach), Kunstästhetische Sünden. Als Manuskript gedruckt. Leipzig 1888, S. 65: »Dass eine Frührenaissance in so neuschöpferischer Weise entstehen konnte, das verdanken wir der umsichtigen Kunstliebe der altgermanischen Recken. Sie schlugen die allmächtige antike Kunst in Trümmern, damit aller Orten eine nationale, neue aufkommen und Platz gewinnen könne.« 138 Der Begriff bei Rolf Peter Sieferle, Rassismus, Rassenhygiene, Menschenzuchtideale, in: Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. Herausgegeben von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München/New Providence/London/Paris 1996, S. 436–448, hier S. 443 Anm. 32. Dort der Hinweis auf »Die Germanen und die Renaissance«, »wo er durch abenteuerliche Namensetymologien und Bildinterpretationen zu beweisen suchte, daß die großen Künstler der Renaissance allesamt von Germanen abstammten.« 139 Woltmann, Die Germanen und die Renaissance in Italien (wie Anm. 134), S. 69. 140 Ebd., S. 141. 141 Josef Ludwig Reimer, Grundzüge deutscher Wiedergeburt! Ein auf wissenschaftlicher Basis ruhendes neudeutsches Lebensprogramm für die Gebiete der Rassenpflege, Staats- und Sozialpolitik, Religion und Kultur. Zweite erweiterte Auflage. Leipzig 1906, S. 18. Und im Anschluß an die zitierte Stelle: »Es ist von unwiderstehlicher Beweiskraft, einen Dante, Petrarca, Leonardo da Vinci, Botticelli, Tizian, Raffael, Tasso, Galilei, Morgagni, Bruno, Columbus, einen Cavour, Garibaldi, Alfieri, Gioberti, Balbi, Canova, einen Galvani und Volta, einen Bellini, Rossini, Donizetti, Verdi etc. als Angehörige unserer, der germanischen Blutgemeinschaft zu erkennen!« 142 Carl Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur. Vortrag, gehalten auf der Versammlung Deutscher Historiker zu Heidelberg am 16. April 1903. Berlin & Stuttgart 1903, S. 226: »Für Italien weiß jeder, daß die klangvollsten Namen italienischer Geschichte, Dante Alighieri und Garibaldi, langobardischen Stammes sind.« Siehe auch Hanns Floerke, Repräsentanten der Renaissance. München 1924, S. 144: »Wenn auch die von Condivi, Leandro Alberti, Vasari u. a. offenbar auf Grund einer Familientradition behauptete Abstammung von den langobardischen Grafen von Canossa nicht beweisbar ist, deuten doch die in der Familie Michelangelos vorkommenden vielen germanischen Vornamen, wie der Name Buonarroto (altlangobard. Beonrad, nhd. Bonroth) selbst, auf germanische Abstammung. Michelangelo ist im geistigen Sinne ein Bruder Dantes, beschränkt allein durch die natürlichen Unzulänglichkeit der Mittel, mit denen der bildende Künstler seiner Gedankenwelt Gestalt verleiht. Auch Dante ist ja ein Kind der gleichen germanisch infiltrierten Mischrasse, die zur Trägerin des Phänomens Florenz wurde.« 143 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. [Zwei Hälften.] München 1899, I, S. 499–500: »Man betrachte z. B. das Antlitz Dante Alighieri’s; man wird eben soviel daraus lernen wie aus seinen Dichtungen. Das ist ein [S. 500] charakteristisch germanisches Gesicht.« Dort auch in einer Zeichnung abgebildet. Vgl. Haendcke, Der französisch-deutsch-niederländische Einfluß auf die italienische Kunst von etwa 1200 bis etwa 1650, S. 25 [mit Verweis auf L. Passerini,
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germanischen Blutspender«144 Italiens. »Cimabue, Giotto, Duccio, Ambrogio Lorenzetti, Simone di Martino, der Maler der Kreuzigung Cavallinis, die Meister des Trionfo della Morte und der spanischen Kapelle,« sie alle reklamierte man als Gotiker und deshalb als Germanen – und »wo nicht dem Blute, so dem Geiste nach«.145 Und auch in Michelangelos Adern – so nahm man an – pulsierte edles deutsches Blut, denn hatte er nicht selbst immer seine Abstammung von den Canossa betont?146 In den Augen deutscher Ahnenforscher wurde aus dem italienischen Buonarroti, das germanische Buonroth, aus da Vinci von Winke.147 Die gesamte Renaissance – »das Aufflammen bürgerlicher Unabhängigkeit, industriellen Fleisses, wissenschaftlichen Ernstes und künstlerischer Schöpferkraft« – galt dem völkischen Denken als ganz und gar »germanische That«.148 Florenz war erst durch den Unternehmungsgeist der Nordländer entstanden,149 Genies in Italien überhaupt nur da
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Genealogia e storia della famiglia Corsini, 1858, S. 1ff.]: »L. Passerini bemerkt, alle diejenigen Familien in Florenz, deren Ursprung man durch Urkunden beweisen kann, stammen von jenen Barbaren ab, die in den Zeiten der Langobarden und Franken in dies schöne Land einbrachen – also ausgesprochene Betonung des Germanentums auch in Mittelitalien.« Karl Ipser, Deutschland – Italien. Denkstätten einer Völkergemeinschaft. Leipzig 1940, S. 8. Kurt Breysig, Stoff- und Formenkunst bei den italienischen Malern des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts, in: Nord und Süd 114 (1898), Nr. 340, S. 106–130, hier S. 128. Martin Pfannschmidt, Bilder aus der Geschichte der bildenden Künste für das christliche Haus. Hamburg 1905, S. 122–123: »Wenn Houston Stewart Chamberlain in seinen ›Grund- [S. 123] lagen des XIX. Jahrhunderts‹ die Ansicht vertritt, daß die Germanen (im weitesten Sinne genommen) die Schöpfer unserer neuen Kultur seien, auch die Schöpfer der Renaissance in Italien, welches von Langobarden, Goten, Franken und Normannen besonders in den Familien der oberen Zehntausend durch kräftiges, gesundes Blut verjüngt worden war, so würde obige Familienüberlieferung der Buonarotti [Michelangelo stamme von den Canossa ab], welcher in Michelangelos Adern edles deutschen Blut pulsiert, diese Annahme stützen.« Ezio Maria Gray, Germania in Italia. (= Problemi italiani XXI) Milano 1915, S. 20–21: »Donarono agli scienziati la storia di Roma e quelli che si eran già presa la storia di Grecia e l’avevan cincischiata, squartata, mutilata per punirla di non aver mai parlato nè previsto dell’impero tedesco, tagliarono nella storia di Roma, per le genti germaniche, uno smisurato posto di sovrani, di legislatori, di rinnovatori al cui cospetto le più solenni figure del mondo romano impalidivano come ombre di gioco; donarono agli scienziati tedeschi la magnificenza italica dei Comuni, lo splendore tutto nostro della Rinascenza e quelli se ne pavoneggiarono come di cosa propria e si presero anche gli uomini del Rinascimento per concludere dal colore degli occhi e dei capelli, della metratura della persona e dall’angolo facciale che se genii erano stati avevano potuto esserlo solo in quanto erano essi stessi di razza germanica. Ne corressero i nomi, ne storpiarono le origini, ne tedeschizzarono i castelli e si fecero delle nostre glorie più pure, di un Buonarroti o di un Vinci, un Buonroth, un Winke. Qualcuno tra noi sorrise, ma gli altri infocarono gli [S. 21] occhiali e discussero e ammisero non tutto ma una parte, una buona parte delle plausibili teorie del Woltmann e die suoi compari di Allemagna.« Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (wie Anm. 143), II, S. 696. Später bei Josef Strzygowski, Europas Machtkunst im Rahmen des Weltkreises. Eine grundlegende Auseinandersetzung über Wesen und Entwicklung des zehntausendjährigen Wahnes: Gewaltmacht von Gottes Gnaden statt völkischer Ordnung, Kirche statt Glaube, Bildung statt Begabung: vom Nordstandpunkt planmäßig in die volksdeutsche Bewegung eingestellt. Wien 1941, S. 292: »In Wirklichkeit sind es die Griechen, die Iranier und zuletzt die Germanen in der ›Gotik‹, die künstlerisch wertvolle neue Formen schufen und nach dem Mittelmeere brachten, wo sie dann mehr oder weniger zur Formel oder Mache wurden.«
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hervorgesprossen, wo »Kelten, Deutsche und Normannen das Land besonders reich besetzt hielten«.150 Für das Verblühen der »wahren Renaissance«, für das Verschwinden der Genialität, kurz »alles Germanischen« aus der italienischen Kultur, hatte Houston Stewart Chamberlain den Niedergang der nordischen Rasse verantwortlich gemacht, besser noch das Blutchaos und die daraus folgende Bastardisierung der Bevölkerung,151 maßgeblich befördert durch den Universalismus der katholischen Kirche, besonders aber durch die alle Individualität ertötende Macht der Jesuiten. Wer durch Italien reise, meinte er, sehe mit Schmerz auf den Verfall einstiger Größe,152 eben auf die Überreste »barbarischer« Tatkraft. Es kann kein Zufall sein, daß Chamberlain seine Erweckung zum Chauvinisten einer Begegenung mit Michelangelos Werk verdankte. An einem schönen Frühlingstag des Jahres 1879 trat er in in die Sagrestia Nuova von San Lorenzo ein, eher zufällig, wie er selber meinte, zumindest aber ohne jede vorherige Überlegung: »Durch einen einzigen Blick der Augen, durch ein einziges wonnevolles Erschrecken des Herzens« änderte sich dort alles. Vor Michelangelo war es um den Studenten geschehen!153 Blitzartig wurde ihm klar, daß sein Leben einen neuen Verlauf nehmen müsse: Die Gräber der Mediceer katapultierten ihn »aus der Zeit in die Zeitlosigkeit, das heißt in das Reich der ewigen, weil vollkommen gestalteten Gegenwart«. Diese visionäre Einkehr zum Jetzt zerschlug die gutgemeinten aber pedantischen Bemühungen, in Florenz zu einer chronologischen Ordnung der Geschichte zu gelangen. Alles Vergangene verflog im Nu der Überwältigung. Helden wie Michelangelo, das war die tiefgreifende Erkenntnis, machten nicht etwa Geschichte, solche Helden vernichteten sie in Wirklichkeit. Die Medicigräber verneinten »alle Künst-
150 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (wie Anm. 143), II, S. 698. Ganz in diesem Sinne Emerich Schaffran, Die Kunst der Langobarden in Italien. Jena 1941, S. 153–154. 151 Darin Gobineau folgend. Vgl. Paul Kleinecke, Gobineau’s Rassenphilosophie (Essai sur l’inégalité des races humaines). (= Supplément au Programme des Cours du Collège Royal Français (Exercice 1901–1902). Berlin 1902, S. 10: »Auch Gobineau sieht in der Entartung den eigentlichen Todeskeim für die Völker. Sie gehen unter, weil sie nicht mehr dieselbe Kraft wie ihre Väter besitzen, um die socialen Gefahren zu bestehen, mit einem Wort, weil sie entartet sind. Aber neu und epochemachend ist es, dass Gobineau dem Begriff der Entartung einen fassbaren Inhalt mannigfacher Mischungen und Kreuzungen nicht mehr das reine Blut seiner Väter fliesst, von denen es schliesslich nur noch den Namen, aber nicht mehr die Rasseneigenschaften besitzt.« 152 Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (wie Anm. 143), II, S. 699: »Die Ahnen der überwiegenden Mehrzahl der heutigen Italiener sind weder die wuchtigen Römer des alten Rom, jene Muster von schlichter Männlichkeit, unbändiger Unabhängigkeit und streng rechtlichem Sinne, noch die Halbgötter an Kraft, Schönheit und Genie, welche am Morgen unseres neuen Tages gleichsam in einem einzigen Schwarm, wie Lerchen zum Sonnengruss, vom lichtgeküssten Boden Italiens in den Himmel der Unsterblichkeit hinaufflogen; sondern ihr Stammbaum führt auf die ungezählten Tausende der freigelassenen Sklaven aus Afrika und Asien, auf den Mischmasch der verschiedenen italienischen Völker, auf die überall mitten unter diesen angesiedelten Soldatenkolonien aus aller Herren Länder, kurz, auf das von dem Imperium so kunstreich hergestellte Völkerchaos. Und die heutige Gesamtlage des Landes bedeutet ganz einfach einen Sieg dieses Völkerchaos über das inzwischen hinzugekommene und lange Zeit hindurch rein erhaltene germanische Element.« 153 Houston Stewart Chamberlain, Lebenswege meines Denkens [1919]. (= Gesamtausgabe seiner Hauptwerke in neun Bänden 9) München 1923, S. 224.
Antiklassik
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lichkeit der Kunst« und nihilierten deshalb auch jeden Begriff von Kunsthistoriographie. Für Chamberlain legte die Präsenzerfahrung im Angesicht der einzigartigen Meisterschaft nicht nur jedes Interesse an der Geschichtsforschung lahm, sondern schürte in ihm auch den Haß gegenüber aller Stümperei und Dilettiererei in der Kunst, das heißt den Haß gegen alles Epigonentum und jede falsche Klassik. Von der sich ihm mitteilenden akuten Gegenwärtigkeit der Werke fühlte er sich dazu angefeuert, »ein noch so beschränktes, bedingtes, ihm erreichbares Höchstes zu leisten.«154 Und so brach er übereilt den Aufenthalt in Florenz ab, reiste nach Genf und widmete sich dort intensiv naturwissenschaftlichen Studien.155 Nach dem unerwarteten Erlebnis in der Medicikapelle stand Hochkunst für Chamberlain gänzlich »außerhalb aller Geschichte«. Michelangelo wurde eben deshalb zur germanischen und deshalb deutschen Identifikationsfigur, weil er – um es abschließend mit Cornelius Gurlitt zu sagen – kein klassisches Vorbild hatte, »sondern nur nach dem Ausdruck seiner Seelenstimmungen suchte, und damit nicht eine vorbildliche Form, sondern ein auf andere sich gewaltig übertragendes seelisches Erlebnis zutage förderte, etwas, was sich nicht nachahmen ließ, weil es auf dem Wesen des einen, einzigen, beruhte. Darin fand Gurlitt 1915 »Michelangelo und Rembrandt deutschem Wesen so verwandt, darum hatten beide den späteren klassisch und idealistisch gesinnten Geistern mißbehagt: Sie galten den Klassizisten als betrunkene Wilde, das heißt als unzivilisiert, weil sie sich nicht den äußeren Gesetzen unterwarfen.156 1930 machte Alfred Rosenberg Michelangelo endgültig zum identifikationstauglichen Antiklassiker und zum Leitbild des deutschen Sonderwegs. Im »Mythus des 20. Jahrhunderts« lautete die Stelle: »In Michelangelo erblickt man mit Recht den Künstler, welcher am sichtbarsten mit allen aesthetischen Lehrsätzen Griechenlands gebrochen hat: keine Beschwichtigung vorhandener Leidenschaften durch eine abgewogene Form, sondern Sprengung derselben durch eigene Gesetzlichkeit, durch einen persönlichen Künstlerwillen. Wie in einem wilden und bewußten Protest gegen Hellas stehen die Arbeiten des Mannes vor uns, der weder griechisch noch lateinisch sprach, der die Sklaven, den Moses, die Mediceergräber schuf und dessen Sybillen und Propheten von einem solchen Seelenreichtum Kunde geben, daß Goethe sagen konnte, nach Michelangelo gefalle ihm selbst die Natur nicht mehr, da er sie doch nicht mit so großem Auge anschauen könne, wie dieser. Michelangelo schuf sich selbst das Gesetz, dem er allein folgte, durch das allein er den Stoff zu überwinden vermochte.«157 Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der enthusiastische Anschluß an die herbeiphantasierte Eigengesetzlichkeit, diese Identifikation mit der Antiklassik des größten Künstlers der Renaissance ein Symptom jenes Irrsinns war, der das deutsche Volk dann in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte.
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Ebd., S. 224–225. Lothar Gottlieb Tirala, Rasse, Geist und Seele. München 1935, S. 85. Gurlitt, Von deutscher Art und deutscher Kunst (wie Anm. 124), S. 22. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 41.–42. Auflage. München 1934, S. 374.
María Ocón Fernández
Die Grand Tour – Spanien: Ein »open issue« Italienerfahrung als Bildungsaufgabe und Karrierefundament1 I Einführung: Spanien als ein »open issue« Zahlreiche Beiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten der Grand Tour haben gezeigt, daß bei diesem Gegenstand und in Bezug auf Spanien bis heute von einem open issue gesprochen werden muss. Dieses Forschungsdesiderat, das für das 18. Jahrhundert durch den Beitrag von Alfonso Rodríguez de Ceballos »Viagiatori spagnoli in Italia nel Settecento« (2001) und insbesondere durch die vor kurzem erschienene Publikation von Pedro Moleón »Arquitectos españoles en la Roma del Grand Tour 1746–1796« (2003)2 zum Teil behoben wurde, gilt immer noch für die Zeit nach 1800. Wird der Grand Tour aber nicht als nationales, sondern als gesamteuropäisches Phänomen verstanden, wie es neueste Veröffentlichungen zum Thema vorgeschlagen,3 führt dieses Verständnis zwangläufig zur Europa-Frage, zur Europa-Idee. Vor diesem Hintergrund setzt sich der folgende Beitrag zum Ziel, zum einen die Grand Tour mit der Europa-Frage zu verbinden, so wie diese in der neuesten Literatur behandelt wurde.4 In diesem Zusammenhang wird nach den spezifischen Europa-Vorstellungen im 19. Jahrhundert gefragt, nach ihren Voraussetzungen, Bedingungen und Ausdrucksformen. Im Kontext der Entstehung und Bildung eines Europabildes wird im Folgenden das Beispiel Spanien exemplarisch behandelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und in Bezug auf Spanien wird die Italienerfahrung der Grand Tour als Bildungsaufgabe aufgefasst. Das Reisen steht in diesem Zusammenhang im Zuge einer in Europa als allgemein zu charakterisierenden Professionalisierung der Architektenausbildung.5 Ein solches Verständnis
1 Dieser Aufsatz basiert auf der Arbeit, die im Rahmen meines jetzigen Forschungsvorhabens zur europäischen Polychromie-Debatte im 19. Jahrhundert und zum Beitrag Spaniens in den letzten Jahren am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Herrn Professsor Harold Hammer-Schenk und bei Herrn Professor Harry F. Mallgrave für ihre Unterstützung bedanken. 2 Pedro Moleón, Arquitectos españoles en la Roma del Grand Tour 1746–1796, Madrid 2003. 3 Werner Paravicini, Der Grand Tour in der europäischen Geschichte: Zusammenfassung, in: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im deutschen historischen Institut in Paris 2000, hg. v. Reiner Babel und Werner Paravicini (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2005. 4 Elke Anna Werner, Einführung, in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, hg. v. Klaus Bußmann und Elke Anna Werner, Stuttgart 2004. 5 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Schweizer »›Ein herrliches Bild der Geschichte der Baukunst‹ – Architekturreisen zwischen beruflicher Ausbildung und Epochenimagination (1750–1850)« in diesem Band. Im Mittelpunkt seines Beitrags steht aber die Institutionalisierung der Architektenreise zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen ›Ancien Régime‹ und bürgerlichem Zeitalter.
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erlaubt eine Betrachtung der Grand Tour am Beispiel derjenigen spanischen Architekten, die sich als Auslandsstipendiaten seit Beginn und insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe eines Reisestipendiums in Italien aufhielten. Der Romaufenthalt und die Italienreise werden demnach primär als Bildungsaufgabe angesehen und die Übung an den antiken klassischen Werken als Vervollkommnung (perfeccionamiento) ihrer Architektenausbildung betrachtet. Die Idee der Vervollkommnung der Kenntnisse klassischer Kunst und Kultur erhält im Zusammenhang meiner Ausführungen eine besondere Bedeutung, wenn diese im Kontext der Italienerfahrung als Bildungsaufgabe spanischer Architekten betrachtet wird. An dem damit verbundenen pädagogischen Aspekt der Lehre erweist sich diese Auslandserfahrung als Karrierefundament.6 Viele der spanischen Auslandsstipendiaten des 19. Jahrhunderts wurden später in Bildungsanstalten als Dozenten tätig.7 An den Lehrplänen und Lehrinhalten der Akademien und der später gegründeten Bauschulen – wie zum Beispiel an der Madrider »Escuela especial de Arquitectura« – spiegeln sich ihre im Ausland erworbenen Kenntnisse wider. Auch die in Rom von den Stipendiaten angefertigten Blätter wurden in diesen Anstalten zu Lehr- und Lernzwecken verwendet.
II Europa-Vorstellungen: Das Europabild in Kultur und Wissenschaft In seinem Beitrag von 1996 hält Cesare De Seta folgende Bemerkung bezüglich des Grand Tour fest: For many centuries this itinerary had its focus in Rome, which was in any case a centre for pilgrimage as the Holy City of Catholicism. But the Caput Mundi, replete as it was with pagan and Christian relics, was becoming increasingly secularized on account of the cosmopolitan community of visitors that it attracted, drawn to it despite its persistent denominational and ideological prejudices.8
Der fortschreitende Säkularisierungsprozess, der nach De Seta durch die »cosmopolitan community of visitors« in der Caput Mundi, in der Città Santa stattfindet und mit der Zeit des Ancien Régime verbunden wird, koinzidiert mit folgender Beobachtung des spanischen Autors Alejandro Diz:
6 Diese Behauptung koinzidiert mit derjenigen von José Manuel Prieto González: »(…) el tema de las pensiones de arquitectura en Roma es importante por tres razones: (…); y en tercer lugar porque el prestigio asociado a las pensiones funcionó en muchas ocasiones a modo de trampolín para acceder al profesorado de la Escuela« (vgl. José Manuel Prieto González, Aprendiendo a ser arquitectos. Creación y desarrollo de la Escuela de Arquitectura de Madrid (1844–1914), Madrid 2004, S. 91). 7 Die Auslandserfahrung und der Romaufenthalt als Karrierefundament können nicht nur in Verbindung mit den spanischen Architekten betrachtet werden. Ilaria Bergamini stellt in ihrer Veröffentlichung zum Grand Tour ein ähnliches Phänomen bezüglich der englischen Künstler fest: »Several artists met their patrons in Italy and after returning home many of them rose to important positions both professional and social. Sir Joshua Reynolds, for instance, would surely not have become the President of the Royal Academy had he not visited Italy« (vgl. Ilaria Bergamini, The Grand Tour: Open Issues, in: Grand Tour. The Lure of Italy in the Eighteenth Century, hg. v. Andrew Wilton und Ilaria Bergamini, London 1996, S. 31). 8 Cesare De Seta, Grand Tour: The Lure of Italy in the Eighteenth Century (wie Anm. 7), S. 14.
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El grupo que forman los cosmopolitas dieciochescos europeos, que viajan y viven en cruces de países y culturas tejiendo una urdimbre de auténtico poder intelectual, y también político, que ayuda en parte importante a formar la unidad europea de por entonces, es un crisol variopinto formado por intelectuales, también españoles, como Cadalso, Moratín o Altuna, amigo de Rousseau […]9
Hebt De Seta die kosmopolitische Gemeinschaft von Reisenden hervor, die Rom zum Ziel hat, transformiert sich der Rom-Besucher bei Diz zur Figur des europäischen Kosmopoliten des 18. Jahrhunderts, dessen Reisetätigkeit kein konkretes Ziel hat. Durch ihren Durchzug durch verschiedene Länder und Kulturen entsteht aber ein politisches und intellektuelles Gewebe, das Diz zufolge zur Einheit des damaligen Europas beiträgt. Beide Autoren stellen zunächst die Figur des Reisenden losgelöst von seiner Bindung an eine bestimmte Gesellschaftsschicht oder Religionszugehörigkeit in den Vordergrund ihrer Argumentation. In diesem Zusammenhang ist einerseits die Feststellung wichtig, daß durch die kosmopolitische Gemeinschaft von Besuchern die Säkularisierung Roms als Zentrum der Christenheit vollzogen wird. Andererseits ist auch die Tatsache von Bedeutung, daß geographische Grenzen sowie nationale und gesellschaftliche Unterschiede durch die Reisetätigkeit sowohl von europäischen – darunter auch spanischen – Diplomaten, Intellektuellen, Handels- und Geschäftsleuten wie auch von Gelehrten, Künstlern und Aristokraten überwunden werden. Wird das Reisen mit dem Grand Tour nach Rom oder mit der Figur des europäischen Kosmopoliten verbunden, ist dieses in beiden Fällen als eine Tätigkeit zu beschreiben, die zur Bildung einer »identità sovranazionale« (De Seta)10 bzw. zur Integration und sogar zur Einheit des damaligen Europa beiträgt (Diz). Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, wenn der Grand Tour in den neuesten Veröffentlichungen als gesamteuropäisches Phänomen aufgefasst wird: Zum anderen ist der Untersuchungsrahmen europaweit zu spannen. Wir müssen wegkommen von der nationalen Studie, uns hinwenden zum europäischen Horizont. Aufgabe sind nicht mehr etwa die europäischen Reisenden in Spanien, und auch nicht die spanischen Reisenden in Europa, sondern es ist das Phänomen selbst, in all seiner Ausdehnung und in allen seinen Varianten.11
Der Grand Tour, als gesamteuropäisches Phänomen verstanden, führt die Argumentation zwangsläufig zur Europa-Frage, zur Europa-Idee. Betrachtet man diese als Europa-Vorstellungen, so wie sie zum Beispiel von Elke Anna Werner (2004) behandelt wird, leitet uns das Thema Grand Tour wiederum zu einer spezifischen kulturellen Ausprägung: »Europa wird also eine Idee, die sich zunächst in den Köpfen der Menschen bildete und dann in kulturellen Praktiken niederschlug.«12 Diese Darlegung von Werner koinzidiert im Fall Spaniens mit einer Auffassung des Grand Tour nach 1800, der sich als Italienerfahrung in Form einer Erziehungs-, Studienund Ausbildungsreise manifestiert und dadurch zur Bildungsaufgabe im Sinne von Weiterbildung wird. Darin leben manche der früheren Ausformungen und klassischen Ausprägungen der Grand Tour nach 1800 weiter fort. 9 10 11 12
Alejandro Diz, Idea de Europa en la España del siglo xviii, Madrid 2000, S. 320f. Cesare de Seta, Il Grand Tour e il fascino dell’Italia (wie Anm. 3), S. 208. Werner Paravicini (wie Anm. 3), S. 672. Elke Werner (wie Anm. 4), S. 10.
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Am Beispiel der Italienerfahrung als Bildungsaufgabe kann nach den epochenspezifischen Europa-Vorstellungen in der Zeit nach 1800 gefragt werden, die sich in einem Europa der Kultur und Wissenschaft zeigen. Auf Spanien bezogen erhält Rom nach 1800 und fast durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch erneut die Bedeutung, die dieser Stadt von De Seta zunächst in Verbindung mit seiner Konzeption des Grand Tour zugesprochen wird. Letztere entsteht ihm zufolge im späten 17. Jahrhundert und insbesondere seit dem frühen 18. Jahrhundert aus der Wahrnehmung Italiens als besonderem Reiseziel und Rom als sein Zentrum. De Seta formuliert es auf unseren Zusammenhang bezogen so: »In its long history Rome had frequently been sacked by foreign armies. Now it was invaded by some of the greatest minds in Europe.«13 Wie De Seta beschreibt Pedro Moleón in der bereits erwähnten Veröffentlichung den Grand Tour ganz allgemein als die Reise durch Europa auf dem Weg nach Italien, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur von europäischen Aristokraten, sondern auch von Gelehrten und Kunstkennern, von Künstlern und Dilettanten mit dem Zweck unternommen wurde, ihre Kenntnisse der klassischen Kultur und insbesondere der Künste, des Sammlungswesens und des Mäzenatentums zu erweitern. Als spezifische spanische Variante aber spricht Moleón in dem Zusammenhang von Vervollkommnung dieser Kenntnisse (perfeccionamiento) statt von ihrer Erweiterung. Die spanische Aristokratie war nach Moleón im 17. und 18. Jahrhundert – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wenig dazu geneigt, ihren Geschmack beim Aufenthalt an den verschiedenen europäischen Höfen und in Italien selbst beim Besuch und der direkten Anschauung antiker Sammlungen und Baudenkmäler zu bilden.14 Erst mit den spanischen Rom-Stipendiaten, das heißt seit der Mitte des 18. und insbesondere seit dem 19. Jahrhundert, wird die Reise nach Italien nach einem bestimmten Regelwerk definiert und damit auch institutionalisiert. Als eine Form der Institutionalisierung der Architektenreise können verschiedene Anweisungen betrachtet werden, nach welchen die Auslandsreise von spanischen Architekten seit der Gründung der Madrider Akademie (Real Academia de Bellas Artes de San Fernando) einer festen Reglementierung unterzogen wird. Auf diese werde ich an einer anderen Stelle meines Aufsatzes eingehen. Die Italienreise wird somit an bestimmte Bildungsaufgaben gebunden und hauptsächlich von spanischen Künstlern und Architekten im Auftrag des Staates durchgeführt. Über diese Gemeinschaft der »greatest minds« (De Seta), die im 19. Jahrhundert erneut Rom zu ihrem Zentrum wählt, beginnt sich ein epochenspezifisches Europabild zu formieren. Mit anderen Worten: Ein von Kultur und Wissenschaft geprägtes Europabild, 13 Cesare de Seta (wie Anm. 8), S. 15. 14 Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 18. Diese Meinung von Moleón stimmt mit derjenigen von De Seta überein. In seiner Veröffentlichung von 1996 äußerte dieser die Vermutung, nach welcher die Spanier als kultivierte Reisende im 16. und 17. Jahrhundert wenig Interesse gegenüber Europa zeigten. De Seta führt dieses Desinteresse erstens auf die spanische Präsenz als politische Macht in vielen europäischen Ländern zurück, zweitens auf die Entdeckung Amerikas, die eine Abwendung Spaniens von Europa und eine Hinwendung zur »neuen Welt« mit sich brachte, und drittens auf das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, klassischer und nicht-klassischer, in diesem Land (s. Cesare De Seta, L’Italia del Grand Tour. Da Montaigne a Goethe, Neapel 21996; zit. nach Pedro Moleón (wie Anm. 2), Anm. 5, S. 18.
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welches demjenigen von Religion und Kriegen zur Seite gestellt wird. An der Entstehung und Bildung dieses Europabildes beteiligen sich die spanischen Rom-Stipendiaten als Teil dieser Gemeinschaft, die sie mit den aus dem übrigen Europa kommenden Architekten bilden.15 Steht zunächst Mitte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Anschluss an Europa nicht im Vordergrund der politischen und kulturellen Überlegungen Spaniens – wie den von De Seta dargelegten Gründen zu entnehmen war und welche auf die unmittelbare Nachfolgezeit übertragen werden können –, wird sich diese Position im Verlauf des 19. und insbesondere zu Ende dieses Jahrhunderts radikal ändern. Deutlich wird dies an einigen Beiträgen der spanischen Romstipendiaten, wie im Laufe meiner folgenden Ausführungen festzustellen sein wird. Darüber hinaus ermöglichte die Präsenz Spaniens als Weltmacht, die dieses Land nicht nur in Europa, sondern auch in der Neuen Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, das heißt bis zum so genannten »Desaster von 1898« beibehielt, die von den spanischen Architekten erworbenen Kenntnisse und ausgeführten Arbeiten an die in den spanischen Kolonien neu gegründeten Akademien und Bauschulen weiterzugeben. Dies wird beispielhaft am Schluss meiner Ausführungen veranschaulicht. Vor diesem Hintergrund wird es erlaubt sein, nach den spezifischen Merkmalen der Italienerfahrung als Bildungsaufgabe bei den spanischen Rom-Stipendiaten nach 1800 zu fragen, das heißt nach deren Voraussetzungen, Bedingungen und Ausdrucksformen. An ihrer Beteiligung an den im 19. Jahrhundert ausgetragenen Diskursen und Debatten, wie zum Beispiel an dem Polychromie-Streit, wäre der eigene Beitrag Spaniens zum Europabild festzustellen, das im 19. Jahrhundert entsteht und dieses Jahrhundert prägt.
III Italienerfahrung als Bildungsaufgabe und Karrierefundament Die Voraussetzungen für die Italienreise der spanischen Architekten Mitte des 18. Jahrhunderts bildet die in der Regierungszeit von Ferdinand VI. (1713–1759) und Barbara von Braganza (1711–1758) erfolgte Gründung der ersten spanischen Akademie für die drei bildenden Künste (Real Academia de Nobles Artes de San Fernando) im Jahr 1752 in Madrid. Unmittelbar danach werden die Statuten verfasst und verabschiedet, bei denen in den Kapiteln 20 und 21 und unter der Rubrik »Pensionados en Roma y en Parìs« (Kap. 20) die spanischen Auslandsstipendiaten behandelt werden.16 Doch bevor mit der Akademie-Gründung die erste Institutionalisierung von Auslandsreise und Romaufenthalt stattfindet, wird noch 1745 unter Philipp V. (1683–1746), dem ersten Bourbonenkönig in Spanien, eine königliche Order erlassen, die sechs Romstipen15 Anders pointiert findet sich eine ähnliche Meinung in der Veröffentlichung von Carlos Sambricio aus dem Jahr 1986: »Durante años, al hablar de la nueva arquitectura ilustrada [en España], se ha comentado que la presencia de ciertos italianos (…) o de algunos franceses (…) fue decisiva para la nueva arquitectura. En mi opinión tal afirmación es equivocada: los contactos con la arquitectura clasicista se producen gracias a los viajes y estudios de los propios españoles. Pero incluso en este punto sería necesario señalar un hecho: los viajes a Roma y los estudios sobre la antigüedad se deben, sobre todo, a las visitas y relaciones de los pensionados españoles en Roma con los pensionados franceses, ingleses o con los italianos próximos a estos círculos« (Carlos Sambricio, La arquitectura española de la Ilustración, Madrid 1986, S. 11). 16 Vgl. Estatutos de la Real Academia de San Fernando, Madrid 1757, S. 51–56.
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dien für die drei bildenden Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur) vorsieht.17 Diese sechs Stipendien werden später in die Statuten der Madrider Akademie von 1757 aufgenommen. Hier erfolgt ihre genaue Festlegung: zwei für die Malerei, zwei für die Bildhauerei und zwei für die Architektur. Auch das Wort Vervollkommnung (perfeccionamiento) kommt darin vor: […], para perfeccionarse en estas Artes, baxo el gobierno del Directór que yo les nombràre, al qual han de obedecer en todo lo que pertenezca à sus Estudios, han de presentarles los que hagan, y han de sujetarse à sus correcciones.18
Für die Umsetzung der Idee der Vervollkommnung, mit welcher das Reisestipendium und der Romaufenthalt von Beginn an verknüpft war, wurde es notwendig, das Stipendium zeitlich zu begrenzen, mit bestimmten Aufgaben zu verknüpfen und die Stipendiaten unter die Aufsicht eines Direktors zu stellen. In den Statuten von 1757 werden die Stipendien zeitlich auf sechs Jahre ohne die Möglichkeit einer weiteren Verlängerung begrenzt.19 Die Arbeiten, die diese anzufertigen und der Akademie zur Beurteilung zuzusenden hatten, werden hier auch erwähnt, aber vorerst nur vage beschrieben. Genauer wird schließlich nur auf ein Werk eingegangen, das der Stipendiat aus eigener Schöpferkraft, d.h. »de invención propia«, neben den zuvor erwähnten und als Pflichtaufgaben anzusehenden Übungen zu bewältigen hatte. Im Kapitel 21, das sich dem Direktor der Stipendiaten in Rom widmet, findet sich in Bezug auf die Architekten eine genauere Beschreibung ihrer Pflichten und Aufgaben in Rom: Del cargo de este Directòr serà hacer que los pensionados se apliquen con el mayor desvelo […] los Arquitectos, ademàs del estudio de sus Libros, à observar las celebres ruinas y preciosos monumentos de la antiguedad, à diseñarlos y asistir à la construccion de los Edificios que puedan; […].20
In dieser Textpassage sind die Aufgaben der Architekten skizziert, die der Direktor zu beaufsichtigen hatte. Neben dem genauen Einstudieren der Bücher, womit vermutlich die Architekturtrakte gemeint sind, wird auf die berühmten Ruinen Roms eingegangen. In
17 Der entsprechende Textauszug findet sich in der Publikation von Moleón (wie Anm. 2, S. 77). Der Autor verweist in seinem Text auf folgende Arbeit, die sich den Architekten der Madrider Akademie im 18. Jahrhundert widmet und in der diese Quelle ebenfalls zitiert wird: Alicia Quintana Martínez, La arquitectura y los arquitectos en la Academia de San Fernando (1744–1774), Madrid 1984. 18 Estatutos de la Real Academia (wie Anm. 16), S. 52: »(…) zur Vervollkommnung in den bildenden Künsten unter der Aufsicht eines von mir ernannten Direktors. Ihm sollen sie in allen Angelegenheiten ihre Ausbildung betreffend gehorchen, d.h. die von den Stipendiaten angefertigten Arbeiten ihm zeigen und dessen Korrekturen befolgen«. 19 Wenn man dazu das Reglement für die französischen Stipendiaten von 1799 mit jenem vergleicht, das bis 1846 seine Gültigkeit behielt, wurde hier das Rom-Stipendium nur auf fünf Jahre beschränkt (vgl. Pierre Pinon, Les architectes à l’Académie de France à Rome (1803–1870), in: Maestà di Roma. Da Napoleone all’unità d’Italia. D’Ingres à Degas. Les artistes français à Rome: Villa Médicis, Rom 2003, S. 61). 20 Estatutos de la Real Academia (wie Anm. 16), S. 55–56: »Pflicht dieses Direktors wird es sein, dass die Stipendiaten mit der größten Leidenschaft ihren Pflichten nachgehen (…). Für die Architekten heißt es, dass diese neben dem Studium der Bücher sich mit der direkten Anschauung und der zeichnerischen Wiedergabe der Ruinen und der prächtigen Monumente der Antike beschäftigen und noch dazu der Entstehung von vielen der im Bau befindlichen Gebäuden beiwohnen«.
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diesem Zusammenhang werden sowohl direkte Anschauung und zeichnerische Wiedergabe sowie die Beteiligung der Stipendiaten an den gerade im Bau befindlichen Gebäuden in Rom erwartet. Nicht unerwähnt bleibt schließlich der Hinweis auf die Vorteile, die der Romaufenthalt für die Stipendiaten mit sich bringen würde, »[…] para que logren las utilidades y destinos que despues merezcan«,21 das heißt auf die Einschätzung von Auslandsstipendium und Romaufenthalt als möglichem Karrierefundament. Der aus Sevilla stammende Maler Francisco Preciado de la Vega (1712–1789) wird zum ersten Direktor der spanischen Rom-Stipendiaten ernannt. Mit zwei Schwierigkeiten werden sich er sowie die unter seine Aufsicht gestellten Stipendiaten über lange Zeit hinweg konfrontiert sehen: Das Fehlen eines Gebäudes in Rom zu ihrer Unterbringung und eine Anweisung für die Architekten (Instrucción para arquitectos), mit deren Hilfe die besten Ergebnissen nicht nur für die Stipendiaten im Fach Architektur, sondern auch für den Staat selbst erzielt werden sollten.22 Während das Problem der Unterbringung der spanischen Stipendiaten bis 1873 mit der Gründung der Spanischen Akademie in Rom (Academia de España en Roma) einer Lösung harrte,23 entstanden in der Zeit von 1758 bis 1805 drei der so genannten »Instrucciones para arquitectos«, bevor die Kabinettsorder vom 28. Februar 1807 verabschiedet wurde, die Aufenthalt und Aufgaben der Stipendiaten regulierte. Es handelt sich dabei um folgende: Eine erste Anweisung von 1758 wird mit der Person von José de Hermosilla y Sandoval (1715–1776) verbunden, eine zweite von 1791 wurde von José Moreno (1748–1792) verfasst und eine dritte und letzte von 1805 von Silvestre Pérez Martínez (1767–1825) geschrieben. Bei der ersten Anweisung für die Architekten (Instrucción para arquitectos) von José de Hermosilla, die aber nicht in die Praxis umgesetzt wurde, werden die von den Architekten zu erfüllenden Pflichten in 22 Punkten genau fixiert. Von den sechs Jahren ihres Auslandsaufenthalts sollten die beiden ersten in Rom verbracht werden. Bei der Darlegung der von den Stipendiaten durchzuführenden Arbeiten greift Hermosilla, der zwischen 1747 und 1752 selbst in Rom gewesen war,24 eine inzwischen weit verbreitete und anerkannte Methode auf: das Beobachten sowie das genaue Vermessen und die zeichnerische Wiedergabe der antiken Ruinen und Monumente Roms. Auch die Sendungen (envíos), die die Stipendiaten in regelmäßigen Abständen der Madrider Akademie zu ihrer Beurteilung zukommen lassen sollten, finden darin Erwähnung. In den beiden ersten Jahren ihres Romaufenthaltes sollten die Stipendiaten jedes Jahr Zeichnungen von sechs der vortrefflichsten antiken Monumente Roms, seien diese noch ganz oder nur in Ruinen erhalten, neben acht weiteren Zeichnungen von seinen moder21 Estatutos de la Real Academia (wie Anm. 15), S. 53. »[…] damit sie die Vorteile und Ziele später erreichen, die ihnen zustehen«. Diese Äußerung steht im Widerspruch zu der in der Verordnung von 1830 unter Paragraph 17 festgehaltenen Meinung. 22 Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Äußerung von José Manuel Prieto González: »De hecho, se pide a los pensionados que sean útiles a sí mismos y a su patria« (wie Anm. 6), S. 100. 23 Für die Gründung eines Hauses in Rom zur Unterbringung der spanischen Stipendiaten gibt es bereits 1836 ein Projekt, das eine solche Einrichtung vorsieht: »Proyecto de establecer una Casa de Pensionados (4 de Octubre de 1836)«, vgl. Sig.: 50-3/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, ArchivoBiblioteca. 24 Vgl. hierzu die Ausführungen von Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 88–101.
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nen Bauten (vier von Palästen und weitere vier Zeichnungen von Tempeln) der Akademie zusenden. Es wird dabei besonders betont, daß die Zeichnungen vor Ort angefertigt werden sollten, das heißt auf jeden Fall eine Wiedergabe nach den zahlreichen Tafelwerken zu vermeiden wäre. Hermosilla versuchte damit die Gefahr abzuwenden, die im Kopieren von dem damals weit verbreiteten Tafelwerk von Antoine Desgodetz »Les edifices de Rome dessinés très exactement sur les lieux« (1682) bestand. Ende des 18. Jahrhunderts besaß die Madrider Akademie bereits zwei verschiedene Editionen dieses Werkes: die erste von 1682 und eine zweite von 1779. Diese dienten als Vorlage für die Ausbildung von Architekten.25 Werden die Arbeiten herangezogen, die die spanischen Stipendiaten zwischen 1759 und 1793 der Madrider Akademie zusandten (der Pantheon, der Tempel von Antonino und Faustina, der Tempel von Jupiter Stator und Jupiter Tonante, der Tempel von Vesta in Tivoli) wird umso deutlicher, daß diese Lehre auf die Absolventen des Faches Architektur – jetzt als Rom-Stipendiaten betrachtet – weiterhin Einfluss ausübte. Nach dem zweijährigen Rom-Aufenthalt sah die von Hermosilla verfasste Anweisung ausgedehnte Reisen durch Italien und Europa vor. Zu den italienischen Städten, die hier angeführt werden und zunächst von den Stipendiaten besucht werden sollten, gehören Bologna, Florenz, Mailand, Genua und Venedig. In den anschließenden zwei Jahren sollten die Stipendiaten zu den wichtigsten deutschen Höfen und danach nach Flandern reisen. Die letzten zwei Jahre waren für den Besuch von Ländern wie Holland und England vorgesehen. Der ambitionierte Plan von Hermosilla, der auch wegen der zahlreichen Fahrten sehr kostspielig angelegt war, wurde von der Akademie nicht genehmigt. Während sowohl Maler als auch Bildhauer im Jahr 1758 ihre Italienreise mit der entsprechenden Anweisung für ihr Fach antraten, mussten die Architekten bis 1791 warten, bis die entsprechende Anweisung für sie verfasst und von der Akademie bewilligt wurde. Die Schrift von 1791, welche in 17 Punkten die Anweisung für Architekten festhält, wurde als anonyme Schrift ohne direkte Angabe eines Verfassers von der Madrider Akademie im selben Jahr genehmigt.26 Sehr wahrscheinlich geht ihr Inhalt auf den Namen des Architekten José Moreno zurück.27 Die wichtigsten Punkte darin betreffen die Beschäftigung der Stipendiaten mit den antiken Ruinen Roms. Diese sollen nicht nur besichtigt und gezeichnet, sondern hauptsächlich mit Verstand studiert werden. Im Gegensatz zum Abzeichnen oder gar Kopieren der Ruinen aus bestehenden Vorlagen – Zeichnungen wie Drucken –, wird auf ihr genaues Vermessen besonderer Nachdruck gelegt. Dies würde aus der Sicht des Verfassers die Italienreise für den Architekten rechtfertigen, die für ihn nicht mit touristischen, sondern überwiegend mit Lernzwecken verbunden war. Dahinter stand
25 Vgl. Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 109 und Anm. 108. Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf das grundlegende Werk von Claude Bedat über die Madrider Akademie (s. Claude Bedat, La Real Academia de Bellas Artes de San Fernando (1744–1808), Madrid 1989, S. 309ff.). 26 Diese Anweisung entstand nach der Unterbrechung zwischen 1785 und 1791. Gemäß den Angaben von Moleón sind in diesem Zeitraum keine spanischen Stipendiaten in Rom zu verzeichnen. Vgl. Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 77. 27 Hierbei folge ich den Ausführungen von Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 281ff.
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der Versuch, die zum Zweck der Ausbildung gerichtete Architektenreise von der gewachsenen Partizipation des Bürgertums an der internationalen Reisepraxis abzugrenzen.28 Ebenfalls sollte die Auswahl der darzustellenden Gegenstände unter den Stipendiaten abgesprochen werden, um damit Wiederholungen bei den ausgewählten Motiven zu vermeiden. Mit diesem Hinweis bezieht sich der Verfasser auf die von den Stipendiaten in den Jahren zuvor angefertigten Arbeiten, bei denen die wiederholte Darstellung ähnlicher Bauten (Pantheon, Tempel von Antoninus und Faustina, Tempel von Castor und Pollux, die Domus Aurea etc.) festzustellen war. Diese Tatsache sei u. a. auf das Fehlen einer genauen Anweisung für Architekten sowie einer fachlichen Aufsicht für die Stipendiaten in Rom zurückzuführen.29 Die in dieser Anweisung festgehaltene Bemerkung kann aus meiner Sicht eher mit der Absicht verbunden werden, aus den Zeichnungen der RomStipendiaten eine Sammlung der vortrefflichsten antiken Bauten zu bilden, die auch in der Madrider Akademie als Lehrmaterial bei der Ausbildung von Architekten zur Anwendung kommen sollte.30 Nur aus diesem Grund würde sich erklären, daß Moreno im Punkt 10 seines Textes die Empfehlung ausspricht, die Zeichnungen sollten dieselbe Maße haben, »para que la Acadª. pueda formar colecciones iguales y decentes«.31 Nur bei einem einzigen Punkt in dieser Schrift (Nr. 11) wird die Stadt Rom in seiner vergangenen und unmittelbaren Geschichte angesprochen, indem die Architektur der Renaissance und des Neoklassizismus erwähnt wird. Bei dem darauf folgenden Punkt wird die Reise in andere italienische Städte wie z. B. Vicenza empfohlen, um dort die Werke von Palladio zu besichtigen. Im 17. und letzten Punkt wird auf die Vorteile und den Nutzen eingegangen, die der Staat sowohl vom Auslandsaufenthalt der Stipendiaten als auch von ihren Arbeiten haben sollte. Dieser hätte nach Ansicht des Verfassers umso mehr das Recht, von der Geschicklichkeit seiner Söhne Gebrauch zu machen, wenn er ihnen die nötige Hilfe leiste, um diese zu erwerben.32 Vor der königlichen Order vom 28. Februar 1807 (Pensionados al Extrangero. Rl. Orden de 28 de Febrero de 1807) bzw. vor der Verordnung vom 9. März 1830 (Reglamento que ha de observarse con los pensionados en cortes extrangeras para el estudio de las nobles
28 Vgl. hierzu Stefan Schweizer (wie Anm. 5). 29 Vgl. Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 112. 30 Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Textpassage aus einem Schreiben des damaligen Direktors Narciso Pascual y Colomer vom 26. Februar 1853: »Fundada la enseñanza de esta Escuela especial en el estudio analitico de los Monumentos de todos los tiempos y generos arquitectonicos solo ha podido llevarse de una manera menos perfecta que es de desear contribuyendo sus Profesores con los dibujos de sus carteras particulares puesto quela Academia de S. Fernando apenas tenia cuando se fundo la Escuela una docena de dibujos utiles.« Zu Deutsch: »Die Lehre an dieser Spezialschule basiert auf dem analytischen Studium der Monumente aller Zeiten und architektonischen Genres. Diese konnte bis jetzt in einer unbefriedigenden Form durchgeführt werden, da diese Spezialschule zum Zeitpunkt ihrer Gründung fast keine Zeichnungen von der Academia de Bellas Artes de San Fernando übernehmen konnte. Dieser Bestand konnte nur mit Hilfe der eigenen Portfolien der Lehrer an dieser Schule vervollständigt werden« (vgl. Sig.: 32-16/1: Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 31 Vgl. Moleón (wie Anm. 2), S. 283: »damit die Akademie ähnliche und angesehene Sammlungen bilden kann«. 32 Vgl. Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 383.
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artes, aprobado por el Rey nuestro Señor en 9 de Marzo de 1830),33 die Aufenthalt und Pflichten der spanischen Stipendiaten im Ausland weiterhin regelten, stellt die Schrift von Silvestre Pérez (1767–1825) die beste für Architekten verfasste Anweisung dar.34 Geschrieben im Jahr 1805 entstand diese vor dem Hintergrund seines Romaufenthaltes und aus der Reflexion über seine dort gesammelten Erfahrungen. Adressiert wurde diese an die beiden spanischen Romstipendiaten, Antonio Celles y Azcona (1775–1835) und Juan Gómez (1775–1831), die sich damals in Rom befanden. Sein Rat geht dahin, sie sollten sich vor der eigentlichen Erstellung eines Werkes aus eigener Schöpferkraft (trabajo de invención) in der Aufnahme beziehungsweise im Kopieren der Beispiele aus der Antike üben. Die Kenntnis davon bildet gemäß seiner Auffassung die Voraussetzung für die Erstellung eigener Werke, die dann von Festigkeit und Geschmack sein würden. Die Verbindung des Auslandsaufenthalts mit der Vervollkommnung der im Laufe des Studiums erworbenen Kenntnisse bleibt weiterhin in den darauf folgenden Anweisungen und Verordnungen bestehen. Dementsprechend beginnt die Kabinettsorder vom 28. Februar 1807 mit der Feststellung, die Auslandsstipendiaten sollten zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung über die Kenntnisse verfügen, die in den spanischen Akademien zu erwerben wären. Ebenfalls sollten diese das Studium bereits abgeschlossen haben. Diese und andere Maßnahmen sollten dazu dienen, Missbräuche des Stipendiums zu vermeiden, welche die Staatskasse belasten würden. All dies, heißt es in dieser königlichen Order weiter, habe den König veranlasst, diese Anweisung zu erteilen. In derselben sind auch die Arbeiten festgelegt, die die Stipendiaten während ihres Auslandsaufenthaltes zu absolvieren hatten.35 Das Stipendium wird nun auf fünf Jahre beschränkt. Bezüglich der Stipendiaten im Fach Architektur wird weiter festgelegt, diese müssten jährlich sechs Zeichnungen der besten antiken Bauten Roms anfertigen. Diese Arbeiten sollen sowohl Grund- und Aufrisszeichnungen im Großformat umfassen. Außerdem sollen sie auch Darstellungen des Bauschmucks, der Säulenordnungen und Schnitte der jeweiligen Bauten beinhalten. Die Auswahl der Bauten für diese Arbeiten ist gegenüber früheren Anweisungen breiter geworden. Darunter sollen sich nicht nur Tempel und Paläste, sondern auch Badeeinrichtungen, Landsitze, Waisenhäuser, Gerichte und Bibliotheken befinden. Nur in den letzten zwei Jahren werden Zeichnungen von Objekten angefertigt, die entweder von den Stipendiaten selbst ausgewählt oder vom Ministerium bestimmt werden konnten. Nur ein Jahr nach Verabschiedung dieser Verordnung dankte der spanische König Karl IV. (1788–1808) ab und am 2. Mai 1808 begann der spanische Unabhängigkeitskrieg gegen die Besatzung Napoleons, der bis 1812 dauern sollte. Bis 1830, d.h. bis zur Rückkehr des spanischen Königs Ferdinand VII. (1784–1833) im Jahr 1814 und der Wiedereinführung der Bourbonendynastie in Spanien, wird keine weitere Anweisung oder Verordnung erlassen. In der Verordnung vom 9. März 1830, die bereits in der Regierungszeit Ferdinands VII. entstand, wird folgendes festgehalten: »La Academia exigirá en su ejecución que los opo33 Die oben erwähnten Dokumente beziehen sich auf die folgenden Signaturen: 48-1/1 und F 1882, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca. 34 Vgl. Pedro Moleón (wie Anm. 2), S. 387. 35 Vgl. hierzu Sig.: 48-1/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca.
