Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne
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Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne
Klassik und Moderne Schriftenreihe der Klassik Stiftung Weimar
Herausgegeben von Thorsten Valk
Band 1
De Gruyter Berlin · New York
Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne
Herausgegeben von Thorsten Valk
De Gruyter Berlin · New York
Redaktion und Textgestaltung: Alexandra Bauer Einbandgestaltung: Goldwiege, Weimar Einbandabbildung: Buchillustration von Henry van de Velde für die Erstausgabe des ›Ecce homo‹ von Friedrich Nietzsche Leipzig: Insel 1908. © Klassik Stiftung Weimar
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-021302-7 ISSN 1869-2346 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis
THORSTEN VALK Friedrich Nietzsche. Musaget der literarischen Moderne ................1 DIETER BORCHMEYER Nietzsche, das Klassische und die Moderne ....................................21 DIRK NIEFANGER Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne ..................................41 NIKOLAS IMMER Mit singender statt redender Seele. Zur NietzscheRezeption bei Stefan George und seinem Kreis ..............................55 MATHIAS MAYER Nietzsche-Verwerfungen bei Georg Trakl .......................................87 GESA VON ESSEN Resonanzen Nietzsches im Drama des expressionistischen Jahrzehnts ........................................................101 DIRK OSCHMANN Skeptische Anthropologie: Kafka und Nietzsche .........................129 HANS RUDOLF VAGET »Schicksalsgeist«. Zu Thomas Manns Nietzsche-Rezeption in der Weimarer Republik ..........................147
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Inhaltsverzeichnis
BARBARA NEYMEYR Identitätskrise – Kulturkritik – Experimentalpoesie Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ..........................................163 PAUL MICHAEL LÜTZELER Hermann Brochs Kulturkritik: Nietzsche als Anstoß ..................183 PETER SPRENGEL ›Wille zum Kleinen‹ statt ›Wille zur Macht‹? Gerhart Hauptmann und Nietzsche ..............................................199 CHRISTIAN SCHÄRF Das Ausstrahlungsphänomen Gottfried Benns Nietzsche-Projektionen ......................................231 ECKHARD HEFTRICH Thomas Manns Nietzsche im Lichte der Erfahrungen .................247 JACQUES LE RIDER André Malraux und Nietzsche .......................................................269 GILBERT MERLIO Sisyphos und der Übermensch Auf den Spuren Nietzsches bei Camus ..........................................283 RÜDIGER GÖRNER Zarathustra als Wiedergänger in der Moderne Oder: Wie man mit Nietzsche experimentiert ...............................313 Autorenverzeichnis ..........................................................................331
Henry van de Velde: Illustration zur Erstausgabe des ›Ecce homo‹ Leipzig: Insel 1908. © Klassik Stiftung Weimar
Thorsten Valk
Friedrich Nietzsche Musaget der literarischen Moderne Nur wenige Jahre nach dem politischen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands resümieren mit Thomas Mann und Gottfried Benn zwei Hauptvertreter der literarischen Moderne die Bedeutung Friedrich Nietzsches für die soziokulturelle Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts. Sie erörtern den weitreichenden Einfluss, den Nietzsches Philosophie auf fast alle Bereiche der ästhetischen Moderne ausgeübt hat, und fragen nach dem inneren Zusammenhang zwischen Autor und Werk. In der Einschätzung des von Nietzsche verfassten Œuvres gehen Manns und Benns Ansichten erwartungsgemäß auseinander, in der Bewertung seiner außergewöhnlichen Wirkung hingegen konvergieren ihre Ausführungen. Beide Schriftsteller sehen in Nietzsche den bedeutendsten Propheten der Moderne und attestieren seinem philosophischen Werk eine Weitsicht, mit der die radikalen Traditionsbrüche und revolutionären Aufschwünge des frühen 20. Jahrhunderts hellseherisch vorweggenommen seien. 1950 bilanziert Gottfried Benn in seinem Nietzsche-Essay: »Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese«.1 Friedrich Nietzsche steht am Beginn einer Moderne, die sich selbst als krisenhaft erfährt und dieser Krisenerfahrung zumindest anfangs mit einem mentalen Rückzug in die Historie begegnet. Die irritierenden Entwicklungen der Gegenwart werden durch eine meist vordergründige Wiederbelebung historischer Stile abgeblendet und durch einen übersteigerten Vergangenheitskult in ihrem Bedrohungspotential neutralisiert. Man frönt einem fragwürdigen Historismus und verbirgt hinter neogotischen sowie neoklassizistischen Fassaden, was nicht mehr zu verheimlichen ist. Die im späten 19. Jahrhundert nahezu omnipräsente Vergangenheitsfixierung fin-
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Gottfried Benn: Nietzsche – nach fünfzig Jahren. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. v. Dieter Wellershoff. Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. Stuttgart 81993. S. 482–493, hier S. 482.
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det in Nietzsche einen scharfsichtigen Kritiker, der die unabwendbaren Konsequenzen der anbrechenden Moderne luzide benennt, das sterile Epigonentum seiner Epoche schonungslos attackiert und das verlogene Wertesystem der bürgerlichen Gesellschaft demaskiert. Wie ein Seismograph registriert Nietzsche die ersten Stöße jenes Erdbebens, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Fundamente der alteuropäischen Kulturtradition irreversibel erschüttern wird. Nietzsche ist ein radikaler Aufklärer, der den leeren Bildungsoptimismus und die religiöse Bigotterie seiner Zeit ebenso scharf kritisiert wie das hohle Innerlichkeitspathos einer ökonomisch prosperierenden und kulturell zunehmend orientierungslosen Bourgeoisie. Indessen wirkt Nietzsche nicht nur als radikaler Aufklärer, sondern auch, und dies insbesondere während seiner letzten Schaffensphase, als Visionär. Sein bedingungsloser Kampf gegen die abendländische Metaphysik führt gerade nicht in die Sackgasse des Nihilismus, sondern stimuliert vielmehr eine kultische Verabsolutierung des Lebens. In den Werken seiner letzten Schaffensphase erhebt Nietzsche das diesseitige Leben zum absoluten Wert. Was dem Leben dient, ist mit Nachdruck zu fördern, was sich hingegen als abträglich erweist, sei es der sklerotische Historismus des 19. Jahrhunderts, sei es das restriktive Wertekorsett der bürgerlichen Gesellschaft, muss ohne Rücksicht überwunden werden. Nietzsche propagiert eine »Umwertung aller Werte«, die zum Anbruch eines neuen Zeitalters führen soll. Als dessen Repräsentant figuriert der sogenannte Übermensch, der aus dem Bannkreis des sokratischen Rationalismus und christlichen Spiritualismus heraustritt, um wie ein Künstler in schöpferischer Autonomie und ohne Jenseitsorientierung seine Lebenswelt zu gestalten. I Die öffentliche Auseinandersetzung mit Nietzsches Œuvre setzt um 1890 abrupt ein, hauptsächlich in Deutschland und Frankreich, mit einer gewissen Verzögerung auch in Italien und anderen europäischen Ländern. Ausgelöst wird die Rezeption in erster Linie durch jene Werke, die während der 1880er Jahre in rascher Abfolge erscheinen. Eine besondere Faszination geht dabei von Nietzsches Zarathustra aus, dessen vitalistisches Credo zahlreiche Leser elektrisiert. Nicht minder begeisternd wirkt die dithyrambisch bewegte Sprache in Nietzsches Werken. Die fesselnde und mitreißende Diktion, die wegen ihrer sprachschöpferischen Potenz wiederholt mit Luthers Bibeldeutsch verglichen wird, ist ohnegleichen in der Literatur des 19. Jahrhunderts und bildet in der frühen Nietzsche-Rezeption den Ausgangspunkt zahlreicher Würdigungen. Leo Berg etwa erklärt bereits 1889, Nietzsches Diktion übersteige alles, was in deutscher Sprache je
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verfasst worden sei: »Man mag einst über Nietzsche denken, wie man will«, resümiert er, »über den Schriftsteller in ihm wird es bald keinen Zweifel mehr geben. Er ist der größte Virtuose der deutschen Sprache«.2 Nietzsches Sprachgewalt wird nicht nur einhellig bewundert, sondern auch hinsichtlich ihrer stilprägenden Wirkung auf die deutsche Literatur des frühen 20. Jahrhunderts hervorgehoben. Sie erweist sich als Leuchtfeuer für eine ganze Epoche, der das Vertrauen in die authentischen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache abhandenzukommen droht. In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 konstatiert Thomas Mann mit Blick auf das Sprachgenie Nietzsche: »Er verlieh der deutschen Sprache eine Sensitivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft – ganz unerhört bis dahin und von unentrinnbarem Einfluss auf jeden, der nach ihm deutsch zu schreiben sich erkühnte«.3 Neben dem dithyrambischen Sprachgestus und den visionären Aufbruchsappellen der späten Werke ist es immer wieder auch Nietzsches Persönlichkeit, die insbesondere bei der nach 1860 geborenen Schriftstellergeneration Aufsehen erregt. Die exzentrische Biographie des Philosophen zieht viele angehende Autoren in ihren Bann: zunächst der glanzvolle akademische Aufstieg in jungen Jahren und die enge Verbindung mit Richard Wagner, dann der unheilbare Bruch mit dem Freund sowie der Rückzug aus dem Professorenamt, das freie Schriftstellerleben, die soziale Außenseiterexistenz und schließlich die geistige Umnachtung. All dies beeindruckt Nietzsches junge Leser, die gegen den traditionellen Lebensstil ihrer Herkunftssphäre aufbegehren und der geistigen Enge ihres bürgerlichen Milieus zu entkommen versuchen. Zahlreiche Schriftsteller, die heute zu den bedeutendsten Repräsentanten der klassischen Moderne gerechnet werden, lesen Nietzsche bereits im jugendlichen Alter: Hugo von Hofmannsthal lernt den Autor des Zarathustra mit sechzehn oder siebzehn Jahren kennen, Robert Musil mit achtzehn Jahren, Heinrich und Thomas Mann sowie Rainer Maria Rilke studieren Nietzsche im Alter von etwa zwanzig Jahren. Alfred Döblin verfasst als Zwanzigjähriger bereits mehrere Aufsätze, die dem Werk Nietzsches gewidmet sind. Kurz vor 1900 rückt Friedrich Nietzsche für viele junge Autoren in den Rang eines messianischen Heilsbringers auf. Schriftsteller wie Richard Dehmel und Christian Morgenstern wenden sich in enthusiastischen Briefen an den geistig Umnachteten oder auch stellvertretend an seine Mutter
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Leo Berg: Friedrich Nietzsche. Studie. In: Deutschland Nr. 9 u. 10. Berlin 1889, S. 148– 149 u. S. 168–170, hier S. 168. Thomas Mann: Gesammelte Werke. 13 Bände. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 12: Reden und Aufsätze 4, S. 86f.
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und dedizieren ihm ihre Erstlingswerke. »Der Augenblick, da ich diese Zeilen schreibe, ist einer der feierlichsten und bewegtesten meines Lebens«, erklärt Morgenstern 1895 in einem Widmungsbrief an Nietzsches Mutter anlässlich der Publikation seines Erstlingswerks In Phanta’s Schloß. »Ich, ein junger Mensch von vierundzwanzig Jahren, wage es, meine erste Dichtung in die Hände der Mutter, der ehrwürdigen Mutter, zu legen, die der Welt einen so grossen Sohn geschenkt hat und mir im Besonderen einen Befreier, ein Vorbild, einen Auferwecker zu den höchsten Kämpfen des Lebens«.4 Die Verehrung Nietzsches nimmt um die Jahrhundertwende vielerorts Züge eines Personenkultes an: Zahlreiche Dichtungen feiern den Autor des Zarathustra als Begründer einer neuen Menschheitsepoche und stilisieren ihn, in Fortschreibung seiner späten Selbstinszenierungen, zum ›Christus redivivus‹. In einem um 1900 entstandenen Gedicht von Stefan George wird Nietzsche zur Erlöserfigur der Gegenwart überhöht und mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth verglichen: »Dann aber stehst du strahlend vor den zeiten | Wie andre führer mit der blutigen krone. || Erlöser du!«5 So enthusiastisch die Bekundungen vieler Nietzsche-Verehrer ausfallen, so deutlich lassen sich von Beginn an auch Stimmen vernehmen, die Nietzsche scharf attackieren und als gefährlichen Demagogen verurteilen. Sowohl Vertreter konservativer Kreise als auch Repräsentanten des linken politischen Spektrums bezichtigen den Verfasser des Zarathustra der Egomanie und attestieren ihm einen massiven Realitätsverlust bereits vor dem geistigen Zusammenbruch im Jahre 1890. Nietzsche, so die wiederholt erhobenen Vorwürfe, huldige einem kruden Biologismus und untergrabe das humanistische Wertefundament der bürgerlichen Gesellschaft, er betreibe einen unverantwortlichen Elitekult, erliege einer imperialen Attitüde, sabotiere den sozialen Zusammenhalt und unterminiere die politische Kultur. Die frühe Nietzsche-Rezeption ist durch eine extreme Polarisierung der Meinungen und Einschätzungen geprägt. Die enthusiastischen Huldigungen auf der einen sowie die polemischen Attacken auf der anderen Seite dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zunehmend auch gemäßigte Reaktionen und nüchterne Würdigungen gibt. Vor allem in den Jahren nach 1900 finden sich immer häufiger vermittelnde Stellungnahmen, die Anerkennung und Kritik miteinander verknüpfen, sodass das
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Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Kommentierte Stuttgarter Ausgabe. Unter der Ltg. v. Reinhardt Habel hg. v. Katharina Breitner u. a. Bd. 7: Briefwechsel 1878–1903. Hg. v. Katharina Breitner. Stuttgart 2005, S. 265. Stefan George: Nietzsche. In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. v. der StefanGeorge-Stiftung. Stuttgart 1982ff. Bd. 6/7: Der Siebente Ring. Stuttgart 1986, S. 12f., hier S. 12.
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strikte Entweder-Oder der frühen Rezeptionsphase oftmals überwunden wird. Zu den prominentesten Vertretern dieser kritisch distanzierten Anerkennung gehört Thomas Mann, der den weitreichenden Einfluss Nietzsches auf sein literarisches Werk wiederholt hervorhebt, ohne indessen die Wertungen des Philosophen vorschnell zu übernehmen. Mann wendet sich schon früh gegen Nietzsches Vitalismus und karikiert ihn nicht selten in seinen Erzählungen. Zugleich aber würdigt er den Philosophen als hellsichtigen Psychologen, der wie kein anderer seiner Zeit die mentalen Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft aufgedeckt habe. In den Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 rekapituliert er Nietzsches Einfluss auf seine Entwicklung als Schriftsteller: »Nicht so sehr der Prophet irgendeines unanschaulichen ›Übermenschen‹ war er mir von Anfang an, wie zur Zeit seiner Modeherrschaft den meisten, als vielmehr der unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Dekadenz«.6 Thomas Mann unterscheidet in den Betrachtungen eines Unpolitischen zwischen zwei Perspektiven auf Nietzsche und sein Werk: Auf der einen Seite sieht er den visionären und hymnisch begeisterten Nietzsche, dessen Adepten vornehmlich den Zarathustra feiern, auf der anderen Seite erkennt er den kritischen und psychologisch geschulten Nietzsche, dessen Anhängerschaft Werke wie die Unzeitgemäßen Betrachtungen schätzt. Thomas Mann grenzt die beiden Seiten Nietzsches gegeneinander ab und lässt aus ihnen zwei unterschiedliche Rezeptionstypen erwachsen. Bereits 1910 unterscheidet er in einer Essaynotiz zwischen dem ›Nietzsche triumphans‹ und dem ›Nietzsche militans‹.7 Wie noch zu zeigen sein wird, stehen sich diese beiden Typen in der Nietzsche-Rezeption des 20. Jahrhunderts immer wieder gegenüber – und je nach geistigem Klima und zeitgeschichtlicher Entwicklung gewinnt mal der eine, mal der andere Typus die Oberhand. Die Rezeption Friedrich Nietzsches im frühen 20. Jahrhundert weist eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf. Nietzsche ist eine geistige Autorität, die sich nicht ignorieren lässt und fast zwangsläufig zur Stellungnahme herausfordert. Besonders aufschlussreich ist dabei, dass Anerkennung und Ablehnung bei vielen Schriftstellern extremen Schwankungen unterliegen, wobei die Motive und Ursachen dieser Schwankungen höchst unterschiedlich sein können. Bei Reinhard Johannes Sorge, einem Wegbereiter des expressionistischen Dramas, spielen beispielsweise religiöse Überzeugungen eine Rolle. Sie führen dazu, dass Sorge innerhalb weniger Jahre aus dem Kreis der Nietzsche-Anhänger in das Lager der ent-
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Thomas Mann: Gesammelte Werke (Anm. 3). Bd. 12: Reden und Aufsätze 4, S. 79. Hans Wysling: Geist und Kunst. Thomas Manns Notizen zu einem ›Literatur-Essay‹. In: Paul Scherrer u. Hans Wysling: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern, München 1967, S. 123–233, hier S. 208 (Edition und Kommentar).
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schiedenen Gegner überläuft. Interessanterweise versucht Sorge zwischenzeitlich, seine christliche Religiosität mit Nietzsches Lebensphilosophie zu amalgamieren. Als dieser waghalsige Syntheseversuch scheitert, konvertiert Sorge endgültig zum Katholizismus und richtet zugleich einen Bannstrahl gegen den nunmehr als luziferischen Verführer geschmähten Philosophen. Im Gegensatz zu Sorge, bei dem religiöse Motive für einen Wandel des Nietzsche-Bildes verantwortlich sind, geben bei anderen Autoren gesellschaftspolitische Entwicklungen den Ausschlag. Der noch junge Heinrich Mann beispielsweise bringt Nietzsches Vitalismus anfangs großes Interesse entgegen und thematisiert ihn als Kulturphänomen seiner Zeit in der Romantrilogie Die Göttinnen. Mit der zunehmenden Politisierung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg distanziert sich Heinrich Mann jedoch mehr und mehr von Nietzsche, der nunmehr als Antidemokrat und Antihumanist kritisiert wird. Ebenfalls politisch motiviert ist die Revision des Nietzsche-Bildes bei Alfred Döblin, der sich kurz nach der Jahrhundertwende noch überwiegend positiv zum Lebensbegriff des Zarathustra äußert, diese Zustimmung jedoch revidiert, als Nietzsche zunehmend von rechtskonservativen Kreisen vereinnahmt wird. Eine weitere, besonders interessante Facette der literarischen Nietzsche-Rezeption bildet die Auseinandersetzung vieler Schriftsteller mit der oftmals vordergründigen und von fragwürdigen Prämissen ausgehenden Begeisterung für den Philosophen. Es geht in diesem Kontext somit nicht primär um Nietzsches Werke, sondern um deren naive und unkritische Rezeption durch berauschte Adepten. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts formiert sich vielerorts eine Opposition gegen die ideelle Trivialisierung des von Nietzsche hinterlassenen Œuvres. Dabei wird der Philosoph verschiedentlich gegen seine zweifelhafte Jüngerschaft in Schutz genommen, wiederholt jedoch auch für seine Anhängerschaft verantwortlich gemacht. Heinrich Mann etwa erklärt in einer bereits 1896 verfassten Skizze zum Verhältnis zwischen dem Philosophen und seinen dubiosen Anhängern: »Nietzsche ist noch zu sehr Modephilosoph, um ganz gerecht beurteilt und ohne Voreingenommenheit verstanden zu werden. Der Beifall derer, die ihn zu lieben vorgeben, die mit ihm prunken, sich auf ihn berufen, flößt uns leicht Mißtrauen ein. […] Welche Bedeutung darf man einem Philosophen, der sich ein so zweifelhaftes Gefolge erworben hat, für die deutsche Kultur noch beimessen?«.8 Die vielfach exaltierte Bewunderung für Nietzsches Philosophie im frühen 20. Jahrhundert provoziert Autoren wie Thomas Mann und Robert Musil, im Kontext ihrer Epochenromane wiederholt karikatureske Nietzsche-Adepten auftreten zu lassen und so die Ba-
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Heinrich Mann: Zum Verständnisse Nietzsches. In: Das zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt 6 (1896), H. 9, S. 245–251, hier S. 245.
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nalisierung Nietzsches zu persiflieren. In Robert Musils Mann ohne Eigenschaften etwa führt die von kruden Virilitätsphantasien beherrschte Clarisse einen fortdauernden Ehekrieg mit ihrem Gatten Walter, der sich Wagners dekadenter Musik ergeben hat und daher den vitalistischen Männlichkeitsobsessionen seiner Frau nicht zu genügen vermag.9 Thomas Manns Doktor Faustus verspottet den vordergründigen Nietzsche-Kult in der Figur des schwächlichen Kunsthistorikers Helmut Institoris, der für heroische Größe schwärmt und die moralische Indifferenz des gesunden Lebens propagiert: Institoris war in der Tat kein starker Mann, – was sich auch an der ästhetischen Bewunderung erkennen ließ, die er für alles Starke und rücksichtslos Blühende hegte. Er war ein blonder Langschädel, eher klein und recht elegant, mit glattem, gescheiteltem, etwas geöltem Haar. Den Mund überhing leicht ein blonder Schnurrbart, und hinter der goldenen Brille blickten die blauen Augen mit zartem, edlem Ausdruck, der es schwerverständlich – oder vielleicht eben gerade verständlich – machte, daß er die Brutalität verehrte, natürlich nur, wenn sie schön war. Er gehörte dem von jenen Jahrzehnten gezüchteten Typ an, der, wie Baptist Spengler es einmal treffend ausdrückte, »während ihm die Schwindsucht auf den Wangenknochen glüht, beständig schreit: Wie ist das Leben so stark und schön!«10
II Wenngleich die literarische Nietzsche-Rezeption von Beginn an durch einen außerordentlichen Facettenreichtum und eine extreme Vielstimmigkeit charakterisiert wird, lassen sich mehrere Rezeptionsphasen gegeneinander abgrenzen. Aufschlussreich ist dabei, dass die bereits von Thomas Mann profilierten Rezeptionstypen des ›Nietzsche triumphans‹ und des ›Nietzsche militans‹ in einem dauerhaften Spannungsverhältnis zueinander stehen, miteinander konkurrieren und wiederholt einander ablösen. Die erste Rezeptionsphase setzt um 1890 ein und erstreckt sich etwa bis zur Jahrhundertwende. Ein markantes Kennzeichen dieser ersten Periode ist die polarisierte Auseinandersetzung mit Nietzsche. Seiner scharfen Ablehnung auf der einen Seite steht eine fast kultische Verehrung auf der anderen Seite gegenüber. Der geistig umnachtete und zunächst von seiner Mutter, später von seiner Schwester gepflegte Philosoph gilt vielen Zeitgenossen als Märtyrer und Erlöser zugleich. Zahlreiche Künstler pilgern zu ihm,
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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2 Bände. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. Bd. 1, S. 47–54. Thomas Mann: Gesammelte Werke (Anm. 3). Bd. 6: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, S. 381f.
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um sich von seiner Gegenwart inspirieren zu lassen. Seine geistige Umnachtung interpretieren sie wiederholt als Ausdruck einer radikal vergeistigten Existenzweise, die aller menschlichen Teilhabe entrückt ist. Die kultische Verehrung Nietzsches auf der einen und seine Zurückweisung auf der anderen Seite strahlen erwartungsgemäß auch auf die Rezeption seiner Werke ab. Eine differenzierte Würdigung des Philosophen ist unter diesen Umständen ebenso wenig möglich wie eine nüchterne geistesgeschichtliche Einordnung seines Denkens. Jenseits des Personenkults, der sich um Nietzsche rankt, ist die erste Rezeptionsphase zudem durch eine extreme Fokussierung auf den Zarathustra gekennzeichnet. Viele Autoren kennen lediglich diese eine Schrift, in der sie freilich bereits den ganzen Nietzsche zu erfassen glauben. Man identifiziert sich mit den Lehren Zarathustras und feiert ihn als chiliastischen Wegweiser in ein neues Zeitalter. Man ist mitgerissen von der Dynamik des dithyrambischen Redeflusses und berauscht sich an plakativen Begriffen wie »Übermensch«, »Blonde Bestie« und »Herrenmoral«. Nicht wenige Autoren umgehen die Mühe einer eigenen Lektüre gleich ganz und greifen lediglich die in Umlauf befindlichen Schlagworte auf, mit denen sich trefflich gegen die Décadence polemisieren lässt. Ein Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, der sich bereits in den neunziger Jahren intensiv mit Nietzsche auseinandersetzt und einige seiner Werke mehrfach studiert, stellt eine Ausnahme dar. Viele Autoren wie die heute nahezu vollständig vergessenen Schriftsteller Michael Georg Conrad und Hermann Conradi kennen Nietzsche nur aus zweiter Hand. Sie imitieren die pathetischen Sprachgebärden des Zarathustra und greifen auf zumeist banale Weise dessen vitalistisches Credo auf. Die literarischen Zeugnisse der frühen Nietzsche-Rezeption können heute meist nur noch historisches Interesse beanspruchen. Mit dem Tod Nietzsches im Jahre 1900 setzt eine zweite Rezeptionsphase ein, die sich insbesondere durch eine zunehmend differenzierte Würdigung des Philosophen auszeichnet. Das grassierende Zarathustra-Fieber lässt allmählich nach, sodass mehr und mehr auch andere Werke ins Blickfeld rücken. Nietzsche wird zwar weiterhin als Verkünder eines vitalistischen Lebensbegriffs und als Visionär eines neuen Zeitalters rezipiert, doch würdigt man ihn nunmehr auch verstärkt als unbeirrbaren Kulturkritiker und hellsichtigen Psychologen der bürgerlichen Gesellschaft. Kennzeichnend für die zweite, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs andauernde Rezeptionsphase ist nicht zuletzt die zunehmende gedankliche Komplexität der künstlerischen Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie. Anders als viele Autoren des späten 19. Jahrhunderts interpretieren Dichter wie Stefan George und Rudolf Borchardt auf eigenständige, ja oftmals auch eigenwillige Weise die Ideen und Thesen des Philosophen. Zudem setzen sie den dithyrambischen Sprachgesten seiner späten Werke eine mitunter
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statuarische Diktion entgegen, wie die frühe Fassung der Bacchischen Epiphanie von Rudolf Borchardt aus dem Jahre 1901 exemplarisch verdeutlicht. Borchardts Hymnus evoziert die Gewalt des Dionysischen in einer apollinisch gebändigten Sprache und stellt auf diese Weise eine spannungsreiche Balance zwischen Inhalt und Form her. Bereits die Eingangszeilen vergegenwärtigen diese Spannung: Zwischen Greif und Sphinge schreitend Kam der Rosenübergossne, Unerforschtem Thal entsprossne, Mit dem goldenen Horn. Zwischen seinen Füßen gleitend Schlichen Panther, und es scheuchten Nackte mit erhobnen Leuchten Sie von seinem Pfad.11
Rudolf Borchardt setzt sich in der Bacchischen Epiphanie, deren letzte Fassung auf insgesamt 38 Strophen anwächst, produktiv mit der von Nietzsche etablierten Polarität zwischen Dionysischem und Apollinischem auseinander. Er nutzt sie, ähnlich wie Thomas Mann in seiner neoklassischen Erzählung Der Tod in Venedig, als Grundstruktur seines Gedichts: Ein auf Maß und formale Disziplin ausgerichteter Stilwille äquilibriert den schöpferischen und das ›principium individuationis‹ aufsprengenden Rausch des elementaren Lebens. Im literarischen Expressionismus, der um 1910 anhebt, findet die künstlerische Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche ihre Fortsetzung. Dem Gegensatz zwischen Dionysischem und Apollinischen kommt auch weiterhin eine zentrale Bedeutung zu, wie Gottfried Benns Karyatide aus dem Jahr 1916 eindringlich vor Augen führt. Anders als Borchardts Bacchische Epiphanie strebt Benns Gedicht keine Balance zwischen dionysisch exaltiertem Inhalt und apollinisch disziplinierender Form an. Vielmehr realisiert sich bei ihm der Durchbruch dionysischer Lebensdynamik in einer wilden Diktion mit hämmernden Apostrophen, jagenden Imperativen und kühnen Enjambements: »Entrücke dich dem Stein! Zerbirst | die Höhle, die dich knechtet! Rausche | doch in die Flur! Verhöhne die Gesimse«.12 Heftig bewegte Appelle eröffnen Benns Gedicht, in dessen mittlerer Sequenz das schon von Nietzsche wiederholt eingesetzte Tanzmotiv die Sehnsucht nach einem dionysisch entfesselten Leben vergegenwärtigt: »Stürze |
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Rudolf Borchardt: Bacchische Epiphanie. Textkritisch hg. u. mit einem Nachwort v. Bernhard Fischer. München 1992, S. 3–6, hier S. 3. Gottfried Benn: Karyatide. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden (Anm. 1). Bd. 3: Gedichte. Stuttgart 91993, S. 45.
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die Tempel vor die Sehnsucht deines Knies, | in dem der Tanz begehrt«.13 Der berauschende Tanz sprengt alle Verfestigungen der rational gebändigten Wirklichkeit auf und lässt den Menschen die Fesseln seiner Individualität abstreifen. Das Spannungsgefüge zwischen Dionysischem und Apollinischem wird im Expressionismus zwar wiederholt aufgegriffen, doch dominieren auch weiterhin die Zukunftsvisionen des Zarathustra, der sich insbesondere im Vorfeld des Ersten Weltkriegs einer wachsenden Popularität erfreut und nach der Mobilmachung im Herbst 1914 zahlreiche deutsche Soldaten an die Front begleitet. Die vom Zarathustra ausgehende Aufbruchseuphorie stimuliert die von vielen Expressionisten verfolgte Idee einer Erneuerung des Menschen. Bei manchen Schriftstellern entfacht sie sogar eine Begeisterung, die der hymnischen Nietzsche-Adoration um die Jahrhundertwende nicht nachsteht. Die expressionistischen Autoren greifen zwar Nietzsches Idee einer grundlegenden Erneuerung des Menschen auf, huldigen aber nicht mehr dem aristokratischen ›Übermenschen‹. An dessen Stelle tritt fortan der ›neue Mensch‹, der sich vom Ideal der Gemeinschaft und Solidarität leiten lässt. Nietzsches elitärer Individualismus weicht somit einem zumeist christlich inspirierten Kommunitarismus. Neben dem ›Übermenschen‹ weist der Expressionismus auch Nietzsches Negation der Transzendenz zurück, da sich ein neues Interesse an metaphysischen Fragen geltend macht. Der Begriff ›Gott‹ gewinnt eine neue Dignität, auch wenn er sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher, zumeist nur vage entwickelter Transzendenzentwürfe bezieht. Das von Georg Kaiser kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasste Drama Die Bürger von Calais vergegenwärtigt exemplarisch sowohl die Transformation des ›Übermenschen‹ in einen ›neuen Menschen‹ als auch das wieder erstarkende Bedürfnis nach metaphysischen Bezugspunkten. Kaisers Erneuerungsdrama verbindet Gedanken des Urchristentums mit Thesen Nietzsches und verkündet in einer bisweilen skurrilen Mischung aus altertümlicher Bibelsprache und suggestivem Zarathustra-Pathos die Idee des neuen Menschen. Charakteristisch für die Ausrichtung an Nietzsches Philosophie ist vor allem der das gesamte Drama bestimmende Voluntarismus, der sich in leitmotivisch wiederkehrenden Begriffen wie ›Wille‹ und ›Tat‹ zu erkennen gibt. Die Idee des ›neuen Menschen‹ hingegen rekurriert primär auf christlich-paulinische Vorstellungen, wie sie im ersten Brief an die Korinther formuliert werden: »Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel« (1 Kor 15,47). Auch wenn der ›neue Mensch‹ in Georg Kaisers ex-
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Ebenda.