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sitores acrediten que son ya profesores, y que solo pueden aspirar á perfeccionarse viajando al extrangero«.36 Es wird somit festgelegt, daß die Bewerber um ein Auslandsstipendium nicht nur im Besitz der entsprechenden Kenntnisse sein müssen und das Studium bereits abgeschlossen haben. Sie sollen auch den akademischen Grad eines Professors besitzen. Dennoch wird der Auslandsaufenthalt ausschließlich im Zusammenhang der Vervollkommnung ihrer Ausbildung betrachtet. Weiter ist in derselben Verordnung davon die Rede, daß die Stipendiaten nach einem fünfjährigen Auslandsaufenthalt wieder in ihr Heimatland zurückkehren sollten, damit dieses von den Kenntnissen profitieren konnte, die die Stipendiaten mit Hilfe des Staates im Ausland erworben hatten.37 Im selben Jahr der Verordnung wird der Bildhauer Antonio Solá (1787–1861) zum Direktor der Stipendiaten (Director de Pensionados) in Rom benannt.38 Im Vergleich zur königlichen Order vom 28. Februar 1807 wird in der Verordnung von 1830 nicht im Einzelnen auf die von den Stipendiaten anzufertigenden Arbeiten eingegangen. Eher werden die Aufgaben des Direktors der Stipendiaten beschrieben, der im selben Haus wie diese wohnen würde und unter dessen Aufsicht diese die Arbeiten bzw. die Sendungen zu verrichten hätten, die jährlich der Madrider Akademie zuzusenden wären.39 Der Paragraph 17 derselben Verordnung macht aber auf eine Tatsache aufmerksam, die vorerst die These von Auslandsstipendium und Rom-Aufenthalt als Karrierefundament revidieren würde. Dort wird folgendes festgehalten: »En ningun caso podrá alegarse como mérito el haber obtenido el beneficio de estas pensiones y estudios para solicitar y conseguir despues otras pensiones ó gracias«.40 Mit anderen Worten: Dieses Stipendium sollte nicht dafür dienen, andere Stipendien oder Vorzüge zu erwerben. Überschaut man aber die Namen der spanischen Stipendiaten, die bis zu diesem Zeitpunkt ein Auslandsstipendium genossen hatten und wichtige Positionen sowohl in den später gegründeten Bauschulen als auch in der Bauverwaltung erreichten, muss man die in diesem Paragraphen enthaltene Feststellung revidieren.41 Die zwei im Jahre 1832 vergebenen Auslandsstipendien im Fach Architektur gingen an Aníbal Álvarez Bouquel (1806–1870) und Antonio de Zabaleta (1803–1864).42 Beide wurden Professoren und Zabaleta sogar Direktor der Madrider »Escuela Especial de Arquitectura«, eine Spezial36 »Die Akademie erwartet bei seiner Durchführung, dass die Bewerber sich als Professoren ausweisen und dass diese nur in Verbindung mit dem Auslandsaufenthalt ihre Vervollkommnung erreichen können« (vgl. Verordnung vom 9. März 1830 (wie Anm. 33), Artículo 7°, nicht paginiert. 37 Vgl. Verordnung vom 9. März 1830 (wie Anm. 33), Artículo 10, nicht paginiert. 38 Vgl. hierzu Esperanza Navarrrete Martínez, La Academia de Bellas Artes de San Fernando y la pintura en la primera mitad del siglo xix, Madrid 1999. 39 Vgl. Verordnung vom 9. März 1830 (wie Anm. 33), Artículo 13, nicht paginiert. 40 »In keinem Fall wird als besonderen Verdienst angegeben werden können, in Besitz von diesem Stipendium gewesen zu sein, um damit andere Stipendien oder sogar Vergünstigungen zu erwerben« (vgl. Verordnung vom 9. März 1830 (wie Anm. 33), Artículo 17, nicht paginiert. 41 José Manuel Prieto González (wie Anm. 6), S. 91. 42 Zu dem Architekten Antonio de Zabaleta vgl. Luis Sazatornil Ruíz, Antonio de Zabaleta. La renovación romántica de la arquitectura española, Santander 1992, S. 32. Ein Schreiben seines Vaters, Julián de Zabaleta, vom 11. Februar 1832 dokumentiert seine Hinwendung an die Akademie, damit seinem Sohn ein Auslandsstipendium vergönnt werde, das ihm die Möglichkeit eines Rom-Aufenthaltes biete. Mit königlicher Order vom 6. April 1832 wird ihm eine so genannte »pensión extraordinaria«, in diesem
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schule für Architektur, die unter der Regierung Isabellas II. (1830–1904) gegründet wurde. Auf die Person von Zabaleta geht auch den Entwurf einer Anweisung zurück, die er zusammen mit Álvarez y Bouquel 1848 verfasste. Auf diese werde ich später eingehen. Bis 1848 sind aber keine weiteren Auslandsstipendien für das Fach Architektur vergeben worden. Ein Schreiben eines Mitglieds des Ministeriums für Unterricht (Ministerio de Instrucción pública) vom 15. September 1847 gibt den Grund an, warum bis zu diesem Jahr kein Stipendiat für das Fach Architektur zu verzeichnen ist: […] considerando 1º que cuando por Real orden de 24 de Mayo se dignó S.M. establecer pensiones para sostener en Italia cuatro alumnos de los que mas se hubiesen distinguido en las escuelas de pintura, escultura y gravado no se entendió este beneficio á los alumnos de Arquitectura, porque siendo tan reciente la instalacion de esta escuela especial, se creyó que en algun tiempo no podia presentar discipulos suficientemente instruidos; […]43
Diesem Textauszug ist zu entnehmen, daß durch eine königliche Order vom 24. Mai 1847 vier Stipendien mit dem Ziel bestimmt wurden, Angehörige der Spezialschulen für Malerei, Skulptur und Stechkunst im Ausland zu unterhalten. Das Fach Architektur wurde dabei deshalb nicht berücksichtigt, weil die Gründung der Spezialschule für Architektur vor nicht allzu langer Zeit erfolgte und somit nicht genug Zeit für die Ausbildung von geeigneten Bewerbern vergangen war.
IV Reisen, Farbe, Lehre Reisen, Lehre Die im oben genannten Schreiben vom 15. September 1847 enthaltene Feststellung, wonach im Juli des darauf folgenden Jahres ein Stipendium für Architekten ausgeschrieben werden sollte, schaffte erneut die Bedingungen für die Teilnahme von Architekten an der Bewerbung auf ein Auslandsstipendium und somit auch die Voraussetzungen für das Reisen spanischer Architekten ins Ausland. Diese Bestimmung wurde drei Jahre nach der Verordnung vom 25. September 1844 verabschiedet, welche die Grundlage für die Verselbständigung der Architekturlehre der Madrider Akademie bildete, an der diese Disziplin zusammen mit den übrigen bildenden Künsten gelehrt wurde. Zunächst sollte dadurch nur eine Verbesserung des Unterrichts erzielt werden. Gleichzeitig bewirkte diese Verordnung die Gründung der ersten Architekturschule Spaniens: die Madrider »Escuela especial de Arquitectura« (Spezialschule für Architektur). Die bis dahin als bildende Kunst betrachtete Architektur erhielt durch diese Neugründung neben der fachlichen SelbstänFall ohne eine offizielle Bewerbung auf ein Reisestipendium erteilt (vgl. Sig.: 49-7/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 43 «(…) bei der von Ihrer Majestät verabschiedeten königlichen Order vom 24. Mai wurde die Möglichkeit für vier der besten Angehörigen der Schule für Malerei, Skulptur und Stechkunst geschaffen, sich mit Hilfe eines Stipendiums im Ausland aufzuhalten. Dabei wurden die Architekten nicht berücksichtigt. Der Grund dafür war die vor kurzem gegründete Spezialschule für Architektur. Seitdem ist noch nicht die nötige Zeit für die Ausbildung entsprechender Kandidaten für dieses Stipendium vergangen« (vgl. Schreiben vom 15. September 1847 unterschrieben von Ros de Olano, Sig.: 49-7/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca).
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digkeit durch ihren Umzug 1848 in den ehemaligen »Colegio Imperial« mit Sitz in den genannten »Estudios de San Isidro« auch ihre räumliche Unabhängigkeit. Dort behielt die Schule bis 1930 auch ihren Sitz.44 Um den Unterricht überhaupt bewerkstelligen zu können, war es notwendig, neben der Restrukturierung des Lehrplans nach einem modernen Bildungssystem, wonach die Architektur als eigenes Studienfach betrachtet wurde und eine stärkere technische Ausrichtung erhielt, auch eine Bibliothek einzurichten. Ihre Entstehung bedingte die Überführung einiger Bestände der Bibliothek der Madrider Akademie in die neue Einrichtung.45 Ein Dokument vom 20. Juni 1845, das mit dem Titel »Escuela especial de Arquitectura. Relacion del material indispensable pa. La apertura y marcha de sus clases de enseñanza, con expresión detallada de cada una de ellas« von Juan Miguel de Inclán Valdés (1774–1855) verfasst und unterschrieben wurde, gibt Auskunft über das von ihrem damaligen Direktor als notwendig erachtete Lehrmaterial und über die Lehrbücher für den Architekturunterricht.46 Unter den dort aufgeführten Veröffentlichungen befindet sich die Publikation von Paul Marie Letarouilly (1795–1855) »Édifices de Rome moderne« (1840–1874).47 Auf die Bedeutung dieses Werkes für den Zusammenhang dieser Ausführungen wird im Folgenden eingegangen. Diese betrifft nicht nur die Lehre an der Madrider Architekturschule, sondern auch die Verbreitung von einigen Veröffentlichungen, anhand derer die Existenz eines allgemeinen Wissensbestands an den damaligen europäischen Bildungsanstalten konstatiert werden kann. Die Beschaffung dieses wie auch anderer Werke für die Bibliothek der neuen Architekturschule kann nicht nur auf die Vermittlung von in Madrid ansässigen ausländischen Buchhändlern wie Casimiro Monier,48 sondern auch auf die Anregung von Persönlichkeiten wie Zabaleta, d.h. auf seine Reisetätigkeit und später eingesetzte Lehre an der neu gegründeten Architekturschule zurückgeführt werden. Zabaleta hielt sich zuerst zwischen 1823 und 1832 in Paris auf, bevor er mit Hilfe eines Aus-
44 Vgl. Pilar Rivas, La enseñanza de la arquitectura en España: Escuela de arquitectura en Madrid (1844–1923), Universidad Complutense de Madrid, Maschinenschrift 1980, S. 33. In einem Aufsatz neueren Datums erscheint das Jahr 1936 als das letzte Jahr, in dem die Madrider Architetenschule ihren Sitz in diesem Gebäude behielt (vgl. Píñar Samos, Javier/Sánchez Gómez, Carlos, Clifford y los álbumes de la Academia, in: Boletín de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Nr. 98 und 99, Madrid 2005, Anm. 15, S. 50). 45 José Manuel Prieto González (wie Anm. 6), S. 85. 46 »Detaillierte Auflistung über das Material und über die Bücher, die für die Inbetriebnahme der Schule und für den Unterricht als notwendig erachten werden« (vgl. Sig.: 32-15/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 47 Paul Marie Letarouilly, Édifices de Rome moderne ou Recueil des palais, maisons, église, convents et autres monuments publics et particuliers les plus remarquables de la ville de Rome«, Paris 1840–1874. Der in der Bibliothek der Madrider »Escuela Técnica Superior de Arquitectura« aufbewahrte Tafelband zum Werk von Letarouilly, Bd. 1, ist ebenfalls 1840, aber beim Verlag »Typographie de Firmin Didot Frères« erschienen. Die von mir in den Berliner Bibliotheken gesichteten Exemplare dieses Werkes sind im Verlag »Vve A. Morel et Cie, Éditeurs« veröffentlicht. 48 Zu dem Madrider Buchhändler französischer Abstammung Casimiro Monier s. weiter José Manuel Prieto González (wie Anm. 6), S. 85ff.
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landsstipendiums nach Italien ging.49 Nach seiner Rückkehr nach Spanien 1836 unterrichtete er an der »Escuela especial de Arquitectura« und wurde Lehrer von Gerónimo de la Gándara (1825–1874) und Francisco Jareño de Alarcón (1818–1892), denen die folgenden Ausführungen gelten werden. Kehren wir zur ersten Bewerbung auf ein Auslandsstipendium nach der Ausschreibung vom Juli 1848 zurück. Danach wurden die entsprechenden Übungen zur Bewerbung auf dieses Stipendium absolviert. Diese fanden zwischen dem 16. und 21. August 1848 statt. An der Bewerbung nahmen zwei Angehörige der »Escuela especial de Architektur« teil: Gerónimo de la Gándara und Francisco Jareño de Alarcón.50 Für die zweite Übung, wonach das dekorative Motiv eines Frieses aus eigener Schöpferkraft und unter Berücksichtung seiner Schattenwirkung (Inventar el adorno de un trozo de friso, manchando sus sombras)51 wiedergegeben werden sollte, schuf Jareño de Alarcón eine Bleistiftzeichnung52 (Abb. 1) nach einem im ersten Band von Letarouillys Schrift von 1840 wiedergegebenen Friesstück der Kapelle S. Giovanni in Oleo in Rom (Abb. 2, 2a). Der französische Autor schreibt dieses Werk Bramante zu und datiert es auf das Jahr 1509.53 Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Darstellungen geben Anlaß zu der Vermutung, die Illustration im Werk des französischen Architekten habe als Vorlage für die Übung Jareños gedient. Ein Hinweis auf die Anfertigung dieser Zeichnung nach einer solchen Vorlage befindet sich im
49 Vgl. Luis Sazatornil Ruíz (wie Anm. 42), S. 13. Möglicherweise ist die Anschaffung von Gottfried Sempers Schrift »Das königliche Theater zu Dresden. Mit 12 Kupfertafeln« Braunschweig 1849, die im Verzeichnis der Bestände der Bibliothek vom 1857 von der Madrider Architekturschule vorkommt, auf die Anregung Zabaletas zurückzuführen. Wie Sazatornil ist seiner bereits zitierten Arbeit feststellt, hatte Zabaleta in Rom die Bekanntschaft mit Gottfried Semper gemacht. Irrtümlicherweise gibt der spanische Autor das Jahr 1834 für das Zusammentreffen beider Architekten an, als Semper bereits Italien verlassen hatte und in seiner Heimatstadt befand (vgl. Luis Sazatornil (wie Anm. 42), S. 32). Zum Verzeichnis der Bestände der Bibliothek der Madrider Architekturschule vgl. folgendes Dokument: »Indice general de los libros que contiene la Biblioteca de la Escuela especial de Arquitectura. Madrid 21, de Agosto de 1857«, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Sig.: 63-8/5). 50 Weder über Gerónimo de la Gándara noch über Francisco Jareño de Alarcón de Alarcón existieren monographische Arbeiten. Obwohl Gerónimo de la Gándara das Stipendium gewann, wurde er mit einer so genannten »pensión ordinaria« ausgezeichnet, während Jareño de Alarcón eine so genannte »pensión extraordinaria« erhielt. Das Auslandsstipendium wurde ihnen durch eine königliche Order vom 29. September 1848 erteilt (vgl. Sig.: 50-1/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 51 «Acta de oposición á las plazas de pensionados por la Arquitectura« (vgl. Sig.: 49-7/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 52 Die Zeichnung von Francisco Jareño de Alarcón befindet sich im Kupferstichkabinett (Gabine de dibujos) der Madrider Real Academia de Bellas Artes de San Fernando (Inv.-Nr.: A-5850). Zu näheren Angaben zu der Arbeit Jareños vgl. folgende Schrift: Arbaiza Blanco-Soler, Silvia/Heras, Carmen, Inventario de los dibujos arquitectónicos (de los siglos XVIII y XIX) en el Museo de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando (III), in: Academia. Boletín de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando. Primer y segundo semestre de 2002. Nos. 94 y 95, S. 238. 53 Paul Marie Letarouilly (wie Anm. 47), Vol. 1, 1840, Pl. 25. Zu der Beschreibung der Kapelle vgl. Le tarouilly (wie Anm. 47), Textband, Paris 1868, S. 160–161. Nach der Sichtung des in der Bibliothek der Madrider »Escuela Técnica Superior de Arquitectura« aufbewahrten Exemplars des Textbandes zu den Tafelbänden vom Werk Letarouillys befindet sich die Beschreibung der Tafel 25 auf S. 166–167. Der Textband ist ebenfalls 1868, aber beim Verlag »Typographie de Firmin Didot Frères« erschienen.
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Protokoll der Prüfung selbst. Dort heißt es: »En seguida se dieron copias por mi el infrascripto á dichos opositores, […]«.54 Durch die Schattenwirkung gewinnt das, was im Werk Letarouillys flach erscheint, an Plastizität. Auf diesen Sachverhalt ist im Rahmen dieser Veröffentlichung zum ersten Mal hingewiesen worden.55 Vor diesem Hintergrund kann man davon ausgehen, daß sich das Werk Lataouillys nicht ab 1849 im Besitz der Bauschule von Madrid befand, wie Prieto González behauptet, sondern bereits vor diesem Datum.56 Die Verbreitung dieses Werkes scheint nicht nur auf Spanien und auf die Madrider Schule beschränkt gewesen zu sein. Folgt man den Ausführungen von Harry F. Mallgrave in seiner intellektuellen Biographie zu Gottfried Semper (1803–1879), stellt man fest, daß der deutsche Architekt den ersten Band derselben Schrift während seines Pariser Aufenthaltes im Winter 1838/39 bestellte, um diesen zu Unterrichtszwecken an der Dresdener Akademie zu verwenden.57 Bei dem zweiten hier zu besprechenden Blatt bleibt die Verbindung zu Zabaleta und zu seinen Schülern Jareño de Alarcón und De la Gándara sowie auch zu Semper durch die Darstellung dieser Arbeit im europäischen Kontext erhalten. Die Verbindung mit Europa wurde bei der zuvor besprochenen Zeichnung Jareños nicht nur auf die Vermittlung von manchen in Madrid ansässigen ausländischen Buchhändlern wie Casimiro Monier zurückgeführt, sondern auch im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit und dem Auslandsaufenthalt von spanischen Architekten wie Zabaleta betrachtet. Unterstützt durch ihre später einsetzende Lehre an den entsprechenden Akademien und Architekturschulen führten die zuvor erwähnten Aspekte zur Verbreitung bestimmter Werke in den europäischen Bildungsanstalten. In diesen Veröffentlichungen artikuliert sich ein als allgemein zu bezeichnender europäischer Wissensbestand, der zum Europabild von Bildung und Wis-
54 »Sofort wurden Kopien von dem Unterzeichneten verteilt.« (Vgl. Sig.: 49-7/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 55 Zwar erwähnt José Manuel Prieto González in seiner bereits zitierten Veröffentlichung die Zeichnung Jareños und bringt die entsprechende Abbildung dazu (vgl. Prieto González (wie Anm. 6), S. 98 und Abb. 2, 2a). Ein Hinweis auf das Werk Letarouillys fehlt in diesem Zusammenhang ganz. Bei der Wiedergabe der von der Architekturschule gestellten Aufgabe fehlt ebenfalls in dieser Publikation der entscheidende Hinweis auf die Schattenwirkung. Es wird nur mit den Worten beschrieben: »Inventar el adorno de un trozo de friso«. Der hier beschriebene Vorgang bildet nicht nur ein Beispiel für den dargestellten Sachverhalt, sondern kann auch allgemein für eine Praxis gelten, die an der Madrider Bauschule im Zeichenunterricht üblich war und sich anhand anderer Beispiele veranschaulichen lässt. Damit werde ich mich im Rahmen meines jetzigen Forschungsvorhabens ausführlich befassen (vgl. Anm. 1). 56 José Manuel Prieto González nimmt an, dieses Werk kam über die Buchhandlung von Casimiro Monier erst 1849 in den Bestand der Madrider Architekturschule (wie Anm. 6, S. 89). Tatsächlich gibt es eine Auflistung von Büchern, unterschrieben von Casimiro Monier am 31. Januar 1848, auf der die Schrift »Édifices de Rome Moderne« aufgeführt wird. Diese Liste wurde auch von Mariano Calvo, Professor an der Madrider Schule und Sekretär derselben Einrichtung, am 10. Februar 1848 mit dem Hinweis unterschrieben: »Las obras que aparecen en la anterior cuenta hán sido revisadas y esisten completas en la Sala Biblioteca dela Escuela Especial de Arquitectura« (Die Werke, die in dieser Auflistung aufgeführt werden, wurden überprüft und befinden sich komplett in den Bibliothekssälen der Escuela Especial de Arquitectura). 57 Vgl. Harry F. Mallgrave, Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century, New Haven/London 1996, S. 126 und Anm. 120, S. 394.
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senschaft beiträgt und an dem Spanien auch partizipiert. Die Anbindung an Europa wird durch die jetzt zu besprechende Arbeit illustriert, indem sie die Beteiligung Spaniens an den auf europäischer Ebene geführten Diskursen, d.h. im Zusammenhang ihrer Darstellung im Kontext der europäischen Polychromie-Debatte zeigt.
Farbe: Die europäische Polychromie-Debatte – Italien oder Griechenland? Die Beschäftigung mit Griechenland, aus der dieses Blatt entstanden ist, kann als Ergebnis der Farbuntersuchungen betrachtet werden, die europäische Architekten seit dem Ausgang des 18. und dem frühen 19. Jahrhundert zunächst an den antiken Baudenkmälern, hauptsächlich in Großgriechenland und Griechenland, vornahmen. Ihre öffentliche Bekanntmachung und Verbreitung durch Ausstellung und Publikationen führte zu der so genannten Polychromie-Debatte des 19. Jahrhunderts. Als Ausdruck dieser Polemik können bestimmte Anweisungen für Architekten gewertet werden, die in Spanien nach der Gründung der Madrider Architekturschule und nach dem zuletzt im Rahmen dieses Aufsatzes besprochenen Schreiben vom 15. September 1847 von einigen der selbst an der europäischen Polychromie-Streit beteiligten spanischen Architekten verfasst wurden. In diesem Zusammenhang wird zunächst auf den Entwurf für eine neue Anweisung aufmerksam gemacht, mit der versucht werden sollte, den Aufenthalt spanischer Architekten im Ausland erneut zu reglementieren: »Proyecto de reglamento para los trabajos artísticos obligatorios que deben ejecutar los pensionados españoles para estudiar la Arquitectura en el extranjero«.58 Verfasst im November 1848 von zwei ehemaligen Auslandsstipendiaten und späteren Mitgliedern der Madrider Akademie, Zabaleta und Álvarez y Bouquel, hält dieser Entwurf die Pflichtübungen fest, die die Stipendiaten während ihres Auslandsstipendiums zu absolvieren hatten. Obwohl zunächst auf Rom und auf seine Bauten eingegangen wird, halten die Autoren unmittelbar danach die Bedeutung anderer Städte Italiens sowie auch anderer nicht römischer oder griechischer Monumente fest, die für die Ausbildung spanischer Stipendiaten im Ausland wichtig geworden sind. Danach sollen diese neben dem Studium der griechischen und römischen Architektur auch die Freiheit genießen, sich anderen Epochen und Stilen zu öffnen und sich somit anderen Architekturen wie der byzantinischen oder der Architektur der Renaissance zuzuwenden. Indirekt würde die Konfrontation mit diesen historischen Epochen den spanischen Stipendiaten dazu verhelfen, ihre Ausbildung während ihres Auslandsaufenthaltes zu vervollkommnen. Auf diesen Aspekt der Vervollkommnung wird immer wieder in den verschiedenen Texten der Anweisungen für spanische Architekten hingewiesen. Als ebenso 58 »Projekt einer Anweisung für die künstlerischen Pflichtübungen, die die spanischen Auslandsstipendiaten im Fach Architektur auszuführen haben« (vgl. Sig.: 30-2/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). Es existiert dasselbe Schriftstück vom 17. November 1848, das vom ehemaligen Sekretär der Architektur-Abteilung (Sección de Arquitectura) der Akademie, Eugenio de la Cámara, unterzeichnet wurde (vgl. Sig.: 50-5/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). Dieser Entwurf, der von der Architektur Abteilung der Madrider Akademie bewilligt wurde, sollte von der Akademie an die spanische Königin Isabella II. zur Genehmigung weitergeleitet werden.
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wichtig werden in diesem Zusammenhang die über die Bauten der Renaissance und der byzantinischen Architektur von den Stipendiaten angefertigten Blätter angesehen, wenn in dem hier besprochenen Entwurf von der an der Madrider Architekturschule erteilten Lehre die Rede ist. Die Vervollständigung der Sammlung von Zeichnungen aus den verschiedenen Epochen der Kunst, die zu Lehr- und Lernzwecken verwendet wurde, stand auch im Mittelpunkt des Interesses. Dies kann am Beispiel des folgenden Textauszuges aus diesem Entwurf festgestellt werden: La escuela especial de Arquitectura necesita para su mas cumplida enseñanza mayor número de detalles que el que han podido proporcionarla sus profesores, de las arquitecturas llamadas del renacimiento y bizantina; y estos detalles solo pueden suministrarlos los pensionados con la verdad y exactitud de medidas que son indispensables para llenar debidamente el objeto.59
Die Zuwendung zu bereits vergangenen Epochen erweckte auch das Interesse für die Monumente Spaniens sowie für diejenigen in seinen Kolonien. Die Ausschreibung eines Auslandsstipendiums für spanische Architekten im Juli 1848 koinzidiert mit einem Schreiben desselben Álvarez y Bouquel. In diesem regt er das Studium der Architektur Spaniens, in allen seinen Epochen und Stilen, an und schlägt dafür die Schaffung eines dem Stipendium für das Ausland vergleichbaren Einrichtung vor. Mit dessen Hilfe sollten die Stipendiaten die Monumente Spaniens, der anliegenden Inseln und seiner Besitztümer in der Übersee genau analysieren und zeichnen können.60 Mit königlicher Order vom 8. Oktober 1850 werden die Reisen in die verschiedenen Städte Spaniens von Angehörigen der Madrider Architekturschule offiziell anerkannt und vom Staat finanziert.61 Die erste Reise unternahm eine Anzahl von Studierenden der Madrider Schule unter Leitung von Zabaleta nach Toledo.62 In dem Entwurf für ein Auslandstipendium für spanische Architekten von 1848 wird neben den bereits erwähnten Aspekten zum ersten Mal Griechenland der Vorrang vor Italien eingeräumt. Bei dem nur auf drei Jahre beschränkten Auslandsaufenthalt sollten die Stipendiaten das erste Jahr in Griechenland verbringen. In diesem Zeitraum waren sie verpflichtet, der Akademie vier Zeichnungen mit Details griechischer Architektur zuzusenden. Außerdem sollten sie im selben Jahr zwei weitere Zeichnungen mit Details byzantinischer Architektur anfertigen, von der Griechenland so viele Bauten beherbergt,
59 »Die Spezialschule für Architektur braucht, um den Unterricht entsprechend bewältigen zu können, eine größere Anzahl von Detailblättern der so genannten Architektur der Renaissance und Byzanz als ihr bislang von den Professoren zur Verfügung gestellt worden ist. Diese Detailblätter können mit der entsprechenden Wahrheit und Genauigkeit nur von den Stipendiaten angefertigt werden.« (vgl. Proyecto de reglamento (wie Anm. 58), nicht paginiert). 60 Vgl. Schreiben vom Álvarez y Bouquel vom 8. August 1848 (vgl. Sig.: 30-2/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 61 Vgl. Clemente Barrena et al., Calcografía Nacional. Catálogo general, Bd. 1, Madrid 2004, S. 573. 62 Vgl. Sig. 32-5/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca. Bei den unternommenen Reisen in die verschiedenen Provinzen Spaniens und bei den dort von den Studierenden angefertigten Blättern wurde der Corpus angelegt für die seit 1856 erschienene und von der spanischen Regierung herausgegebene Reihe der »Monumentos Arquitectónicos de España«. Eine erste öffentliche Präsentation der Bände aus dieser Reihe fand auf der Pariser Weltausstellung von 1867 statt (vgl. Deutsche Bauzeitung. Wochenblatt des Architekten-Vereins zu Berlin, Berlin, den 19. Juli 1867, S. 289).
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wie es im Entwurf dieser Anweisung heißt. Das zweite und dritte Jahr sollten sie in Rom verbringen. In dieser zweiten Etappe ihres Auslandsaufenthaltes konnten sie ebenfalls Großgriechenland und Neapel besuchen. Die in diesem Zeitraum anzufertigenden Blätter beschränkten sich nicht nur auf die Bauten der klassischen Antike Roms, sondern sollten ebenfalls Beispiele aus der Architektur der Renaissance beinhalten. Am Ende des dritten Jahres waren sie verpflichtet, die Rekonstruktion eines Monuments vorzunehmen, das der Stipendiat selbst auswählen konnte. Auch wenn dieser Entwurf nur ein solcher geblieben ist, gab er die Richtung für spätere Anweisungen für Architekten vor. Die dort festgestellte Verschiebung des Interesses von Italien auf Griechenland sowie die Beschäftigung neben der klassischen Antike mit anderen architektonischen Epochen, wie der byzantinischen und der Renaissance, findet seine Fortsetzung in der Anweisung vom 6. Februar 1851: »Reglamento á que deberán sujetarse los pensionados Españoles para estudiar la Arquitectura en el Extragero«.63 Auch wenn es hier im Vergleich zu dem oben besprochenen Entwurf von 1848 erneut vorgeschrieben wird, daß das erste Jahr in Rom und nicht in Griechenland zu verbringen sei, soll diese Stadt nicht nur mit seinen antiken Monumenten wahrgenommen werden, sondern auch nach den Bauten vom 10. bis zum 15. Jahrhundert erkundet werden können. Das zweite Jahr soll der Stipendiat in Neapel, Großgriechenland (Sizilien) oder in Griechenland selbst verbringen. In diesem Zeitraum wäre die Aufmerksamkeit der Stipendiaten ausschließlich der griechischen Architektur zu richten. Der zuvor skizzierte Hintergrund, bei dem die verschiedenen zwischen 1848 und 1851 verfassten Entwürfe sowie Anweisungen für spanische Architekten und die dort erhaltenen Änderungen dargestellt wurden, können als Ausdruck der Diskurse und Debatten ausgelegt werden, die von den europäischen Architekten im 19. Jahrhundert geführt wurden. Diese bilden den inhaltlichen Rahmen für die Behandlung des farbigen Blattes eines spanischen Architekten, das im Kontext der europäischen Polychromie-Debatte im Folgenden dargestellt wird. Die 1838 datierte, aber nicht signierte Bleistiftzeichnung stellt drei mit Wasserfarben kolorierte Architekturfragmente dar (Abb. 3). Bislang ging die Forschung bei der Behandlung und Zuschreibung dieses Blattes davon aus, es handele sich – ähnlich wie bei der Zeichnung Jareños – um eine Übung, die von einem spanischen Architekten im Rahmen einer Bewerbung auf ein Auslandsstipendium angefertigt wurde.64 Ein Vergleich mit den farbigen Blättern, die im ersten Band der Zeitschrift »Archaiologike Ephemeris«65 1837 erschienen sind, erlaubt aber, andere Schlussfolgerungen zu ziehen. 63 »Anweisung, nach der sich die spanischen Stipendiaten zum Zweck des Studiums im Ausland zu richten haben« (vgl. Sig.: 49-7/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca). 64 Diese Zeichnung befindet sich im Graphischen Kabinett (Gabinete de dibujos) der Madrider Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Inv.-Nr.: A-5889 (Vgl. Arbaiza Blanco-Soler, Silvia/Heras, Carmen, (wie Anm. 52), S. 163. Bei der Datierung handelt es sich um eine auf der Vorderseite des Blattes mit Bleistift vorgenommene Eintragung: »1838«. 65 Meine Ausführungen zu dieser Zeitschrift stützen sich auf folgenden Aufsatz: Rena Fatsea, Architektur und Archäologie: die Verflechtung der Diskurse über Polychromie in Griechenland, in: Gottfried Semper (1803–1879). Griechenland und die lebendige Architektur, hg. v. Sokratis Georgiadis, Köln 2005, S. 123–151. In dem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass bei der Übersetzung des in grie-
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Die in griechischer Sprache veröffentlichte Zeitschrift stellt das Organ der im selben Jahr 1837 gegründeten »Archäologischen Gesellschaft zu Athen« dar. Zum Hauptziel dieser Gesellschaft gehörte die Veröffentlichung archäologischer Funde in Wort und Bild sowie die allgemeine Information der Öffentlichkeit über archäologische Themen.66 Diesem Anspruch entsprechend veröffentlichte der anerkannte Gelehrte und Philologe Alexandros Rhizos-Rhankabes (1809–1892) in der dritten Ausgabe der Zeitung (Dezember 1837) den Aufsatz »Darstellung des Schicksals der antiken Monumente Griechenlands in den letzten Jahren«. Folgt man den Ausführungen von Fatsea, »handelt es sich um die erste einigermaßen zusammenfassende Betrachtung aller Architekturfragmente mit Farbspuren, die der Spaten der Archäologie auf dem Areal der Akropolis in letzter Zeit ans Licht gebracht hatte […]«.67 Einige dieser Bauteile hatten zur Illustration der ersten drei Hefte der Zeitschrift gedient. Es handelt sich aber hierbei um schwarzweiße Lithographien. Wie die Autorin weiter feststellt, fehlte bei diesen Abbildungen die Farbe. Auf diese kam es aber an, wenn man vom Inhalt des Aufsatzes von Rhizos-Rhankabes erfährt, nämlich die Behandlung der europäischen Polychromie-Debatte. Bevor er auf die verschiedenen historiographischen Positionen zur Polychromie-Frage, das heißt auf die polemischen Ansichten zu diesem Thema eingeht, räumt er aber ein, »daß die farbige Bemalung der antiken Denkmäler, vor allen denjenigen, die den glanzvollen Epochen griechischer Architektur angehören, eine völlig umstrittene Tatsache ist […]«.68 Damit wäre die Hauptthese in dieser Polemik angesprochen, die von einem der wichtigsten Vertreter der europäischen Polychromie-Debatte verfochten wurde: Gottfried Semper. Bei der Darstellung der zeitgenössischen Positionen geht Rhizos-Rhankabes nicht nur auf Semper, sondern auch auf Jakob Ignaz Hittorff, Desiré Raoul-Rochette und Franz Kugler ein. Nicht aber Sempers Ansicht von der vollständigen Bemalung antiker Tempel, sondern Kuglers Position im Polychromie-Streit, nach welcher Farbe im Wesentlichen nur als Dekoration der architektonischen Glieder erscheint, wird zuletzt von Rhizos-Rhankabes in seinem Aufsatz verteidigt. In diesem Zusammenhang findet der erste öffentliche Bezug auf das theoretische Werk Sempers von griechischer Seite her statt, d.h. die Erwähnung seiner Schrift »Vorläufige Bemerkungen« (1834).69 Besonders wichtig ist es daher, die Serie farbiger Abbildungen, die – in wenigen Exemplaren vorhanden – die zwei ersten Hefte der Zeitschrift (von Oktober bis Dezember 1837) illustrierten, zu betrachten.70 Bei diesen farbigen Blättern handelt es sich um die Darstellung von Resten des Vorparthenon. Ein Vergleich zwischen den farbigen Illustrationen und der von dem spanischen Architekten angefertigten Zeichnung lässt einige Ähnlichkeiten
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chischer Sprache verfassten Aufsatzes ins Deutsche der Zeitschriftentitel »Archaiologike Ephemeris« irrtümlicherweise mit »Archäologische Zeitung« übersetzt wurde. Vgl. Rena Fatsea (wie Anm. 65), S. 129. Vgl. ebd., S. 133ff. Vgl. ebd., S. 135f. Vgl. ebd., S. 136. Die umfangreiche Serie farblithographischer Abbildungen ist in ganz wenigen Exemplaren der Zeitschrift erhalten. Ein Exemplar davon befindet sich in der Gennadios-Bibliothek in Athen. Aus diesem Exemplar stammen die hier wiedergegebenen Abbildungen. Vgl. Abb. 5 in diesem Text und weiter Rena Fatsea (wie Anm. 65) Anm. 19, S. 148.
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erkennen. Die formale Komposition des Blattes lehnt sich aber an ein anderes Blatt an, das wahrscheinlich nur in der gängigen Ausgabe der Zeitschrift vorhanden war und mir bis jetzt nur anhand der Reprint-Ausgabe der Zeitschrift von 1990 als schwarzweiße Abbildung (Abb. 4) bekannt ist.71 Meiner Meinung nach übernahm der spanische Architekt die Aufeinanderfolge der drei Bauglieder als kompositorisches Element für die Gestaltung seines Blattes. Insbesondere das dritte Architekturfragment ist in beiden Fällen identisch. Dasselbe Fragment befindet sich aber einzeln dargestellt im zweiten Heft der Zeitschrift »Archaiologike Ephemeris« von 1837, wie anhand der in der Gennadios-Bibliothek erhaltenen farbigen Ausgabe der Zeitschrift festgestellt werden kann (Abb. 5).72 Die zwei oberen Architekturteile sind nach einer anderen Vorlage gestaltet, wobei bei dem mittleren Baufragment Ähnlichkeiten mit der in der Ausgabe vom Oktober 1837 veröffentlichten farbigen Zeichnung konstatiert werden können.73 Bezüglich der Datierung und der Zuschreibung der von einem spanischen Architekten stammenden Zeichnung muss diese aus den zuvor dargelegten Gründen nach 1837 bzw. 1838 entstanden sein. Bei dem Autor muss ebenfalls davon ausgegangen werden, daß er die in der griechischen Zeitschrift veröffentlichten Blätter kannte, sie aber variierend als Vorlage für die Komposition seiner eigenen Arbeit benutzte. Statt von einer Übung zur Bewerbung auf das Auslandsstipendium sollte hierbei eher davon ausgegangen werden, daß es sich um ein Werk handelt, das im Rahmen des von den Architekturstudenten zu absolvierenden Zeichenunterrichts oder von einem Stipendiaten während seines Auslandsaufenthaltes angefertigt wurde.74 Aufgrund der Artikelserie, die in der Zeitschrift von 1837 bis 1842 zu Fragen der Polychromie an antiken Baudenkmälern veröffentlicht wurde und in welcher die verschiedenen Positionen zu dieser Debatte zum Ausdruck kamen, muss zugleich davon ausgegangen werden, daß bei dem spanischen Autor ein spezifisches Interesse an diesem Thema bestand. In diesem Fall kommen nur drei Namen von spanischen Architekten in Frage: Antonio de Zabaleta und seine beiden Schüler Jareño de Alarcón und De la Gándara. Alle drei sind Auslandsstipendiaten gewesen und später Lehrer an dem Madrider »Escuela especial de Arquitectura«. Zabaleta setzte sich unmittelbar nach seinem Aufenthalt in Italien und seiner Rückkehr nach Spanien 1836 mit dem Thema der Polychromie auseinander. In der Zeitschrift »No me olvides« veröffentlichte er 1837 den Aufsatz »Arquitectura«, der die erste in spanischer Sprache verfasste Schrift zur Farbe in der klas-
71 Soweit ich feststellen kann, erscheint dieses Blatt in der Ausgabe von November 1837 als schwarzweiße Illustration. Die Reprint-Ausgabe der Zeitschrift befindet sich in der Bibliothek des WinckelmannInstituts der Humboldt Universität zu Berlin. Wie mir von der Bibliothekarin der Gennadios-Bibliothek mitgeteilt wurde, ist dieses Blatt nicht in dem dort befindlichen farbigen Exemplar der Zeitschrift enthalten. 72 Vgl. Rena Fatsea, (wie Anm. 65), S. 138. 73 Vgl. ebd., S. 131. 74 Die Vermutung, dass es sich hierbei um eine Arbeit handeln könnte, die bei der Bewerbung auf ein Auslandsstipendium entstanden ist, wurde von den Autorinnen des Inventars der Architekturzeichnungen der Madrider Real Academia de Bellas Artes de San Fernando aufgestellt (wie Anm. 52, S. 163).
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sischen Architektur darstellt.75 Zehn Jahre später erschien in der ersten von ihm selbst zusammen mit dem Historiker Amador de los Ríos (1818–1878) gegründeten Architekturzeitschrift »Boletín de Arquitectura« den Aufsatz »Rápida ojeada sobre las diferentes épocas de la Arquitectura, y sobre sus aplicaciones al arte de nuestros días« (1846). Hier werden schon einige der wichtigsten europäischen Vertreter dieser Debatte erwähnt: Charles Robert Cockerell, Peter Olaf Brǿnsted, Abel Blouet, Gottfried Semper, Franz Kugler, Jacob Ignaz Hittorff. Die These von der Außenbemalung der griechischen Monumente wird auch in diesem Text referiert. Es ist aber wahrscheinlicher, daß dieses Blatt von einem der beiden Schüler Zabaletas, d.h. von De la Gándara und insbesondere von Jareño de Alarcón stammt. Folgende Gründe sprechen dafür: In seiner zunächst in Form einer Rede vorgetragenen Abhandlung »De la arquitectura policrómata« von 1867,76 die ihm Eingang in die Madrider Akademie verschaffte, bezieht sich Jareño de Alarcón auf seine Lehrer an der Madrider Architekturschule: Antonio de Zabaleta, Aníbal Álvarez und Domingo de la Fuente. Von ihnen erhielt er die ersten Kenntnisse zur Polychromie. Demnach heißt es in seiner Rede weiter: […], habiéndome ejercitado bajo su dirección en la copia de algunos miembros arquitectónicos pintados de colores, tales como tejas, acroteras, coronamiento de templos, entablamentos, etc.77
Er nimmt in dieser Textpassage auf das Kopieren von Baugliedern Bezug, die farblich gefasst waren: Dachziegel, Giebelverzierungen, Gesimse. Bezüglich des hier zu behandelnden Blattes und seiner möglichen Autorschaft könnte im Falle Jareños vom Anfertigen solcher Arbeiten im Zusammenhang mit der Lehre und im Rahmen seiner Architektenausbildung ausgegangen werden, wie seine eigene Äußerung belegt. Der entscheidende Beweis seiner Kenntnis der Architekturfragmente vom Vorparthenon, die als Vorlage zu der hier besprochenen Arbeit dienten, liefert auch Jareños Rede von 1867. Hier findet sich eine detaillierte und kenntnisreiche Darstellung der europäischen Polychromie-Debatte. Aus einer retrospektiven, zurückblickenden Haltung und aus den während der Zeit seines Auslandsstipendiums gesammelten Erfahrungen erteilt er genaue Auskunft über die wichtigsten Zentren dieser Debatte, über ihre Akteure und deren Schriften. Seine Angaben zu diesem Thema gehen somit über die von Rhizos-Rhankabes und von Antonio Zabaleta hinaus, die etwas früher als Jareño über diese Polemik referierten.
75 Die folgenden Ausführungen stützen sich z. T. auf meinen im Jahr 2002 gehaltenen Vortrag »Erscheinungsformen der Semper-Rezeption in Theorie und Architektur Spaniens des 19. Jahrhunderts«, den ich im Rahmen des internationalen Symposiums »Sempers Kosmos« (Internationales Symposium zum 200. Geburtstag von Gottfried Semper (1803–1879). Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, ETH Zürich, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln in Zusammenarbeit mit dem Architekturmuseum der TU München, Zürich und Einsiedeln, 13.–15. Juni 2002) in Einsiedeln hielt. 76 Francisco Jareño de Alarcón, De la arquitectura policrómata. Discursos leídos ante la Real Academia de Nobles Artes de San Fernando. En recepción pública, Madrid 1867. 77 «Unter ihrer Aufsicht übte ich mich im Kopieren einiger bemalten Bauglieder wie z.B. im Kopieren von Dachziegeln, Akroterien, Tempelbekrönungen, Gesimse usw.« (vgl. Francisco Jareño de Alarcón (wie Anm. 76), S. 15.
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Von Beginn seiner Ausführungen an bezieht er in dieser Debatte Stellung und macht auf den Gegenstand seiner Rede aufmerksam: die Anwendung der Farbe in der griechischen Architektur. In diesem Zusammenhang erklärt er, die seinerzeit verbreitete und zum allgemeinen ästhetischen Prinzip erhobene Meinung – wonach die Schönheit der griechischen Architektur und Skulptur nur auf die Form beschränkt sei – führe zur Ablehnung jeglicher Art von Ornament, worunter er implizit auch die Farbe fasst. Das Ornament wurde nach Jareño demnach als unpassend und aufgesetzt betrachtet. Dieses ästhetische Prinzip und die allgemeine Überzeugung versperrten den Weg für eine unvoreingenommene Untersuchung der Farbigkeit antiker Baudenkmäler, indem deren Ziel a priori abgelehnt wurde.78 So sei es nach ihm eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts gewesen, diese Untersuchung unternommen zu haben, die aber von langen Kontroversen begleitet wurde. Entsprechend den wichtigsten europäischen Zentren zur Polychromie-Debatte des 19. Jahrhunderts geht er bei der Schilderung dieser Kontroverse zuerst auf Frankreich ein und erwähnt in diesem Zusammenhang die Schrift von Quatrèmere de Quincy »Le Jupiter Olympien« (1815). Unmittelbar danach bezieht er sich auf Hittorff, Semper und Kugler. Die Rezeption Sempers, die in Jareños Vortrag an mehreren Stellen festgestellt werden kann, betrifft nicht nur dessen Schriften, die er teilweise auf Spanisch zitiert. Es gehen einige der theoretischen Hauptgedanken Sempers in Jareños Rede ein. Für unseren Zusammenhang wäre der wichtigste die Gleichsetzung von Bemalen und Bekleiden, die bei der Verwendung des Wortes »revestir« (Bekleiden) in Verbindung mit »color« (Farbe) zum Ausdruck kommt: »revestidos des colores«.79 Jareño geht ebenfalls auf England ein, dessen Einstieg in die Polychromie-Diskussion er mit der vom British Museum 1836 einberufenen Kommission zur Untersuchung der Elgin-Marbles verbindet. In diesem Zusammenhang führt Jareño auch den Beleg seiner Kenntnis der kolorierten Architekturfragmente an: Das Schreiben von Charles H. Bracebridge vom 17. April 1837, dem nach der Darstellung Jareños farbige Zeichnungen beigelegt waren, die vom Tempel der Minerva Polias, d. h. vom Erechtheion und Pandroseum abgenommen wurden. Dieses Schreiben war nicht von Zeichnungen, sondern von den Fragmenten selbst begleitet, »die die jüngsten Ausgrabungsergebnisse in der Umgebung des Parthenons im Winter 1835/36 erbracht hatten (unter ihnen befanden sich auch die oben besprochenen farbigen Fragmente aus der Archäologischen Zeitung)«.80 Da Jareño irrtümlicherweise die Zeichnungen erwähnt, nicht aber die Fragmente an sich, kann dies als Beleg seiner Kenntnis der entsprechenden farbigen Illustrationen gedeutet werden.81 78 Vgl. ebd., S. 9f. 79 Vgl. ebd., S. 14. Mit der Rezeption Sempers in Spanien habe ich mich in meinem Zürcher Vortrag auseinandergesetzt (s. Anm. 75). Dieser Aspekt wird im Rahmen meines jetzigen Forschungsprojektes ausführlich behandelt. 80 Vgl. Rena Fatsea (wie Anm. 65), S. 141 und Anm. 36, S. 150. Wie ich an einer anderen Stelle festgestellt habe, liegt in der Übersetzung des Aufsatzes von Fatsea ins Deutsche eine Verwechslung der Zeitschrift »Archäologische Zeitung« mit »Archaiologike Ephemeris« vor (vgl. Anm. 65). 81 Da diese farbigen Illustrationen nicht in den »Transactions of the Royal Institute of British Architects of London« vorkommen, muss davon ausgegangen werden, dass Jareño die Farbillustrationen aus der zuvor erwähnten griechischen Zeitschrift kannte (vgl. Transactions of the Royal Institute of British Architects of London, Bd. 1, T. 2, London 1842, S. 102–108).
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Im Jahr 1853 vermachte Jareño 2335 Zeichnungen in 1771 Blättern dem spanischen Staat. Diese Arbeiten entstanden in dem Zeitraum seines Auslandsaufenthaltes (1848–1852).82 Genaue Angaben zu den einzelnen Blättern sind aber nicht überliefert.83 Bei den Sendungen (envíos) des Jahres 1850, die der damalige Direktor der spanischen Stipendiaten in Rom, Antonio Solá, von Jareño der Madrider Akademie zusandte, finden sich keine zu griechischer Architektur im allgemeinen oder zum Parthenon im besonderen.84 Anders stellt sich die Lage im Falle von De la Gándara dar, der zusammen mit Jareño das Auslandsstipendium 1848 gewann. Im Gegensatz zu Jareño de Alarcón, der sich nicht in Griechenland aufhielt, initiierte De la Gándara unter den spanischen Stipendiaten des 19. Jahrhunderts die Griechenland-Reise. Bereits 1850, d.h. vor der Verabschiedung der Anweisung von 1851 und nach dem Entwurf von 1848, fertigte er die einzige uns überlieferte farbige Rekonstruktion des Parthenon an (Abb. 6).85 Dieses Blatt gehörte zu einer Reihe von anderen Arbeiten, die Antonio Solá 1851 der Madrider Akademie zusandte. Darunter werden fünf Blätter zu dem Parthenon gezählt, die aber nicht näher beschrieben werden.86 Manche dieser Arbeiten, sowohl von Jareño de Alarcón als auch von De la Gándara, fanden nachträglich Eingang in die so genannten »Exposiciones Nacionales de Bellas Artes«. In der ersten dieser Veranstaltungen, die 1856 stattfanden, sind Arbeiten von beiden der oben genannten Architekten ausgestellt worden. Die »Exposiciones Nacionales«, die ab 1856 jährlich veranstaltet wurden, sowie die zuvor von der »Liceo Artístico y Literario« und von der Madrider Akademie organisierten Ausstellungen dienten zur öffentlichen Bekanntmachung der Arbeiten von Architekten, die zum Teil ein Auslandsstipendium genossen hatten. Die zeichnerische Umsetzung der im Ausland erworbenen Kenntnisse konnte einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden und diente somit zur Verbreitung derjenigen Lehre, die dieselben Architekten über ihre Stellung an der Madrider Architekturschule ausübten.
Schlussbemerkung Meine Ausführungen zu diesem vierten und letzten Teil meines Aufsatzes möchte ich mit einem kurzen Hinweis auf diesen Aspekt abschließen, das heißt auf die Verbreitung von europäischen Vorbildern – die Architekturlehre betreffend – außerhalb Europas.
82 Vgl. Sig.: 31/14.877, Archivo General de la Administración de Alcalá de Henares. 83 Obwohl ein Inventar von diesem Konvolut existieren haben muss, das in der Madrider Akademie aufbewahrt werden soll, war es mir noch nicht möglich, dieses ausfindig zu machen. 84 Vgl. Schreiben vom 11. Juni 1851, Sig.: 50-1/1, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, ArchivoBiblioteca. Unter den eingereichten Arbeiten befinden sich Blätter zum Herkules-Tempel in Agrigrent (Sizilien), zum Grab von Hero und zum Dom von Palermo. 85 Es handelt sich um eine farbige Aquarellzeichnung mit folgendem Titel: Restauración de la fachada occidental del Partenón de Atenas, 1850. Das Blatt befindet sich in der Madrider Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca. 86 Vgl. ebd. Unter den von De la Gándara erwähnten Arbeiten befinden sich Blätter zu den Wandgemälden aus Pompeji, zum Parthenon, zum Erechtheion und zum Nike-Tempel.
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Mit anderen Worten: auf den Wandel europäischer Vorbilder in der außereuropäischen Fremde. Dieser letzte Aspekt wird anhand von wenigen Blättern exemplifiziert, die als Vorlage für die Arbeiten dienten, die von Absolventen des Studienfaches Architektur an der Universität Manilas (Philippinen) Ende des 19. Jahrhunderts angefertigt wurden. Da die Philippinen bis zu ihrer Unabhängigkeitserklärung am 12. Juni 1898 zu den spanischen Kolonien gehörten, stand die Universität Manilas vermutlich unter dem Einfluss der Madrider Akademie bzw. der Madrider Architekturschule. Dies würde die fast vollständige Übereinstimmung zwischen den Blättern erklären, die wahrscheinlich zunächst in Spanien (vermutlich Madrid) und später in Manila 1877 bzw. 1880 entstanden sind. Im Gegensatz zu dem in Madrid angefertigten Blatt (Abb. 7), das weder signiert noch datiert ist,87 tragen die aus Manila stammenden Blätter den Namen des Autors und das entsprechende Datum.88 Aus ihnen geht die Art dieser Übungen hervor: »Etudes Elementaires de Lavis« lauten etwa die Angaben auf einem Blatt von Agustin Tarlenco von 1880 (Abb. 8). Es handelt sich bei dieser Zeichnung um eine axometrische Darstellung einer korinthischen Säulenordnung. Wurde der Grand Tour von einigen Autoren als ein europaweites Phänomen aufgefasst, konnte zuletzt an solchen kulturellen Praktiken wie an der Architektenausbildung und Architekturlehre dargelegt werden, wie die Kenntnisse europäischer Architekten außerhalb Europas transportiert wurden. Am Beispiel Spaniens und seiner Kolonien konnte exemplarisch gezeigt werden, wie europäische Identitätsmuster wie die klassischen Säulenordnungen sogar über die Grenzen Europas hinaus gelangten. Die direkte Italien- und Griechenlanderfahrung wird durch die Systematisierung dieser Kenntnisse und deren Eingang in die Architekturlehre ersetzt und diese als weltweites Phänomen verbreitet.
87 Das Blatt befindet sich im graphischen Kabinett, d.h. in dem Gabinete de dibujos der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Inv.-Nr.: A-5853. (vgl. Arbaiza Blanco-Soler, Silvia/Heras, Carmen, (wie Anm. 52), S. 242. 88 Diese zwei Blätter gehören zu einer Mappe, die in der Abteilung »Sala Goya« der Madrider Biblioteca Nacional de España aufbewahrt ist, Inv.-Nr.: BA-3456.
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Abb. 1 Francisco Jareño de Alarcón, Übung zur Bewerbung auf ein Auslandsstipendium (Rom), 1848. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Gabinete de Dibujos Inv.-Nr.: A-5850
Abb. 2 Paul Marie Le Tarouilly, Édifices de Rome moderne ou recueil des palais, maisons, églises, convents, et autres monuments publics et particuliers les plus remarquables de la ville de Rome, Paris 1840, Bd. 1: »Plan, elevation et détails de la Chapelle S. Giovanni in Oleo située prés la Porta Latina«, Detail.
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Abb.2a Paul Marie Le Tarouilly, Édifices de Rome moderne ou recueil des palais, maisons, églises, convents, et autres monuments publics et particuliers les plus remarquables de la ville de Rome, Paris 1840, Bd. 1: »Plan, elevation et details de la Chapelle S. Giovanni in Oleo située prés la Porta Latina«.
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Abb. 3 Anonym, 1838. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Gabinete de Dibujos, Inv.-Nr.: A-5889
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Abb. 4 Archaiologike Ephemeris, November 1837, Reprint-Ausgabe von 1990. Winckelmann-Institut der Humboldt Universität zu Berlin
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Abb. 5 Archaiologike Ephemeris, 1837. Gennadios Library, American School of Classical Studies at Athens
Abb. 6 Gerónimo de la Gándara, Restauración de la fachada occidental del Partenón de Atenas, 1850. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Archivo-Biblioteca
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Abb. 7 Anonym, Capitel de orden jónico en perspectiva, undatiert. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Gabinete de Dibujos, Inv.-Nr.: A-5853
Abb. 8 Augustin Tarlenco, Etudes Elementaires de Lavis, 1880. Biblioteca Nacional de España, Inv.-Nr.: BA-3456
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Tony Garnier Das Romerlebnis und die Cité Industrielle (1901–1904) Die Legende will, daß der junge Tony Garnier 1899 als Träger des Prix de Rome für fünf Jahre an die Villa Medici kam, sich dort aber keineswegs, wie erwartet, dem Studium der Antiken in den römischen Ruinen widmete, sondern sich »statt dessen« in seinem Atelier einschloß, um die Vision einer modernen Großstadt zu entwerfen, die »Cité Industrielle«.1 Demnach wäre dieser Entwurf, der einen wirklichen Meilenstein in der Geschichte des modernen Städtebaues darstellt, ganz das Ergebnis einer vollkommenen Verweigerung der klassischen Italienerfahrung. Die Cité Industrielle, in Rom in bewußter Abwendung von den Antiken entstanden, wäre somit das Resultat einer programmatischen Abkehr von den Bildungstraditionen der École des Beaux Arts, die gerade von ihren Meisterschülern eine schöpferische Auseinandersetzung mit der Architektur des Altertums erwartete, hin zum wirklichen Leben, zur Gegenwart und zum industriellen Rhythmus einer neuen Zeit. Einzelne Äußerungen Garniers scheinen diese Haltung zu bestätigen, wie etwa die jugendlich provokante Bemerkung im Begleittext zu seiner Einsendung 1901: »Wie alle Architekturen, die auf falschen Prinzipien beruhen, war auch die der Antike ein Irrtum. Nur die Wahrheit ist schön«.2 Gleichwohl ist die Cité Industrielle in wesentlichen Teilen das Ergebnis einer intensiven Verarbeitung von Eindrücken und Einsichten, wie sie der Romaufenthalt bereithielt, auch wenn das Projekt nicht im antiken Stilgewand daherkommt, was natürlich ein »falsches Prinzip« gewesen wäre. Statt dessen folgt es in topographischer Disposition und Umrißfigur antiken Mustern, Orientierung und Binnengliederung sind offensichtlich römisch beeinflußt, und vor allem die Typologie der wirklich bemerkenswerten Wohnbauten muß als eine neuzeitliche Anverwandlung antiker Hofhausbildungen verstanden werden. Jedenfalls ist die Legende von der Italien1 So beispielsweise René Jullian in der Einführung zum Nachdruck der Cité Industrielle 1989. »Der Preisträger wollte keineswegs als ein konventioneller Stipendiat in die Villa Medici einziehen und war fest entschlossen, sich der Verpflichtung, die Monumente der Vergangenheit wiederherzustellen, so gut es ging zu entziehen.« In: Tony Garnier, Tübingen 1989, S. 9. Ähnlich auch der Tenor bei Giedion: »Um den Vorschriften des Preises zu genügen sandte Garnier der Pariser Akademie eine Rekonstruktion vom Grundriß des Tusculum, des Hauses von Cicero. So wie es vor ihm Henri Labrouste gegangen war so zeigte auch die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, einen ganz anderen Charakter. Dieser Träger des Grand Prix de Rome hatte sich vorgenommen, eine ganze Stadt neu zu planen …«. Sigfried Giedion, Raum, Zeit Architekur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965, S. 470. Über Labrouste hat Giedion, ebd., S. 159 ähnlich verfälschend geschrieben: »Trotzdem empfand er seinen Aufenthalt in Italien – der als höchste Ehrung seines Talents gedacht war – als systematische Entfremdung vom eigentlichen Leben. Er hielt mehr von Studien, die sich mit seiner eigenen Zeit befaßten.« 2 Archives de l’Academie de France à Rome, Villa Medicis. Zitiert nach Pierre Pinon, Les ›envoies de Rome‹: tradition et crise, in: Rassegna VI (März 1984), S. 16–21, hier S. 17, die franz. Fassung im Anhang n. p.