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pressionistischem Drama nicht Christus, sondern der sich selbst erneuernde Mensch ist, erweist sich das paulinische Erbe als prägend. Die Bürger von Calais kombinieren somit einen von Nietzsche inspirierten Voluntarismus mit einem christlich affizierten Altruismus im Zeichen der Erneuerungsidee. Die dritte, in den zwanziger Jahren anhebende Phase der NietzscheRezeption steht unter dem Eindruck des verlorenen Weltkriegs. Die von vielen expressionistischen Autoren formulierte Hoffnung auf eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft hat sich als Illusion erwiesen. Die Fundamente des alten Europa sind zwar nach vier Kriegsjahren irreversibel zerstört, doch von den Schlachtfeldern kehrt weder Nietzsches ›Übermensch‹ noch der vom Expressionismus herbeigesehnte ›neue Mensch‹ zurück. Die euphorischen Aufbruchsgebärden der Vorkriegsliteratur sind obsolet geworden und weichen dem Ideal einer kühlen und distanzierten Sachlichkeit, die sich in fast allen Kunstgattungen durchzusetzen beginnt. Nietzsches Zarathustra, der bis zum Ausbruch des Krieges vielfach als chiliastischer Prophet verehrt worden ist, gerät nunmehr unweigerlich in die Kritik. Die exaltierte Dithyrambik seiner Sprache erscheint ebenso wie der utopische Überschwang seiner Visionen nicht mehr zeitgemäß. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren wird Nietzsche nicht länger als Künder eines neuen Zeitalters rezipiert, sondern vornehmlich als Kulturkritiker und Psychologe gewürdigt. Zudem entdeckt man in ihm den Aphoristiker und experimentellen Denker, dessen Philosophie keine geschlossenen Argumentationshorizonte akzeptiert und immer wieder neue Perspektiven auf identische Sachverhalte wählt. Der experimentelle Denker Nietzsche fasziniert viele Autoren der Weimarer Republik und findet vor allem im literarischen wie aphoristischen Œuvre Robert Musils einen adäquaten Resonanzraum. Musil übernimmt Nietzsches Negation des metaphysisch fundierten Wahrheitsbegriffs und konstatiert wie dieser, dass es keine objektive und absolute Wahrheit, sondern lediglich relative, mithin subjektiv gebundene und zeitlich limitierte ›Wahrheiten‹ gebe. Musil suspendiert wie vor ihm schon Nietzsche jede Form des Systemdenkens, das nicht nur eine objektiv gültige und intersubjektiv verbindliche Wahrheit, sondern auch ein einheitliches und geschlossenes Weltbild voraussetzt. Nietzsches experimentelles Denken, das Musil bereits seit der Jahrhundertwende beschäftigt, bildet gleichsam die gedankliche und formale Grundstruktur des ab 1921 entstehenden Epochenromans Der Mann ohne Eigenschaften. Vor allem die vom Protagonisten Ulrich verfochtene Idee des »potentiellen«, sich ständig auf neue Möglichkeiten hin entwerfenden Menschen greift unverkennbar auf Nietzsches Philosophie zurück. Ulrich geriert sich als Experimentator des Lebens und weicht allen biographischen Fixierungen aus, um sich für das Unkalkulierbare und Unvorhersehbare
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offenzuhalten. Damit aber löst sich die Kohärenz der Realität auf: Der Mensch und seine ihn umgebende Wirklichkeit werden zunehmend nur noch als Stoff des Möglichen, des Potenziellen und des ad infinitum Veränderbaren angesehen. Ungeachtet seiner Lebensführung im Zeichen des offenen Experiments kann der Protagonist Ulrich allerdings nur eingeschränkt als Nietzsche-Anhänger bezeichnet werden. So charakterisieren ihn eine ausgeprägte Reflexivität und eine daraus erwachsende Passivität, die sich mit dem Vitalismus und Voluntarismus der späten NietzscheSchriften nicht zur Deckung bringen lassen. Musil interessiert sich während der zwanziger und dreißiger Jahre vornehmlich für den experimentellen Denker Nietzsche, für den Aphoristiker, der jede thetische Setzung relativiert und zu jedem Argument ein Gegenargument bereithält. Zugleich fasziniert ihn freilich auch Nietzsches Enthüllungspsychologie, in der er Freuds revolutionäre Einsichten vorweggenommen sieht. Im Mann ohne Eigenschaften erklärt der Erzähler mit Blick auf Ulrich: Er haßte die Menschen, die nicht nach dem Nietzsche-Wort ›um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden‹ können; die Umkehrenden, Verzagten, Weichlichen, die ihre Seele mit Faseleien von der Seele trösten und sie, weil ihr der Verstand angeblich Steine statt Brot gibt, mit religiösen, philosophischen und erdichteten Gefühlen ernähren, die wie in Milch aufgeweichte Semmeln sind.14
Die Nietzsche-Rezeption während der zwanziger und frühen dreißiger Jahre zeichnet sich durch ein intensives Interesse an den kulturkritischen Äußerungen des Philosophen sowie an seinen aphoristischen Denkexperimenten aus. Charakteristisch für diese Rezeptionsphase ist zudem auch die fortschreitende Historisierung des von Nietzsche hinterlassenen Œuvres. Die Epoche, in deren zeitlichem Umfeld Nietzsche sein philosophisches Werk verfasst hat, ist inzwischen so weit abgerückt, dass es sich nicht länger gegen eine geistesgeschichtliche Einordnung sperrt. Immer deutlicher zeigt sich nunmehr auch das Zeitgebundene in Nietzsches Schriften, ihre Verknüpfung mit den spezifischen Problemlagen des späten 19. Jahrhunderts. Der historisch distanzierende Blick auf Nietzsches Philosophie prägt in überaus charakteristischer Weise das erzählerische und essayistische Œuvre Thomas Manns und tritt als spezifisches Kennzeichen vor allem während der dreißiger und vierziger Jahre in den Vordergrund. Unter dem Eindruck der ideologischen Ausbeutung Nietzsches durch die nationalsozialistische Parteipropaganda bemüht sich Mann um eine historische Herleitung des Phänomens Nietzsche und um eine mentalitätsgeschichtliche Einordnung seiner weitreichenden Wirkung. Als er 1947 den Doktor
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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Anm. 9). Bd. 1, S. 46.
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Faustus vollendet und den Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung verfasst, hat mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits eine neue Epoche begonnen. Thomas Manns Versuche einer historischen Einordnung Nietzsches werden sowohl im Doktor Faustus als auch im Essay von 1947 mit einer grundlegenden Kritik verwoben. Diese zielt vor allem auf den abstrakten Radikalismus, der Nietzsches Denken charakterisiert. Für Thomas Mann ist Nietzsches Philosophie durch eine Verabsolutierung des Lebens gekennzeichnet. Dieses Leben aber, so Mann, wird von Nietzsche weder an den Bedingungen der konkreten Realität noch an den Erfordernissen der sozialen Praxis gemessen und bleibt infolgedessen abstrakt. Thomas Mann betrachtet Nietzsches Lebensbegriff als Resultat einer intellektuellen Artistik, die sich vor keiner Instanz zu verantworten bereit ist. In Nietzsche sieht er deshalb auch den »vollkommensten und rettungslosesten Ästheten« der europäischen Kulturgeschichte: Er hat sein Leben lang den ›theoretischen Menschen‹ vermaledeit, aber er selbst ist dieser theoretische Mensch par excellence und in Reinkultur, sein Denken ist absolute Genialität, unpragmatisch zum Äußersten, bar jeder pädagogischen Verantwortung, von tiefer Politiklosigkeit, es ist in Wahrheit ohne Beziehung zum Leben, dem geliebten, verteidigten, über alles erhobenen, und nie hat er sich die geringste Sorge darum gemacht, wie seine Lehren sich in praktischer, politischer Wirklichkeit ausnehmen würden.15
Für Nietzsche gibt es keine Instanz, vor der sich das Leben verantworten muss. Daher negiert er auch die Möglichkeit, das Leben für seine unterschiedlichen Äußerungsformen, und seien sie noch so unmoralisch, zur Rechenschaft zu ziehen. Gegen diesen programmatischen Immoralismus setzt Thomas Mann die im menschlichen Geist gründende Humanität. Als geistiges Wesen, so Mann, überschreitet der Mensch die Grenzen, die ihm als physischem Wesen von der Natur und vom Leben gesetzt werden. Das Leben hat sich vor dem Geist zu verantworten, der Geist »ist die Selbstkritik des Lebens«.16 Die fatalen Konsequenzen einer Lebensphilosophie, die keine soziale Praxisverantwortung kennt, vergegenwärtigt Thomas Mann an Nietzsches Indienstnahme durch den Nationalsozialismus. Zwar bewertet Mann die nationalsozialistische Aneignung der von Nietzsche hinterlassenen Werke als perverse Trivialisierung seiner Philosophie, gleichwohl misst er Nietzsches abstrakte Verherrlichung des Lebens und seinen moralisch indifferenten Vitalismus an der historischen Wirklichkeit des Dritten Reiches.
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Thomas Mann: Gesammelte Werke (Anm. 3). Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, S. 709. Ebenda, S. 695.
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Weder im Doktor Faustus noch im Essay von 1947 erklärt Mann Nietzsche zum Vordenker des Nationalsozialismus, doch er diagnostiziert in seinem philosophischen Werk eine für die Vorgeschichte des Nationalsozialismus symptomatische Tendenz zum radikalen Denken. In seinem Essay von 1947 resümiert Thomas Mann: »In mehr als einem Sinn ist Nietzsche historisch geworden«.17 Mit diesem Diktum ist ein Zweifaches gemeint: In den Augen Thomas Manns hat Nietzsches Denken die deutsche Kulturgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst – es hat auf diese Weise Geschichte gemacht. Zugleich weist Manns Äußerung jedoch auch darauf hin, dass Nietzsches Denken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs obsolet geworden ist. Nietzsche erscheint nunmehr als Repräsentant des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Als Psychologe der Décadence, als Kritiker des Historismus sowie als Verfasser einer radikalen Menschheitsutopie ist er tief in die geistigen Kontexte seiner Epoche eingebunden. Sein philosophisches Werk gehört einem Zeitalter an, das mit dem Zweiten Weltkrieg an ein Ende gekommen ist. Nietzsche wirkt zwar fort, aber nur noch subkutan und meist ohne explizite Nennung, wie die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur zeigt. III Dass Nietzsches Einfluss auf die Literatur der klassischen Moderne auch jenseits des deutschsprachigen Raumes von fundamentaler Bedeutung ist, demonstriert die französische Rezeption, die bereits vor 1900 einsetzt und binnen weniger Jahre beachtliche Ausmaße annimmt. In keinem zweiten europäischen Land ist Nietzsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts so präsent wie in Frankreich. Die Zeitschriften der intellektuellen Avantgarde drucken differenzierte Analysen zu seinen späten Schriften, noch bevor diese in französischen Übersetzungen erscheinen. Nietzsches exzeptionelle Wirkung westlich des Rheins ist vornehmlich auf zwei Ursachen zurückzuführen: Einerseits herrscht gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein geistiges Klima in Frankreich, das die positive Aufnahme des Zarathustra und anderer Werke besonders begünstigt; andererseits bringt Nietzsche der französischen Kultur in seinen späten Schriften eine Wertschätzung entgegen, die in der von nationalistischen Ressentiments geprägten Epoche um 1900 geradezu einzigartig ist. Während sich Deutsche und Franzosen feindseilig gegenüberstehen, huldigt Nietzsche der romanischen Kultur. Er opponiert gegen die Germanentümelei der Bismarck-Ära und feiert
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Ebenda, S. 710.
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jenes mediterrane Lebensgefühl, das Georges Bizet mit seiner Carmen auf die Opernbühne bringt. Als 1872 die Geburt der Tragödie erscheint, steht Nietzsche noch im Lager der antifranzösischen Fraktion. Der zwei Jahre zuvor gegen den ›Erbfeind‹ angezettelte Waffengang hat ihn wie viele Deutsche in patriotische Begeisterung versetzt. Voller Misstrauen gegen das moderne Frankreich zieht er als Sanitäter freiwillig in den Krieg. Das von Antipathien bestimmte Verhältnis zu Frankreich wandelt sich erst in der Dekade nach 1880. Im Herbst 1883 hält sich Nietzsche für mehrere Monate in Nizza auf und entdeckt während dieser Zeit den Reichtum der französischen Gegenwartsliteratur. Er studiert die Werke von Théophile Gautier, Gustave Flaubert und Guy de Maupassant, er liest die Arbeiten der Brüder Goncourt und stößt schließlich auch auf das lyrische Œuvre Charles Baudelaires. Nietzsche bewundert die Gedichte der Fleurs du mal, die er unter dem Eindruck der Kommentare von Gautier und Bourget kennenlernt. Dessen ungeachtet bleibt das Verhältnis zu Baudelaire ambivalent, immerhin steht der französische Lyriker als Exponent der literarischen Décadence an Wagners Seite. Baudelaire sei »der erste intelligente Anhänger Wagner’s überhaupt« gewesen, erklärt Nietzsche in Ecce homo, was ihn freilich nicht daran hindert, den französischen Sprachkünstler zu verehren und insbesondere während der späten 1880er Jahre wiederholt als ›Alter Ego‹ zu betrachten.18 Eine außerordentliche Wertschätzung bringt Nietzsche dem französischen Opernkomponisten Georges Bizet entgegen, dessen 1875 uraufgeführte Carmen für ihn zum Gegenmodell des Wagner’schen Musikdramas avanciert. Zum ersten Mal hört Nietzsche Bizets Carmen im November 1881 während eines Aufenthaltes in Genua, zum letzten Mal wohnt er einer Aufführung 1888 in Turin bei. Seine Eindrücke finden ihren konkreten Niederschlag im Fall Wagner, in jener Streitschrift also, die die französische Oper als ›mediterrane‹ Tonkunst gegen Wagners ›nordisches‹ Musiktheater in Stellung bringt. Nietzsches dezidierte Hinwendung zur romanischen Kultur während der späten 1880er Jahre korrespondiert mit einer wachsenden Entfremdung von Deutschland, sodass seine Selbstinszenierung als »Südfanatiker«, wie Ernst Bertram schreibt, immer auch als Reaktion auf den irreversiblen Bruch mit der deutschen Gegenwartskunst, vor allem mit Wagners Opernästhetik zu betrachten ist.19 Die ro-
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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Neuausgabe. München 1999. Bd. 6: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, S. 289. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Mit einem Nachwort von Hartmut Buchner. Bonn 81965, S. 128.
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manische Kultur besitzt eine gleichsam semiotische Funktion im Denken Nietzsches: Sie steht zeichenhaft für alles Nicht-Deutsche. Unter den ersten französischen Schriftstellern, die Nietzsches Werke intensiv rezipieren, verdient André Gide besondere Aufmerksamkeit. Bereits in seinem ersten größeren Prosawerk, das 1891 unter dem Titel Cahiers d’André Walter erscheint, ist die geistige Präsenz des deutschen Philosophen offenkundig. Noch entschiedener zeigt sich Nietzsches Einfluss in den Nourritures terrestres von 1897. Erstaunlicherweise hat Gide zeit seines Lebens bestritten, den deutschen Philosophen bereits während der neunziger Jahre gekannt zu haben. Die auffälligen Affinitäten der Nourritures terrestres zum Zarathustra erklärte er denn auch mit dem lapidaren Hinweis, Nietzsches hymnische Bejahung des Lebens habe gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Forderung gleichsam in der Luft gelegen. Dass Gide, wie er immer wieder behauptet hat, Nietzsches Schriften erst um 1900 gelesen habe, muss entschieden angezweifelt werden, immerhin ist der Verfasser des Immoraliste während der neunziger Jahre Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften gewesen, die den Werken Nietzsches ausführliche Besprechungen widmeten und seine Schriften auszugsweise abdruckten. Wie das Frühwerk von Gide vor Augen führt, setzt die Wirkung Nietzsches in Deutschland und Frankreich nahezu zeitgleich ein: Auch westlich des Rheins werden der Zarathustra und andere Schriften bereits vor 1900 von Schriftstellern intensiv rezipiert. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geht die Frühphase der französischen Nietzsche-Rezeption abrupt zu Ende. Der Verfasser des Zarathustra fällt einer antideutschen Agitation zum Opfer und wird nunmehr als Vordenker deutscher Expansionspolitik diskreditiert. Scheinbar legitimiert werden diese Attacken durch Nietzsches ideologische Vereinnahmung im Kontext der deutschen Kriegspropaganda, die aus dem ›reinigenden‹ Kampf gegen den ›Erbfeind‹ den deutschen ›Übermenschen‹ hervorgehen lassen will und daher zehntausende Soldaten mit einer handlichen Tornister-Ausgabe des Zarathustra ins Feld schickt. Wenngleich sich viele französische Autoren von Nietzsche abwenden und einem Nationalchauvinismus anheimfallen, erheben einige Intellektuelle auch weiterhin ihre Stimme für den deutschen Philosophen. Henri Albert etwa, der Nietzsches Schriften seit 1898 im Mercure de France übersetzt, erinnert seine Landsleute, dass Nietzsche eine leidenschaftliche Kritik an Deutschland geübt habe und keineswegs als Propagandist eines pangermanischen Weltmachtstrebens gelten könne. In seinem Vorwort zu einer Neuauflage von Ainsi parlait Zarathoustra bezeichnet er Nietzsches Œuvre 1919 als »ein einzi-
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ges Plädoyer zugunsten der griechisch-lateinischen Kultur«.20 Ungeachtet solcher Parteinahmen hinterlässt die nationalistische Agitation im Umfeld des Ersten Weltkriegs tiefe Spuren, sodass Nietzsches Schriften in den zwanziger Jahren zwar weiterhin gelesen werden, aber keine begeisterte Aufnahme mehr finden. Autoren wie André Gide oder Paul Valéry blicken nicht selten mit ironischer Distanz auf den Theoretiker des europäischen Nihilismus. Eine herausgehobene Stellung nimmt Nietzsche während der zwanziger und dreißiger Jahre im literarischen Œuvre André Malraux’ ein. Wie die meisten Schriftsteller seiner Epoche rezipiert Malraux Nietzsches Schriften bereits als Jugendlicher. Eine erste Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des deutschen Philosophen findet sich in dem 1926 erschienenen Briefroman La Tentation de l’Occident. Wie der sprachliche Duktus und die formale Anlage des Romans demonstrieren, adaptiert Malraux bereits früh Nietzsches charakteristische Diktion. Er bewundert den dithyrambischen Sprachgestus des deutschen Philosophen und hebt daher vielfach dessen Doppelbegabung als ›Denker‹ und ›Schriftsteller‹ hervor. Wie kein zweiter Dichter der zwanziger Jahre übersetzt Malraux Nietzsches Gedankenwelt in konkrete Praxis. Die Bejahung des ›Terrestrischen‹ sowie die Aufforderung zum geistigen Abenteuer werden für ihn zum Maßstab der eigenen Lebensführung. Zahlreiche Reisen führen ihn durch ganz Europa und nach Asien, wo er das politische Engagement sucht und sich wiederholt in militärische Abenteuer verstrickt. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in China, den er in preisgekrönten Romanen literarisch verarbeitet, beteiligt sich Malraux gegen Ende der dreißiger Jahre am spanischen Bürgerkrieg und leitet kurz darauf eine Partisanenbrigade im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Malraux’ asiatische Abenteuer sind ebenso wie seine europäischen Militäreinsätze unter dem Aspekt eines ›aktiven‹ Nihilismus zu betrachten und vor dem Hintergrund einer existentiellen Sinnsuche zu sehen. Die Orientierung an Nietzsches Ideen ist dabei von zentraler Bedeutung, wie der in den vierziger Jahren veröffentlichte Roman Les Noyers de l’Altenburg verdeutlicht, in dem nicht nur der Vater des Erzählers eine Vorlesung über Nietzsches ›Philosophie de l’action‹ hält, sondern der Philosoph auch selbst als Romanfigur auftritt. Wenngleich sich Autoren wie André Malraux zu Nietzsches Gedankenwelt bekennen und deren Einfluss auf das eigene Werk mit Nachdruck hervorheben, wirken die während des Ersten Weltkriegs gegen den deutschen Philosophen gerichteten Angriffe bei vielen Schriftstellern nach. Die
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Henri Albert: Vorwort zur 1919 publizierten Ausgabe von Ainsi parlait Zarathoustra. In: Œuvres complètes de Frédéric Nietzsche. Hg. v. Henri Albert. Ainsi parlait Zarathoustra. Un livre pour tous et pour personne. Übers. v. Henri Albert. Paris 1919, S. VIII.
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von Gustav Stresemann und Aristide Briand vorangetriebene Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich vermag die ideologisch motivierte Kritik nicht abzumildern. Für viele Autoren repräsentiert Nietzsche ein spezifisch ›deutsches‹ Denken, das in einem vermeintlich strikten Gegensatz zur romanischen Geistestradition steht. Auf nahezu paradigmatische Weise manifestiert sich dieses Oppositionsgefüge in einem Essay, den Thierry Maulnier 1933 unter dem Titel Nietzsche veröffentlicht. Der Autor des Zarathustra fungiert hier als Symbolfigur eines ›deutschen‹ Geistes, der sich im Gegensatz zum französischen Cartesianismus nicht vom Licht der Vernunft, sondern von vagen Epiphanien leiten lässt. Rationalismus versus Mystizismus lautet eines der gängigen Oppositionspaare in Maulniers Essay, der Nietzsche als ein ›Opfer‹ des romantischen Erbes bezeichnet: Die »Walhalla Wotans« sei bei ihm lediglich einer »Walhalla des Dionysos« gewichen.21 Indem Maulnier den Gegensatz zwischen Descartes und Nietzsche zu einer fundamentalen Differenz zwischen französischem und deutschem Denken hypostasiert, behauptet er eine nationale Dichotomie, die sich auf nahezu alle Kulturbereiche applizieren lässt und damit eine Vielzahl weiterer Oppositionspaare zu generieren vermag: So steht in stereotyper Zuspitzung der französische Klassizismus der deutschen Romantik, der französische Formsinn der deutschen Tendenz zum Formlosen sowie das französische Bewusstsein für Maß und Regel dem deutschen Streben nach Steigerung und unendlicher Progression gegenüber. Erstaunlicherweise erlebt Nietzsche in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren ungeachtet des von Deutschland ausgehenden Eroberungskrieges eine Renaissance in Frankreich. Sie verdankt sich vornehmlich dem Engagement Georges Batailles, der Nietzsche im Rahmen seiner gegen die europäische Aufklärung gerichteten Rationalismuskritik immer wieder als Gewährsmann aufruft. Für Bataille ist die Vernunft ein Herrschaftsinstrument, mittels dessen das menschliche Subjekt versklavt wird. In seinen Bemerkungen Sur Nietzsche verurteilt er daher die rationalen Ordnungen der Moderne, die seines Erachtens auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgreifen und den Menschen, um mit Max Weber zu sprechen, in ein »stahlhartes Gehäuse« der Disziplinierung und des Zwangs einsperren.22 Am entschiedensten manifestiert sich Batailles Orientierung an Nietzsche in der ab 1936 erscheinenden Zeitschrift Acéphale, die den deutschen Philosophen gegen seine ideologische Vereinnahmung
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Thierry Maulnier: Nietzsche. Paris 1933. S. 277f. (zitiert in Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Hamburg 41986, S. 218). Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hg. u. eingel. v. Dirk Kaesler. München 2004, S. 201.
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durch die Nationalsozialisten verteidigt und eine intellektuelle Rehabilitierung seines Denkens anstrebt. Bereits das zweite, im Januar 1937 gedruckte Heft von Acéphale versammelt mehrere Beiträge, die aus soziologischer Perspektive die Leistungen des Philosophen exponieren und die Kluft zwischen ›Nietzscheanismus‹ und ›Faschismus‹ hervorheben. Dass Nietzsche in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren auch von Schriftstellern intensiv rezipiert wird, bezeugt das Werk von Albert Camus, der bereits 1929 als Sechzehnjähriger den Zarathustra liest und nur zwei Jahre später in einem Essay über Musik auf die Geburt der Tragödie rekurriert. Der Ausgangspunkt für Camus ist Nietzsches Diagnose des europäischen Nihilismus: Nach der Suspendierung aller metaphysischen Systeme findet sich der Mensch in einer Welt ohne Gott und damit in einer Welt ohne finalen Sinn wieder. Wie aber soll der Mensch leben, wenn es keine in der Transzendenz verankerten Wahrheiten und folglich auch keinen letzten Lebenssinn gibt? Diese Frage steht im Mittelpunkt des 1942 veröffentlichten Essays Le mythe de Sisyphe, der über weite Strecken den Einfluss Nietzsches erkennen lässt. Camus fordert, sich jener »absurden Mauern«, die den Menschen einschließen, immer bewusst zu bleiben. Eine Flucht in die Transzendenz verbietet sich aus seiner Perspektive, was ihn im Essay L’Homme révolté denn auch zu einer Kritik an den Vertretern der Existenzphilosophie von Kierkegaard über Heidegger bis hin zu Jaspers veranlasst. Die Existenzphilosophie, so Camus, habe den Gedanken einer transzendenten Letztbegründung des menschlichen Lebens nicht verwerfen wollen und daher immer wieder die Absurdität der Welt in einer obsolet gewordenen Metaphysik aufzuheben versucht. Die Überwindung des Nihilismus erwächst für Camus ebenso wie für Nietzsche nicht aus dessen Relativierung, sondern aus seiner vollständigen Bejahung. Erst die vorbehaltlose Akzeptanz des Absurden eröffnet dem Menschen neue Sinnperspektiven in einer grundsätzlich sinnlosen Welt, wie Camus’ philosophische Romane L’Étranger und La Peste vor Augen führen. Eine besonders herausgehobene Bedeutung gewinnt für Camus wie schon für Nietzsche die Kunst, da sie im Medium ästhetischer Daseinsdeutung eine neue Welt entstehen lassen kann. »Der Künstler schafft die Welt auf seine Rechnung neu«, lautet eine zentrale Maxime im Essay L’Homme révolté.23 Camus’ tiefe Verbundenheit mit Nietzsche gründet nicht nur in der Übereinstimmung der philosophischen Positionen, sondern auch in der Skepsis gegenüber geschlossenen Argumentationssystemen, die, wenn sie erst einmal konstruiert sind, das Denken präformieren und das
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»L’artiste refait le monde à son compte«. Albert Camus: L’Homme révolté. In: Ders.: Essais. Mit einer Einleitung von Roger Quilliot, hg. u. komm. v. Roger Quilliot u. Louis Faucon. Paris 1965, S. 407–709, hier S. 659.
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intellektuelle Experiment unmöglich machen. Wie Nietzsche, der seine Gedanken nie streng systematisch und im Rahmen eines homogenen Lehrgebäudes entfaltet, sondern meist in essayistischen und aphoristischen Textformen entwickelt, plädiert auch Camus dafür, Philosophie und Literatur nicht voneinander zu trennen. »Wenn Du Philosoph sein willst«, fordert er, »schreibe Romane«.24 Sich selbst hat Camus als dichtenden Philosophen und philosophierenden Dichter verstanden. Die Wirkung Nietzsches in Frankreich reißt auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ab. Während der Verfasser des Zarathustra zunächst noch als Vordenker des Totalitarismus und als Verfechter einer auf Züchtung beruhenden Menschheitsutopie diskreditiert wird, avanciert er bereits im Laufe der sechziger Jahre erneut zu einem Referenzautor, auf den man sich beruft, um den in Frankreich weit verbreiteten Hegelianismus-Marxismus zu attackieren. Insbesondere Gilles Deleuze und Michel Foucault rekurrieren auf Nietzsches Werke und leiten damit eine zweite Renaissance des Philosophen ein, der in Deutschland während der fünfziger und sechziger Jahre noch verpönt ist. Die französische Nietzsche-Rezeption eilt hier der deutschen voraus, ja ihr kommt das besondere Verdienst zu, Nietzsche nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ein weiteres Mal rehabilitiert zu haben.
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Albert Camus: Œuvres complètes. Hg. v. Jacqueline Lévi-Valensi. Paris 2006–2008. Bd. 2: 1944–1948. Paris 2006, S. 800.
Dieter Borchmeyer
Nietzsche, das Klassische und die Moderne I Nietzsche, wer wollte es leugnen, ist einer der Wegbereiter der intellektuellen und ästhetischen Moderne. Niemand, der über sie redet und schreibt, wird es vermeiden können, bereits nach wenigen Sätzen seinen Namen ins Feld zu führen. Umso merkwürdiger ist es, dass sein eigener Begriff des Modernen unter eher negativem Vorzeichen steht und dass der Gegenbegriff des Modernen, das Klassische, für ihn immer ein positives, ja utopisches Gepräge hat. »[A]us uns haben wir Modernen gar nichts; nur dadurch, dass wir uns mit fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophien, Religionen, Erkenntnissen anfüllen und überfüllen, werden wir zu etwas Beachtungswerthem, nämlich zu wandelnden Encyclopädien, als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-Hellene ansprechen würde«. So das Urteil Nietzsches über den modernen Menschen in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.1 Die moderne Kultur ist also eine solche ohne abgeschlossenen Horizont, ohne eigenes – nur aus ihr selbst, nicht aus historischen oder exotischen Welten stammendes – Gepräge. Auch die Griechen hätten sich in der Gefahr befunden, so Nietzsche, »an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der ›Historie‹ zu Grunde zu gehen«, aber dank der Beherzigung des apollinischen Spruchs »Erkenne dich selbst« sei »die hellenische Cultur kein Aggregat« geworden. Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben liessen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients,
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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. München 1980, S. 273f. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen.
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sondern wurden »die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker« (KSA 1, S. 333). Der moderne Mensch hingegen, so Nietzsche, ist mehr ein »cogital« als ein »animal« (KSA 1, S. 329). Durch »das unermüdliche Zerspinnen und Historisiren alles Gewordenen« sei er »die grosse Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes« (KSA 1, S. 313) – aus sich heraus unfähig, eine eigene und vorbildhafte Kultur zu schaffen. »Die Cultur eines Volkes« aber besteht Nietzsche zufolge in der »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes« (KSA 1, S. 274), und die wesentliche Bedingung dieser Einheit ist der ›geschlossene Horizont‹: »jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen, und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin« (KSA 1, S. 251). Zu einer lebendigen Kultur – als »Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« (KSA 1, S. 334) – gehört das Erinnern wie das Vergessen, das heißt sowohl die »plastische Kraft […], Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben«, im fremden Horizont den eigenen Blick einzuschließen, als auch das, was sich in den eigenen Horizont nicht hineinziehen lässt, aus dem Gedächtnis fallen zu lassen (KSA 1, S. 251). Das Gedächtnis des modernen Menschen hat indessen »alle seine Thore« geöffnet und schleppt, wie der Wolf im Märchen die Wackersteine, »zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum« (KSA 1, S. 272). Durch die Aufhebung aller »Horizont-Umschränkungen« (KSA 1, S. 330) ist der »moderne[-] Mensch« (KSA 1, S. 325) zum »Historisch-Kranken« geworden (KSA 1, S. 331), zu eunuchenhafter »Subjectlosigkeit […] ausgeblasen« (KSA 1, S. 284). Das Mustervolk der so festgeschriebenen Moderne sind für Nietzsche die Deutschen. Sie vor allem haben, wie er schon in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung ausgeführt hat, »bis jetzt […] keine originale Kultur« (KSA 1, S. 163f.) – keinen Stil. Er aber, der Gemeinstil, ist die ›conditio sine qua non‹ des Klassischen. Im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches findet sich ein Aphorismus mit dem Titel Giebt es ›deutsche Classiker‹?. Nietzsche beruft sich hier auf Sainte-Beuves Essay Qu’est-ce qu’un classique? aus den Causeries du lundi (1851), wo zu lesen sei, »dass zu der Art einiger Litteraturen das Wort ›Classiker‹ durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von ›deutschen Classikern‹ reden!« (KSA 2, S. 606f.). Das Zitat spiegelt die ›opinio communis‹ der Gebildeten in Frankreich – und nicht nur in Frankreich – im Grunde bis heute wider. Fast alle Essays von Sainte-Beuves Qu’est-ce qu’un classique? bis T. S. Eliots What is a classic? (1944) sehen in der Gemeinverbindlichkeit des Stils – die es zum Beispiel in Deutschland nie gegeben habe – das wichtigste Merkmal des Klassi-
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schen, noch vor seiner formalen Musterhaftigkeit und Ausgewogenheit sowie seinem Bezug zur Antike.2 Schon Goethes Essay Literarischer Sanscülottismus aus dem ersten Jahrgang der Schillerschen Horen (1795) gibt auf die Frage »Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor?« die Antwort, dass er nur da hervortreten kann, wo er eine Gemeinkultur, wo er »Einheit«,3 einen »übereinstimmend[-] guten Styl[-]«4 vorfindet. Das sei aber in Deutschland erst ansatzweise der Fall. Hier fehle noch »ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach Einer Art, in Einem Sinne […] sich ausbilden könnten«. Isoliert und »[z]erstreut«,5 eklektizistisch gebildet lebten und schrieben sie vor sich hin, ohne je in die Lage zu geraten, ihren »originellen Genius einer allgemeinen Nationalkultur […] zu unterwerfen«. Die Orientierung an »fremde[n] Sitten und ausländische[r] Literatur« hindere den deutschen Autor beständig, »als Deutsche[r] sich früher zu entwickeln«.6 Diesen Befund Goethes elaboriert Nietzsche gewissermaßen, wenn er in den Spuren der französischen Literaturkritik der deutschen Literatur ihre Klassiker streitig macht, außer eben Goethe, der in Deutschland eine »Cultur« für sich bilde – »ein Zwischenfall ohne Folgen« (KSA 2, S. 607). Im Aphorismus 23 aus dem ersten Teil von Menschliches, Allzumenschliches hat Nietzsche sein Zeitalter als »Zeitalter der Vergleichung« bezeichnet, das aus dem Zerfall einer Gesellschaft hervorgegangen ist, die sich noch durch das »Herkommen«, die Anbindung an einen »Ort« definierte. Die moderne Gesellschaft hingegen ist mehr und mehr durch eine Dynamisierung, durch Fluktuationsprozesse geprägt, die derartige lokale Bindungen sprengen. »Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle« (KSA 2, S. 44). Der moderne, nach-metaphysische Mensch ist zudem durch den »Unglauben an das ›monumentum aere perennius‹« geprägt – so der Titel des Aphorismus 22 aus Menschliches, Allzumenschliches I. Unser »aufgeregte[s] Ephemeren-Dasein[-]« sträube sich gegen die »langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter«, habe keine »Antriebe« mehr, »an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen« (KSA 2, S. 43). Die Entstehung der mobilen Massengesellschaft
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Vgl. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Aktualisierte Neuausgabe. Weinheim 1998, S. 13–40. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Friedmar Apel u. a. Abt. 1: Sämtliche Werke. Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771– 1805. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 319–324, hier S. 320. Ebenda, S. 323. Ebenda, S. 321. Ebenda, S. 322.
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und der Verfall des metaphysischen Glaubens spielen hier ineinander. So entsteht eben das Zeitalter der Vergleichung: der Titel des Aphorismus 23. Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller Stilarten an Ort und Zeit. (KSA 2, S. 44)
Bis zu diesem Punkt könnte der Eindruck entstehen, als versehe Nietzsche die schrankenlose »Vergleichung« noch wie in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit ausschließlich negativen Vorzeichen. Doch der Schluss des Aphorismus bietet ein anderes Bild. Jene Vergleichung sei der »Stolz« des Zeitalters, bemerkt er da, aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Altertümer mit Dankbarkeit zurückblickt. (KSA 2, S. 44f.)
Nietzsche sieht also eine Kultur voraus, welche das vergleichende Nebeneinander der Stilarten und Weltanschauungen transzendiert, ohne doch zu neuer Stileinheit, in eine wiederum geschlossene Welt zurückzukehren. Mit anderen Worten sucht Nietzsche – auf der Basis eines Perspektivismus, der die ›Zentralperspektive‹ des metaphysischen Zeitalters aufhebt7 – nach einer Zukunftsperspektive, welche sich aus der Situation der Moderne heraus eröffnet und so zwar über die Letztere hinausweist, sich aber nicht in kontradiktorischen Gegensatz zu ihr stellt: ›Aufhebung‹ der Moderne in einer gewissermaßen postmodernen Kultur. Gegenüber den Unzeitgemäßen Betrachtungen hat sich die Perspektive von Menschliches, Allzumenschliches unverkennbar verschoben. In seinen
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Vgl. Dieter Borchmeyer: Aufstieg und Fall der Zentralperspektive. In: Gabriele Brandstetter u. Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 287–310.
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frühen Schriften hat Nietzsche noch auf das »Unhistorische« und »Ueberhistorische« als »Gegenmittel gegen das Historische« gebaut, zumal auf die »aeternisirenden Mächte der Kunst und Religion« (KSA 1, S. 330) – im Rekurs auf die Griechen, ihren Mythos und seine Wiederkehr im Musikdrama Richard Wagners. »Ohne Mythus […] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab«, heißt es schon in Nietzsches Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie (KSA 1, S. 145). Bereits hier findet sich in Ansätzen die Kritik der »Historie« (KSA 1, S. 146) als Widersacherin des Lebens und der Befangenheit unserer »ganze[n] moderne[n] Welt […] in dem Netz der alexandrinischen Cultur« (KSA 1, S. 116): man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist – das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus [d. h. der rein kritisch-theoretischen Weltbetrachtung, die zum Alexandrinismus führt]. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, […] wenn nicht auf den Verlust des Mythus […]? (KSA 1, S. 146)
Dessen Wiedergewinnung durch das Wagner’sche Musikdrama bedeutet für den frühen Nietzsche die Heilung der Moderne von der »historische[n] Krankheit« (KSA 1, S. 329), ja – da die Moderne mit dieser Krankheit identisch ist – die Überwindung der Moderne unter dem Vorzeichen ihres StilEklektizismus. In der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel Richard Wagner in Bayreuth nennt Nietzsche Wagner einen »Gegen-Alexander«: »Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, wie es Alexander that, so dass seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern ihn zu binden, nachdem er gelöst war – das ist jetzt die Aufgabe«. Diese »adstringirende« Aufgabe sei Wagner von seinem Genius gestellt worden; »in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten [...]: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Welt« (KSA 1, S. 447).8 Zusammenbildung und Vereinfachung aber sind das A und O der klassischen Kunstdoktrin. Wagner wird somit gewissermaßen zum Klassiker.
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Zur Entwicklung und Wandlung von Nietzsches Wagner-Bild vgl. die umfassende Dokumentation von Dieter Borchmeyer u. Jörg Salaquarda (Hg.): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1994.
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Was Nietzsches Einschätzung des Mythos betrifft, so vollzieht sich zwischen der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung (1876) und Menschliches, Allzumenschliches I (1878) ein tiefgreifender Umbruch, der zugleich auf den Bruch mit Wagner hinausläuft. Traditionelle Metaphysik, Moral und Ästhetik werden jetzt einer ›chemischen‹ Analyse (KSA 2, S. 23f.), einer entschiedenen Ideologiekritik unterzogen. Die Prinzipien historischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Denkens treten an die Stelle der metaphysisch-ästhetischen Spekulationen der Frühschriften. Die »aeternisirenden Mächte« (KSA 1, S. 330), durch welche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung noch die Krankheit des Historismus überwunden werden sollte, werden nun ihrerseits demaskiert. Wagners mythisches Musikdrama, zuvor als Heilmittel gegen die Krankheit der modernen Kultur gepriesen, wird von nun an – das immer erneute Umkreisen von Wagners ›Histrionentum‹ zeigt es – zur typischen Erscheinungsform dieser Krankheit erklärt. Da die ›äternisierenden‹ Mächte keine Alternativen zur modernen Kultur mehr sein können, gilt es, Letztere aus sich selbst heraus zu überwinden. Ihre Elemente – und damit auch die Kunst Wagners, die in den Schriften seit Menschliches, Allzumenschliches I nie radikal verworfen, sondern stets mit einer Mischung aus Passion und Polemik umkreist wird – sind dialektischer Bestandteil ihrer Überwindung. Die Überwindung der unter dem Vorzeichen der Stil-Imitatorik und Stil-Multiplizität stehenden Moderne aus sich selbst heraus bleibt das Programm Nietzsches bis in seine letzten Schriften, in denen die Moderne auf den Spuren Paul Bourgets unter das Vorzeichen der Décadence rückt – mit sowohl positiven wie negativen Vorzeichen.9 Die in den frühen Schriften beschriebene Multiplizität der Stile wird für den späten Nietzsche, der sein ganzes Denken physiologisch konditioniert,10 zum Ausdruck der »InstinktDoppelzüngigkeit« des modernen Menschen, um den Epilog zum Fall Wagner zu zitieren (KSA 6, S. 51). »Diese Unschuld zwischen Gegensätzen, dies ›gute Gewissen‹ in der Lüge ist […] modern par excellence, man definirt beinahe damit die Modernität. Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werthe dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in Einem Athem Ja und Nein« (KSA 6, S. 52). Das Musterbeispiel dafür ist die Kunst Wagners, den Nietzsche den »Cagliostro der Modernität« nennt
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Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Nietzsches Begriff der Décadence. In: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau 1989, S. 84–95. Anette Horn: Nietzsches Begriff der décadence. Kritik und Analyse der Moderne. Frankfurt a. M. 2002. Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion. Stuttgart 1985.
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(KSA 6, S. 23), ihren Repräsentanten wie Falschmünzer. »Aber wir Alle haben«, so relativiert Nietzsche seine Polemik gegen Wagner, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe, – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch… Eine Diagnostik der modernen Seele – womit begönne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall –
dem »Fall Wagner« (KSA 6, S. 53). Wo fände der Philosoph, fragt Nietzsche im Vorwort zum Fall Wagner, für das »Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses« – und Nietzsche beschließt das Vorwort mit der Hypothese: »Wagner resümirt die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein…« (KSA 6, S. 12). Erst im Durchgang durch die Modernität – deren Paradigma schlechthin für Nietzsche nun eben Wagner ist – kann man darangehen, die Modernität zu überwinden. Nietzsches ganzes Denken zielt auf eine Aufhebung der Moderne, und so hat man tatsächlich in ihm einen, ja den wichtigsten Wegbereiter der Postmoderne gesehen.11 Der Sache nach könnte dieser Begriff durchaus schon bei Nietzsche stehen, und so ist es nicht verwunderlich, dass er diese Wortschöpfung tatsächlich mittelbar inspiriert hat: Einer der frühesten Belege für den Begriff der Postmoderne findet sich nämlich bei Rudolf Pannwitz, der in seinem Buch Die Krisis der europäischen Kultur (1917) mit deutlichem Bezug auf Nietzsches Diagnose der Moderne und sein Programm ihrer Überwindung vom »postmodernen Menschen« spricht.12 Gleichwohl besteht zwischen dem, was Nietzsche unter Modernität versteht, und dem Begriff der Moderne, auf den sich die heutige Theorie der Postmoderne bezieht, ein tiefgreifender Unterschied. Nietzsche sieht die Moderne (diese grammatikalische Bildung kennt er freilich noch nicht, er redet nur von Modernität und verwendet den Begriff des Modernen ausschließlich als – gelegentlich substantiviertes – Attribut) unter dem Vorzeichen der Stil-Multiplizität (so in den frühen) oder der Instinktwidersprüchlichkeit (so in den späten Schriften): »ich definirte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch«, heißt
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In positivem Sinne z. B. Gianni Vattimo: Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 233–246. In negativem Sinne Jürgen Habermas: Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe. In: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1985, S. 104–129. Der Nachweis findet sich bei Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987, S. 12f.
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es noch einmal im Aphorismus 41 der Götzendämmerung (KSA 6, S. 143). Damit fehlt seinem Begriff des Modernen gerade das, was ihn seit der Jahrhundertwende definiert und wovon sich nun die Postmoderne absetzt: das Moment der programmatischen Innovation.13 Dass Modernität für Nietzsche eben nicht Innovation bedeutet, geht aus der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ganz unmissverständlich hervor. In diesem Punkt aber hat sich sein Modernitätsbegriff in den späteren Schriften nicht wesentlich gewandelt. Dies zeigt sich besonders deutlich etwa im Aphorismus 221, Die Revolution in der Poesie, aus Menschliches, Allzumenschliches I. Man sollte meinen, dass die poetische Revolution, welche die bisherige normative Poetik über Bord geworfen hat, für Nietzsche damit unter das Vorzeichen des ästhetischen Avantgardismus im Sinne einer radikalen Neuerung rückt. Das ist jedoch durchaus nicht der Fall. Die »Revolution in der Poesie« ist für ihn eher etwas Regressives und bedeutet die Wiederkehr der »Anfänge der Kunst«, den »Sprung in eine Art von Rousseau’schem Naturzustand der Kunst« oder das fortwährende ›Experimentieren‹ mit gewesenen Formen derselben. Der »Hass« des »modernen Geistes« gegen »Maass und Schranke« hat Nietzsche zufolge nur zu einer unendlichen Erweiterung des ästhetischen Horizonts, aber nicht zu wirklich neuen Ufern geführt (KSA 2, S. 180f.): Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung [der Kunst] eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige […]. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker muss ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle Dichter müssen ja experimentirende Nachahmer [!], wagehalsige Copisten [!] werden […] – und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei – was freilich höchst belehrend ist – alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. (KSA 2, S. 182f.)
Nicht Innovation ist für Nietzsche die Signatur der Moderne, sondern die zum Verschwinden der Persönlichkeit und zur Selbstauflösung der Kunst führende permissive Entgrenzung des ästhetischen Horizonts. Bezeichnend ist, dass Nietzsche in diesem Aphorismus der im Zeichen der Revolution stehenden Moderne die klassische französische Tragödie entgegensetzt: »Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dra-
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Vgl. dazu Viktor Žmegač: Moderne/Modernität. In: Dieter Borchmeyer u. Viktor Žmegač (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 21994, S. 278–285. Hans Otto Horch: Innovation. In: Ebenda, S. 212–214.
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matiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie der Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredsamkeit«. Lessing habe verhängnisvollerweise »die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland« gemacht. Goethe hingegen habe wieder an sie angeknüpft, »indem er sich von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wußte«. Goethes antirevolutionäres Experiment einer neuen Bindung der künstlerischen Mittel ist für Nietzsche so zukunftsweisend, dass er die Behauptung wagt, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen […]. Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. (KSA 2, S. 184)
Die im Fieber der Revolution – der politischen, gesellschaftlichen wie ästhetischen – zerbrochene Ganzheit der Kunst lässt sich im Zeitalter des Perspektivismus nicht mehr wiederherstellen, sie ist nur noch zu imaginieren. Die Formen dieser Imagination aber sind die ›Zusammendrängung‹ der modernen Probleme in »einfachsten Formen«, die Vermeidung des Ephemeren, Pathologischen, Interessanten, Effektvollen, dessen, was Nietzsche in anderem Zusammenhang immer wieder als »romantisch« bezeichnet. Das bedeutet für ihn – mit den Schillers Brief an Goethe vom 4. April 1797 entliehenen Worten – »idealische Masken« statt »Individuen«, »allegorische Allgemeinheit« statt »Wirklichkeit«, alles nur Temporäre und Lokale »abgedämpft und mythisch gemacht«, das heißt verallgemeinert, ohne ins Logisch-Abstrakte zu verfallen (KSA 2, S. 184). Was hier dominiert, ist eine unverkennbar klassische, antiromantische Kunstkonzeption. Im Aphorismus Vor- und Rückblick aus Menschliches, Allzumenschliches II verkündet Nietzsche das neue Kunstideal, das er sich nach seiner unausgesprochenen Abwendung von der vermeintlich dionysischen Kunst Wagners gebildet hat: Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Ueberschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung – das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber
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weiser und harmonischer geworden sind, nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. (KSA 2, S. 453)
Der Kanon von Namen, den Nietzsche aufstellt – nicht mehr Aischylos, sondern Sophokles, nicht Shakespeare, sondern Racine – offenbart ein emphatisches Bekenntnis zur Klassizität, mit den Kategorien der Geburt der Tragödie geredet: zum Apollinischen, und zwar zu einem solchen, das aus dem dialektischen Verbund mit dem Dionysischen herausgelöst scheint, welches hinter dem Horizont von Nietzsches neuer Philosophie offensichtlich verschwunden ist. Der apollinische Menschen- und Kunsttypus Goethes kann deshalb nun – was der frühe Nietzsche ihm noch versagt hat und der späte ihm wieder versagen wird – die höchste Erscheinungsform des Mensch- und Kunstseins bilden. Dieses Bild findet sich auch im Aphorismus Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft aus dem zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches. »Dichtungen solcher Dichter«, wie Nietzsche sie sich als »Wegweiser« vorstellt, würden dadurch sich auszeichnen, dass sie gegen die Luft und Gluth der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne, würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisirende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fusse Ruhe und Lust giebt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd […]
– und in solchen halkyonischen Bildern weiter. »Von Goethe aus«, so schließt der Aphorismus, »führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor Allem einer viel grössern Macht als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbthiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen« (KSA 2, S. 419f.). Es besteht kein Zweifel, dass diese »Dichtung der Zukunft« das Gegenbild jenes ›Kunstwerks der Zukunft‹ sein soll, das Richard Wagner propagiert hat und das sich in jeder Beziehung gegen jenes ›Maß‹ auflehnt, das für Nietzsche nun die ›conditio sine qua non‹ der wahren Kunst ist. Ganz neue Namen und Werke tauchen in Menschliches, Allzumenschliches an Nietzsches Horizont auf, sie alle unverkennbar als Anti-Wagner-Bilder beschworen: Lichtenbergs Aphorismen, Stifters Nachsommer, Kellers Die Leute von Seldwyla, und noch über Goethes Schriften selber stellt Nietz-
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sche dessen »Unterhaltungen mit Eckermann« als das »beste[-] deutsche[-] Buche, das es giebt« (KSA 2, S. 599). Man hat hinter dieser Hochschätzung Eckermanns nicht ganz zu Unrecht eine gewisse Verbiedermeierung Goethes gewittert, die aus dessen Abschirmung von allem resultiert, was der frühe und der späte Nietzsche ›dionysisch‹ genannt hat und nennen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass mit dem Wiederauftauchen des Dionysischen an Nietzsches denkerischem Horizont seit dem Zarathustra auch die Rolle Goethes bei ihm ihren Absolutheitscharakter wieder verlieren wird. Die Verdrängung des Dionysischen bei Nietzsche in der Phase von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft ist unverkennbar mit seiner Loslösung von Wagner verbunden, dessen Musik für den frühen Nietzsche der paradigmatische Ausdruck des Dionysischen war. Die Rückkehr zu Selbigem unter Preisgabe des Apollinischen beim späten Nietzsche wird nur von dem Moment an denkbar sein, da er das Dionysische von der Philosophie und Musik Schopenhauers und Wagners radikal trennt und diese auf die Gegenseite der Romantik und Décadence und der von ihnen geprägten Moderne verweist. In seinem Versuch einer Selbstkritik, den er 1886 der Neuausgabe der Geburt der Tragödie voranstellte, hat er diese Trennung mit Nachdruck vollzogen. Wagners Musik wird nun zur Tonsprache all dessen, was dem Dionysischen gemäß seiner neuen Bestimmung diametral entgegengesetzt ist. Und so braucht sich auch die Idee des Klassischen nicht mehr in apollinische Gewänder zu hüllen, sondern schließt nun das Dionysische als ein zu Bändigendes ein. Das aber ist ein Klassisches, welches über die Klassizität Goethes entschieden hinausweist. II Goethe ist und bleibt für Nietzsche freilich der Anti-Moderne schlechthin. Was er unter Modernität versteht, gleicht in mancher Hinsicht dem, was heute unter Postmoderne verstanden wird – mit der gleichen negativen Wertung auf Seiten ihrer Kritiker und unter Austausch der Wertungsvorzeichen bei ihren Apologeten. Die Kritiker des Postmodernismus könnten zumal beim frühen Nietzsche weit mehr Argumente für sich verbuchen als ihre Apologeten. Ganze Passagen der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ließen sich ganz ungeniert in eine Kritik zum Beispiel postmoderner Architektur und ihrer vermeintlich eklektizistischen Beliebigkeit einbringen. Nietzsches Idee der Überwindung der Moderne, in diesem Sinne also: Seine Postmoderne weist hingegen mehr auf das Programm jener ›Moderne‹ seit dem Naturalismus voraus (in dessen Umkreis diese grammatische Bil-
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dung 1886 zum ersten Mal auftaucht),14 welche den historistisch-imitatorischen Stil-Karneval des 19. Jahrhunderts zu überwinden trachtete, ohne doch den aus ihm sprechenden Relativismus im Sinne einer neuen weltanschaulichen Geschlossenheit und Einheit zu suspendieren (die auch Nietzsches Perspektivismus widerspräche). Man kann Nietzsche mithin schwerlich als Wegbereiter der postmodernen Ästhetik sehen, wie das zum Beispiel Gianni Vattimo in seinem Buch La fine della modernità (1985) getan hat. Nietzsche habe zum ersten Mal den novistischen Charakter der Moderne erfasst, behauptet Vattimo irrtümlich,15 und das Ende des Zeitalters der Moderne, als »der Epoche des im Zeichen des novum gedachten Seins«,16 werde von Nietzsche schließlich durch den Gedanken der Wiederkehr des Gleichen eingeläutet, die für Vattimo vollends zum postmodernen Theorem wird. Die ›novistische‹ Festlegung von Nietzsches Modernitätsbegriff bedeutet jedoch eine allzu voreilige Identifizierung mit der Moderne-Konzeption der Avantgarden dieses Jahrhunderts. Die ewige Wiederkehr als Gegenprinzip zum Innovationsprinzip der Moderne aufzufassen, ist demnach eine an Nietzsches eigener Modernitätskonzeption vorbeiführende Spekulation, die ihn etwas gewaltsam zum Kirchenvater der Postmoderne machen möchte. Nietzsches Begriff des Modernen ist also keineswegs emphatisch; das Moderne ist das zu Überwindende. Und das, woraufhin es überwunden werden soll, ist das Klassische, wenn auch in einem neuen Sinne. Der Begriff des Modernen ist bei Nietzsche aufs Engste verbunden mit zwei anderen Begriffen: dem »Romantischen« und – in den späten Schriften – der »Décadence«, die sich gewissermaßen aus dem Romantischen entwickelt, in Nietzsches Terminologie an dessen Stelle tritt, von ihm aber nicht strikt zu unterscheiden ist. Wenn Nietzsche vom Romantischen redet, denkt er vor allem an die »französische Romantik« mit ihrer Erkenntnis und Logik niederwerfenden Wirkungssucht, ihrer Vorliebe für exotisch-erotische Sensationen und pathologische Exaltationen, ihrer »Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen« auf der einen, der Ästhetik des Erhabenen auf der anderen Seite – am Anfang Aufrührer, am Ende vor dem Kreuz in die Knie sinkend. Und hier denkt Nietzsche natürlich wiederum an Wagner, den Erben der Romantik: »Die Nähe von krankhaften Begierden, die Brunst rasend
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Der Begriff »Moderne« wurde von Eugen Wolff 1886 bei einem Vortrag im Berliner literarischen Verein »Durch!« geprägt, lange jedoch irrtümlich Hermann Bahr (Zur Kritik der Moderne, 1890) zugeschrieben. Schon 1894 wird das Schlagwort vom Großen Brockhaus (14. Auflage) in seinen Wortschatz aufgenommen (Artikel ›Modern‹). Dass die Einsicht in den ›Novismus‹ der Moderne wesentlich älter und zumal bei Hegel schon voll ausgeprägt ist, demonstriert das Buch von Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt a. M. 1979. Gianni Vattimo: Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie (Anm. 11), S. 236.
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gewordener Sinne, über welche der Blick durch Dunst und Schleier des Übersinnlichen auf gefährliche Weise getäuscht wird: wohin gehört das mehr als in die Romantik der französischen Seele?«.17 In seinen letzten Schriften hat Nietzsche, wie bereits erwähnt, den Begriff der Romantik durch jenen der Décadence ersetzt. Er gehört seit seiner Lektüre der Essais de psychologie contemporaine (1883) des französischen Kulturkritikers Paul Bourget zu den Grundbegriffen Nietzsches seit dem Winter 1883/84 und wird ihm zumal zum Schlüssel für das Verständnis der Widersprüchlichkeit der Wagner’schen Person und Ästhetik – wie auch seiner eigenen ambivalenten Einstellung zu Wagner. Décadence bedeutet bekanntlich ursprünglich nichts anderes als Kulturverfall, dessen – mit diesem Begriff stets verbundenes – Paradigma der Untergang Roms gewesen ist. Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence hatte Montesquieu 1734 veröffentlicht. Ein Jahrhundert später erschienen Désiré Nisards Etudes de mœurs et de critique sur les poètes latins de la décadence, die eine Brücke schlugen von der dekadenten spätrömischen Dichtung zur romantischen Poesie seiner Zeit. Dagegen opponierte Charles Baudelaire in seinen Notes nouvelles sur Edgar Poe (1857). Er verspottet die Türhüter der klassischen Ästhetik (»qui veillent devant les portes saintes de l’Esthétique classique«), welche sich des leeren Etiketts einer »littérature de décadence« bedienen, um eine ihr missliebige, aufgrund der Stoffwahl moralisch suspekte und als qualitativ minderwertig eingestufte Kunst zu bezeichnen. Baudelaire leugnet nicht eigentlich die stilistischen und inhaltlichen Befunde Nisards und anderer konservativer Kritiker in seinem Gefolge, sondern nur ihre negative Bewertung. Die dekadenten Motive und Stilformen werden nun als legitime Möglichkeiten der modernen Poesie ausgegeben, welche die Welt nicht mehr wie zuvor die klassische Dichtung im weißen Licht der Mittagssonne zeige, sondern in der Farbenfülle des »soleil agonisant«, der sterbenden Sonne. Ein Jahrzehnt später wird Théophile Gautier in seiner Einleitung zu den Fleurs du Mal des im Jahr zuvor verstorbenen Freundes den Begriff der Décadence endgültig umwerten und Baudelaire ganz in positivem Sinne als »poète de décadence« bezeichnen. Damit ist der Weg bereitet zu jener »Théorie de la décadence«, die Paul Bourget fünfzehn Jahre später in seinen Essais de psychologie contemporaine entfalten wird. Für Bourget bleibt dieser Begriff gleichwohl ambivalent, und auch Nietzsche bewertet das Phänomen der Décadence kritisch, ohne doch hinter die ästhetische Position zurückzufallen, die seit Baudelaire (auf den Nietzsche offensichtlich
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durch den diesem gewidmeten Essay Bourgets aufmerksam wurde) erreicht worden ist.18 Bei Nietzsche verschränkt sich in einer oft irritierenden Dialektik die traditionelle negative Sicht der Décadence mit ihrer positiven Umwertung. Sie ist ein polarisierender Begriff, der alles, was er bezeichnet, ins Zwielicht rückt und jede eindeutige Wertung ausschließt. Das gilt gerade für Wagner, den Nietzsche als den Décadence-Künstler schlechthin erachtet. Seine widersprüchliche Wertung, in deren Lichtwechsel ein und dasselbe Phänomen einmal positive, einmal negative Facetten zeigt, resultiert nicht zuletzt aus jener Dialektik des Décadence-Begriffs. »Ich gebe meinen Begriff des Modernen. – Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind«, heißt es im Epilog zu Der Fall Wagner. Entweder hat sie die Tugenden des aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, – dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik ist unablöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine décadence-Aesthetik, es giebt eine klassische Aesthetik, – ein ›Schönes an sich‹ ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus. (KSA 6, S. 50)
Hier kehrt noch einmal die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ des 17. Jahrhunderts in Gestalt einer Auseinandersetzung zwischen klassischer und Décadence-Ästhetik wieder.19 Nietzsches Leugnung des ›Schönen an sich‹ gemahnt an jene Kompromissformel, auf die sich die ›Anciens‹ und ›Modernes‹ seinerzeit einigten: dass es ein ›beau relativ‹ gebe, dem für die Poesie der eigenen Zeit höhere Verbindlichkeit zukomme als die über den Zeiten schwebende ›beauté universelle‹.20 Nietzsche nun historisiert und relativiert oder besser gesagt: perspektiviert die ästhetischen Normen vom Standpunkt der Physiologie aus, die für ihn längst die Grundlage der Moral wie der Ästhetik geworden ist. Die klassische Ästhetik ist durch die antike Kunst verbürgt; die DécadenceÄsthetik verkörpert sich in der modernen Kunst, deren Paradigma für
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Zum Vorstehenden vgl. Dieter Borchmeyer: Décadence. In: Ders. u. Viktor Žmegač: Moderne Literatur in Grundbegriffen (Anm. 13), S. 69–75 (dort auch die Zitate). Vgl. Dieter Borchmeyer: Nietzsches Décadence-Kritik als Fortsetzung der »Querelle des Anciens et des Modernes«. In: Albrecht Schöne (Hg.): Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985: Kontroversen, alte und neue. Tübingen 1986, S. 176– 183. Vgl. Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 11–66, insbesondere S. 32.
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Nietzsche das Werk Wagners ist. Der Begriff des Klassischen schließt, anders als in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches, beim späten Nietzsche das Wissen vom Dionysischen und – im Hinblick auf die Bändigung der orgiastischen Erregung – vom Willen zur Macht ein. Das Klassische gleicht nun dem aufs Äußerste gespannten Bogen, ist also Manifestation der höchsten Kraft.21 Nur vor diesem Hintergrund sind die Ableitung der klassischen Ästhetik von den »Tugenden des aufsteigenden Lebens« sowie ihre Konfrontation mit der an den »Tugenden des niedergehenden Lebens« orientierten Décadence-Ästhetik zu begreifen. »In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe«, heißt es weiter im Epilog zu Der Fall Wagner, »ist kein grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen Werthbegriffe; letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen […], die Herren-Moral (›römisch‹, ›heidnisch‹, ›klassisch‹, ›Renaissance‹) umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgerathenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Princips des Lebens« (KSA 6, S. 50f.). Nietzsche scheint hier die klassische unmissverständlich gegen die Décadence-Ästhetik auszuspielen. Gleichwohl hält er ihre Normen nicht für absolut gültig, sondern für ›biologisch‹ bedingt. Auch die DécadenceÄsthetik hat ihr physiologisch – und wahrhaft perspektivisch, durch den jeweiligen Sehwinkel und die Sehweise – begründetes Recht. »Diese Gegensatzformen in der Optik der Werthe sind beide nothwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. […] Die Begriffe ›wahr‹ und ›unwahr‹ haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn« (KSA 6, S. 51). ›Man widerlegt das Christentum nicht‹: Der von Nietzsche bisher so heftig bekämpfte Parsifal hatte ihm das besonders intensiv offenbart, als er Anfang 1887 in Monte Carlo das Vorspiel zu Wagners letztem Werk zum ersten Mal hörte. Von der »größte[n] Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist«, redet er in seinen Aufzeichnungen; »ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte« (KSA 12, S. 198f.). Die Décadence ist und bleibt für Nietzsche ein notwendiges Durchgangsstadium im Entwicklungsprozess des Lebens. In einem Brief an Carl Fuchs (Mitte April 1886) beschreibt er, unmittelbar von Bourgets Baudelaire-Essay inspiriert, am Beispiel Wagners den Stil der Décadence als Auflösung der formalen Einheit durch die Dominanz der Einzelreize und das Prinzip der Dekomposition: »Der Theil wird Herr über das Ganze, die
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Vgl. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie (Anm. 10), S. 123–135 (»Das Klassische«).
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Phrase über die Melodie« etc.22 Die Décadence zeige sich bei Wagner darin, so heißt es in einem Brief an Fuchs vom 26. August 1888, dass sich »das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxurirt«.23 Ähnliche Überlegungen finden sich in Der Fall Wagner: Kennzeichen der Décadence sei es, »dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt«, sondern »in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt« werde: »Anarchie der Atome« (KSA 6, S. 27). Der Maßstab der klassischen Ästhetik ist unverkennbar. In seinem Brief an Fuchs vom April 1886 betont Nietzsche hingegen: »Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll«. Und er fügt hinzu: »es giebt auch an der décadence eine Unsumme des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, – unsre moderne Musik zum Beispiel […]«.24 Bezeichnen statt verwerfen: Der Wertbegriff ›Décadence‹ wird hier, so scheint es, zum wertneutralen Stilbegriff. Daran hat Nietzsche sich freilich in der Regel nicht gehalten. Fast durchweg schwingt in seiner Beschreibung der Décadence-Merkmale eine Wertung mit. Je nachdem, welchen Aspekt Nietzsche ins Auge fasst – ob er die Décadence an der Gegenwart misst, in der er sie für eine notwendige Phase hält, an der ›klassischen‹ Vergangenheit, von der aus betrachtet sie ›Verfall‹ ist, oder an der Zukunft, in der sie durch das wieder aufsteigende Leben aufgehoben wird – wechseln die Wertungsvorzeichen, wie gerade das Beispiel der Wagner-Kritik zeigt. Während Nietzsche Wagner an einer Stelle als Décadent kritisiert, wirft er ihm anderenorts das Nichtwahrhabenwollen der eigenen Décadence vor: dass er deren positive Werte verleugnet durch die »Lüge des grossen Stils« (KSA 6, S. 14), durch die Tendenz zum Monumentalen. Nur wo Wagner Décadent ist, erscheint er ihm glaubwürdig. Nicht das »aufsteigende«, sondern das »niedergehende« Leben findet für ihn in Wagners Kunst seinen legitimen Ausdruck. In der Zweiten Nachschrift zum Fall Wagner redet er von der »Falschmünzerei in der Nachbildung grosser Formen, für die heute Niemand stark, stolz, selbstgewiss, gesund genug ist. […] Alles, was heute in der Musik auf ›grossen Stil‹ Anspruch macht, ist damit entweder falsch gegen uns oder falsch gegen sich. […] Was heute gut gemacht, meisterhaft gemacht werden kann, ist nur das Kleine. Hier allein ist noch Rechtschaffenheit möglich« (KSA 6, S. 47f.).
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Dieter Borchmeyer u. Jörg Salaquarda (Hg.): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung (Anm. 8). Bd. 2, S. 845. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1986. Bd. 8: Januar 1887 – Januar 1889, Nachträge, Gesamtregister, S. 401. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe (Anm. 23). Bd. 7: Januar 1885 – Dezember 1886, S. 177.