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und Antikenverweigerung angesichts der vielen Parallelen und Anregungen, die der Entwurf dem Romaufenthalt Tony Garniers verdankt, keineswegs länger aufrecht zu erhalten. Der Architekt selbst hat nie einen Hehl aus seiner römischen Prägung gemacht, und in der Cité Industrielle selbst wird nicht der geringste Versuch unternommen, das klassische Vermächtnis zu verschleiern. Auch hier muß die Geschichtsschreibung der Moderne von ihrer liebgewonnenen Mythenbildung um die angebliche Voraussetzungslosigkeit des Neuen Abschied nehmen. Als Standort seiner »Industriestadt für 35 000 Einwohner« hat Tony Garnier ein Plateau am Fuße eines Gebirges gewählt. Unterhalb in der Ebene windet sich ein schiffbarer Fluß, an dem die Arbeits- und Produktionsstätten liegen, Stahlwerke zur Aufbereitung der Rohstoffe aus den nahegelegenen Kohle- und Erzbergwerken, daneben Werften und Maschinenfabriken für die weiterverarbeitenden Industrien. Oberhalb der Stadt im Gebirge liegen tiefe und ausgedehnte Stauseen mit Turbinenkraft werken, die die elektrische Energie für die Industrie, aber auch für die neuartige Haus- und Heiztechnik der Wohnquartiere und für die modernen Verkehrssysteme erzeugen. Die Staumauern der Energiezentrale bilden eine gewaltige Wand, die wie eine Akropolis hoch über der Stadt liegt. Auf dem Plateau, das durch Anschüttungen hinter einem Bollwerk von riesenhaften Stützmauern völlig eben ist, liegt die Stadt des Wohnens und der Administration. Im Zentrum gruppieren sich die öffentlichen Bauten der Selbstverwaltung und der Arbeitsorganisation um ein städtisches Forum, dem auch die Versorgungseinrichtungen zur kostenlosen Verteilung der Lebensmittel und die Einrichtungen der Kultur und des Sports zugeordnet sind. Zu beiden Seiten erstreckt sich ein gleichförmiges Straßenraster mit Wohnvierteln, die überall parkartig durchgrünt sind. Die ganze Stadt besteht aus ein- bis zweigeschossigen Familienhäusern, große Appartementblocks gibt es nur im Bahnhofsviertel. Private Freiflächen sind allein auf den Dächern vorhanden, dafür aber wird auf abgetrennte Grundstücke mit Gärten verzichtet. Zwischen den Häusern verlaufen überall Wege in den öffentlichen Grünflächen, die eine flächige Kommunikation unabhängig vom Raster der Straßen und Plätze ermöglichen. In der Cité Industrielle gibt es keine Kirchen und keine Gefängnisse, was Garnier damit begründet, daß das Privateigentum an den Produktionsmitteln und an Grund und Boden abgeschafft ist. Da damit dem Grundübel aller Gesellschaftsordnung überhaupt – dem Neid auf fremdes Eigentum – der Nährboden entzogen ist, sind auch keine Einrichtungen zur Bestrafung von Missetätern mehr nötig. Die allgemeine Gerechtigkeit hat die Triebkräfte jedweder Kriminalität stillgelegt, und auch die Institutionen zum Einlullen des Volkes – die Kirchen – sind deshalb überflüssig geworden. Statt dessen gibt es in jedem Quartier eine Vielzahl von Schulen, die ein hohes Bildungsniveau in jeder Fachrichtung und auf allen Stufen der Formation ermöglichen und die wegen ihrer überragenden Bedeutung auch architektonisch das Gesicht der einzelnen Viertel bestimmen. Oberhalb der Stadt auf halbem Wege zu Stausee und Kraftwerken liegen die Heilstätten, die in der freien Landschaft nur Luft und Sonne ausgesetzt, der Gesundheitspflege und Krankenfürsorge dienen. Abseits liegt der Friedhof, der steinern und kompakt wie eine Totenstadt der Stadt der Lebenden entgegengestellt ist. Unterhalb des Plateaus befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite im Osten das Universitätsviertel, dahinter liegt das Kommunikationszentrum mit Bahnhof, Uhrenturm
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und Post. Fernbahnlinien mit Hochgeschwindigkeitszügen verbinden die Cité Industrielle mit dem Rest der Welt. Die Modernität von Tony Garniers idealer Industriestadt liegt vor allem in ihrer durch und durch rationalen Organisation begründet, die allen Lebensbereichen einen besonderen Ort zuweist. Zum ersten Mal sind in diesem Stadtentwurf Wohnen und Arbeiten strikt getrennt, die kategorische Forderung des neuzeitlichen Städtebaus überhaupt wird hier zum ersten Mal theoretisch umgesetzt. Zum ersten Mal auch gibt es neben dem öffentlichen Raum von Straße und Platz ein zweites Erschließungssystem, das eine ungerichtete flächige Durchquerung der Quartiere in parkartigen Grünzügen erlaubt. Mit Recht gilt deshalb die Cité Industrielle als der Beginn des modernen Städtebaus, der mit dem bis zu Hausmanns Planungen selbstverständlichen Prinzip der »rue corridore« bricht und dennoch – anders als die ländliche Idylle der Gartenstadtbewegung – ganz und gar urban, industriell-großstädtisch konzipiert ist. Die Organisation der Cité Industrielle muß somit als eine Neuerung ohne Präzedenz gesehen werden, in der architektonischen Form jedoch bleibt die Modernität des Entwurfs klassischen Mustern verpflichtet. Zwar sind alle Gebäude der idealen Industriestadt aus Beton errichtet, aber nur ausnahmsweise – in den filigranen Turm- und Schalenbauten des Bahnhofsviertels – verwendet Tony Garnier den neuen Baustoffen, den konstruktive Möglichkeiten entsprechend, im stahlbewehrten Skelettbau. Statt dessen sind die meisten Gebäude aus massivem Gußmauerwerk errichtet, in der eigentlich antik-römischen Technik des opus caementitium also, und eben dies verleiht vor allem seinen Wohnhäusern eine klassische Note, die souverän alle Moden und Zeitströmungen ignoriert. Man hat deshalb Tony Garnier einen Architekten der »modernen Akropolis« genannt und seine Betonarchitektur mit der »mediterranen« Tradition in Verbindung gebracht.3 Dies trifft gewiß zu, aber in der Cité Industrielle liegen diese Bindungen an die römische Tradition noch tiefer, und sie gehen unmittelbar auf die Eindrücke des Romaufenthaltes zurück. Vor allem in Lage, Orientation, Grundrißfigur und Gebäudetypologie sind die Anregungen aus der antiken Welt und der römischen Umgebung des Stipendiaten unübersehbar. Die Gesamtanlage der Cité Industrielle ist exakt nach den vier Himmelsrichtungen orientiert. Der Nordpfeil ist an prominenter Stelle – und größer als üblich – auf dem Lageplan eingetragen. Auch auf den Einzelplänen der Häuser ist die Nordrichtung der Wohnstraßen, dem die Ausrichtung der Mauern exakt folgt, jedesmal aufs Neue bekräftigt. Von Ost nach West wird die Cité Industrielle wie eine römische Kolonialstadt von einem extrem langen Decumanus durchzogen, im rechten Winkel dazu von einem sehr viel kürzeren Kardo. Dort wo sich beide schneiden, liegt das Forum mit den öffentlichen Bauten der Stadt, die nach dem Muster der offenen antiken Wandelhallen angelegt sind, die die Römer Porticus, die Griechen Stoa nannten. Daneben liegt ein offenes Theater in klassische Formen, unweit davon eine gedeckte Schwimmhalle, die sich nach Raumfolge, symmetrischer Organisation, Lichtführung und selbst im monumentalen architektonischen Gestus ohne weiteres als moderne Anverwandlung einer antiken Großtherme zu
3 Anthony Vidler, L’Acropole moderne, und Pierre Pinon, Le béton et la Méditerranée, beide in: Tony Garnier, L’œuvre complète (Ausst.-Kat.), Paris 1990.
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erkennen gibt. In Umrißfigur und Binnengliederung, in der architektonischen Gestalt der Cité Industrielle, und selbst in der Typologie der großen öffentlichen Bauten ist deshalb nichts anderes zu sehen, als eine moderne, industrielle Variante über die elementaren Ordnungsprinzipien der antik-römischen Stadt. Selbst die antike Doppelung der Stadt der Lebenden und der Stadt der Toten ist mit dem abseits gelegenen Champs des Morts aufgegriffen, der zudem bis hin zum Grundrißschema und dem steinernen architektonischen Charakter seiner Gräberstraßen ein komplementäre Abbild der bewohnten Stadt sein will. Als Chiffre des Jenseitigen jedoch ist die Zufahrtstraße um 90°, die Orientierung der Gräberstraßen um exakt 80° gegenüber dem Raster der Stadt gedreht, um genau zehn mal die Ewigkeitszahl Acht also. Sogar die antike Gewohnheit, die Totenstädte im Westen, die Hoffnungsquartiere im Osten anzuordnen, ist beibehalten, wobei in der Cité Industrielle die antiken Tempel durch die Kultstätten der Bildung und des Fortschritts – die Schulen, Universitäten, das Bahnhofsviertel und die Forschungslaboratorien der Ingenieure – ersetzt sind. Dies alles ist somit eine bis in die Einzelheiten durchdachte moderne Aneignung der römischen Stadttypologie, ein wohlüberlegtes Spiel mit den Vorlagen der antiken Stadtkultur, die manchmal in direkter Analogiebildung, gelegentlich sogar wörtlich zitiert, meist aber verfremdet werden und immer mit den Notwendigkeiten und Hoffnungen des modernen Lebens belegt sind. Es steht ganz außer Frage, daß dieser kunstvolle und hochliterarische Umgang mit den antiken Mustern ein umfassendes und zugleich sehr in die Einzelheiten gehendes Antikenstudium voraussetzt. Wir wissen, daß Tony Garnier wie jeder Stipendiat der Französischen Akademie architektonische Detailstudien vor den römischen Denkmälern durchgeführt hat, Bauaufnahmen und zeichnerische Dokumentationen des Bestandes, auf deren Grundlage dann eine hypothetische Rekonstruktion zu erarbeiten war. 1901, parallel zum ersten Entwurf der Cité Industrielle, arbeitete er an einer Aufnahme des Tabulariums, des römischen Archivs auf dem Kapitol. Im zweiten Jahr schickte er eine Bauaufnahme nebst Rekonstruktion des Titusbogens, im dritten und vierten Jahr eine sehr umfangreiche Dokumentation von Tusculum, ergänzt durch Idealansichten der Stadt aus ihrer Blütezeit. Die Aquarelle der Gesamtansichten lassen ahnen, welche Faszination die auf einem hohen Bergrücken des Albanergebirges gelegene von einer Akropolis überragte antike Stadt auf den jungen Architekten ausgeübt hat. Unmerklich gehen Rekonstruktion und Dokumentation ineinander über, der antike Bestand mischt sich kaum unterscheidbar mit den vor Ort aquarellierten zeitgenössischen Landhäusern und ganz offensichtlich ist die Kontinuität des Bauens, die Präsenz der Antike in Topographie und Architektur Latiums, das eigentliche Thema dieser Blätter. Der lavierte, mit plastischen Schatten überhöhte Grundriß des Forums zeigt zudem eine souveräne Kenntnis der antiken Bautypologien, insbesondere auch der römischen Hofhäuser, die hier als asymmetrische Varianten des rigiden Atriumsschemas in ganz verschiedenen formalen Entwicklungen gezeigt werden. Zu eben dieser Zeit entstand die zweite Fassung der Cité Industrielle, die nunmehr in einem großen, sehr detaillierten Plan von 3,15 x 2,17 m die erste, noch ganz schematische und viel kleinere Fassung von 1,50 x 1,05 m ersetzte. In dieser zweiten Fassung sind die Studien in Tuculum in variationsreichen Entwürfen über die antiken Typologien verarbeitet und insbesondere die im Maßstab 1:50 gezeichneten Hausgrundrisse lassen erkennen, wie fruchtbar diese Antikenstudien waren.
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Tony Garnier nutzte den Romaufenthalt an der Villa Medici nicht nur zu zahlreichen Ausflügen in die römische Campagna, er unternahm auch größere Reisen in Italien und selbst Griechenland hat er besucht. Leider sind keine Aufzeichnungen über diese Studienreisen bekannt, aber die zahlreich erhaltenen datierten Aquarelle belegen, daß er Kampanien bereist hat, Pompeji kannte und im November 1903 Athen besuchte. Dies alles widerlegt noch einmal die Legende von der Italien- und Antikenverweigerung des jungen Architekten, der sich in seinem Atelier eingeschlossen hätte, um die Cité Industrielle zu entwerfen, um sich damit anstelle der Ruinen dem wirklichen Leben zuzuwenden. Der Romaufenthalt der Stipendiaten war zudem durch ein reiches Angebot archäologischer und bau- und kunsthistorischer Vorträge begleitet, die von den untereinander im wissenschaftlichen Wettstreit stehenden Nationalakademien ausgerichtet wurden. Diese Vortragsreihen waren die beste Vorbereitung der jungen Architekten für das eigene Erleben der römischen Altertümer in der Stadt und auf den Studienreisen in der Umgebung. Fast alle europäischen Nationen unterhielten in Rom kunstwissenschaftliche und archäologische Institute, an denen hervorragende Wissenschaftler tätig waren. Sie alle hielten von November bis April »Wintersitzungen« ab, auf denen die Gelehrten regelmäßig über ihre Forschungen in öffentlichen Vorträgen berichteten. Die Institutsnachrichten des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts beispielsweise verzeichnen von 1886 bis 1904, für die Jahre also, in denen sich Tony Garnier in Rom aufhielt, zahlreiche Veranstaltungen mit direktem Bezug zur römischen Architektur und zum antiken Städtebau. Regelmäßig referierte dort Christian Hülsen, der zweite Sekretär des Instituts, über seine Ausgrabungen auf dem Forum Romanum von 1898 bis 1902. August Mau, dem wir die Systematik der vier pompejanischen Stile verdanken, berichtete über seine Forschungen zur Architektur und Ausstattung des pompejanischen Hauses und er veranstaltete auch zweiwöchige Exkursionen zu den Grabungen in Pompeji. Eugen Petersen, einer der besten Kenner der griechischen Archäologie dieser Zeit, der als erster Sekretär des Instituts tätig war, wird ebenfalls regelmäßig genannt, ferner Louis Duchesne, der Direktor des französischen Instituts in Rom oder Gardner Hale von der American School. Überhaupt wird aus den Sitzungsberichten deutlich, daß die Angehörigen der Nationalinstitute und ihre Stipendiaten ungeachtet aller Konkurrenz eine eingefleischte Gemeinde der Rom- und Antikenbegeisterung bildeten, für die die unterschiedlichen Nationalitäten eine Bereicherung des wissenschaftlichen Lebens darstellten.4 In diesen Cenacoli, so kann man gewiß sein, wurde ein sehr intensiver Gedankenaustausch über alle Fragen der römischen Kultur und Geschichte gepflegt, und vor allem die neuesten Entdeckungen der klassischen Archäologie, die unter den Kulturwissenschaften so etwas wie die »Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts« darstellte, wurden hier leidenschaftlich diskutiert. Das archäologische Ereignis schlechthin, das um die Jahrhundertwende in aller Munde war, waren die großartigen Entdeckungen Theodor Wiegands in Priene. Zwischen 1895 und 1898 waren hier nicht nur bedeutende Tempel und Monumentalbauten der spätklas4 So heißt es über das Schlußwort von Petersen zur letzten Wintersitzung 1896: »… und schloß so die durch Betheiligung von Vortragenden aus vier Nationen durch deren Persönlichkeit und Inhalt der Vorträge besonders reichhaltige Sitzung.« Jahrbuch des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts, 1896, Bd. IX, S. 112.
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sisch-hellenistischen Zeit ausgegraben worden, sondern zum ersten Mal hatte man hier eine ganze Stadt freigelegt, die einheitlich nach dem hippodamischen System geplant und angelegt war. Diese Hinwendung zur urbanen Kultur und zur Freilegung auch einfacher Wohnhäuser in ganzen Quartieren war die wohl bedeutendste Leistung Theodor Wiegands. Von Karl Humann und Reinhard Kekule 1894 begonnen, bedeutete sie eine Wende in der Archäologie, weg vom Einzelmonument in isolierte Betrachtung hin zur Stadt und ihrem räumlichen Kontinuum von Straße und Platz. Diese ganzheitliche Betrachtung verschaffte dem jungen Archäologen Theodor Wiegand internationale Beachtung in den eigenen Fachkreisen, und sie übte eine nachhaltige Wirkung insbesondere auf die Architekten und Städtebauer der Jahrhundertwende aus. Wiegands große Priene-Monographie erschien 1904, aber schon vorher hatte er in einer regen Vortragstätigkeit die wichtigsten Ausgrabungsergebnisse mitgeteilt, bereits 1899 war Wesentliches davon im Archäologischen Anzeiger erschienen.5 Zu Anfang des Jahres 1900 hatten seine Entdeckungen die Runde gemacht, und sie dürften auch den besonders interessierten Kreisen an den Nationalinstituten in Rom den Gesprächsstoff geliefert haben. Theodor Wiegand reiste nach längerer Arbeit an der Priene-Publikation in Berlin, wo er sich bis Ende Januar 1900 aufgehalten hatte, nach Italien und am 18.03.1900 traf er wieder in der Türkei ein. Wiegand hatte den Italienaufenthalt als Dienstreise bei der Generaldirektion der königlichen Museen in Berlin beantragt, um »eine Studienreise nach Sizilien zu unternehmen«.6 Der dienstliche Charakter läßt vermuten, daß er bei der Durchreise in Rom im Archäologischen Institut über Priene berichtet hat, aber auch ohne solche Verpflichtung hätte er es sich wohl kaum entgehen lassen, an diesem Ort und in so qualifiziertem Kreise die Ergebnisse seiner Forschungen vorzustellen. Leider sind die Jahrbücher des Archäologischen Instituts nicht lückenlos, ein genaues Verzeichnis der Vorträge und Vortragenden in den Auslandsabteilungen gibt es nicht, und die Zuhörer sind ohnehin nicht erfaßt, ausgenommen bei großer Prominenz, niemals aber die jungen Stipendiaten der Nationalinstitute. Eine direkte Beeinflussung Tony Garniers durch einen römischen Bericht Wiegands über seine Entdeckungen ist deshalb nicht nachzuweisen, die zeitliche Koinzidenz aber und die großen Übereinstimmungen der Cité Industrielle mit dem in Grabungen und Rekonstruktion wiedererstandenen Priene macht dies jedoch sehr wahrscheinlich. Tony Garnier kam Ende 1899 nach Rom7 und die entscheidenden Anregungen für die Cité Industrielle, die er im Herbst 1900 in erster Fassung nach Paris schickte, muß er Anfang des Jahres in Rom empfangen haben, als er noch mit den Vorentwürfen beschäftigt 5 T. Wiegand, und H. Schrader, Priene. Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen in den Jahren 1895–1898, Berlin 1904. Vorberichte z. B. in: Archäologischer Anzeiger. Beiblatt zum Jahrbuch des Archäologischen Instituts 1899, S. 133. 6 »Ich selbst durfte mit Urlaub nach Berlin gehen, um meine Hochzeit zu begehen & im Anschluß daran eine Studienreise nach Sizilien unternehmen, welche mir das Eduard-Gerhard-Stipendium zur Herausgabe der ältesten Architektur der Akropolis von Athen schon längst auferlegt hatte.« Jahresbericht vom 25. 4. 1900, Nachlaß Wiegand, Kasten 37, Nr. 11, DAI Berlin. Wiegand heiratete in Berlin am 14. Januar 1900. 7 Pierre Pinon, Gli »envois de Rome«: tradizione e crisi, in: Rassegna 17 (1979), S. 20 Anm. 4.
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war. Er war im Februar gleichzeitig mit Wiegand in Rom, bevor er sich im März auf Reisen nach Süditalien machte. Die Möglichkeit einer direkten Anregung ist somit unbedingt gegeben, und nur so scheinen sich mir die verblüffenden Übereinstimmungen zu erklären, die zwischen Tony Garniers Cité Industrielle und Theodor Wiegands zeichnerischer Wiederherstellung von Priene so offensichtlich bestehen. Wenn man Lage- und Anlageschema der hippodamischen Stadt mit der Cité Industrielle vergleicht, insbesondere in dem 1908 von Zippelius nach Wiegands Angaben gemalten Vogelschaubild, sind alle wesentlichen stadtbildprägenden Merkmale identisch. Priene liegt mit seinem schachbrettartigen, von Kardo und Decumanus geteilten und exakt nach den vier Himmelsrichtungen geteilten Grundriß auf einem Plateau, das an drei Seiten fast senkrecht abfällt. Unterhalb in der Ebene windet sich ein Fluß, oberhalb auf einer tafelbergartigen Formation vor dem Hintergrund des noch höher aufsteigenden Gebirges liegt die Akropolis mit dem Bergheiligtum. Dies alles wird in der Cité Industrielle exakt wiederholt oder in der Analogie beschworen – die Topographie mit dem Plateau am Gebirgsrand, das zur Ebene steil abfällt, der Fluß im Tal, das Schachbrett der Wohnquartiere, exakt nach den Himmelsrichtungen orientiert und von Kardo und Decumanus viergeteilt, das Forum mit den offenen Wandelhallen und das abseits gelegene griechische Theater. In freier Übernahme und vielleicht auch in ironischer Brechnung gibt es sogar das Bergheiligtum oberhalb der Stadt – das Wasserkraftwerk oben in den Bergen, das wie eine prähistorische Mauer vor dem Gebirge liegt, hinter der die elektrischen Götter des neuen, industriellen Zeitalters wohnen und deren geheimnisvolle Energie alles in der Stadt mit unsichtbarer Hand bewegt, beheizt, beleuchtet und belüftet. Die Ähnlichkeiten zur Wiegands Priene jedenfalls sind unübersehbar, hier wurde eine klassische Vorlage aufgegriffen, die ebengerade alles Interesse der Archäologen, Architekten und Städtebauer auf sich gezogen hatte und zu einem neuen, vorbehaltlos modernen Stadtentwurf fortentwickelt. Das Gesamtkonzept läßt ohne weiteres die Anregungen erkennen, die es dem gelehrten Disput der Zeit verdankt, zugleich werden aber auch die Prägungen aus eigener Anschauung deutlich, aus der Seherfahrung des Antikenstudiums vor den Ruinen Roms und Latiums und der sehr intensiven und persönlichen Begegnung mit der Stadt und Akropolis von Tusculum auf der Höhe der Albanerberge. Ein letzter Schluß drängt sich unter dem Eindruck der farbigen Aquarelle auf mit denen Tony Garnier seine Vision der Cité Industrielle illustriert hat. Im Begleittext heißt es dazu, die neue Stadt läge »irgendwo im Südosten Frankreichs«, in der Heimat des Architekten also. Aber weder die Tonalität der Blätter noch der Duktus der Landschaft in Topographie und Bewuchs stimmt mit dieser geographischen Zuordnung überein. Denn mit den grünen Hügeln des Lyonnais oder den Mittelgebirgen um St. Etienne hat das Bergland, das man auf diesen Bildern sieht, nicht die geringste Ähnlichkeit. Statt dessen ist eine baumlose, karge Landschaft in Braun- und Grautönen dargestellt, die manchmal zu einem faden Blau changieren und deren verkarstete Berge unter einer glühenden Sonne vor sich hin zu brüten scheinen. Dies ist nicht der Südosten Frankreichs, keine Übergangslandschaft, sondern ein rein mediterranes Ambiente, vielleicht eine römische, vielleicht eine jonische Landschaft, auf jeden Fall klassischer Boden. Gegen diese Landschaft grenzt sich die Stadt ab, sie scheint auf ihrer künstlichen Plattform darüber zu schweben, sich
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von ihr förmlich abzuwenden. Topographie und Natur wirken nicht in den städtischen Binnenraum hinein, sie liegen draußen vor der Stadt, eben wie in der Antike und ganz anders, als im Ideal des neuzeitlichen Städtebaus. Auch der Fluß, der wie der Mäander im Tal von Priene in der Ebene liegt, wird nicht in den Stadtraum einbezogen, er ist lediglich Industriestandort, Verkehrsweg, Vorfluter. Ohne Frage ist dies Ausdruck eines »römischmilitanten Naturverhältnisses«, wie man es beispielsweise für die Landschaftsbeschreibungen Ciceros konstatiert hat.8 Auch Tacitus nennt den Prospekt von der Höhe der Villa Caesars auf das Kap und die Bucht von Misenum einen »Blick auf die wie unterworfen daliegende Landschaft«.9 Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man in diesen Blättern Tony Garniers, die den Landschaftsbezug der Cité Industrielle zum Gegenstand haben, ein antik-römisches Verhältnis zu Topographie und Naturraum, zur Natur insgesamt erkennen muß: Die Natur ist ein Gegner, der zu überwinden ist, und die Waffen, ihn zu besiegen, liefert der technische Fortschritt der industriellen Produktion. Insgesamt kann man sagen, daß die Cité Industrielle nach Lage, Planschema und Naturverhältnis einen anspielungsreichen Umgang mit den klassischen Themen Topoi des antiken Städtebaus zeigt, wie er nur in Rom und nur in der Begegnung mit der klassischen Welt gewonnen werden konnte – von einem jungen Architekten, der den Antiken mit so wachen Augen begegnete, wie Tony Garnier. Anregungen aus spätklassischer Zeit, insbesondere die großartigen Ausgrabungen von Priene, die während seines Romaufenthaltes an allen Nationalakademien diskutiert wurden, sind hier mit den eigenen unmittelbar in Rom und der Campagna gewonnenen Anschauungen zu einer modernen Synthese entwickelt. Insofern ist die Cité Industrielle das Ideal der modernen Industriestadt schlechthin, mit strenger Trennung der Funktionen von Wohnen und Arbeiten, entworfen für eine sozialdemokratisch reformierte Gesellschaft, zugleich aber ein Entwurf, der die Bilder und Archetypen der europäischen Stadt antiker Prägung aufgreift und weiterentwickelt. Besonders in den großmaßstäblichen Entwürfen für die Wohnhäuser der Cité Industrielle, die alle im Maßstab 1:50 gezeichnet und teilweise bis in die Ausbaudetails ausgearbeitet sind, wird diese einzigartige Verschmelzung von archäologischen Studien, eigener Anschauung und intensiver Auseinandersetzung mit dem Denkmalbestand in Aufmaß und Zeichnung deutlich. Die besten Musterentwürfe für die neue Stadt sind Tony Garniers Varianten über den Typus des ein- bis zweigeschossigen Hofhauses, das man nicht recht »römisch« oder »pompejanisch« nennen kann, auch nicht »Atrium«- oder »Peristylhaus« und das dennoch unübersehbar all diese Anregungen aufgegriffen und verarbeitet hat. Gerade in den Hofhausentwürfen, denen allerdings nur ein kleiner Teil der Wohnungsprojekte zuzurechnen ist, scheint mir auch der Einfluß von Theodor Wiegands Forschungen besonders evident, gepaart mit eigenen Studien in Tusculum und in Pompeji. 8 Heinrich Drerup, Die römische Villa, 1959, in: Die römische Villa, hg. von Fridolin Reutli, Darmstadt 1990, S. 118. 9 »Subiectos sinus editissima prospectat.« Tacitus ann. 14, 9, zitiert bei Heinrich Drerup, Bildraum und Realraum in der römischen Architektur, in: Mitteilungen des Deutschen Archaeologischen Instituts, Römische Abteilung, 66 (1959), S. 150 Anm. 24.
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Wiegand beendete seine Vorträge über Priene regelmäßig mit detaillierten Ausführungen zu den in ganzen Quartieren freigelegten Wohnhäusern, »welche in reicheren und vornehmen wie in einfacheren Anlagen einen festen Typus aufweisen«.10 Er wies immer darauf hin, daß es sich um Typenhäuser mit sehr individuellen Gestaltungsmöglichkeiten handle, die sich asymmetrisch und »in lockerer Gruppierung« um die Höfe ordnen. Am Schluß kommentierte er ausführlich Vitruvs Beschreibung des griechischen Hauses im siebten Kapitel des sechsten Buches, von dem er glaubte, daß sie erst durch die Grabungsergebnisse von Priene verständlich würde. Wiegand war davon ausgegangen, daß es in Priene Häuser ganz unterschiedlicher Größe gegeben habe, wobei der einfachste Typ als »Prostas-Haus« mit einem quadratischen Mittelhof ausgebildet war, an dem sich seitlich der Hauptraum (Oikos) mit einer zum Hof hin offenen, manchmal mehrsäuligen Vorhalle (Prostas) anlagerte. Bei größeren Häusern jedoch konnte dieser Hof mit einem Peristyl umgeben sein, hinter dem dann in lockerer Gruppierung, asymmetrischer Erweiterung und ganz unregelmäßig angeordnet viele größere und kleinere Räume liegen konnten.11 Ähnliche Eindrücke hatte auch Tony Garnier bei seinen Studien in Tusculum von der Vielfalt und Asymmetrie des römischen Atriumhauses gewonnen. Einige dieser sehr freien und unregelmäßigen Varianten des rigiden römischen Schemas hat er auf dem Grundriß des Forums von Tusculum rekonstruiert – im Jahre 1904, eben zu der Zeit also, als er intensiv an den Typenentwürfen für die Cité Industrielle arbeitete. Bei seinen Musterentwürfen für die Hofhäuser der neuen Stadt hat er sich sowohl von Wiegands Interpretation des griechischen Hauses nach Vitruv (VI, 7) leiten lassen, als auch von den Abweichungen vom rigiden Schema des römischen Hauses nach Vitruv (VI, 3), die er bei seinen Arbeiten in Tusculum kennengelernt hatte. Auf Tafel 130 beispielsweise zeigt er ein ein- bis zweigeschossiges Haus über quadratischem Grundriß mit seitlichem Annex, das sich unregelmäßig um einen säulenlosen Innenhof organisiert (Habitation a sept chambres, un bureau). Ein quadratisches Impluvium in der Mitte des Hofes schafft Platz für einen einzelnen Baum von zypressenartigem Wuchs, auf den umlaufend gemauerten Steinbänken stehen Blumen und immergrüne Pflanzen in großen irdenen Kübeln. Die Natur kommt hier, wie immer bei Garnier, nur in sehr steinerner, künstlicher Fassung vor, auch dies vielleicht ein Hommage an die antikrömische Auffassung von der »gezähmten« Natur im Gartenhof. Bei einem anderen Haus (Tafel 123) ist der quadratische, mauerumschlossene und ganz steinerne Gartenhof dem Baukörper seitlich angelagert. Zwischen Wohnhaus und Garten
10 Archäologischer Anzeiger, Beiblatt zum Jahrbuch des Archäologischen Instituts 1899, S. 133 »[…] Andere Räume gruppieren sich locker um den Hof. W. wies zum Schluß darauf hin, wie die Beschreibung des griechischen Hauses bei Vitruv durch die Pläne dieser Häuser klar wird […].« 11 Zu Wiegand und Schraders Typ des prienischen Prostas-Hauses, den verschiedenen Rekonstruktionen des Musterbeispiels »Haus 33« und dem heutigen Stand des archäologischen Wissens siehe Wolfram Hoepfner und Ernst-Ludwig Schwandner, Haus und Stadt im klassischen Griechenland, Berlin 1986, S. 169 sowie Geschichte des Wohnens, I, 5000 v. Chr.–500 n. Chr., hg. von Wolfram Hoepfner, Stuttgart 1999, S. 338–351.
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liegt eine offene Säulenhalle, die eine Dachterrasse trägt – vielleicht eine Reminiszenz des »Prostas-Hauses« von Theodor Wiegand. All diese Häuser zeigen einen sehr freien Umgang mit der antiken Typologie, bei oft wortwörtlicher Übernahme einzelner Elemente, die dann souverän in neuen Konfigurationen miteinander verschmolzen sind. Eines dieser Atriumhäuser der Cité Industrielle – den Entwurf auf Tafel 127 (Habitation quatre chambres, trois atéliers d’artiste) – hat Tony Garnier später für sich selbst gebaut. Es ist sein 1910–1912 in Saint-Rambert bei Lyon entstandenes Landhaus, mit ca. 380 m2 Grundfläche in einem parkartigen Garten gelegen, das 1958 für eine Straßenverbreiterung weitgehend abgerissen wurde. Außer den Tafeln in der Cité Industrielle ist es jedoch durch eine Serie von Fotografien aus dem Jahre 1913 bekannt. In diesem Haus verschränken sich in einzigartiger Weise Innen und Außen, Haus und Innenhof, Baukörper und Garten. Der Innenhof befindet sich im eingeschossigen Trakt des Gebäudes, er ist dem zweigeschossigen Wohnteil mit vorgelagertem Architekturbüro seitlich angegliedert. Dennoch ist dieser Außenraum so angelegt, daß man glaubt, sich im Inneren des Hauses und in der Masse des Bauvolumens zu befinden. Eine allseitig umlaufende dreibogige Arkade ist gegenüber dem Haus um drei Stufen abgesenkt, und in den Hof steigt man noch einmal um vier Stufen hinab. Dem Hof sind sowohl die privaten Wohn- und Schlafräume zugeordnet, wie auch das eigene Atelier mit einem großartigen, vier Meter langen Zeichentisch in der Mitte. Der Wohn-Schlafraum öffnet sich an zwei Seiten in geräumigen Alkoven. In dem einen steht das Bett, in dem anderen befindet sich ein kostbar ausgestattetes Inglenook mit offenem Kamin in der Wand. Dazwischen gelangt man über eine Wendeltreppe auf die Dachterrasse, die rings um den Hof und über das Atelier gelegt ist. Dies alles ist eine einzigartige Anverwandlung antik-römischer Bauideen in modernen Formen und Materialien, ganz so, wie die Cité Industrielle insgesamt die großen Gesten, Orientierungen und Ordnungsfiguren der antiken Stadt beschwört und zugleich mit den Notwendigkeiten des modernen Lebens und der industriellen Produktion versöhnt. Über dem Bett in seinem Schlafzimmer in Saint-Rambert hat Tony Garnier das Bekenntnis zu seiner römischen Prägung als Architekt aufgehängt, ein großes (0,8 m × 1 m), in Grisailletönen gehaltenes Aquarell des Forum Romanum. Er selbst hat es im dritten Jahr seines Romaufenthaltes vor den Ruinen gemalt und auf den 28. November 1902 signiert. In seinem Haus in Saint-Rambert, dem einzigen, das von den vielen Entwürfen der Cité Industrielle tatsächlich verwirklicht wurde, hängt es an prominentester Stelle als ein Hommage an die Stadt und die Kultur, der er die wesentlichen Anregungen für das große Projekt seines Lebens verdankt.
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Abb. 1 Gesamtplan und Lage der Cité Industrielle in der Topographie.
Abb. 2 Schema der Zonen und Elemente der Cité Industrielle. 1 Die Stadt auf dem Plateau, exakt nach den Himmelsrichtungen orientiert und von Kardo und Decumanus geteilt. In der Mitte das Forum mit den Wandelhallen des Bürgerzentrums; 2 Der industrielle Komplex mit Stahlwerken, Fabriken und Werften; 3 Bahnhofsviertel und Forschungsstadt im Osten; 4 Totenstadt im Westen; 5 Heilanstalten an der Straße ins Gebirge; 6 Stausee und Kraftwerk.
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Abb. 3 Die Staumauer im Gebirge, darunter die Kraftwerke.
Abb. 4 Vogelschau auf das Stadtzentrum von Südwesten. Im Vordergrund die bastionsartigen Mauern, die das Plateau künstlich abstützen.
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Abb. 5 Lageplan von Priene, des großen archäologischen Ereignisses zum Ende des 19. Jahrhunderts, das 1895–1898 von Theodor Wiegand großflächig ausgegraben wurde.
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Abb. 6 Schaubild von Priene aus der Luft von Südosten. Topographie, Lage und Anordnung der wesentlichen Elemente stammen weitgehend mit dem Gesamtplan der Cité Industrielle überein.
Abb. 7 Vogelschau auf das Stadtzentrum von Nordosten. Im Vordergrund rechts das rautenförmige Bürgerzentrum mit den Wandelhallen.
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Abb. 8 Grundriß des Forums der Cité Industrielle. In der Mitte unten das griechische Theater, rechts daneben die Thermen.
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Abb. 9 Haus mit sieben Zimmern – Tafel 130 –, das um einen säulenlosen Innenhof organisiert ist.
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Abb. 10 Hofhaus der Cité Industrielle – Tafel 123 – mit einem gedeckten Portikus zwischen den zweigeschossigen Baukörpern.
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Abb. 11 Tony Garniers Haus auf Tafel 127, das er für sich selbst um 1910 in Saint-Rambert bei Lyon erbaute. Vorn rechts liegt ein arkadenumschlossener Innenhof, um den sich die privaten Räume gruppieren, links das Wohn-Schlafzimmer, oben das private Atelier.
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Abb. 12 Im rechten Winkel dazu erweiterte sich der Raum zu einem Schlafalkoven, über dessen Bett Tony Garniers Hommage an seine römische Formation hing: Ein Aquarell des Forum Romanum.
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Abb. 13 Das Aquarell im Schlafalkoven, das Tony Garnier eigenhändig auf dem Forum Romanum gemalt und auf den 28.11.1902 signiert hat (Ausschnitt).
Andreas Zeising
Los von Italien! Karl Schefflers »Tagebuch einer Reise« Im Frühjahr 1913 erschien im Leipziger Insel-Verlag eine schlicht, aber ansprechend gestaltete Buchpublikation mit dem Titel »Italien. Tagebuch einer Reise«.1 Verfasser war der Berliner Kunstpublizist Karl Scheffler, der auf rund 300 Seiten, illustriert mit 118 Autotypien von historischen Bauten, Bildwerken und Gemälden im Duktus eines Erlebnisberichts seine Eindrücke einer Rundreise zu den Kunstzentren Ober- und Mittelitaliens schilderte (Abb. 1 und 2). Scheffler war zu jener Zeit ein vielgelesener populärwissenschaftlicher Autor.2 Die Spannbreite der Themen, die er in Buch- und Aufsatzform verhandelte, reichte von moderner Malerei und Baukunst über kulturphilosophische und gesellschaftspolitische Fragen bis hin zu literarischen Erzählungen. Einem größeren Publikum war er vor allem als Tageskritiker bekannt. Als das Italien-Buch erschien, wirkte er als Redakteur der von Bruno Cassirer verlegten Zeitschrift »Kunst und Künstler«, darüber hinaus war er leitender Redakteur im Feuilleton der Berliner »Vossischen Zeitung«. Diese kurze Auflistung mag genügen, um die beeindruckende Vielseitigkeit von Schefflers Wissens- und Tätigkeitsgebieten zu verdeutlichen. Umso mehr kam, nicht zuletzt vor der Folie seiner persönlichen Biografie, der Auseinandersetzung mit der klassischen Kunst in seinem Œuvre eine besondere Bedeutung zu. Denn Kunstgeschichte hatte Scheffler nie studiert. Als Sohn eines Anstreichers in der Gemeinde Eppendorf bei Hamburg aufgewachsen, entstammte er einem kleinbürgerlichen Milieu, das seinen Werdegang lange Zeit prägte.3 Scheffler erlernte zunächst den Beruf des Dekorationsmalers und übersiedelte als Neunzehnjähriger nach Berlin, wo er eine Anstellung als Entwurfszeichner in einer Tapetenfabrik annahm. Seit Mitte der neunziger Jahre begann er, Kunstkritiken in verschiedenen Zeitschriften zu publizieren und erlangte auf diese Weise Zugang zu den Kreisen bürgerlich-liberaler Intellektueller, wo er manchen Gönner fand und es vermochte, sich bald als Schriftsteller einen Namen zu machen. Daß aus dem Musterzeichner, der ohne jede akademische Vorbildung war, binnen weniger Jahre ein vielbeschäftigter Kunstpublizist wurde, war freilich in keiner Weise
1 Karl Scheffler, Italien. Tagebuch einer Reise, Leipzig 1913. – Sämtliche Seitennachweise zu Zitaten aus dem Werk werden im Folgenden in runden Klammer dem Text eingefügt. 2 Vgl. Andreas Zeising, Studien zu Karl Schefflers Kunstkritik und Kunstbegriff. Mit einer annotierten Bibliographie seiner Veröffentlichungen, Tönning 2006; »… das Wort, dem alle Mühe galt: Die Kunst«. Karl Scheffler (1869–1951), hg. vom Archiv der Akademie der Künste Berlin (Archiv-Blätter 15), Berlin 2006. 3 Vgl. dazu den autobiografischen Roman von Karl Scheffler, Der junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt, Leipzig 1927.
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vorgezeichnet, und vieles an diesem Werdegang verdankte sich der Dynamik des gesellschaftlichen Umbruchs, welchen der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg Berlins mit sich brachte. Scheffler war, um es mit einem seiner Lieblingsausdrücke zu sagen, ein SelfMade Man,4 und zwar nicht nur in beruflicher, sondern auch in intellektueller Hinsicht. »Eigentlich«, so schreibt er in seiner Autobiographie, »hätte ich Ursache gehabt, mich zu fragen, woher ich das Mandat habe, in der Öffentlichkeit und auf die Öffentlichkeit zu wirken. […]. Als Autodidakt in des Wortes verwegenster Bedeutung hatte ich die Vorteile einer stufenweise vorgehenden Bildung entbehren müssen.«5
I Die Reise Zu den Bildungsdingen, auf die Scheffler von Hause aus hatte verzichten müssen, gehörte auch die Begegnung mit der Kunst Italiens. Bis zu seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr hatte der längst überaus erfolgreiche Publizist italienischen Boden nie auch nur betreten, kannte die italienische Kunst demnach ausschließlich aus der Fachliteratur und den Museen. Als Scheffler sich schließlich als gereifter Mann anschickte, eine Reise über die Alpen zu machen, war eine Auseinandersetzung mit der Tradition der klassischen Bildungsfahrt gleichsam vorprogrammiert. Über die sechswöchige Reise, die Scheffler von Ende April bis Mitte Juni 1911 in Begleitung seiner Ehefrau unternahm, ist nur weniges überliefert, Reisefotografien haben sich offenbar nicht erhalten.6 Dem rund zwei Jahre später publizierten »Tagebuch« lässt sich freilich entnehmen, daß die Reiseroute augenscheinlich ganz und gar touristischen Kriterien folgte. Sie führte mit der Eisenbahn über den Brenner, sodann zunächst nach Verona und weiter über Vicenza, Padua, Bologna und Venedig bis nach Ravenna; von dort reiste man über den Apennin in die Toskana, besuchte Florenz und Siena. Den Abschluss bildete Rom, von wo aus Scheffler über den Gotthard die Heimreise nach Deutschland antrat. Wenngleich ein Zeitraum von sechs Wochen ein nach damaligem wie heutigem Ermessen ansehnlicher Luxus für einen Schriftsteller war, der Verpflichtungen gegenüber Zeitungen und Verlagen einzuhalten hatte, war doch Schefflers Unternehmung den äußeren Umständen nach alles andere als eine mit Muße absolvierte Bildungsreise. Denn zügig musste es vor allen Dingen gehen: nicht mit der Gemächlichkeit der Vorväter, sondern in wenigen Stunden überwindet Scheffler mit der Eisenbahn die Alpen. Eine Dampferfahrt auf dem Gardasee dient als kleine Atempause – danach wird Stadt für Stadt nach festgelegtem Zeitplan absolviert. Die Rückreise erfolgte offensichtlich in besonderer Eile, denn die Notizen, die sich im »Reisetagebuch« zu Genua und Mailand finden, sind überaus kursorisch. Jede Seite des Buches lässt durchblicken, daß Schefflers Gestimmtheit das Gegenteil von Kontemplation war: Eile diktierte ein gestrafftes Besichtigungsprogramm, und der überwältigenden Fülle von Sehenswürdigkeiten begegnete Scheffler mit Pragmatismus, indem 4 Vgl. Karl Scheffler, Self made, in ders.: Der deutsche Januskopf, Berlin 1921; ders.: Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht, Leipzig/München 21946, S. 339ff. 5 Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre (wie Anm. 4), S. 196. 6 Für diese und weitere Auskünfte zu Karl Scheffler danke ich Dody Scheffler-Platz, München.
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er sich auf touristisch gut erschlossene Hauptpfade konzentrierte, Orte – wie es einmal beiläufig heißt –, »wo die Reisenden die Hauptpersonen sind«. (25) Dazu passt die paradoxe Tatsache, daß Scheffler sich permanent und inständig über das touristische Gepräge und die »Fremdenindustrie« (91) beklagt, handele es sich nun um aufdringliche deutsche Reisegruppen, welche lautstark in den Kirchen palavern (36), den »Verkaufsplunder« (91) venezianischer Straßenhändler, das geschäftsmäßige Getriebe in einer Fremdenmetropole wie Florenz oder die Papstgemächer des Vatikan, welche der Schriftsteller »ganz ausstellungshaft hergerichtet« findet. (240) Alles in allem lässt sich konstatieren, daß Schefflers Reise durch Italien etwas ganz und gar Profanes, ja Touristisches anhaftete; sie war von Anfang an keine Pilgerfahrt ins gelobte Land der Kunst – eben keine Grand Tour.
II Frost und Kälte Ob Scheffler von Beginn an plante, seine Reiseeindrücke als Erfahrungsbericht zu publizieren, ist nicht überliefert. Bemerkenswert ist jedoch, daß ein »Reisetagebuch« sich im Nachlass nicht erhalten hat – ein Hinweis darauf, daß es sich bei der gewählten Form wohl in erster Linie um eine literarische Strategie handelt. Unübersehbar ist dabei die Anlehnung an das Vorbild von Goethes »Italienischer Reise«.7 Schon auf der ersten Seite seines Buches erinnert Scheffler an den literarischen Ahnherrn. Goethe, heißt es dort, »kehrte anders aus dem Süden zurück, als er hingegangen war, und er ließ dann das ganze geistige Deutschland an dieser inneren Wandlung teilnehmen.« (3) Es ist dieses Prinzip der öffentlichen Teilhabe, das auch Scheffler praktizieren will, die literarische Form gibt ihm dafür das passende Werkzeug an die Hand. Zwischen dem eher profanen Charakter der Reise und dem Anspruchsniveau des literarischen Berichts klafft somit ein Missverhältnis: Denn mit seinem publizierten »Reisetagebuch« stellte Scheffler sich sehr wohl bewusst in die Tradition der Grand Tour und erhob keinen geringeren Anspruch, als eine zeitgemäße Neudeutung des Phänomens vorzulegen. Die Stoßrichtung dieses Erfahrungsberichts weicht denn auch von dem Vorbild Goethe ganz erheblich ab. Schefflers »Tagebuch einer Reise« ist das Werk eines Zweiflers, seine Haltung ist die des permanenten Widerspruchs, ja der »Blasphemie«.8 Es ist ein Buch, das von Anziehung und Abstoßung handelt, was vielleicht am klarsten Paul Fechter
7 Goethe galt Scheffler, wie vielen Intellektuellen seiner Generation, als uneinholbare Bezugsgröße, für die er eine nicht anders als religiös zu nennende Verehrung hegte: »Für mich ist Goethe unmerklich ein Teil der allgegenwärtigen Wirklichkeit geworden, ist so sehr ein Stück meines Lebens, daß ich mir gar nicht vorzustellen vermag, wie ich ohne ihn überhaupt sein könnte. Der Name Goethe bezeichnet mir nicht eine geniale Persönlichkeit, die bestimmte Werke geschaffen hat, sondern er steht mir für einen Lebensbegriff, für eine nationale Naturgewalt, die fort und fort wirkt und aus der neues Leben ununterbrochen, unversiegbar quillt. Goethe ist die Tradition, aus der ich schöpfe; und er ist die Hoffnung, die den Weg ins Zukünftige erhellt.« (Karl Scheffler [mit anderen], Urteile unserer Zeitgenossen über Goethe, in: Goethe-Kalender auf das Jahr 1910, hg. von Otto Julius Bierbaum und Carl Schüddekopf, Göttingen 1909, S. 117). 8 Rudolf Oldenbourg, Karl Scheffler, in: Genius 3 (1923), S. 336–339, hier S. 338.
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erkannt hat, der in seiner Rezension von einem »Kampf mit Italien« sprach und in dem Werk »Bekenntnis« und »Protest« zugleich sah.9 Scheffler zürnt und argwöhnt auf jeder Seite, angetrieben vom fast genüsslich zelebrierten Willen zur Entzauberung eines Mythos: des Mythos’ von einem Land, welches das beherbergt, »was für alle Zeit und jedes Volk schön ist«,10 sprich: den normativen Kanon klassischer Kunst. Schon in Verona, eben angekommen, fühlt der Reisende seinen guten Willen auf die Probe gestellt: »Gleich nach der Ankunft sind wir durch die Gassen gerannt, haben in den engen Straßen zu Palastfassaden hinaufgesehen und in einige der mit schweren Vorhängen geschlossenen Kirchen hineingeblickt […]. Ich bin enttäuscht und ernüchtert.« (29) Und wenige Zeilen weiter: »Solange ich denken kann, ist mir das Vollkommene in Italien versprochen worden. Wie oft habe gehört, man könne in Italien gar nicht hochgesinnt und edel genug fühlen, um sich auf die Höhe dessen zu schwingen, was das Auge dort sieht. Mir scheint nun aber im Gegenteil: man kann gar nicht realistisch, ruhig, sachlich und selbst trocken genug sein in diesem Kulturmilieu […].« (29f.) Schefflers Reisetagbuch ist nicht das Werk eines Italienhassers. Ein Wille zur Entsagung, ein »Ibsenzug«, wie Rezensent Fechter das ironisierend nannte, schien dem in Kunstfragen abgeklärten Reisenden vielmehr die unabdingbare Voraussetzung dafür, um ein sachliches Verhältnis zu einem kulturellen Kosmos zu gewinnen, der mit Vorerwartungen, Klischees und weltanschaulichen Dogmen nach Schefflers Ansicht nur so überfrachtet war. »Italien – gesehen durch ein impressionistisches Temperament!«,11 nannte Gustav Hartlaub Schefflers Sichtweise sehr treffend: Es war der Versuch, einen unbefangenen, unmittelbaren und unverfälschten Eindruck zu gewinnen. Bei alledem sind Enttäuschung und Verweigerung freilich die Leitmotive. Überall dort, wo Scheffler den Zeugnissen der klassischen Kunst begegnet, moniert er eine Kluft zwischen Erwartung und Erlebnis. Bis in jede Faser spürt der Leser eine unterkühlte Distanz und das Bedürfnis, deren kanonische Bedeutung vehement in Frage zu stellen. Als ein Beispiel, hier stellvertretend für viele genannt, sei die Begegnung mit dem Werk Andrea Palladios genannt – für Scheffler eine überaus wichtige Begebenheit, da ja Goethe ganz auf Palladio »eingeschworen« (46) war. In Vicenza angekommen, relativiert Scheffler das landläufige Urteil freilich auf der Stelle: Palladio sei durchaus kein Ausnahmegenie, vielmehr bewege sich seine Begabung in einem überaus menschlichen Rahmen: »Man lernt ein bewunderungswürdiges Talent kennen, aber auch eine Natur, die vom wahrhaft Klassischen weit entfernt ist.« (47) Palladios Werk in seiner Gänze wirkt auf Scheffler allzu akademisch, zu wenig ursprünglich empfunden und zu reflektiert. Mögen Generationen von Kunstfreunden das Gegenteil behauptet haben: Für Scheffler ist er nicht mehr als ein 9 Paul Fechter, Ein Kampf mit Italien, in: Vossische Zeitung vom 6. November 1913. – Fechter selbst hatte wenig zuvor an gleicher Stelle einen Beitrag veröffentlicht, der sich in ganz ähnlicher Weise mit der Problematik einer sachlichen Bewertung der Kunst und Kultur Italiens auseinandersetzte. Vgl. Paul Fechter: Das romantische Italien, in: Vossische Zeitung vom 24. Juli 1913. 10 Namentlich nicht genannter Verfasser, in: Recensionen 3 (1864), S. 108; zitiert nach Michael Bringmann, Deutsch-Römische Kunst im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, in: »In uns selbst liegt Italien«. Die Kunst der Deutsch-Römer, hg. von Christoph Heilmann (Ausst.-Kat. Bayrische Staatsgemäldesammlung und Haus der Kunst, Müchen), München 1987, S. 146. 11 Gustav F. Hartlaub, Das entzauberte Italien, in: Kunst und Künstler 17 (1918/19), S. 158–161, hier S. 158.