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In diesem Zusammenhang steht die höhnische Attacke auf die Klassizität von Johannes Brahms, den Antipoden Wagners. Gewiss: »Wagner war die ganze Verderbniss; aber Wagner war der Muth, der Wille, die Überzeugung in der Verderbniss« (KSA 6, S. 47). Der Musik von Brahms hingegen fehlt – wie aller Kunst, die sich gegenwärtig bemüht, ›klassisch‹ zu sein, obwohl die physiologische Voraussetzung dazu fehlt – nach Nietzsches Überzeugung die ›Notwendigkeit‹. In der Dialektik der Décadence ist begründet, dass Nietzsche Wagner also einmal zum Vorwurf macht, in seiner Kunst habe sich das Leben aus dem »Ganzen« in die »kleinsten Gebilde« zurückgezogen, ein andermal aber umgekehrt dieses Ausweichen vor dem »Kleinsten« – das doch seine bewunderungswürdige Spezialität sei – in den großen Stil, ins »Affresco« tadelt (KSA 6, S. 27f.). Im ständigen dialektischen Wechselbad der Wertung kann dasselbe einmal positiv, einmal negativ erscheinen. Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durchschauen. Eben dazu – und somit auch zu ihrer Überwindung – war Wagner Nietzsche zufolge nicht imstande, denn ihm fehlte es an der Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufsteigenden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. Diese Dialektik von Décadence und dionysischer Welt hat die alte Polarität des Apollinischen und Dionysischen beim späten Nietzsche abgelöst. »Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte«, heißt es im Vorwort zu Der Fall Wagner (KSA 6, S. 11). Und in Ecce homo lesen wir: »Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz« (KSA 6, S. 266). Auch Nietzsche gesellt sich also zu dem von Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen beschriebenen Geschlecht von Schriftstellern, »die, aus der décadence kommend, zu Chronisten und Analytikern der décadence bestellt, gleichzeitig den emanzipatorischen Willen zur Absage an sie, – sagen wir pessimistisch: die Velleität dieser Absage im Herzen tragen und mit der Überwindung von Dekadenz und Nihilismus wenigstens experimentieren«.25 Ein solches ›Experiment‹ mit der Überwindung der Décadence stellt auch Nietzsches Philosophie des Dionysischen, des Willens zur Macht und des Übermenschen dar. Diese Konzepte sind integrative Bestandteile von Nietzsches neuem Begriff des Klassischen, den er nun deutlich von
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Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. 21974. Bd. 12: Reden und Aufsätze 4, S. 201.
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jenem im Umkreis der Weimarer Klassik unterscheidet. Schon der Nietzsche der Geburt der Tragödie war der Überzeugung, dass es Winckelmann, Goethe und Schiller nicht gelungen sei, »in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen« (KSA 1, S. 129). Sie haben aus seiner Sicht nur den apollinischen Schein der griechischen Schönheitswelt gesehen, aber nicht, um welchen Preis sie zustande kam; sie haben also ihren dionysischen Untergrund verkannt. »Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe«, die der frühe Nietzsche immer in dieser Reihenfolge nennt, »nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg [!] führt« – und hinter der sich jenes orgiastische Blutmahl abspielt, das Thomas Mann in Hans Castorps Griechenlandtraum im SchneeKapitel seines Zauberberg geschildert hat –, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet,26 was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik […] (KSA 1, S. 131)
sprich des Musikdramas Richard Wagners, das die von der Kultur Goethes und Schillers verdrängte orgiastische Seite des Griechentums wieder zur Sprache oder besser: zur Musik bringt. Später, im Nachlass von 1880/81, wehrt Nietzsche sich gegen »jenen falschen ›Classicismus‹, der einen innerlichen Hass gegen die natürliche Nacktheit und schreckliche Schönheit der Dinge hatte und unwillkürlich mit edel verstellten Gebärden und edel verstellten Stimmen in Bezug auf alles […] eine verkleidete und nur vorgebliche Nacktheit und Gräcität, eine Art Canova-Stil forderte« (KSA 9, S. 410f.). In der Götzen-Dämmerung schließlich, im Abschnitt Was ich den Alten verdanke wird es heißen: prüfe man den Begriff »griechisch«, wie ihn »Winckelmann und Goethe sich gebildet haben«, so erweise er sich als unverträglich mit jenem Elemente […], aus dem die dionysische Kunst wächst, – mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Folglich verstand Goethe die Griechen nicht. Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht
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Nietzsche verkennt hier, im klassizistischen Iphigenie-Bild befangen, dass das Barbarische durchaus auch in jener Heimat vorwaltet und welch gegenläufigen Tendenzen die Klassizität des Goethe’schen Schauspiels abgerungen ist.
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sich die Grundthatsache des hellenischen Instinkts aus – sein ›Wille zum Leben‹. (KSA 6, S. 159)
In den nachgelassenen Fragmenten vom Frühjahr und Spätherbst 1888 redet Nietzsche nicht nur vom Begriff des Griechischen, sondern bemerkt, dass darüber hinaus »der Begriff ›klassisch‹ –, wie ihn Winckelmann und Goethe gebildet hatten, jenes dionysische Element nicht nur nicht erklärte, sondern von sich ausschloß« (KSA 13, S. 235). Nietzsches Begriff des Klassischen hingegen schließt das Wissen vom Orgiastischen, Dionysischen nunmehr ein; es ist die mit äußerster Kraft bezwungene Leidenschaft. In diesem Sinne sind Äußerungen im Nachlass Nietzsches aus seinen letzten Jahren zu verstehen: »Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen […] spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Acte. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Concentration dar – das höchste Gefühl der Macht ist concentrirt im klassischen Typus« (KSA 14, S. 426). Oder: »Um Classiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn« (KSA 12, S. 433). Nicht die Moderne, die sich diesen widerspruchsvollen Gaben und Begierden hingibt, sondern eine Nach- und Übermoderne, die der »Flöte des Dionysos« (KSA 6, S. 357) gehorcht und doch als stärkster Ausdruck des Willens zur Macht unter dem Joche höchster Beherrschung geht: Das ist die Utopie Nietzsches.
Dirk Niefanger
Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne Einer der Moderne-Propheten des Jungen Wien hat Nietzsche einen »Pubertätsphilosoph[en]«1 genannt und damit seine spezifische Rezeption in der Wiener Moderne gemeint. Von Friedrich Michael Fels (eigentlich Mayer), von dem dieses Bonmot stammt, wissen wir nicht sehr viel, obwohl er für die Frühphase der Wiener Moderne sogar eine Art Schlüsselfigur war. Denn immerhin war er es, dem man nicht nur die Eröffnung der Wiener Freien Bühne am 28. Oktober 1891 mit dem programmatischen Vortrag Die Moderne zutraute; ihn wählte man auch zum Vorsitzenden des Vereins. Veröffentlicht wurde seine Rede im gleichen Jahr in der Modernen Rundschau. Der Text wird heute gerne als Beleg für die Selbstbezeichnung der Wiener Moderne herangezogen und als Beispiel eines neuen Moderne-Begriffs gelesen.2 Fels, der in Wien Germanistik und Kunstgeschichte studierte, hatte zumindest anfangs durchaus intensiven Kontakt zum engen Kreis der Wiener Moderne um Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Felix Salten und Arthur Schnitzler. Im von Beer-Hofmann und Hofmannsthal gemeinsam entworfenen Dramenszenar Verkaufte Geliebte taucht er als eine Art tragische Außenseiterfigur auf;3 Schnitzler notiert ihn in seinem Tagebuch auf der Liste der Jung-Wiener.4
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Friedrich M[ichael] Fels: Nietzsche und die Nietzscheaner. In: Neue Revue 5 (1894), S. 650–654, hier S. 651. Vgl. Gotthart Wunberg: Literarische Epoche. In: Ders. u. Johannes J. Braakenburg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981, S. 185–188. Friedrich Michael Fels: Die Moderne. In: Ebenda, S. 191–196 (zuerst erschienen in: Moderne Rundschau 4 (1891), S. 79–81). Vgl. Hugo von Hofmannsthal u. Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel. Hg. v. Eugene Weber. Frankfurt a. M. 1972, S. 19–27, 187–189. Vgl. Jugend in Wien. Literatur um 1900. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Ausstellung u. Katalog v. Ludwig Greve u. Werner Volke. Marbach a. N. 21987, S. 119.
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Von Fels stammt der am 9. Mai 1894 in der Neuen Revue5 erschienene Beitrag mit dem vielsagenden Titel Nietzsche und die Nietzscheaner, der anlässlich des 50. Geburtstages die eigentümliche Rezeption des Philosophen in seinem diskursiven Umfeld kritisch reflektiert. Wir haben es hier also mit einem wichtigen zeitgenössischen Zeugnis der Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne zu tun, zumal wenn man bedenkt, dass damit eine erste Welle der Nietzsche-Begeisterung im Wien der frühen 1890er Jahre nachweisbar ist. Schon das genannte Stichwort »Pubertätsphilosoph« macht deutlich, dass Nietzsche zu dieser Zeit vor allem von aufbegehrenden Jugendlichen – man denkt natürlich an den damals noch nicht volljährigen Hofmannsthal – gelesen wurde, und auch, dass er anders verstanden wurde als es möglicherweise seiner Intention entsprach. Dies jedenfalls konstatiert Fels, indem er gleich zu Beginn seines Essays darauf beharrt, dass man einen Baum nicht unbedingt nach seinen Früchten beurteilen sollte. Aber immerhin sieht dieses Bild eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Nietzsche und den Jung-Wiener Nietzscheanern vor. Tatsächlich ist es vor allem der Lebensbezug des Philosophen, den Fels als wichtiges Moment seiner Rezeption ausmacht; er werde verbunden mit dem Duktus des »Religionsstifters«, der einerseits auf Gefolgschaft aus ist, andererseits meint, »aus seinen Erfahrungen heraus Alles beurtheilen zu können, ohne sich darum die Bürde eines Systems gestatten zu müssen«.6 Dieses ›wilde Denken‹ erschwere aber eine sinnvolle Auseinandersetzung mit Nietzsche oder gar eine Übertragung seiner Philosophie auf eigene Lebensbelange: Nietzsche zum Führer wählen, ist ungefähr gleichbedeutend, wie wenn man sein Leben nach dem Sprichwörterschatz des Volkes […] einrichten wollte. Was bleibt also von Nietzsche? Wir suchen und suchen überall und finden nichts als den Stil. Der ist allerdings glänzend; diese Sprache klingt wie Musik, ist Musik.7
Der inhaltlichen Belanglosigkeit stellt Fels also den meisterhaften Stil Nietzsches gegenüber; wie Musik klinge seine Sprache, einen ästhetischen Genuss und keine philosophischen Leitgedanken verspreche das Werk Nietzsches. Eine Abwertung der Philosophie gegenüber dem Stil konstatiert im
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Wichtiges Publikationsorgan auch für Vertreter der Wiener Moderne, z. T. unter den Titeln Wiener Literaturzeitung und Neue Wiener Bücherzeitung, das zwischen 1890 und 1998 erschien. Hier publizierten u. a. Gabriele D’Annunzio, Marie von Ebner-Eschenbach, Hugo von Hofmannsthal, Ellen Key, Maurice Maeterlinck, Felix Salten, Marie Herzfeld, Jacob Julius David, Friedrich Strindberg und Bertha von Suttner. Friedrich M. Fels: Nietzsche und die Nietzscheaner (Anm. 1), S. 653. Ebenda.
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selben Jahr übrigens auch Hermann Bahr in seinem Gespräch mit Maurice Barrès: Nietzsche sei nichts anderes als ein geschickter Feuilletonist, »der freilich […] einen leserlichen Stil schreibt«.8 Seine zeitgenössische Rezeption beziehe sich deshalb vornehmlich, so konstatiert Fels analog, auf die Imitation seines Sprachstils: Wir besitzen bereits genug, übergenug jener Schriften, deren Urheber nicht etwa Nietzsche nachahmen; Gott bewahre! Sondern nur durch ihn sich selbst entdeckt haben. Wer kann denn dafür, daß heutzutage gar so viele Leute dieselben Ideen und dieselbe Sprache haben wie Nietzsche.9
Ironisch arbeitet Fels die identifikatorische Lektüre Nietzsches heraus: Die pubertären Epigonen erwiesen sich in Stil und Gestus als im Grunde unoriginelle Nietzscheaner, ohne sich als solche auszuweisen oder auch – viel schlimmer – ohne sich als solche zu fühlen. Der Aufsatz endet, wie sollte es anders sein, mit einem Aufruf, Nietzsche vor den Nietzscheanern zu retten. Thesen wie diejenige von Friedrich Michael Fels haben die Forschung vermutlich dazu bewogen, an einer intensiveren Nietzsche-Lektüre im Jungen Wien zu zweifeln. Sie sei eher, wie Wunberg konstatiert, die »ausgesprochene oder unausgesprochene Voraussetzung ihres gesamten Denkens« gewesen. »Manch einer« habe »nicht einmal« gewusst, »daß er Nietzschesche Gedanken reproduziert«.10 Hinzu kommen, wie beispielsweise bei Hofmannsthal, offenbar ›erfundene‹ Nietzsche-Zitate und im Grunde ornamentale Nietzsche-Nennungen, die zeigen, wie dem Autor in der Wiener Moderne auch jenseits seiner Schriften eine bestimmte Label-Funktion zugesprochen wurde.11 Schon sein Name scheint eine eigene Geisteshaltung und einen spezifischen Lebensbezug auszudrücken. Für die Bedeutung zumindest des Labels ›Nietzsche‹ spricht übrigens auch der vergleichsweise gar nicht seltene Abdruck von Nietzsche-Texten in einschlägigen österreichischen und deutschen Zeitschriften um 1900.12 Diese Befunde reizen, genauer hinzuschauen. Schon ein erster Blick zeigt dabei, dass zumindest von Hofmannsthal konkrete Lektürenotizen zu einigen Werken Nietzsches – etwa zur Geburt der Tragödie und zur
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Hermann Bahr: Maurice Barrès (1894). In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963. Tübingen 1978, S. 92. Friedrich M. Fels: Nietzsche und die Nietzscheaner (Anm. 1), S. 654. Gotthart Wunberg: Philosophie, Psychologie, Kultur. In: Ders. u. Johannes J. Braakenburg (Hg.): Die Wiener Moderne (Anm. 2), S. 133–183, hier S. 134. Vgl. das Motto zu Gedankenspuk von 1890 in Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt a. M. 1979. Gedichte, Dramen I (1891–1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 97–98, hier S. 97. Vgl. die Angaben bei Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften. Teil I: 1885–1910. Stuttgart 21965, S. 11, 20–30, 37–39, 54–61, 70–72, 88.
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Genealogie der Moral – vorliegen, und immerhin von Schnitzler, Bahr, Karl Kraus, Andrian, Beer-Hofmann oder Wassermann mehr oder minder ausführliche Lesehinweise zu finden sind. Keine Zeugnisse dergleichen finden sich erstaunlicherweise bei Peter Altenberg, obwohl sein vitalistisches Programm, wie einmal Victor Žmegač vielleicht etwas zu vorschnell betont hat, auch einen Nietzsche-Bezug nahegelegt hätte.13 Etwas anders liegt der Fall wohl bei Felix Salten, der wie Altenberg eigentlich alles aufnahm, was irgendwie ›en vogue‹ war. In der jüngsten Forschung wird ohne nähere Nachweise betont, in seinem Werk fänden sich »vielfach Hinweise auf Nietzsche«,14 besonders wenn es um Fragen der Lebensphilosophie gehe. Auf diesen Aspekt hin müssten wohl vor allem die journalistischen und essayistischen Texte einmal genauer gesichtet werden. Eine freilich nur kursorische Lektüre der literarischen Werke hat kaum Konkretes ergeben. Die Ausführungen über Wahrheit und Lüge in einem bislang unveröffentlichten Brief an Schnitzler vom 12. September 1891 scheinen auch eher Schlagworte des Ästhetizismus-Diskurses aufzunehmen, die allerdings an Nietzsche, aber auch etwa an Wilde erinnern: Leben Sie recht wohl […] und berauschen sich immerhin an der Lüge, die nach Wahrheit duftet, auch ich suche und ersehne diesen Duft; es ist ja unser Beider Schicksal, die wir nach der Wahrheit lechzen, dass wir uns am Duft der Lüge betäuben, und daher auch unser Hass gegen die Nüchternen.15
Auf die relativ gute Kenntnis und das durchaus affirmative Verhältnis Hofmannsthals zu Nietzsche wird in der Forschung schon früh hingewiesen. So sieht Bruno Hillebrand Hofmannsthal als »diejenige Gestalt der jüngeren Generation, die sich am kongenialsten, vielleicht in der offensten Weise, vor der Jahrhundertwende mit Nietzsche auseinandergesetzt hat«.16 Einen Besuch Hofmannsthals im Nietzsche-Archiv in Weimar hat es wohl auch gegeben. Eine recht intensive Phase der Nietzsche-Lektüre lässt sich bei Hofmannsthal bereits während der Arbeit an den frühen Einaktern Gestern
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Vgl. Victor Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2.2: 1848–1918. Königstein i. Ts. 1980, S. 371. Wiederholung bei Andrew Barker: Peter Altenberg und das literarische Umfeld. In: Heinz Lunzer, Victoria LunzerTalos u. Andrew Barker: Peter Altenberg. Extracte des Lebens. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg 2003, S. 9–16, hier S. 12. Manfred Dickel: ›Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein‹. Felix Salten zwischen Zionismus und Jungwiener Moderne. Heidelberg 2007, S. 486 (Anm. 926). Brief Felix Saltens an Arthur Schnitzler vom 12. September 1891. Zitiert in Manfred Dickel: ›Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein‹ (Anm. 14), S. 45. Bruno Hillebrand: Einführung. In: Ders. (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur (Anm. 8). Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963. Tübingen 1978, S. 1–55, hier S. 25.
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(1891) und Der Tod des Tizian (1892) erkennen. Sichtbar sind NietzscheAdaptationen natürlich auch in etwa zeitgleich entstandenen Gedichten und Essays. Fels könnte mit seinem Essay also tatsächlich auf die unübersehbaren Nietzsche-Spuren beim jungen Hofmannsthal reagiert haben. Nachweisbar hat dieser sich in den 1890er Jahren mit der Historien-Schrift, mit Menschliches, Allzumenschliches, mit Jenseits von Gut und Böse und dem Zarathustra beschäftigt.17 Jeder möglichen Nietzsche-Anspielung nachzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Exemplarisch kann aber gezeigt werden, wie vor allem zentrale Gedanken der moraltheoretischen Schriften Nietzsches in Hofmannsthals Texten dieser Zeit in einem ästhetischen Kontext variiert werden. Nietzsche führt seine bis heute umstrittenen Moralvorstellungen bekanntlich im fünften und neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse aus; die meistzitierten Passagen zur Herren- und Sklavenmoral finden sich in Paragraph 260. Nietzsche bezweifelt die Absolutheit und Allgemeingültigkeit moralischer Grundsätze und sieht ihre unbedingte Befolgung als Moment sklavischer Unterwerfung. Die Natur des Menschen ziele vielmehr auf die Herrschaft der Starken über die Schwachen; diese könnten sich nur ausleben, indem sie sich von den Schwachen absetzen würden. Die Herrenmoral der vornehmen Menschen bewege sich ›jenseits von Gut und Böse‹; mit der Verachtung des Schwachen gehe eine Strenge gegen sich selbst einher. Das rücksichtslose Streben nach Höherem, der »Wille zur Macht«,18 diene dem Schöpfertum und der Befreiung des (eigentlichen) Lebens. Die Sklavenmoral orientiere sich hingegen an der Nützlichkeit für die Mehrheit, am Überleben; sie suche Unterschiede durch moralische Vorschriften zu nivellieren. Deshalb empfinde sie das Starke als Anfechtung ihres moralischen Denkens und verfolge dasjenige, was sich aus dem Mittelmaß erhebe. Auch die Kategorien Wahrheit und Lüge werden von Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse angesprochen: Die Starken orientieren ihr Handeln an der Wahrheit, sie verhalten sich so, wie sie meinen, sich verhalten zu müssen, während die Schwachen sich notwendig anpassen, schmeicheln und aus Pragmatismus lügen. Kultur, Feinsinn und Überlegenheit der Starken stehen dem Neid und dem Primitivismus der Schwachen gegenüber. Während die Sklavenmoral als typische Vorstellung der Moderne gesehen
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Vgl. Hans Steffen: Hofmannsthal und Nietzsche. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur (Anm. 8). Bd. 2: Forschungsergebnisse. Tübingen 1978, S. 4– 11. Vgl. auch Hans Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg 1973. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, S. 316. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen.
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und deshalb mit Demokratie, Anarchismus und Sozialismus zusammengebracht wird, steht die Herrenmoral für Tradition und Aristokratie. Die nationalistischen, rassistischen, ja antisemitischen Vorstellungen, die sich in den beiden moraltheoretischen Schriften Nietzsches finden, scheinen für die frühe Nietzsche-Rezeption der Wiener Moderne kaum eine Rolle zu spielen. Man muss sie hier deshalb nicht eigens diskutieren. Eine kritische Stimme sei zumindest erwähnt: Hermann Bahrs 1894 veröffentlichte Interviews zum Antisemitismus. In seiner eigenen Einschätzung zu Beginn des Buches kommt Bahr auf Nietzsche zu sprechen: Die antisemitischen Führer, denen es nicht bloß um das Geschäft zu tun ist, sind Prätendenten um die Gunst des Pöbels, die herrschen wollen. Sie möchten in ihrem kleinen Kreise so eine Art von Nietzsche’schen Übermenschen werden, die durch alle Mittel den Genuß der Macht erwerben.19
Bahr erinnert hier zumindest implizit an die Genealogie der Moral, wo der »Wille zur Macht« mit antisemitischem Ressentiment verbunden wird. Tatsächlich wird im späteren antisemitischen Diskurs dieser Nietzsche immer wieder als Kronzeuge aufgerufen. Sucht man nach Spuren der Nietzsche-Lektüre in denjenigen Texten Hofmannsthals, die etwa zur gleichen Zeit entstanden, so fällt zuerst das Vokabular der Einakter auf, das recht deutlich an die beiden moraltheoretischen Schriften Nietzsches erinnert; von »Sklavensinn« ist in Gestern die Rede oder von »Askese«, von »Lüge« und »Wahrheit« natürlich, vom »Geist des Augenblicks« oder vom »Menschentum«20 und seinen tierischen Trieben. In den Varianten und Notizen wird man weiter fündig; einschlägig ist wohl der Vers »Ich denke gern an eisig klares Schimmern«, der mit einer Äußerung an Schnitzler korrespondiert: Er lese jetzt Nietzsche und erfreue sich an dessen kalter »Klarheit, der ›hellen Luft der Cordilleren‹«.21 Vermutlich gedachte Hofmannsthal hier der »durchsichtigen […], männlichen Luft«, die in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft genannt wird, oder des dort entworfenen Wegs Zarathustras ins Gebirge,22 den er als Eingangsstimmung auch in den Entwurfsblättern zum Einakter Der Tod des Tizian nennt.23
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Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview. Berlin 1894, S. 3. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Gedichte. Dramen I (1891– 1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 217, 223, 218, 231, 223. Brief Hofmannsthals an Schnitzler vom 13. Juli 1891. In: Hugo v. Hofmannsthal u. Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1964, S. 7. Vgl. KSA 3, S. 535; zudem S. 533–535, 571. Vgl. Dieter Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur (Anm. 8). Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963, S. 78–80. Hugo v. Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. Rudolf Hirsch. Bd. 3: Dramen 1. Hg. v. Götz Eberhard Hübner. Frankfurt a. M. 1982, S. 343–346.
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Die Nominalphrase ›Luft der Cordilleren‹ dürfte aber übrigens aus dem Gedicht Die Amerikanerin (erschienen 1888) des österreichischen Realisten Ferdinand von Saar entlehnt sein.24 Im Tizian findet sich mit Bezug auf den Kunstgott Pan die Schleier-Metapher25 aus der Geburt der Tragödie.26 Sie bannt apollinisch den Schrecken über den Tod des großen Künstlers, der – dionysisch – »das Geheimnis ist von allem Leben«.27 Eine solche Artisten-Metaphysik besagt, dass es nur der hohen Kunst vergönnt ist, in die wirkliche Tiefe des Lebens vorzudringen, während jenseits des Ästhetischen ein nur scheinbares Leben herrscht. Mit Blick auf Venedig entwirft das Drama in diesem Sinne eine untere und eine obere Welt, eine des Pöbels und eine der Kunst.28 Einschlägig sind die Worte des Meisterschülers Desiderio an den sechzehnjährigen Schüler Gianino: Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht? Gehüllt in Duft und goldne Abendglut […]? Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen, Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit, Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen; Und was die Ferne weise dir verhüllt, Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen Und ihre Welt mit unsren Worten nennen… Denn unsre Wonne oder unsre Pein Hat mit der ihren nur das Wort gemein… Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen, So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern Sie aber schlafen, wie die Austern dämmern.29
Mit Nietzsches moraltheoretischen Entwürfen wäre hier auch topographisch ganz deutlich zwischen einer nur vegetierenden Sklaven- und einer schöpferischen Herrenwelt zu unterscheiden. Unten wohnt der Pöbel, der keinen Zugang zur Kunst hat und bestenfalls in der Mittelmäßigkeit ver-
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Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Jakob Minor. Leipzig o. J. [1908]. Bd. 2: Sämtliche Gedichte 1, S. 140. Vgl. Hugo v. Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Gedichte. Dramen I (1891– 1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 258. Vgl. KSA 1, S. 33 u. ö. Ebenda. Vgl. hierzu Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870– 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 70–74, hier S. 73. Vgl. Hugo v. Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Gedichte. Dramen I (1891– 1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 253, 257. Ebenda, S. 253f.
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harrt, während oben in der Welt der Titanen die aristokratische Kunst ihre letzten großen Feste feiert. Eine parallele Beschreibung zweier Welten wird in Hofmannsthals Gedicht Manche freilich… (1895) durch eine Galeere versinnbildlicht: Oben lenken die Aristokraten mit leichter Hand, während unten die Sklaven das Schiff vorantreiben. Freilich betont der Sprecher – den Ästhetizismus im Vollzug immer auch zugleich kritisierend –, dass die Oberen an die Unteren gebunden seien.30 Vergleichbare Problematisierungen des Ästhetizismus lassen sich in Hofmannsthals Erzählungen und in weiteren Gedichten der Frühzeit finden. Auch im erwähnten Einakter Gestern wird Andreas Fähigkeit zu artistischer Größe thematisiert; sie zeigt sich in seinen letztlich scheiternden Versuchen, mit erhabener Geste über die Amoralität Arlettes hinwegzugehen und das Vergangene souverän in eigene Gegenwartsentwürfe einzubeziehen. Andreas Bekenntnis zur Gegenwärtigkeit wird durch die sich stets aufdrängende und nicht zu kontrollierende Bindung ans Vergangene als blasse Rhetorik entlarvt. Insofern entspricht die hier verhandelte Problematik, sieht man sie nicht lediglich als privates Problem des Protagonisten, durchaus den Diagnosen der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches, mit der sich Hofmannsthal seit Beginn der 1890er Jahre beschäftigt hatte: Hiervon zeugen zum Beispiel das Gedicht Gedankenspuk (1890) mit dem fingierten Nietzsche-Motto »Können wir die Historie loswerden«31 und ein früher Brief an Eduard Michael Kafka.32 Geht man von der Lektüre der moraltheoretischen Schriften Nietzsches aus, so wird man Andreas Verhalten als Versuch werten, seinen ›Willen zur Macht‹ auszuleben; dieser bezieht sich sowohl auf konkrete Machtkonstellationen in seinem Haus als auch auf seine artistischen Intentionen, etwa wenn Andrea die Angst lähmt, dass er »das Höchste, Tiefste doch verfehle«.33 Die Savonarola-Erzählung Marsilios könnte man in dieser Hinsicht vermutlich als Zerrspiegel dieses Versuchs werten: Dem charismatischen Prediger wird ja ein »Wille zum Zerstören«34 zugedacht. Die Wirkung der Nietzsche-Lektüren auf Hofmannsthal erscheint auch angesichts dieser nur exemplarisch vorgenommenen Überprüfung unbe-
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Vgl. ebenda, S. 26. Ebenda, S. 97. Vgl. den Brief Hofmannsthals an Eduard Michael Kafka vom 28. Dezember 1890. In: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke (Anm. 23). Bd. 3: Dramen 1. Hg. v. Götz Eberhard Hübner. Frankfurt a. M. 1982, S. 397. Eine Lektüre der ersten und zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung wird im Kommentar der Kritischen Ausgabe auch für 1892 angesetzt; vgl. dort S. 397. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Gedichte. Dramen I (1891– 1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 217. Ebenda, S. 220.
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streitbar. Allein das stete Zusammendenken von Poesie und Leben – so der Titel der berühmten Rede von 189635 – spricht dafür, die Nietzsche-Referenz nicht lediglich als Aufnahme von wohlfeilen Schlagworten abzutun. Hofmannsthals Ästhetik aber auf Nietzsches Artisten-Metaphysik zu reduzieren, erscheint gerade wegen seiner stets mitlaufenden ÄsthetizismusKritik letztlich fraglich. Hofmannsthals recht konkrete Lektüre-Erträge waren in der Wiener Moderne zwar sicherlich die Ausnahme; deutliche Spuren lassen sich aber auch etwa bei Hermann Bahr und Arthur Schnitzler finden. Ihre NietzscheRezeption tendiert indes viel eher zu einer bloß ›rhetorischen‹ Aneignung von Schlagworten und bekannten Formulierungen, mit denen dann allerdings zum Teil brillant gespielt wird. Die folgende kursorische Sichtung wird sich erneut vor allem auf die ethischen Sentenzen Nietzsches beschränken. In ihrem 1889 erschienenen Roman Unsühnbar verwendet Marie von Ebner-Eschenbach, die große österreichische Realistin und Förderin JungWiens, die wohl bekannteste Phrase Nietzsches zur Charakterisierung einer Figur: »Tessin hält sich gewiß, wie heutzutage so mancher, für einen, der ›jenseits von Gut und Böse‹ steht«36 – mit diesen Worten warnt ein Graf seine Tochter vor einem ins Gerede gekommenen Verwandten. Schon 1889, vier Jahre nach seinem Erscheinen, ist Nietzsches Werk in Wien zum allgemein verständlichen Schlagwort geworden. Wir lesen diese Phrase dann unter anderem in Hofmannsthals Bourget-Essay von 189137 oder in Hermann Bahrs Selbstbildnis. Die Formulierung dort behauptet für die Wiener Moderne gar einen Nietzscheanismus ›avant la lettre‹; Ausgangspunkt einer neuen Kunstauffassung sei ein Satz Zolas gewesen: »Une phrase bien faite est une bonne action«. »Dieser Satz hat mich geweckt. Er erinnerte mich an Gut und Böse. Noch bevor wir die Formulierung bei Nietzsche fanden, lebten wir ›jüngsten Deutschen‹ ja längst schon jenseits von Gut und Böse«.38 Nur auf den ersten Blick erscheint es befremdlich, dass Bahr Nietzsches Moraldiktum mit der neuen naturalistischen Schreibart zusammenbringt. Denn der Konzentration auf die Verfahren, die Bahr wenig später vertieft, geht ein Verzicht auf moralische Wertungen voraus; die Formulierung ›jenseits von Gut und Böse‹ richtet sich insofern nicht gegen die
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Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Reden und Aufsätze I (1891– 1913). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 13–19. Marie von Ebner-Eschenbach: Sämtliche Werke. Bd. 4: Unsühnbar. Berlin o. J. [1920], S. 11. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Reden und Aufsätze I (1891– 1913). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 95; mehrfache explizite Nennung Nietzsches auf S. 96. Hermann Bahr: Selbstbildnis. Berlin 1923, S. 223.
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Moral, sondern lediglich gegen den sozialkritischen Duktus der Berliner Naturalisten. Und als Argument gereicht Bahr pikanterweise der französische Ahnherr der Bewegung. Diesen dann mit Nietzsches Amoralismus zusammenzubringen, entspricht ganz dem eklektischen Verfahren des Linzers. Eine Dichtung jenseits von Gut und Böse könne wieder – so Bahr – auf formale »Qualität« setzen.39 Wie sehr für Bahr der Name Nietzsches für einen Aufbruch in die Moderne stand, sieht man unter anderem daran, dass er ihn in seinem Essay über Das junge Österreich (1894) gleich zweimal heranzieht, um seine Mitstreiter – Torresani und Hofmannsthal – avantgardistisch zu platzieren.40 Unschwer ist Gedankengut aus dem Zarathustra, insbesondere das Konzept des Übermenschen, in seinem bekannten Programm-Essay Die Moderne (1891) zu erkennen.41 Er setzt mit dem Motiv einer Wüstenwanderung ein, die die Erkenntnis habe reifen lassen, dass die moderne Welt eines Erlösers bedürfe. Als Nietzsche-Leser denkt man hierbei natürlich an Unter Töchtern der Wüste (KSA 6, S. 381–387). Die überkommene, alte Welt sei – hier wäre nun an die Historienschrift zu denken42 – gekennzeichnet durch eine wuchernde Vergangenheit, die das Leben beschneide: Das Leben hat sich gewandelt, bis in den letzten Grund, und wandelt sich immer noch aufs neue, alle Tage rastlos und unstät. Aber der Geist bleibt alt und starr und regte sich nicht und bewegte sich nicht und nun leidet er hilflos, weil er einsam ist und verlassen vom Leben.43
Später ist vom »Trümmerschutt der Überlieferung« die Rede, den der Mensch aus seiner Seele schaffen müsse.44 Er erinnert gewiss an die »ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen«, die der moderne Mensch bei Nietzsche mit sich herumschleppt und von denen er sich baldmöglichst befreien sollte. Unklar bleibt bei solchen Passagen, welcher Gedanke, welche Formulierung wirklich auf Nietzsche zurückgeht und welche dem Zeitgeist und dem Gedankenaustausch, ja dem vitalistischen Diskurs um 1900 geschuldet sind. Die relative Dichte der Nietzsche-Motive im ModerneEssay spricht für eine bewusste Amalgamierung des Programm-Essays, nicht unbedingt aber für eine Auseinandersetzung mit dem Philosophen. Auch Arthur Schnitzler verwendet Nietzsche-Phrasen, mitunter auch das wohlfeile Jenseits von Gut und Böse; seine Kenntnis der moraltheoreti-
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Ebenda, S. 227. Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgew., eingel. u. erläutert v. Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968, S. 147, 149. Ebenda, S. 35–38. Vgl. KSA 1, S. 243–334, insbesondere S. 271f. Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus (Anm. 40), S. 36. Ebenda, S. 37.
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schen Schrift bezeugt immerhin ein Brief an Hofmannsthal aus dem Jahre 1891.45 Die Titelphrase dient in seinem komplex angelegten Metadrama Zum großen Wurstel (1904), erste Fassung und spätere Buchausgabe als Teil des Einakterzyklus Marionetten (1901/05), wie bei Ebner-Eschenbach vordergründig der Gestaltung einer Figur, diesmal des überstrengen Vaters einer Tochter. Der Held eines Puppenspiels wendet sich in einer Binnenszene – wie es in einer Regienanweisung heißt – ›ad spectatores‹, das heißt er sollte sich mit seinen Worten nicht so sehr an die Zuschauer auf der Bühne, etwa an den Dichter des Binnenstücks, sondern vor allem an die Zuschauer vor der Bühne richten. Der Protagonist glaubt in dieser Szene, sein letztes Stündlein habe geschlagen: HELD hat sich an den Schreibtisch gesetzt und geschrieben. All meine Habe, Geliebte, dein, Doch heute noch will ich dein Gatte sein. Ad spectatores. Denn ließ ich sie ohne dieses erben, Sie müßte durch ihren Vater sterben, Da dieser ein düsterer Kanzelist Aus einer sehr alten Schachtel ist, Auf jenseits von Gut und Böse pfeift Und sozusagen nichts begreift.46
Im Binnenstück wird mit Nietzsches Phrase der düstere Vater seiner Geliebten charakterisiert, der nur ein einziges Mal auftritt. In Lessing’scher Manier will der Kanzelist die eigene Tochter vor dem mächtigen Verführer retten. Er wacht wie Odoardo Galotti mit Übereifer über die Tugend der Tochter, verhält sich also keineswegs amoralisch, jedenfalls nicht im geläufigen Sinne. Er pfeift somit tatsächlich nicht auf Gut und Böse, sondern auf Nietzsches Philosophie; sein moralisches Anliegen erweist sich nur – es entspringt ja einer »alten Schachtel« – als unzeitgemäß. Der düstere Puppen-Kanzelist begreift Nietzsches Amoralität nicht. Genau das bemerkt der Held, wenn er später nochmals in einem Gespräch mit diesem, jetzt kaum merklich, den Nietzsche-Titel variiert: »Du alter Mann – wie klingen deine Worte | So schal und sinnlos an des Jenseits Pforte«.47 Vorderhand meint der Held natürlich seine Todesstunde; gleichzeitig konstatiert er, dass der Kanzelist – der nämlich mit Lessing die Bühne zu seiner moralischen Kanzel macht – sich außerhalb der modernen Doktrin des Dramas bewegt.
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Vgl. Arthur Schnitzlers Brief an Hofmannsthal vom 27. Juli 1891. In: Hugo v. Hofmannsthal u. Arthur Schnitzler: Briefwechsel (Anm. 21), S. 9f. Arthur Schnitzler: Das dramatische Werk in chronologischer Ordnung. Bd. 4: Der Schleier der Beatrice. Dramen 1899–1900. Frankfurt a. M. 1978, S. 130. Ebenda, S. 137.
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Die Jenseits-Pforte spielt insofern auch auf Nietzsches Artisten-Ästhetik an. Diese Jenseits-Philosophie verzichtet auf eine moralische Ausrichtung der Bühne und verschreibt sich einem dramaturgischen Ästhetizismus, der mit dem »Wesen der Aufklärung« nicht mehr viel gemein hat.48 Schnitzlers Anspielungen auf die Artisten-Metaphysik im Wurstel-Stück haben zweifellos selbst einen spielerischen Charakter und dienten wohl auch dazu, die Jung-Wiener subtil an Stichworte ihrer Diskussionen zu erinnern. Eine ähnliche Funktion dürften die Hinweise auf Nietzsche-Lektüren in der Novelle Sterben und im Roman Der Weg ins Freie haben: Sie charakterisieren jeweils eine jugendlich-radikale Position, der der Weitblick des Alters abgeht, mit Fels gesprochen eine Art Pubertätsphilosophie. Der Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit Nietzsche in einem theaterkritischen Brief vom 21. Juni 1895 könnte ebenfalls die Label-Funktion des Namens gewesen sein, auf die sich der unbekannte Briefpartner offenbar bezogen hatte. Dessen ›name-dropping‹ zwingt Schnitzler jedenfalls dazu, dem Adressaten über Nietzsches tatsächlichen Einfluss auf sein eigenes Schreiben Rechenschaft zu geben. Hierbei nun argumentiert Schnitzler expliziter und auch kritischer als sonst. Ich kann mir selbst große Künstler vorstellen, die Nietzsche nicht kennen, auch solche, die ihn kennen u. lieben. Misverstehen Sie mich nicht: ich kenne ihn und liebe ihn. Daß er kein Philosoph, im Sinne der systemat. Philosophie ist, bringt ihn mir auch näher. Doch finde ich nichts in ihm, das meine Anschauungen über Kunst irgendwie beeinflußt hat. Ich sehe heute alles Schöne und Große wie ich es vorher gesehen habe. Mir ist, was Nietzsche geschaffen, ein Kunstwerk für sich. Ich verehre ihn hoch […] ich habe einen Genuß mehr seit Nietzsche – aber ich habe keinen Genuß anders als ich ihn gehabt habe.49
Natürlich wirkt auch jetzt das Lob deutlich rhetorisch. Nach einem Bekenntnis zu Nietzsches unphilosophischem Schreiben, genauer zum ästhetischen Wert seiner Texte – hier argumentiert Schnitzler ja ähnlich wie Bahr und Fels –, bezweifelt er eine kunsttheoretische Wirkung des Philosophen auf ihn. Als Künstler, nicht als Philosoph schätze er Nietzsche. Im Anschluss an diese Passage stellt der Brief generell in Frage, ob sich ein Dichter unbedingt von einem »großen Geist« beeinflussen lassen sollte. Wichtiger sei bei allen Formexperimenten im Drama – und hier nähert sich Schnitzler der Philosophie Nietzsches an –, dass es »lebt«.50 Schnitzler versucht im Brief also seine Originalität einem vermeintlichen Nietzsche-Epi-
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Ebenda, S. 139. Arthur Schnitzler an N. N. am 21. Juni 1895. In: Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1981, S. 262. Arthur Schnitzler: Das dramatische Werk (Anm. 46). Bd. 4: Der Schleier der Beatrice. Dramen 1899–1900. Frankfurt a. M. 1978, S. 263.
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gonentum entgegenzustellen. Um glaubhaft zu wirken, muss er dabei eine gewisse Kenntnis Nietzsches bezeugen. Dies gelingt durch das Lob des ästhetischen Werts seiner Schriften und durch den Hinweis auf die unsystematische Anlage seiner Philosophie. Nach dieser eher punktuellen Sichtung von Nietzsche-Spuren in den Texten des Jungen Wiens lassen sich zumindest einige Tendenzen festhalten: Die Wiener Moderne pflegt keinen affirmativen Umgang mit Nietzsches Philosophie. Abgrenzung und Kritik, aber auch eine Kritik an der unsachgemäßen Aufnahme Nietzsches – Stichwort Nietzscheanismus – prägen ihre Auseinandersetzung mit dem Philosophen. Insgesamt ist die Präsenz Nietzsches nicht so deutlich, wie es die Forschung manchmal behauptet. Von einer Nietzsche-Lektüre Hofmannsthals kann man ausgehen. Auch werden Bahr, Beer-Hofmann, Schnitzler und Karl Kraus Nietzsche gelesen haben. Trotz dieser Lektüre-Spuren dominieren die Platzierung von Signalworten, einzelnen Phrasen und die Präsentation allein des Namens, um bestimmte Haltungen oder Charaktere zu zeichnen. Will man die Bedeutung Nietzsches für die Wiener Moderne an Themen und Inhalten festmachen, so wären vor allem die amoralische Herleitung des Ästhetizismus, die Historienkritik und natürlich das ästhetische Doppel apollinisch/dionysisch zu nennen. Von einigen Autoren – voran Fels, Schnitzler und Bahr – wird der Stil Nietzsches für wichtiger eingeschätzt als dessen Philosophie oder ›Philosopheme‹. Eine stilistische Wirkung ist schwer nachweisbar, zumal bestimmte Merkmale – Pathos, Schlagworte, Redundanzen, Analogieschlüsse – nicht unbedingt ausschließlich bei Nietzsche zu finden waren. Vielleicht könnte man hier versuchsweise von einer Affinität der Stile von Literatur und Nietzsche-Philosophie sprechen. Anschließend daran wäre aber nochmals zu diskutieren, inwieweit Nietzsches Historien-Schrift und die DekadenzAnalyse im Fall Wagner (KSA 6, S. 26–29) auf die Textverfahren der Wiener Moderne zu beziehen sind. Denn dort werden ja über die Veränderung von Wissens- und Weltaneignungsstrukturen typisch ›moderne‹, zur Abstraktion tendierende Textverfahren (Formen der Lexemautonomie, unverständliche Texturen, Stimmungstexte, literarische Kataloge) zwar nicht eigentlich gerechtfertigt, aber kühn als Moderne-Phänomene diagnostiziert.51 Solche Verfahren finden sich beispielsweise in avantgardistischen Gedichten der Wiener Moderne wie dem Lebenslied von Hofmannsthal52 oder in
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Vgl. hierzu ausführlich Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger u. Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke (Anm. 11). Gedichte. Dramen I (1891– 1898). Hg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 217.
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katalogartigen Prosastücken der Jung-Wiener wie dem Speisehaus Pròdŏmŏs oder Meine Ideale von Peter Altenberg.53 Für die Nietzsche-Forschung dürfte der frühe Zeitpunkt der relativ breiten Nietzsche-Rezeption im Jungen Wien der interessanteste sein. Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Wiener Moderne halte ich den spielerischen, ja distanzierten Umgang mit Nietzsche-Philosophemen für den spannendsten Ertrag der hier vorgelegten Lektüren.
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Werner J. Schweiger (Hg.): Das große Peter Altenberg Buch. Wien, Hamburg 1977, S. 84f., 287.
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Mit singender statt redender Seele Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und seinem Kreis für den, der half Gegen Ende des Jahres 1896 schrieb Karl Wolfskehl an Ida Auerbach über Stefan George:1 er ist der Große unter uns und was er thut ist recht und er darf von uns schweigende Anerkennung verlangen. Ich liebe ich verehre ihn mehr denn je denn in ihm offenbart sich ein Gewaltiges. Seine Unerbittlichkeit sein flammendes Ja und Nein sind mir immer heilig auch wo ich andre Pfade wandle. Ihm hätte Nietzsche begegnen müssen! –
Eine solche Begegnung zwischen Nietzsche und George, die Wolfskehl 1896 nur noch im Irrealis erwägt, hat nie stattgefunden. Dennoch behauptete George späterhin, den kranken Nietzsche noch in Turin getroffen zu haben. »Gern erzählte er und ließ dies später auch durch seinen Biographen [Friedrich] Wolters verbreiten, er habe Turin in eben dem Augenblick betreten, in dem der umnachtete Nietzsche dort abgeholt wurde; dabei war George Anfang 1889 gar nicht in Turin gewesen«.2 Was aber sollte mit dieser Legendenbildung bezweckt werden? Für Wolfskehl stellte die imaginierte Zusammenkunft nicht mehr als ein Gedankenexperiment dar. Denn trotz des begeisterten Ausrufs »Ihm hätte Nietzsche begegnen müssen!« betont der abschließende Gedankenstrich die prinzipielle Offenheit und Unabwägbarkeit einer solchen Begegnung. Zugleich aber wird auch Wolfskehls Erwartung spürbar, dass die Zusammenkunft, ungeachtet der »Unerbittlichkeit« Georges, fruchtbar hätte verlaufen können. In Georges Stilisierung hingegen wird die Absicht erkennbar, aus der vermeintlichen Begegnung symbolisches Kapital zu schlagen. Mit der Suggestion, in Turin angekommen zu sein, als der geisteskranke Nietzsche in
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Stefan George – Ida Coblenz. Briefwechsel. Hg. v. Georg Peter Landmann u. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 1983, S. 95f. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 22007, S. 293. Zur Tradierung der Turin-Legende vgl. ebenda, S. 689, Anm. 28.
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Nikolas Immer
einem Anfall von Wahnsinn ein Droschkenpferd umarmte,3 inszenierte sich George als Vollender und Überwinder Nietzsches. Die allmähliche Etablierung des George-Kreises verdeutlicht dabei,4 worum es George mit dieser Legendenbildung vor allem ging: um das Erbe einer geistigen Führerschaft. I Obwohl es bereits Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Hinweise auf Georges Beschäftigung mit Nietzsches Werken gibt, ist es aus einem anderen Grund dennoch nicht leicht, gegenwärtig über Georges Verhältnis zu Nietzsche zu schreiben. Das liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass die Forschungsliteratur zum Thema besonders in den letzten Jahren erheblich angewachsen ist.5 Mit Blick auf Frank Webers Studie Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (1989) hat Peter Trawny 2001 vermerkt: »Überhaupt fällt es schwer, hinsichtlich der Nietzsche-Rezeption Georges und des Kreises auch nur eine Erkenntnis fassen zu kön-
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Vgl. Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart 1980, S. 784. Nach der Einschätzung von Ross fällt dieses Ereignis wohl in die letzten Dezembertage des Jahres 1888 (ebenda, S. 785). Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890– 1945. Tübingen 1998. Vgl. die folgenden Arbeiten, hier in chronologischer Folge: Herbert Cysarz: Wagner, Nietzsche, George. Form-Wille und Kultur-Wille, vornehmlich bei George. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1931), S. 94–125. Wolfgang Rosengarth: Nietzsche und George. Ihre Sendung und ihr Menschentum. Leipzig 1934. Rudolf Kayser: Friedrich Nietzsche und Stefan George. In: Monatshefte 29 (1937), H. 4, S. 145–152. Erich Berger: Textparallelen zur Frage George und Nietzsche. In: Monatshefte 46 (1954), H. 6, S. 325– 331. Geneviève Bianquis: Nietzsche et Stefan George. In: Revue des lettres modernes 76/77 (1962/63), S. 46–52. Peter Pütz: Nietzsche und George. In: Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann u. Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Stefan George Kolloquium. Köln 1971, S. 49–58, 59–66 (Diskussion). Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme. Berlin, New York 1984. Peter Lutz Lehmann: Stefan George contra Nietzsche? In: Neue Beiträge zur George-Forschung 13 (1988), S. 21–29. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt a. M. 1989. Theo Meyer: Stefan George. In: Ders.: Nietzsche und die Kunst. Tübingen, Basel 1993, S. 178–188. Frank Weber: Nietzsche und George. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 18 (1993), S. 30–41. Peter Trawny: George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises. In: George-Jahrbuch 3 (2000/01), S. 34–68. Rainer Kolk: Nietzsche, George und Deutschland. Dokumente zu Ernst Bertrams frühen Publikationen. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Hg. v. Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 315–334. Ulrich Raulff: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende. George und Nietzsche: Fragmente zu einem Doppelporträt. In: Text + Kritik 168 (2005), S. 76–85.
Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und seinem Kreis
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nen, die nicht schon von Weber zur Sprache gebracht worden ist«.6 Und noch 2005 unterstreicht Ulrich Raulff, dass jeder Interpret »alle Hoffnung auf Originalität fahren lassen« müsse,7 sofern er sich erneut mit Georges Nietzsche-Rezeption auseinandersetze. Die koketten Bekenntnisse weichen freilich in beiden Fällen produktiven Textlektüren, obgleich Raulff die Arbeiten von Weber und Heinz Raschel offenkundig nicht zur Kenntnis genommen hat.8 Im Falle Webers ist das immerhin deswegen bedauerlich, weil dieser den Vorschlag macht, die Genese des Nietzsche-Bildes bei George und seinem Kreis in fünf Perioden einzuteilen, in denen eine je andere Leitvorstellung des Dichterphilosophen in den Vordergrund rückt: Nietzsche als a) Mitkämpfer, b) Erlöser, c) Prophet, d) Vorläufer und e) Gescheiterter.9 Dass Weber dieser Schematisierung freilich selbst nicht traute, belegt sein Aufsatz aus dem Jahr 1993, in dem er die genannten fünf Phasen auf drei reduzierte.10 Obwohl eine solche Gliederung den dynamischen Prozess einer Rezeption notwendig relativiert, zeigt sie doch in diesem Fall den grundlegenden Wandel, den Georges Nietzsche-Bild erfährt. Während Nietzsche anfangs als eine Art »Mitkämpfer« gesehen wurde, war Georges Beziehung zu dem Vorgänger in späteren Jahren »von einer immer radikaleren Abwendung« geprägt.11 Erste Kenntnis von den Werken Nietzsches erhielt George im Verlauf seines kurzen Studienaufenthalts in Berlin, im Wintersemester 1889/90.12 Das Nietzsche-Bild dieser Zeit war maßgeblich beeinflusst von dem Literaturkritiker und »Cultur-Missionär« Georg Brandes,13 der in Kopenhagen eine Vorlesungsreihe über Nietzsche (1888) gehalten und daraufhin mit seinem Essay Aristokratischer Radikalismus (1889/90) den Dichterphilosophen eminent popularisiert hatte.14 Eingangs seines Essays schreibt Brandes:
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Peter Trawny: George dichtet Nietzsche (Anm. 5), S. 47. Ulrich Raulff: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende (Anm. 5), S. 76. Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis (Anm. 5). Über die Qualität von Raschels Studie hat Trawny alles Notwendige gesagt. Vgl. Peter Trawny: George dichtet Nietzsche (Anm. 5), S. 45–47. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 42–89. Vgl. Frank Weber: Nietzsche und George (Anm. 5), S. 30. Ebenda. Vgl. Edgar Salin: Vom deutschen Verhängnis. Gespräch an der Zeitenwende: Burckhardt – Nietzsche. Hamburg 1959, S. 162. Nietzsche an Brandes, 2. Dezember 1887. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in acht Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. [Berlin, New York 1975–1984]. München 1986. Bd. 8: Januar 1887 – Januar 1889. Nachträge/Register, S. 205. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle SB nachgewiesen. Weber weist bereits auf diesen Essay als mögliche Anregung für George hin. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 38.
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In der Literatur des gegenwärtigen Deutschlands scheint Friedrich Nietzsche mir der interessanteste Schriftsteller zu sein. Obgleich selbst in seinem Vaterlande wenig gekannt, ist er ein Geist von bedeutendem Rang, der es vollauf verdient, daß man ihn studiert, erörtert, bekämpft und sich aneignet. Unter anderen guten Eigenschaften besitzt er die, Stimmungen mitzuteilen und Gedanken in Bewegung zu setzen.15
Diese von Brandes geforderte Aneignung vollzog George spätestens in den frühen 1890er Jahren, wie sein Briefwechsel mit Ida Coblenz belegt. Dokumentiert ist die Anekdote, dass er ihr gegenüber »einen Satz von Nietzsche« zitierte, »als sei ihm der Titel des Buches entfallen – um sie zu prüfen«.16 Coblenz, die der Prüfung offenbar standhielt, rekurrierte im März 1893 brieflich auf eine Passage aus der dritten Vorrede von Also sprach Zarathustra (1883–85), und im Juni 1895 teilte ihr George mit, dass er Nietzsche zu den »wahrhaft grosse[n] Deutsche[n]« zähle.17 Drei Jahre zuvor hatte George auch Bekanntschaft mit Fritz Kögel geschlossen, der ab Mitte der 1890er Jahre als Redakteur an der Nietzsche-Gesamtausgabe arbeitete. Im Gespräch mit Edith Landmann bekannte George 1920, Nietzsche bereits seit 1892 »als Orator« und »als Kämpfer« geschätzt zu haben, »den man brauchen konnte«.18 Mit dieser Wortwahl erinnerte George an einen Aufsatz, der im Dezember 1892 in den Blättern für die Kunst erschienen war. Denn in dem »zweifellos von George inspirierte[n]« Text Carl August Kleins wurde Nietzsche dezidiert als »orator« gepriesen:19 Wir haben auch vertreter einer neuen kunst und brauchen uns nicht ans ausland anzulehnen. Sie ist ganz anderer art als die Zola’s und der norweger und ganz bei uns zu haus. Ihre hauptstützen Richard Wagner der komponist Friedrich Nietzsche der orator der maler Arnold Böcklin und der zeichner Max Klinger. Zu ihnen tritt ein dichter.20
Während Wagner, Böcklin und Klinger mit ihren herausragenden Begabungen in Verbindung gebracht werden, wird Nietzsche weder als ein Philosoph noch als ein Dichter, sondern vielmehr als ein Redner gewürdigt.
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Zuvor hatte schon Rudolf Kayser auf die aristokratische Geisteshaltung bei Nietzsche und George aufmerksam gemacht. Vgl. R. Kayser: Friedrich Nietzsche und Stefan George (Anm. 5), S. 151. Georg Brandes: Nietzsche. Mit einer Einleitung von Klaus Bohnen. Berlin 2004, S. 25. Stefan George – Ida Coblenz. Briefwechsel (Anm. 1), S. 7. Ebenda, S. 41, 53. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf, München 1963, S. 100. Peter Pütz: Nietzsche und George (Anm. 5), S. 64 (Diskussion: Eckhard Heftrich). Zitiert nach Ulrich Raulff: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende (Anm. 5), S. 77. Die Zusammenstellung von Wagner, Nietzsche und Böcklin findet sich wenige Jahre später auch in Paul Gérardys Schrift A la gloire de Böcklin (1895). Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 155.
Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und seinem Kreis
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Wenn Trawny behauptet, dass bei »George und de[m] Kreis […] Nietzsche grundsätzlich als Denker« aufgefasst worden sei,21 zeigt doch die Zuschreibung Kleins, dass in der Frühphase der Nietzsche-Rezeption auch eine andere Qualität für George bedeutsam war: die der rhetorisch-suggestiven Kraft, wie sie im dithyrambischen Ton des Zarathustra signifikanten Ausdruck gewonnen hatte. Noch 1896 war in den Blättern für die Kunst von Nietzsche als dem »Zarathustraweisen« die Rede,22 der die absolute Zweckfreiheit der Kunst postuliert habe. Als Dichter hingegen konnte Nietzsche in diesem Zusammenhang freilich nicht rubriziert werden – diese Künstlerschaft war ausschließlich George vorbehalten. Dass George den Zarathustra um 1892 bereits kannte, belegt nicht nur ein Briefentwurf an Klein aus dem Jahr 1891.23 Auch gegenüber Hugo von Hofmannsthal kam George im Januar 1892 brieflich auf den Zarathustra zu sprechen.24 Zwar teilte George dem Universalhistoriker Kurt Breysig späterhin mit, er »habe 1892 oder so Die Geburt der Tragödie gelesen; Zarathustra erst Jahre später«,25 doch muss offen bleiben, wie zutreffend sich George im Nachhinein an die Anfänge seiner Nietzsche-Lektüre erinnern konnte. Darüber hinaus besaß George ein Exemplar der Geburt der Tragödie, die 1894 in dritter Auflage im Rahmen der von Kögel besorgten Nietzsche-Ausgabe erschienen war.26 Schließlich darf nicht übersehen werden, dass auch Georges Umfeld von einem starken Nietzsche-Enthusiasmus geprägt war. Insbesondere Wolfskehl besaß einen Erstdruck des Zarathustra, den er »permanent wie eine Bibel mit sich führte«.27 Seine Nietzsche-Verehrung war derart intensiv, dass er die Kunst und das Leben am Maßstab des Dionysischen auszurichten versuchte.28 Da die von George 1892 ge-
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Peter Trawny: George dichtet Nietzsche (Anm. 5), S. 42. Zitiert nach Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde. München, Tübingen 1978. Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963, S. 105. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 689, Anm. 23. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 38, Anm. 6. Am 31. Mai 1897 zitiert George in einem weiteren Brief an Hofmannsthal überdies aus Zur Genealogie der Moral (1887). Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2., ergänzte Auflage. München, Düsseldorf 1953, S. 116. Kurt Breysig: Stefan George. Gespräche und Dokumente. Amsterdam 1960, S. 16. Diese Ausgabe, die sich zugleich als einzige Nietzsche-Schrift in Georges Bibliothek nachweisen lässt, enthält einige Bleistift-Anmerkungen Georges. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 39. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 689, Anm. 25. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 40. Ders.: Nietzsche und George (Anm. 5), S. 35. Vgl. Cornelia Blasberg: Weißer Mythos und schwarze Feste. Karl Wolfskehls Antikerezeption. In: Achim Aurnhammer u. Thomas Pittrof (Hg.): »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt a. M. 2002, S. 446–469, hier S. 446.
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gründeten Blätter für die Kunst wiederholt Nietzsche-Zitate oder -Anspielungen enthielten,29 behauptete Wolfskehl 1910 sogar, dass viele von Nietzsches Überlegungen »wie umbildungen dessen klingen was in den Blättern seit dem tage ihres bestehens gefordert« worden war.30 Damit hatte Wolfskehl die Absicht Georges aufgegriffen, ihn, den geistigen Impulsgeber der Blätter, zum Nachfolger und Überwinder Nietzsches zu stilisieren. Berufen konnte man sich dabei auf die Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–76), in denen Nietzsche die »Continuität des Grossen aller Zeiten« postuliert hatte.31 Diese Linie sollte vom »orator« Nietzsche unmittelbar zum »dichter« George führen. II Der Rekurs auf den Vorgänger Nietzsche fand seinen vorläufigen Höhepunkt in Georges großem Widmungsgedicht, das nach dem 25. August 1900, dem Todestag des Weimarer Dichterphilosophen, entstanden war. Als George gegen Mitte Dezember nach Bingen reiste, besuchte er – wahrscheinlich in Begleitung Friedrich Gundolfs – das Domizil, in dem Nietzsche seine letzten Lebensjahre zugebracht hatte, die Weimarer Villa Silberblick. Das vermutlich im Anschluss an diese Reise verfasste Gedicht erschien zuerst in der fünften Folge der Blätter, die im Mai 1901 veröffentlicht wurde. Mit geringfügigen Veränderungen übernahm es George später in den Zyklus der Zeitgedichte aus dem Siebenten Ring (1907). In dieser Gestalt wurde es auch in den Folgeauflagen und schließlich 1931 im Band 6/7 der Gesamt-Ausgabe gedruckt. In seiner Erstfassung lautet das Gedicht: NIETZSCHE Schwergelbe wolken ziehen überm hügel Und kühle stürme halb des herbstes boten Halb frühen frühlings … Also diese mauer Umschloss den Donnerer – ihn der einzig war Von tausenden aus rauch und staub um ihn? Hier sandte er auf flaches mittelland Und tote stadt die lezten stumpfen blitze Und ging aus langer nacht zur längsten nacht.
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Vgl. die Beispiele bei Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 186f. Zitiert nach Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 293f. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, S. 260. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mittels der Sigle KSA nachgewiesen.
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Blöd trabt die menge drunten, scheucht sie nicht! Was wäre stich der qualle, schnitt dem kraut! Noch eine weile walte fromme stille Und das getier das ihn mit lob befleckt Und sich im moder-dunste weiter mästet Der ihn erwürgen half sei erst verendet! Dann aber stehst du strahlend vor den zeiten Wie andre führer mit der blutigen krone. Erlöser du! selbst der unseligste – Beladen mit der wucht von welchen losen Hast du der sehnsucht land nie lächeln sehn? Erschufst du götter nur um sie zu stürzen Nie einer rast und eines baues froh? Du hast das nächste in dir selbst getötet Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit. Der kam zu spät der flehend zu dir sagte: Dort ist kein weg mehr über eisige felsen Und horste grauser vögel – nun ist not: Sich bannen in den kreis den liebe schliesst .. Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut – so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele.32
Hinsichtlich der vielfältigen Auslegungen des Nietzsche-Gedichts scheint Ernst Morwitz der Erste gewesen zu sein, der versucht hat, die formale Struktur des Zeitgedichts näher zu bestimmen. In seiner Abhandlung Die Dichtung Stefan Georges (1934), die George kurz vor seinem Tod noch durchsehen konnte,33 gibt er eine knappe Charakteristik der Zeitgedichte: »In vierzehn Gedichten, die nach der Unerbittlichkeit ihres Gefüges trotz der Reimlosigkeit als deutsche Stanzen bezeichnet werden können, fasst er Werk und Leben von Künstlern und von besondere Kräfte der Zeit verkörpernden Menschen zusammen«.34 In seinem Kommentar von 1960 wiederholt Morwitz die strophentypologische Zuschreibung zwar nicht, teilt aber
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Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung. 15 Bde. Berlin 1927– 1934. Bd. 6/7: Der siebente Ring. Berlin 1931, S. 12f. (Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mittels der Sigle GA nachgewiesen). Die Erstfassung wurde hergestellt mit Rückgriff auf das Variantenverzeichnis in Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. v. der Stefan-George-Stiftung. Stuttgart 1982ff. Bd. 6/7: Der siebente Ring. Stuttgart 1986, S. 202. Vgl. Lother Helbing: Stefan George und Ernst Morwitz. Die Dichtung und der Kommentar. Amsterdam 1967, S. 11. Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges. Berlin 1934, S. 90.
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mit, dass die Zeitgedichte »in je vier Strophen mit je acht reimlosen, fünffüßigen Versen« untergliedert sind.35 Der ursprüngliche Vorschlag, bei den Zeitgedichten – ihrer Reimlosigkeit eingedenk – von ›deutschen Stanzen‹ zu sprechen, wird nicht wieder aufgegriffen. Dabei ist dieser Vorschlag durchaus ergiebig: Das Nietzsche-Gedicht besteht ebenfalls aus vier Strophen mit jeweils acht reimlosen, jambischen Fünfhebern, die unregelmäßig mit betonten oder unbetonten Kadenzen schließen. Abgesehen von der Reimstruktur, die nahezu zeitgleich etwa Rainer Maria Rilke in seinen Winterlichen Stanzen (1913) realisiert, orientiert sich George mit seinen Zeitgedichten formal am Aufbau einer Stanze. Auch die feierliche Diktion dieser Strophenform lässt sich mit Georges lyrischen Würdigungen herausragender Persönlichkeiten vereinbaren, von denen es allgemein heißt: »Nur niedre herrschen noch, die edlen starben« (GA 6/7, S. 32). Das Moment des Todes macht kenntlich, dass sowohl das Nietzsche- als auch das im Zyklus folgende Gedicht Boecklin als poetische Nekrologe zu begreifen sind. Aus dieser Gattungsbestimmung resultiert die grundsätzliche Frage, wie bei einer Deutung mit den Aussagewerten des nonfiktionalen Gedichts zu verfahren ist. Ist die lyrische Rede tatsächlich als unmittelbare Stellungnahme Georges zu dem verstorbenen Dichterphilosophen zu verstehen? Wenn etwa Frank Weber schreibt, im Nietzsche-Gedicht »empört sich George über die falschen Beileidsbezeugungen der von Nietzsche verachteten Bildungsphilister«,36 wird immerhin behauptet, dass es George selbst gewesen sei, der seine Ansichten über Nietzsche im Medium des Würdigungsgedichts direkt artikuliert habe. In der Konsequenz erwächst aus dieser Unterstellung die Legitimation, den Text als ein Schlüsselgedicht zu lesen. Demgegenüber ist einzuwenden, dass eine solche biographistische Auslegung den Textsinn dort vereindeutigt, wo das Gedicht auf Polysemie angelegt ist. Das zeigt zugleich, dass mit Georges Nietzsche-Gedicht kein Nekrolog im engeren Sinne vorliegt: Biographische Elemente kommen zwar zur Sprache, erhalten jedoch meist nur eine vage und unspezifische Konturierung. Darüber hinaus erschöpft sich das Gedicht nicht in einer panegyrischen Huldigung, sondern setzt auch deutlich kritische Akzente. Dass Georges lyrische Würdigung die »Erhöhung, ja Heiligsprechung« Nietzsches belegen soll,37 erscheint daher bereits vorab problematisch. Die Redesituation im Gedicht ist von einem zweifachen Wechsel gekennzeichnet: Auf einen deskriptiven und appellativen Teil (V. 1–14) folgen die direkte Anrede des imaginierten Nietzsche (V. 15–24) und schließ-
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Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München, Düsseldorf 1960, S. 216. Frank Weber: Nietzsche und George (Anm. 5), S. 32. Ebenda, S. 30.