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gefühlskalter Systematiker, dabei freilich überaus geschickt, ja verführerisch als Dekorateur. Doch Scheffler widersteht: »Während das Auge bewundert, sagt ein tieferes Gefühl vernehmlich: nein.« (49) So wie hier, ergeht es dem Reisenden auf Schritt und Tritt. Sei es Venedig, Rom oder Florenz – allerorten findet Scheffler die Baukunst der Renaissance zwar fein und edel durchgestaltet, jedoch als Ganzes nicht ›lebendig‹. Als auf dem Reißbrett ersonnene akademische Kulisse fehle der Renaissancekunst die geistige Durchdringung eines echten architektonischen Organismus. »Es ist alles glänzend gemacht«, heißt es in diesem Sinne über den Florentiner Dom, »aber nicht gewachsen.« (163) Nicht schonender verfährt Scheffler mit Malerei und Plastik. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, begegnet dem Reisenden auch hier nur Konvention und Regelmaß, Gefühlsarmut und Kälte. Ein Musterbeispiel für Schefflers literarischen Revisionismus ist die Begegnung mit Michelangelo: »Wenn ich zurückdenke«, so reflektiert der Berichterstatter, »so weiß ich kaum noch die Zeit, wo ich nicht mit Michelangelo im Gefühl gelebt hätte, wo nicht Abgüsse, Reproduktionen, Bücher oder Abhandlungen mich zu überreden gewußt hätten, daß er ein Gipfel menschlicher Größe ist und daß es ihm gegenüber nur die uneingeschränkte Unterwerfung gibt.«(193) Erneut jedoch erweist sich das Genie als schwach, die Kunst als abweisend: Von der »Heiligen Familie« in den Uffizien »geht eine gleißende Kälte aus«, konstatiert Scheffler und beklagt »Kunstmathematik« und »Formalismus auf einer höchsten Stufe« (193), die jede Empfindungen abprallen lasse. Ähnliches ereignet sich in der Medici-Kapelle von San Lorenzo: »Das Herz bereitet sich auf einen gewaltigen Eindruck vor, es macht sich bereit für ein großes Erlebnis und schlägt dann doch ruhig im gewohnten Takt fort.« (194) – Erneut auch hier ein »Gefühl der Frostigkeit.« (194) Und auch ein weiterer bildungsbürgerlicher Heros wird entzaubert: »Der erste Raffael«, notiert Scheffler in Bologna mit vorgetäuschter Unruhe (die »Sixtinische Madonna« war ihm zweifellos bekannt): »Man kommt mit dem Willen zu verehren und die Zweifel zu zerstreuen, die sich im Lauf der Jahre […] aufgehäuft haben. Man will einstimmen in den Begeisterungsruf einer ganzen Menschheit, denn es ist nicht gut, abseits stehen zu müssen.« (71) Doch wieder stellt sich nur Ernüchterung ein: Wo sind die oft beschriebene Lieblichkeit und Tiefe, ja das Göttliche, das andere vor einem Raffael empfanden? Schefflers Sensorium registriert von alledem nichts, er sieht nur Komposition und Atelierpose, Schemata und Schablonismus: »Raffaels Ruhe beleidigt die Menschheit, möchte man sagen. Denn sie ist ein Ende und darum in gewisser Weise tot.« (245) – »Meine Bewunderung war eiskalt«, heißt es an anderer Stelle über Raffael. »Es war nicht nur Gleichgültigkeit, es war sogar etwas wie leiser Haß dabei.« (71f.)
III Italien gesehen durch ein Temperament Vieles von dem, was Scheffler an Kritik äußerte, war zu jener Zeit bereits Gemeinplatz. Schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war die bedingungslose Wertschätzung des klassischen Italien, die sich in der Nachfolge Goethes und Winckelmanns als bildungsbürgerlicher Kanon etabliert hatte, zunehmend in Frage gestellt worden unter dem Eindruck der ›Entdeckung‹ konkurrierender Ausdrucksformen, etwa der altdeutschen Kunst oder
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des italienischen Quattrocento. Schon Julius Langbehn hatte in seinem dubiosen Bestseller »Rembrandt als Erzieher« (1890) ausgiebig die vermeintliche Gefühlskälte und Empfindungsarmut transalpiner Kunst beklagt. Als Kronzeuge des Stimmungsumschwungs kann Heinrich Wölfflin gelten, der in seinem 1898 erschienen Buch »Die klassische Kunst« gleich im ersten Absatz die emotionale Distanz konstatierte, mit welcher der Zeitgenosse der Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts entgegentrete: »›Klassische Kunst‹«, so Wölfflins Stimmungsbericht, »scheint das Ewig-Tote zu sein, das Ewig-Alte; die Frucht der Akademien; ein Erzeugnis der Lehre und nicht des Lebens«.12 Wenn Schefflers Buch selbst vor diesem Hintergrund noch eine beispiellose Wirkung beschert war, dann lag dies zweifelsohne an den überaus subjektiven, zum Teil auch durchaus waghalsigen Pauschalurteilen und Umwertungen, die es enthielt. Einige Stilblüten mögen genügen, um anzudeuten, daß hier das Potential beschlossen lag, um überzeugte Italienliebhaber, insbesondere aus dem Lager der akademischen Kunstgeschichte, in Rage zu versetzen: So liest man über den Florentiner Dom, er sei »mehr merkwürdig als überzeugend« (162); über den Markusplatz in Venedig heißt es, dieser sei »nicht nur ohne Wirkung, sondern geradezu kitschig.« (84); den David Michelangelos quittiert Scheffler mit der lapidaren Bemerkung, daß »dessen fleischlicher Naturalismus etwas Peinliches hat« (195); hinter Botticellis »Madonnenkeuschheit« wittert er »heimliche Perversion« (179); in den Florentiner Museen kommt ihm die Erkenntnis, »daß die ganze italienische Malerei, von Fra Angelico bis Tizian, affektiert ist.« (172); über Raffael schließlich fällt der böse Satz, er sei einer der »größten Schönheitskomödianten, die je gelebt haben.« (242) Derartige Urteile mussten provozieren, und das Buch verfehlte in dieser Hinsicht seine Wirkung nicht. Mehrere Fachleute reagierten, indem sie dem Autodidakten Scheffler Anmaßung und Borniertheit, Unkenntnis und Anti-Wissenschaftlichkeit13 unterstellten. Josef Hofmiller etwa unterzog sich der Mühe, das Buch in den »Süddeutschen Monatsheften« auf geschlagenen sechzehn Seiten regelrecht zu demontieren.14 Auch der Archäologe Walter Riezler unterzog es einer, wie er voranschickte, »eingehenderen Betrachtung […], als es nach dem inneren Gewicht des Buches nötig wäre.«15 Auch er legte es darauf an, Schefflers Darstellung mit hohem wissenschaftlichem Ernst zu begegnen, und es fiel es ihm nicht schwer, die zuweilen wackligen kunsthistorischen Hypothesen zu widerlegen,
12 Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance, München 31904, S. 1. 13 Erwin Panofsky, Korrespondenz 1910 bis 1936, hg. v. Dieter Wuttke (Erwin Panofsky Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden 1), Wiesbaden 2001, S. 299–300 [Brief an Wilhelm Waetzoldt vom 23. Oktober 1928], hier S. 299: »[…] ich kann mit gutem Gewissen dem Verfasser eines, rein wissenschaftlich gesprochen, so (entschuldigen Sie das harte Wort) unheilvollen Buches, wie es ›Der Geist der Gotik‹ ist, und einer so einseitig absprechenden Schrift wie des ›Italien‹Buches nicht wohl zum Ehrendoktor einer Fakultät vorschlagen, deren kunsthistorische Abteilung sich gerade die möglichst untendenziöse Aufklärung der allgemeinen europäischen Kunstzusammenhänge und insbesondere der Wechselwirkungen zwischen Norden und Süden zur Aufgabe gesetzt hat.« 14 Josef Hofmiller, Schefflers Italien, in: Süddeutsche Monatshefte, Ausgabe April 1914, S. 75–90. 15 Walter Riezler: Karl Scheffler. Italien und die Gegenwart, in: Die Rheinlande, 15. Jg., 1915, S. 301–305 hier S. 301.
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um das Œuvre mit Attributen wie »bedenklich«, »einseitig«, »leichtsinnig«, »lächerlich« und »grotesk« zu brandmarken. Schärfster Gegner Schefflers war Ludwig Justi, der Leiter des Berliner Kronprinzenpalais’, der noch zu Beginn der zwanziger Jahre mit dem Hinweis auf die Unwissenschaftlichkeit des Werks Schefflers Ausschluss aus der Berliner Kunstgeschichtlichen Gesellschaft forderte.16 An anderer Stelle kommentierte Justi das Thema mit den Worten, Scheffler leide an »Großmannssucht« und sei es nicht wert, einem Mann wie Wölfflin auch nur die Schuhriemen zu lösen.17 Liest man derartige Polemiken aus dem kunsthistorischen Lager aus heutiger Distanz, so stellt sich freilich die Frage, ob hier nicht ein prinzipielles Missverständnis vorlag. Denn zugegeben: Schefflers Sichtweise ist zuweilen kraus und ohne Frage einseitig; aber: liegt nicht eben darin auch die Stärke des Italien-Buchs? Schließlich war es das Werk eines Kritikers, der es von Berufs wegen gewohnt war zu werten. Daß beim Durchschnittsleser, an den das Buch gerichtet war, gerade diese Aufrichtigkeit und Subjektivität Gefallen fand, belegt nicht zuletzt die Tatsache, daß es bis 1930 fünf weitere Auflagen erlebte. Anstelle landläufiger Pauschalurteile, wie sie schon damals die Reiseliteratur beherrschten, lieferte es Standpunkte, die aus unmittelbarer Anschauung gewonnen waren. (Abb. 3) Dabei ist das Werk verfasst in einer feuilletonistischen Sprache voller spontaner Wertungen, aber auch voller Abschweifungen, sarkastischer Brechungen und ironischer Spitzen – eine Sprache, die in ihren besten Momenten an einen Schriftsteller wie Julius Meier-Graefe erinnert, und kaum zufällig wiesen mehrere Rezensenten auf gewisse Parallelen zwischen Schefflers Italien-Buch und Meier-Graefes »Spanischer Reise«18 hin. Zeitgenossen aus dem akademischen Lager hätten zweifellos eingewandt, der Gegenstandsbereich der klassischen Kunst sei für die von Scheffler praktizierte Form der Kritik ungeeignet, da die Kunstwerke der Vergangenheit nicht mit den Maßstäben der Tageskritik zu messen seien. Schefflers hätte eine solche Trennung der Zuständigkeiten zurückgewiesen, wie die Einleitung zu seiner 1927 erschienen Geschichte der Kunst im 19. Jahrhundert belegt.19 Die Auseinandersetzung mit historischer Kunst, heißt es dort, dürfe sich nicht in der Erörterung von Stilfragen erschöpfen; vielmehr müsse »[j]ede Kunstgeschichte […] notwendig den Künstler, das persönliche Talent in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen.«20 Das Zitat lässt durchblicken, daß Schefflers Kunstbegriff auf einer an der Moderne geschulten ästhetisch-sensualistischen Kunstauffassung beruhte, die sich in der Tradition von Zolas Diktum verstand, demzufolge Kunst ein Stück Natur gesehen durch ein Temperament sei. Die Frage nach der Authentizität und Qualität der schöpferischen Leistung war denn auch der eigentliche Prüfstein von Schefflers Italienkritik. Diese Sichtweise brachte es freilich, wie Scheffler sehr wohl wusste, mit sich, »daß in einer 16 Vgl. Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre (wie Anm. 4), S. 340. 17 Ludwig Justi, Habemus Papam! Bemerkungen zu Schefflers Bannbulle »Berliner Museumskrieg«, Berlin 1921, S. 28. 18 Julius Meier-Grafe, Spanische Reise, Berlin 1910. 19 Karl Scheffler, Die europäische Kunst im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1927. – Der Text erschien mit offenkundig programmatischer Absicht auch als eigenständiger Aufsatz; vgl. Karl Scheffler, Kunst und Geschichte. Vorwort zu einer Geschichte der Kunst im 19. Jahrhundert, in: Kunst und Künstler, 25 (1926/27), S. 43–51. 20 Scheffler, Die europäische Kunst im neunzehnten Jahrhundert (wie Anm. 19), S. 9.
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Geschichte der Kunst, die das Wesentliche, nämlich das Talent, nicht vernachlässigen will, entschieden gewertet werden muß, das heißt, daß über die Stärke des Talents, über seine Gefühlskraft und Realisationsfähigkeit Urteile abgegeben werden müssen.«21
IV Geist und Ungeist Der unbeirrbare Subjektivismus machte gewiss die bis heute nachwirkende Attraktivität des Italien-Buches aus. Allerdings beinhaltet Scheffler Darstellung auch Facetten, die das Werk ganz und gar als geistiges Kind seiner Zeit ausweisen. Bewegt es sich doch im argumentativen Dunstkreis populärwissenschaftlicher Auseinandersetzungen um künstlerisches ›Formgefühl‹ und ›Nationalcharaktere‹, wie sie damals im wilhelminischen Deutschland eine nicht unerhebliche Konjunktur verzeichneten. Schon ganz zu Beginn wird dies klar, wenn Scheffler das alpine Gebirgsmassiv zur geistig-kulturellen Grenzscheide zwischen Nord und Süd erklärt: »Dieses Gebirge hat Europa in zwei Welten geteilt, in eine nordische und eine südliche Welt, geographisch und geistig. Und es trennt uns noch heute, trotz der Eisenbahn, nicht nur räumlich, sondern in einer tieferen Weise von Italien.« (14) (Abb. 4) Hier klingt der seit der Romantik fortgeschriebene Mythos eines vermeintlichen Dualismus der deutschen ›Seele‹ an, welche sich gleichermaßen zu nordischer Eigenart wie zu transalpiner Kultur hingezogen fühle. Zu dieser langen Vorgeschichte enthalten zwar lediglich die kurze Einleitung und der dreiseitige Schluss von Schefflers Buch eingehendere Überlegungen – doch diese haben programmatischen Charakter. Überaus kritisch reflektierte Scheffler hier das Faktum, in Deutschland habe seit jeher die Auffassung gegolten, Italien sei nie versiegender Urquell aller abendländischen Kunst. Mit Besorgnis belegte Scheffler die grassierende Italiensehnsucht deutscher Meister mit Namen wie Dürer, Mengs, Cornelius, Overbeck, Feuerbach und Marées, von denen sich nicht wenige gar »freiwillig exiliert« hätten. (4) Ist aber diese Kulturflucht, so Scheffler, anders zu deuten als ein alarmierendes Indiz für eine nationale künstlerische Selbstentfremdung, ja mehr noch: eine Verleugnung des eingeborenen ›nordischen‹ Triebs? Schefflers italienische Reise sollte auch ein Selbstversuch sein, um die Italiensehnsucht, der so viele deutsche Künstler und Intellektuelle in der Vergangenheit erlegen waren, auf ihre aktuelle Symptomatik hin zu überprüfen: »In dem Augenblick, wo ich die Reise beschließe, fühle ich die Pflicht festzustellen, was Italien uns noch ist und sein kann, nicht was es anderen gewesen ist.« (5) Daß Schefflers Resümee in dieser Frage überaus kritisch ausfiel, kann nach dem bisher Gesagten kaum verwundern. Nach dem Abschluss der sechswöchigen Reise stand für Scheffler fest, daß die klassische Kunst eine raffinierte, aber lähmende Verführerin sei. Die deutsche Italiensehnsucht charakterisierte der Schriftsteller geradezu als nationales Verhängnis. Italien, so Scheffler, »wurde […] unserer Nation zum Medium, und so wurde hundertfünfzig Jahre lang das Abgeleitete für das Ursprüngliche gehalten.« (302) Die Konsequenz im Hinblick auf das zeitgenössische Schaffen konnte für Scheffler nur
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heißen: Abkehr von den falschen Idealen der Klassik und Rückbesinnung auf die eigenen, instinkthaften schöpferischen Wurzeln! So ernst war Scheffler dieser Befund, daß er auch vor grotesken Warnungen nicht zurückschreckte: »Italien stärkt entweder den Willen, oder es lähmt ihn. Aus dieser Einsicht folgere ich, daß nur die Wollenden und Männlichen nach Italien wandern sollten, nicht die Werdenden und Suchenden. Italien ist ein Land für Meister, nicht für Lehrlinge. […] Darum sollte man der Jugend dieses Land sperren. Rompreise für junge Künstler, Stipendien für Werdende und Suchende sind etwas wie nationaler Selbstmord.« (302) Worin bestand nun aber die ursprünglich ›nationale‹ künstlerische Eigenart, die nach Schefflers Ansicht der Klassik entgegen stand? Die Antwort ist zwischen den Zeilen zu suchen: Immer wieder nämlich spielt Scheffler im Verlauf seines Reiseberichts die klassische Kunst gegen die mittelalterliche Gotik aus. Wo jene den Reisenden enttäuscht und frösteln lässt, wird jede Begegnung mit gotischem Bau- und Bildwerk geradewegs zur Labsal. Eine Schlüsselszene ist in dieser Hinsicht das Aufeinandertreffen mit dem Grabmal des Cangrande in Verona (Abb. 5): »Wie ein Schrei der Natur« (36), so Scheffler impulsiv, sei ihm die Skulptur begegnet: »Die groß vereinfachten Formen sind mit Lebenswirklichkeit bis zum Bersten gefüllt. Jede Gewandfalte spricht. Der Geist, der über Gräbern eine solche Fülle unmittelbaren Lebens darzustellen wußte und wagte, ist offenbar ein anderer als der der Renaissancezeit. Zur Zeit, als dieses Scaliger-Denkmal entstand, wohnte der Kunst noch Herrscherkraft inne, sie gravitierte noch zum germanischen Geist der Gotik.« (36f.) ›Leben‹, ›Natur‹, ›Wirklichkeit‹, ›Fülle‹ – in der Gotik findet Scheffler all jenes, woran es dem klassischen Italien angeblich mangelt.22 Ihrem vermeintlich ›germanischen‹ Geist widmete Scheffler 1917 eine eigene Abhandlung23 (Abb. 6), mit der er den Versuch unternahm, das gotische ›Formwollen‹ in der deutschen Kunst aller Epochen als latent wirksames Prinzip aufzuzeigen. Genau dieser ›methodische‹ Ansatz findet sich im ItalienBuch vorgeprägt: Das gotische Prinzip, wie Scheffler es dort immer wieder umschreibt, bestimmt sich durch Qualitäten wie erregtes Schöpfertum, Inbrunst, Ursprünglichkeit und Fülle, aber auch durch ›faustisches‹ Wollen, Zweifel und Zerquältsein. Die so gekennzeichnete ›Gotik‹ war nach Schefflers Ansicht der Urquell allen germanisch-nordischen Kunstwollens, weshalb sie sich dem Kundigen in überaus widerstreitenden Stilformen offenbarte. So entdeckte Scheffler etwa einen ›gotischen‹ Zug schon in der antiken Kunst, Züge ›gotischen‹ Wollens bei Tintoretto und Michelangelo und schließlich eine ›heimliche‹ Gotik in der Kunst des Barock.
22 Auch diese Polarisierung war im Grunde wenig originell, denn sie existierte spätestens seit Goethes Aufsatz »Von deutscher Baukunst« (1772), in dessen Nachfolge die Gotik, allen gegenteiligen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, ihren Ruf als urtümlich ›deutsche‹ Stilform behauptete. Der Topos lässt sich bis zu Kurt Gerstenbergs Buch über »Deutsche Sondergotik« nachverfolgen, das im selben Jahr wie Schefflers Italien-Buch erschien. 23 Karl Scheffler, Der Geist der Gotik, Leipzig 1917. – Die griffige Alliteration hatte Scheffler bereits 1914 als Titel eines Aufsatzes gewählt. Vgl. Karl Scheffler, Der Geist der Gotik, in: Der Kunstfreund (Berlin), Ausgabe Februar 1914, S. 129–133.
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Mit dieser Vorstellung eines epochenübergreifenden gotisch-nordischen Gestaltungstriebes traf Scheffler damals einen Nerv der Zeit.24 Am klarsten belegt dies die Tatsache, daß kein Geringer als Wilhelm Worringer das »Tagebuch einer Reise« in der »Neuen Zürcher Zeitung« überaus wohlwollend rezensierte.25 Worringer selbst hatte bekanntlich, aufbauend auf Alois Riegl, in seinem Buch »Formprobleme der Gotik« ähnliche stilpsychologische Begriffspaare (»gotischer« und »klassischer« Formwille) aufgestellt,26 ebenso findet sich hier bereits die Idee einer »geheimen Gotik« in früheren Kulturstufen. Trotzdem Worringer Scheffler manche Fehler und Einseitigkeiten ankreidete, erkannte der Kunsthistoriker doch in dem Italien-Buch ein »Dokument, das zum mindesten einen historischen Wert stets behalten wird«, da in ihm »eine der großen Schicksalsfragen der deutschen Nation«, nämlich ihr Verhältnis zur klassischen Kunst, mit »Klarheit und Eindringlichkeit« behandelt werde.27 Worringer war nicht der einzige Leser, der diese Aspekte an Schefflers Buch würdigte. Walter Krug etwa, Rezensent der pro-expressionistischen Literaturzeitschrift »Die Weißen Blätter«, stellte fest: »[D]ie Gemeinde derer, denen dieses von Herzen kommende Buch zu Herzen gehen wird, ist immerhin recht ansehnlich und alle, in denen die Fülle der deutschen Sprache und die Wahrhaftigkeit der deutschen Kunst noch lebt, wird das Italienische zwar irgendwie mitreißen, aber auch irgendwie erkalten.«28 Auch Georg Biermann, immerhin Verfasser wissenschaftlicher Monografien über Florenz und Verona, verkündete »freudige Zustimmung« und bekannte: »Jedes Urteil ist durch inneren Kampf begründet und geläutert, und fallen auch seiner strengen Kritik ein Dutzend und mehr alter Götter zum Opfer, so rundet und weitet sich dafür auf der anderen Seite das Bild des Großen und ewig Lebendigen, das Italien für den reifen Menschen unserer Tage verschließt. Diese künstlerische Umwertung der Renaissance im Gefühl unserers Jahrhunderts musste endlich kommen […]«.29 Biermann ward Schefflers kritische Abrechnung überdies zum Anlaß, um auf das weitgehend brachliegende Feld einer wissenschaftlichen Bearbeitung der deutschen Kunstdenkmäler hinzuweisen. Wenn er in diesem Zusammenhang gar konstatierte, »daß wir bis zur Stunde von unserem eigenen Vaterlande nicht nur nichts wissen, sondern daß die Emotionen, die das künstlerische Erbe unser Vergangenheit bereit hält, ungleich gewaltiger sind als alle so oft faktisch und literarisch abgetasteten Schönheiten der italienischen Erde«,30 so schoss diese Erkenntnis über Schefflers Ziel ganz sicher hinaus. Erheblich drastischer noch urteilte der Rezensent der »Rheinisch-Westfälischen Rundschau«, Otto Albert Schneider, der Schefflers Werk als Warnung vor einer jederzeit drohenden »fremdländischen Kunstinvasion« verstanden wissen wollte, welche den reich 24 Vgl. dazu Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München 1990. 25 Wilhelm Worringer, Karl Schefflers Italienbuch, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. November 1913. 26 Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1911. 27 Worringer: Karl Schefflers Italienbuch (wie. Anm. 25). 28 Walter Krug (Rezension), in: Die Weißen Blätter 1 (1913/14), S. 95–96, hier S. 95. 29 Georg Biermann, Schefflers Italien, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft (1913), S. 485–486, hier S. 485. 30 Ebd., S. 486.
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sprudelnden Quell des »germanischen Wesens« zu verschütten drohe, und daher mit Nachdruck forderte, Schefflers Sichtweise solle jedem Deutschen »in die Seele gebrannt werden«.31 Daß es noch weitere nationalistisch unterfütterte Würdigungen dieser Art gegeben haben muss, lässt sich aus der Einschätzung Julius Meier-Graefes schließen, der im Dezember 1913 an seinen Verleger Reinhard Piper schrieb: »Eine schlimme Jüngerschaft hat Scheffler übrigens in dem Buch über Italien erwiesen, die bedenklichste Entgleisung, die sich wohl je ein deutscher Schreiber geleistet hat.«32
V Vergangenheit und Gegenwart War aber Schefflers Italienrezeption tatsächlich derart reaktionär? Daß die propagierte Besinnung auf den ›Geist‹ der Gotik konservative Züge trägt ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Daß darin allerdings pangermanische Wahnvorstellungen beschlossen liegen sollen, wie Josef Hofmiller mit Verweis auf Huston Stewart Chamberlain andeutete,33 kann mit guten Gründen bezweifelt werden – schließlich stand der Verfasser im berechtigten Ruf, ein unbedingter Anhänger des französischen Impressionismus zu sein. Keine andere Kunstrichtung war bekanntlich rechtskonservativen Ideologen, etwa dem Kreis um Ferdinand Avenarius’ »Kunstwart«, verhasster als die als artfremd und kosmopolitisch apostrophierte Malerei der modernen Franzosen. Scheffler selbst gelang es übrigens nur in höchst widerspruchsvoller Weise, seine Emphase für ›nordische‹ Gotik und den Impressionismus auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. So wird man in dem schon erwähnten Buch »Der Geist der Gotik« mit der eigenwilligen Überlegung konfrontiert, daß ausgerechnet der Impressionismus den ›Geist‹ und das ›Wollen‹ der Gotik in die Gegenwart hinein verlängere. Die Schlussrichtigkeit dieser These braucht an dieser Stelle nicht zu interessieren. Entscheidend ist, daß Schefflers Argumentation nicht zu verwechseln ist mit der von Autoren wie Paul Fechter34 oder Fritz Burger,35 welche zu jener Zeit die Ansicht vertraten, der vermeintlich ›deutsche‹ Expressionismus stehe in der Traditionslinie der mittelalterlichen Kunst und sei von daher das geeignete Mittel, um die Überwindung des ›seelenlosen‹ Impressionismus herbeizuführen. Solchen Auffassungen wäre Scheffler nie gefolgt. »Es ist ein schlimmer Irrtum«, hatte er im Gegenteil schon 1907 notiert, »wenn argumentiert wird, das künstlerisch schaffende Genie des Deutschen hätte von je eine besondere Eigenart gezeigt und diese müsse als Maß für alles noch Werdende dienen. […] Selbstverständlich ist die stete Gegenwart 31 Otto Albert Schneider, Die italienische Renaissance in deutscher Beleuchtung, in: Rheinisch-Westfälische Rundschau vom 28. September 1913. 32 Julius Meier-Graefe, Brief an Reinhard Pieper vom 2. 12. 1913, in ders., Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente, hg. von Catherine Krahmer, Göttingen 2001, S. 299. – Die nachhaltige Wirkung von Schefflers Buch auf national-chauvinistische Lesarten der deutschen Kunstgeschichte belegt unter anderem ein Büchlein des Erlanger Theologieprofessors Hans Preuß, Dürer – Michelangelo – Rembrandt, Leipzig 1918. 33 Hofmiller, Schefflers Italien (wie Anm. 14), S. 83. 34 Paul Fechter, Der Expressionismus, München 1914. 35 Fritz Burger, Einführung in die moderne Kunst, Berlin 1917.
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der nationalen Lebenskräfte; selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht dem entrinnen, was uns eingeboren ist. Falsch ist es, diese natürlich gegebene Voraussetzung als Ziel zu proklamieren.«36 Überhaupt war Schefflers Italienkritik nicht in die Vergangenheit gerichtet. Er verstand seinen Reisebericht vor allem als Bilanz einer schmerzhaften, aber notwendigen Loslösung von unhinterfragten Konventionen, falschen Idealen und überlebten Bildungsvorstellungen. In seinem Buch steckte mithin kein ›Rückwärts‹, sondern der unbedingte Impuls zur Zeitgenossenschaft: »Ich will empfinden wie ein Künstler«, benannte Scheffler die Zielvorgabe seiner Reise, »der vor allen Werken der Vergangenheit fragt: was kann ich für mich, für unsere Zeit, für die Zukunft daraus gewinnen?« (100)
Epilog Zwei Jahre nach seinem Erscheinen rückten die politischen Zeitumstände Schefflers »Reisetagebuch« in ein anderes Licht. Als Italien im Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte und damit an der Seite der Entente gegen das Deutsche Reich in den Weltkrieg eintrat, erhielten die Diskussionen um das kulturelle Verhältnis zwischen beiden Ländern unvermittelt neue Nahrung, und auch die Frage nach der vermeintlichen Eigenart ›deutscher‹ Kunst gewann erneut an Schärfe. Daß in diesem Zusammenhang Schefflers Analyse an Relevanz gewann, zeigt das Urteil eines unverdächtigen Zeitgenossen wie Hermann Uhde-Bernays, bekannt als Biograph des Deutsch-Römers Anselm Feuerbach, der 1915 die Zeitnähe des Buches hervorstrich und betonte, es werde »in künstlerischer Beziehung zu aktueller Bedeutung erhoben.«37 Scheffler selbst wird dies ebenso empfunden haben, jedoch befand er sich offenbar auch in einem Gewissenskonflikt. Das jedenfalls lässt ein Statement vermuten, das er im Oktober 1915 in der »Vossischen Zeitung« unter dem kämpferischen Titel »Los von Italien« publizierte.38 (Abb. 7) Dabei handelte es sich zuvorderst um die nachdrückliche Bekräftigung der im Italien-Buch formulierten Thesen vom gotisch-nordischen Charakter deutscher Kunst. Aus aktuellem Anlaß der kriegerischen Auseinandersetzungen schien es Scheffler nur geboten, noch einmal seine Forderung zu wiederholen, der Deutsche habe sich freizumachen von den artfremden Verlockungen transalpiner Prägung. Zugleich indes suchte Scheffler sich überdeutlich zu distanzieren von einem nun in der Öffentlichkeit grassierenden, sich zunehmend vulgär gebärdenden Italienhass, welcher – so Schefflers Meinung – rein politisch motiviert, jedoch in keiner Weise weltanschaulich fundiert sei. Los von Italien! jedoch blieb für Scheffler auch weiterhin eine Forderung, die nicht in politischen Ressentiments bestand, sondern innerliche Entsagung forderte: So sprach er denn die klare Warnung aus, »daß es eine doppelte Verarmung bedeuten würde, wenn Italien nun in die Acht erklärt würde, weil ein Rachegefühl dazu treibt« und fügte
36 Karl Scheffler, Der Deutsche und seine Kunst. Eine notgedrungene Streitschrift, München 1907, S. 33f. 37 Hermann Uhde-Bernays, Bücher über Italien, in: Das literarische Echo, 17 (1915), S. 726–734, hier S. 730. 38 Karl Scheffler, Los von Italien, in: Vossische Zeitung vom 16. Oktober 1915. – Der Titel dieses Essays paraphrasiert ebenso die »Los-von-Rom-Bewegung« wie das von Friedrich Lienhard geprägte Motto »Los-von-Berlin!« der Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende.
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hinzu: »Der Krieg aber ist doch kein Argument des Geistes für oder gegen die Renaissance. Es handelt sich nicht darum, ob das italienische Volk uns unsympathisch ist; es darf ein Entschluss, der unsere Kultur so tief berührt, nicht wie eine Vergeltungsmaßnahme wirken.«39 Mag eine Bemerkung wie diese, isoliert zitiert, auch hellsichtig klingen: Sie ist doch lediglich ein kleiner Lichtblick in einem Text, der unter dem Strich durch und durch vom Kriegserlebnis und der damals grassierenden nationalen Hybris infiziert ist. Wenn Scheffler etwa feststellte, es sei »für die deutsche Nation mindestens peinlich, mit ihrer Kultur fortwährend noch auf die alten Kulturwerte einer wesensfremden Rasse zurückgreifen zu müssen«, trotzdem sie doch »siegreich im Mittelpunkt der geschichtsbildenden Kräfte steht«; wenn er nun raunend die »Wiedergeburt des gotischen Geistes« beschwor und den Wunsch formulierte, »die Nation mit der Krone der Vollkommenheit gekrönt zu sehen«, dann waren dies Äußerungen, die von hohler Propaganda nicht weit entfernt waren.40 Widersprochen hat solchen Phrasen damals einer der profundesten Kenner der italienischen Kunst, der Kunsthistoriker Paul Schubring, der in einer sachlichen Entgegnung das Motto »Los von Italien« nicht nur mit einem Fragezeichen versah, sondern ganz entschieden dafür plädierte, angesichts der schwierigen Zeitumstände nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten (Abb. 8): »Was hat überhaupt diese ewige Sorge, wir verlören uns zu sehr an das Fremde?«, fragte Schubring in einem abschließenden Appell an die Vernunft, der im Vergleich zu Scheffler noch heute hellsichtig klingt: »Ob nun Italien oder andere Länder, wir werden nicht aufhören, in die Fremde zu gehen, um reicher und klüger und urteilsfähiger heimzukehren, mag diese Fremde sich noch so eklig benehmen.«41
39 Ebd. 40 Auch aus dem Vorwort zur zweiten Auflage des Italien-Buches, die 1916 erschien, spricht dieser martialische Kampfgeist. 41 Paul Schubring, Los von Italien?, in: Vossische Zeitung vom 27. Oktober 1915. – Diesem Beitrag folgten in der »Vossischen Zeitung« noch eine Antwort Schefflers (8. November 1915) sowie eine weitere Entgegnung Schubrings (4. Dezember 1915). Vgl. mit gleicher Intention auch Paul Schubring: Italien und die Kunsthistoriker, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus 58 (1916), S. 132–134.
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Abb. 1 Titelblatt zu Karl Scheffler: Italien. Tagebuch einer Reise, Leipzig 1913
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Abb. 2 Karl Scheffler um 1914 (Foto: Matzdorff. Karl Scheffler Archiv der Akademie der Künste Berlin: KSA Nr. 687. Mit freundlicher Genehmigung)
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Abb. 3 Postkarte eines Lesers an den Buchautor Karl Scheffler, datiert vom 2. November 1921 (Nachlass Karl Scheffler. Mit freundlicher Erlaubnis von Dody Scheffler-Platz, München)
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Abb. 4 »Berggipfel«, Abbildung aus dem Tagebuch einer Reise
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Abb. 5 »Grabdenkmal des Can Grande«, Abbildung aus dem Tagebuch einer Reise
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Abb. 6 Bucheinband zu Karl Scheffler: Der Geist der Gotik, Leipzig 1917
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Abb. 7 Karl Scheffler, Los von Italien, in: Vossische Zeitung, 16. Oktober 1915
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Abb. 8 Paul Schubring, Los von Italien?, in: Vossische Zeitung, 27. Oktober 1915
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»Uns bleibt nur Demut und Bewunderung«1 Erich Mendelsohn 1911 in Italien Als Erich Mendelsohn im Alter von 24, noch als Student, sich aufmachte, zum ersten Mal nach Italien zu reisen, empfand er wie viele Deutsche zuvor: »Alle Sonne war ueber mir auf dem Bodensee und die kommende Erfuellung eines großen Wunsches. Und alle Freude ist wie das Zittern des Kindes, wenn es seinen Wunsch erhoert weiss, liegt ein stiller Dank darin, daß ihm das ermöglicht wird.«2 In schwärmerischen, zugleich philosophierenden Sätzen schildert er seiner zu dieser Zeit in Leipzig lebenden Freundin und späteren Ehefrau Luise Maas in acht ausführlichen Briefen seine Empfindungen, Gedanken und Erwartungen. Der Briefwechsel mit Luise ist ganz allgemein für die Mendelsohn-Forschung von größter Bedeutung; er ist es auch für den Nachvollzug seiner Studienreise nach Italien, die er im Herbst 1911, genauer vom 25. September bis zum 17. Oktober, unternahm. Wir wissen über seine Route, seine Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen, seine Sehnsüchte und Eindrücke nur aus jenen Briefen an Luise. Mendelsohn reiste noch vor seinem Diplom bei Theodor Fischer im August 1912 als Cand.-arch. nach Italien. Am 25. September ging es über den Gotthard und Como nach Mailand, wo er sich vier Tage aufhielt. Am Samstag, den 30. September, fuhr Mendelsohn nach Pavia, Dienstag, den 2. Oktober, über Genua nach Florenz. Dort blieb er fast zwei Wochen. Am 14. Oktober fuhr er dann weiter nach Rom, blieb dort aber nur zwei Tage und reiste am 17. Oktober zurück nach München. Im folgenden sollen zunächst Ausschnitte aus seinen Briefen zitiert und dann der Frage nachgegangen werden, welche Folgen die Reise für seine weitere Entwicklung gehabt hat. Milano 29. September 1911, Auf dem kleinen Hof der Santa Maria delle Grazie plaetschert ein stiller Brunnen und sucht schuechtern das einfallende Gelaerm der Strasse abzuschwaechen. Junge Priester, Moenche in langen weißen Kutten, schreiten durch die Arkaden des Hofes zur Kirche, die Glocke hebt an und aus dem Innern kommt – sonderbar passend zu dem Spiel des Wassers – der gleichmaessige Klang der Litanei. Alles eng begrenzt und abgeschnitten von der Weite der Welt, in sich verharrend mit dem mystischen Dunkel und seiner Bedruecktheit, mit dem Frieden der engen Grenze. Darueber stuft sich der Oberbau des Bramante in ungeheurer Wucht. Eine Sehnsucht, die zur Tat wurde, der Glaube an die Majestaet eines Gottes in Form gebracht. Und alles gefasst in den grossen
1 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 45. Brief an Luise Maas aus Rom, den 15. Oktober 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg. 2 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 38. Brief an Luise Maas aus Milano, den 26. September 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg.
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kuenstlerischen Gedanken des zierlich aufgeloesten Rundbaues auf den gewaltigen Seitenmauern der Vierung. Das steht ueber aller Architektur Italiens, es ist der erste Eindruck, den mir Italiens Sonne brachte.3
In Mailand schaute er sich auch das Abendmahl Leonardo da Vincis an, das ihn tief beeindruckte. Er schilderte Luise das Fresko und analysierte seine Bedeutung. Insbesondere die Gestalt Jesu empfand es als »unnahbar, ein Gott unter sterblichen Tagesdienern und demuetig sich beugend unter die Groesse seiner Sendung – die goettliche Mischung im Menschen – und Kind.«4 Über seinen Besuch in Genua und Pavia erfahren wir leider nichts in den folgenden Briefen. Dafür schrieb er aus Florenz eine ganze Reihe von Briefen, die uns einen guten Einblick in das Empfinden und die Eindrücke Mendelsohns geben. So schrieb er am 3. Oktober aus Florenz an Luise: […] Wenn wir Grosses sehen und erleben duerfen, dann richtet sich alles Denken hiernach ein. Was uns zu Hoeherem bestimmt, das kommt hervor frei und leicht, ueberfaellt uns mit seiner Guete, daß unser Sein ein Widerschein wird des sonnigen Tages um uns. Mir laeuten die alten Glocken wie einst allen grossen Geistern der Stadt. Man ahnt an ihrem Klang, daß sie reiche, reiche Kunde wissen von den Geschlechtern, die groesser und maechtiger waren als alle Zeiten, von Menschen, deren Sein aufragt in der Geschichte wie Zypressen, die ernst und geradauf den Himmel beruehren, den laechelnden Himmel eines wundervollen Landes. Aber alles Grosse heisst Vergangenheit, was zwischen ihr und uns liegt, diese langen Jahre grauer Unkenntnis und Verkennens, wird tot werden, vergessen als ob es nicht gelebt haette. […] Es muss wundervoll sein, einer grossen Zeit anzugehoeren, mit zu sein in allem Schwung und der begeistenden Taetigkeit fuehrender Kuenstler. Was waeren wir ohne die Kunst? Ein muehselig geplagtes Gewuerm, das den Glanz des Sommers verbringt, um Nahrung zu sammeln fuer den Winter, das die einsamen Naechte des Winters, die Friedenszeit der Sammlung in der Natur, verschlaeft, schwer und traumlos. Daß doch der Welt wieder ein Menschheitsfruehling kaeme, der Kunst und des Geistes und aller guten, grossen Taten. Daß alle bescheidenen Waesser sich finden moechten zum Strom, der nur im Meer seine Ruhe findet. Fester und froher tritt dann unser Fuss auf, ueber Gefahren hinweg und ueber die Kleinheit des Alltags. Frei vom Kastengeist und Enge, mit der Leichtigkeit eines weitsichtigen lebendigen Geistes, der alles kann, weil er Recht und Faehigkeit zu solchem Willen hat, von der Glut eines grossen Gedanken getragen, Gott oder sonst ein mystischer, glaubensstarker Begriff, dann bricht auch uns jene Zeit an, Wiedergeburt, Renaissance. Es gibt nur eine Burg in der Welt, die diesen freien lebentrotzenden Menschenatem einsog und fuer alle Zeit ausstroemt. Mehr als das Zeichen der Groesse und der Macht des Geschlechtes ist der PittiPalast ein Sinnbild der Hoehe, bis zu der der Mensch ueberhaupt hinauf kann. Alle Dome der Gotik, alle Kuppelkirchen der Renaissance sind Bilder eines kindlichen Traumes, mystische Fantasie eines ueberirdischen Reiches. Hier aber ist aller Traum und alle Sehsucht Tat geworden, zu sehen, zu fassen und wenn moeglich zu begreifen. Es gibt keine Frage mehr, keine Ahnung ueber die »Grenzen der Menschheit«. Hier steht die Antwort. Das ist die Grenze und hoch genug. Wohl dem der sich ihr naehert; der sie erreicht, hat Berg und Gipfel erstiegen, ueber freies Land geht sein Blick, ueber die Wahrheiten aller Zeiten. Die zyklopenhaften Bloecke des Erdgeschosse auf der Hoehe des Abhangs sind nur Symbol fuer den ungestuemen Riesenwillen zur Macht ueber die Stadt und die Menschen. Die gewaltigen Fenster im Geschoss darueber – die Steine sind bereits behauen und gleichmaessig – die gefestigte Groesse und danach der Blick, der befreite Blick auf hoehere Dinge – und darueber
3 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 39. Brief an Luise Maas aus Milano, den 29. September 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg. 4 Ebd.
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in fast zierlichem Aufbau – wie eine Krone auf der ganzen Herrlichkeit – die errungene Groesse, die dauernde Macht. Das ist ein Ort zum Singen und Frohsein. Eingebettet in das enge Tal des Arno im Kranz der Berge und der Zypressen. Die Heimat aller guten Geister. Und es ist etwas Trautes um jede Heimat.5
Mendelsohns Interesse ging weit über das Interesse an Architektur hinaus, und er beobachtete das Leben und die Landschaft genau. Er schilderte Luise am 5. Oktober, also am erst dritten Tag seines Aufenthalts in Florenz, eine Beobachtung, die ihn, den kleinbürgerlichen und sicher sparsamen Familienverhältnissen Entstammenden, der die herbschöne Landschaft Ostpreussens vor Augen hatte, nicht nur gewundert, sondern sicher fast geschmerzt haben mag: »Ueber die Berge kommen warme, schwere Winde, ueber die gesegneten Felder und ueber die alte Mauer hier oben, an denen der Wein sich festhaelt. Seine Trauben sind verdorrt, weil alles hier Fuelle ist und Pfennige den Reichtum nicht groesser machen. Mit laessiger Hand greift der Wind in die Zypressen, ihr Gelock kann er nicht krauser machen. Ihre Spitze neigt sich zoegernd, weiss nicht, wem sie sich beugen soll. Ist nur ein Neigen und Grusserwidern. Stolz ist darin und das Bewusstsein ihrer ragenden Schoenheit. […] Ich denke dem Volk der Florentiner nach. Wie reich muss es sein, wenn es die Goldtrauben hoch über der Stadt verdorren lässt.«6 Der Brief vom 8. des Monats ist der längste der gesamten Korrespondenz. Er beschäftigt sich darin ganz überwiegend mit Architektur und versucht, von dieser auf Gemeinsamkeiten und auf Unterschiede der deutschen und der italienischen Kultur zu schließen. So reflektiert Mendelsohn über die Gotik und ihre Verbundenheit mit dem deutschen Volk. Dagegen stellt er die Beobachtungen, die er in Italien gemacht hat: So bewahrt der gotische Dom trotz aller zierlichen und ueberreichen Allegorien und Zierformen seine grosse, lebendige Masse, die allein nur jenem besten Willen, hoeher zu kommen, uns zu vollenden, in uns erweckt und dorthin hebt, wo der Boden nur noch ein Tanzsaal der Seele ist, und die Luft, die um uns ist, ein Echo unseres Gesanges. Aber man merkt, das italienische Volk ist nicht mystisch veranlagt, das Volk kann hoechstens dramatisch sein, und immer mit dem Anstrich der trivialen Pose. […] Zur Zeit der grossen Epoche italienischer Kultur, in der Zeit der Renaissance, sind es immer nur einzelne und stolze Geschlechter, die anregen und selbst schaffen, das ganze Volk wird von der Welle nicht erfasst. Staedte wie Nuernberg und die hundert anderen deutschen aus vorwiegend gotischer Zeit sind hier unmoeglich. Prunkstaetten des Adels – bis zum grossartigsten Wunder – in Italien, Kunststaetten des Volkes – mit allem intimen Reiz seines Geistes – bei uns. – Sechs Tage Alltag und einer nur Festtag. Ich lobe mir die deutschen alten Staedte und liebe sie. […] Und dann plötzlich ploetzlich – wenig nur vorbereitet – steht auf dem Boden der Ueberlieferung antiker Kunst, deren grosse Reste im Lande verstreut sind ueberall wie gute Goetter, jene glanzvolle Zeit auf, deren Werke mit zu dem groessten Reichtum dieses gesegneten Landes ausmachen.
5 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 41. Brief an Luise Maas, Florenz, den 3. Oktober 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg. 6 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 42. Brief an Luise Maas, Florenz, den 5. Oktober 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg.
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Man fuehlt, hier ist nichts Fremdes, muehsam Herbeigeholtes, alles was begonnen war und wurde, erhielt zum Bauherren den bodenstaendigen Geist. Von der roemischen Kunst zur Renaissance ist nur ein kurzer Weg. […]7
Zu einem Schlüsselerlebnis wurde ihm der Besuch im Haus Michelangelo Buonarottis. Enthusiastisch und sehr bewegt ließ er Luise an seinen Empfindungen und Gedanken teilhaben. Er schrieb: […] Mit reicher, ueberstroemender Fuelle empfing mich Florenz und seine Schaetze. Fiel wie goldene Wunder in meine Seele. War an jenem Tage Sonnenschein und die Glut des tiefblauen Himmels. […] Gestern war ich in Michelangelos Haus und heute sah ich noch einmal alle seine Werke. Die Alltagsstaetten grosser Menschen duerfen nicht zur Schau gerichtet werden. Es ist zuviel Heiligkeit um sie. Wer einen grossen Geist liebt mit der ganzen Begeisterung seines eigenen Willens zu hoeren, dem ist jeder noch so geringe intime Vorgang und Oertlichkeit vielleicht noch lieber als seine Werke. Lieben heißt eins-sein und jeder liebe Gedanke knuepft sich an irgend etwas Greifbares, mit dem er im ursaechlichen Zusammenhang steht. Wo ein Leben so groß ist und der Alltag voll Absonderheiten der draengenden Bestimmung, da legt sich um das einfachste ein mystisches Licht, ein Kranz von Immortellen und zartem Duft. Nur die Liebe aber empfindet dies so stark, daß von hier aus ihr Verstaendnis fuer alles andere ausgeht und befruchtet wird. Scheu vor dem Unbekannten, das ueber uns ist, ueber seinem Werk und ihm selbst. Sie schwebt selbst als erhabenste Glorie ueber dieser Stadt, in der sein Geist ruhmreich war wie kein anderer. […] Florenz, die Stadt des Michelangelo – Nun laeuten noch einmal wie zum Abschied alle Glocken. Noch einmal der warme Abend eines lichten Tages. – Da ich kein Kind mehr bin, weint meine Seele vor Freude und Sonne. Morgen bin ich in Rom, – in Rom. […] 8
Nach knapp zwei Wochen verlässt Mendelsohn Florenz und reist nach Rom. Dort ändert sich der Tenor seiner Briefe radikal. Sein erster Brief ist datiert mit: Rom, den 15. Oktober 1911 Wo die Traeume von Jahrhunderten ihr Haupt erheben, wo alles einsam ist und ein Schweigen der Ewigkeit, da hat nur die Sonne das Recht, froh zu sein. Uns bleibt nur Demut und Bewunderung. Denn wir sind nur Truemmer von Zeit und Geschlecht, die das schufen. So durften auch ihre Heiligtuemer nur als Truemmer zu uns kommen. Aus allem Reichtum, der mir so froh und voll zustroemt, erhebt sich ein verneinender Gedanke, ein Hass, der erst hier unter der Kuppel des Pantheon seine Form erhielt. So mag die Erde sich drehen im Luftraum der Welt, ewig kreisend, als ob sie sich weiten wollte und hinaus ueber ihre Grenzen, und hat doch ihr Gesetz und ihren Platz im weiten Meer, so mag die Sonne ueber allem Sein schweben als einziges Licht und hat doch ihre Bahn. […] Und alles hat nur eine Grenze, die des Unendlichen, des freien Menschengeistes, der nur jenem freien Glauben an alle Goetter entspringen konnte, der ewig und einzig fruchtbar ist. Aus tiefster Seele hasse ich das Geschlecht der Froemmigkeit und Kirche. Dieses Gewuerm aus Schwaeche, diesen Durst eines betaeubenden Mitleids. Schmarotzerhaft baut es seine Nester und Bilder gerade dort hin, wo die Erhabenheit der schaffenden Freiheit ihre Werke mit Unsterblichkeit geweiht hat. […]
7 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 43. Brief an Luise Maas, Florenz, den 8. Oktober 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg. 8 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 44. Brief an Luise Maas, Florenz, den 13. Oktober 1911. Zit. nach der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg.
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So scharf wie die Kuppel sich trennt von dem Unterbau, dessen grossartige Pracht der Kram der Kirche ueberwuchert hat, so hart die Grenze zwischen Groesse und Dunkel. Es gibt nur eins. Aus den Traenen des Hasse einen Quell sammeln in dem alle Ehrfurcht vor den erhabenen Wundern der Welt seinen Spiegel hat, seinen Strahlenhimmel und sein ewiges Licht. Festhalten am Glauben zu allen Goettern – das ist der lebendige Wille zum Schaffen in uns.9
Dieser Brief stellt einen tiefen Bruch zur bisher formulierten schwärmerischen Liebe zu Italien und vor allem zu Florenz dar. Der Eindruck der zerstörten antiken Tempel beziehungsweise in Kirchen umgebauter antiker Gebäude – vor allem des Pantheons – führte zu einem völligen Sinneswechsel. Schlagartig distanzierte sich Mendelsohn von Italien, erkannte die tiefen Gräben, die zwischen Rom und der Gegenwart, wie er sie empfand, lagen. Er suchte Antworten auf die Fragen der eigenen Zeit und stellte fest, daß er Antworten darauf in Italien nicht finden könne. Nach seiner Rückkehr nach München schloss er sich den modernen Künstlern an, die gleichfalls erkannt hatten, daß eine neue Zeit nicht mit Antworten aus der Vergangenheit zu bewältigen sei. Seit 1912 war er maßgeblich an der Gründung des Expressionistentheaters beteiligt, arbeitete auch als Bühnen- und Kostümbildner für das Deutsche Theater. So bleibt die Frage: Blieb mehr als ein Eindruck von der Schönheit der Florentiner Renaissancebauten und vom alles bestimmenden Einfluss der römisch katholischen Kirche in Rom? Hier hilft der Blick auf Zeichnungen Michelangelos. Mendelsohn studierte ganz offensichtlich derartige Skizzen in Florenz, als er die Casa Buonarotti besuchte. Und sie beeinflussten seine eigene Maniera maßgeblich, wie Skizzen Mendelsohns der kommenden zwei bis drei Jahre verdeutlichen. Die Lockerheit und zunehmende Großzügigkeit in seinen Skizzen lässt sich fast zwangsläufig auf das Studium der Michelangelo Zeichnungen zurückführen, zumal wenn man bedenkt, wie im Architekturstudium jener Jahre skizziert wurde. Diese These belegt auch ein Bericht Julius Poseners, der Mendelsohn persönlich gekannt und für ihn gearbeitet hat. Er berichtete in seinen Vorlesungen zur Geschichte der modernen Architektur über eine Begebenheit, die sich nach Mendelsohns Rückkehr nach München ereignet haben soll: »Mendelsohn war keineswegs ein brillanter Student, keiner von denen, die kesse Perspektiven hinschmeißen. In den Ferien sah er in Rom eine Sammlung architektonischer Skizzen von Michelangelo und war sehr erstaunt über deren Ungenauigkeit im Detail. Das hat ihn ermutigt, und Fischer [Theodor Fischer, sein Lehrer an der TH München, Anm. RS] bemerkte die Folgen in der Arbeit des Schülers. ›Mendelsohn‹, sagte er, ›was ist Ihnen in den Ferien passiert? Sie arbeiten so viel freier.‹ ›Ach‹, erwiderte Erich, ›was Michelangelo kann, das kann ich auch.‹«10 Die Skizzen wurden in den Jahren des Ersten Weltkriegs – mangels Möglichkeit zu bauen – sein Medium der Auseinandersetzung mit Architektur. Er hat sie zu einer Schön-
9 Letters Eric Mendelsohn, Year 1911, Nr. 45. Brief an Luise Maas, Rom, den 15. Oktober 1911. Zit. nachd der Abschrift Luise Mendelsohns. Kopie im Besitz von Ita Heinze-Greenberg. 10 Zit nach Julius Posener, Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur, Sondernummer zum 75. Geburtstag von Julius Posener, in: Arch + 48 (1979), S. 10.
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heit und Dynamik entwickelt und ihnen damit einen eigenständigen Wert als Kunstwerke verschafft. Architektonisch brachte Mendelsohn aus Italien Eindrücke gelungener Gebäudeproportionen und -dimensionen und eine große Bewunderung antiker Architektur mit. Antworten auf seine drängenden Fragen nach einer neuen Architektur für die eigene Zeit gewann er jedoch nicht in jenem Herbst 1911, sondern erst im Herbst 1924, als er nach Nordamerika reiste. Dort analysierte er die Großstädte und entwickelte aus seiner Kritik – publiziert 1925 in seinem »Bilderbuch eines Architekten« – seine eigene architektonische Sprache.11 Im Rückblick betrachtet, steht seine Italienreise symbolhaft für seine Emanzipation vom gängigen Architektenkonsens jener Jahre, der noch immer weitgehend auf die Stilarchitektur zurückgriff. Die beiden Jahre nach dem Diplom im August 1912 bis zum Kriegsbeginn nutzte er zur Ausbildung seines eigenen künstlerischen Ansatzes. Kriegsbedingt vier Jahre lang am Bauen gehindert, feilte er in Hunderten von Skizzen an seinem architektonisch-künstlerischen Neuansatz, dessen erstes realisiertes Gebäude, der Einsteinturm in Potsdam werden sollte, der der Erforschung des Sonnenlichts diente. Also genau jener Kraft, der er in mehreren seiner Italienbriefe huldigte. Italien übte nach der Reise von 1911 keine Anziehungskraft mehr auf Mendelsohn aus. Es wurde für ihn ein Land des Transits zwischen Deutschland und Palästina, also zwischen seinem Geburtsland, in dem er die größten Erfolge als Architekt feierte, und dem Altneuland, der jüdischen Heimstatt, mit der er sich seit seinen Studententagen verbunden fühlte, und die er mehrfach bereiste, bevor er sich von 1935–1941 dort niederließ.
Letters Eric Mendelsohn Year 1911 * Nr. 38 Milano, den 26. September 1911 Am Kiel des Schiffes muss an stehen, will man Wind und Wellen nach seinem Willen fuehren. Der Wind, der sonnenfrohe Lieder singt und auf das gebietende Wort wartet, die Welle, die, dienstbar dem Geiste des Menschen, gebrochen wird wie klirrendes Glas. Wie der Pfeil auf der Sehne des Bogens, liegt der Mastbaum ueber dem Kiel, nur abzuschnellen zum aufdaemmernden Ufer, zu den Bergen und zu der Sonne Italiens.