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lich die distanzierte Schlussstrophe (V. 25–32). Zunächst werden die Witterungsverhältnisse vergegenwärtigt, wobei schon die »[s]chwergelbe« Wolkenfärbung einen unnatürlichen meteorologischen Zustand anzeigt. Mit Rekurs auf Friedrich Gundolfs Brief an Wolfskehl vom 19. Dezember 1900 ließe sich unterstellen, dass George die Weimarer Witterung in der Weise schildert, wie Gundolf sie erlebt hatte: »Nietzsches Haus sah ich in der Frühe von den Morgenwinden umfegt auf der Höhe über Stadt und Hügelland unter fahlgoldnen Schneewolken«.38 Doch während die Briefstelle eher ein winterliches Bild evoziert, präsentiert das Gedicht eine eigentümliche jahreszeitliche Ambivalenz: Die Wolken sowie die Stürme erscheinen sowohl als Indikator »des herbstes« als auch eines »frühen frühlings«, dessen ungewöhnlich zeitiger Beginn durch die Alliteration verstärkt wird. Die jahreszeitliche Gegenüberstellung lässt einerseits an den verstorbenen Dichter denken, der am Ende seines Lebensherbstes angekommen ist, andererseits an das lyrische Ich, das sich zu ihm in Opposition setzt und das offenbar im ›Frühling‹ seiner Schaffenskraft steht. Werden die folgenden Verse auf die Topographie Weimars bezogen, ist die erste Strophe vergleichsweise schnell geklärt.39 Einer solchen Lesart, die ihren Ausgangspunkt von der Deutung durch Ernst Morwitz nimmt, ist deswegen nicht leicht zu widersprechen, weil diese vergleichsweise früh vorgelegte ›Entschlüsselung‹ durchaus treffend erscheint: Die Mauer, die den Dichter umgibt, entspricht der Villa Silberblick, die ihrerseits auf einem Hügel steht, von dem aus das flache Weimarer Land sowie die Stadt selbst »tot und verödet« wirken.40 Gleichfalls überzeugend liest sich auch der Vorschlag Peter Trawnys, den Erinnerungsort Weimar metonymisch zu begreifen. Die Stadt wird somit zum Sinnbild »einer abgestorbenen, überwundenen Epoche«,41 womit Trawny auf die Zeit der Weimarer Klassik anspielt. Das Gedicht dagegen erzwingt eine solche Deutungsweise nicht notwendig, vielmehr lassen sich vor allem in der ersten Strophe eine Reihe größerer Spannungen ausmachen. Die vitale Gestalt des »Donnerer[s]« scheint durch die umschließende Mauer in ihrem Aktionsradius sonderbar gehemmt. Zwischen dem »Donnerer«, »der einzig war«, und der übrigen Masse wird ein qualitatives Gefälle im Hinblick auf deren Vergänglichkeit (»rauch und staub«) angezeigt; diese Differenz wird schließlich verräum-
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Stefan George – Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. v. Robert Boehringer u. Georg Peter Landmann. Düsseldorf 1962, S. 65. Vgl. etwa Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 55, der jedoch insgesamt über die Interpretation von Morwitz hinausgeht. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (Anm. 35), S. 221. Peter Trawny: George dichtet Nietzsche (Anm. 5), S. 50.
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licht und in ein vertikales Gefälle überführt. Während die Mauer durchaus in ihrer Doppelfunktion als Gefängnis und Schutzwall verstanden werden kann,42 suggeriert der sich auf die Verse 3 bis 5 erstreckende Fragesatz jedoch, es würde im Gestus der Ungläubigkeit gesprochen. Ein Indiz für die Dünnwandigkeit der Mauer mag in der formalen Komposition von Vers 4 gesehen werden. Denn auffällig ist, dass das ansonsten streng eingehaltene metrische Schema mit dem Wort »Donnerer« leicht variiert wird, da es eine Hebung und eine Doppelsenkung beansprucht und somit lautlich den Effekt des Nachhallens erzeugt.43 Dieses klangliche Echo wird durch den nachfolgenden Gedankenstrich optisch verlängert. Die Durchlässigkeit der genannten Mauer zeigt sich in der Folge auch daran, dass der »Donnerer« überhaupt noch wirksam zu werden vermag. Er kann seine »lezten stumpfen blitze«, die metaphorisch für die letzten Geistesblitze Nietzsches stehen können, immerhin auf das unter ihm liegende Land senden. Dass mit dieser Vorstellung die pagane Götterfigur des Zeus aufgerufen ist, hat bereits Morwitz erkannt.44 Doch Georges Zeus erscheint auf besondere Weise ›umnachtet‹, wenn er hervorgeht, wie es in Vers 8 heißt, »aus langer nacht zur längsten nacht«. Im übertragenen Sinne sind damit Nietzsches letzte Lebensperiode in geistiger Erkrankung und sein unmittelbar folgender Tod gemeint. Das bereits im Bild des »Donnerer[s]«, der seine Blitze »auf flaches mittelland« herabschickt, sichtbar gewordene vertikale Gefälle erfährt zu Beginn der zweiten Strophe eine qualitative Intensivierung. Denn die »menge«, die im Verlauf der ersten Strophe schon als minderwertig gekennzeichnet wurde, wird nun auf das intellektuelle Niveau von »getier« reduziert. In ihrem ›blöden Traben‹ kommt eine schafähnliche Uniformität zum Ausdruck, die mit einer Unempfindlichkeit selbst gegen verletzende äußere Einwirkungen gepaart ist, wie die Vergleiche mit Qualle und Kraut bekräftigen. Damit löst sich das lyrische Ich von seinem vorrangig deskriptiven Redegestus und formuliert die Forderung, das Andenken des Dichters durch Schweigen zu ehren. Diese weihevolle Stille wird dem allgemeinen Lob durch die Masse entgegengesetzt, deren Würdigung einer ›Befleckung‹ gleichkommt, was Morwitz mit einer persönlichen Erinnerung kommentiert: »[D]as gleiche sagte mir Stefan George einmal, als wir einen Kritiker auf der Strasse sahen und dieser den Dichter, ohne mit ihm bekannt zu sein,
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Vgl. ebenda. Da George an zwei weiteren Stellen – in Vers 16 (»blutigen«) und in Vers 26 (»eisige«) – in gleicher Weise vom metrischen Schema des Gedichts abweicht, ist der semantische Gehalt dieser formalen Variation jedoch nicht überzubewerten. Vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (Anm. 35), S. 221.
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grüsste«.45 Das Gedicht ist jedoch insofern konkreter, als es genau artikuliert, wie lange die »fromme stille« zu dauern habe: nämlich bis zum Tod desjenigen, der Nietzsche »erwürgen half«. Der unmittelbare Anschluss an die Beschreibung der dumpfen Menge suggeriert, dieser Mörder sei direkt aus ihr hervorgegangen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Menge nicht mehr nur als vergängliche, unempfindliche und tierisch-beschränkte Masse erscheint, sondern sogar als existenzbedrohende Gemeinschaft. Wird dieser Vorwurf konkret auf Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche zugespitzt,46 hätte die »fromme stille« bis zum 8. November 1935, dem Todestag Elisabeths, andauern müssen. Bemerkenswert ist hier, dass sich das Gedicht selbst, das wahrscheinlich nur wenige Monate nach dem Tod Nietzsches entstanden ist, nicht an die geforderte Lobabstinenz hält. Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: Erstens will das Gedicht nicht als unreflektierte Panegyrik, sondern als differenzierte Würdigung verstanden werden, was insbesondere die Folgestrophen belegen. Zweitens markiert das lyrische Ich seine Außenposition, indem es sich dezidiert von der pejorativ gezeichneten Menge und der geschätzten Dichterfigur separiert. Aus dieser Sonderstellung heraus lässt sich das Leben und Wirken Nietzsches sowohl weihevoll sakralisieren als auch kritisch kommentieren. Die einsetzende Idolisierung Nietzsches geht mit einem Wechsel in der Redesituation einher: Das appellative Sprechen endet zugunsten einer ausgedehnten direkten Anrede. In Aussicht gestellt wird dem Dichterphilosophen, dereinst »strahlend vor den zeiten« zu stehen. Schon Morwitz hat erfasst, dass George in diesem Vers die semantische Ambiguität der Präposition ›vor‹ bewusst herauskehrt. Zum einen ist das ›vor‹ temporal zu verstehen, als verkörpere Nietzsche eine Leitfigur, die zu neuen Zeiten hinführe. Zum anderen kann das ›vor‹ räumlich gelesen werden, als habe sich Nietzsche als quasi-zeitlose Leitfigur von jeglicher Zeitgebundenheit gelöst. Das Merkmal »strahlend« assoziiert in beiden Fällen das Bild einer Mandorla, die den Dichter zu einer sakralen Weihefigur überhöht. Konsequent beginnt die dritte Strophe mit dem Anruf »Erlöser du!«, dessen her-
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Ebenda, S. 222. Vgl. ebenda. George hatte die Monographie Förster-Nietzsches Das Leben Friedrich Nietzsches (Bd. 1: 1894, Bd. 2.1: 1897, Bd. 2.2: 1904) schon 1899 gelesen, soweit sie bis dahin erschienen war. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 41. Wie Breysig verzeichnet, musste er die Arbeit FörsterNietzsches gegenüber Georges Kritik verteidigen (vgl. Kurt Breysig: Stefan George (Anm. 25), S. 11). Am drastischsten ist die Formulierung, die Gundolf im Brief vom 9. Januar 1919 an George gebraucht, wo er Nietzsches Schwester als »Weimarische Leichenschänderin« bezeichnet (Stefan George – Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 38), S. 325).
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ausgehobene Stellung die heidnische Dichterfiguration (Donnerer/Zeus) mit der christlichen (Erlöser/Christus) konfrontiert. Die Stilisierung Nietzsches zu einem ›alter Christus‹ wird dabei vom Element der »blutigen krone« in Vers 16 gestützt, die auf die Dornenkrone Christi verweist.47 Anzumerken bleibt, dass mit der dritten Strophe aber auch die Kritik an der Person Nietzsches einsetzt. George redet keiner ungebrochenen NietzscheVerehrung das Wort, sondern unterminiert die Bezeichnung, ein »Erlöser« zu sein, sofort mit dem Superlativ, der »unseligste« Erlöser zu sein. Die hyperbolische Zuschreibung wird durch die Erweiterung in ein Oxymoron entscheidend relativiert. Der Gegensatz, der sich zwischen der Projektion des Erlösers und dem Merkmal der Unseligkeit erhebt, schwindet jedoch, sobald diese Charakterisierung verzeitlicht wird. Denn bleibt der Gestus erlösender Beseligung der Zukunft vorbehalten, kann deren Gegenteil auf die Vergangenheit, auf das Leben Nietzsches bezogen werden. Dementsprechend unterstellt das lyrische Ich, dass Nietzsche zu Lebzeiten der »sehnsucht land« nie habe betreten können. Gerade der Verkünder der Fröhlichen Wissenschaft (1882) sei selbst nie »eines baues froh« geworden. Entwickelt wird somit das Bild eines einsamen und isolierten Denkers, auf den Züge seiner bekanntesten Figur, des Zarathustra, appliziert werden. Während Morwitz in diesem Kontext nur vage auf den Zarathustra hinweist,48 ließe sich etwa an den Abschnitt Vom Wege des Schaffenden denken, in dem es heißt: »Aber einst wird dich die Einsamkeit müde machen, einst wird dein Stolz sich krümmen und dein Muth knirschen. Schreien wirst du einst ›ich bin allein!‹« (KSA 4, S. 81). Diesen in Vers 24 konkretisierten »schmerz der einsamkeit«, der sich zum gequälten Schrei verdichtet, hatte Nietzsche selbst in einem Brief an Franz Overbeck artikuliert: Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das hat etwas über alle
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Vgl. schon Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 179f., jedoch mit Verweis auf die ›Rosenkranz-Krone‹ Zarathustras. In seinen letzten Briefen unterschrieb Nietzsche mehrmals mit »Der Gekreuzigte« (SB 8, S. 573–577). Ob George diese Briefe zur Entstehungszeit des Nietzsche-Gedichts schon kannte, konnte nicht ermittelt werden. Denkbar ist, dass ihm die Nachschrift von Georg Brandes vertraut war, die dieser 1893 zu seinem Essay Aristokratischer Radikalismus veröffentlicht hatte. Am Ende dieser Nachschrift zitierte Brandes zwölf an ihn adressierte Briefe von Nietzsche, wobei der letzte auf den 4. Januar 1889 datiert und ebenfalls mit »Der Gekreuzigte« unterschrieben ist. Vgl. Georg Brandes: Nietzsche (Anm. 15), S. 127; vgl. zudem SB 8, S. 573. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (Anm. 35), S. 222.
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Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zu Grunde gehen – ach, und ich bin nicht ›der Stärkste‹!49
Der Gefahr, in der Einsamkeit zu scheitern, wird in der vierten Strophe ein harmonisches Gemeinschaftsmodell entgegengesetzt. Mit den »eisige[n] felsen« und den »horste[n] grauser vögel« in den Versen 26 und 27 wird die Vorstellung einer unwirtlichen und unbewohnbar anmutenden Bergwelt evoziert, die unmittelbar die landschaftliche Kulisse des Zarathustra assoziiert. Die Ödnis des Schauplatzes lenkt implizit auf die Verlassenheit und Verzweiflung des dort situierten Subjekts. Die folgende Zustandsbeschreibung »nun ist not« stellt dabei die akute Bedrohung heraus, die aus der Flucht in einen radikal menschenfernen Naturraum resultiert. Konsequent wird die extreme Vereinzelung als ein Irrweg gekennzeichnet, dem die Aufnahme in einen freundschaftlichen »kreis den liebe schliesst« entgegengesetzt wird. Thomas Karlauf hat nachweisen können, dass die Vorstellung eines solchen gemeinschaftlichen ›Liebesrings‹ bereits im April 1899 bei George auftaucht.50 Bedeutsam ist hier vor allem, wie Karlauf ebenfalls gezeigt hat, dass die Ringmetapher von Wolfskehl am 21. November 1900 – also im direkten Vorfeld der Gedichtentstehung – mit Nietzsche in Zusammenhang gebracht wurde: Von kleinsten Zentren gehet das Heil aus, der innere Ring […] ist der Grund des Lebens. Wer aber allein lebt kann […] nie in Wahrheit befruchten. Am häufigsten aber wird er zerschmettert, wie die grossen Wallenden des ganzen lezten Säkuls erfahren mussten – bis zu Friedrich Nietzsche hinab, dem lezten der vereinzeln musste […].51
Dieser dem Gedicht zeitlich vorausliegende Brief erscheint wie ein Kommentar zum Beginn der vierten Strophe, in der die akute Isolation Nietzsches mittels Rekurs auf die Figur des Zarathustra Ausdruck gewinnt. Der bei Wolfskehl skizzierten bevorstehenden Zerschmetterung des großen Einzelnen setzt das Gedicht die Mahnung an den ›Liebesring‹ entgegen, eine Mahnung, die schon Gottfried Benn in seiner Rede auf Stefan George
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Nietzsche an Franz Overbeck, 17. Juni 1887 (SB 8, S. 93). Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 295. Edgar Salin notiert ein Gespräch mit George, in dem ebenfalls der Gedanke des Liebesrings mit Bezug auf Nietzsche angesprochen wurde: »Noch stärker war der Einwand, der sich aus Nietzsches Charakter herleitete. Ob es nun Nietzsches Schicksal war, fragte George, daß sich kein Liebesring um ihn schloß und ob sich nicht bedenkliche Seiten seines Wesens in seiner Unfähigkeit zur Gemeinschaft zeigen?« (Edgar Salin: Um Stefan George. Godesberg 1948, S. 284). Wolfskehl an Gundolf, 21. November 1900. Karl u. Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899–1931. 2 Bde. Hg. v. Karlhans Kluncker. Amsterdam 1976–1977, Bd. 1, S. 85.
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(1934) als einen »merkwürdige[n] Ruf« bezeichnet hat.52 Diese Merkwürdigkeit gründet zum einen darin, dass die Einsamkeit Nietzsches als unumkehrbar anzusehen ist und ein solcher Zuruf daher notwendig folgenlos bleiben muss.53 Zum anderen ist die vorliegende zeitliche Situation in den Blick zu nehmen: Der Zuruf erfolgt zu einem Zeitpunkt, als der Dichterphilosoph bereits verstorben ist. Die vierte Strophe wird daher mit dem Vers eingeleitet: »Der kam zu spät der flehend zu dir sagte«. Die im Anschluss an den Beitrag von Peter Pütz mitgeteilte Diskussion zeigt dabei, wie kontrovers die Auslegung dieses Satzes Anfang der 1970er Jahre erörtert worden ist.54 Zwar legt die Berichtsform nahe, es werde hier im Indikativ gesprochen, jedoch dürfte die gegebene Konsekution – das lyrische Ich wendet sich an den bereits verstorbenen Nietzsche – als unabweisbares Argument für eine Rede im Irrealis gelten. Angesichts dieser flehenden Worte ist darüber hinaus spekuliert worden, wer sich hinter dem Ankommenden verberge, wobei Georges Turin-Legende freilich an den Autor selbst denken lässt.55 Das Gedicht hingegen verweigert eine solche eindeutige Identifizierbarkeit, indem es vorführt, wie sich das lyrische Ich als potentieller Retter des im Grunde schon unrettbaren Nietzsche inszeniert. Die Kritik an der vermeintlichen Liebesunfähigkeit Nietzsches wird im letzten Teil des Gedichts schließlich um eine Relativierung seiner poetischen Fähigkeiten erweitert. Zunächst vermag seine »strenge und gequälte stimme«, die in Vers 29 genannt wird und abermals den »schmerz der einsamkeit« aus Vers 24 aufruft, durchaus wie »ein loblied« zu klingen. Es hat den Anschein, als gelinge es dem Dichterphilosophen erst dank der eminenten Leiderfahrung, zur eigentlichen poetischen Gestaltungsqualität vorzudringen. Sein Bedauern über die somit nur punktuell aufscheinende dichterische Kraft lässt George geschickt durch das lyrische Ich äußern, indem er Nietzsche gegen Nietzsche wendet. Denn mit den letzten Versen »sie hätte singen | Nicht reden sollen diese neue seele!« rekurriert George, wie in der Forschung schon mehrfach gezeigt worden ist,56 auf eine Passage aus Nietzsches Versuch einer Selbstkritik (1886), dem späten Vorwort zur Geburt der Tragödie. Darin heißt es: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte,
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Zitiert nach Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 181, der die gesamte Passage aus Benns Rede zitiert. Vgl. ebenda, wo Meyer davon spricht, »daß Nietzsches absolute Einsamkeit irreversibel ist«. Vgl. Peter Pütz: Nietzsche und George (Anm. 5), S. 60. Zu alternativen Identifikationsvorschlägen vgl. ebenda. Siehe zudem Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 59f. Vgl. exemplarisch bereits Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges (Anm. 34), S. 92.
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es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!« (KSA 1, S. 15).57 Was Nietzsche nach eigener Ansicht »vielleicht gekonnt« hätte, nämlich den Gedanken von der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik als Dichter zu formulieren, wird am Schluss von Georges Gedicht in allgemeiner Weise bestritten, nämlich das Vermögen, überhaupt als Dichter tätig werden zu können. Zwar wird Nietzsche das Potential zuerkannt, unter großem Schmerz mit einer poetisch beseelten Stimme sprechen zu können, jedoch verkörpere er vielmehr einen Künstlertypus, der öffentlich als Redner in Erscheinung trete. Diese Gewichtung verdeutlicht, dass die bereits 1892 in den Blättern getroffene Zuweisung, Nietzsche als »orator« und George als »dichter« ansehen zu sollen, noch immer Bestand hat. Mit dem Insistieren auf dieser Differenz wird nicht nur »dem dichtenden Philosophen […] die Würde des Dichterseins« genommen,58 sondern die Weihe des Dichters allein George zugesprochen, um jede Konkurrenzsituation von vorneherein auszuschließen. Dass sich diese strikte Zweiteilung im GeorgeKreis vergleichsweise lange hielt, belegt die von Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt verfasste Schrift Nietzsche als Richter unserer Zeit, die 1923 in Breslau erschien. Darin schreiben sie mit Blick auf den Zarathustra: Es ist nötig auszusprechen, daß das Buch Zarathustra als Ganzes nicht Dichtung ist sondern erhöhte Rede. […] Das Buch entstand aus der Entladung einer ungeheuren seelischen Spannung in Worte […], aber als Redner und nicht als Dichter und darum in rhythmisch ausströmender Sprache, nicht als Sprachgebilde gewordener Rhythmus.59
Nach der Publikation des Nietzsche-Gedichts in den Blättern und im Siebenten Ring folgte in den Blättern 1910 ein weiteres Widmungsgedicht auf Nietzsche, das der holländische Dichter Albert Verwey verfasst hatte und auf das im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll. George schließlich nahm selbst im ersten Buch seiner Sammlung Der Stern des Bundes (1914) abermals dichterisch auf Nietzsche Bezug, indem er den Dichterphilosophen in Einer stand auf zum »warner« stilisierte:
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George nahm diese Passage wahrscheinlich in der von Kögel besorgten Ausgabe zur Kenntnis, die er selbst besaß (siehe hierzu Anm. 26). Zum Hintergrund des NietzscheZitats vgl. Albert von Schirnding: »… sie hätte singen | Nicht reden sollen diese neue seele!«. In: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie als Kunst. Hg. v. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Waakirchen 1995, S. 217–223. Ulrich Raulff: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende (Anm. 5), S. 78. Ernst Gundolf u. Kurt Hildebrandt: Nietzsche als Richter unserer Zeit. Breslau 1923, S. 50f. (Hervorhebungen d. Verf.).
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Einer stand auf der scharf wie blitz und stahl Die klüfte aufriss und die lager schied Ein Drüben schuf durch umkehr eures Hier .. Der euren wahnsinn so lang in euch schrie Mit solcher wucht dass ihm die kehle barst. Und ihr? ob dumpf ob klug ob falsch ob echt Vernahmt und saht als wäre nichts geschehn .. Ihr handelt weiter sprecht und lacht und heckt. Der warner ging .. dem rad das niederrollt Zur leere greift kein arm mehr in die speiche. (GA 8, S. 34)
Formal besteht das titellose Gedicht aus zehn jambischen Fünfhebern, die mit Ausnahme des letzten Verses durchgängig mit einer betonten Kadenz schließen. Eine solche punktuell formalästhetische Akzentuierung des Gedichtausgangs kennzeichnet in ähnlicher Weise auch dessen Eingang. Denn die metrische Versstruktur verlangt, das erste Wort »Einer« entgegen seinem Wortakzent jambisch zu betonen. Dieser derart exponierte Eine, der anfangs angesprochen wird, aber erst im Verlauf des Gedichts immer deutlicher mit der Person Nietzsches zu identifizieren ist, entwickelt sogleich übermenschliche Kräfte. Da ihm die Fähigkeit zuerkannt wird, »klüfte« aufzureißen, und auch die Vergleichselemente »blitz und stahl« Erwähnung finden, wird der Eindruck erweckt, als rekurrierten die ersten zwei Verse auf das Bild des Donnerers aus dem ersten Nietzsche-Gedicht. Das enorme Kraft- und Gewaltpotential dieses Donnerers macht sich auf markante Weise auch hier geltend, wenn diesem Einen das Vermögen attestiert wird, »lager« zu scheiden, das heißt parteibildend tätig zu werden, sowie durch den Handlungsakt der »umkehr«, von dem Vers 3 handelt, eine Gegenwelt zu schaffen. Dass damit auf Nietzsches Rede von der ›Umwertung aller Werte‹ angespielt wird, ist inzwischen Konsens der Forschung.60 Das Gedicht suggeriert zugleich, auf welche Weise diese »umkehr« vonstattenging: nämlich durch das Ausschreien des »wahnsinn[s]«. Abermals lässt sich an das erste Nietzsche-Gedicht und den in Vers 24 geschilderten Aufschrei »im schmerz der einsamkeit« denken. Während dort aber die existentielle Erfahrung der Isolation den Schmerzlaut provoziert, erscheint der Aufschrei im zweiten Nietzsche-Gedicht eher als ein deiktischer Akt, um auf den »wahnsinn« der Menge hinzuweisen. Indem in Vers 5 die Worte »dass ihm die kehle barst« auf den Tod des Dichterphilosophen referieren, wird von George abermals die grundlegende Opposition von exzeptionellem Einzelnen und uniformer Masse thematisiert.
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Vgl. exemplarisch Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 73.
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Dieser Gegensatz findet seinen signifikanten Ausdruck genau in der Mitte des Gedichts, wenn zu Beginn von Vers 6 die rhetorische, den Leser gleichsam mit einschließende Frage gestellt wird: »Und ihr?« Eingefordert wird nichts weniger als eine Stellungnahme zu dem verstorbenen Dichterphilosophen, ja eine Rechtfertigung der potentiellen eigenen Mitschuld daran, »dass ihm die kehle barst«. Zwar setzt die anschließende Aufzählung der Attribute, die der Menge zugewiesen werden, mit dem Adjektiv »dumpf« ein, jedoch erfolgt im Gegensatz zum ersten Nietzsche-Gedicht keine einseitige Pejorisierung der Menge. Dennoch erscheint das Verhalten der von Nietzsche abgekehrten Gemeinschaft im zweiten Gedicht nochmals gravierender. Denn in diesem Kontext lässt sich nicht einmal mehr von einer bewussten Abkehr, sondern nur noch von der Teilnahmslosigkeit und vom Desinteresse der Menge sprechen. Während der Zeitgeist sich in beliebigen Tätigkeiten ergeht – genannt werden in Vers 8 das Handeln, Sprechen, Lachen und Hecken –, ist der »warner« längst entschwunden. Gewiss hat George damit »ein schroffes Verdikt über den Zeitgeist« ausgesprochen,61 zugleich ist aber auch dargetan, dass die Warnungen Nietzsches nicht erhört worden sind. Mit Rekurs auf das Bild vom niederrollenden Rad, dem kein Arm mehr in die Speiche zu greifen wagt, ist in den Schlussversen die Taten- und Mutlosigkeit der gegenwärtigen Zeit in den Blick genommen. Obwohl bei der Rad-Metapher durchaus an das »WeltRad, das rollende« aus Nietzsches Gedicht An Goethe (1882) gedacht werden kann (KSA 3, S. 639), liegt es näher, damit ein Fragment Nietzsches aus dem Sommer 1872 in Verbindung zu bringen, das George offenkundig kannte:62 Der Philosoph als Hemmschuh im Rade der Zeit. Es sind die Zeiten großer Gefahr, in denen die Philosophen erscheinen – dann wenn das Rad immer schneller rollt – sie und die Kunst treten an die Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit vorausgeworfen, weil die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erst sich langsam ihnen zuwendet.63
Die bei Nietzsche artikulierte Hoffnung, dass dem Philosophen die Achtung der Zeitgenossen künftig wieder zuteilwerde, ist bei George mit Blick auf Nietzsche völlig getilgt. Der einstige »orator«, der als »warner« auftrat, hat die Menschen nicht erreichen können. Daher klingt noch immer der Vorwurf des ersten Nietzsche-Gedichts nach: »sie hätte singen | Nicht reden sollen diese neue seele!«. Im Resultat mutet daher das zweite Gedicht
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Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 182. Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 71. KSA 7, S. 421 (Nr. 19 [17]).
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wie eine Reaktualisierung und Komprimierung des ersten an, akzentuiert jedoch mehr den zeitkritischen Nietzsche, während um 1900 der vereinzelte und verlassene Nietzsche im Vordergrund stand.64 III Neben diesen dichterischen Würdigungen der großen Gegenfigur Nietzsche führte auch der Kontakt mit den Künstlern Albert Verwey und Melchior Lechter aus dem weiteren Umfeld des Kreises zeitgleich zu neuen Annäherungen an den Dichterphilosophen. Der holländische Lyriker Verwey, der im Frühjahr 1895 auf die Blätter für die Kunst aufmerksam geworden war, widmete George schon kurz darauf eine einfühlsame Besprechung in der Mai-Ausgabe seiner Tweemaandelijksch Tijdschrift.65 Infolge der ersten Zusammenkunft im September 1895 entwickelte sich schnell eine freundschaftliche Beziehung zwischen beiden Dichtern und schließlich auch zwischen Verwey und Georges Familie.66 Im Oktober 1897 reiste Verwey zu George nach Berlin, wo sie gemeinsam den Maler und Buchkünstler Melchior Lechter besuchten, der Georges Veröffentlichungen für eine Dekade typographisch gestalten sollte.67 Über die Ausstattung von Lechters Wohnung berichtete Verwey: Dass um den Kronleuchter an der Decke seines Zimmers die Namen Nietzsche, Wagner, Böcklin gemalt waren, bewies mir genugsam, dass er in einer andern Welt lebte als der meinen. […] Gerne sah ich nach dem Spruch von Nietzsche, den er in seinen Werkstattschrank eingeschnitten hatte: Trachte ich denn nach Glück? ich trachte nach meinem Werke.68
Diese Aufschrift auf dem Wandschrank, die aus dem letzten ZarathustraKapitel, Das Zeichen, stammt,69 fiel auch Michael Landmann auf, der Lech-
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Vgl. Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 183. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 178–184. Vgl. Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928. Straßburg 1936, S. 14. Zu Georges Bekanntschaft mit Lechter im Jahr 1894 vgl. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. München, Düsseldorf 1951, S. 78f. Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George (Anm. 66), S. 19. Zum niederländischen Original vgl. Albert Verwey: Mijn verhouding tot Stefan George. Herinneringen uit de jaren 1895–1928. In: Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap. Bjeengebracht en toegelicht door Mea Nijland-Verwey. Amsterdam 1965, S. 217– 285, hier S. 229f. Vgl. KSA 4, S. 408. Dort »Glücke« statt »Glück« sowie »Glücke« und »Werke« in Hervorhebung.
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ter im Frühjahr 1929 besuchte.70 Doch nicht nur diese vereinzelten Inschriften waren bei Lechter zu bestaunen, vielmehr hatte er sein Atelier zu einem ›Gesamtkunstwerk‹ ausgestaltet: »Fenster, Wände, Mobiliar« waren »mit Hinweisen vor allem auf Nietzsche und Wagner überzogen«.71 Der Einschätzung Jürgen Krauses zufolge war Lechter bereits 1884 auf den von Brandes propagierten ›Aristokratischen Radikalismus‹ Nietzsches aufmerksam geworden und hatte über den Umweg der Wagnerverehrung seine Beschäftigung mit dem Werk Nietzsches in den Folgejahren verstärkt.72 Von dieser wachsenden Affinität unterrichtet ebenfalls Pauline Lange, die bereits 1905 versicherte, dass es »kaum einen genaueren Kenner Dantes, Schopenhauers und Nietzsches« gebe als Melchior Lechter.73 Auch seine langjährige Gefährtin Marguerite Hoffmann, mit der er 1919 bekannt geworden war, schlug den gleichen Tonfall an, als sie in stilisierender Rückschau über seine literarischen Kenntnisse berichtete: Die Dichter der Antike, Dante, Shakespeare, Goethe trug er in seinem Gedächtnis. Was besondere Bedeutung für ihn hatte[,] wusste er auswendig, damit es ihm zu jeder gewollten Stunde gegenwärtig sei. Hölderlin, Novalis und die Romantiker waren ihm ganz vertraut. In Dostojewsky, Balzac Huysmans, Péladan und vor allem Nietzsche hatte er sich eingehend vertieft.74
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Michael Landmann: Figuren um Stefan George. Zehn Porträts. Amsterdam 1982, S. 12. Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum – Ein Kultraum der Jahrhundertwende im Zeichen Nietzsches und Georges. In: WallrafRichartz-Jahrbuch. Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte XLV (1984), S. 203–230, hier S. 209. Zur Ausstattung von Lechters Berliner Wohnung (W 62, Kleiststraße 3) vgl. Georg Furchs: Melchior Lechter. In: Deutsche Kunst und Dekoration 1 (1897/98), S. 161– 192. Dabei erläutert Fuchs: »Das geistige Leben seiner Zeit erkannte er als beherrscht von Dreien: Richard Wagner, Arnold Böcklin und Friedrich Nietzsche, dem Dichter und Propheten« (ebenda, S. 164). Vgl. Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum (Anm. 71), S. 208f. Pauline Lange: Melchior Lechter. In: Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte 97 (1905), S. 23–39, 194–211, hier S. 27. Marguerite Hoffmann: Mein Weg mit Melchior Lechter. Amsterdam 1966, S. 24f. Rückblickend auf den September 1919 ergänzt Hoffmann: »Während wir durch die schattigen Alleen schritten, sprach er viel über Dichter und Philosophen: manche Goethe-Worte ertönten unter hohen Bäumen, zuweilen auch Verse des jungen Hofmannsthal, lange Stellen aus Nietzsches Werken, und es verging kein Tag, an dem Melchior Lechter nicht wie rhythmische Musik Gedichte Stefan Georges erklingen liess, vor allem aus dem Siebenten Ring, dem Jahr der Seele und dem Teppich des Lebens« (ebenda, S. 36f.). Vgl. auch Richard Frank Krummel unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Berlin, New York 1974ff. Bd. 1: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1900. Zweite, verb. u. erg. Auflage. Berlin, New York 1998, S. 480, Anm. 673. Krummel weist dort auf eine Zarathustra-Ausgabe hin, die Lechter mit aufwendiger Widmung am 22. August 1896 seiner Schwester Anna zum Geburtstag ge-
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Diese ›eingehende Vertiefung‹ bekräftigte schließlich auch Kurt Hildebrandt, der Lechter 1907 in seinem Berliner Atelier besucht hatte: »Als später ein gemeinsames Gespräch auf Nietzsche gerät, sagt er auswendig das Dionysische Gedicht An den Mistral – mit dichterischem Feuer, mit klangvoller Stimme, Georges Lesen ähnlich – denn damals galt ihm noch Nietzsche ebensoviel wie Wagner (und Lißt)«.75 Dass die produktive Auseinandersetzung mit Nietzsche bei Lechter vergleichsweise früh einsetzte, belegen seine beiden 1895 entstandenen Entwürfe zu den Gobelins Vision und Inspiration für sein Schlafzimmer, die mit Sprüchen aus dem Zarathustra versehen waren.76 Etwa zur gleichen Zeit hatte Lechter eine Skizze für eine Zarathustra-Ausgabe angefertigt, die, wie Krause mutmaßt, wahrscheinlich schon vor der Begegnung mit George entstanden war.77 Diese enge Vertrautheit mit dem Werk Nietzsches legt den Verdacht nahe, dass sich George mit Lechter in dessen Atelier durchaus auch über den Weimarer Dichterphilosophen austauschte. Dabei muss ein solcher Austausch nicht notwendig anlässlich des geschilderten Besuchs mit Verwey erfolgt sein. Wie Landmann ausführt, arbeitete George in dieser Zeit auch direkt im Atelier Lechters, wo sich wiederholt die Gelegenheit zum Gespräch über Literatur und bildende Kunst ergab.78 Im Briefwechsel zwischen beiden kommt der Name ›Nietzsche‹ hingegen nur am Rande vor. Am 7. März 1897 schrieb George, dass er sich »schon lang nach einer abbildung« von Lechters Garten der Ehe (1895) sehne, dessen Inschrift aus dem Zarathustra stammte.79 Und nachdem George offenbar
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schenkt hatte. Vgl. dagegen die nüchterne Einschätzung Lechters bei Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 215. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1965, S. 35. Vgl. Georg Fuchs: Melchior Lechter (Anm. 71), S. 163. Abgebildet auch bei Melchior Lechter u. Stefan George: Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Günter Heintz. Stuttgart 1991, Bildtafel nach S. 28. Vgl. Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum (Anm. 71), S. 209 (mit Abbildung) sowie S. 228, Anm. 11. Landmann gibt einige Erinnerungen Lechters wieder: »Lechter fuhr fort: ›Oft kam George drei Mal tags zu mir, manchmal auch mit Gundolf. Oft sass er im Nebenzimmer, und jeder arbeitete für sich. Improvisierend übersetzte er mir, als ich krank war, auf meine Bitte aus dem Französischen, am Bett sitzend, Romane von [Paul Charles Joseph] Bourget. Er überarbeitete die von mir veranstaltete Ausgabe des Thomas a Kempis [Thomas von Kempen: Die Bücher von der Nachfolge Christi. Münster 1922 (angefertigt von 1914 bis 1922 bei Otto von Holten)]. Tagelang summte er Melodien zu den Traurigen Tänzen [Schlusszyklus der Sammlung Das Jahr der Seele (1897)] vor sich hin, die oft ganz einfach waren. Erst dann entstand ein Gedicht. Ein rhythmischer Klang ging also bei ihm dem Gedicht voraus. Weil ich die Melodien damals hörte, kann ich diese Gedichte Georges bis heute am besten vorlesen‹« (Michael Landmann: Figuren um Stefan George (Anm. 70), S. 15f.). Melchior Lechter u. Stefan George: Briefe (Anm. 76), S. 26. Vgl. ebenda, S. 496f. sowie die Abbildung bei Georg Fuchs: Melchior Lechter (Anm. 71), S. 187.