11 Erich Mendelsohn, Amerika. Bilderbuch eines Architekten, Berlin 1925. * Exakte Abschrift der maschinenschriftlichen Abschriften der Originalbriefe Erich Mendelsohns an Luise Maas, die heute im Erich Mendelsohn-Archiv der Kunstbibliothek Berlin aufbewahrt werden. Die erste maschinenschriftliche Abschrift erstellte Louise Mendelsohn in den 1960er Jahren mit einer englischen Schreibmaschine ohne Umlaute. Kopien davon im Besitz des Getty Research Instituts, Los Angeles, und bei Ita Heinze-Greenberg, Rohrdorf
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Alle Sonne war ueber mir auf dem Bodensee und die kommende Erfuellung eines grossen Wunsches. Und alle Freude ist wie das Zittern des Kindes, wenn es seinen Wunsch erhoert weiss, liegt ein stiller Dank darin, daß ihm das ermoeglicht wird. Da glueht der Schnee auf dem Gotthardt. Seine Waende leuchten auf vor Sonne sich brechend im Nebelflor. Tausend Meter ewigen Gesteins mit aller Schwere der Ewigkeit schweben ueber uns. Mein Schatten huscht ueber die Waende des Tunnels. Koennte man seinen Schatten haben von jenem Nimmeraufhoeren. Ich denke der Groesse der Welt und der menschlichen Arbeit. Am Abgrund steht zwischen Bergwand und Tiefe ein Kreuz. Der Geist des Volkes ist kein Vogel, der sich ueber die Zeit hebt und den Raum nicht achtet. Umgeben von der erdrueckenden Welt dieser gewaltigen Groesse, braucht es ein Greifbares, an das es seine Furcht klammert, sein Werden und Vergehen. Muss etwas sein, das noch ueber sie steht, noch ueber die Berge und ueber dem Glanz der Luft, Gott ! Und wir verstehen ihren Glauben nicht! Mystische Traeume! Auch in ihnen das Streben hinauf und die Ahnung von mehr als sie begreifen koennen. Aendert die geregelte Form jene Traeume? Und dann hinab in den Abend, zu den Lichtern im Comersee und zur Ebene Italiens. Die Nacht steht ueber ihr und der Schein der Stadt, die unser Ziel ist. Der Morgen ist licht wie der Himmel ueber mir. Was bringt mir der Tag! Erich
Nr. 39 Milano, den 29. September 1911 Auf dem kleinen Hof der santa maria delle grazie plaetschert ein stiller Brunnen und sucht schuechtern das einfallende Gelaerm der Strasse abzuschwaechen. Junge Priester, Moenche in langen weissen Kutten, schreiten durch die Arkaden des Hofes zur Kirche, die Gloche hebt an und aus dem Innern kommt – sonderbar passend zu dem Spiel des Wassers – der gleichmaessige Klang der Litanei. Alles eng begrenzt und abgeschnitten von der Weite der Welt, in sich verharrend mit dem mystischen Dunkel und seiner Bedruecktheit, mit dem Frieden der engen Grenze. Darueber stuft sich der Chorbau des bramante in ungeheurer Wucht. Eine Sehnsucht, die zur Tat wurde, der Glaube an die Majestaet eines Gottes in Form gebracht. Und alles gefasst in den grossen kuenstlerischen Gedanken des zierlich aufgeloesten Rundbaus auf den gewaltigen Seitenmauern der Vierung. Das steht ueber aller architektur mailands, es ist der erste ueberwaeltigende eindruck, den mir italiens sonne brachte. Und blieben nur Reste von Farbflecken uebrig, die nur gerade noch des Bildes Gedanken durchscheinen, erraten liessen, so waere lionardos »Abendmahl« ewig und unerreichbar. Ueber das Geschick der Welt wird hier gesprochen. In aller Weisheit und vorausahnenden Kraft, die die grausige Erfuellung seines Lebens weiss, liegt in Jesus Gestalt jene
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erhabene Ergebung, die nur durch das Bewusstsein der einzig moeglichen Erloesung verstanden und bewundert werden kann. Ueber aller Wahrnehmung und ueber den Zornausbruch der wundervoll erregten Apostelgruppen ist Jesus seinen Gedanken anheim gegeben, die groß und erhaben sein muessen, wie sein Antlitz, seine Haende und die himmlische Ruhe seiner Gestalt. Unnahbar, ein Gott unter sterblichen Tagesdienern und demuetig sich beugend unter die Groesse seiner Sendung – die goettliche mischung im menschen – ! und kind. Die Sonne bleibt mir treu. Wie geht’s in Leipzig? Schreiben Sie mir schnell nach Florenz, poste restante. Sonntag frueh ueber Genua dorthin. Samstag Pavia. Alles herzliche und frohe Ihr Erich
Nr. 40 Milano, den 1. Oktober 1911 Ein stiller Abend nach schoenen Tagen. Morgen frueh nach Florenz. Wenn Sie wuessten, wie immer Sie um mich sind. Alles Gute Erich.
Nr. 41 Florenz, den 3. Oktober 1911 Wenn wir Grosses sehen und erleben duerfen, dann richtet sich alles Denken hiernach ein. Wenn uns zu Hoeherem bestimmt, das kommt hervor frei und leicht, ueberfaellt uns mit seiner Guete, daß unser Sein ein Widerschein wird des sonnigen Tages um uns. Mir laeuten die alten Glocken wie einst allen grossen Geistern der Stadt. Mann ahnt an ihrem Klang, daß sie reiche, reiche Kunde wissen von Geschlechtern, die groesser und maechtiger waren als alle Zeit, von Menschen, deren Sein aufragt in der Geschichte der Menschheit wie Zypressen, die ernst und geradauf den Himmel beruehren, den laechelnden Himmel eines wundervollen Landes. Aber alles Grosse heisst Vergangenheit, was zwischen ihr und uns liegt, diese langen Jahre grauer Unkenntnis und Verkennens, wird tot werden, vergessen als ob es nicht gelebt haette. Was kommt’s drauf an, wo das Grosse stand. Daß wir es besitzen und uns zu eigen machen koennen, daß wir noch rein und faehig genug sind, als solches es zu erkennen, das weckt in uns die Sehnsucht und sie ist nichts anderes als die Geissel, die uns hinantreibt, hinauftreibt zu Hoehen, die des Menschen wuerdig sind. Es muss wundervoll sein, einer grossen Zeit anzugehoeren, mit zu sein in allem Schwung und der begeisternden Taetigkeit fuehrender Kuenstler. Was waeren wir ohne die Kunst? Ein muehselig geplagtes Gewuerm, das den Glanz des Sommers vorbringt, um Nahrung zu sammeln fuer den Winter, das die einsamen Naechte des Winters, die Friedenszeit der Sammlung in der Natur, verschlaeft, schwer und traumlos. Daß doch der Welt wieder ein Menschheits-Fruehling kaeme, der Kunst und des Geistes und alles guten, grossen Taten. Daß alle bescheidenen Waesser sich finden moechten zum Strom, der nur im Meer seine Ruhe findet. Fester und froher tritt dann unser Fuss aus, ueber Gefahren hinweg und ueber die Kleinheit des Alltags. Frei vom Kastengeist
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und Enge, mit der Leichtigkeit eines weitsichtigen lebendigen Geistes, der alles kann, weil er Recht und Faehigkeit zu solchem Willen hat, von der Glut eines grossen Gedanken getragen, Gott oder sonst ein mystischer, glaubensstarker Begriff, dann bricht auch uns jene Zeit an, Wiedergeburt renaissance. Es gibt nur eine Burg in der Welt, die diesen freien lebentrotzenden Menschenatem einsog und fuer alle Zeit ausstroemt. Mehr als das Zeichen der Groesse und Macht des Geschlechtes ist der pitti-Palast ein Sinnbild der Hoehe, bis zu der der Mensch ueberhaupt hinauf kann. Alle Dome der Gotik, alle Kuppelkirchen der Renaissance sind Bilder eines kindlichen Traumes, mystische Fantasie eines ueberirdischen Reiches. Hier aber ist aller Traum und alle Sehnsucht Tat geworden, zu sehen, zu fassen und wenn es moeglich zu begreifen. Es gibt keine Frage mehr, keine Ahnung ueber die »Grenzen der Menschhheit«. Hier steht jede Antwort. Das ist die Grenze und hoch genug. Wohl dem, der sich ihr naehert, der sie erreicht, hat Berg und Gipfel erstiegen, ueber freies Land geht sein Blick, ueber die Wahrheiten aller Zeiten. Die cyklopenhaften Bloecke des Ergeschosses auf der Hoehe des Abhangs sind nur Symbol fuer den ungestuemen Riesenwillen zur Macht ueber die Stadt und die Menschen. Die gewaltigen Fenster im Geschoss darueber – die Steine sind bereits bereits behauen und gleichmaessig – die gefestigte Groesse und danach der Blick, der befreite Blick auf hoehere Dinge – – und drueber in fast zierlichem Aufbau – wie eine Krone auf der ganzen Herrlichkeit – die errungene Groesse, die dauernde Macht. Das ist ein Ort zum Singen und Frohsein. Eingebettet in das enge Tal des Arno im Kranz der Berge und der Zypressen. Die Heimat aller guten Geister. Und es ist etwas Trautes um jede Heimat. Daß Sie doch hier waeren! Ich bringe Ihnen von meiner frohen Seele das Beste und vom frohen Schaffen. Wann hoere ich von Ihnen? Erich
Nr. 42 Florenz, den 5. Oktober 1911 Ueber die Berge kommen warme, schwere Winde, ueber die gesegneten Felder und ueber die alte Mauer hier oben, an denen der Wein sich festhaelt. Seine Trauben sind verdorrt, weil alles hier Fuelle ist und Pfennige den Reichtum nicht groesser machen. Mit laessiger Hand greift der Wind in die Zypressen, ihr Gelock kann er nicht krauser machen. Ihre Spitze neigt sich zoegernd, weiss nicht, wem sie sich beugen soll. Ist nur ein Neigen und Grusserwidern, Stolz ist darin und das Bewusstsein ihrer ragenden Schoenheit. Drueben an der Bastion steht eine einzige Pinie. Die liebkost der Wind, faehrt sanft drueber weg wie ueber den Segen eines Kornfeldes. Aber hier erzittert er selbst an der geballten Faust der Kugel-Akazie, die kleinsten Blaetter am Rande flimmern wie der gluehende Dunst im Sonnenlicht. Da haelt er an und legt sich auf die Mauer hoch ueber den Tuermen der Stadt und den Fruchtbaeumen des Gartens neben mich und greift mir ins Haar und erzaehlt Wunderdinge von Laendern, die er sah und von Geschicken der Menschen.
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O, es ist ein herrliches Ding um das Land der Träume. Nur acht geben, daß wir es zu Ende traeumen. Dann ist es Reichtum. Perlenglanz ohne die feste form nannten wir seifenblasen. Ich denke dem Volk der Florentiner nach. Wie reich muss es sein, wenn es die Goldtrauben hoch ueber der Stadt verdorren laesst. Erich
Nr. 43 Florenz, den 8. Oktober 1911 Mailands Dom liegt breitgelagert mitten in der Stadt, wie einer der seinen Platz und seine Ruhe dort gefunden hat. Es ist die Saettigung des guten Buergers, der nur noetig hat seine, alle seine bunten Faehnchen auszuhaengen, um seinen Nachbarn und Mitbuergern Ergebenheit und Hochachtung einzufloessen. Die Gotik bleibt nun mal die urwuechsige Verkoerperung jenes Glaubens an Gott und sein himmlisches Reich. Alles Leben wird danach eingerichtet, dessen teilhaftig zu werden. Und dieses mystische Begehren, das wie ein Suedwind, wie ein drueckender Sturm ueber flaches Land ueber das ganze Volk kommt, Form annimmt in dieser erhabenen Groesse, das zeugt fuer ihn als eine gewaltige Eruption des menschlichen Geistes, seines Triebes zur Kunst d.h. seine Sehnsucht nach Erloesung und Vollendung. Denn ein werk entsteht immer nur da, wo der autor ganz von dem einen schauen erfuellt ist. Nicht mehr er selbst, sprachrohr und hand des geistes, der ihn treibt. So bewahrt der gotische Dom trotz aller zierlichen und ueberreichen Allegorien und Zierformen seine grosse, lebendige Masse, die allein nur jenem besten Willen, hoeher zu kommen, uns zu vollenden, in uns erweckt und dorthin hebt, wo der Boden nur noch ein Tanzsaal der Seele ist, und die Luft, die um uns ist, ein Echo unseres Gesanges. Aber man merkt, das italienische Volk ist nicht mystisch veranlagt, das Volk kann hoechstens dramatisch sein, und immer mit dem Anstrich der trivialen Pose. Es sind ja immer nur einzelne Geister, die unter der gluecklichen Konstellation von Begabung, Schicksal und Umgebung sich zu stolzen Werken aufschwingen. Die Begeisterung des italienischen Volkes ist ein springender Bergbach, bald klar und klingend, bald schmutzig und hart fallend, wenn schweres Wetter Sand und Geroell herabwaescht. Es ist so. Nur der Strom findet im Meer seine Ruhe. Zur Zeit der grossen Epoche italienischer Kultur, in der Zeit der Renaissance, sind es immer nur einzelne sinnige und stolze Geschlechter, die anregen und selbst schaffen, das ganze Volk wird von der Welle nicht erfasst. Staedte wie Nuernberg und die hundert anderen deutschen aus vorwiegend gotischer Zeit sind hier unmoeglich. [Nr. 43, Page 2] Prunkstaetten des Adels – bis zum grossartigsten Wunder – in Italien, Kunststaetten des Volkes – mit allem intimen Reiz seines Geistes – bei uns. – Sechs Tage Alltag und einer nur Festtag. Ich lobe mir die deutschen alten Staedte und liebe sie. Aber im Innern jedes Domes sieht man die deutsche Hand. Hier erhebt sich jedes ragende Schweigen eines ersehnten Reiches, das immer ein neues Wunder zu uns kommt, das auch im fernsten ans Weltende eine hoehere Gewalt setzt und sei es nur unseren besten Willen, den Gott in uns.
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Aber auch hier ein Beweis fuer das Fruehere. Die Flaechen der Kreuzgewoelbe hoch oben auf den maechtig aufstrebenden Marmorpfeilern sind in zierlichster Filigranarbeit als Marmor – gemalt. Ist es nicht unwahr gegen sich selbst und ein Vergehen gegen die hoechsten Gesetze der Kunst, in ihr etwas vortaeuschen zu wollen? Der deutsche Geist der gotischen Zeit ist schlicht und wahr. Und dann ploetzlich – wenig nur vorbereitet – steht auf dem Boden der Ueberlieferung antiker Kunst, deren grosse Reste im Lande verstreut sind ueberall wie gute Goetter, jene glanzvolle Zeit auf, deren Werke mit den groessten Reichtum dieses gesegneten Landes ausmachen. Man fuehlt, hier ist nichts Fremdes, muehsam Herbeigeholtes, alles was begonnen war und wurde, erhielt zum Bauherrn den bodenstaendigen Geist. Von der roemischen Kunst zur Renaissance ist nur ein kurzer Weg. Mit der Erkenntnis ihrer erhabenen Groesse war die Antike neu geboren, nein neu belebt mit dem freien Geist eines stolzen, unermesslichen Reichtums. Alles wird bewusste Form, das Nurahnen faellt fort, an die Stelle der ueberwaeltigenden Mystik tritt jene maerchenhafte Pracht, die vom Altar aus unter dem Angesicht des Heilandes selbst das Volk blendet, zur Andacht und zum Glauben zwingt. Il fiore die Lilie ist das Sinnbild des schlanken Wuchses, der schoenen Form und der mannigfachsten Farbenzartheit. Keine andere Blume passte als erwaehlte fuer Florenz, diesen ewigen Fruehling. [Nr. 43, Page 3] So wurde santa maria del fiore, der Dom von Florenz ihr gleich, ein Fruehling im Werden der Kunst und des menschlichen Lebens. Sein Inneres ist in strenger Form mit flacher Decke so schlicht, daß jeder, der zu ihr kommt, erstaunt ist nach aller Pracht da draussen. Es waere schade, wenn es »ernuechtert« heissen sollte. Aber hier ist eben alle Pracht gesammelt auf den Altarplatz, der selbst in reichem Prunk zum Himmel hat die herrliche Woelbung der Kuppel brunelleschi’s trotz der grossen perspektivischen Verkuerzung, wenn von unten gesehen, wirkt sie aufragend und ueberdeckend, sie fasst alles in sich, den Heiland auf dem Altar, den Weihrauch, den man zu ihm hinaufschickt und alle Gebete und Gesaenge des glaeubigen und unglaeubigen Volkes. Aber man muss sie von hoch oben ueber der Stadt gesehen haben, wenn ihre Groesse allein aufragt ueber die tausenden Daecher, ueber alles Leid und alles Lachen, das unter ihnen wohnt. Gegen den Abendhimmel des toskanischen Herbstes oder im Schein des vollen Mondes, die weissen Mamorrippen heben sie so hinaus, daß sie in dem Begehren, schlank zu sein und alles zu besiegen, nie zur Ruhe zu kommen scheint, hinaus quillt in den Dunst des goldenen Abends oder zur Klarheit der hellen Nacht. Mit ihr spielend traegt sie ueber sich die Laterne, den marmornen Aufsatz, der mit Volutenarme sich auf sie stuetzt, allen Quellen nachgebend, selbst mithelfend am freudig stolzen Wollen. Das Hauptmerkmal der Renaissancebaukunst sind die Kuppelkirchen. Hier erfaehrt man’s. Sie ist die Krone ueber aller Pracht, weh ihr, wenn sie nicht aus Gold ist und Edelgestein. Es ist wundervoll. Die alte Bruecke, der ponte vecchio, selbst wenn die blanke Sonne eines blauen Himmels auf ihr liegt, sieht immer aus wie einer, der immer Traeume hat und ueber sie das Leben vergisst.
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Muede kann sie nicht sein. Also ist sie abgeklaert wie einer, der viel, sehr viel erlebt hat. Sinnt wohl jenen Tagen nach, da er Kriegslaerm und Minnejagden diente und allen Geschlechtern und lorenzo dem Herrlichen. Wer weiss, wie oft er gesucht und geschwiegen. Sind viele zarte Farben an ihm wie immer voll sinnender Freude [Nr. 43, Page 4] Am Abend fahren zweiraedrige Wagen ueber ihn, hohe, bunte Raeder und noch bunteres Pferdegehaenge und Gloeckchen an ihnen. Der Fuehrer traegt als Laterne in der Hand eine Tuete, in der ein Licht steckt. Wie leicht er sich seinen Weg erleuchtet. Verbrennt sich nicht und der Wind blaest es nicht aus. Wie leicht das ist. – Ich bin so froh und voller Seligkeit. Ihr Erich
Nr. 44 Florenz, den 13. Oktober 1911 Ihr armer, reicher Brief am 29. September kam erst heute zu mir. Liebe Gedanken koennen unsere beste Freude noch hoeher heben. Mit reicher, ueberstroemender Fuelle empfing mich Florenz und seine Schaetze. Fiel wie goldene Wunder in meine Seele. War an jenem Tage Sonnenschein und die Glut des tiefblauen Himmels. Die letzten Tage sind nur noch ein Lied, ja, von »Freude und Andacht.« Man muss mit kindlich offenem Verlangen vor sie hintreten, das fuer jeden Flimmer von Licht dankbar ist. Mit dem freien Willen, ihrer teilhaftig zu werden, und nicht zu ruhen, bis von aller Schoenheit ein reicher Glanz in uns ist. Aber freigebig wie der Edelmut eines reichen Fuersten alten Geschlechtes gibt sie sich, kann aller Zukunft erzaehlen von ihrer Vergangenheit und keiner kommt, der ihr etwas nehmen kann. Gestern war ich in michelangelos’s Haus und heute sah ich noch einmal alle seine Werke. Die Alltagsstaetten grosser Menschen duerfen nicht zur Schau gerichtet werden. Es ist zuviel Heiligkeit um sie. Wer einen grossen Geist liebt mit der ganzen Begeisterung seines eigenen Willens zu hoeren, dem ist jeder noch so geringe intime Vorgang und Oertlichkeit vielleicht noch lieber als seine Werke. Lieben heisst eins-sein und jeder liebe Gedanke knuepft sich an irgend etwas Greifbares, mit dem er im ursaechlichen Zusammenhang steht. Wo ein Leben so groß ist und der Alltag voll Absonderheiten der draengenden Bestimmung, da legt sich um das einfachste ein mystisches Licht, ein Kranz von Immortellen und zartem Duft. Nur die Liebe aber empfindet dies so stark, daß von hier aus ihr Verstaendnis fuer alles andere ausgeht und befruchtet wird. Scheu vor dem Unbekannten, das ueber uns ist, ueber seinem Werk und ihm selbst. Sie schwebt selbst als erhabenste Glorie ueber dieser Stadt, in dem sein Geist ruhmreich war wie kein anderer. Sein David, Brutus, die Gefangenen – alles Buerger von Florenz, seiner wahren Heimat, erblickt im Geist der grossen Zeit und in der Fantasie seiner noch hoeheren Sehnsucht. Und die ist ein Turm fuer alle Menschheit. [Nr. 44, Page 2] Florenz, die Stadt des Michelangelo – Nun laeuten noch einmal wie zum Abschied alle Glocken. Noch einmal der warme Abend eines lichten Tages.
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Da ich kein Kind mehr bin, weint meine Seele vor Freude und Sonne. Morgen bin ich in Rom, – in Rom. Und, die Rosen duerfen nicht welken. Erich
Nr. 45 Rom, den 15. Oktober 1911 Wo die Traeume von Jahrhunderten ihr Haupt erheben, wo alles einsam ist und ein Schweigen der Ewigkeit, da hat nur die Sonne das recht [sic!], froh zu sein. Uns bleibt nur Demut und Bewunderung. Denn wir sind nur Truemmer von Zeit und Geschlecht die das schufen. So durften auch ihre Heiligtuemer nur als Truemmer zu uns kommen. Aus allem reichtum, der mir so froh und voll zustroemt, erhebt sich ein verneinender gedanke, ein hass, der erst hier unter der kuppel des pantheon seine form erhielt. So mag die erde sich drehen im luftraum der welt, ewig kreisend, als ob sie sich weiten wollte und hinaus ueber ihre grenzen, und hat doch ihr gesetz und ihren platz im weiten meer, so mag die sonne ueber allem sein schweben als einziges licht und hat doch ihre bahn. Wie ueber allem, was menschenhand schuf als bildende kunst die sich erhebt, als ob sie nie zur ruhe kommt. Und alles hat nur eine grenze, die des unendlichen, des freien menschengeistes, der nur jenem freien glauben an alle goetter entspringen konnte, der ewig und einzig fruchtbar ist. Aus tiefster seele hasse ich das geschlecht der froemmigkeit und kirche. Dieses gewuerm aus schwaeche, diesen durst eines betaeubenden mitleids. Schmarozerhaft baut es seine nester und bilder gerade dort hin wo die erhabenheit der schaffenden freiheit ihre werke mit unsterblichkeit geweiht hat. Es fehlt nur noch, dass unter dieser rhytmischen woelbung von form und licht einer aufstaende und dem volke predigte, es verfuehre, ab von dem geist der vollendung jener draengenden sehnsucht, den ewigen wahren, einzigen gott. So scharf wie die kuppel sich trennt von dem unterbau, dessen grossartige pracht der kram der kirche ueberwuchert hat, so hart die grenze zwischen groesse und dunkel. Es gibt nur eins. Aus den traenen des hasses einen quell sammeln, [nr. 45, Page 2] in dem alle ehrfurcht vor den erhabenen wundern der welt seinen spiegel hat, seinen strahlenhimmel und sein ewiges licht. Festhalten am glauben zu allen goettern – das ist der lebendige wille zum schaffen in uns – 16. Oktober 1911 Alles Glueck und alle reiche Freude! Die Sonne war mir treu wie nie.
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Nun ist die Zeit um. Morgen Mittag zurueck nach Muenchen. Daß Sie doch dort waeren! Aber Sie hoeren alles, und alles klingt zurueck. Wie reich sind wir. Den letzten Gruss von ganzem Herzen Erich Was war bei Klengel und alles?
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Abb. 1 Erich Mendelsohn als Student, um 1909. Getty Research Institute, Los Angeles, Special Collections and Visual Resources, Eric and Louise Mendelsohn Papers, Acc. #880406
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Abb. 2 Luise Maas um 1910. Getty Research Institute, Los Angeles, Special Collections and Visual Resources, Eric and Louise Mendelsohn Papers, Acc. #880406
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Transatlantischer Ideentourismus Robert Venturi, die Grand Tour und die italienische Architektur Die Italienreise und das Studium der Bauwerke der Antike und der Renaissance vor Ort bildeten während Jahrhunderten wenn nicht das Pflichtprogramm, so doch die Kür der abendländischen Architektenausbildung. In dem Maße, wie sich die Moderne vom Architekturverständnis dieser Epoche entfernte, verloren Italien und sein historisches Vermächtnis ihren Status als maßgeblichen Bezugsrahmen, und das System der nationalen Akademien in Rom, mit dem der Kanon auf der Ebene der Ausbildung durchgesetzt wurde, geriet in den Geruch des Konservativen und Reaktionären. Mit der Revision modernistischer Doktrin ab den 1950er Jahren und verstärkt durch die mehr oder minder offene Opposition gegen deren Vorherrschaft ab den 1970er Jahren (bald im Zeichen der nun ausgerufenen Postmoderne) stellte sich die Frage von Neuem, welcher Stellenwert der historischen italienischen Architektur für das Bauen der Gegenwart beigemessen werden sollte. Bei der Beantwortung dieser Frage erweist sich ein Blick auf den amerikanischen Architekten und Theoretiker Robert Venturi (* 1925) als besonders aufschlussreich. Nicht nur durfte Venturi mit seinen einflussreichen, bis heute gelesenen Traktaten eine Zeitlang die Führerschaft in der zeitgenössischen Diskussion in Anspruch nehmen; auch hat der Architekt aus Philadelphia nie ein Geheimnis aus seiner Faszination für die Stadt Rom und ihre Architektur gemacht. Im Folgenden geht es um die Frage, inwieweit das architektonische Denken Robert Venturis als Resultat einer vertieften Auseinandersetzung mit der Architektur Italiens im Allgemeinen und Roms im Besonderen verstanden werden kann. Darüber hinaus steht angesichts der zentralen Position Venturis in der jüngeren Geschichte der Disziplin zur Diskussion, ob die Bedeutung, die er der Stadt Rom und ihrer Architektur beimaß, als paradigmatisch für das Architekturverständnis einer ganzen Generation aufgefasst werden muss. Die folgenden Ausführungen fokussieren auf Venturis ›Entdeckung‹ Roms im Sinne eines exemplarischen Beispielfalls. Dabei konzentrieren sie sich im Wesentlichen auf zwei längere Aufenthalte, die durch private Korrespondenzen des Architekten sowie einen unveröffentlichten Reisebericht dokumentiert sind. Neben der historischen Architektur bildet insbesondere die italienische Architektur der 1950er Jahre beziehungsweise die Frage nach ihrer Rolle im Hinblick auf Venturis Œuvre einen Schwerpunkt. Venturis Auseinandersetzung mit zeitgenössischen italienischen Positionen ist in der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben.1 Venturis Romaufenthalte Ende der 1940er und Mitte der 1950er Jahre, um die es im Folgenden geht, wurden ausdrücklich im Sinne von Bildungsreisen unternommen und ordnen sich damit in die Tradition der (amerikanischen) Grand Tour ein. Es soll daher zunächst geklärt werden, inwiefern diese Episoden in der Biografie eines amerikanischen
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Architekten als Aktualisierung eines vormodernen Rituals im Zeitalter des beginnenden Massentourismus aufgefasst werden können.2
1 Das Vermächtnis der Grand Tour Demokraten auf aristokratischen Pfaden: Amerikaner in Europa Mit der ›Grand Tour‹ wird gemeinhin eine mehrjährige Reise durch Frankreich und Italien bezeichnet, die von den männlichen Angehörigen der nordeuropäischen Aristokratie zu Bildungszwecken unternommen wurde.3 Die britische Kavaliersreise des 18. Jahrhunderts wurde im 19. Jahrhundert durch die aufstrebenden amerikanischen Mittelschichten beerbt. Diese Kreise trugen zur Genese eines für weite Bevölkerungsschichten erschwinglichen Reisetypus bei, der als Vorläufer des modernen Massentourismus gelten darf. Der offenkundige Hauptgrund für die Sehnsucht einer stetig wachsenden Anzahl wohlhabender Amerikaner nach der Alten Welt lag in einem verbreiteten Gefühl kultureller Minderwertigkeit, das sich kompensatorisch in einem »desire for high culture«4 äußerte, die man in Europa in viel höherer Dichte zu finden glaubte. Gegenüber der aristokratischen Grand Tour des vorangegangenen Jahrhunderts fanden nun erste Schritte in Richtung einer Demokratisierung der Italienreise statt, die unter dem Eindruck der leistungsorientierten Marktwirtschaft unter das Diktat der Zeit fiel. Dadurch verkürzte sich ihre Dauer von ursprünglich mehreren Jahren auf wenige Wochen oder Monate. Die sprunghaft
1 Der vorliegende Text basiert auf der Lizenziatsarbeit »Rome in Mind. Robert Venturi, Rom und die Postmoderne«, die im Frühling 2003 am Lehrstuhl Prof. Dr. Stanislaus von Moos am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich angenommen wurde. Eine stark gekürzte Version einiger zentraler Erkenntnisse wurde veröffentlich als »Das verdrängte Gedächtnis der Postmoderne. Die architekturgeschichtliche Bedeutung von Robert Venturis ›Entdeckung‹ Roms«, in: Neue Zürcher Zeitung, 13./14. Dezember 2003, S. 69. − Zur hier zur Diskussion gestellten Bedeutung der italienischen Nachkriegsarchitektur im Sinne einer Vorwegnahme postmoderner Architektur, jedoch ohne Bezugnahme auf die Biografie Venturis vgl. insbesondere Thomas Schumacher, »Rome. Orphan of the Modern Movement or Cradle of Post-Modernism?«, in: Michael Graves (Hrsg.), Roma Interrotta, enthalten in AD Architectural Design 49 (1979), Nr. 3−4, S. 91−95 (= AD Profile 20). − Es ist anzumerken, dass in den folgenden Ausführungen ein Kapitel der intellektuellen Biografie einzig Robert Venturis im Vordergrund steht, während der für das gemeinsame Werk signifikante Beitrag seiner langjährigen Partnerin Denise Scott Brown in diesem Rahmen nicht detailliert dargestellt werden kann. 2 Nimmt man etwa die Eröffnung des Disneyland-Vergnügungsparks im kalifornischen Anaheim als Wegmarke bei der Herausbildung des Massentourismus, so bildet das Jahr 1955 das Stichdatum. 3 Einführend zu Geschichte und Wesen der Grand Tour s. John Reeve, »Grand Tour«, in: Jane Turner (Hrsg.), The Dictionary of Art, Bd. 13. London (Macmillan), 1996, S. 297−306. Eine reich illustrierte, im Wesentlichen jedoch auf den britischen Blickpunkt beschränkte Überblicksdarstellung bildet Christopher Hilbert, The Grand Tour. London (Thames Methuen), 1987 (1. Aufl. 1969). Einführend für die spezifisch amerikanische Grand Tour des 19. Jahrhunderts s. Tracey Jean Boisseau, »Grand Tour«, in: Paul Finkelman (Hrsg.), Encyclopedia of the United States in the Nineteenth Century, Bd. 2. New York (Charles Scribner’s Sons), 2001, S. 1f. Zur Europareise der amerikanischen Mittel- und Oberschicht im 19. Jahrhundert aus literaturhistorischer Perspektive s. William W. Stowe, Going Abroad. European Travel in Nineteenth-Century American Culture. Princeton (Princeton University Press), 1994. 4 Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. 5.
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ansteigende Zahl an Reiseberichten und -führern ist Ausdruck der Demokratisierung und Rationalisierung des Reisens in der amerikanischen Gesellschaft jener Epoche. Für den amerikanischen ›Tourismus‹ der ersten Stunde erwiesen sich zwei Bücher als besonders einflussreich, prägten sie doch die Europarezeption einer ganzen Generation entscheidend mit: George P. Putnams The Tourist in Europe aus dem Jahr 1838 und Roswell Parks A Hand-Book for American Travellers in Europe von 1853.5 Für die allgemeine Entwicklungstendenz der touristischen Bildungsreise im 19. Jahrhundert indes ist eine etwas spätere Publikation noch bezeichnender: Henry Morfords Morford’s Short-Trip Guide to Europe (1874) richtet sich an den Kapitalisten, der Zeit mit Geld gleichsetzt und der sich den europäischen Bildungskanon ganz im Sinne jedes anderen Guts aneignet, nämlich aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Der Primat der Effizienz kommt in der für Morford zentralen Frage zum Ausdruck: »[W]hat need be the expenses, for a certain round, of a traveler going first-class and demanding all the comforts, and yet indisposed to waste money on costly luxuries?«6 Sein Leser ist ein begüterter, jedoch preisbewusster Konsument mit begrenztem Zeitbudget auf Shoppingtour im kulturellen Warenhaus Europa, wo ihm gegen Geld Bildung und Weltläufigkeit feilgeboten werden. Die Ersetzung des Prinzips Kontemplation durch jenes der Effizienz bildet nicht den einzigen Unterschied zwischen der aristokratischen Grand Tour und dem zunehmend demokratisierten amerikanischen Tourismus des 19. Jahrhunderts. Großbritannien war für die Amerikaner in der gemeinsamen angelsächsischen Sprachwelt nicht nur ein kultureller Referenzpunkt, sondern auch ein vordergründiges Reiseziel. Die Eröffnung eines Passagierdienstes zwischen New York und Liverpool durch die Black Ball Line im Jahr 1818 schuf dafür die wichtigste Voraussetzung. Die amerikanische Bildungsreise des 19. Jahrhunderts durch Europa begann daher nach der Überquerung des Atlantiks in aller Regel mit einem längeren Aufenthalt in Großbritannien. Erst anschließend wurde Fuß auf das europäische Festland gesetzt. Eingehend bereist wurden, ganz der aristokratischen Tradition entsprechend, vor allem Frankreich und Italien, woran sich fakultativ Ausflüge nach Deutschland und die Schweiz sowie nach Belgien und in die Niederlande anschließen konnten, aber auch Reisen in andere Länder Mitteleuropas oder des Mittelmeerraums.7 Abgesehen von der vordergründigen Begeisterung über die Einlösung eines in Büchern verheißenen Versprechens bot die Europareise den amerikanischen Touristen des 19. Jahrhunderts auch Anlaß zum Vergleich des Fremden mit dem Eigenen. Die Bedeutung von ›Fremdheit‹ wurde dabei primär von den Oppositionspaaren Katholizismus versus Protestantismus und Aristokratie versus Demokratie bestimmt. War die Alte Welt aufgrund ihrer kulturellen Leistungen und Traditionen Projektionsfläche für Bewunderung, so boten die angesprochenen kulturellen Differenzen im Gegenzug auch Anlaß zur Kritik. Zu den gängigen Mustern amerikanischer Europarezeption gehörte der Vorwurf der Dekadenz und der fehlenden demokratischen Traditionen. Der amerikanische Blick auf Europa war im 19. Jahrhundert zutiefst ambivalent: Auf der einen Seite wurde die kultu5 Vgl. Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. 29−34. 6 Henry Morford, Morford’s Short-Trip Guide to Europe. New York (Lee, Shepard, and Dillingham), 1874, S. 11. Hier zit. nach Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. 35. 7 Vgl. Boisseau 2001 (wie Anm. 3), S. 1.
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relle Überlegenheit Europas unhinterfragt anerkannt und gepriesen, was sich im Wunsch nach Aneignung des europäischen Bildungskanons äußerte; auf der anderen Seite wurde das gesellschaftliche System, das den sozialen Hintergrund der bewunderten kulturellen Leistungen bildete, als rückständig, undemokratisch und maßlos abgelehnt. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Wahrnehmung fundamentaler kultureller Differenzen zwischen Europa und Amerika beziehungsweise ein Oszillieren zwischen bedingungsloser Anerkennung eines Kanons und seiner Infragestellung auch für die amerikanische Europarezeption im 20. Jahrhundert prägend waren und inwieweit sie das Selbstverständnis eines Architekten wie Robert Venturi mitbestimmten.
Konstruktion sozialer Distinktion und Initiationsritual Trotz deutlich veränderter Reisegewohnheiten und einer auf den außereuropäischen Blickwinkel angepassten Reiseroute teilte das amerikanische Reiseverhalten im 19. Jahrhundert einen zentralen Aspekt mit der Tradition der aristokratischen Grand Tour. Zum Zeitpunkt ihrer größten Popularität war es für die männlichen Mitglieder der herrschenden britischen Aristokratie zur verbindlichen sozialen Konvention geworden, eine ausgedehnte Europareise zu absolvieren. Wenngleich es für den bürgerlichen Reisenden aus den demokratischen Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts nicht um die Zughörigkeit zur Aristokratie gehen konnte, eröffnete die Bildungsreise auch für diese Reisenden die Gelegenheit zu sozialer Distinktion: »The whole enterprise of European travel by nineteenth-century Americans was intimately associated […] with the construction of a privileged bourgeoisie in the context of an ostensibly classless society.«8 Den Charakter eines distinktiven Merkmals gewann die Europareise im amerikanischen Kontext vornehmlich dadurch, daß sie trotz zunehmender Popularisierung weiterhin einer relativ schmalen sozialen Schicht der ›happy few‹ vorbehalten blieb. Gemäß dem Soziologen Pierre Bourdieu sind die Handlungen der Mittel- und Oberschicht wesentlich darauf angelegt, soziale Unterschiede zu produzieren und aufrecht zu erhalten; diese wiederum führen zur Ausbildung spezifischer klassengebundener Geschmackskulturen. In diesem Sinne bot die Grand Tour der bürgerlichen Schicht ein hervorragendes Vehikel der Distinktion und zugleich der Rückversicherung des eigenen sozialen Status gegenüber der Rhetorik der Gleichheit, auf die sich das demokratische Modell der Vereinigten Staaten berief.9 Für die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite Amerikas des 19. Jahrhunderts war die Grand Tour mithin konstitutiv. Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der Grand Tour kann in diesem Zusammenhang von einem Initiationsritual gesprochen werden. William Stowe hat die amerikanische Europareise des 19. Jahrhunderts aufgrund folgender Gesichtspunkte als Ritual charakterisiert: 1. Das Ritual ist ein ›heiliges‹ (verstanden als ›außergewöhnliches‹) Ver-
8 Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. xi. 9 Zu den Mechanismen sozialer Distinktion vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1982 (frz. Originalausgabe: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979).
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haltensmuster. Es braucht nicht religiös zu sein, aber es basiert auch nicht auf Routine. Es ist nicht auf Nützlichkeit bedacht und unterscheidet sich damit grundlegend von den Verrichtungen des Alltags; 2. Die rituelle Handlung ist kulturell vorgeschrieben; sie ist keine originelle im Sinne einer nicht wiederholbaren Handlung, sondern eine konventionelle Durchführung und Aktualisierung bestehender Regeln; 3. Das Ritual ist eine symbolische Handlung, eine ›Aufführung‹ mit einer tieferen kulturellen Bedeutung; es ist in diesem Sinne performativ; 4. Das Ritual wird als wichtig wahrgenommen; seine Teilnehmer verbringen nicht einfach Zeit, sondern sie sind auf der Suche nach einer Form von Adelung, auch einer Form der Erlösung, sei es von Sünde, Unwissenheit, sozialer Bedeutungslosigkeit, oder der Monotonie des Alltags.10 Die amerikanische Europareise des 19. Jahrhunderts wird diesen Kriterien zweifellos gerecht: Die ausgedehnte Reise ist per se eine Distanznahme vom Alltagsgeschehen, die das Individuum von routinemäßigen Verrichtungen befreit und es umgekehrt in erhöhtem Maße auf sich selbst zurückwirft. Zugleich ist die Reise im Leben des Einzelnen zwar eine (einmalige) Ausnahmesituation; sie folgt aber einem konventionellen Muster, das wesentlich durch schriftliche Berichte von früheren Reisen und die Tradition der Grand Tour bestimmt wird. Von ihr erwarten die amerikanischen Reisenden einen maßgeblichen Beitrag zu ihrer Bildung und persönlichen Entwicklung. Auch ist das Unternehmen in Bezug auf den sozialen Status der Grand-Touristen relevant. In diesem Sinne stellt die Grand Tour eine Initiation mit den Eigenschaften eines gesellschaftsrelevanten Rituals dar. Aus soziologischer Perspektive betrachtet, bleibt die Struktur der Europareise daher trotz aller zeitbedingten Unterschiede zwischen der Grand Tour des britischen Adels und den bürgerlichen amerikanischen Epigonen weitgehend stabil.
Die Verknüpfung von Italienreise und Ausbildung: Das Modell der Akademien Die Kanonisierung des gebauten Erbes der italienischen Halbinsel war ein Resultat nicht zuletzt der zum gesellschaftlichen Pflichtprogramm erhobenen, dabei aber individuell unternommenen Kavaliersreise des britischen Adels. Überdies wurde diese Kanonisierung auch auf dem Feld der künstlerischen und architektonischen Ausbildung betrieben. Die Franzosen verknüpften mit der Einrichtung des Prix de Rome bereits im Jahr 1663 als erste die staatlich sanktionierte Ausbildung mit der individuellen Italienreise institutionell. In der Folge bildete die Italienreise ein Element der Distinktion nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf professioneller Ebene, indem sie zwischen gebildeten KünstlerArchitekten und gewöhnlichen Baumeistern zu differenzieren erlaubte. Das französische Modell machte Schule: Zum einen avancierte der Prix de Rome zur prestigeträchtigsten Auszeichnung eines Architekten oder Künstlers. Zum anderen ahmten zahlreiche weitere Staaten die Vorgabe Frankreichs nach und schickten ihrerseits hoffnungsvolle Talente
10 Vgl. Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. 20. Bei seinen Ausführungen zur Reise als Ritual stützt sich der Autor auf die Vorarbeiten von Thorstein Veblen und Steven Lukes. Vgl. Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions. New York (Modern Library), 1934; Steven Lukes, »Political Ritual and Social Integration«, in: Sociology 9 (1975), S. 289−308.
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nach Rom, weshalb die Italienreise auch im internationalen Kontext zu einer Art Vorbedingung einer erfolgreichen Künstler- oder Architektenlaufbahn wurde. Was die Vereinigten Staaten betrifft, war die Architektenausbildung im 19. Jahrhundert wesentlich auf die Tradition der europäischen Akademie ausgerichtet. Obwohl Thomas Jefferson bereits 1814 die Einrichtung eines Ausbildungsganges für Architekten an der University of Virginia vorgeschlagen hatte, sollte es mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bevor das Massachusetts Institute of Technology 1865 als erste Schule des Landes eine institutionalisierte Architekturausbildung anbot.11 Bis dahin waren angehende Architekten faktisch gezwungen, sich ihr professionelles Know-how im Ausland anzueignen. Dabei genoss die Pariser École des Beaux-Arts einen besonders hohen Stellenwert. Nicht nur studierten zwischen 1850 und 1968 − dem Zeitpunkt ihrer Schließung − über fünfhundert Amerikaner an der renommierten Schule; auch war deren Ausbildungssystem für die Neugründungen auf dem amerikanischen Kontinent der maßgebliche Referenzpunkt. Überdies unterrichtete an zahlreichen der führenden amerikanischen Schulen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mindestens ein Professor, der seine Ausbildung in Paris absolviert hatte und somit für Kompatibilität mit dem Lehrplan der École sorgte. Während für die amerikanische Architektenausbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also nicht Rom, sondern Paris der vordergründige Bezugspunkt war, blieb für das französische System selbst der Romaufenthalt zentral. Trotz dieser Konstellation ließ eine eigene institutionelle Verankerung der Amerikaner in Rom relativ lange auf sich warten: Erst im Jahr 1897 und angeregt durch die neo-klassizistische Wendung der amerikanischen Architektur an der Chicago World’s Columbian Exposition im Jahr 1893 gründete der Architekt Charles Follen McKim die American Academy in Rome, nachdem mit der American School of Architecture bereits seit 1894 eine Vorläuferinstitution bestanden hatte. McKim, der zwischen 1867 und 1870 selbst an der École des Beaux-Arts studiert hatte, verfolgte mit dieser Initiative das Ziel, den angehenden amerikanischen Architekten eine Institution zur Verfügung zu stellen, an der sie sich vor Ort an der klassischen europäischen Architektur würden weiterbilden können.12 Die Wahl Roms als Sitz der neuen Institution war in keiner Weise dem Zufall geschuldet, ließ sich damit doch zugleich an den Usus des französischen Ausbildungssystems anknüpfen wie auch an die ererbte Tradition der Grand Tour, in der Rom einen der Höhe- und Zielpunkte darstellte. Solange sich die Renaissance-Tradition in den Vereinigten Staaten in der Spielart der − nach der Ausbildungsstätte ihrer Protagonisten benannten − Beaux-Arts-Architektur als maßgebliche architektonische Sprache behaupten konnte, verlieh die neu gegründete Institution ihren Absolventen ein hohes Maß an sozialem und professionellem Prestige, und das stattliche Hauptgebäude der American Academy in Rome, zwischen 1912 und 1914 von McKim, Mead and White auf dem Gianicolo über den Dächern der Stadt im Stil der Neorenaissance errichtet, zeugt von diesem kulturellen Selbstverständnis. Mit der Gründung der
11 Einen konzisen Abriss über die Architektenausbildung in den Vereinigten Staaten bietet URL: http:// www.acsa-arch.org/students/education.aspx. (3. 3. 2006) 12 Zur Geschichte der Institution vgl. Lucia und Alan Valentine, The American Academy in Rome 1894−1969. Charlottesville (University Press of Virginia), 1973.
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American Academy wurde der Italienaufenthalt auch für amerikanische Architekten zur Krönung der professionellen Ausbildung.
Rom und die Akademie in der Moderne Auch für die Protagonisten der Moderne blieb die Bildungsreise ein wichtiges Element der persönlichen und beruflichen Ausbildung. Stellvertretend sei hier als Beispiel Le Corbusier erwähnt, dessen Reisen nach Deutschland, Mittel- und Südosteuropa und durch den Mittelmeerraum für seine spätere architektonische Produktion prägend waren.13 Dennoch äußerte sich die Auflehnung gegen die seit der Renaissance gültige klassische Tradition der Architektur nicht nur in einer Ablehnung des Bildungs- (und Bilder-)Kanons, sondern auch des akademischen Ausbildungsmodells, das diesen vertrat. Insoweit, als die Italienreise beziehungsweise Rom als Sitz der nationalen Akademien im Wertesystem der herrschenden Tradition höchste Wertschätzung besaßen, mussten diese Konventionen zwangsläufig ins Visier der Verfechter der Moderne geraten. Le Corbusier anerkannte zwar die eminente Bedeutung, die Rom in der klassischen Tradition zugekommen war, indem er der Stadt und ihren »Lehren« 1922 in seinem Manifest Vers une architecture ein ganzes Kapitel widmete. Auf der anderen Seite fiel Jeannerets Urteil über Rom als Bildungsaufgabe für den Architekturstudenten der Gegenwart vernichtend aus: Roms Lehre ist für die Weisen, für die, die wissen und urteilen können, für die, die widerstehen und prüfen können. Rom ist Untergang für die, die nicht viel wissen. Nach Rom Architekturstudenten zu schicken, heißt sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren. Der Große Preis von Rom und die Villa Medici sind das Krebsleiden der französischen Architektur.14
Damit war der Diskreditierung einer altehrwürdigen Institution und des durch sie vertretenen Ausbildungsmodells das Wort geredet. Im amerikanischen Kontext erlangte das Stipendium der American Academy freilich niemals eine vergleichbare gesellschaftliche und kulturelle Relevanz wie das französische Vorbild. Dennoch konnte mit dem Siegeszug der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg auch die American Academy kaum mehr als einen marginalen Status im amerikanischen Kulturleben für sich reklamieren. Venturi selbst, der sich trotz des vorherrschenden Klimas für die Institution entschied, hat dies wie folgt formuliert: »The Academy was known in the architectural community generally but it was not fashionable because of the pure Modernist ideology of the time […] Neither Frank Lloyd Wright nor Le Corbusier would have gone.«15
13 Vgl. etwa Giuliano Gresleri, Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffentlichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret. Zürich (Spur Verlag), 1991. 14 Le Corbusier, 1922. Ausblick auf eine Architektur. Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg), 41982. 15 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002.
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2 Robert Venturi auf Grand Tour Im Folgenden richtet sich das Augenmerk auf zwei zentrale Ereignisse aus der Zeit der Ausbildung des amerikanischen Architekten Robert Venturi: zum einen auf eine erste mehrmonatige Europareise noch während des Studiums im Sommer 1948, zum anderen auf einen knapp zweijährigen Stipendienaufenthalt an der American Academy in Rome zwischen 1954 und 1956. Ausdrücklich im Sinne von Bildungsreisen unternommen, stehen diese beiden Ereignisse in der Tradition der Grand Tour.
Das »Princeton System« Auch wenn Venturi bereits anläßlich seiner ersten Reise nach Übersee neben Italien auch Großbritannien und Frankreich besuchte und seinen Aufenthalt an der American Academy in Rome als Basis für Erkundungen weiter Teile Europas und des Mittelmeerraumes nutzte, war Rom doch mehr nur als ein zufälliges pied-à-terre, sondern stand früh im Zentrum seiner Sehnsucht. Der familiäre Hintergrund mag einen Teil der Faszination für Italien erklären: Venturis Vater war im kleinen Ort Atessa in der Region Abruzzo geboren worden und gelangte mit seiner Familie 1890 im Alter von neun Jahren nach Amerika, während die Mutter als Spross einer apulischen Familie bereits in den Vereinigten Staaten zur Welt gekommen war.16 Dennoch sollte dieser Faktor nicht überschätzt werden: Zum einen stand für die Familie ganz klar die gesellschaftliche Assimilation im Vordergrund, zum anderen wuchs Venturi trotz zweier italienischstämmiger Elternteile nicht zweisprachig auf und wurde damit unzweideutig als Amerikaner sozialisiert. Weitaus entscheidender für die persönliche ›Entdeckung‹ Roms war für den jungen Venturi das Architekturstudium an der Princeton University zwischen 1944 und 1950. Die Architekturabteilung in Princeton unterschied sich in jenen Jahren in einigen Punkten grundlegend vom Kanon der anderen amerikanischen Eliteuniversitäten. So konnte sich an der Princeton University das traditionelle, von der französischen École des Beaux-Arts übernommene akademische Ausbildungssystem besonders lange halten. Jean Labatut, gemäß den Aussagen Venturis einer der wichtigsten Lehrer in Princeton, war, ganz dem traditionellen Eurozentrismus der amerikanischen Architekturschulen entsprechend, selbst ein Absolvent der Pariser École des Beaux-Arts gewesen, ohne dabei aber der Moderne ablehnend gegenüberzustehen.17 Der strukturelle, aus der Tradition ererbte Eurozentrismus des Princetoner Ausbildungssystems war maßgeblich für Venturis Blick nach Rom verantwortlich. Überdies war der Unterrichtsplan in Princeton auch auf inhaltlicher Ebene stark auf das europäische Architekturerbe ausgerichtet. Hier wurde auf eine breite humanistische Ausbildung der Studenten wert gelegt; im Unterschied etwa zu Harvard war Kunstge16 Vgl. Frederic Schwartz, »Introduction«, in: Frederic Schwartz (Hrsg.), Mother’s House. The Evolution of Vanna Venturi’s House in Chestnut Hill. New York (Rizzoli), 1992, S. 16. 17 Vgl. dazu Robert Venturi, »Essay Derived from the Acceptance Speech, the Madison Medal, Princeton University« (1985), in: Iconography and Electronics Upon a Generic Architecture. A View from the Drafting Room. Cambridge, Mass./London (The MIT Press), 1996, S. 93−95.
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schichte auch für die Architekten ein Pflichtfach. Zudem war Princeton in den 1940er Jahren die einzige Architekturschule der Vereinigten Staaten, die nicht von einem Architekten, sondern von einem Historiker geleitet wurde. Der Aufbau des Studiums mit seiner starken Gewichtung historischer Disziplinen war als »Princeton System« bekannt und gründete gemäß Universitätskatalog auf der Überzeugung, »that an architect should have a well-rounded education in liberal studies, [and] that he should understand and appreciate the other arts in their relation to architecture«.18 Für Venturis Ausbildung war gemäß eigenen Aussagen Donald Drew Egberts Kurs zur Geschichte der modernen Architektur, den er als Student mehrfach besuchte, von entscheidender Bedeutung.19 Ganz abgesehen davon genoss insbesondere die italienische Kunstgeschichte im Stundenplan der School of Architecture der 1940er Jahre einen hohen Stellenwert.20 Diese Betonung des Historischen trug im kulturellen Klima der modernistisch gesinnten Nachkriegsära zwar zu einer gewissen Marginalisierung der Architekturschule von Princeton bei (ein Status gegenüber dem modernistischen Paradigma, der sich mit jenem der American Academy in Rome weitgehend deckte);21 sie erklärt aber zugleich Venturis Beschäftigung mit historischer Architektur zumindest teilweise. Aus seiner profunden kunsthistorischen Bildung ist zu schließen, daß der junge Architekt bereits auf seiner ersten Europareise im Sommer 1948 mit den von ihm besuchten Bauten aus Bildern eingehend vertraut war. Dieser Umstand veranlasste ihn in seinem nicht publizierten Reisebericht, sich selbst als »photographically educated student«22 zu bezeichnen. Princeton hatte den jungen Studenten auf Rom und die übrigen Ziele seiner ersten Europareise gut vorbereitet.
›Little‹ Grand Tour: Der Sommer von ’48 Venturis erste Begegnung mit Rom war eingebettet in eine ›little‹ Grand Tour, die ihn im Sommer 1948 während rund zweier Monate nach England, Frankreich und Italien führte. Aus der Routenwahl und den angesteuerten Zielen, aber auch der Dauer der Reise ist zu schließen, daß er sich dabei, ob wissentlich oder nicht, in entscheidenden Punkten an den Konventionen der amerikanischen Grand Tour orientierte. Hatte die Europareise bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Status als soziale Konvention weitgehend eingebüßt, so zeichnete die wenige Jahre nach Kriegsende unternommene Studienreise Venturi dennoch als Mitglied einer Elite aus. Der junge Architekt begegnete der Alten 18 Aus dem Katalog der Universität 1920/21, zitiert nach David Van Zanten, »The ›Princeton System‹ and the Founding of the School of Architecture, 1915–20,« in: Christopher Mead (Hrsg.), The Architecture of Robert Venturi. Albuquerque (University of New Mexico Press), 1989, S. 34–44. 19 Vgl. Robert Venturi, »Donald Drew Egbert − A Tribute« (1980), in: Venturi 1996 (wie Anm. 17), S. 43−45. 20 Vgl. The Study of Architecture at Princeton. Official Register of Princeton University 48 (25 October 1948). 21 Vgl. Robert Venturi, »Essay Derived from the Acceptance Speech, the Madison Medal, Princeton University« (1985), in: Venturi 1996 (wie Anm. 17), S. 93. 22 Robert Venturi, Summer Activities: Report and Some Impressions, unpubliziertes und undatiertes Typoskript, Venturi, Scott Brown and Associates, Archives, Architectural Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical and Museum Commission (= VSBA Archives).
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Welt im Habitus des Bildungsreisenden, und zwar mit ganz spezifisch auf die Architektur gerichtetem Blick: »[T]he approach to my travels and investigations was architectural.«23 Insofern, als auch Venturis Reise im Sinne eines Initiationsrituals verstanden werden kann, bildete sie vielmehr eine Aufnahme in den Kreis eines kulturell und historisch gebildeten Bürgertums als in jenen einer professionellen architektonischen Elite, für welche die Europareise im Zeichen des herrschenden Modernismus keine Relevanz mehr besaß. So sehr Venturis Tour den Konventionen der bürgerlichen Bildungsreise folgte, so sehr stand die damit verbundene Suche nach dem Kanon mit dem modernistischen Zeitgeist im Konflikt. Ganz der Konvention der amerikanischen Europareise entsprechend, erreichte Venturi Europa im Hafen von Liverpool. Die erste Station der Reise war London, wo er am 10. Juli 1948 eintraf. Neben den Sehenswürdigkeiten der Stadt besuchte Venturi auswärtige touristische Ziele, so etwa wie die Universitätsstädte Oxford und Cambridge, John Vanbrughs Blenheim Palace, die Kathedralen von Ely und Salisbury, ferner Winchester, Eton, Windsor, Kew Gardens und Hampton Court. Es handelt sich um Destinationen, die allesamt zum touristischen Mainstream gehören und die von einer Anlehnung des individuellen Reiseprogramms an den durch Reiseführer vermittelten Kanon zeugen. Die Reise fand ihre Fortsetzung in Paris, wo Venturi am 20. Juli eintraf. Ausflüge führten, wiederum ganz dem touristischen Blick entsprechend, zu den Kathedralen der Ile de France (Abb. 1) sowie zu den Schlössern von Versailles, Fontainebleau, Blois und Chambord. Indes legte Venturi in Frankreich erstmals sein professionelles Interesse an moderner Architektur an den Tag. In Raincy besuchte er Auguste Perrets Kirche Notre-Dame (1922/23), an der ihn insbesondere die Verwendung von Licht im Sinne eines architektonischen Materials beschäftigte.24 Ebenso stattete er verschiedenen Bauten Le Corbusiers einen Besuch ab: der Villa Savoye in Poissy, der Cité de Refuge − Venturi beklagte in beiden Fällen deren ruinösen Zustand − sowie dem Schweizer Pavillon in der Cité universitaire.25 Mit diesen Besichtigungen entfernte sich Venturi von den Konventionen der touristischen Bildungsreise zugunsten eines spezifisch architekturbezogenen und zeitgenössischen Blicks. Rom war die dritte und letzte größere Station auf dieser Grand Tour und zugleich, wie sich herausstellen sollte, die folgenreichste. Venturi hat seine Beziehung zu Rom seither als »extremely emotional love affair«26 bezeichnet; die außergewöhnliche Bedeutung, die er der Stadt in seiner Biografie zugesteht, wird nicht zuletzt durch den Umstand deutlich, daß der Architekt den Tag seiner ersten Ankunft in Rom bis in die Gegenwart mit einer kleinen Feier vor Ort begeht.27 Auf seiner ersten Reise erreichte Venturi die italienische Hauptstadt am 8. August frühmorgens um 8 Uhr nach einer 35-stündigen Zugfahrt von
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Ebd. Ebd. Ebd. Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002. Zum 55. Jubiläum des ersten Tages in Rom im Jahr 2003 beispielsweise hat Venturi unter dem Titel »My Rome. Not Only Eternal But Eternally Relevant« eine Broschüre mit Zeichnungen zur italienischen Architektur im Eigenverlag angefertigt.
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Paris über Luzern und Mailand.28 Der daran anschließende Aufenthalt dauerte rund einen Monat, den Venturi jedoch für zahlreiche Ausflüge nutzte. Abstecher führten nach Frascati mit seinen manieristischen und barocken Villen, nach Sardinien, aber auch in die Städte Perugia, Assisi, Florenz, Siena, Bologna, Ravenna, Venedig, Padua, Vicenza und Mailand. Die Eindrücke der ersten Tage übten auf Venturi emotional eine starke Wirkung aus. Im Briefwechsel mit den Eltern findet etwa die sinnliche Qualität der Farbeindrücke besondere Erwähnung: My first impression is favorable, I love it. It is really very different from what I expected – there is so much color in the buildings against a deep blue sky + deep green foliage – something which we who have lived in America cannot imagine[,] many of the buildings are deep rouge – a beautiful combination of rose and yellow.29
Venturi stellt den für amerikanische Europareisende typischen Vergleich mit der eigenen Heimat an. Indes scheint er sich des topischen Charakters seiner Überlegungen durchaus bewusst. Zur Beschreibung der angesprochenen Farbwirkung hat er später auf die Formel des »golden air of Rome« zurückgegriffen, die er einer Formulierung des Schriftstellers Henry James entlehnte (Abb. 2). Dieser hatte im 19. Jahrhundert entscheidend zum literarischen Bild Europas in den Vereinigten Staaten beigetragen und damit maßgeblich bei der Konstruktion von Sehnsuchtsbildern für den amerikanischen Massentourismus mitgewirkt.30 Neben der literarischen Tradition war für die nachhaltige Wirkung der Farben jedoch zweifellos auch der Umstand von Belang, daß Venturi in seiner Ausbildung nur schwarzweiße Abbildungen der Stadt zu Gesicht bekommen hatte.31 Für den bald nach diesem frühen Erlebnis gefällten Entschluss, sich um ein Stipendium der American Academy zu bewerben, ist daher neben einem historischen Interesse der ummittelbare sinnliche, »exotische«32 Eindruck als mindestens ebenso wichtiger Beweggrund einzuschätzen. In Hinblick auf Venturis spätere theoretische Positionen ist bemerkenswert, daß er Rom den anderen europäischen Städten besonders aufgrund seines barocken Charakters vorzog: »I enjoy Baroque, and therefore I was especially happy in Rome«.33 Auch hier scheint es eine primär emotional-sinnliche Dimension gewesen zu sein, die Venturi für den Barock empfänglich machte, hat er die gegenreformatorische Architektur des Barock doch als eine Kunstform charakterisiert, die sich primär an die gefühlsmäßige Wahrnehmung richtet.34 Somit war es neben der Exotik der Farbe auch die Exotik des Katholizismus und seiner architektonischen Mittel, die den amerikanischen Protestanten magneti-
28 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 8. August 1948, VSBA Archives. 29 Ebd. 30 Robert Venturi, »Adorable Discoveries When I Was a Semi-Naive Fellow at the American Academy in Rome That I Never Forget« (1994), in: Venturi 1996 (wie Anm. 17), S. 57. – Zum Einfluss von Henry James auf den Massentourismus vgl. Stowe 1994 (wie Anm. 3), S. 161−194. 31 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002. 32 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002. 33 Robert Venturi, Summer Activities: Report and Some Impressions, unpubliziertes und undatiertes Typoskript, VSBA Archives. 34 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002.
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sierten. Wiederum bewegt sich der Architekt auf dem Feld literarischer Topoi, wenngleich seine Erfahrung durchaus als genuin einzuschätzen ist. Die Gestaltung öffentlicher Plätze war das zweite zentrale Element im Stadtbild, zu dem Venturi weiter reichende Gedanken anstellte: The Italian concept; urban interior space is to be lived in – not just traveled through from one enclosed (bldg.) space to another. Therefore the concept for exterior space is more enclosed, different from Parisian 19th Century concept as seen in boulevards.35
Obschon Venturi den römischen Barockplatz mit dem Pariser Platz des 19. Jahrhunderts vergleicht, scheint auch ein Vergleich mit der Form und Funktion des öffentlichen Raums in Amerika impliziert, der oftmals nur eine zu überbrückende Distanz zwischen zwei definierten Orten darstellt. Venturis affirmative Bewertung der geschlossenen Platzanlage ist ohne Zweifel Resultat seiner Lektüre von Camillos Sittes Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, auf den er in seinem persönlichen Reisebericht sowie in Briefen an die Eltern mehrfach Bezug nahm.36 Neben Sitte wurde Venturis Wahrnehmung Roms und weiterer Reiseziele entscheidend durch Sigfried Giedions Diskussion barocker Stadtbaukunst gelenkt, aber auch durch einen Baedeker-Reiseführer aus dem Jahr 1893 sowie durch das Rom-Kapitel von Le Corbusiers Vers une Architecture.37 Ein drittes architektonisches Thema bei der Auseinandersetzung mit Rom bildete die Beschäftigung mit der Rolle des einzelnen Baus im städtischen Kontext. Auch dieses Thema ist bereits in einem Brief aus den ersten Tagen in Rom angelegt: I am continually excited by the architecture; even the buildings which should be familiar to me through photographs appear different […] especially by the exterior space around the buildings + their positions – aspects which are never equalized in photographs.38
Das einzelne Gebäude in seiner Wechselwirkung mit der urbanen Textur beziehungsweise die Art und Weise, wie der städtische Kontext die Wirkung eines einzelnen Baus beeinflusst, bildete späterhin nicht nur den Gegenstand von Venturis master’s thesis mit dem Titel »Context in Architectural Composition«,39 sondern wurde für ihn unter dem Schlagwort des Kontextualismus zu einer zentralen Kategorie architektonischen Denkens und Entwerfens überhaupt. Insofern darf Venturis Rom-Erfahrung als zentraler Bezugsrahmen für sein Architekturverständnis aufgefasst werden. Ein vierter und letzter Gesichtspunkt italienischer Architektur, mit dem sich Venturi bereits in seinen ersten Tagen beschäftigte, sind die ›falschen‹ Fassaden: In seinem nach der Rückkehr verfassten Reisebericht ist dazu zu lesen:
35 Robert Venturi, Summer Activities: Report and Some Impressions, unpubliziertes und undatiertes Typoskript, VSBA Archives. 36 Ebd.; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 22. August 1948, VSBA Archives. 37 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002.; Robert Venturi, Summer Activities: Report and Some Impressions, unpubliziertes und undatiertes Typoskript, VSBA Archives. 38 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 9. August 1948, VSBA Archives. 39 Vgl. Robert Venturi, »Context in Architectural Composition: M.F.A. Thesis, Princeton University« (1950), in: Venturi 1996 (wie Anm. 17), S. 331−374.
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[W]e find false facades next to or within spatially refined piazze, as at Siena. The designer conceived the facade perhaps as one would a painting in space on an easel in a room; the easel painting is placed in an aesthetically satisfactory position in this room […] The screen facade at S. Francesco at Assisi has in front of it, consciously related to it a very satisfactory piazza one of whose obvious functions is to contain the space from which the observer regards the façade.40
Die Fassade wird hier aufgefasst nicht gemäß modernistischer Vorstellung als äußeres Abbild der inneren funktionalen Organisation des Baus im Sinne seiner Physiognomie, sondern als eigenständiges Zwischenelement, das zwischen Stadtform und Konstruktion gleichsam vermittelt. Diese Vorstellung entspricht dem Konzept des dekorierten Schuppens, das in Learning from Las Vegas aus der Anschauung der alltäglichen Architektur am Straßenrand Amerikas zu einer architektonischen Theorie entwickelt wird, jedoch schon sehr viel früher entsprungen scheint, nämlich der Betrachtung der italienischen Stadtform. Eine Auseinandersetzung mit moderner oder zeitgenössischer italienischer Architektur findet auf dieser ersten Reise kaum statt. Eine Ausnahme bilden einige Bemerkungen zu faschistischen Bauten aus den 1930er Jahren, darunter Giuseppe Vaccaros bekanntem Postamt in Neapel. Obwohl er verschiedenen dieser Bauten durchaus ästhetische und architektonische Qualitäten abgewinnen kann, begegnet Venturi ihnen aufgrund moralischer Überlegungen mit Ambivalenz oder gar Ablehnung, wenn er hinter dem repräsentativen Auftritt hohlen Pomp vermutet.41
An der American Academy in Rome Den Entschluss, sich für ein Zweijahres-Stipendium an der American Academy in Rome zu bewerben, fasste Venturi kurz nach der Rückkehr von seiner ersten Europareise.42 Mit seiner Bewerbung reüssierte er erst 1954 beim dritten Anlauf, nachdem sich unter anderem Louis Kahn, der im Winter 1950/51 selber als ›Architect in Residence‹ an der Academy geweilt hatte, wiederholt für Venturis Bewerbung eingesetzt hatte.43 Obwohl Le Corbusier und andere Vertreter der Moderne das akademische System nachhaltig in Verruf gebracht hatten, war die American Academy in den Nachkriegsjahren keineswegs so reaktionär gesinnt, wie es aufgrund ihrer traditionellen Ausrichtung anzunehmen wäre: Die 40 Robert Venturi, Summer Activities: Report and Some Impressions, unpubliziertes und undatiertes Typoskript, VSBA Archives. 41 Ebd.; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 22. August 1948, VSBA Archives. 42 Vgl. Robert Venturi, »Notes for a Lecture Celebrating the Centennial of the American Academy in Rome Delivered in Chicago« (1993), in: Venturi 1996 (wie Anm. 17), S. 48. 43 Im Archiv der American Academy in Rome in New York befinden sich zwei Briefe Kahns an die Jury der Academy, die Venturi für das Stipendium empfehlen. Auch war Kahn Mitglied des Gremiums, das 1954 über die Bewerbungen zu entscheiden hatte. Ferner hat Kahn sein Engagement für Venturi in einem Brief an seine damalige Geliebte Anne Tyng erwähnt, die sich zu diesem Zeitpunkt ihrerseits in Rom aufhielt. Der Brief ist publiziert in Anne Griswold Tyng (Hrsg.), Louis Kahn to Anne Tyng. The Rome Letters 1953−1954. New York (Rizzoli), 1997, S. 95. − Zum Romaufenthalt Kahns vgl. Eugene Johnson, »Sketching Abroad«, in: Eugene Johnson und Michael J. Lewis, Drawn from the Source. The Travel Sketches of Louis I. Kahn. Cambridge, Mass./London (MIT Press), 1996, S. 66−94.
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Institution zählte weitgehend auf die Eigenverantwortung der Stipendiaten und sah kaum obligatorische Aktivitäten vor. Es war dieses liberale Klima, das Venturi in Rom vorfand und das es ihm erlaubte, seinen Interessen frei nachzugehen. Er nutzte seinen Aufenthalt nicht nur, um sich mit dem architektonischen Vermächtnis der Stadt vertraut zu machen, sondern auch, um einige ausgedehnte Reisen durch Europa und den Mittelmeerraum zu unternehmen. In dieser Weise nahm Venturi sein im Sommer 1948 begonnenes Projekt einer umfassenden Grand Tour mit Rom als Basis in einzelnen Etappen wieder auf. Die Ereignisse dieses prägenden Aufenthalts lassen sich anhand des Briefwechsels mit den Eltern mehr oder weniger detailliert rekonstruieren. Dabei muss berücksichtigt werden, daß es sich um Korrespondenzen vornehmlich privater Natur mit zwei architektonischen Laien handelt, von denen Einblicke in spezifisch architekturbezogene Überlegungen nur bedingt zu erwarten sind. Seinen Aufenthalt an der American Academy trat Venturi Ende Oktober 1954 aufgrund familiärer Gründe mit rund einmonatiger Verspätung an. Die späte Ankunft verunmöglichte die Teilnahme an einer Begrüßungsreise für die Stipendiaten, die nach Venedig zur Biennale sowie in andere italienische Städte führte.44 Venturis Absicht, von Rom aus auf eigene Faust ausgedehnte Reisen zu unternehmen, wird indes in der Anschaffung eines eigenen Autos schon wenige Wochen nach der Ankunft deutlich.45 Eine rege Reisetätigkeit setzte jedoch erst im Januar 1955 mit einem Besuch in Paris ein,46 dem ein fünftätiger Ausflug in die Abruzzen folgte. Hier besuchte Venturi unter anderem Atessa, den Herkunftsort der Familie seines Vaters.47 Venturis Interesse galt den romanischen Kirchen der Gegend ebenso wie der eigentümlichen, für den Amerikaner reizvollen Mischung aus Pittoreske und Armut der abgelegenen Bergregion. Die erste ausgedehnte, rund sechswöchige Reise außer Landes führte Venturi in Begleitung des Architekten James Gresham und dessen Ehefrau im Frühling 1955 über Apulien nach Ägypten und Griechenland. Wichtige Stationen unterwegs bildeten Kairo und Luxor.48 Der Anblick des großen Tempels von Edfu veranlasste Venturi, über die Bedeutung historischer Architektur für die Gegenwart zu sinnieren: »One thing I learned from it is that Egyptian architecture is not the heavy, pompous, humorless + fascist kind that I had pictured […] There are so many things about it relevant to my architecture thinking today.«49 Diese Erkenntnis unterstrich er angesichts des Tempel von Karnak: »I am convinced that seeing + knowing these buildings is helping me very much as an architect.«50 Welche Bedeutung Venturi diesen Bauwerken beimaß, wird bei einem Blick in das Buch Complexity and Contradiction in Architecture deutlich, in welchem beide vertreten sind, im
American Academy in Rome, Report 1951−1955. New York/Rom, 1955. Brief von Vanna Venturi an Robert Venturi vom 23. November 1954, VSBA Archives. Brief von Vanna Venturi an Robert Venturi vom 20. Januar 1955, VSBA Archives. Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 9. Februar 1955, VSBA Archives. Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 20. März 1955, VSBA Archives; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 23. März 1955, VSBA Archives. 49 Ebd. 50 Ebd. 44 45 46 47 48
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Fall von Karnak gar unter Verwendung eines eigenen, vor Ort gemachten Fotos (Abb. 3, 4). Venturi hob dabei das Motiv der »things within things« beziehungsweise »doors within doors« hervor.51 Als bauender Architekt verwendete es Venturi in analoger Weise im North Penn Visiting Nurse Association Headquarters aus dem Jahr 1961. Hier sind die Fensteröffnungen des Erdgeschosses durch breite Holzrahmen ausgezeichnet, um so den Widerspruch zwischen innerem und äußerem Maßstab zu artikulieren.52 Die Unterscheidung von außen und innen bildet ein grundlegendes Thema der Architektur Venturis, das nicht zuletzt dem Konzept des dekorierten Schuppens zugrunde liegt. Es erscheint verlockend, dieses architektonische Grundprinzip auf Venturis Überlegungen zur antiken ägyptischen Architektur vor Ort zurückzuführen. Die Exkursion fand in Griechenland ihre Fortsetzung, wo die Reisegruppe fast den ganzen Monat April zubrachte. Ziele waren neben Athen (Abb. 5) der Peloponnes und einige der ägäischen Inseln; ein Abstecher führte überdies nach Istanbul.53 Zurück in Rom, beschrieb Venturi die Wirkung seiner ›Voyage d’Orient‹ mit folgenden Worten: We architects found Egypt fabulous, the Moslem architecture in Cairo, + the village architecture as well as the ancient stuff. Greece of course was wonderful, but it can’t compare with Italy, where every village is a masterpiece of art, for quantity + often richness.54
Mit dieser Einschätzung scheint Venturi eine grundlegende Beobachtung Vincent Scullys aus dessen Einleitung zu Complexity and Contradiction vorwegzunehmen. Darin erklärt der Kunsthistoriker die fundamentale Differenz im architektonischen Denken zwischen Le Corbusier und Venturi unter Bezug auf die jeweiligen architektonischen Ideale der beiden Architekten: Le Corbusiers größter Lehrmeister war der griechische Tempel, in seiner plastischen, weißen Körperlichkeit, freistehend in der weiten Landschaft und in all seiner Kargheit von der Sonne erleuchtet […] Venturis erster prägender Eindruck kam gerade vom historischen und archetypischen Gegenteil des griechischen Tempels, den urbanen Fassaden Italiens mit […] ihrem Verhaftetsein mit den Aktivitäten des Alltags: sie sind keine plastischen Male in einer weiten Landschaft, sondern komplexe räumliche Gehäuse, die zugleich Straßen und Plätze zwischen sich eingrenzen.55
Scullys Interpretation unterstreicht die städtebaulichen und kontextbezogenen Gesichtspunkte der Architektur sowie ihre Funktion als Kulisse städtischen Alltags (Abb. 6), die in der Tat für Venturis Architekturverständnis zentral sind. Der oben zitierte Vergleich Venturis zwischen Griechenland und Italien legt die Vermutung nahe, daß die Beschäftigung mit diesen Themen durch seine Reisetätigkeit wesentlich angeregt wurde. Nach der Rückkehr aus Griechenland stand der Mai des Jahres 1955 ganz im Zeichen der Jahresausstellung der American Academy. Die Architekten beteiligten sich daran mit jeweils einem eigenen Entwurf für neue Künstlerateliers im rückseitigen Garten der
51 Robert Venturi, Complexity and Contradiction in Architecture. New York (The Museum of Modern Art), 1966, S. 74. 52 Ebd., S. 108. 53 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 2. Mai 1955, VSBA Archives. 54 Ebd. 55 Vincent Scully, »Introduction«, in: Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 10.
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Academy. Venturis Beitrag ist eines seiner frühesten bekannten Projekte, ist aber bislang praktisch weitgehend unbekannt geblieben. − Nach der Eröffnung der Jahresausstellung reiste der Architekt in Begleitung zweier weiterer Fellows der Academy, dem Maler Alan Gussow und der Archäologin Virginia Calahan für rund zehn Tage nach Sizilien (Abb. 7). In seiner Schilderung der Reise in einem Brief an die Eltern erwähnte Venturi unter anderem den Besuch von Monreale, Palermo (»beautiful Byzantine + Baroque monuments«) und den Tempel von Segesta, dessen isolierte Lage in der Landschaft er in einer Zeichnung festhielt (Abb. 8). Die Route führte weiter nach Agrigento und zu den »great Baroque towns« Ragusa, Modica und Noto. Anhand eines Kommentars zu Noto wird erneut Venturis Faible für Architektur und Städtebau des Barock offenkundig: What a great experience to see an entirely Baroque town designed + executed all at once – in one stroke – with beautiful detail + golden masonry.56
Wie bereits am Beispiel der Griechenlandreise ist auch hier festzustellen, daß Venturi zwar die antiken Monumente besichtigte, daß sein Interesse aber den barocken urbanen Ensembles galt. Kurz nach der Rückkehr nach Rom wurde der Stipendiat mit der Mission betraut, das Auto des schwedisch-amerikanischen Bildhauers Carl Milles, der an der American Academy gearbeitet hatte, zurück nach Stockholm zu fahren, wobei er vom Architekten Warren Peterson und dem Maler Jack Zajac begleitet wurde.57 In Stockholm besuchte Venturi nicht nur das barocke Schloss Drottningholm, sondern hatte auch einen Blick für zeitgenössische Architektur: Concerning the modern stuff here, you find nothing great, but you find a very high average level of […] [?] in contemporary architecture + therefore the country is more pleasing when you visit it than when you see it in photos in architecture books.58
Trotz der verhaltenen Aufnahme belegt die Bemerkung Venturis Vertrautheit mit dem Stand der gegenwärtigen internationalen Architekturdebatten, in denen der skandinavische New Empiricism eine erhebliche Rolle spielte.59 Sein Blick auf Europa wurde ebenso sehr vom professionellen Interesse eines Architekten auf der Höhe seiner Zeit bestimmt wie durch die Vorgabe des klassischen Kanons. Nach der Sommerpause traf Venturi wie im Vorjahr mit Verspätung und erst wieder zum Jahreswechsel in Rom ein.60 In den ersten Tagen des neuen Jahres ergab sich für den jungen Architekten die Gelegenheit, anläßlich eines Mittagessens im Hause des Direktors der American Academy den Architekten und Ingenieur Pier Luigi Nervi kennen zu lernen.61 Obwohl Venturi über dieses Treffen mit Freude berichtete, stellte die Sprachbarriere, Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 12. Juni 1955, VSBA Archives. Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 26. Juni 1955, VSBA Archives. Ebd. Bereits 1948 hatte die Architectural Review den britischen Architekten das skandinavische Vorbild zur Nachahmung empfohlen. Vgl. Nils Ahrbom, Lars M. Giertz und Eric de Maré, »The New Empiricism«, in: The Architectural Review 103 ( Januar 1948), S. 9−22. 60 Brief von Vanna Venturi an Robert Venturi vom 30. Dezember 1955, VSBA Archives. 61 Undatierter Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi, VSBA Archives. 56 57 58 59
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die die Kontaktnahme zur zeitgenössischen Architektenszene im Allgemeinen erschwerte, für die Kommunikation ein erhebliches Hindernis dar. In den nächsten Wochen unternahm Venturi neben Kurzausflügen in die Umgebung eine Reise nach Neapel.62 Unterwegs stattete er Caserta einen Besuch ab, dessen romanische Kathedrale und Platzanlage Venturis Aufmerksamkeit erregten. Eine weitere ausgedehnte Reise stand im Februar 1956 auf dem Programm. Ziel war die iberische Halbinsel. Die Hinreise führte über Pisa, Genua, Nizza und Marseille, wo Venturi Le Corbusiers kurz zuvor vollendete Unité d’Habitation besichtigte, nach Barcelona. Hier bildete das Werk Antoni Gaudís die Hauptattraktion.63 Die Route führte weiter über Murcia nach Andalusien, wo die Kathedralen von Sevilla und Córdoba besondere Beachtung fanden.64 Weitere Stationen bildeten La Coruña, Salamanca, Biarritz, das französische Baskenland und Toulouse.65 Nach der Rückkehr verbrachte Venturi den größten Teil des Monats März in Rom, wobei er sich mit amerikanischer Architektur und insbesondere mit dem Werk von McKim, Mead, and White beschäftigte, den Erbauern des Hauptgebäudes der American Academy. In diesem Zusammenhang setzte er sich mit der Chicagoer Weltausstellung von 1893 und den Auswirkungen dieser neo-klassizistischen Wende auf die moderne amerikanische Architektur auseinander, die Louis Sullivan als fatal beurteilt hatte.66 Wie bei vielen anderen zeitweilig expatriierten Amerikanern scheint der Europaaufenthalt durch die Wahrnehmung kultureller Differenzen auch bei Venturi eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begünstigt zu haben. Die spätere Hinwendung zur genuin amerikanischen Tradition des ›commercial vernacular‹ im Rahmen von Learning from Las Vegas ist unter diesem Gesichtspunkt nicht als Bruch mit der Suche nach dem (eurozentrischen) Kanon zu werten, sondern als Nebenprodukt, das wie selbstverständlich aus dieser Auseinandersetzung mit dem Kanon folgte. Wenn Venturi bereits anläßlich seiner ersten Europareise 1948 großes Interesse am Barock gezeigt hatte, so gewann das Thema gegen Ende seines Aufenthalts an der American Academy zusehends an Bedeutung. Der Grund dafür lag im Einfluss des Kunsthistorikers Richard Krautheimer, der sich zu diesem Zeitpunkt als ›Scholar in Residence‹ an der American Academy aufhielt. Unter seiner Führung besichtigte Venturi im April 1956 die verschiedenen Barockkirchen Roms.67 Im Vorwort zur zweiten Auflage von Complexity and Contradiction hat er auf Krautheimers diesbezüglich entscheidende Rolle hingewiesen.68 Die Einschätzung wird von einem weiteren Stipendiaten und Kollegen Venturis 62 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 16. Januar 1956, VSBA Archives. 63 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 12. Februar 1956, VSBA Archives. 64 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 14. Februar 1956, VSBA Archives; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 17. Februar 1956, VSBA Archives. 65 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 27. Februar 1956, VSBA Archives; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 29. Februar 1956, VSBA Archives; Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 11. März 1956, VSBA Archives. 66 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 17. März 1956, VSBA Archives. 67 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 3. April 1956, VSBA Archives. 68 »I want to express my gratitude to Richard Krautheimer, who shared his insights on Roman Baroque architecture with us Fellows at the American Academy in Rome«. Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 14.
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aus jener Zeit bestätigt: »Perhaps the most important personal influence we had was the incredible good fortune of having Professor Richard Krautheimer […] He was responsible for stimulating my interest in the Baroque and I am sure he had the same influence on Bob.«69 Krautheimer war es auch, der Venturis zu seiner letzten größeren Reise während seines Aufenthalts an der Academy veranlasste. Sie führte ihn in Begleitung von Norman Neuerburg und Charles Brickbauer zum Studium der spätbarocken und Rokoko-Architektur nach Süddeutschland.70 Daraufhin besuchte Venturi zum Abschluss seines knapp zweijährigen Aufenthalts an der American Academy in Rome ein letztes Mal den Golf von Neapel, bevor er via Amsterdam die Heimreise antrat. Abschließend scheint man auf den ersten Blick Bruno Zevi recht geben zu müssen, wenn er in Bezug auf die amerikanischen Rom-Stipendiaten jener Zeit von einer »maniera disordinate e senza construtto« des Reisens sprach.71 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß Venturis Reisetätigkeit keineswegs so konzeptlos war, wie sie auf den ersten Blick erscheint: Während seines Aufenthalts bereiste er nicht nur Italien unter ganz spezifisch architektonischen Gesichtspunkten. Gleiches lässt sich auch in Bezug auf erhebliche Teile des gesamten Mittelmeerraumes sagen. Venturi folgte insgesamt einem Kanon an Destinationen, der durch die Konventionen der Grand Tour und des daran sich anschließenden touristischen Sightseeings deutlich vorgezeichnet war. Wenn Reisen darüber hinaus auch nach Mittel- oder Nordeuropa führten, so waren sie wie im Fall von Stockholm der günstigen Gelegenheit geschuldet oder aber folgten – wie im Fall von Süddeutschland – ganz spezifischen architektonischen Interessen. Im Ganzen verdichten sich die zahlreichen Reisen Venturis zu einer ausgedehnten Bildungsreise im Sinne der Grand Tour, die ihn weite Teile des europäischen Kontinents unter spezifisch architekturbezogenen Gesichtpunkten kennen lernen ließen.
Von der Rezeption zur Publikation Die Einsichten und Erkenntnisse aus der Zeit des Aufenthalts an der American Academy kamen Venturi in vielerlei Hinsicht zugute. Besonders deutlich schloss 1966 Complexity and Contradiciton in Architecture an diese Erfahrung an, wobei es sich um Venturis erste Buchpublikation handelte.72 Zwar spielt Rom auch in Learning from Las Vegas, das 1972 69 Email von Charles Brickbauer an den Autor, 22. November 2001. 70 »At a certain point Krautheimer decided that we were ready for Late Baroque … more accurately, Rococo. He laid out an itinerary of South German churches and palaces in Bavaria and Franconia, and Bob, me and two other friends (a sculptor and an historian) made the pilgrimage«. Email von Charles Brickbauer an den Autor, 22. November 2001. 71 Bruno Zevi, »L’architettura negli scambi culturali tra Stati Uniti e Italia«, in: Carlo Chiarenza, Immaginari a confronto. I rapporti culturali tra Italia e Stati Uniti: la percezione della realtà tra stereotipo e mito. Venezia (Marsilio), 1993, S. 94. 72 Es sollte in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass bereits Venturis Princetoner master’s thesis aus dem Jahr 1950 sich in verschiedenen Beispielen auf die historische Architektur Roms bezieht und eine Vorliebe für den Barock mit seinen geschlossenen Platzanlagen offenbart. Vgl. Venturi 1950 (wie Anm. 39).
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erschien, eine gewisse Rolle, dient die Stadt hier doch als Kontrastfolie zum Modell zeitgenössischen amerikanischen Städtebaus, das am Beispiel von Las Vegas vorgeführt wird (Abb. 9). Was Complexity and Contradiction betrifft, so war das Buch, obwohl erst eine ganze Dekade nach der Rückkehr aus Rom publiziert, eine intellektuelle Verarbeitung des Aufenthalts an der American Academy.73 Während bereits die Abbildung von Michelangelos Porta Pia auf dem Umschlag auf die zentrale Rolle Roms hindeutet, so wird die These durch eine quantitative Analyse des im Buch versammelten Bildmaterials unterstrichen: Rund neunzig der insgesamt 253 Bilder beziehen sich auf italienische Bauten und Objekte, von denen wiederum rund vierzig aus Rom und seiner näheren Umgebung selbst stammen. Nicht minder aufschlussreich ist ein Vergleich des Bildmaterials mit den Reisezielen, die Venturi während seines Aufenthalts an der American Academy besuchte. Ein Bezug lässt sich in zahlreichen Fällen herstellen: Das trifft nicht nur auf Balthasar Neumanns Kirchen in Vierzehnheiligen und Neresheim sowie auf die Wallfahrtskirche in Birnau zu, sondern auch auf die erwähnten ägyptischen Tempel, auf Werke Gaudís in Barcelona, verschiedene südspanische Sakralbauten, einige Werke Le Corbusiers oder Architekturen aus dem ägäischen Raum wie etwa byzantinische Kirchen oder der Apollo-Tempel in Didyma. Selbstverständlich war Venturi mit einer Vielzahl dieser Bauten bereits aufgrund seiner kunsthistorischen Ausbildung in Princeton vertraut. Der Aufenthalt an der American Academy gab ihm jedoch Gelegenheit zur eingehenden Auseinandersetzung mit diesen Bauwerken, die er in einigen Fällen für das Buch gar selbst fotografierte, wie aus den Bildnachweisen zu schließen ist. Wenn Venturi auf seinen Reisen kaum zu Skizzenbuch und Notizpapier griff, so darf Complexity and Contradiction als Versuch verstanden werden, das Versäumte in Buchform nachzuholen. Insofern bildet die Publikation einen nachgereichten Reisebericht unter ganz spezifisch architekturbezogenem Blickwinkel.
3 Zeitgenössische Kontakte – Eine Spurensuche Abschließend geht es um die Frage, inwiefern sich Venturi während seines Aufenthalts in Rom mit zeitgenössischer italienischer Architektur beschäftigte. Es zeigt sich, daß Complexity and Contradiction keinesfalls als detailgetreuer Reisebericht verstanden werden darf, findet doch eine Auseinandersetzung mit aktuellen Positionen kaum statt. Auch rückblickend hat sich Venturi in dieser Frage zurückhaltend geäußert.74 Indes rufen die vorliegenden Quellen nach einer Revision dieses Bildes. 73 Diese Auffassung wird von Bruno Zevi geteilt: »Il suo famoso libro, Complexity and Contradiction in Architecture, è largamente frutto del biennio 1954–56 speso nell’American Academy in Rome.« Zevi 1993 (wie Anm. 71), S. 96. − Die Textgenese von Complexity and Contradiction gestaltete sich ziemlich komplex: Ein Großteil des Buches war bereits bis 1962 im Rahmen eines Forschungsstipendiums der Graham Foundation fertig gestellt worden (vgl. Brief von Robert Venturi an John D. Entenza, 15. Februar 1962, VSBA Archives. Für Details s. auch Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 6. – Obwohl das Buch offiziell bereits 1966 erschien, gelangte es erst im März 1967 zur Auslieferung. S. dazu Diane L. Minnite, »Chronology,« in: David B. Brownlee, David G. De Long und Kathryn B. Hiesinger, Out of the Ordinary. Robert Venturi, Denise Scott Brown and Associates. Architecture, Urbanism, Design. Philadelphia (Philadelphia Museum of Art), 2001, S. 248. 74 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002.
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Die Seminare des Istituto Nazionale di Urbanistica Eine erste und wichtige Gelegenheit zum Kontakt mit zeitgenössischen Architekten bestand für Venturi in der Teilnahme an einer Serie von Seminaren, die durch das Istituto Nazionale di Urbanistica (INU) veranstaltet wurden. Diese Vortragsreihe wurde 1953/54 in Zusammenarbeit mit der American Fulbright Commission ins Leben gerufen, stand aber auch den Fellows der American Academy offen.75 Die Seminare zielten darauf ab, den Aufenthalt der amerikanischen Studenten in Rom gewinnbringender zu gestalten, da diese sich in der neuen Umgebung oft nur mit Mühe zurecht fanden. Bruno Zevi hat eine Reihe von Gründen für diese Situation genannt.76 Seiner Auffassung nach hatten die italienischen Architekturschulen den Amerikanern insgesamt wenig zu bieten; auch war es für diese nicht einfach, in die relativ geschlossenen Kreise der berufstätigen Architekten einzudringen. Des Weiteren kamen die Amerikaner nicht aus beruflichen Beweggründen nach Italien, sondern um ihre allgemeine kulturelle Bildung voranzutreiben; um dies effizient zu tun, fehlte ihnen indes, gemäß Zevi, das Wissen, wo die besten spezialisierten Bibliotheken zu finden waren. Schließlich bot sich den Amerikanern, selbst wenn sie es wünschten, kaum Gelegenheit, mit modernen italienischen Architekten in Kontakt zu treten. Die Inu-Seminare sollten diesem Zustand durch eine Reihe von Maßnahmen Abhilfe verschaffen. Gemäß Zevi, der die Seminare organisierte, erhielt jeder Stipendiat zu Beginn der Veranstaltungsreihe eine Reihe von Bänden zu Architektur und Städtebau in Italien, eine Liste mit den wichtigsten modernen Gebäuden in Rom und anderen Städten, eine Liste mit den Namen und Adressen zeitgenössischer italienischer Architekten sowie eine Liste von auf Kunstgeschichte spezialisierten Bibliotheken. Da Venturi diese Auflistungen nicht nur erhielt, sondern sie auch aufbewahrte, ist davon auszugehen, daß sie ihm bei der Erkundung moderner und zeitgenössischer Architektur zu Dienste standen.77 Zu den Veranstaltungen wurden regelmäßig führende italienische Architekten eingeladen, die vor den amerikanischen Kollegen ihre jüngsten Arbeiten präsentierten. Die Amerikaner gewannen dadurch nicht nur einen Einblick in den aktuellen Stand der Architektur ihres Gastlandes; es bot sich ihnen darüber hinaus die Gelegenheit zum persönlichen Kontakt. Venturi erinnert sich an Sitzungen mit Pier Luigi Nervi sowie Luigi Moretti.78 Aus seiner persönlichen Korrespondenz ist überdies ersichtlich, daß er an einer Reihe weiterer Vorträge anwesend war, so bei Giancarlo De Carlo, den er »interessant« fand, bei
75 Neben Venturi waren dies: James A. Gresham und Warren A. Peterson für die Periode 1954/55 sowie Charles G. Brickbauer, James A. Gresham, Warren A. Peterson, und Dan R. Stewart für 1955/56. Vgl. American Academy in Rome 1955 (wie Anm. 44), S. 26; American Academy in Rome, Report 1955–1959. New York/Rom (American Academy in Rome), 1959, S. 13. 76 Vgl. Zevi 1993 (wie Anm. 71), S. 94f. 77 Die Liste zur modernen römischen Architektur beinhaltet unter anderem Häuser Pietro Aschieris aus den späten 1920er Jahren, mehrere Bauten in der Città universitaria, Arbeiten von Mario Ridolfi, Luigi Piccinato, Luigi Moretti (einschließlich dessen für Venturi wichtige Casa del Girasole) sowie große Überbauungsprojekte des staatlichen INA-Casa-Programms, darunter das Tiburtino-Quartier und die Hochhäuser an der Via Etiopia von Ridolfi und Wolfgang Frankl. 78 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002.
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Riccardo Morandi, der der Studentengruppe zwei von ihm erbaute Fabriken außerhalb Roms zeigte, bei Paolo Chelazzi, dessen Ideen Venturi mit jenen Louis Kahns verglich, bei Luigi Piccinato (»great Italian city planner«), der seine Planungen für Siena und die Region Matera präsentierte, sowie bei Vittorio Gandolfi (»stimulating«).79
Realismen Ein weiterer italienischer Architekt, der während Venturis Aufenthalt an der American Academy zu einem Vortrag im Rahmen der Seminare des Istituto Nazionale di Urbanistica eingeladen wurde, war Ludovico Quaroni. Von seiner Präsentation findet sich in Venturis Archivbeständen eine einseitige maschinengeschriebene Zusammenfassung, die neben einigen Projekten in Rom auch die Neubausiedlung La Martella bei Matera erwähnt. Es handelt sich dabei um eines der bekanntesten Werke des neorealismo. Ob Venturi die Siedlung selbst besuchte, ist nicht klar; hingegen geht aus einem archivierten Notizblatt hervor, daß er mit dem Problem der Umsiedlung der ländlichen Bevölkerung in neue, suburbane Siedlungen, das im Zentrum der Ideologie des neorealismo stand, bestens vertraut war.80 Bekanntlich bezog sich der neorealismo dabei auf volkstümliche Architekturformen, um zwischen Moderne und traditionellen Wohn- und Lebensformen zu vermitteln.81 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Venturis eigene ›pop architecture‹ ver-
79 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 26. Februar 1955, VSBA Archives (De Carlo); Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 10. März 1955, VSBA Archives (Morandi); Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 19. Januar 1956, VSBA Archives (Chelazzi); Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 1. Februar 1956, VSBA Archives (Piccinato); Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 14. März 1956, VSBA Archives (Gandolfi). Gemäß der Zeitschrift L’Architettura. Cronache e storia, die über die Seminare berichtete, präsentierte De Carlo seine Filme zum Städtebau, die er für die X. Triennale di Milano angefertigt hatte, während Morandi einige seiner Brückenprojekte und Industriebauten vorstellte. Vgl. L’Architettura. Cronache e storia 1 (1955), Nr. 1, S. 92. – In Venturis Archiv finden sich für das akademische Jahr 1954/55 Einladungen zu INU-Seminaren mit Vorträgen folgender Architekten: Ricardo Gizdulich, Marcello d’Olivo, Giovanni Michelucci, Mario de’Luigi, Giancarlo De Carlo, Riccardo Morandi, Ugo Vallecchi, Mario Coppa, Giuseppe Vaccaro, Luigi Moretti, Emilio Pifferi, Adalberto Libera, Ludovico Quaroni, Nello Renasco, Ignazio Gardella und Cesare Brandi. Aus ungeklärten Gründen entspricht diese Liste nicht exakt den Angaben zum oben erwähnten Artikel in der Zeitschrift L’Architettura. Cronache e storia. Zu den bereits erwähnten Namen nennt dieser Artikel zusätzlich Givanni Astengo, Alberto Ressa, Mario Paniconi und Michele Valore; im Gegenzug werden Giuseppe Vaccaro, Luigi Moretti, Emilio Pifferi, Ignazio Gardella und Cesare Brandi nicht erwähnt. Das detaillierte Programm der INUSeminare für das akademische Jahr 1955/56 ist unbekannt, weil für diesen Zeitraum in Venturis Archiv keine Einladungen erhalten geblieben sind. Ohnehin ist seine regelmäßige Teilnahme aufgrund seiner Reisetätigkeiten stark zu bezweifeln. 80 Das undatierte Notizblatt trägt aus unbekannten Gründen die Überschrift »Moretti« und listet eine Reihe von Stichwörtern auf, die in Zusammenhang mit dem neorealismo stehen. 81 Vgl. etwa für den Fall Mario Ridolfi in Zusammenhang mit dem Tiburtino-Quartier Bruno Reichlin, »Figures de néoréalisme dans l’architecture italienne«, in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne (1999), Nr. 69, S. 83f.
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schiedentlich im Sinne eines amerikanischen Realismus interpretiert worden ist.82 Der volkstümlich-vernakuläre Aspekt seiner Architektur zeigt sich etwa an den Trubek and Wislocki Houses am Strand von Nantucket Island, die von der traditionellen anonymen Holzarchitektur der Insel inspiriert sind. (Abb. 10) Auch wenn ein Vergleich zwischen dem italienischen neorealismo und Venturis Architektur auf formaler Ebene gewagt erscheint, so ist doch eine gemeinsame Orientierung an anonymen, regionalistischen Architekturtraditionen nicht von der Hand zu weisen. Die beiden Positionen teilen eine grundlegende Ausrichtung an der real existierenden, gebauten Umgebung, eine Haltung, die kritische Distanz zum Utopismus der Moderne markiert. Im Falle des neorealismo werden die Formen der ländlichen anonymen Architektur als Vorbilder für eine zeitgemäße Architektur genommen; im Falle Venturis ist es das ›American vernacular‹, sei es nun (wie im Fall von Las Vegas) kommerziell oder (wie im Fall der Trubek and Wislocki Houses) regionalistisch. Während aber die unkritische Übernahme einer ländlichen Nostalgie durch den neorealismo als regressive Utopie bezeichnet werden muss, verweigert sich Venturi jeder Teleologie. Gleichwohl konnte Venturis Pop-Architektur seit den 1960er Jahren wenigstens partiell auf einer Haltung aufbauen, die bereits in einem anderen Kontext und einiges früher erprobt worden war.
Luigi Moretti und die Emanzipation der Fassade Im Unterschied zu den bisher erwähnten Kontakten zur zeitgenössischen italienischen Architekturszene hat Venturi nie ein Geheimnis aus seiner hohen Wertschätzung für Luigi Moretti gemacht, den er anläßlich eines INU-Seminars persönlich kennen gelernt hatte. Morettis Casa del Girasole (1947–1950) in Rom hat Venturi gar als »one of the most inspiring buildings of my life«83 bezeichnet und es in Complexity and Contradiction entsprechend gewürdigt (Abb. 11, 12).84 Ein Blick auf Venturis frühes Hauptwerk, das Wohnhaus für seine Mutter in Chestnut Hill (1961), ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Verschiedene der besonders charakteristischen Elemente des Vanna Venturi House scheinen ohne Morettis Vorgabe kaum denkbar. Der gesprengte Giebel an der Hauptfassade stellt dabei lediglich die augenfälligste Gemeinsamkeit dar. In beiden Fällen wird die Erinnerung an das Tympanon des 82 Zur »pop architecture« vgl. Robert Venturi, »A Justification for a Pop Architecture«, in: Arts & Architecture 82 (1965), Nr. 4, S. 22, sowie Architecture Canada 45 (1968), Nr. 10, S. 35−56 (Sondernummer zum Thema). Zum Realismus vgl. Stanislaus von Moos, »Zweierlei Realismus«, in: WerkArchithese 64 (1977), Nr. 7/8, S. 58−62; Dan Graham, »Not Post-Modernism as Against Historicism, European Archetypal Vernacular in Relation to American Commercial Vernacular, and the City as Opposed to the Individual Building«, in: Artforum 20 (1981), Nr. 4, S. 50−58, sowie Stanislaus von Moos, Venturi, Rauch & Scott Brown. Fribourg (Office du Livre) und München (Schirmer/Mosel), 1987, S. 61−70. 83 Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002. 84 Vgl. Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 29 und S. 95. Gemäß Venturi »entdeckte« er die Casa del Girasole nicht während seines Aufenthalts an der American Academy, sondern erst einige Zeit später (Interview mit dem Autor, Philadelphia, 3. Januar 2002). Dies, obwohl das Haus auf der Liste wichtiger moderner Bauten figurierte, die anläßlich der INU-Seminare verteilt worden war.
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klassischen griechischen Tempels transportiert, auch wenn im Fall von Venturi überdies an ein prototypisches Einfamilienhaus zu denken ist.85 Auch die Auseinanderdividierung in zwei voneinander getrennte Bereiche – Venturi spricht von »Dualität« – lässt sich als Element der Verfremdung des klassischen Vorbilds interpretieren. In beiden Fällen wird die vordergründige Symmetrie der Fassade gebrochen: Während Morettis dies durch die ungleich hohen Abschlüsse der Giebeldreiecke erreicht, erzielt Venturi denselben Effekt durch die Verrückung des überdimensionierten Kamins aus der Mittelachse. Bei beiden Bauten ist die Fassade zu einer glatten Fläche abstrahiert; sie erscheint als dünner ›Screen‹, der einer Stellwand gleich vor das Gebäude gestellt ist. Eine Radikalisierung des Themas findet sich in Venturis anderem frühem Hauptwerk, dem Guild House in Philadelphia (1961). Hier erscheint die Fassade »in demonstrativer Weise dünn, untektonisch, nicht viel mehr als das zweidimensionale Bild einer Fassade.«86 Andere Beispiele für solche bildhaften Fassaden in Venturis Werk sind die Fire Station No. 4 in Columbus, Indiana (1966) oder die Dixwell Fire Station in New Haven, Connecticut (1967). Die Ablösung der autonom sich gebärdenden Fassade vom Bau ist ein signifikanter Bruch mit dem modernistischen Denken, das die äußere Hülle eines Baus im Wesentlichen als physiognomische Repräsentation seiner inneren räumlichen Organisation begreift. Modernistisches Entwerfen von innen wird hier durch eine Entwurfsstrategie ersetzt, die zugleich von innen und außen vorgeht – eine Idee, die für das Konzept des ›dekorierten Schuppens‹ aus Learning from Las Vegas konstitutiv ist. Obwohl die Casa del Girasole Morettis einziger in Complexity and Contradiction vertretener Bau ist, sind die auffälligsten Eigenschaften des Hauses bereits in der Römer Palazzina della cooperativa Astrea von 1947–1949 vorhanden (Abb. 13). Bemerkenswert ist die vergleichbare Behandlung der flächigen Hauptfassade, deren zentraler Bereich vom Gebäude sich abzuschälen scheint. Die Autonomie der Fassade wird bereits an diesem Bau unterstrichen: »[T]he casa Astrea was one of the first postwar buildings to break the most important canons of the modern movement without resorting to an overt traditional styling […] The play of rustication drawn out as taut surface, the arbitrary cutting of the balconies and the peeling away of the facade of the Casa Astrea were all revolutionary acts as regards modern movement tenets.«87 Wenn die Fassade von Venturis Mother’s House in Struktur und bildhaftem Verständnis Morettis Casa del Girasole geschuldet ist, so muss in diesem Zusammenhang die Vorgabe der Casa Astrea gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Emanzipation der Fassade innerhalb der Tradition der Moderne, die in der Regel mit dem Venturi’schen Konzept des dekorierten Schuppens im Sinne einer Infragestellung modernistischer Entwurfsprinzipien in Verbindung gebracht wird, ist bei Luigi Moretti vorweggenommen. Die Bedeutung des italienischen Architekten für das architektonische Denken Venturis kann aus diesem Grund kaum hoch genug veranschlagt werden.
85 Vgl. Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 117. 86 Von Moos 1987 (wie Anm. 82), S. 26. 87 Schumacher 1979 (wie Anm. 1), S. 95.
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Ernesto Nathan Rogers und die Kritik der modernen Architektur Neben Moretti war Ernesto Nathan Rogers der andere zeitgenössische italienische Architekt, für den eine nachhaltige Wirkung auf das architektonische Denken und Schaffen Venturis behauptet werden kann. Der Mailänder Architekt und Theoretiker hielt sich im Frühling 1955 mehrfach an der American Academy auf, um die Stipendiaten bei der Erarbeitung eines Projekts für zusätzliche Künstlerateliers im rückseitigen Garten der Academy zu unterstützen. Diese Konstellation bot Venturi die Gelegenheit, sich mit den von Rogers vertretenen theoretischen Positionen zur aktuellen Architektur vertraut zu machen, in denen sich ab Mitte der 1950er Jahre eine kritische Distanz zur Moderne abzuzeichnen begann. Die Belege aus Venturis Korrespondenz lassen auf einen angeregten Austausch zwischen den beiden Architekten schließen. Erstmals findet sich im Februar 1955 in einem Brief Venturis an die Eltern ein Hinweis auf eine Begegnung: The nicest news is that Ernesto Rogers has read my paper … and might publish it in his magazine »Casabella«! … [O]n Sunday we architects + Rogers took an interesting trip to the town of Tarquinia … Tomorrow night we architects + Rogers are having dinner with Perisutti [sic].88
Insbesondere scheint Rogers das Interesse der amerikanischen Kollegen an der modernen italienischen Architektur genährt zu haben: [O]n Wed. afternoon we architects here, and Rogers, went on a little tour around Rome investigating modern architecture. There is much of it, which is good, but it is mostly quite bad. We visited two places I visited with you, The Ardeatine Cave Monument, again very moving, and very good, and the 1942 Exposition Buildings. Still ridiculous + pompous, mostly.89
Die Bedeutung, die Venturi der Begegnung mit einem der führenden Köpfe der italienischen Architektur seiner Zeit beimaß, wird sodann in einem Brief an das Board of Trustees der American Academy ersichtlich, den Venturi unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Rom im Sommer 1956 verfasste: After having completed my last term as a Fellow in Architecture, I find myself resisting my usual disinclination to write a letter. … I consider my associations [at the Academy] and my travels and discoveries made possible by the fellowship, the richest experience of my life. … I owe a particular debt to Ernesto Rogers there, for his friendship and his introduction to the best of current Italian architecture.90
Die Begegnung mit Rogers wäre nicht weiter der Rede wert, wenn Rogers im Kontext der italienischen Architektur der 1950er Jahre nicht eine herausragende Bedeutung zukäme. Seit 1953 Herausgeber von Casabella continuità, war er für eine der einflussreichsten Archi88 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi vom 21. Februar 1955, VSBA Archives. Der erwähnte Artikel wurde nie publiziert und sein Verbleib ist unbekannt. Venturi hat seinen Inhalt später beschrieben als »speculating on the influence of Italian hilltowns on the design of Taliesin after Frank Lloyd Wright’s Italian trip in 1910«. Robert Venturi, unpubliziertes Typoskript, 15. Januar 1982, American Academy in Rome Archives, New York. 89 Brief von Robert Venturi an Robert und Vanna Venturi, 4. März 1955, VSBA Archives. Venturi bezieht sich in diesem Brief auf eine gemeinsame Italienreise mit seinen Eltern im Jahr 1952. Von dieser Reise sind keine weiteren Informationen bekannt. 90 Brief von Robert Venturi an James Kellum Smith, 16. Oktober 1956, VSBA Archives.
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tekturzeitschriften der Zeit verantwortlich und trug in dieser Funktion wesentlich zum agenda setting des architektonischen Diskurses bei. Hatte Casabella in den 1930er Jahren unter Giuseppe Pagano und Edoardo Persico als Sprachrohr des razionalismo fungiert, so schloss die Zeitschrift in den Nachkriegsjahren an diese moderne italienische Tradition an. Das Bestreben nach einer Wiederaufnahme und Weiterführung des vor dem Krieg begonnenen modernen Projekts kam im Epitheton »continuità« zum Ausdruck, das dem Zeitschriftentitel mit der Neulancierung unter Rogers 1953 beigefügt wurde. Trotz dieses vordergründigen Verweises auf die rationalistische Schule der 1930er Jahre lässt sich in Rogers’ Leitartikeln eine zunehmende Entfernung vom angestammten Erbe erkennen. Eine Wegmarke der ideellen Emanzipation von der Vätergeneration bildete 1954 das Editorial mit dem Titel »Die Verantwortung gegenüber der Tradition« (»Le responsabilità verso la tradizione«). Obwohl ›Tradition‹ durchaus zweideutig gemeint sein und sich sowohl auf den razionalismo als auch die Architekturgeschichte beziehen konnte, warnte Rogers unmissverständlich vor dem Formalismus der Modernisten, der die größte Gefahr für die zeitgenössische Architektur darstelle.91 Davon ausgehend, entwickelte Rogers die Theorie einer Architektur, die ihrem historischen und urbanen Kontext auf formaler Ebene gerecht werden sollte, womit er ein proto-kontextualistisches Verständnis von Architektur vertrat. Besonders deutlich kommt dies in einem weiteren Editorial aus dem folgenden Jahr zum Ausdruck: [F]unctionalism is not only the finest means of expressing every construction according to its specific character, but also of adapting every building to the problems of its site and its cultural situation.92
Im Verständnis von Rogers hört die Aufgabe des Architekten nicht bei räumlichen und strukturellen Überlegungen auf; vielmehr muss er beim Entwurf auch vorhandene externe Faktoren wie den kulturellen Kontext und die städtische Geschichte in Betracht ziehen. Damit war Rogers einer der ersten Vertreter der Moderne, die den radikalen Bruch mit der Vergangenheit, die Tabula-rasa-Haltung gegenüber der Stadt in Frage stellten. Jedoch war sein Beitrag zu einer Revision der Moderne seinerseits nicht als Bruch mit deren Zielen intendiert; vielmehr wollte er seine Überlegungen im Sinne der Weiterentwicklung eines offenen Projekts verstanden wissen. Diese differenzierte Haltung in Bezug auf die Moderne gleicht einem grundlegenden Zug im architektonischen Denken Venturis, das sich in vergleichbarer Weise zwischen dem Habitus der Referenz an die Moderne und einer Abkehr von deren Dogmen bewegt.