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Lechters Vorhaben beanstandet hatte, bei der Buchgestaltung von Der Teppich des Lebens (1899) rote Tinte zu verwenden, reagierte dieser am 3. Januar 1899 mit den Worten: »Warum immer noch die ›olle‹ rote Tinte? ›Schreibe mit roter Farbe!‹ Also sprach Zarathustra«.80 An dieser Briefstelle ist auffällig, dass Lechter mit einem Zitat aus dem Zarathustra-Kapitel Vom Lesen und Schreiben antwortete (vgl. KSA 4, S. 48), das George zuvor in seinem Aufsatz Über Kraft (1896) erläutert hatte. George verwehrte sich dort ausdrücklich gegen ein Schreiben mit roter Tinte, das die Unbedingtheit und Echtheit eines Schreibens mit Blut nur verfälschen würde: So wird Nietzsches »schreibe mit blut« von vielen missverstanden: »zeige damit man dich für echt hält ohne scheu die flecke deiner wunden und die zuckungen deiner wollust«. Diese mögen wir aber gar nicht sehen, denn kunst ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern. […] Aus der grösse des sieges und der verklärung fühle man grösse und echtheit der erregung. So dachte gewiss auch Nietzsche, sonst hätte er nicht gesagt: »schreibe mit blut« sondern: »schreibe mit roter tinte«. (GA 17, S. 87f.)
Lechter selbst bildete kurz vor der Jahrhundertwende den Schnittpunkt zwischen der Weimarer Nietzsche-Gemeinde um Harry Graf Kessler und Kurt Breysing einerseits, mit der er über die Künstler Ludwig von Hofmann und Curt Stoeving in Kontakt stand,81 und dem George-Kreis andererseits, mit dessen Mitgliedern er in seinem Atelier persönlich verkehrte. Diese Überlagerung fand schließlich im Zeitraum von 1897 bis 1903 einen eigenen bildkünstlerischen Ausdruck, als Lechter den – im Zweiten Weltkrieg zerstörten – Kölner Pallenberg-Saal ausgestaltete. Den Festsaal zierte eines der Hauptwerke Lechters, Die Weihe am mystischen Quell. Auf dem Gemälde war eine Künstlerfigur zu sehen, der Lechter deutliche Züge Georges verliehen hatte und die im Tempel des mystischen Quells höchste Weihen empfing.82 Die im Festsaal angebrachten Wanddekorationen und aufgestellten Bronzestatuen hatte Lechter zudem »durch Nietzsche-Inschriften nobilitiert«.83 Diese in einem Weiheraum der Kunst konzentrierte
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Ebenda, S. 59. Im Original in Majuskeln. Vgl. Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum (Anm. 71), S. 212. Karlauf führt zudem aus, wie »sich die Biographien Nietzsches und Georges […] im Werk des Berliner Malers, Bildhauers und Architekten Curt Stoeving« überschnitten haben (Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 294). Vgl. die Abbildungen bei Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum (Anm. 71), S. 205, Abb. 2 sowie S. 211, Abb. 8. Lechters eigene Beschreibung des Gemäldes liefert Karlauf. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 220. Richard Frank Krummel unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist (Anm. 74). Bd. 1: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes
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geistige Verbindung zwischen Nietzsche und George wurde freilich auch von den Rezensenten bemerkt, die sich in ihren Besprechungen »mit Vorliebe auf den ›Schöpfer Zarathustras‹ und den ›rheinischen Dichter‹ George« beriefen.84 Womöglich war es Nietzsches Konzept der ›Ewigen Wiederkehr des Gleichen‹, das Lechters Neigung zu exotischen Weisheitslehren intensivierte, eine Tendenz, die ihren Höhepunkt in der 1910 gemeinsam mit Wolfskehl unternommenen Indienreise fand. Gundolf seinerseits berichtete George bereits am 10. März 1902 von Lechters esoterischen Ansichten: »Die Seelenwanderung das Karma und so fort aber sind ihm [Lechter] augenblicklich unerschütterliche Wesenheiten, so dass er selbst an Nietzsche die Beschäftigung mit Indien vermisst«.85 Trotz der Distanz, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zwischen George und Lechter verschärfte,86 blieb ihr Verhältnis von grundsätzlicher Wertschätzung geprägt. Das wird insbesondere an Lechters Gedächtnisrede kenntlich, die er Anfang 1934 zu Ehren Georges in Berlin hielt. Darin erkennt er Nietzsche und George eine herausgehobene Position zu, »sirius-fern dem lärmenden markte«.87 Unterstrichen wird diese gesellschaftliche Sonderstellung gegenüber dem »schreibenden gesindel« mit einer Zitatcollage aus dem Zarathustra, die in der rhetorischen Frage kulminiert: »Wie erflog ich die höhe, wo kein gesindel mehr am brunnen sitzt?«.88 Bedeutsam an dieser Charakterisierung ist vor allem, dass Lechter den Künstlern Nietzsche und George eine hierarchische Position gegenüber der Masse zuerkennt, die schon das lyrische Ich in Georges erstem und zweitem Nietzsche-Gedicht dem Weimarer Dichterphilosophen zugewiesen hatte. Verwey hingegen hatte schon vor der Begegnung mit Lechter in Berlin von Nietzsche gehört und nach eigener Aussage bereits 1888 alles gelesen, »was damals von ihm erschienen war (bis einschließlich der drei ersten Bücher von Zarathustra)«.89 Trotz der intensiven Lektüre blieb Verweys Verhältnis zu Nietzsche distanziert, wie sein Brief vom 23. Oktober 1897 an seine Frau Kitty belegt, in dem er von seinem Aufenthalt in Berlin be-
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im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867– 1900. Zweite, verb. u. erg. Auflage. Berlin, New York 1998, S. 81. Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kölner Kunstgewerbemuseum (Anm. 71), S. 221. Stefan George – Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 38), S. 109. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George (Anm. 2), S. 222. Melchior Lechter u. Stefan George: Briefe (Anm. 76), S. 352. In der von Heintz besorgten Briefausgabe ist die Rede Lechters nach dem Erstdruck reproduziert (ebenda, S. 339– 386). Ebenda, S. 352f. Vgl. KSA 4, S. 125. Verwey an Wolfskehl, 26. September 1908. Wolfskehl u. Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hg. v. Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968, S. 66.
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richtete: »Van Böcklin hield ik eigenlijk volstrekt niet. Ik heb het George niet gezegd, want als ik van B. niet houd, en van Wagner niet, en van Nietzsche niet, dan blijft er eigenlijk niets over«.90 Seinem Briefpartner Wolfskehl, den Verwey im Januar 1898 zu jenen Dichtern rechnete, in die »wie in mehrere junge Deutsche Nietzsches Funke fiel«,91 teilte er zehn Jahre später mit, dass die Beschäftigung mit Carl Albrecht Bernoullis zweibändigem Werk über Nietzsche und Franz Overbeck der Anlass gewesen sei,92 sich poetisch mit Nietzsche zu befassen: »Die Folge war ein Gedicht, worin ich ein Bild von N. gegeben habe, so wie es mir jetzt vorschwebt«.93 Das Gedicht, das zunächst den Titel Aan Friedrich Nietzsche trug, erschien in holländischer Sprache im Mai 1909 in Verweys Zeitschrift De Beweging und wurde von ihm später in seine Sammlung Het Levensfeest (1912) aufgenommen, wo der Titel zu Friedrich Nietzsche verkürzt wurde.94 George erhielt schon kurz nach der Erstveröffentlichung davon Kenntnis und ließ dem befreundeten Dichter am 14. Mai 1909 über Friedrich Gundolf mitteilen: »Verehrter Meister Verwey, Stefan George wollte Ihnen schon lange sagen welchen grossen eindruck ihm Ihre gedichte De gesloopte Plaats und besonders Ihre Nietzsche-verse gemacht haben«.95 Dieser ›große Eindruck‹ führte zu dem Entschluss, Verweys Gedicht in Übersetzung in den Blättern für die Kunst zu präsentieren. George hatte bereits seit 1901 begonnen, ausgewählte Dichtungen von Verwey ins Deutsche zu übertragen und diese in den Blättern vorzustellen.96 Die von George selbst übersetzten Gedichte Verweys wurden zudem 1905 in den ersten
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Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap (Anm. 68), S. 45. In deutscher Übersetzung lautet die Briefstelle: »Böcklin mochte ich eigentlich überhaupt nicht. Ich habe es George nicht gesagt, denn wenn ich B. nicht mag und Wagner nicht und Nietzsche nicht, dann bleibt eigentlich nichts übrig« (Übers. d. Verf.). Albert Verwey: Blätter für die Kunst. Das Jahr der Seele. In: Albert Verwey u. Ludwig van Deyssel: Aufsätze über Stefan George und die jüngste dichterische Bewegung. Mit Genehmigung der Verfasser übertragen von Friedrich Gundolf. Berlin 1905, S. 24–32, hier S. 26. Das holländische Original erschien in: Tweemaandelijksch Tijdschrift 4 (Januar 1898), H. 3, S. 478–486. Diese Beschäftigung wurde durch eine unmittelbar vorausliegende Besprechung von Bernoullis Nietzsche-Buch in De Beweging angeregt. Vgl. Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap (Anm. 68), S. 155, Anm. 2. Verwey an Wolfskehl, 26. September 1908. Wolfskehl u. Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946 (Anm. 89), S. 66. Vgl. Albert Verwey: Aan Friedrich Nietzsche. In: De Beweging 5 (Mai 1909), H. 5, S. 190. Die Sammlung Het Levensfeest hatte Verwey offenbar schon 1908 zusammengestellt. Vgl. Verwey an George, 24. November 1909. Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap (Anm. 68), S. 159. Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap (Anm. 68), S. 155. Vgl. Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George (Anm. 66), S. 66. Vgl. Stefan George und Holland. Katalog der Ausstellung zum 50. Todestag. Hg. v. der Universitätsbibliothek Amsterdam. Amsterdam 1984, S. 70.
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Band der zweibändigen Sammlung Zeitgenössische Dichter aufgenommen. Über das Nietzsche-Gedicht Verweys berichtete Gundolf erst wieder am 21. Dezember 1909: »Wir haben genügend stoff um eine neunte folge der Blätter erscheinen zu lassen worin auch Sie manches erstaunen wird. […] In der neunten wollen wir Ihr Gedicht an Nietzsche bringen«.97 Entsprechend der Ankündigung Gundolfs wurde Verweys Nietzsche-Gedicht im Februar 1910 in der neunten Folge der Blätter gedruckt. Der deutsche Titel An Friedrich Nietzsche zeigt an, dass George offenbar der Erstdruck vorlag. Zugleich war mit der Aufnahme des Gedichts in die Ausgabe der Blätter von 1910 eine besondere Würdigung verbunden: Während Georges großes Nietzsche-Gedicht im Todesjahr des Dichterphilosophen entstanden war, durfte Verweys Nietzsche-Gedicht in dessen zehntem Todesjahr erscheinen. Entsprechend dankbar schrieb Verwey kurz vor der Auslieferung der Blätter an seine Frau: »Mein Nietzsche erscheint verdeutscht, von mir selbst unterzeichnet, eine ehrenvolle Einverleibung«.98 Die zweite und dritte Auflage seiner Zeitgenössischen Dichter (21913, 31923) vermehrte George jedoch noch nicht um Verweys Nietzsche-Gedicht, das erst im fünfzehnten Band der Gesamtausgabe (1929) erneut abgedruckt wurde. Verweys Original99 und Georges Übersetzung lauten:
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Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap (Anm. 68), S. 159. Albert Verwey an Kitty Verwey, 21. Januar 1910. Stefan George und Holland (Anm. 96), S. 71. »FRIEDRICH NIETZSCHE || Gij waart het lijden dat den levenshonger | Toch nooit verleert: ge zocht vriend, vrouw en jonger, | Opdat één u erkende als zulk een held – | Gij vondt er geen: geen heeft uw konst gemeld. || Totdat ge er waart: Gekruist maar Vreugden-rijke | – o Anti-krist –, bereid dat steeds ’t gelijke | Leedvolle leven weerkeer’ – Blijde Maar | Die Zarathoestra brengt aan de aardse schaar. || Toen vond u elk. Toen kleedden u de dwergen | Als priester in een wit gewaad: naar bergen | Zaagt ge over, zittende in uw waanzin-dal, | En antwoord kwam en klonk van overal: – || ›o Dionusos, die het donkre broeden | Ontsteegt en bleeft in zomer-helle gloeden | Uzelf gelijk, Heerser ondanks Apol, – | Maak van uw bloed ons, van uw wonden vol. || Will die zich Macht won, daar hij niemand anders | Was dan zichzelf: wij beuren in uw standers | D’Adelaar, koning van wat vliegend leeft, | De Slang, de Alwijze van wat kruipend streeft. || Hater van Meelij, Man en Zweep van vrouwen, | Meesteraar van uzelf, op Wien te bouwen | Een hoogre Wereld, als een fondament, | Gij hebt geroepenelk die u erkent. || Zijnde die weer zult zijn, Danser met de Aarde, | Wij zullen met u zijn, eeuwig gepaarde, | Wij zullen de uwe zijn, diep van uw gloeden vol, | Wij zullen zijn als gij, ondanks Apol.‹ | De zang klonk uit. Toen traden door uw duister | Die twee gedaanten, in hun eigen luister: | De Lichtgod die den drieklank heerlijk hief, | De Christus rood van speer- en spijker-grief. || En de eerste zei: verschijning van ’t gelijke, | Dat is mijn Droom, dien ik, genadenrijke, | Altijd in de eindloze ongelijkheid stort, | Die door dien droomm alleen gezaligd wordt. || En de andre sprak: liefhebben ondanks wonden, | Zichzelf niet, maar elkeen, heb ik bevonden | Zo grote almenselijke zaligheid, | Dat ik ze u wenste – u die mijn Broeder zijt? || Het duister viel; gij zaat, alleen gelaten. | ›Apollo won? De Christus?‹ En de maten | Van goed en kwaad bewogen angstiglijk | In u. Gij stierft zacht en verlangstiglijk«. Albert Verwey: Oorspronkelijk Dichtwerk. 2 Bde. Amsterdam 1938. Bd. 1, S. 626f. Wie-
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AN FRIEDRICH NIETZSCHE Du warst das leiden das den lebenshunger Doch nicht verlernt, suchtest ob Frau Freund Junger Ob einer dich ansäh als solchen helden Doch keinen fandst du deine kunft zu melden. Dann wurdest dus, kreuzmann und freudenreicher O antichrist … bereit zu immer gleicher Rückkehr leidvollen lebens … frohe mär Die Zarathustra bringt dem irdischen heer. Dann fand man dich. Da hüllten dich die zwerge Als priester in ein weiss gewand. Zum berge Sahst du hinan aus deinem wahnsinns-tal Und antwort kam und klang dir allzumal: »Dionysos der du aus dunklen bruten Entstiegst und bleibst in sommerhellen gluten Dir selber gleich – du herrscher trotz Apoll Mach uns mit deinem blut und wunden voll. Wille der macht gewann wo er sonst niemand War als sich selbst: wir setzen auf dein banner Den Aar, den könig jeden dings das fleucht, Die Schlange, wisserin jeden dings das keucht. Hasser des mitleids, mann und stock der frauen, Und meister deiner selbst, auf den zu bauen Ein höher Sein als auf ein fundament Du jeden hast berufen der dich kennt. Wesen das nochmals sei, Tänzer mit erden! Wir wollen mit dir ein paar ein ewiges werden Wir wollen dein sein deiner gluten voll Wir wollen sein wie du bist trotz Apoll.« Der sang klang aus, da traten durch das düster Die zwei Gestalten hell durch eignen lüster: Der Lichtgott der den dreiklang herrlich strich, Der Christus, rot von speer- und nagelstich.
_____________ derabgedruckt in D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George. In: Stefan Sonderegger u. Jelle Stegemann (Hg.): Niederlandistik in Entwicklung. Vorträge und Arbeiten an der Universität Zürich. Leiden 1985, S. 127–191, hier S. 188f.
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Der eine sagte: Darstellung des gleichen Das ist mein traum, von mir dem gnadenreichen Allzeit ins endlos ungleiche geschwirrt Das durch den traum allein beseligt wird. Der andre sprach: Liebhaben trotz der wunden Nicht sich, nein jeden – das hab ich erfunden Als so allmenschlich grosse seligkeit Dass ichs euch wünsch – ihr der mein bruder seid. Das dunkel kam: auf dich der einsam sass. Gewann Apoll? Christus? und das maass Von gut und bös regte sich bangensvoll In dir. Du starbst sacht und verlangensvoll. (GA 15, S. 100–102)
Abgesehen von der Studie Frank Webers ist Verweys Nietzsche-Gedicht meist lapidar übergangen oder als epigonale Nachahmung gewertet worden. Heinz Raschel etwa widmet dem Gedicht nicht mehr als zehn Zeilen, um dann zu dem Schluss zu gelangen: »Dieses Gedicht knüpft an Georges Nietzsche im Siebenten Ring an und beinhaltet die obligate georgesche Thematik«.100 Und Theo Meyer sucht die vermeintliche Abhängigkeit Verweys von George noch zu verschärfen: »Das Gedicht zeugt nicht von besonderer Originalität, sondern ist eher eine epigonale Stilübung, die den Einfluß von Georges Nietzsche-Gedicht aus dem Siebenten Ring nicht verleugnet«.101 Dass jedoch Verweys Würdigungsgedicht Friedrich Nietzsche keineswegs auf »eine epigonale Stilübung« zu reduzieren ist, hat vor Meyer bereits Weber darlegen können. Da Weber sich in seinem Übersetzungsvergleich jedoch auf zwei markante Umgestaltungen Georges beschränkt,102 sollen hier sowohl spezifische Eigenheiten der Übertragung Georges als auch der Eigenwert von Verweys Dichtung herausgearbeitet werden. Dabei wird vergleichend auf die 1917 von Paul Cronheim vorgelegte Übersetzung zurückgegriffen.103
_____________ 100 Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis (Anm. 5), S. 62. 101 Theo Meyer: Stefan George (Anm. 5), S. 186. 102 Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 67. 103 Vgl. Albert Verwey: Gedichte. Übertragen von Paul Cronheim. Leipzig 1917, S. 73–75. Die folgenden Cronheim-Zitate beziehen sich stets auf dieses Gedicht, weshalb sie nicht einzeln nachgewiesen werden. – Obgleich es den Anschein hat, als habe sich Cronheim bei einigen Wendungen direkt an der Übersetzung Georges orientiert, folgt er an anderen Stellen dem holländischen Original genauer. Außerdem stellt Cronheims Übersetzung die einzige Verdeutschung von Verweys Nietzsche-Gedicht dar, die aus dieser Zeit bekannt ist. Vgl. dazu Verwey an Hanna Wolfskehl, 11. März 1914. Wolfskehl u. Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946 (Anm. 89), S. 118.
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Prinzipiell fällt auf, dass sich George eng an die formale Struktur der Vorlage zu halten versucht. Verweys Gedicht gliedert sich in elf Vierzeiler, die jeweils aus zwei Paarreimen bestehen. Dabei schließen die jambischen Fünfheber im ersten und zweiten Vers unbetont, während die dritten und vierten Verse mit einer betonten Kadenz enden. Aufgerufen ist damit eine im Barock geläufige Kirchenliedstrophe, die im frühen 20. Jahrhundert vor allem bei George selbst wiederholt Verwendung fand. In seiner Übertragung hält er an der von Verwey gewählten Vers-, Reim- und Strophenform fest, variiert jedoch das metrische Schema in der ersten und letzten Strophe, da die erste Strophe gänzlich mit unbetonten Kadenzen und die letzte gänzlich mit betonten Kadenzen schließt. Außerdem sticht heraus, dass George bei der Übersetzung von Vers 17 und 18 auf den Reim verzichtet.104 Aufgrund der lautlichen Nähe von holländischer und deutscher Sprache kann George ansonsten oft auf wurzelverwandte Reimworte zurückgreifen. Mit Blick auf die holländischen Anredeformen ›Gij‹ und ›U‹ ist festzustellen, dass George sie fast ausnahmslos mit ›du‹ übersetzt. Während ›Gij‹ eine sehr förmliche Anrede darstellt, die vornehmlich in der Schriftsprache gebraucht wird, aber mit ›du‹, ›Ihr‹ oder ›Sie‹ übersetzt werden kann, muss ›U‹ stets mit ›Sie‹ wiedergegeben werden. Diese Differenz bildet George nicht nach; nur in Vers 40 trifft er einmal diese Unterscheidung: »Dass ichs euch wünsch – ihr der mein bruder seid«. Cronheim hingegen ist in diesem Punkt konsequenter und gibt selbst Vers 40 in duzender Anrede wieder: »Dass ich’s dir wünsch – der du mein bruder bist?«105 Neben der vereindeutigten Anredeform fallen einige punktuelle Abweichungen auf, an denen kenntlich wird, dass sich George wiederholt vom holländischen Original entfernt. Verweys kunstvolle Doppelung in Vers 4 »geen: geen« wird sowohl bei George als auch bei Cronheim auf ein »keinen« reduziert. Die in Vers 5 folgende Wendung »Gekruist maar Vreugden-rijke« wird bei George nicht als Entgegensetzung erfasst, die aber das »maar« anzeigt.106 Die Antwort in Vers 12 kommt nicht »allzumal«, sondern, wie Cronheim richtig überträgt, »von überall«. In der siebenten Strophe wird die von Vers 26 bis 28 parallel wiederholte Wendung »Wij zullen« stets mit »wir wollen« übersetzt, obwohl hier das Futur »wir werden« gemeint ist. Der »speer- en spijker-grief« in Vers 32 wird mit den Worten »speer- und nagelstich« fast euphemistisch verharmlost, während Cron-
_____________ 104 Vgl. D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George (Anm. 99), S. 141. Die Lösung, die Cronheim mit dem Reim »gewann er | […] Banner« findet, ist freilich nicht sonderlich überzeugend. 105 Hervorhebungen d. Verf. 106 Cronheim erkennt zwar diese Entgegensetzung, übersetzt aber »Gekruist« mit »Am Kreuz«.
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heim mit der »Speer- und Nagelmarter« eher das Original trifft. Auch in Vers 35 wird das von Verwey artikulierte ›Stürzen‹ »ins endlos ungleiche« zu einem ›Schwirren‹ gemildert. Und in Vers 38 ist das »bevonden« eher mit ›befunden‹ zu übersetzen, im Sinne von ›das habe ich festgelegt‹. Über diese punktuellen Abweichungen hinaus lassen sich vier größere Umformungen erkennen, die George vornimmt. Erstens wird die Wendung »Een hoogre Wereld« aus Vers 23, die direkt mit ›Eine höhere Welt‹ zu verdeutschen ist, mit »Ein höher Sein« übertragen, eine Änderung, die Weber auf den Einfluss Platons bei George zurückführt.107 Zweitens findet George für »door uw duister« in Vers 29 die Entsprechung »durch das düster«. Zwar erlauben es die Neologismen »düster« und »lüster«, den Reim Verweys exakt nachzubilden,108 jedoch spricht Verwey nicht von einer allgemeinen, sondern konkret von Nietzsches – offenbar geistiger – Düsternis, wie das »uw« anzeigt. Während die Figuren Apoll und Christus in Georges Übertragung aus einer nicht näher spezifizierten Düsternis heraustreten, sind sie bei Verwey offenbar Projektionen von Nietzsches bereits ›eingedüstertem‹ Geist. Drittens wird die biblische Allusion in den Versen 33 und 37, die durch das »En« entsteht, sowohl bei George als auch bei Cronheim getilgt. Statt »Der eine sagte« in Vers 33 müsste es ›Und der eine sagte‹ lauten. Womöglich wurde diese Reminiszenz an die Bibelsprache unterdrückt, um die Christus-Figur im Gegensatz zur Apoll-Figur formal nicht einseitig zu gewichten. Schließlich ist viertens auf Verweys Wendung »verschijning van ’t gelijke« in Vers 33 hinzuweisen, die George mit »Darstellung des gleichen«, Cronheim jedoch samt eigener Hervorhebung mit »Erscheinung alles Gleichen« übersetzt.109 Insbesondere an dieser Übertragungsvariante werde, wie Weber ausführt, der »Willen [Georges] zur plastischen Gestaltung, zum Konkreten« spürbar.110 George selbst kommentierte im März 1912 diese Passage: »das holländ. von darstellung des gleichen [ist] eine kleine nuance schwächer [… als] ›Verschijning van ’t gelijke‹ = sichtbarwerdung statt -machung«.111 Mit Blick auf die Figur des
_____________ 107 Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 67f. D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George (Anm. 99), S. 148. Cronheims Vorschlag, den Vers mit »Ein höhres Weltall« zu übersetzen, verfehlt den Sinn Verweys. Das schließende Verb im Folgevers »erkent« ist dabei treffender mit ›erkennt‹ als nur mit »kennt« zu übertragen, wie George es tut. 108 Verweys »luister« wäre korrekt mit »Glanz« zu übersetzen, Cronheim bietet »Gefunkel«. Vgl. D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George (Anm. 99), S. 151. 109 Mit »Erscheinung« ist Cronheim näher am Original, führt aber mit »alles« statt »des« wieder davon weg. 110 Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 67. 111 George an Gundolf, 29. März 1912. Stefan George – Friedrich Gundolf: Briefwechsel (Anm. 38), S. 243.
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Apoll liegt die semantische Intensivierung unmittelbar in Georges Absicht: Es geht ihm nicht um die sukzessive Erscheinung, sondern um die kraftvolle Darstellung. Inhaltlich arbeitet Verwey mit zahlreichen direkten »Assoziationen auf das Leben und Werk Nietzsches«,112 wie etwa die Worte »Anti-krist« in Vers 6, »Zarathoestra« in Vers 8 sowie »Wil die zich Macht« in Vers 17 belegen. Verwey setzt damit ein, die Vita Nietzsches in Antinomien vorzustellen – Leid versus Lebenshunger und Gemeinschaftshoffnung versus Einsamkeit –, die in die Opposition »Gekruist maar Vreugden-rijke« münden. Mit der doppelten Betonung des »leiden[s]« in Vers 1 und des »leidvollen lebens« in Vers 7 wird der Dichterphilosoph, der dennoch bereit ist, als Verkünder der Lehre Zarathustras aufzutreten, zu einer entsagenden Märtyrerfigur stilisiert. In Strophe drei wird diese Stilisierung als ein Akt der Gemeinschaft fortgesetzt, deren Mitglieder im hierarchischen Gefälle gegenüber ihrem »priester« wie »zwerge« erscheinen. Die Einkleidung Nietzsches »in ein weiss gewand« ist dabei vordergründig auf die Priestertracht bezogen, erinnert aber gleichfalls an das weiße Krankenhemd, das Nietzsche in der Villa Silberblick trug.113 Denn kurz darauf ist in Vers 11 schon von seinem »wahnsinns-tal« die Rede, was darauf hindeutet, dass Verwey das Würdigungsgedicht offenbar auf die letzte Lebensdekade Nietzsches perspektiviert. Die direkte Rede in Strophe vier bis sieben, in der sich ein gemeinschaftliches Wir artikuliert, das den Dichterphilosophen heiligt, kann als Ausdruck von Nietzsches ergebener Jüngerschaft gelesen werden. Die Figur des Dionysos, die in Nietzsches Werk nahezu omnipräsent ist und deren enthemmte Triebkraft in der Geburt der Tragödie das antagonistische Prinzip zum Maßvoll-Apollinischen bildet, wird eingangs der direkten Rede sofort mit Nietzsche identifiziert. Doch dessen am Ende von Ecce homo (1908) formulierte scharfe Distanznahme »Dionysos gegen den Gekreuzigten« (KSA 6, S. 374), die Verwey während der Entstehungszeit seines Gedichts gerade kennen konnte, wird hier nicht aufgegriffen. Vielmehr wird in Vers 16 eine religiöse Opferungspraxis aufgerufen, die in ihrer Formulierung an den Arnulf von Löwen zugeschriebenen lateinischen Hymnus Salve caput cruentatum denken lässt, aus dem Paul Gerhardt das bekannte Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden formte.114 Dieses bei Verwey
_____________ 112 Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 66. 113 Vgl. etwa die Photographie von Hans Olde aus dem Sommer 1899. 114 Vgl. Marlies Lehnertz: Vom hochmittelalterlichen katholischen Hymnus zum barocken evangelischen Kirchenlied. Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunden und seine lateinische Vorlage, das Salve caput cruentatum Arnulfs von Löwen. In: Hansjakob Be-
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exponierte Ausströmen des Blutes soll auf eine unmittelbare Vereinigung von Priester und Jüngerschaft zielen. Nach der ehrenden Aufzählung von Attributen wie dem Adler und der Schlange oder den Bezugnahmen auf Nietzsches Werke, beispielsweise die Nennungen »Wille der macht« in Vers 17 oder »mann und stock der frauen« in Vers 21,115 geht die Anrede in der siebenten Strophe mit der dreimaligen Wiederholung von »Wij zullen« in ein Gebet über. Während George die Hoffnung der Jünger durch sein »Wir wollen« insofern nuanciert, als somit nur ihr Wunsch versprachlicht wird, künftig mit ihrem Priester »ein paar ein ewiges [zu] werden«, ist dieser Wunsch bei Verwey durch das ›Wir werden‹ bereits Gewissheit. Die bei George in seinem ersten Nietzsche-Gedicht monierte fehlende Vorstellung von einem gemeinschaftlichen Liebeskonzept wird bei Verwey durch das Bündnis von quasi-religiöser Führerfigur und heiligender Gefolgschaft kompensiert. Wird die Rede von Nietzsches »wahnsinns-tal« in Vers 11 sowie vom »düster« in Vers 29, das, wie dargetan, als die ›mentale Düsternis‹ des Dichterphilosophen zu verstehen ist, auf dessen einsetzende geistige Erkrankung bezogen, können sowohl die Rede der Jüngerschaft als auch die nun aus dem Dunkel tretenden Figuren Apoll und Christus als Projektionen bzw. Traumvisionen des siechen Nietzsche aufgefasst werden. Dabei baut sich zwischen dem Dionysos-Priester und dem »Lichtgott« Apoll sowie dem von Wundmalen gezeichneten Christus eine merkliche Spannung auf, da Apoll und Christus in ihrer jeweiligen Strophe sich Nietzsche anzunähern versuchen. Indem Apoll die ›Erscheinung‹ bzw. »Darstellung des gleichen« als eigenen »traum« hinstellt, scheint er das Konzept der ›Ewigen Wiederkunft‹ zu preisen und sich zugleich aneignen zu wollen, das Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft entwickelt hatte. Christus hingegen rühmt den Gedanken des universalen Mitleids und versucht, Nietzsche zu vereinnahmen, indem er ihn in Vers 40 – vorsichtig fragend – bereits zu seinem »bruder« erklärt.116 Mit der letzten Strophe kommt schließlich »Das dunkel«, das heißt der nahende Tod. Die Frage nach dem Sieg von Apoll oder Christus, die das lyrische Ich formuliert, bleibt am Ende unbeantwor-
_____________ cker u. Reiner Kaczynski (Hg.): Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium. 2 Bde. St. Ottilien 1983. Bd. 1: Historische Präsentation, S. 755–773. 115 Bietenhader hat darauf hingewiesen, dass George hier »Zweep« eigenwillig zu »stock« umbildet (D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George (Anm. 99), S. 155). Offenbar waren metrische Gründe ausschlaggebend, den einsilbigen »stock« der zweisilbigen ›Peitsche‹ vorzuziehen. Cronheim übersetzt an dieser Stelle mit Apokopierung: »Peitsch’«. 116 George macht an dieser Stelle aus Verweys Frage- einen Antwortsatz und vereindeutigt so die Vereinnahmungstendenz von Verweys Christusfigur.