91 »[O]correrà ripetere che l’accademismo più pericoloso è ormai, quello dei formalisti moderni; essi non hanno capito come lo stile moderno, appunto si opponga all’uso di quelli del passato, perché ha posto in ogni caso le condizioni di una problematica dinamica, la quale sfugge ad ogni catalogazione, traendo le soluzioni dalla concretezza dei fenomeni e non da un cifrario aprioristicamente determinato.« Ernesto N. Rogers, »Le responsabilità verso la tradizione«, in: Casabella continuità (1954), Nr. 202, S. 2. 92 »Se l’architettura funzionale … è intesa con rigore in tutta la profondità dei suoi principi e non formalmente secondo la sola suggestione del gusto, essa à la più indicata, non sola ad interpretare l’esatto uso d’ogni opera secondo i suoi caratteri specifici, ma anche a tenere in gran conto le esigenze imposte alla natura del luogo e dell’ambiente culturale dove sorge.« Ernesto N. Rogers, »La tradizione dell’architettura moderna italiana«, in: Casabella continuità (1955), Nr. 206, S. 4 (englische Originalübersetzung aus dem Anhang der Zeitschrift).
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So lehnte sich Venturi in Complexity and Contradiction gegen die »orthodoxen modernen Architekten« auf, indem er etwa mit dem bekannten Wortspiel »Less is a bore« gewitzt gegen Mies van der Rohe polemisierte.93 Wenige Seiten später jedoch illustrierte der Autor die von ihm geschätzte »Komplexität und Widersprüchlichkeit« in der Architektur anhand von Bauten Le Corbusiers.94 Es wäre falsch, diesen Umstand als Inkonsequenz auszulegen; vielmehr belegt er die frühe Einsicht Venturis in die Tatsache, daß es ›die Moderne‹ als kohärente Bewegung nicht gab und daß sie sich nicht auf ein Set formaler Kriterien reduzieren ließ. Obwohl zwischen Rogers und Venturi nicht von einer direkten ›Beeinflussung‹ die Rede sein kann, erscheint doch in Hinblick auf die weitere Architekturgeschichte höchst bedeutsam, daß verschiedene italienische Architekten sich bis zum Ende der 1950er Jahre von einem modernistischen Formalismus distanziert und sich im Gegenzug der Geschichte und der gewachsenen Stadtstruktur im Sinne eines Kontextualismus avant la lettre zugewandt hatten. Die bekanntesten Beispiele dafür sind die Torre Velasca von BPR in Mailand (Abb. 14) sowie Ignazio Gardellas Casa alle Zattere in Venedig (beide 1958).95 Venturi hatte Italien bereits wieder verlassen, als diese Bauten realisiert wurden; aber er weilte zu einem Zeitpunkt an der American Academy, als die Debatten in Gang kamen, die zu diesen gebauten Manifesten eines neuen Architekturverständnisses führten. Geschichte und Kontext sollten späterhin zu Hauptanliegen in Venturis architektonischem Denken avancieren. Sein persönlicher Kontakt mit einem der Wortführer der italienischen Debatten jener Zeit erscheint unter diesem Gesichtspunkt mehr als nur ein Zufall. Hatte Charles Jencks in seiner »Post-Modern History«96 eine ideologische Verwandtschaft zwischen den italienischen Positionen der 1950er Jahre und Venturis Architektur vermutet, so scheint diese These durch biografische Fakten wesentlichen Sukkurs zu erhalten. Wenn man das Œuvre des amerikanischen Architekten und Theoretikers unter dem Aspekt seines Beitrags zur Postmoderne diskutieren will, wird man daher schwerlich umhin können, den italienischen Beitrag zur Vorgeschichte der Postmoderne zu würdigen. Die These eines radikalen Bruchs mit der Moderne erscheint unter diesem Gesichtspunkt
93 Vgl. Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 23−25. Venturi hat zwischenzeitlich seine Kritik an Mies revidiert. 94 Vgl. Venturi 1966 (wie Anm. 51), S. 30. – Venturis ambivalente Haltung in Bezug auf den Modernismus lässt sich hervorragend nachvollziehen in Robert Venturi und Denise Scott Brown, »Functionalism, Yes, But …«, in: A+U 4 (1974), Nr. 11, S. 33f., wiederabgedruckt in Robert Venturi und Denise Scott Brown, A View from the Campidoglio. Selected Essays 1953–1984. New York (Harper & Row), 1984, S. 44; ferner in Robert Venturi, »A Definition of Architecture as Shelter with Decoration on It, and Another Plea for a Symbolism of the Ordinary in Architecture«, in: Venturi/Scott Brown 1984, S. 66. 95 Die Wiedereinführung der Geschichte in den architektonischen Diskurs in Italien wurde zunächst als »Neo-Liberty« bekannt und löste eine hitzige internationale Debatte aus. Insbesondere der englische Theoretiker Reyner Banham hielt mit seiner Kritik am wenigsten zurück und bezichtigte die Protagonisten der italienischen Entwicklung einer Abkehr von der modernen Architektur. Vgl. Reyner Banham, »Neoliberty. The Italian Retreat from Modern Architecture«, in: The Architectural Review 125 (1959), Nr. 747, S. 231–235. Rogers, der sich zunächst selber kritisch zum Werk der jüngere Generation geäußert hatte, ließ diese Anschuldigungen nicht auf sich sitzen und titulierte Banham im Gegenzug als »caretaker of the frigidaires«. Vgl. Ernesto N. Rogers, »L’evoluzione dell’architettura. Risposta al custode dei frigidaires«, in: Casabella continuità (1959), Nr. 228 (1959), S. 2–4. 96 Vgl. Charles Jencks, »Post-Modern History«, in: Architectural Design 48 (1978), Nr. 1, S. 15–19.
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fragwürdig; vielmehr legen die hier dargelegten Fakten den Schluss nahe, daß die jüngere Architekturgeschichte als kontinuierliche Erneuerung der Moderne durch ihre Protagonisten selbst zu begreifen ist.
Resümee Mein Beitrag drehte sich um die Frage, inwieweit die Italienerfahrung beziehungsweise die Auseinandersetzung mit historischer und zeitgenössischer italienischer Architektur für das theoretische und gebaute Werk des amerikanischen Architekten Robert Venturi von Bedeutung ist. Im Zentrum der Betrachtungen standen dabei zwei in der intellektuellen Biografie Venturis prägende Ereignisse: eine studentische Sommerreise im Jahr 1948 sowie ein knapp zweijähriger Aufenthalt an der American Academy in Rome zwischen 1954 und 1956. Insoweit, als diese beiden Ereignisse als Bildungsreisen intendiert und deklariert waren, ordnen sie sich in die vom nordeuropäischen Adel begründete und von der aufstrebenden amerikanischen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts beerbte Tradition der Grand Tour ein. Überdies ist Venturis Gastinstitut, die American Academy in Rome, in Anlehnung an das Modell der französischen Akademie zu begreifen, das in der Moderne zum Zielpunkt der Kritik wurde. Daß Venturi sich dennoch für diese Institution entschied, ist als signifikantes biografisches Ereignis zu werten, nicht zuletzt im Hinblick auf seine später formulierte ambivalente Haltung zur Moderne. Diese Position zwischen Kritik und Affirmation scheint in wesentlichen Teilen Resultat eines Prozesses zu sein, an dessen Beginn Venturis Reiseerfahrungen standen. Ein besonderes Augenmerk galt in diesem Zusammenhang der Frage nach einer Beschäftigung mit zeitgenössischer italienischer Architektur. Wie sich anhand einer Reihe von Beispielen zeigen ließ, bestehen deutliche ideelle Parallelen zwischen der Architektur Venturis und den italienischen Recherchen der 1950er Jahre, sodass einige frühe Werke des amerikanischen Architekten ohne die Rezeption dieser italienischen Positionen kaum denkbar scheinen. Diese Erkenntnis wirft abschließend die Frage auf, inwiefern der italienische Beitrag jener Zeit als wichtige Station auf dem Weg zur architektonischen Postmoderne zu begreifen ist – beziehungsweise danach, ob von einer postmodernen Architektur im Sinne eines radikalen Paradigmenwechsels überhaupt die Rede sein kann.
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Abb. 1 Robert Venturi auf dem Dach der Kathedrale von Chartres, Juli 1948. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
Abb. 2 Robert Venturi, »The Golden Air of Rome«, Skizze, 1998, aus »My Rome«, unpublizierte Broschüre aus Anlaß des 55. Jahrestags seines ersten Tags in Rom, 2003. © Robert Venturi.
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Abb. 3 Detail des Tempels von Karnak, aus Complexity and Contradiction in Architecture, 1966.
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Abb.â•›4 Venturi and Short, North Penn Visiting Nurses’ Association Headquarters, Ambler, Pennsylvania, 1961. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
Abb.â•›5 Robert Venturi auf der Akropolis, Athen, 1955. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
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Abb. 6 Italienische Straßenszene, fotografiert von Robert Venturi, ca. 1955. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
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Abb. 7 Robert Venturi, Skizze der Reiseroute durch Süditalien und Sizilien, enthalten in einem Brief an seine Eltern vom 12. Juni 1955. Venturi, Scott Brown and Associates, Archives, Architectural Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical and Museum Commission.
Abb. 8 Robert Venturi, Skizze des Tempels von Segesta, enthalten in einem Brief an seine Eltern vom 12. Juni 1955. Venturi, Scott Brown and Associates, Archives, Architectural Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical and Museum Commission.
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Abb. 9 Venturi and Rauch, Beitrag zur Ausstellung »Roma Interrotta« aus dem Jahr 1978, basierend auf dem Römer Stadtplan Giovan Battista Nollis (1748) und der Studie Learning from Las Vegas (1972). Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
Abb. 10 Venturi and Rauch, Trubek and Wislocki Houses, Nantucket Island, Massachusetts, 1970. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc.
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Abb. 11 Luigi Moretti, Casa del Girasole, Rom, 1947–1950. Aus: Amedeo Belluzzi und Claudia Conforti, Architettura italiana 1944−1994. Bari (Editori Laterza), 1994, S. 116.
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Abb. 12 Venturi and Short, Vanna Venturi House, Chestnut Hill, Pennsylvania, 1961. Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc. © Rollin LaFrance.
Abb. 13 Luigi Moretti, »Casa Astrea«, Rom, 1947−1949. Aus: Salvatore Santuccio, Luigi Moretti. Bologna (Zanichelli), 1986.
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Abb. 14 BPR (Ludovico Belgiojoso, Enrico Peressutti und Ernesto Nathan Rogers), »Torre Velasca«, Mailand, 1950/51, fertiggestellt 1958. Aus: Serena Maffioletti, BBPR. Bologna (Zanichelli), 1994.
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»Ed io anche son’ in arcadia« Deutsche Künstler im Dialog mit Italien Die Sehnsucht nach Italien, die seit Ende des 18.Jahrhunderts Künstler immer wieder nach Italien führte, scheint sich in der Moderne und Nachmoderne fortzusetzen, auch wenn für die meisten Künstler Italien schon lange nicht mehr der Inbegriff des idyllischen Lebensraumes ist.1 Daß Maler und Bildhauer in Italien nach wie vor Inspirationen für ihre künstlerische Arbeit erhalten, zeigen die unterschiedlichsten künstlerischen Positionen – wie die von Ulrich Erben, Gotthard Graubner und Gerhard Merz –, die entweder zeitweise ihre Arbeitsstätte oder den Wohnsitz ganz nach Italien verlegt haben. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Form sich ihr Aufenthalt in Italien auf ihre künstlerische Arbeit ausgewirkt hat. In wieweit haben eine bewusste Rezeption und Interpretation in einem dialektischem Prozess der Anverwandlung stattgefunden bzw. hat die Auseinandersetzung mit der antiken und modernen Architektur, der Kunst und Kultur Italiens zu kreativen und innovativen Äußerungen geführt. Für den Maler Ulrich Erben steht Farbe im Mittelpunkt seines Werkes. Indem er die bildnerischen Mittel der Darstellung zu einer Funktion der Farbe werden lässt, tritt Farbe ein »für das Thema, die Form, den Raum und die Bewegung des Lichtes«2 im Bild. Damit steht Erben in der Tradition der Künstler, die spätestens seit Cézanne den autonomen Einsatz von Farbe anstrebten. Daß Farbe nicht mehr in ihrer gegenstandsbezeichnenden Funktion eingesetzt wird, sondern allein der Repräsentanz des subjektiven Eigenwerts dient, schließt nicht aus, daß die Wirklichkeit weiterhin Anlaß des Bildes ist. So ist für Erben das Motiv der Landschaft im Spannungsfeld von Abstraktion und Gegenstandsbezug, von Farbgebung und Komposition Grundlage seiner Bildordnungen. In Kempen am Niederrhein 1940 geboren und aufgewachsen, lebt Erben bereits als Sechzehnjähriger mit seinen Eltern in Rom, da sein Vater – ein Kunsterzieher und ehemaliger Schüler von Paul Klee – 1956 seine berufliche Tätigkeit nach Italien verlegt. Einerseits fasziniert von »der überwältigenden Macht« der römischen Palazzi, »dieser ungeheuren steinernen Vergangenheit«,3 andererseits eher entmutigt angesichts der ihn umgebenden Hochkultur, fasst Erben hier den Entschluss, Künstler zu werden, – »Maler oder Grafiker,
1 So kritisierte bereits Gustav Nicolai die »krankhafte Sehnsucht nach dem Süden«, die u. a. durch Goethes Schilderungen im 19.Jahrhundert ausgelöst wurden. Gustav Nicolai: Italien wie es wirklich ist. In: König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Vorgestellt von Klaus Günzel. Berlin 1981, S. 265. 2 Gustav Vriesen: Robert Delaunays Leben und Werk von den Anfängen bis zum Orphismus. In: Gustav Vriesen, Max Imdahl: Robert Delaunay – Licht und Farbe. Köln 1967, S. 42. 3 Ulrich Erben, zit.n. Atelier 1. Ulrich Erben. Leverkusen: Schloss Morsbroich. 1979, S. 11.
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das war noch offen«.4 Nach zwei Jahren verlässt Erben Rom, um in Hamburg schließlich ein Graphik-Studium aufzunehmen, kehrt aber nach Italien zurück, um in Urbino und Venedig sein Studium fortzusetzen. Auch wenn er nach eigener Aussage »während des Studiums in Venedig nicht so viel gelernt«5 hat, so ist er insbesondere in das geistige Klima des Landes eingetaucht, erfährt in der Auseinandersetzung mit italienischen Künstlern neue Denkansätze. In Venedig konzentriert er sich eine Zeit lang auf das Malen von Gärten, da ihm »alle Motive besetzt«6 erscheinen, bis schließlich landschaftsbezogene Motive zur Grundlage der künstlerischen Auseinandersetzung werden. Es entstehen zarte, transluzide Landschaften, die bereits das Spannungsverhältnis von malerischer Autonomie und formaler Ordnung widerspiegeln. Sicherlich spielen die kunstimmanenten Debatten Ende der sechziger Jahre um die Autonomie des Bildes und die Befreiung der Farbe eine entscheidende Rolle, daß ihm »seine figurativen Bilder zu eng«7 werden. Er sucht nach einer »Öffnung aus der Enge«, was ihm schließlich durch die motivische Reduzierung und die Aufgabe jeglicher Gegenstandsreferenz gelingt: »Da konnte ich durchatmen und frei sein. Ich war nicht mehr gebunden durch das Motiv.«8 Die in den nächsten zehn Jahren entstandenen monochromen Weißen Bilder mit ihren minimalen Farbnuancen und geometrischen Formen lassen die Motivgrundlage nicht mehr erkennen. In den achtziger Jahren erweitert Erben die Farbpalette durch Rot, Blau, Gelb und andere Buntfarben und erforscht den Wechselbezug vom einzelnen unregelmäßig gefassten Farbfeld zum Bildganzen, von Fläche und Raum, von Farbkontrasten zu Farbnuancen in neuen malerischen abstrakten Kompositionen. In dieser Zeit erinnern Titel wie Esterno, 1983, (Abb. 1) oder Prima Vista (Exterieur), 1986, an Farb- oder Formeindrücke, die er in Italien sinnlich erfahren hat. Gleichzeitig wird deutlich, daß ihn die Farbharmonien italienischer Landschaften nicht loslassen und in den Farben der Erinnerung – wie er diese Werkgruppe nennt – als gedanklich gespeicherte innere Bilder wiederkehren. Neue Impulse in der malerischen Auseinandersetzung um »das Sehen und Denken in Farbe«9 gibt ihm ein erneuter Aufenthalt in Rom, als er 1998 ein Stipendium der Villa Massimo erhält und für zwei Monate an die Stätte seiner Jugend zurückkehrt: Zunächst habe ich wieder meine Abstraktionen gesucht, halb monochrome Bilder, das habe ich dann aber aufgegeben und habe gemalt, was ich sehe. Und das Interessante ist, ich habe im Grunde die Bilder gemalt, die ich eigentlich damals nicht malen konnte … Die zwei Monate in Rom, auch wenn ich vorher immer in Rom gewesen bin, haben Entscheidendes verändert. Plötzlich hat sich alles geöffnet, und ich habe mit einer Begeisterung diese Stadt in mir aufgesogen.10
Gespräch der Autorin mit Ulrich Erben am 29. Juni 2005. Siehe Anm. 4. Siehe Anm. 4. Siehe Anm. 4. Siehe Anm. 4. Volker Rattemeyer: Farben der Erinnerung. In: Ulrich Erben. Wiesbaden: Museum Wiesbaden 2003, S. 34. 10 Gespräch der Autorin mit Ulrich Erben am 29. Juni 2005. 4 5 6 7 8 9
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Erben tritt aus der meditativen Stille seiner monochromen Bilder endgültig heraus, spürt der Energie der ihn umgebenden Farben und Formen nach (Rom V. M., 1998), dem intensiven Rot römischer Architektur oder der Wirkung des gleißenden Lichts latinischer Landschaften. In der Werkgruppe Was ich sehe knüpft Erben an frühe Seherfahrungen an, nimmt die »persönliche Auseinandersetzung mit der Landschaft« Latiums wieder auf.11 In den neu geschaffenen Bild-Erfindungen zeigt sich nicht nur die Auseinandersetzung mit Vergangenem und Gegenwärtigem, sondern auch das Bedürfnis nach Kontinuität und Selbstvergewisserung sowie nach der neuen Intensivierung der Beziehung zur italienischen Kulturlandschaft. Es sind die Details einer ursprünglichen Landschaft, in die sich seit Jahrtausenden die Kultur eingemischt hat, ohne das Ursprüngliche löschen zu können. Diese Landschaft steht im immer währenden Dialog mit all jenen, die versuchten, sie zu gestalten. Alles Zeugnisse von Menschen, die damit sagten: Hier sind wir anwesend, hier sind wir vergangen, wir waren Teil von allem, gingen unter und blieben doch mit unseren Zeichen anwesend.12
Auch wenn die motivischen Grundlagen nicht immer unmittelbar zu erkennen sind, ermöglichen sie Assoziationen an spezifische Gegenstände: So verwandeln die zwei wegführenden Linien des Parallelogramms die Fläche in eine schräg gestellte Markise13 (Cittanova, 2000), oder die Bogenreihe erinnert an sonnendurchflutete Arkaden in Latium (Bögen, 2001, Abb. 2). Oder aber Erben verweist mit rudimentären Bruchstücken der Wirklichkeit auf reale Gegebenheiten, auf die gestaffelten Zypressen bei Bagnoregio (Bagnoregio, 2000), die silhouettenhaften Architekturelemente der Villa Adriana (Villa Adriana, 1998). Indem Farbe eine stärker bezeichnende Funktion durch den Zuwachs des Gegenständlichen erhält (Zypressen: Camposanto, 2000, Abb. 3), verstärkt sich die »Ambivalenz zwischen den autonomen, d.h. rein malerischen Komponenten ohne Gegenstandsbindung«14, und den Bildelementen, die eine Gegenstandsorientierung zulassen. Wie bereits in seinen Bildern der Erinnerung sind auch diese Landschaften mit den klar gezogenen Horizonten und leuchtenden Himmeln (Studie [Tuscania], 2001) nicht vor dem Motiv, sondern aus der Distanz zum Gesehenen entstanden, wobei der individuelle Blick des Künstlers in geometrische Strukturen und in eine Emanation der Farbe übersetzt wird. Erbens Entscheidung, Italien seit mehr als vierzig Jahren immer wieder als Inspirationsquelle aufzusuchen, resultiert nicht aus der nostalgischen Sehnsucht nach arkadischen Landschaften, die zahllose Maler der Grand Tour und ihre imitativen Nachfolger der vergangenen Jahrhunderte noch zu stillen suchten. Vielmehr ist es das Verständnis von »Landschaft als etwas Humanem«,15 das er insbesondere in der italienischen Landschaft repräsentiert sieht, der einzigartigen Verbindung von Natur, Kultur und Geschichte: »Wenn ich nach Tivoli fahre und auf einen Aquädukt treffe, stolpere ich über Spuren.
11 Ulrich Erben: Was ich sehe. In: Ulrich Erben. Was ich sehe. Bilder aus Italien 1998–2001. Kleve: Museum Kurhaus 2002, S. 214. 12 Ulrich Erben, in: Kleve 2002 (wie Anm. 11), S. 214. 13 Vgl. Guido de Werd: Nicht nur was ich sehe, in: Kleve 2002 (wie Anm. 11), S. 14. 14 Rolf Wedewer: Erfahrungen und Bilder. (wie Anm. 3), S. 7. 15 Siehe Anm. 4.
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Die Spuren geben mir eine Gewissheit, die es sonst nicht gibt.«16 Indem er das fiktive und reale Geheimnis, die diese harmonischen Landschaften in sich tragen, mit Mitteln der Farbe zur Anschauung bringt, gelingt es ihm, auf eine geistige Wirklichkeit zu verweisen: »Ich möchte« – so Erben – »die Energie einer Landschaft zeigen, ohne ihre figürliche Bindung.«17 Auch Gotthard Graubner gehört zu den Künstlern, die Malerei aus der konsequenten Auseinandersetzung mit Farbe entwickeln. Ein literarisches Thema »als Vorwand […], um Malerei hervorzubringen«, lehnt er ab: »Farbe ist mir selbst Thema genug.«18 Indem er auf räumlich perspektivische wie mimetische Gegenstandsdeterminierung sowie metaphorische Verweise verzichtet, führt er im Gegensatz zu Ulrich Erben die durch die Moderne erfolgte »Rangerhöhung der Farbe«19 mit dem Ziel einer völligen Autonomie fort. In seinen Bildern entstehen »Raum, Komposition und Kontraste allein aus der Dynamik der Farbe«,20 die zum alleinigen konstitutiven Bildelement wird. Im Oberen Vogtland 1930 geboren und aufgewachsen, studiert Graubner von 1948 bis 1949 und nach einer Zwangsexmatrikulation wieder 1952 an der Kunstakademie in Dresden. 1954 verlässt er die DDR und lebt seitdem in Düsseldorf, wo er sein Studium von 1954 bis 1959 an der Staatlichen Kunstakademie fortführt. Unabhängig von dem im Rheinland zu der Zeit vorherrschenden Informel und den damals aufkommenden Monochromien Yves Kleins gelingt es ihm, vom Eigenwert der Farbe ausgehend, einen eigenständigen künstlerischen Ansatz zu entwickeln. Bereits Anfang der sechziger Jahre verweisen die abgerundeten Farbsäume21 auf das Vermögen der Farbe, sich körperhaft zu verdichten, einen Eindruck, den Graubner durch den Einsatz von Schwämmen und saugenden Kissen als Malgrundlage noch verstärkt (»silberkissen«, 1964, Abb. 4; »lichttrampolin«, 1970). Seit Ende der sechziger Jahre sind die von ihm als Farbraumkörper (»farbraumkörper«, 1975) bezeichneten Arbeiten – in denen die Malfläche aufgrund der schwellenden Leinwand zum Bildvolumen gesteigert wird – bevorzugte Bildidee. Graubners Interesse an einem Umgang mit Farbe, der auf ganzheitlicher Wirkung von Komposition und rein optisch aufeinander bezogenen Farbabstufungen angelegt ist, hat ihn in den sechziger Jahren zu den »malenden Malern«,22 wie er Tizian, Tintoretto und Veronese nennt, nach Italien geführt.23 Bis zu dem Zeitpunkt hatte er Originale von Vero-
16 Siehe Anm. 4. 17 Siehe Anm. 4. 18 Gotthard Graubner: Reflexionen über Malerei. In: Graubner. Hannover: Kestner Gesellschaft 1969, o. P. 19 Ernst Strauss: Koloritgeschichtliche Untersuchungen zur Malerei seit Giotto und andere Studien. München 1983, S. 170. 20 Gottfried Boehm: Die Sonne hinter der Leinwand. Gotthard Graubner, der Maler. In. Gotthard Graubner. Malerei. Saarbrücken 1995, S. 9. 21 Graubner spricht von dem Vermögen der Farbe, sich auszudehnen und zusammenzuziehen. Gespräch der Autorin mit Gotthard Graubner am 17. Februar 2006. 22 Telefongespräch der Autorin mit Gotthard Graubner am 5. September 2005. 23 In der von ihm für die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 1975 aufgestellten Liste seiner historischen Vorbilder tauchen neben den Venezianern Künstler des Barocks und der Romantik auf: u. a. Rubens, Velásquez, Rembrandt, El Greco, Caspar David Friedrich und William Turner. Paul Cézanne.
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nese bereits Anfang der fünfziger Jahre in der Gemäldegalerie Dresden gesehen, Bilder von Tizian und Tintoretto dagegen erst Ende der fünfziger Jahre im Louvre, Paris. In den Bildern der venezianischen Maler, deren Bildvorstellung aus der Wirkung der Farbe heraus konzipiert ist,24 findet Graubner sich in seinem Anliegen bestätigt, durch die Thematisierung der Farbe deren spirituelle Wirkkraft freizusetzen. Als Graubner 1982 zur Biennale nach Venedig eingeladen wird, greift er nicht auf bereits vorhandene Werke zurück, sondern verwandelt den Deutschen Pavillon vorübergehend in sein Atelier. Hier entstehen die den großen Raum beherrschenden Bilder: die in der Konche platzierte in vorherrschend Rot- und Blautönen gemalte Hommage à Tintoretto das Triptychon Venezia in Grün-, Rosa- und Orangevariationen und das in Grüntönen gemalte Bild Hommage à Veronese. Graubner bezieht das gesamte Spektrum der Farben in ihren koloristischen Brechungen und Differenzierungen ein ohne Bevorzugung einer spezifischen Farbe. Mit entscheidend für die bildliche Organisation der Farbe ist das künstlerische Verfahren: Im Gegensatz zu einem tradierten Auftragen arbeitet er die Farbe auf die Leinwand flächig mittels breiter Pinsel in den Malgrund ein (Graubner im Deutschen Pavillon, 1982, Abb. 5). Dabei versickert, fließt und schwemmt die dünnflüssige Farbe in die auf dem Boden liegenden voluminösen Bildkörper, bis sich das Material mit immer neuen Lasuren voll gesogen hat, »so daß nichts als die reinen Wirkenergien der Farbe freigesetzt werden.«25 Im malerischen Prozess begegnen und berühren sich Farben, bewahren ihre Reinheit oder nehmen Spuren anderer Farben auf, so daß Kontraste von warmen und kalten, hellen und dunklen Farbströmen entstehen und sich wieder auflösen: »Ich beobachte ihr Eigenleben, ich respektiere ihre Eigengesetzlichkeit.«26 Die nach mehreren Trocknungsprozessen übereinander aufgetragenen lasierenden Farbschichten erzeugen eine räumliche Suggestion, die zum einen auf dem den Farben innewohnenden Nah- und Fernwert beruht und zum anderen durch die transparenten Farbschichten hervorgerufen wird. Indem das eindringende Licht von den darunter liegenden deckenden Schichten reflektiert wird, scheinen die Farben aus der unergründlichen Tiefe nach oben zu dringen. Die lasierende Technik hat Vasari bereits von Tizians Bildern beschrieben, der diese zur Meisterschaft entwickelt hat: »Man erkennt, daß sie (die Gemälde, Anm. der Verf.in) überarbeitet worden sind und mit den Farben wieder und wieder über sie gegangen worden sind, […] auf diese Weise angewandt, handelt es sich um eine wohlüberlegte, schöne und herrliche Methode, die die Gemälde lebendig und in ihrer Ausführung von großer Kunstfertigkeit erscheinen lässt.«27 Insbesondere im Spätwerk setzt Tizian Licht als Eigenschaft der Farbe ein, wodurch sich das intensive Leuchten aus der Farbe heraus erklärt. Graubner beschreibt
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Gespräche mit Gasquet, zit. v. Gotthard Graubner. In: Gotthard Graubner. Hamburg: Kunsthalle 1975, S. 38. »Venezianisch ist die Konzeption des Kunstwerkes aus der Farbe.«Theodor Hetzer: Tizian. Geschichte seiner Farbe. Stuttgart 1992, S. 98. Bernd Growe: Die Bildlichkeit der Farbe. Bildorganisation und Bilderfahrung in den ›Farbraumkörpern‹ Graubners. In: Ansichtssachen 1. Malerei. Bochum: m Bochum Kunstvermittlung 1992, GG 5. Gotthard Graubner: Reflexionen über Malerei. (wie Anm. 18), o. P. Giorgio Vasari: Das Leben des Tizian. Berlin 2005, S. 45.
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seine Bilder als »Spiegel des Lichts«: »Das Licht wird von der gespannten Haut der Bilder zurückgeworfen, es dringt unter die Haut, weckt die Farben, sättigt sich an ihnen, füllt die Hohlräume und lässt den Puls der Farben durch die Haut nach außen dringen.«28 Isolierbare Elemente, wie sie bei Monet oder Cézanne noch erkennbar sind, bleiben ausgespart, ohne daß dadurch die »diffusen Farbbewegungen drohen […] auszuufern«.29 Vielmehr stabilisieren sie sich in einem »Ineinander von Farbbewegungen und ruhevollem Farbensemble« zu einem körperlich verdichteten Farborganismus, der »im Prozess der Anschauung zur Geltung« kommt und zu einer meditativen Bilderfahrung führt.30 Verweisen die Bildtitel der Werke für den Deutschen Pavillon bereits auf seine Verbundenheit mit der Tradition venezianischer Malerei, so kommt ebenso seine Affinität zu dieser Stadt und das Erleben ihrer Farbklänge zum Ausdruck. So scheinen die subtilen Farbnuancierungen des venezianischen Lichts einerseits Wasser und Architektur der Stadt immer wieder im Sfumato zu verschmelzen und so zu einer raumschaffenden Wirkung beizutragen, und andererseits entwickeln sie eine intensive Leuchtkraft, die zu einem besonderen Farbgefühl der Helligkeit und Überstrahlung führt. Graubner erklärt, daß ihn bei der Konzeption der Hommage à Tintoretto (Abb. 6) die Malerei Tintorettos, insbesondere die Wand- und Deckengemälde in der Scuola di San Rocco und das Jüngste Gericht, 1562–63, (Abb. 7) in der Kirche Madonna dell’ Orto, angeregt hätten, auch wenn es ihm »fast vermessen« vorkomme, Effekte der Figurenkomposition Tintorettos, doch unter »Verzicht auf das figurative Gerüst«, zu erreichen.31 Johannes Cladders, der damalige Kommissar des Deutschen Pavillons, stellte beim Beobachten des Malvorganges fest, daß »Graubner […] intensiv an der Dynamik der Farbe« arbeite und »eine gewisse Aggressivität in der Tonigkeit und eine in sich rotierende Komposition«32 anstrebe, die – so Graubner – auf die Auseinandersetzung mit den »kreisenden Farbbewegungen«33 in den Kompositionen Tintorettos in der Scuola di San Rocco zurückzuführen sei wie in Die Aufrichtung der ehernen Schlange, 1575–76. Die in der Zeit von 1564 bis 1588 von Tintoretto für die Räume der Scuola di San Rocco abgelieferten 62 Leinwandgemälde illustrieren Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Sie beeindrucken durch die dynamisierende Gesamtwirkung der Figuren, die zum einen aus den »statisch ans Unmögliche grenzenden Positionen«34 resultieren. Zum anderen wird diese durch eine auf dem Kolorismus beruhenden Bildsyntax erzeugt, in der die gleichmäßig über die gesamte Bildfläche verteilten starkfarbigen Akzente – meist durch Figuren in kontrastreichem Blau und Purpurrot – zueinander und zur Umgebung in Beziehungen treten. Die Polarität von dem ›passiven, kühlen‹ Blau und dem ›aktiven, warmen‹ Rot, der Grundakkord Tizianischer Bilder (bis ca. 1530), konnte Graubner u. a. an Beispielen in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari studieren, an der Assunta (1516–18, Abb. 8),
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Gotthard Graubner: aus »Zauber des Lichts«, (wie Anm. 23), S. 77. Growe (wie Anm. 25), GG 6. Growe (wie Anm. 25), GG 6. Jürgen Hohmeyer: Warten, bis das Farb-Beet blüht. Spiegel, Nr. 23 (1962), S. 193. Johannes Cladders, in: Gotthard Graubner. Biennale Venedig. Düsseldorf/Stuttgart 1982, o. P. Siehe Anm. 22. Astrid Zenkert: Tintoretto in der Scuola di San Rocco. Tübingen 2003, S. 248.
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dem ersten großen Werk Tizians, dessen Farbigkeit durch diesen spannungsreichsten Kontrast systematisiert ist, und an dem Pesaro Altar (Sacra Conversazione con i donatori Pesaro, 1519–26).35 Im Gegensatz zu Tizians Einsatz leuchtender Farbkontraste, in denen der Farbwert als selbstständiger Kompositionsfaktor eingesetzt wird, erscheint das Rot bei Tintoretto erst intensiv aufgrund der Induktionswirkung durch die daneben stehenden gebrochenen, matten Farben (vgl. Moses schlägt Wasser aus dem Felsen, 1577). Die Simultaneität aller farblichen Prozesse generiert eine Gesamtwirkung, die auf der Vereinigung von Bewegung und Farbe beruht, einem entscheidenden Merkmal der gesamten Bild- und Kompositionsgestaltung der venezianischen Malerei im 16. Jahrhundert. Die Verbindung der Farbe mit dem Raum und seine koloristische Durchdringung führen zu einer farbigen Raumkontinuität, an der auch Graubner interessiert ist. Der Betrachter nimmt aus größerer Distanz die »Bildfläche als eine ungegenständliche Struktur aus Formen und Farben« wahr,36 so daß das kontinuierliche Erfassen des Raumes in ein ästhetisches Erleben mündet und die Möglichkeit einer meditativen Betrachtung eröffnet. Die Inanspruchnahme des Betrachters durch die Eigenmacht der Farbe vollzieht sich in den Farbraumkörpern Graubners auf vergleichbare Weise. In Hommage à Tintoretto beansprucht die Farbe unabhängig von Inhalten – »Der Gegenstand ist die Farbe«, so Graubner37 – allein den Sehsinn, um im Anschauungsprozess die Farbbewegungen, das Ineinandergreifen und Verdichten der Farbe nachzuvollziehen. Das Aufgenommensein in die Farbe ist eine Bilderfahrung, die beide Künstler ermöglichen. Gerhard Merz, der 1947 in der Nähe Münchens geboren und aufgewachsen ist, reiste allein aufgrund der geographischen Nähe zum Süden seit seiner Kindheit mit seinen Eltern nach Italien, so daß sich sehr früh ein Interesse an der italienischen Kultur, der Kunst und Baukunst – der Vater war Architekt – entwickelte. Die Zeit des Graphik- und Malereistudiums an der Akademie in München beschreibt er als »glanzlos«, bestimmt »von politischen Ressentiments und krasser Infantilität«.38 Für die Entwicklung seines künstlerischen Konzepts als Maler spielte das Akademiestudium nach seiner Aussage keine Rolle. Dagegen wurde die Entscheidung, sich zugunsten der Autonomie der reinen Farbe und Form von der Darstellung der Mimesis der realen Welt abzuwenden, maßgeblich mitbestimmt durch die Auseinandersetzung mit den Idealen der abstrakten Kunst, wie sie von Mondrian, Malewitsch und Kandinsky zu Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten wurden, den Schriften Barnett Newmans über die ästhetische Erfahrung des Erhabenen39 sowie 35 Für Graubner besitzt Rot im Kreis der Farben ein »Akzent des Aktiven und Lebendigen«. Im Gegensatz zu Tizian, Mantegna oder Rubens gehört er aber nicht zu den Malern, die Rot nicht missen können. Bernd Growe: Rot, ins Unendliche bewegt … In: Gotthard Graubner. Malerei auf Papier. Bremen: Kunsthalle 1989, S. 63. Theodor Hetzer: Venezianische Malerei. Von ihren Anfängen bis zum Tode Tintorettos. Stuttgart 1985, S. 233. 36 Zenkert (wie Anm. 34), S. 253. 37 Siehe Anm. 21. 38 Gespräch der Autorin mit Gerhard Merz am 21. Juli 2005. 39 Barnett Newmann: The Sublime is now. (1948) In: Schriften und Interviews 1925–1970. Bern, Berlin 1996, S. 176–179. Nach Auffassung Barnett Newmans ist die höchste Bestimmung der Kunst das Erhabene (the sublime).
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dem seit den sechziger Jahren einsetzenden Diskurs über Kunst-als-Kunst durch Ad Reinhardt. Dessen radikale Fortführung der Ideen der Abstraktion durch die Negation aller außerkünstlerischen und metaphysischen Bezüge führt zu einem agnostischen Kunstbegriff, der für Merz entscheidend für seine künstlerische Standortbestimmung wird: »Ich möchte grundlos Kunst machen, Kunst ohne jeden Nebensinn.«40 Denn nur »in ihrer radikalen Grundlosigkeit kann Kunst Kunst sein.«41 Die von Reinhardt proklamierte Forderung nach Entleerung der Kunst zur reinen Form, ohne Expressivität, Figuration oder Subjektivität, macht sich Merz zu eigen: Er will eine Kunst, die jegliches retinale Vergnügen verweigert, »die nichts verspricht, die agnostisch und kalt ist, der alles Regionalistische fremd ist und die sich nicht ins Leben mischt.«42 Bereits auf der ersten Ausstellung im Kunstverein, München 1971, wird das künstlerische Konzept von Gerhard Merz deutlich: die Reduktion der bildnerischen Mittel auf Fläche, Raum, Linie, Form und Farbe unter Ausschluss von allem Erzählerischen und jeglicher politischer oder mystischer Bedeutungsaufladung. Mit den monochromen Bildern und Linienzeichnungen – dem Nullpunkt kompositorischer Gestaltung – dokumentiert Merz seinen Anspruch, eine Malerei zu verwirklichen, die sich auf nichts als sich selbst bezieht, denn »Kunstformen sind Kunstformen, und Lebensformen sind Lebensformen«.43 Die seit Beginn der siebziger Jahre entstandenen monochromen Bilder lassen weder eine persönliche Handschrift erkennen noch weisen sie Malspuren auf. In ihrer Anonymität und Distanziertheit lenken sie den Blick des Betrachters auf sich selbst zurück und regen somit die Reflexion über den Wahrnehmungsprozess an. Seit Anfang der achtziger Jahre integriert Merz die monochromen Gemälde nach kompositorischen Gesichtspunkten einer idealen Proportion in die Architektur des Ausstellungsraumes, die durch farbige Gestaltung verändert wird.44 Dabei geht er von der klassischen Formensprache, der ›proporzionalità‹, aus, von den mathematisch geordneten Maßverhältnissen, der Symmetrie und dem Proportionskanon, der die Beziehung untereinander und zum Ganzen regelt: »Wenn Sie« – so Merz – »klassische Säulenreihen sehen und die Maße studieren, dann werden Sie entdecken, daß Menschen bis heute kein anderes Maß, das zum optisch guten Ende führt, entdeckt haben«,45 womit er den ästhetischen Diskurs mit der klassischen Definition des Schönen verschränkt. Er schafft Werke autonomer Architektur, die keiner spezifischen Funktion dienen, um dem Wirkungsanspruch der reinen Form gerecht zu werden, so daß »die Leere als unmittelbare Erfahrungs-
40 Siehe Anm. 38. 41 Gerhard Merz: Kopernikus hat die Probleme dadurch gelöst, dass er nicht zum Himmel gesehen hat. In: Gerhard Merz. Diagramme und Beitrag Gerhard Merz. Hannover: Kunstverein 2000, o. P. 42 Gerhard Merz (wie Anm. 40), o. P. 43 Gerhard Merz: Zur Farbe. In: Binationale. Deutsche Kunst der späten achtziger Jahre. Köln 1988, S. 226. 44 Dabei bezieht er den Raum als Negativform des Bildes mit ein: »Der Raum, den das Bild auf der Wand ausschneidet, ist genauso wichtig wie das Bild selber.« Gerhard Merz: An einer Ästhetik der Macht bin ich nicht interessiert. Ein Gespräch mit Sara Rogenhofer und Florian Rötzer, in: Kunstforum, Bd. 92 (Dez. 1987–Jan. 1988), S. 182. 45 Siehe Anm. 38.
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tatsache erlebbar«46 wird. Der mit dem Gefühl der Leere einhergehende Sinnentzug wird durch die Kontextualisierung der Malerei und Skulptur in die Architektur in einen sinnstiftenden Zusammenhang gebracht: »Dieser Zusammenhang macht ein Kunstwerk real und befreit von falscher Esoterik. In der Architektur geht ein Kunstwerk im Ganzen auf, und das war schließlich auch der Traum der Moderne.«47 Die Ausstellung »Archipittura« in den Deichtorhallen in Hamburg 1990 versinnbildlicht dieses auf Rationalität und radikaler Ästhetik basierende ganzheitliche Konzept: In den Ausstellungsraum, dessen Wände monochrom hellblau bemalt wurden, platziert Merz eine aus erlesenen Materialien hergestellte Skulptur, die auf die Konstruktion des Pavillons Mies van der Rohes in Barcelona durch Proportion, Form, Raum, Licht und Farbe Bezug nimmt. Merz als Maler-Architekt fasst in dem Begriff Archipittura, der bereits von den italienischen Rationalisten in den dreißiger Jahren verwandt wurde, sein Verständnis von einer malerischen Architektur und einem malenden Architekten zusammen und definiert seinen komplexen künstlerischen Anspruch: Ed io anche son architetto. Die programmatische Inschrift (Ed io anche son architetto, 1988, Abb. 9)48 ist die Umkehrung des Mottos, das der französische Revolutionsarchitekt Etienne Boullée (1728–1799) seinem Architekturtraktat Architecture, Essai sur l’art (um 1790) vorangestellt hat, um auf seine Ausbildung als Maler zu verweisen: Ed io anche son pittore.49 In seinem theoretischen Werk setzt Boullée sich mit der Definition der Größe in Beziehung zum Erhabenen in kritischer Abgrenzung zum Gigantesken auseinander, in der Gleichsetzung von Größe und Schönheit im Medium der Architektur kommt Merz Boullées Vorstellungen nahe: Die Reinheit der Form darf von ablenkenden übersteigerten Details nicht beeinträchtigt werden, denn – so Merz –: »Nur durch Form, nicht durch den Inhalt, erreicht man Schönheit.«50 In der Schmucklosigkeit sowie der strengen und funktionalen Formensprache ist Merz auch dem Architekten des Razionalismo der dreißiger Jahre, Giuseppe Terragni, verpflichtet, dessen Danteum ihn bei der Rauminstallation Inferno, München 1988, inspirierte. Ab Mitte der achtziger Jahre bis Anfang der neunziger Jahre tauchen zunehmend bildliche Verweise und literarische Anspielungen in seinem Werk auf, insbesondere verstärkt sich die Tendenz, thematische Bezüge zu Italien und zur italienischen Kunst herzustellen. Bereits im Bildtitel wird eine über das Werk hinausgehende Bedeutung und Konnotation hergestellt: Al Italia, 1984, Brennero, 1986, Salve, 1987, A Sojourn in Italy, 1987, Vittoria del sole, 1987, Inferno, 1988, Costruire, 1989, De ordine geometrico, 1990, Per il razionalista Giuseppe Terragni, 1991.
46 Herbert Molderings: Gerhard Merz. Ein Künstler des Agnostizismus. In: Gerhard Merz. Hrsg. von Eckhard Schneider in Kooperation mit der Weltausstellung EXPO 2000. Hannover. Kunstverein 2000, S. 56. 47 Gerhard Merz: Zur Frage der Sinnstiftung in der Kunst. In: Binationale. Deutsche Kunst der späten achtziger Jahre. Köln 1988, S. 226. 48 Das gleichnamige 1988 entstandene Werk zeigt auf einem roten Grund eine weiße Reißschiene, dem Handwerkszeug des Architekten, das auf planvolles Konstruieren verweist. 49 Etienne-Louis Boullée wiederum nimmt Bezug auf Correggio (ca. 1489–1534), dem der Ausspruch ursprünglich zugeschrieben wird. Vgl.: Etienne-Louis Boullée: Architektur. Abhandlungen über die Kunst. Hrsg. von Beat Wyss. Zürich 1987, S. 168. 50 Merz (wie Anm. 44), S. 178.
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In der Ausstellung »Salve«, 1987, (Kunsthalle Baden-Baden), entwickelt Merz ein ikonographisches Programm, das im Gegensatz zu den frühen Arbeiten inhaltliche Bezüge zur Malerei, Kunstgeschichte, Literatur, politischen Geschichte und zur eigenen Biographie herstellt.51 An den ockerfarben bemalten Längswänden eines Raumes im oberen Stockwerk hängen elf quadratische tiefschwarze Monochromien (Abb. 10) in massiven Holzrahmen knapp unter der Decke. Sie rufen nicht nur das Schwarze Quadrat Malewitschs auf, sondern erinnern auch an plastische Fensteröffnungen klassizistischer Fassaden in Rom, wie sie sich im Gemälde Giorgio de Chiricos Geheimnis und Melancholie einer Straße zeigen.52 Außer den Monochromien erscheinen an der Stirnwand die in den Lettern der capitalis53 geschriebenen Namen von 16 Künstlern: Boccioni, Balla, Severini, Malewitsch, Tatlin, Rodtschenko, de Chirico, Savinio, Sironi, Marc, Schlemmer, Moholy-Nagy, Pollock, Reinhardt, Warhol, Judd. Auch wenn Merz die Auflistung, deren Typographie auf antike Ehrentafeln zurückgeht und somit eine klassizistische Bedeutungsaufladung evoziert, im Zusammenhang mit der farbigen Gestaltung des Raumes lediglich als Wandmalerei, als Architekturkonzept, »auf keinen Fall literarisch«54 verstanden wissen will, geben die Namen Aufschluss über den subjektiven Kanon seiner geistigen Referenzpersonen.55 Von den Erfahrungen der Moderne ausgehend, die – so Merz – »alle entscheidenden Probleme der Kunst […] bereits gedacht hat«,56 aber auf ihre Grundlagen hin befragt wird, knüpft er bei der amerikanischen Nachkriegsmoderne wieder an, um sie in Verbindung mit der europäischen Tradition der Abstraktion für sich fruchtbar zu machen. Neben der Dokumentation seiner künstlerischen Wurzeln lassen sich in der Ausstellung Beispiele von »Facetten der italianità«57unterschiedlichster Art finden: So rufen nicht nur die bronzenen, auf das römische Liktorenbündel zurückgehenden Fasces Erinnerungen an die faschistische Vergangenheit Italiens wach, sondern auch das im selben Raum hängende Bild Brennero, 1986, in den Farben der italienischen Flagge evoziert belastete Vergangenheit, den Konflikt um Südtirol Anfang des letzten Jahrhunderts. Für den Münchner Gerhard Merz ist der Brenner dagegen vorrangig die Metapher des Alpenübergangs, dessen Überschreiten das verheißungsvolle Italien in unmittelbare Nähe bringt: »Über den Brenner zu fahren, bedeutete, die erste Zypresse, der erste Espresso waren nicht mehr weit.«58 Genauso ist Merz’ Indienstnahme eines vom Faschismus missbrauchten
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Vgl. Zdenek Felix: Kunst als Sinngebung. In: Gerhard Merz. Baden-Baden. Kunsthalle 1987, S. 32. Vgl. Felix (wie Anm. 51), S. 16. Majuskeln der römischen Antiqua. »Tatsache ist, dass dies eine Wandmalerei war, dass diese Worte von Künstlernamen eine bestimmte Anordnung im Raum hatten und […] auf keinen Fall literarisch gemeint waren, sondern für eine Form in diesem Raum stehen. Es wäre zu beobachten, dass der Raum farbig gefasst wurde, er ein festes Architekturkonzept hatte, an einer Wand eben Typographie eingesetzt und mit ihr ein Wandbild erzielt wurde.« Merz (wie Anm. 44), S. 177. Dieser führt von den italienischen Futuristen, über Vertreter des russischen Suprematismus und Konstruktivismus, Künstler der Pittura metafisica und des deutschen Expressionismus, Bauhauslehrern, zu Vertretern des Action Painting, der Pop Art und Minimal Art. Merz (wie Anm. 44), S. 184. Felix (wie Anm. 51), S. 24. Siehe Anm. 38.
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klassischen Symbols im Zusammenhang mit seinem Anliegen zu sehen, sich das klassische Sinnbild politischer Macht als überlieferte Form nutzbar zu machen, denn für ihn ist Kunst »eine Sprache, die sich ausschließlich mit Formen befasst«.59 Der im expressiven Grün übermalte Siebdruck Salire, 1986, (Abb. 11) zeigt eine doppelläufige Treppe,60 die auf eine von den Futuristen häufig verwendete Metapher zurückgeht, u. a. von Umberto Boccioni (1882–1916), als Schlusswort in seinem theoretischen Werk Pittura scultura futuriste61 verwandt wird. Die Spirale als Denkfigur des Hinaufgehens, des sich aufbauenden Wissens um die Kunst und ihrer Geschichte, kann als Metapher verstanden werden für Merz’ Überzeugung, daß man die »Grammatik der Kunst dieses Jahrhunderts«62 verstanden haben muss, um, von den ästhetischen Manifestationen der Moderne und Gegenwart ausgehend, die Kunst weiterentwickeln zu können. Merz versteht sich als »auf den Schultern der anderen stehend«, denn »Kunst kommt von Kunst«.63 Neben der Bezugnahme auf die radikalen Entwicklungen der Moderne zeigt sich in seinem Werk immer wieder die »Präferenz lateinischer und romanischer Bezüge«.64 So zitiert Merz in der Ausstellung »Dove sta memoria«, 1986, (Kunstverein München) den Lesesaal der Biblioteca Laurenziana von Michelangelo,65 indem er im Ausstellungsraum fünf bronzene Repliken nach den Maßen und dem Proportionsgefüge der Blendfenster in der florentinischen Bibliothek der ausgehenden Hochrenaissance (Biblioteca Laurenziana, 1527–71) anordnet. In der Bildarchitektur Inferno, 1988, (Staatsgalerie Moderner Kunst, München) verknüpft Merz die Aktualität des Werks mit Versen aus Dantes Inferno (La Divina Commedia, 1307–1327), die in italienischer Sprache auf Wänden in VeroneseGrün und Caput mortuum angebracht sind,66 verweist auf das Thema der Vergänglichkeit. Ähnlich verfährt er in der Ausstellung »Dove sta memoria«,67 in der die Farbe Caput mortuum Todesahnung weckt, die durch das als Siebdruck reproduzierte Bild einer Schä-
59 »Es ist eine Formenwelt, die innerhalb von gesetzten Horizonten stattfindet. All die Missdeutungen entstanden durch Abstammungsseufzer, wie es bei Benn heißt, durch Erbsünderessentiments.« Merz (wie Anm. 44), S. 177. 60 Dieser Siebdruck war bereits Teil eines Triptychons in der Ausstellung Al Italia, 1984 in Zürich. 61 Astrit Schmidt-Burkhardt: Stammbäume der Kunst. Berlin 2005, S. 406. 62 Siehe Anm. 38. 63 Siehe Anm. 38. Womit er das Diktum Ad Reinhardts wiederum aufgreift: »Gerade wie Künstler von Künstlern kommen und Kunstformen von Kunstformen, kommt Malerei von Malerei.« Ad Reinhardt. Schriften und Gespräche. München 1998, S. 140. 64 Karlheinz Stierle: Lob des Klassizismus. In: Gerhard Merz. Fragment Grande Galerie I-XIV. Düsseldorf: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2002, S. 99. 65 Diese Repliken hat Merz erstmals in Caput mortuum, 1986, in der Ausstellung im Hedendaagse Museum, Gent, gezeigt. 66 Dantes Worten »Nel mezzo del camino di nostra vita Mi ritrovai per una selva oscura; che la diritta via era smarita« und »Non so bene come v’entrai« stellt er einem Zitat aus den Pisaner Gesängen von Ezra Pound gegenüber: »Le Paradis n’est pas artificiel but is jagged For a flash, for an hour, then agony […].« Carla Schulz-Hoffmann: Kunst ist Kunst und Leben ist Leben. In: Inferno MCMLXXXVIII. München: Staatsgalerie moderner Kunst 1988, o. P. 67 Der Titel »Wo ist Erinnerung« geht auf Ezra Pounds Pisaner Gesänge zurück, die er in der Zeit der Gefangenschaft im amerikanischem Militärgefängnis nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat.
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delstätte der Kapuzinergruft in Rom verstärkt wird (all over, 1986, Abb. 12). Gedankliche Verknüpfungen mit individuellen Vorstellungen sind – so Merz – intendiert: »Farben sind Erinnerung, und Farbnamen wie Veronese oder Caput mortuum sollen Assoziationen auslösen.«68 In der Kontextualisierung der Schriftfragmente in rationalen mit reinen Pigmentfarben ausgestatteten Räumen werden Fragen nach Letztbegründungen in Spannung zu einer selbstbezüglichen »leeren und stummen Kunst«69 gebracht und so ein Reflexionszusammenhang zu menschlichen Erfahrungen hergestellt. Indem Merz die reduzierten bildnerischen Mittel, die in der sinnlichen Anschauung allein nicht zur Erkenntnis führen,70 in Beziehung zu die Reflexion ansprechenden Inschriften oder Assoziationen auslösenden Farben setzt, verwirklicht sich sein Anspruch nach einer Kunst als Reflexionsmedium im Sinne der von Leonardo begründeten und in der Moderne fortgeführten Idee der Kunst als »cosa mentale«.71 Kennerschaft ist Voraussetzung, um die Dekodierung der impliziten und expliziten Botschaften zu leisten. Sein Studiolo, 1992, das auf die Idee des idealen Renaissance Studiolo – wie es Federico da Montefeltro in Urbino errichtete – zurückgeht, visualisiert den Ort der Gelehrsamkeit, den Merz für sich beansprucht. Heute (2005) – so Gerhard Merz – spielen gedankliche Anspielungshorizonte an die italienische Tradition in seinen Werken in der Form keine Rolle mehr. Seit den neunziger Jahren gilt sein Interesse verstärkt der Raumgestaltung in der reinsten Form,72 der Archipittura, die auf Rationalität, Präzision, Maß und Lichtwirkung beruht und nie auf Dauer angelegt ist – wie sie in Hannover 2000 (Pavillon, 2000, Abb. 13) zur Weltausstellung präsentiert wurden, in Venedig 1997 zur Biennale oder im K20 in Düsseldorf 2002 (Fragment Grande Galerie I–XIV). Merz verwandelt durch den Einsatz von gleißendem Kunstlicht und reinen Pigmentfarben, die mit Alabastergips verputzten und geschliffenen Wände in Räume von kristalliner Klarheit, die ein Gefühl auslöst, das jede vertraute Erfahrung übersteigt. Die in den Raumkörpern bis an die Grenze des Erträglichen getriebene Helle des Lichts lässt alles Stoffliche immateriell erscheinen. In dem von Merz mehrfach angeführten Verszitat des italienischen Renaissance-Dichters Cavalcanti »Macht die Luft vor Klarheit erzittern«73 verdeutlicht sich Merz’ Ästhetik als Metapher. In der Durchdringung von sinnlicher Erfahrung und rationalem Erkennen wird das scheinbare Sinndefizit der im Gegensatz zum flirrenden Licht stehenden radikal reduzierten Formen aufgehoben. Daß Merz seinen Wohnsitz 1997 nach Pescia, Italien, verlegt hat, »in eine Umgebung von großer Normalität, in der das Auge nicht herabgesetzt wird«,74 resultiert aus 68 Merz (wie Anm. 43), S. 227. 69 Siehe Anm. 38. 70 Eine die sinnliche Anschauung übersteigende und nur durch die reflektierende Betrachtung zu erfassende Erkenntnis definiert Kant als eine ästhetische Eigenschaft der Vernunft: »Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.« Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Werkausgabe, Band X. Frankfurt am Main 1987, S. 172. 71 Moderings (wie Anm. 46), S. 71. 72 Vgl. Molderings: IV. Der Maler-Architekt, (wie Anm. 46), S. 69. 73 Merz verwandte das Zitat auch auf der Ausstellung »A Sojourn in Italy«, 1987 in New York. 74 Siehe Anm. 38.
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dem Bedürfnis, sich von dem geistlosen Kulturspektakel zurückzuziehen sowie der permanenten Reizüberflutung und dem Überdruss an sinnlosen Bildern zu entgehen. In der Abgeschiedenheit seines arkadischen Domizils gelingt es Merz, dem Bedürfnis nach »Feinabstimmung«75 seiner künstlerischen Arbeit ungestört nachzukommen – was sich seiner Ansicht nach allerdings nicht nur in Italien verwirklichen ließe. Aber hier trifft er auf die Ästhetik der klassischen Formensprache, der er seine »Grammatik innerhalb gesetzter Horizonte«76 verdankt. Auch wenn für ihn »Klassische Kunst […] das geringstmögliche Abweichen von der Norm«77 bedeutet, steht seine Rückbesinnung auf das klassische Formenvokabular in diametralem Gegensatz zu einem mimetischen Klassizismus, der in der epigonalen Nachahmung der Antike auch die verlorene Ganzheit wieder auferstehen lassen will. Er versucht dagegen in seinen ›idealen Figurationen‹, die bildnerischen Mittel Licht, Maß, Farbe, Fläche, Schrift mit konstruktiver Rationalität78 zu verbinden, um sie in Räume geistiger Energie zu transformieren. In der Berufung auf historische Vorbilder, kunstgeschichtliche Traditionen und Evokation klassischer Gesetze geht es ihm nicht um rückwärts gewandtes Denken, sondern um die Anerkennung der »Dinge, die richtig sind, die ein ewiges Gesetz in der Kunst darstellen«,79 um sie für sich als »geistige Wirklichkeit« nutzbar zu machen und konsequent weiterzuführen. »Es war für mich kein Widerspruch, ich wollte harmlos gewordene Formen aufladen. Es war die Vorstellung eines Klassizismus ohne Tränen, ein ausgebrannter Klassizismus, aber auch das liegt hinter mir. Ich möchte eine Schönheit stumm und leer.«80 Stärker denn je rückt er das Denken in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit: »Ich stimme Ortega y Gasset zu, […] daß die einzige mögliche Tätigkeit in der modernen Welt das Denken ist‹.«81 In der Gegenüberstellung der kontroversen Ansätze dieser drei Künstler – so legt Merz in seiner Arbeit den Schwerpunkt auf den reflexiven Erkenntnisprozess, während Erben den energetischen Charakter von Farbe betont und Graubner von der sinnlichen Macht der Farbe ausgeht – zeigt sich bei aller Unterschiedlichkeit der Auseinandersetzungen mit dem ›principio italiano‹ ein bildnerischer Zugriff auf romanische Bezüge bzw. die kreative Aneignung malerischer und kunstgeschichtlicher Traditionen. In der Wahrnehmung und des sich Einlassens auf das Andersartige wird die eigene Identität, Differenz und Nähe reflektiert.
75 Merz (wie Anm. 44), S. 187. 76 Merz zitiert hier die Rede Gottfried Benns auf Stefan Georg: Gottfried Benn: Rede auf Stefan George (1934). In: Benn: Das Hauptwerk, Bd. 2: Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden, München 1980, S. 291–304. 77 Merz (wie Anm. 44), S. 180 und S. 186. Karl-Heinz Stierle beschreibt Merz’ Klassizismus als einen dialektischen, der sich nie mit der Affirmation des bereits Geleisteten begnügt (wie Anm. 62), S. 98–99. 78 So bezieht sich De ordine geometrico, 1990, auf das Axiom ästhetischer Rationalität. 79 Merz (wie Anm. 44), 187. 80 Siehe Anm. 38. 81 Siehe Anm. 38.
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Abb. 1 Ulrich Erben: Esterno, 1983
Abb. 2 Ulrich Erben: Bögen, 2001
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Abb. 3. Ulrich Erben: Camposanto, 2000
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Abb. 4 Gotthard Graubner: »silberkissen«, 1964
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Abb. 5 Gotthard Graubner im Deutschen Pavillon, Venedig, 1982
Abb. 6 Gotthard Graubner: Hommage à Tintoretto, 1982
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Abb. 7 Tintoretto: Jüngstes Gericht, 1562–63, Scuola di San Rocco
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Abb. 8 Tizian: Assunta, 1516–18, Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari
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Abb. 9 Gerhard Merz: Ed io anche son architetto, 1988
Abb. 10 Gerhard Merz: »Salve«, 1987
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Abb. 11 Gerhard Merz: Salire, 1986
Abb. 12 Gerhard Merz: all over, 1986
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Abb. 13 Gerhard Merz: Pavillon, 2000
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Erik Wegerhoff
Auf der Suche nach dem verlorenen Kanon Reflexionen über eine zeitgenössische Grand Tour Wer heute eine Grand Tour durch Italien unternimmt, tut das nicht mehr, um das Ganze mit Augen zu sehen, das man teilweise in- und auswendig kennt. Er tut das nicht mehr, um, was aus Gemälden, Zeichnungen, Kupfern, Holzschnitten, in Gips und Kork – und man darf hinzufügen: aus der Literatur – lang bekannt ist, nun im wahren Material um sich zu finden. Denn das kollektive Gedächtnis in Bildern und Literatur, deren Materialisierung die Italienreise des 18. und 19. Jh. leisten sollte, ist heute zumindest unter Architekten der jüngeren Generation so gründlich vergessen, daß selbst eine antiklassizistische Abarbeitung daran wenig reizvoll erscheint, bliebe die doch weitgehend unverstanden. Was mich im Sommer 2005 mit einer Vespa zur Grand Tour nach Italien hat aufbrechen lassen, war vielmehr eine vage Sehnsucht nach dem Klassischen, oder – noch etwas konservativer formuliert – die Suche nach dem verlorenen Kanon. Diese, denke ich, ist bezeichnend für meine Generation von Architekten. Denn abgesehen von einigen unumstößlichen Monumenten – wie dem Kolosseum oder dem Pantheon – reicht das Architektenwissen heute nicht viel weiter südlich als bis zur Villa Rotonda. Damit bekommen die Grand Tour und der durch sie vermittelte klassische Kanon neue Originalität. Nicht zuletzt ist das das späte Resultat antiklassizistischen Divergierens und Negierens: Was im Fall der Grand Tour vielleicht mit der Romantik begonnen hat, erreichte in der universitären Ausbildung von Architekten seinen Höhepunkt in Postmoderne, Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus und anderen vorsilbenschwangeren Denkrichtungen. Es ist nur selbstverständlich, daß meine Generation, der nur noch das Ungewisse gewiß sein kann, die Suche nach neuen Ordnungen, Zusammenhängen, nach positiven Begriffen und Kategorien umtreibt. Beim Bauen sprechen Architekten dabei gern von einer »Neomoderne«. Passender für das, was mich auf suchende Reise durch Italien fahren ließ, ist vielleicht Marc Augés Begriff der »surmodernité«.1 Die Grand Tour, die Reise durch Italien, sollte der Ausweg aus diesem Dilemma sein. Italien hat mich dabei nicht nur als klassische Kulturlandschaft und ehemals feste Referenz interessiert. Fasziniert hat mich vor allem, daß der über Generationen von Italienreisenden kaum veränderte Weg der Grand Tour offenbar ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Interpretationen zugelassen hatte. Dazu kommt als unter allem liegende Ordnung die Antike, die ich mir in einer Art persönlicher Archäologie freizulegen hoffte. 1 Surmodernité als »die Vorderseite einer Medaille, deren Kehrseite die Postmoderne bildet«, bei Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt (Main) 1994, S. 39 (franz.: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992). Der Begriff »Neomoderne« ist eine der Lieblingsvokabeln u. a. der Architekturzeitschrift Bauwelt (Berlin), eine kritische Haltung dazu etwa bei Werner Sewing: Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur, Basel 2003.
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Denn Referenzen an die Antike waren es, die in meinem von kanonischer Vermittlung der Architekturgeschichte ganz befreiten Studium als archaische Basis aktuellen Denkens durchschienen – wenn auch meist eher in literarischer als direkt architektonischer Form. Wer als Architekt auch die geisteswissenschaftliche Seite seines Fachs nicht scheut und dazu noch in Berlin Architektur studiert hat, wo einen die Italomanie Schinkels vom Stadtzentrum bis zu jedem Badeausflug in die Potsdamer Gärten verfolgt, läßt die Reise durch Italien früher oder später zur eigenen Idee werden.2 Was aber jenseits solcher Vorbilder die eigene Reise so wichtig macht, ist, daß sie statt durch Bücher durchs Leben führt und damit eine unakademische Auseinandersetzung mit dem klassischen Kanon ist. Erst das eigene Da-Sein (nämlich: Im-heutigen-Italien-Sein) erlaubt eine wirkliche Aneignung und Ver-gegenwärt-igung. Meine Grand Tour mit der Vespa war also der Versuch einer Aneignung und gleichzeitigen kritischen Reflexion eines längst vergessenen Kanons. Der Widerspruch zwischen der klassizistischen Reiseroute und -wahrnehmung und der heutigen Wissens- und Reiserealität läßt einen gewissen fruchtbaren Anachronismus entstehen: eine Reibung, die neue Ideen und Sichtweisen ermöglicht. Mit der Vespa wollte ich mich der Geschwindigkeit und den Komplikationen der traditionellen Grand Tour wie natürlich auch dem heutigen Italien annähern. Die Reiseroute war an mehreren, nach gusto ausgewählten Schriftstellern ausgerichtet, wobei natürlich Goethe der erste war und Johann Gottfried Seume, Heinrich Heine, Wilhelm Heinse und William Beckford vielleicht die vergnüglichsten. Die ursprüngliche Idee, Volkmanns »Historisch-kritischen Nachrichten« nachzureisen, gab ich zuungunsten des schon im 18. Jahrhundert wenig geliebten Reiseführers auf, und Reisebeschreibungen von Architekten fand ich immer weniger inspirierend als die von Schriftstellern.3 Meine Erwartung, daß die Aneignung des architekturgeschichtlichen Kanons durch das eigene In-Italien-Sein besonders intensiv sei, hat sich auf der Reise bewahrheitet. Nur so sind ein wortwörtlich eigener Zugang und eine direkte persönliche Auseinandersetzung mit den Bauten möglich, die kein Buch erlaubt. Diese Auseinandersetzung schließt auch den die Bauten bestimmenden heutigen Alltag ein, was sowohl Ver- als auch Entzauberung bedeuten kann. So habe ich etwa den Tempel der Fortuna in Praeneste vor allem als den Ort Palestrina erlebt, zu dem er geworden ist (Abb. 1). Ich war morgens früh angekommen, noch bevor das Museum geöffnet war, ein Jockey ritt auf der Straße über die ehemalige Tempelterrasse und ging Kaffee trinken, an der Kirchenwand wurde ein Plakat angeklebt »Ieri è venuto a mancare all’affetto dei suoi cari …«, die Via Thomas Mann war frisch 2 Eine noch direktere Anregung erfuhr ich durch die Historiker Werner Dahlheim und Volker Huneke sowie den Germanisten Norbert Miller von der Technischen Universität Berlin, mit denen ich als Teil ihrer Studentengruppe 2001 auf eine dreiwöchige Italienreise per VW-Bus fahren konnte. 3 In meiner Reisebibliothek waren folgende Ausgaben: Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, hg. von Albert Meier, 3. Auflage, München 1994; Heinrich Heine: Die Harzreise und andere Reisebilder (Werke in fünf Bänden, 2), hg. von Rolf Toman, Köln 1995; Wilhelm Heinse: Tagebuch einer Reise nach Italien (1783), hg. von Christoph Schwandt, Frankfurt (Main) & Leipzig 2002; William Beckford: Dreams, Waking Thoughts and Incidents (1783), hg. von Robert J. Gemmett, Rutherford 1972. Ende des 18. Jh. hatte man dabei: Johann Jacob Volkmann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien, 2. Auflage, Leipzig 1777/78.
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geschrubbt, der Largo Heinrich Mann natürlich etwas schmuddelig, zwischen den Fenstern der Häuser immer wieder zyklopenartiges Mauerwerk und opus quasi reticulatum, das untere Heiligtum zeigte sich etwas dumm didaktisch aus dem Dom herausgeschält, der dieses später ersetzt hat. Erst nach all dem öffnete das Museum im Palazzo Barberini und sich damit sowohl eine klassischere Sichtweise auf den Tempel als auch dessen nach wie vor eindrucksvolle Sicht über das Land bis dorthin, wo man sich das Meer denken konnte. Oder, ganz anders, Pisa, dessen Turm und Kuppeln schon von weitem über die Stoppelfelder zu sehen waren, doch als ich dann angekommen war, wünschte ich, es mir erspart zu haben (Abb. 2). Denn von »eigenem Zugang« konnte bei den Menschenmassen und den geradezu eintrittsverbietenden Preisen keine Rede mehr sein. So habe ich Dom, Turm, Baptisterium und Campo Santo nur von außen erlebt und konnte mir (mit bemüht touristenignorierendem Blick) die schiefen leuchtenden Fassaden auf der eigenartigen Wiese allenfalls als Pisaner Handelsschiffe auf einem grünen Meer vorstellen. Solche Erlebnisse blieben keinesfalls die Ausnahme. Doch hat die Italienreise nicht zur Erklärung beigetragen, warum eigentlich die Touristen, die ja nur die anderen Touristen sind, so stören. Ist es die Begegnung mit sich selbst in horrender Masse? Ein Architekt hat einen anderen Blick auf die Geschichte als ein Historiker. Kaum kann man sich eines Urteils enthalten und gern fragt man mit durchaus normativem Interesse nach der Verwertbarkeit von Geschichte. Das steht natürlich in guter Kontinuität der Tradition der Italienreisenden, und das Bewußtsein, ja die parallele Lektüre anderer Urteile relativiert und annotiert die eigene Haltung. Erst die direkte Anschauung hat mich etwa Albertis Kirchenfassaden in Florenz als graphisch, dünn, akademisch und körperlos empfinden lassen. Und Lieblingsgegenstand der in die Vergangenheit projizierten Perspektive ist natürlich die antike Architektur, wo mir die Römer in den Thermenanlagen und Villen von Baiae am Golf von Neapel sehr viel näher, nachvollziehbarer und sympathischer erschienen als die Griechen, deren Bauten auf Sizilien ich eigentlich aufgeregt entgegengefiebert hatte, und dann doch eher als roher Zwietracht stumme Gigantik erlebte (Abb. 3). Was zu einer Auseinandersetzung, die man vielleicht als Anstoß zu einer kritischen Reflexion bezeichnen kann, nicht zuletzt beiträgt, sind die geographische Ordnung und der topographische Zusammenhang, in dem sich einem der gesuchte Kanon präsentiert. Die Bauten lassen sich gar nicht als die Monumente wahrnehmen, als die sie die Literatur auch heute noch oft erscheinen läßt, und diese Ent-Monumentalisierung bietet eine weitaus zeitgenössischere Perspektive. Ein besonders intensives, keineswegs enttäuschendes Erlebnis dieser Art war der Besuch in Megara Hyblea auf Sizilien. Die griechische Stadt, deren einsame Lage mein DuMont aus den 80er Jahren gepriesen hatte, erlebte ich – bis auf unkrautjätende Arbeiter ganz allein – im Kontext von Erdölraffinerien und vor der Küste liegenden Tankern. Im größeren Maßstab habe ich diese Einordnung in den Kontext als landschaftliche Einführungen, gewissermassen: Vorworte erlebt. Gerade in diesem Sinn bekommt die Einfahrt nach Italien eine ganz andere Intensität, wenn man es erst mit der Vespa über die Alpen geschafft hat (Abb. 4). In Innsbruck wurde die Luft wärmer, die Auffahrt zum Brenner war ganz wider Erwarten ein landschaftlich großartiges Erlebnis, an der Tankstelle bei Sterzing mußte ich zum erstenmal Italienisch sprechen, dann kamen die ersten Weinberge, um Verona tatsächlich zu Girlanden gebunden, und das Land lief aus in den Villen Palla-
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dios. Es sind Landschaften, Wege und Orte, die der Italienreise ihre Struktur geben. Dabei gewinnt das eigene Erlebnis der Orte heute vielleicht eine neue und eigene Bedeutung im Entstehen neuer Geographien. Nicht zuletzt aber erfordert es eine Auseinandersetzung mit deren historischer oder literarischer Bedeutung. Diese nicht wegzudenkende historisch-literarische Bedeutung der Orte macht die Grand Tour immer (und auch für einen Architekten) zur literarischen Reise. Denn neben den Kunstwerken und Bauten aus Antike und Renaissance sind es Geschichte und Geschichten, die die klassizistische Reiseroute bestimmen. Diese seit der Antike literarisierte Landschaft wird mit der – für die Grand Tour unerläßlichen – eigenen Reisebeschreibung schließlich zu einer Fiktion verwoben, deren Teil man selber ist. Die Komplexität literarischer Schichten steigert die Reise also bis zur Selbstfiktionalisierung, zugleich macht sie diese besonders herausfordernd. Daß man heute nicht mehr einem kollektiven Bild- und Literaturgedächtnis durch Italien hinterherreist, läßt sich vielleicht dahingehend polemisch auf den Punkt bringen: daß man im Klassizismus zuerst gelesen hat und dann gereist ist, während man heute zuerst reist und dann liest. Doch vielleicht war das auch nur mein Trost dafür, daß ich mich eigentlich schlecht vorbereitet fühlte, als ich nach Italien aufbrach. Die literarische Dichte, die die italienischen Landschaften bestimmt, macht eine gute Vorbereitung aber auch geradezu unmöglich. Ich habe versucht, das auszugleichen, indem ich das Fach unter dem Sitz der Vespa als Reisebibliothek nutzte (Abb. 5). Das hat natürlich nicht für den Livius gereicht, den ich nicht nur am Lago Trasimeno gern gelesen hätte, die Aeneis aber war für ausgiebige Spaziergänge durch die Campi Flegrei dabei, und daß sich bei der Konfrontation von Literatur und Reiseerlebnis geradezu surreale Situationen genießen lassen, mag der Lago di Pergusa auf Sizilien verdeutlichen, den Ovid in den Metamorphosen besingt: Mit tiefgehender Flut liegt nahe den Mauern von Henna, Pergus genannt, ein See. Mehr Sänge von Schwänen als dieser Hört selbst nicht in dem Strom hingleitender Wellen Kaystros. Rings das Ufer entlang kränzt Wald die Gewässer und wehret Phoebus’ glühendem Feuer mit Laub wie mit schützendem Vorhang. Kühlung gewährt das Gezweig, und die Au nährt liebliche Blumen. Ständiger Frühling herrscht.4
– liest man und läßt den Blick über die Autorennstrecke schweifen, die den See seit den 1960er Jahren einschnürt (Abb. 6). Die Italienreise erschließt eine Vielfalt von Auseinandersetzungen, die herkömmliche Berufs- und Disziplinengrenzen sprengen – und die vielleicht gerade heute im Zeitalter einer öfter beschworenen als praktizierten Interdisziplinarität einen neuen Stellenwert bekommen. Wer über den längeren Zeitraum einer Grand Tour die Erfahrung macht, daß seine Profession nicht ausreichen kann, um die Reiserealität Italiens zu verstehen, wird sich mit einem durchaus positiv konnotierten Dilettantismus anfreunden müssen.5 Das 4 Ovid: Metamorphosen, V 385ff. (Ceres und Proserpina) in der Übersetzung von Reinhart Suchier, Berlin & Weimar 1973. 5 Auch das rekurriert natürlich nicht zufällig auf das Zeitalter der Grand Tour im 18. Jh. – bekanntestes Beispiel mag die 1734 gegründete Society of Dilettanti sein.
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geht durchaus über die Auseinandersetzung mit naheliegenden Kunstsparten hinaus. Mein stärkster Eindruck in dieser Hinsicht war der Einblick in ein ungekannt traditionales Wirtschaftssystem: Nachdem mein dortiger Reisebegleiter und ich beim Cappuccino in einer neapolitanischen Bar einmal wieder die Bekanntschaft mit dem für Einheimische, italienische Touristen und ausländische Touristen jeweils neu erfundenen Preissystem zu unseren Ungunsten gemacht hatten und wenig begeistert die Bar verließen, kam der Wirt, von plötzlicher Reue gepackt, auf die Straße nachgelaufen und zahlte einen Euro zurück. Und meine Vespa habe ich in Neapel natürlich nicht irgendwo reparieren lassen, sondern bei »la carrozzeria di Antonio«, wohin mich »Michele del garage« empfohlen hatte. Damit bekommt der Grand Tourist nicht zuletzt einen aufschlußreichen Blick in italienische Gesellschaftsstrukturen, was geradezu bizarr wird, wenn man alleine reist: denn niemand würde das in Italien je tun. So hat mir ein Wirt in Bacoli aus lauter Mitleid für das Mittagessen allein gleich die Rechnung erlassen. Nicht selten aber kommt all das zusammen und macht die einzigartige, reichhaltige, ja üppige Erfahrung aus, wie sie eben nur die Italienreise bietet: Architektur und Kunst, Landschaft, Literatur, Gesellschaft und, natürlich nicht zu vergessen, die Küche. So habe ich es etwa an den Quellen des Clitumnus in Umbrien erleben können: das eigentümliche, spätantike Tempelchen, ausgestattet mit frühchristlichen Fresken, die Landschaft mit dem vorbeiziehenden Fluß, Wilhelm Heinse, mit dem ich mir einig war, daß der Tempel doch gut noch in die heidnische Antike passen würde, und die Georgica, in der Vergil die weißen Stiere des Clitumnus besingt (Abb. 7). Ich glaube nicht, »bis aufs innerste Knochenmark verändert«6 zu sein. Aber ich glaube doch, daß die Grand Tour heute eine Bedeutung haben kann, die über ein Aufwärmen klassizistischer Bildungsideale und über das beschauliche Nachreisen der Italienischen Reise weit hinausgeht.
6 Goethe meint das am 2. Dezember 1786, Italienische Reise, Hamburger Ausgabe.
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Abb. 1 Palestrina
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Abb. 2 Pisa
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Abb. 3 Selinunt
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Abb. 4 Bei Mittenwald
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Abb. 5 Reisebibliothek in der Vespa
Abb. 6 Lago di Pergusa
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Abb. 7 Tempel am Clitumnusufer
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Der Neubau der Italienischen Botschaft am Berliner Tiergarten
Die Vorbereitungen zum Neubau der Italienischen Botschaft reichen zurück in das Jahr 1937. Nach dem Willen der Bauherren, der Reichsbaudirektion in Berlin und des planenden Architekten Friedrich Hetzelt, sollte es ein Bauwerk werden, das durch Größe und »Schönheit« die Verbundenheit mit dem Partnerland Italien ausdrückt. Das Projekt galt als wichtiger Baustein im Rahmen der zahlreichen Regierungsneubauten und Umgestaltungen der Reichshauptstadt.
Die Vorgeschichte Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die diplomatische Vertretung des Königreiches Italien in der Wilhelmstraße 66, noch innerhalb der Grenzen der alten Residenzstadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den preußischen Ministerien. Später zog man um in das östliche Berliner Tiergartenviertel, wo sich bereits mehrere Botschaften und Residenzen angesiedelt hatten. Die Italienische Botschaft bezog das Wohnhaus des früheren Reichskanzlers Bethmann-Hollweg in der heute nicht mehr existierenden Viktoriastraße 36. Bethmann-Hollweg hatte es sich von den Berliner Architekten Gropius und Schmieden im Stile der Neo-Renaissance errichten lassen. (Abb. 4) In den späten 1920er Jahren begannen Ankaufsverhandlungen für eine repräsentative Villa in der unmittelbaren Nachbarschaft, Matthäikirchstraße 31 (damals: Standartenstraße). Italien konnte schließlich diese Villa erwerben, die 1901 vom Architekten Alfred Messel als Residenz des Bankiers und Kunstsammlers Jakob Goldschmidt erbaut worden und mit Kunstwerken wertvoll ausgestattet war. Die Villa diente als Residenz und Kanzlei der Botschaft, in der Viktoriastraße verblieb das Generalkonsulat und die »casa del fascio« (Haus der faschistischen Partei Italiens). Unter anderem zur Vorbereitung des Besuches von Benito Mussolini in Berlin, fanden in den 1930er Jahren Umbauten in der Messel’schen Villa an der Matthäikirchstraße statt. Diese Umbauarbeiten plante und leitete der Architekt Friedrich Hetzelt (1903–1986). In jenen Jahren sollte Berlin zur neuen »Reichshauptstadt Germania« umgestaltet werden. 1935 hatte man hierzu mit den Planungen und Vorbereitungen begonnen, 1937 wurde die von Albert Speer geleitete »Generalbauinspektion für die Reichshauptstadt Berlin« (GBI) eingesetzt. Die Planungen der GBI sahen ein monumentales Achsenkreuz quer durch Berlin in West-Ost- und Nord-Süd-Richtung vor. Während der Verlauf der Ost-West Achse über Unter den Linden durch das Brandenburger Tor, über die heutige Straße des 17. Juni bis weit in den Berliner Westen, noch über den heutigen Theodor-HeussPlatz hinaus verlief, sollte die geplante Nord-Süd-Achse mit ihren neuen monumentalen Bauten den Spreebogen in der Nähe des Reichstages mit dem Flughafen Tempelhof und
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dem neuen Südbahnhof verbinden. Zahlreiche diplomatische Vertretungen im östlichen Tiergartenviertel waren von den Neubauplanungen betroffen und sollten weichen, darunter auch die Gebäude der Botschaft und des Konsulats von Italien. Nach kontrovers geführten Diskussionen mit den ausländischen Vertretern in Berlin, entschied man sich für das westliche Tiergartenviertel als neues diplomatisches Quartier. Japan und Italien erhielten prominente Grundstücke in bevorzugter Lage an der Tiergartenstraße, der historischen kurfürstlichen Ausfallstraße nach Süd-Westen. Sie lagen gegenüber der geplanten Einmündung einer »Siegesallee«, die von der Siegessäule durch den Tiergarten führend vor den neuen Botschaften enden sollte. Von hier wiederum sollte eine lineare Verbindung zur neuen Reichskanzlei Voss-, Ecke Wilhelmstraße entstehen.
Das Gebäude Friedrich Hetzelt, der bereits mit dem Umbau der alten Botschaft in der Standartenstraße betraut worden war und in der GBI die für öffentliche Gebäude zuständige Abteilung III. 11 leitete, erhielt 1937 den Planungsauftrag für den Neubau. Er hielt sich an die für die Botschaftsneubauten entwickelte Standard-Typologie einer 3-Flügel-Anlage zur Unterbringung von jeweils Kanzlei, Repräsentanz und Residenz. Er plante auf U-förmigem Grundriss die diplomatische Kanzlei im Westflügel mit Eingang in der Hiroshimastraße, Repräsentanz und Residenz im Nord- und Ostflügel mit dem Haupteingang und eigener Vorfahrt an der Tiergartenstraße. Die Residenz nahm das zweite Obergeschoss ein und verfügte über Seiteneingänge zur Hildebrandstraße. Nur das Büro des Botschafters in der ersten Etage des Kanzleiflügels erhielt eine Verbindung zu den Empfangsräumen und der Residenz in den anderen Gebäudeteilen. Hetzelt entwarf ein Gebäude, das auf Grund seiner Größe (mit Untergeschoss circa 12 000 m2) bis dicht an die Grundstücksgrenzen drängt und doch der Typologie einer Stadtvilla als frei stehendem Gebäude gerecht zu werden versucht. Der Duktus der Architektur ist in Monumentalität, Symmetrie, und Proportion durchaus mit dem der geltenden Machtarchitektur verwandt. Einzelne Stilelemente werden fast detailgetreu aus anderen Regierungsbauten übernommen: beispielhaft seien hier die vier quadratischen Säulen in rotem und weißem Marmor genannt, die in die beiden rechtekkigen Wandöffnungen des Foyers eingefügt sind. Diese gab es in gleicher Form, jedoch in doppelter Anzahl, in der neuen von Albert Speer entworfenen Reichskanzlei. Speer nahm auch persönlich Einfluss auf die Gestaltung der neuen Italienischen Botschaft und ließ Detailkorrekturen an der Fassade und am südlichen Hofabschluss vornehmen. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede zu vergleichbaren Gebäuden jener Zeit. Durch die Wahl der Materialien und der Farbgebung versuchte man sich dem Ziel zu nähern, ein italienisches Gebäude zu errichten: über einer Rustika-Basis folgt eine leicht schräg ausgestellte, bossierte Travertinverkleidung im Erdgeschoss, darüber rötlicher TerranovaPutz in den Obergeschossen. Gezielt wurden Einfuhrerleichterungen eingefordert, um Materialien italienischer Provenienz einsetzen zu können: darunter Travertin aus Tivoli, bereits dort passgenau und einbaufertig bearbeitet, Marmor aus dem Valle Strona, fertig behauene Säulen aus Rosso Verona. Auffallend am Entwurf Hetzelts sind die Schichtungen und das Nebeneinanderstellen verschiedener stilistischer Ausdrucksformen. Deutlich
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wird dies besonders im Vergleich von Innen und Außen. Während der Haupteingang an der Tiergartenstraße, das Vestibül, mit seiner geradlinigen Ernsthaftigkeit, noch zum äußeren Erscheinungsbild der Botschaft passt, ändert sich der Raumcharakter auf dem Weg nach oben ins Foyer und dann im großen Festsaal deutlich: er wird dekorativer, farbiger, vielleicht auch verspielter. Die Oberlichter des Festsaales sind nach außen rechteckige Fenster in der Logik der Fassade, nach innen aber ovale Lunetten mit floraler Unterteilung. (Abb. 1, 2, 3) Der Eindruck massiger Monumentalität im Äußeren findet im Inneren der Botschaft trotz der Größe der Räume keine Entsprechung. Dies liegt sicherlich an der gefälligen Proportionierung der Räume, aber auch an der sorgfältigen Auswahl und Positionierung der Kunstwerke, die aus der alten Botschaft mitgebracht wurden und als Spolien im Neubau integriert wurden: Renaissanceportale, Kamine, Wandbrunnen, gedrehte Säulen auf Löwenbasen, alle italienischer Herkunft. Der Speisesaal wurde maßgeschneidert für die frühbarocke französische Holz-Wandvertäfelung, die aus der Matthäikirchstraße mitgebracht wurde. Der Neubau knüpfte damit inhaltlich an die Villenarchitektur der Jahrhundertwende der in Berlin zahlreichen großbürgerlichen Residenzen mit ihren üppigen in das Gebäude integrierten Kunstsammlungen an.
Andeutungen – Deutungen Die Frage nach äußeren Einflüssen, Vorbildern für den Entwurf lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das römische Außenministerium hatte Entwürfe oder die Mitwirkung italienischer Architekten vorgeschlagen. In verschiedenen Quellen werden Marcello Piacentini (1881–1960) und Florestano Di Fausto (1890–1965) erwähnt, die beide in den 1930er Jahren eine Reihe von öffentlichen Bauten in Italien und italienischen Kolonien realisierten. Ihre tatsächliche Mitarbeit an der Planung der neuen Botschaft ist hier allerdings nicht nachzuweisen. Es ist wohl auch als journalistische Anekdote zu werten, der Führer habe sich ein Gebäude wie den Palazzo della Consulta auf dem römischen Quirinal vorgestellt, der ihm bei seinem Rombesuch aufgefallen war. Vorbilder könnten auch viel näher gelegen haben: Vergleicht man die Architektur des von Gropius und Schmieden im Florentiner Neorenaissancestil errichteten Gebäudes in der Viktoriastraße mit den Elementen der von Hetzelt konzipierten Fassade des Neubaus, so scheinen die Gestaltungsprinzipien viel eher zu korrespondieren: Natursteinsockel, bossierte Natursteinverkleidung im Erdgeschoss mit Gurtgesims-Abschluss und darüber einer glatten Fassade, plastisch gerahmten Fenstern und ausgeprägtem Kranzgesims und einer klassischen Fensterordnung mit überhöhtem »piano nobile«. Hetzelt dürfte 1937/38 das Haus in der Viktoriastraße öfters aufgesucht haben, befanden sich doch dort im Generalkonsulat die Büros der späteren Nutzer seines Neubaus (Abb. 4, 5).
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Chronik Im Oktober 1939 wurde der Rohbau fertiggestellt, ein Jahr später, im Oktober 1940, waren die ersten Büros in der Kanzlei in der Hiroshimastraße bezugsbereit. Die Empfangs- und Residenzräume konnten noch nicht fertiggestellt werden und der weitere Ausbau verzögerte sich durch Materialengpässe und Facharbeitermangel. Schließlich beurkundet ein Protokoll vom Dezember 1942, sowie ein »Schlußstein« mit der Inschrift 1939–1943, eingelassen im Fußboden der Kapelle die Fertigstellung des Bauwerkes. Die noch unvollständige Möblierung des Gebäudes wie auch das Näherrücken der Kriegsfronten verhinderten die Nutzung der gerade fertiggestellten Räume der Residenz. Der Botschafter residierte und arbeitete mit einem kleinen Stab in einer am Wannsee gelegenen Villa. Bei den Luftangriffen der Alliierten im November 1943 auf das Zentrum Berlins wurde auch die Botschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen. Der Säulenportikus an der Tiergartenstraße, Teile des Daches und das Kranzgesims wurden beschädigt, die Säulenkolonnade und die Süd-Ost-Ecke des Gebäudes zerstört. Zum weiteren Schutz wurden die Fenster an der Hildebrand- und Tiergartenstraße nun vermauert. Nach dem Krieg wurde in einem Teil des Kanzleiflügels an der Hiroshimastraße das Generalkonsulat eingerichtet. Der Rest blieb dunkle, zugige Kriegsruine, die nur mühsam vor Plünderungen und Vandalismus zu schützen war. Nur die Empfänge und Veranstaltungen des Generalkonsulats, die in den wiederhergestellten schmuckvollen Räumen im ersten Obergeschoss wie der Bibliothek und im ehemaligen Büro des Botschafters stattfanden, sorgten immer wieder dafür, daß mystifizierte Neuigkeiten aus dem Inneren dieser geheimnisvollen Ruine am Rande des Tiergartens in die Stadt drangen. Vom Beginn der 1980er Jahre bis zum Fall der Mauer gab es eine ganze Reihe von Nutzungsvorschlägen, jedoch ohne daß einer davon realisiert worden wäre. 1996 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands entwickelte sich das Tiergartenviertel erneut zum Quartier der Botschaften. Italien entschied 1992, das Haus am Tiergarten wieder zur Botschaft aufzubauen. In einem Gutachterverfahren unter geladenen Architekten überzeugte der Vorschlag des römischen Architekten Vittorio De Feo (1928–2002), dem der Nachweis gelang, daß die Anforderungen an den heutigen Botschaftsbetrieb in der vorhandenen Gebäudestruktur erfüllt werden konnten (Abb. 6).
Wiederaufbau Ein respektvoller Umgang mit der vorhanden Bausubstanz, seine erhaltende Restaurierung waren die Leitsätze der Planung, auch wenn »die desolate Situation des Gebäudes einen ausgewogenen Umbau, der die Erhaltung des noch Vorhandenen gewährleistet und gleichzeitig aber die Funktionen erneuert, besonders schwierig macht. Je besser es hierbei gelingt, das Vorhandene im Neuen aufleben zu lassen desto nachhaltiger wird das Ergebnis sein« (DeFeo). Im Frühjahr 2003 wurde der Wiederaufbau beendet. Alle konstruktiven Teile des Gebäudes wurden systematisch instandgesetzt, die haustechnischen Einrichtungen komplett erneuert. Die Kommunikationen im Gebäude wurden vielfältiger und funk-
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tionaler. Hierfür wurden zusätzliche Treppen und Aufzüge und neue Verbindungen zwischen Ost- und Westflügel in allen Ebenen eingefügt. Brüche, Schichtungen, Spuren der Zeitgeschichte blieben erhalten, wo sie die Funktionalität und ein ganzheitliches Erscheinungsbild nicht beeinträchtigen. Die ursprünglichen Raumausstattungen wurden nicht rekonstruiert. Erforderliche Ergänzungen zur restaurierten Substanz, z.B. Decken, Wandoberflächen, Fußböden wurden formen- und farbneutral gehalten. Die zahlreichen integrierten Kunstwerke, Kamine, Türportale prägen den Raumeindruck. Ohne die Vergangenheit zu leugnen entstanden in zeitgemäßer Interpretation neue, moderne, lichtere Räume. Die Italienische Botschaft am Tiergarten dürfte eines der ersten Beispiele in der jungen Geschichte des Bauens diplomatischer Vertretungen sein, die versuchen die Zuordnung zum Heimatland über das Bauwerk zu zeigen. Es entstand eine zeitgenössische ItalienRezeption, architektonisch formuliert. Die erneute Nutzung des Gebäudes, zumal entsprechend der ursprünglichen, sichert dessen Bestand als zeitgeschichtliches Dokument und Unikat in der Berliner Architekturlandschaft.
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Abb. 1 Haupteingang Tiergartenstraße
Abb. 2 Foyer
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Abb. 3 Festsaal
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Abb. 4 Italienische Botschaft Viktoriastraße
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Abb. 5 Teilansicht West
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Abb. 6 Schnittperspektive
Stephan Y. Dietrich
Der Neubau der Italienischen Botschaft am Berliner Tiergarten
Abb. 7 Eingang zum Vortragsraum
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Abb. 8 Galerie mit toskanischen Renaissance-Spolien
Stephan Y. Dietrich
Der Neubau der Italienischen Botschaft am Berliner Tiergarten
Abb. 9 Venezianische Decke, 17. Jahrhundert
Alle Fotografien: André Kirchner; Abb. 4: Landesbildstelle, Abb. 6: studio DeFeo
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Die Modernität italienischer Stadtarchitektur und ihre Bedeutung als Referenz für zeitgenössische Entwurfsexperimente Wenn man mit dem Begriff der Modernität nicht nur den Zeitraum eines historischen Paradigmenwechsels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die daraus resultierenden Verhaltensmuster in Architektur und Kunst meint, sondern damit eine spezifische Empfindsamkeit charakterisieren möchte, die schwer zu beschreiben, aber notwendige Voraussetzung ist für die Nähe eines Werks zu den aktuellen Lebensumständen, dann verwenden wir ihn auch heute noch. Wir fordern damit die kulturelle Präsenz – ästhetisch und funktional des architektonischen Projekts ebenso ein, wie wir damit das kritische Potential der Moderne da im Spiel halten wollen, wo dieses in einer Zeit der allseits proklamierten ›Postmoderne‹ in eine, gerade für die Architektur so verführerische Historienseligkeit abzugleiten droht. Die Konzeption einer aktuellen Stadtarchitektur braucht heute zu ihrer Fundamentierung beides, einerseits das Studium der Geschichte und ein breites Wissen über die Kultur der europäischen Stadt und eben auch die Verpflichtung zur Modernität. Der Blick nach Italien ist, und das ist ja keineswegs neu, ein Blick auf die Tradition der europäischen Stadt, aber in besonderer Weise – und darum soll es hier gehen – auch auf eine Moderne in Struktur und Erscheinung, die die Tradition der europäischen Stadtarchitektur möglicherweise transformiert, aber nie grundsätzlich infrage gestellt hat. Es scheint heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, eine ausgemachte Sache zu sein, daß es in der Architektur nach gut 80 Jahren Siedlungsbau und Stadtzerstörung im Kometenschweif der Theorien und Programme des Neuen Bauens zu Beginn des 20. Jahrhunderts nun wieder um Stadt geht, um dichte und komplex genutzte Räume und eben auch um städtische Architektur, städtische Häuser, städtisches Leben und eines dieses fördernde und vielleicht auch inszenierende ästhetische Erscheinungsbild von Architektur. Die Architektur als autonomes Kunstwerk, wie sie die Moderne geschaffen hat, wird damit zwar obsolet, sie gewinnt aber gleichzeitig an ästhetischer Brisanz im städteräumlichen Kontext. Viele, die damit zu tun haben, werden dabei schnell sentimental und klammern sich an die Bilder der Vergangenheit, die mit Camillo Sitte und dem ausgehenden 19. Jahrhundert endet, und vorzugsweise mit Mittelalter, Renaissance und Barock identifiziert wird. Der strenge Rationalismus der Klassik, die festliche Monumentalität Roms, die schlanke Raffinesse der Gotik und die strukturelle Modernität der Metropolenmaschine des 19. Jahrhunderts bleiben im Bewusstsein der Romantiker eher peripher. Geradezu unbekannt, besonders unter Architekten scheint eine Modernität im Sinne der Vergegenwärtigung traditioneller Strukturen in aktuelle Zeitumstände zu sein, wie es sie immer trotz und neben den Haupttrends des Neuen Bauens gegeben hat. Beispiele und Referenzen für diese Andere Moderne, die für uns einen unmittelbaren historischen Ansatz bieten könnte, finden sich im europäischen Raum ausgerechnet und mehr als irgendwo sonst in Italien, womit die Grande Tour einen
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neuen Sinn bekommen könnte und einen Schwung in unsere unmittelbare Vergangenheit nimmt. Interessant und entscheidend für die damit zu reklamierende aktuelle Bedeutung der italienischen Architektur der Moderne, ist ihr Beharren auf der Italianità, also den spezifischen Qualitäten des italienischen Stadtlebens und der städtischen Lebenskultur, auch unter den veränderten Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts. Wenn wir dieses Verhaltensmuster auf die heutige Situation fast 100 Jahre später beziehen, finden wir Parallelen und Referenzen für unser Handeln als Entwerfer und Stadtarchitekten ohne uns zwischen den Fronten einer retrospektiven und sentimentalen Postmoderne einerseits und der permanenten formalen »Metamorphose« (Biennale 2005) des architektonischen Objekts als Ausdruck einer marktorientierten Pseudoavantgarde, wie sie große Teile der aktuellen Architekturszene bestimmt, aufzureiben. Mit dem Thema Stadt, bzw. Stadtarchitektur, rückt die Andere Moderne automatisch ins Zentrum unseres Interesses. Zur Verdeutlichung dieser Position beziehen wir uns gezielt auf die Andere Moderne in Italien, die wir thematisch differenziert aus Mailand und Genua zitieren möchten. Das didaktische Projekt Berlin – Genova soll exemplarisch eine entwurfliche Herangehensweise zeigen, die auf diesen Erfahrungen beruht und diese versucht, im Architekturstudium methodisch umzusetzen.
Milano – städtische Häuser Die Architekten Maillands standen in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vor der Aufgabe, das Mailänder Stadtzentrum, ein konzentrisches Gebilde mit Stadtkanälen und einem eng verzweigten Straßennetz umzubauen und im baulichen Maßstab zu vergrößern. (1) Dieser Stadtumbau brachte nicht nur positive Aspekte mit sich, so wurden z.B. die zahlreichen Stadtkanäle zugeschüttet, aber er schuf ein Kultur der Stadtplanung nach innen sozusagen, ohne die traditionellen Qualitäten des Stadtzentrums grundsätzlich infrage zu stellen. Straßen und Plätze, städtische Häuser und Fassaden blieben die unbestrittenen Grundlagen für eine Stadtarchitektur, deren Bekenntnis zu einer spezifischen Form der Italianità ebenso für Kontinuität stand, wie sie auch Anlaß für spezifische und radikale künstlerische Interpretationen war. Das komplexe Nutzungsgefüge der Innenstadt blieb ebenso erhalten, wie die Inszenierung der öffentlichen Räume an Theatralität gewann. Der Maßstab der Bebauung orientierte sich an der Galeria Vittorio Emanuele zwischen Domplatz und Piazza della Scala; von da aus entfaltete sich die neue Architektur in einem großstädtischen Erscheinungsbild mit Bezug auf den gigantischen, stark historisierenden Hauptbahnhof, der damit vom Zentrum aus die Hauptrichtung dieses inneren Stadtumbaus angab. Zwei Architektengruppen waren die Protagonisten dieser Bewegung und gleichzeitig (in unterschiedlicher Form) die Hauptvertreter der Anderen Moderne in Italien, die im europäischen Maßstab bis heute exemplarisch für eine architektonische Modernität stehen, deren Handlungsvoraussetzung nicht a priori die Zerstörung der Europäischen Stadt war, sondern deren Verwandlung, bzw. Modernisierung: Die Novecento-Gruppe mit den Hauptvertretern Giuseppe de Finetti, Giovanni Muzio, Gio Ponti und Piero Portaluppi und die Rationalisten mit Giuseppe Terragni, Franco Albini, Luigi Figini, Gino Pollini, um nur einige der wichtigsten Namen zu nennen. Neben dem gemeinsamen Ziel eines
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zeitgenössischen Stadtumbaus waren die ästhetischen Zielsetzungen fast konträr. So war die Novecento – Gruppe einem stilistischen »Naturalismus« surrealistischer Prägung verpflichtet, den man mit De Chirico identifizieren könnte, während die Rationalisten stilistisch der nordeuropäischen Moderne um das Bauhaus und der De Stijl – Bewegung nahe standen. Das Ergebnis dieses Stadtumbaus in den 1920er und 1930er Jahren war das neue Zentrum von Mailand, wie wir es heute sehen und mit dem Bild einer internationalen Modeund Designmetropole identifizieren, ein wahres Monument der Anderen Moderne, das sich in der eindrucksvollen Erscheinung seiner Häuser und Paläste widerspiegelt. Eine städtische Bühne mit Hausgestalten, die in Form, Struktur, Dekor und Material den höchsten in Europa erreichten Stand moderner Stadtarchitektur symbolisieren und heute eine bedeutende Referenz darstellen für analoge Handlungsziele zwischen traditionellem Stadtraum, theatralischer Monumentalität und zeitnaher Modernität. Die Mailänder Häuser sind ein Qualitätsmaßstab und eigentlich muss sie jeder kennen, der heute unter ähnlichen Herausforderungen am zeitgenössischen Stadtumbau arbeitet. Im Übrigen bilden die Mailänder Häuser in ihrer architektonischen Aussagekraft eine Art Äquivalent zur amerikanischen Hochhausarchitektur in New York und besonders Chicago. Das Verhältnis Europa – Amerika war bezogen auf die Hochhausarchitektur in ihrer »heroischen« klassischen Form als gereihtes Haus auf einem Rasterstadtgrundriss ja immer ein Wechselspiel der Eindrücke. In diesem Wechselspiel haben die Amerikaner vom Palazzo Pitti gelernt und die Mailänder sicherlich von den amerikanischen Hochhausarchitekten nach der Jahrhundertwende.
Genova – die Permanenz der Struktur Das Charakteristische der Genueser Stadtstruktur liegt in ihrer tipologia a blocco (Abb. 1). Diese meint freistehende, palazzoartige Häuser kompakter Form und unterschiedlicher Größe, die mit schmalen Lücken oder Fugen dazwischen an den Straßen aufgereiht sind. Es handelt sich um eine Sonderform des städtischen Reihenhauses: rundum belichtet mit großzügigen Etagenwohnungen und einer repräsentativen Fassade klassizistischer Prägung zur Straße mit mehr oder weniger aufwändigem Dekor und hellen Putzfarben versehen. (2) Der daraus resultierende Stadtraum ist linear, mit einer gewissen Transparenz zwischen Straße, Hof und Garten und diagonalen Durchblicken. Die Gelenkigkeit der tipologia a blocco (jedes Haus steht für sich) erleichtert die Bebauung der Hügel, die das Genueser Hafenbecken und die dichte Altstadt fast unmittelbar umgeben. Sie geht ursprünglich auf den Entwurf und Bau der Strada Nuova zurück, eine Aufreihung feudaler eigenständiger Palazzi an einer geraden Straße, direkt am nördlichen Rand der labyrinthischen Altstadt gelegen. Der Entwurf stammt von Galeazzo Alessi (um 1550) und diente im 19. Jahrhundert als typologisches Vorbild für die gewaltigen Stadterweiterungsprojekte, die bis in das 20. Jahrhundert hinein das gesamte Stadtareal, wie wir es heute kennen, erschlossen. Carlo Barabino war in der Mitte des 19. Jahrhunderts der wichtigste Stadtarchitekt Genuas (vergleichbar mit James Hobrecht in Berlin) und verantwortlich für bedeutende Leitprojekte dieser Zeit, wie die Via Assarotti, eine der geraden Straßenachsen, die (wie gigantische Fühler) von der Altstadt ausgehend das Terrain die Hügel hinauf erschlossen.
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Die Modernität der Genueser Stadtstruktur, in ihrer Eigenschaft als »gebäudescharfes« Rasterstadtmodell, zeigt sich nicht nur in ihrer tragenden Rolle als strukturelles Raster im Prozess der Großstadtentwicklung ab dem 19. Jahrhundert, sondern in ihrer Permanenz über fünf Jahrhunderte. So liegen zwischen der Strada Nuova und den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, wo an der tipologia a blocco immer noch weiter gebaut wurde, knapp 500 Jahre Stadtwachstum nach einem Modell, das mühelos den wechselhaften Ansprüchen im Laufe der Jahrhunderte angepasst werden konnte, wohl auch deswegen, weil dem einzelnen Haus und dessen Form und Typologie nicht nur eine tragende Rolle in der Struktur, sondern auch eine gewisse Autonomie zukam. Jedes Haus steht zwar in der Reihe, es steht aber auch für sich. Gerade diese Verbindung von struktureller Stringenz, Einfachheit der räumlichen Ordnungsmuster und individueller Freiheit ist wohl nicht nur Voraussetzung für geschichtliche Permanenz, sondern auch ein Zeichen für Modernität. Diese Modernität des Genueser Modells, das in seiner spezifischen Art und strukturellen Radikalität noch über das Rasterstadtmodell aus Barcelona hinausgeht, zeigt sich auch und gerade im Vergleich mit der Berliner Mietshausstruktur, die nicht nur bedeutend jünger ist (so geht sie im wesentlichen auf Schinkels Stadtpalaisentwürfe im frühen 19. Jahrhundert und barocke Achsenmodelle zurück), sondern deswegen bei den Modernisten in Verruf geraten war, weil sie lange als zu dicht, kompakt, unflexibel und menschenfeindlich galt. Ein Urteil, das sicherlich auch beeinflusst war von der Tatsache, daß das Berliner Mietshaus in großen Teilen eben auch eine ausgesprochen proletarische Typologie war. Aber abgesehen davon fehlt der Berliner Mietshaustypologie (Abb. 2) im Vergleich zur Genueser tipologia a blocco sicherlich die strukturelle Transparenz und Neutralität als Voraussetzung für zeitgenössische Interpretationen nach dem Motto: je einfacher die Regeln, desto besser das Spiel.
Berlin – Genova, das Entwurfsexperiment Die Spielregeln für das Entwurfsexperiment für Architekturstudenten in Potsdam und Genua waren in zwei Plänen für zwei Straßentypen derselben Länge und Breite formuliert – ein Stück Straße als idealisiertes Experimentierfeld. Der Berlin-Typ (Abb. 4) bestand aus jeweils sechs Häusern pro Straßenseite nach dem Vorbild des Berliner Mietshauses mit festgesetzter Traufhöhe und eingeschossigem Dachaufbau. Alle Häuser stehen Wand an Wand und bilden Höfe nach innen aus. Die Geschosshöhen waren ebenso definiert wie die Hausbreiten. Der Genua-Typ (Abb. 3) sah eine aufsteigende Straße vor mit beidseitig fünf freistehenden kompakten Häusern nach dem Vorbild der tipologia a blocco. Straßenbreiten, Hausbreiten und Höhen waren analog zum Berlin-Typ festgelegt. Auf dieser Grundlage sollte jeder Student ein Haus eines Typus entwerfen. Die Studenten konnten sich entweder für die eine oder für die andere Typologie entscheiden. Eine weitere Grundlage für den Entwurf war die Auseinandersetzung mit Typus und Geschichte des städtischen Hauses in Europa, weit über die Beispiele Berlins und Genuas hinaus, auch verbunden mit der Frage, wie heute das Straßenleben unter zeitgenössischen ökonomischen und sozialen Bedingungen architektonisch und funktional inszeniert werden kann. Hier kamen natürlich besonders die Mailänder Beispiele ins Spiel, die auf der Betrachtungsebene des städtischen Hauses ebenso relevant waren, wie auf der Ebene der städtischen Struktur
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das Beispiel Genua (im Vergleich zu Berlin) im Mittelpunkt stand. Das Entwurfsprojekt wurde zeitgleich an der Potsdam School of Architecture und der Università degli Studi in Genua unter der Leitung des Autors durchgeführt. Die Ergebnisse, zwei Idealstraßen mit 22 individuellen Hausentwürfen, liegen publiziert vor (3) und bilden aktuell den Anlaß für eine große und mehrspartig geplante Ausstellung in Genua in der Strada Nuova (heute: Via Garibaldi) über die Palazzi verteilt, mit dem Arbeitstitel »Strada Nuova – Straßen der Welt in Architektur und Kunst«.
Literaturhinweise (1) Annegret Burg, Städtebau des Novecento Milanese, Berlin/Zürich 2005; (2) Klaus Theo Brenner, Helmut Geisert, Das städtische Reihenhaus – Geschichte und Typologie, Stuttgart 2004; (3) Klaus Theo Brenner (Hg.), Berlin – Genova, Berlin 2005.
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Abb. 1 tipologia a blocco – Genova
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Abb. 2 Berliner Mietshaustypologie
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Abb. 3 Straßenperspektive Typ Genua
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Abb. 4 Straßenperspektive Typ Berlin
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