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tet – einen »Ausweg aus dem Wahnsinn«, wie Weber nahelegt,117 scheinen aber weder der eine noch der andere bieten zu können. Vielmehr hat diese Konfrontation nochmals »das maass | Von gut und bös […] bangensvoll« berührt und damit ein besonderes Verlangen geweckt, das im letzten Vers anklingt. Vielleicht ist darin schlichtweg die Hoffnung zu sehen, sich nicht mehr mit solchen und ähnlichen Gegenfiguren auseinandersetzen zu müssen, sodass es Nietzsche letztlich möglich ist, »sacht« sterben zu können. Im Vergleich mit Georges Nietzsche-Gedichten konturiert Verwey eine völlig andere Seite des Dichterphilosophen. Dessen Wahnsinn wird zwar auch bei George aufgegriffen, nur zielt er einerseits auf eine bewusste Absetzung Nietzsches von der pejorativ beschriebenen Menge. Diese Charakterisierung mündet jedoch nicht in unreflektierter Idolisierung, sondern setzt andererseits deutlich kritische Akzente, wenn Nietzsche die Liebesfähigkeit oder die dichterische Kunstfertigkeit abgesprochen wird. Solcher Werturteile enthält sich Verwey in seinem Gedicht und vermag mit dem Kunstgriff, eine imaginäre Jüngerschaft sprechen zu lassen, ebenfalls zentrale Aspekte aus Nietzsches Leben und Werk anzuführen. Mit der Bezugnahme auf Nietzsches letzte Lebensphase fragt Verwey nicht, was der Dichterphilosoph für die Gemeinschaft gewesen sei, nämlich, wie George es beurteilte, Redner und Warner. Vielmehr inszeniert Verwey eine Konfrontation des umnachteten Nietzsche mit einstigen Gegenfiguren und zeigt damit, dass dessen eingangs des Gedichts markant herausgearbeitetes Leiden überhaupt erst angesichts des Todes zu verstummen beginnt. Diese Differenz im Umgang mit dem Vorbild Nietzsche mag ›in nuce‹ auf Georges und Verweys divergierende ästhetische Positionen hindeuten, die sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mehr und mehr voneinander entfernen.118 Mit dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich die ideologische zu einer politischen Differenz, sodass es 1919 zum öffentlichen Bruch mit Verwey kam. Trotz dieser fundamentalen Unterschiede hielt George an der grundsätzlichen Wertschätzung Verweys fest.119 ***
_____________ 117 Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis (Anm. 5), S. 66. 118 Vgl. Theodoor Weevers: Albert Verwey and Stefan George. Their conflicting affinities. In: German Life and Letters 11 (1968/69), H. 1, S. 79–89. 119 Im Rückblick schrieb Friedrich Wolters: »sowohl George wie die Dichter der Blättergemeinschaft verehrten weiterhin in Albert Verwey den grössten zeitgenössischen Dichter im ausserdeutschen Raum« (Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930, S. 470).
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Neben der produktiven dichterischen Auseinandersetzung mit dem Weimarer Dichterphilosophen gibt es eine Vielzahl von Stellungnahmen Georges, in denen er wiederholt die Künstlerschaft Nietzsches relativiert. Noch Max Kommerell wird die Überordnung des Dichters George über den Philosophen Nietzsche fortschreiben, wenn er behauptet, dass George unter anderem »die geübte Menschenformung« gegenüber Nietzsche voraus gehabt habe.120 Auch Karl Gustav Vollmoeller wird in seinem auf George gemünzten Gedicht Praeceptor Germaniae (1942/43) Nietzsche als »letzte[n] Baum« beschreiben, der von »Gottes Blitz« zerschmettert worden ist.121 In seiner Perspektive ist es George aufgegeben, als nachwachsender und möglichst fruchtbarer Stamm die Dichtung neu zu beleben.
_____________ 120 Max Kommerell: Notizen zu George und Nietzsche. In: Ders.: Essays, Notizen, Poetische Fragmente. Aus dem Nachlaß hg. v. Inge Jens. Olten, Freiburg i. Br. 1969, S. 225– 250, hier S. 230. 121 Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George (Anm. 67), S. 69.
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Nietzsche-Verwerfungen bei Georg Trakl Über das ›große Ausstrahlungsphänomen‹ Friedrich Nietzsche, wie es von Gottfried Benn benannt wurde, ist das Gewichtigste wohl von den unmittelbar Betroffenen selbst gesagt worden: Thomas Mann und Benn haben sich in zahlreichen, gut erschlossenen Dokumenten intensiv und erschöpfend über fast ihre gesamte Schaffenszeit hinweg mit der Bedeutung Nietzsches auseinandergesetzt. Ihren beiden so unterschiedlichen Stellungnahmen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung und Nietzsche nach 50 Jahren – kommt eine geradezu säkulare Bedeutung zu. Neue Dokumente von vergleichsweise grundstürzender Relevanz sind kaum mehr zu erwarten; die Philologie hat hier ausgiebige Erschließungsarbeit geleistet.1 Auch im Bereich der Wiener Moderne, der Musil-Forschung oder des Expressionismus ist der Rang Nietzsches kaum einer Verteidigung bedürftig. Im Fall Georg Trakls liegen die Dinge anders. Nietzsche spielt in der Trakl-Forschung eine sehr erhebliche Rolle, aber umgekehrt erfuhr Trakl im Rahmen der Nietzsche-Forschung bislang nur geringe Beachtung.2 Unter soviel präziseren und bis ins Detail nachweisbaren Auseinandersetzungen mit Nietzsche in der klassischen Moderne kann man dem Phänomen Georg Trakl mit sehr großer Skepsis begegnen. Es ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Einerseits sind die Spuren Nietzsches hier nur bedingt offenkundig, andererseits entzieht sich das Werk Trakls wie kaum ein anderes grundsätzlich der semantischen Kontrolle, sodass hier weder von einer exakten Nietzsche-Spur die Rede sein kann, noch von anderen ideologischen Gewissheiten. Zugespitzt formuliert: Mit Nietzsche lässt sich bei Trakl alles und nichts erfassen, er steht als einer der gewichti-
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Zu den weiterführenden Arbeiten in diesem Feld gehören im vorliegenden Band der Beitrag von Christian Schärf über Gottfried Benn sowie derjenige von Hans Rudolf Vaget über Thomas Mann. In Bruno Hillebrands wichtiger Dokumentation Nietzsche und die deutsche Literatur (2 Bde. München, Tübingen 1978) spielt Trakl kaum eine Rolle. Auch in Gunter Martens’ Studie ›Im Aufbruch das Ziel‹. Nietzsches Wirkung im Expressionismus erfährt Trakl kaum Beachtung (G. Martens: ›Im Aufbruch das Ziel‹. Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: Hans Steffen (Hg.): Nietzsche. Werk und Wirkungen. Göttingen 1974, S. 115–166).
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gen Bezugsautoren im Licht, aber sein Schatten ist keineswegs klar umrissen. Warum also soll dann dieses Thema hier vorgestellt werden? I Im Rahmen der Nietzsche-Rezeption kommt dem Beitrag Georg Trakls eine spezifische, man könnte sagen: eine methodologische Bedeutung zu, die eng mit der besonderen Problematik des Werkes von Trakl verknüpft ist. Es ist nicht einmal so sehr der kurze Zeitraum, der die Beobachtungen von Nietzsche-Spuren bei Trakl schwierig macht, denn von der Zusammenstellung seiner Gedichte im Jahr 1909 bis zu seinem Tod verblieben Trakl nur fünf Jahre, und als er sich in der Verzweiflung des Weltkriegs das Leben nahm, war er gerade 27 Jahre alt. Vor allem liegt die Problematik darin, dass Trakls Texte zum überwiegenden Teil, als Lyrik und Prosagedichte, eine unmittelbare Semantisierung verweigern, dass sie selbst da, wo sie einmal wenigstens Relikte der historischen Wirklichkeit zu spiegeln scheinen, keine Garantie ihrer Lesbarkeit enthalten. Die Integration von Namen historischer Personen wie Novalis (An Novalis),3 Kaspar Hauser (im Kaspar Hauser Lied (HKA 1, S. 95)) oder Karl Kraus (in dem Vierzeiler Karl Kraus (HKA 1, S. 123)) bietet nicht mehr als eine von Fall zu Fall zu prüfende Bezugnahme, deren Referenz durch die Namen allein nicht gedeckt ist. Ein Vers wie »Im Nebenzimmer spielt die Schwester eine Sonate von Schubert« (HKA 1, S. 81) aus dem Gedicht Unterwegs lässt sich keineswegs umstandslos als direktes Zeugnis einer Schubert-Rezeption bei Trakl verbuchen, denn oftmals finden sich in der Genese der Texte Ersetzungen solcher Referenzen, die deutlich machen, dass ihr semantischer Gehalt nur eine Facette unter mehreren sein kann. Überdies begegnet der Name Nietzsches oder eine explizite Bezugnahme auf sein Leben und Werk im lyrischen Werk Trakls nicht. Anders sieht es in den Briefen, vor allem aber in den Zeugnissen aus Trakls Freundeskreis aus. Hier sind zumindest Spuren der Nietzsche-Lektüre rekonstruierbar. Aber schon aus dieser doppelten Brechung, nämlich dass die Gedichte keine direkten Nennungen aufweisen und dass alle Spuren nur von dritter Hand bezeugt sind, ergibt sich eine Konsequenz: Trakls Nietzsche-Lektüre unterscheidet sich durch den Modus des Mittelbaren, des Indirekten gravierend von derjenigen seiner Zeitgenossen, sei es Thomas Mann, Gottfried Benn oder Hugo von Hofmannsthal.
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Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Walther Killy u. Hans Szklenar. 2 Bde. Salzburg 1969. Bd. 1, S. 324. Fortan zitiert unter Verwendung der Sigle HKA.
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Aber eine solche vorläufige Arbeitshypothese würde es kaum rechtfertigen, Trakl im Zusammenhang von soviel eindeutigeren Zeugnissen der Nietzsche-Lektüre in der Moderne zu behandeln; das weniger Greifbare, das vergleichsweise sehr viel weniger Manifeste seiner Rezeption Nietzsches wäre eine nur unbefriedigende Basis. Sofern sich die Forschung des Themas angenommen hat, bemühte man sich, durch Interpretationen einzelner Gedichte der Nähe Trakls zu Nietzsche auf die Spur zu kommen. Dieser Weg ist indes stark auf die intertextuelle Sehkraft des jeweiligen Interpreten angewiesen und daher in seiner Erweisfähigkeit nicht immer zuverlässig. Vielmehr scheinen mir der Rang und die Relevanz der Auseinandersetzung Trakls darin zu liegen, dass er Nietzsche schließlich im Konflikt mit anderen Paradigmen der Moderne reflektiert hat, sodass man sagen könnte: Trakls in gewissen Grenzen durchaus symptomatische Bedeutung innerhalb der Nietzsche-Diskussion liegt eher darin, dass er sehr früh schon Nietzsche gegen Nietzsche gelesen hat, dass er ihn im Blick alternativer Positionen wahrgenommen und damit Wege eingeschlagen hat, die weit über Trakls begrenztes Leben hinausgeführt haben. Man könnte wohl bis zu der These vorstoßen, gegenüber der zentralperspektivischen Sanktionierung Nietzsches etwa bei Thomas Mann oder Benn zeichne sich bei Trakl früh eine Problematisierung Nietzsches ab, die ihn auf seine Rolle als einen von mehreren Gründungsvätern der Moderne gleichsam begrenze. Nietzscheanisch und paradox formuliert: Trakl erweist sich gerade dadurch als ein guter Nietzsche-Leser, dass er schon Momente einer Kritik, einer Überwindung, womöglich einer Verwerfung erarbeitet, die schließlich anderweitig aufgegriffen werden. »Der Mensch der Erkenntniss«, heißt es in Zarathustras Rede Von der schenkenden Tugend, »muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?«.4 Nietzsche ist für Trakl weder die einzige noch die erste Stimme, die es zu hören gilt; neben ihm sind es jedenfalls auch Hölderlin und Novalis, Dostojewskij und die französischen Symbolisten, die seine Texte mit inspirieren. Und vor allem ist es doch offenbar nur eine Auswahl, nur eine gewisse Perspektive des Denkens Nietzsches, die hier in Frage kommt: Die Grundzüge der nietzscheanischen Aufklärung, der Desillusionierung und Entlarvung – sei es der Triebnatur oder der Kulissenhaftigkeit bürgerlicher Gepflogenheiten – sowie der Genealogie der Moral finden vor allem beim
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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988. Bd. 4: Also sprach Zarathustra, S. 101. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen.
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frühen Trakl Resonanz. Nimmt man noch die Momente des Dionysischen hinzu, die sich von Fall zu Fall in der Emphase von Nietzsches Lieblingsjahreszeit, dem Herbst, entfalten, und die Schonungslosigkeit der nihilistischen Diagnose, dann sind damit wohl die wichtigsten Impulse erfasst. Weder Nietzsches radikale Kunstphilosophie, dass wir nur die Kunst hätten, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen (KSA 13, S. 500), noch seine dem Nihilismus entgegengestellten Konzeptionen, die seit dem Zarathustra entfaltet werden – etwa die Visionen des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen sowie der Wille zur Macht – finden eine Resonanz bei Trakl. Was nicht ausschließt, dass nicht doch durch findiges Interpretenauge genau solche Herleitungen gesichtet worden wären. Ein Beispiel sind die beiden Schlussstrophen aus dem Gedicht Einklang, das Trakl in seine Sammlung von 1909 integriert hat. Richard Detsch findet hier »ganz prägnant« den Gedanken der ewigen Wiederkehr: Im hellen Spiegel der geklärten Fluten Sehn wir die tote Zeit sich fremd beleben Und unsre Leidenschaften im Verbluten, Zu ferner’n Himmeln unsre Seelen heben. Wir gehen durch die Tode neugestaltet Zu tiefern Foltern ein und tiefern Wonnen, Darin die unbekannte Gottheit waltet – Und uns vollenden ewig neue Sonnen.5
Nietzsches Beitrag zum Werk Trakls liegt wohl eher im destruktiven als im konstruktiven Bereich, mehr in der Diagnose als in der Therapie. Man könnte damit die Sache einfach auf sich beruhen lassen und dauerhafteren Spuren bei anderen Nietzsche-Lesern nachgehen. Aber Trakls Verhaftetsein und -bleiben in jenem ›Geist der Schwere‹, den Zarathustra so energisch bekämpft, ist für die Konstellation dieser Nietzsche-Rezeption aufschlussreich und durchaus produktiv. Denn wenn Trakls Texte fast durchgängig vom »Weltunglück« Zeugnis ablegen – so beispielsweise im Gedicht Trübsinn (HKA 1, S. 53) –, von Verfall, Verwesung und Tod sprechen, vom »namenlose[n] Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht«,6 dann durchzieht die einzelnen NietzscheAffinitäten ein Moment der Passion, der Anteilnahme und Fürsorge, des Mitleids und der Klage, das letztlich dem Gekreuzigten nähersteht als dem Vitalismus des Dionysos, selbst wenn Trakl keineswegs christlich zu ver-
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Richard Detsch: Die Beziehungen zwischen Carl Dallago und Georg Trakl. In: Walter Methlagl, E. Sauermann u. S. P. Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981, S. 158–176, hier S. 164. An Ludwig von Ficker, Ende November 1913 (HKA 1, S. 530).
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einnahmen ist. Auch aus der religiösen Sphäre greift er vor allem auf den Anteil des Leidens, weniger auf denjenigen der Erlösung zurück. Aber indem Trakl auf der Unausweichlichkeit und Trostlosigkeit des Leidens insistiert, es als Naturkulisse wie als metaphysisches Schicksal inszeniert, kommt er zu einer Erfahrung, die nicht mehr im Zeichen Nietzsches formuliert werden kann, die sich in der Inkubationszeit des drohenden Weltkriegs entfaltet und für die Zeitgenossen zu einer für Nietzsche schließlich dauerhaften Konkurrenz führt. So könnte man sagen, dass einerseits die Unspezifik und andererseits die Schwäche der Nietzsche-Affinität bei Trakl ihn früh dafür prädestinieren, Nietzsche in einer sehr viel kritischeren Weise zu rezipieren als viele Zeitgenossen. Während Thomas Mann bis zu den Betrachtungen eines Unpolitischen gerade das deutsche, von Nietzsche selbst inaugurierte – oder insinuierte – Dreigestirn von Schopenhauer, Wagner und Nietzsche in die Waagschale wirft, zeichnet sich im Umkreis Trakls, im Brenner-Kreis, um 1913 eine Gegenbewegung ab, die mit Kierkegaard und Dostojewskij Strukturen einer Nietzsche-Distanzierung vorbereitet. II In einem zweiten Abschnitt muss es nun darum gehen, mit den Momenten positivistischer Biographik einerseits und intertextueller Lektüreverfahren andererseits Trakls Nietzsche-Verhältnis zunächst zu rekonstruieren. Dazu haben sich in der Trakl-Forschung maßgeblich Regine Blass (1968), Walter Methlagl (1995) und zuletzt Hanna Klessinger (2007) geäußert.7 Von den Fakten her gesprochen, weist Trakls eigenhändige Bücherliste drei Nietzsche-Titel auf, Die Geburt der Tragödie, den Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse (vgl. HKA 2, S. 727). Es ist anzunehmen, dass Trakl aber sehr viel mehr Nietzsche-Texte kannte, und zwar schon seit seiner Jugend. Aus seiner Umgebung ist folgende Anekdote überliefert: »In seinen Jünglingsjahren soll Trakl unter Salzburger Dichterfreunden ein Gedicht vorgelesen haben, das er als seines ausgab. Nachdem es alle verworfen hatten, sagte er: ›Das Gedicht, das ihr verworfen habt, ist von Friedrich Nietzsche‹, ging fort und ließ sich nie wieder in diesem Kreis blicken«.8
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Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl. In: Rémy Colombat u. Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, S. 81–118. Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007, S. 23–57. Erwin Mahrholdt: Der Mensch und Dichter Georg Trakl. In: Hans Szklenar (Hg.): Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 31966, S. 21–90, S. 62f.
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Ein weiteres Dokument, ebenfalls aus Trakls Freundeskreis, ist das von Hans Limbach Anfang Januar 1914 aufgezeichnete Gespräch zwischen Trakl und Carl Dallago, das immer wieder in der Diskussion um Trakls Nietzsche-Rezeption angeführt wird: D[allago] schien nicht wahrhaben zu wollen, daß Trakl immer mehr sich in sich zurückzog und verschloß, und brachte als letzten Trumpf Nietzsche vor. »Nietzsche war wahnsinnig!« – warf Trakl barsch hin, indem seine Augen unheimlich funkelten. »Wie verstehen Sie das?« »Ich verstehe das« – grollte jener – »daß Nietzsche dieselbe Krankheit hatte wie Maupassant!« Grauenvoll war sein Antlitz, als er dies sagte: der Dämon der Lüge schien aus seinen Augen zu funkeln.9
Gleichwohl hat die Forschung durch Interpretation der Texte zahlreiche Verbindungslinien sichtbar zu machen versucht. Momente des Dionysischen mehr als des Apollinischen spielen dabei eine gewichtige Rolle:10 Es sind Motive wie etwa das Meer, die Nacht, der Wein, Mohn, Flöte und Gesang – die Reihe lässt sich fortsetzen –, in denen Echos von Nietzsche-Anregungen erkannt worden sind.11 Wem das zu ungenau ist, der nimmt die Beobachtung Methlagls skeptisch auf: »Bei einmal geweckter Aufmerksamkeit ist man versucht, auf jeder Seite Nietzsche Vorwegnahmen Trakls zu finden und auf jeder Seite Trakl Spuren Nietzsches«.12 Als Konkretisierung dieser vielfachen Reflexe bietet sich dann die exakte Analyse einzelner Gedichte an. Im Hinblick auf die Musikalität hat man Trakls Musik im Mirabell (HKA 1, S. 18) vor dem Hintergrund Nietzsches gelesen;13 zudem sind einige Texte als Zarathustra-Kontrafakturen gelesen worden, so Gesang zur Nacht XII und Das tiefe Lied, das schon durch seinen Titel an Nietzsche erinnert,14 oder noch das späte Gedicht Untergang von 1913.15 Auch wird es vermutlich weder sonderlich strittig noch überraschend sein, das schon 1906 geschriebene Gedicht Der Heilige als Spiegelung von Nietzsches Genealogie asketischer Ideale zu lesen:
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Hans Limbach: Begegnungen mit Georg Trakl. In: Hans Szklenar (Hg.): Erinnerung an Georg Trakl (Anm. 8), S. 117–126, hier S. 123f. Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl (Anm. 7), S. 85f. Ebenda, S. 89f. Ebenda, S. 83. Vgl. dazu ebenda, S. 96f. Ebenda, S. 89. Hanna Klessinger: Krisis der Moderne (Anm. 7), S. 23–30.
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Der Heilige Wenn in der Hölle selbstgeschaffener Leiden Grausam-unzüchtige Bilder ihn bedrängen – Kein Herz ward je von lasser Geilheit so Berückt wie seins, und so von Gott gequält Kein Herz – hebt er die abgezehrten Hände, Die unerlösten, betend auf zum Himmel. Doch formt nur qualvoll-ungestillte Lust Sein brünstig-fieberndes Gebet, des Glut Hinströmt durch mystische Unendlichkeiten. Und nicht so trunken tönt das Evoe Des Dionys, als wenn in tödlicher, Wutgeifernder Ekstase Erfüllung sich Erzwingt sein Qualschrei: Exaudi me, o Maria! (HKA 1, S. 254)
Die der Gedichtüberschrift entgegengesetzte Entlarvungsstrategie und das Aggressive dieser Demaskierung lassen sich wohl besonders gut mit einem nietzscheanischen Hintergrund beschreiben. Dass der Heilige gerade das Opfer seiner unzüchtigen Phantasien ist und seine ganze Bemühung auf den Kampf gegen die unterdrückte Sexualität reduziert wird; dass sein Gebet als »brünstig-fiebernd[-]« physiologisch diskreditiert wird; dass seine abgezehrten, asketischen Hände als »unerlöst[-]« beschrieben werden; und vor allem, dass sein »Qualschrei« als unterdrückte Lust erscheint und dem dionysischen Evoe-Ruf entgegensetzt wird, – all das spricht für eine Grundierung durch Nietzsche. Es fällt daher nicht schwer, auch bei ihm entsprechende Formulierungen nachzuweisen, etwa im Kampf des Heiligen gegen den »inneren Feind[-]« aus Menschliches, Allzumenschliches: Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend zu machen, besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten »inneren Feinde«. Namentlich nützt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmäßigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. (KSA 2, S. 134)
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Solche Engführungen zwischen Trakl und Nietzsche sind offenbar mit Blick auf zahlreiche Texte möglich. Aber zugleich kann man diese Befunde auch so deuten: Je mehr Trakl-Texte sich im Licht Nietzsches lesen lassen, ohne sich jemals direkt oder ausschließlich zu ihm zu bekennen, desto offener, unbestimmter, übertragbarer wird die These von der Wirkung Nietzsches auf Trakl. Und eben diesen Unbestimmtheitsfaktor gilt es zu berücksichtigen. Als Zwischenbilanz ließe sich daher festhalten: Zwar ist die Ausstrahlung Nietzsches im Fall Trakls weniger eindeutig als bei Thomas Mann, Benn oder Musil, sie ist aber doch in vielen Brechungen so stark, dass von ihr als einer gravierenden Strömung die Rede sein kann. Zu dieser Vagheit gehört jedoch, dass Nietzsche dabei zunehmend in Konkurrenz steht zu anderen Paradigmen, die in den letzten Jahren Trakls für diesen wichtig geworden sein mögen. Doch erlaubt es die Diffusität der Nietzschewirkung bei Trakl nicht, eindeutige Grenzen oder Zäsuren zu ermitteln, etwa von wann an sein Einfluss auf Trakl abgenommen habe. Zeichen dieser unklärbaren Gemengelage ist der Widerspruch, dass Trakl sich angeblich mit der Produktion aus der Zeit von Ende 1912 bis Anfang 1913 – nach dem berühmten Psalm – sowie mit der Wendung zu freien Rhythmen und Lang- oder Kurzzeilen von Nietzsche verabschiedet habe, dass andererseits jedoch noch die spätesten Texte aus dem Herbst 1914, Klage und Grodek, »jedenfalls in Nietzsches Austragungsbereich« verblieben.16 Trakl ist für eine Nietzsche-Rezeptionsforschung kein direkt ergiebiger Kandidat, gleichwohl aber ein Zeuge, der immer wieder angeführt werden kann. Er ist daher nicht als Nietzsche-Verräter, als abtrünniger Jünger von Bedeutung, sondern eher als eine mentalitätsgeschichtlich aufschlussreiche Schnittfläche, in der konkretere Daten oder Spuren Nietzsches deshalb nicht zu lesen sind, weil sie zum einen von anderen, gleichzeitigen, konkurrierenden Schriftzügen überschrieben sind, zum anderen, weil Trakl auf eine spezifisch lyrische, nichtideologische Weise auf Nietzsche reagiert hat. III Im dritten Abschnitt gelten die eingangs angesprochenen Vorbehalte gegenüber einer Semantisierung Trakls als verstärkte Sicherheitsvorkehrungen. Dessen kritische Auseinandersetzung mit Nietzsche lässt sich nicht schlichtweg als ein Gesinnungswandel, als eine Abkehr vereindeutigen.
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Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl (Anm. 7), S. 98 u. 110.
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Wenn nun die Namen Kierkegaard und Dostojewskij ins Spiel gebracht werden, dann sind damit diverse Vorüberlegungen anhängig: •
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Die Namen oder entsprechende direkte Werkbezüge sind auch in diesem Fall nicht gegeben; für Dostojewskij spricht am ehesten der Name Sonja, mit dem sich Trakl (im gleichnamigen Gedicht (HKA 1, S. 105)) auf eine Gestalt aus Schuld und Sühne bezogen haben dürfte. Aber selbst hier wird man eindeutige, gar affirmative Momente der Rezeption nicht behaupten können. Kierkegaard und Dostojewskij spielen für Trakls Umgebung, den Brenner-Kreis, in den Jahren 1913 und 1914 eine immer wichtigere Rolle. Insofern handelt es sich nicht so sehr um eine individuelle als um eine mentalitätsgeschichtliche und in gewisser Weise symptomatische Konstellation. Aber gerade diese Konstellation kann auf Nietzsche als ihren Ausgangspunkt bezogen werden: Dieser hat 1887 Dostojewskij (auf Französisch) gelesen, nannte Aus einem Totenhaus (»la maison des morts«) »eins der ›menschlichsten‹ Bücher, die es giebt«,17 und rechnete ihn bis in seine letzte Zeit zu seinen »größten Erleichterungen«,18 – dies ausgerechnet gegenüber Georg Brandes, dem Vermittler der skandinavischen Literatur. Ihm hatte Nietzsche noch im Februar 1888 aus Nizza geschrieben, er habe sich für seine »nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen«.19 Was sich somit in den letzten Jahren Nietzsches gerade noch andeutet, aber nicht mehr entfalten konnte, blieb für NietzscheLeser wie Georg Trakl offenbar eine eigene Aufgabe: Nietzsche weniger im Strom seiner Selbstauslegung und -inszenierung auszubuchstabieren als vielmehr in seinen Texten gleichsam einen anderen, einen unterdrückten Nietzsche zu entdecken, dessen Verwandtschaft mit dem Dänen Kierkegaard und dem Russen Dostojewskij nicht zu übersehen war.
Selbst im Fall Dostojewskijs gibt es ein uneindeutiges Bild bei Trakl: Einerseits ist bekannt, dass er den Russen schon »sehr früh und mit vollem Einsatz zu lesen begann« (so der Jugendfreund Eberhard Buschbeck),20 dass
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An Heinrich Köselitz, 7. März 1887. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 8: Januar 1887–Januar 1889. Nachträge/Register. München, Berlin 1986, S. 41. An Georg Brandes, 20. Oktober 1888. Ebenda, S. 457. An Georg Brandes, 19. Februar 1888. Ebenda, S. 259. Brief an Ludwig von Ficker, 23. Oktober 1925. In: Hans Szklenar (Hg.): Erinnerung an Georg Trakl (Anm. 8), S. 140.
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er in einem Gespräch von 1912 Dostojewskij gegen Goethe21 beziehungsweise im Limbach-Gespräch gegen Nietzsche ausgespielt hat.22 Überdies stehen die Romane Dostojewskijs in Trakls Bücherverzeichnis mit immerhin zehn Titeln an erster Stelle (vgl. HKA 2, S. 727), und mit der Kenntnis von Schuld und Sühne sowie der Brüder Karamasov ist sicher zu rechnen. Die Gestalt Sonjas aus dem früheren Roman hat Trakl im Jahre 1913 dreimal aufgegriffen, im Triptychon Die Verfluchten, im Gedicht Sonja und im Prosagedicht Verwandlung des Bösen. Im Juni 1913 kaufte Ludwig von Ficker den Band mit Dostojewskijs Literarischen Schriften.23 Es ist sogar diskutiert worden, inwiefern Trakl selbst für die sich belebende Dostojewskij-Rezeption des Brenner-Kreises verantwortlich gewesen sein könnte.24 Theodor Haecker, Autor der vieldiskutierten Schrift Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit von 1913, erhebt im Februar 1914 im Brenner seine polemische Stimme,25 auf die hin sich in den folgenden Nummern auch Carl Dallago einschaltet.26 Dabei kommen im Brenner Erstübersetzungen von Texten Kierkegaards27 direkt neben Erstpublikationen Trakls zu stehen. Und auch Dostojewskij, auf den Dallago schon 1911 hingewiesen hatte,28 war im Jahr 1914 mit mehreren Texten vertreten.29 Wenn Haecker mit vielfach unangenehmer Polemik (etwa gegen Fritz Mauthner, Hermann Bahr oder Thomas Manns Der Tod in Venedig)30 seinen Kredit verspielt, so stellt er Kierkegaard in einer für die Diskussion ergiebigen Weise mit Dostojewskij und unter den Zeitgenossen mit Karl Kraus zusammen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie die Kreatürlichkeit des Menschen verteidigen und somit Askese und Prostitution nicht moralisch kontrastieren, sondern beide in ihrer Relativität respektieren. Das Konkrete des individuellen Menschen, nicht das ›Allzumenschliche‹ im Sinne Nietzsches, sondern das Kreatürliche, zeichnet sich bei Trakl als eine Spur der Verwer-
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Karl Röck: Tagebuch 1891–1946. Hg. u. erläutert v. Christine Kofler. 3 Bde. Salzburg 1976. Bd. 1, S. 165. Hans Limbach: Begegnungen mit Georg Trakl (Anm. 9), S. 125. Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl (Anm. 7), S. 93. Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994, S. 116. Theodor Haecker: F. Blei und Kierkegaard. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 457–465. Carl Dallago: Über eine Schrift Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 467–478, S. 515–531, S. 565–578. Sören Kierkegaard: Vorworte. Der Pfahl im Fleisch. Kritik der Gegenwart. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 671–683, S. 706–712, S. 797–814, S. 815–849, S. 870–886. Carl Dallago: In Gesellschaft von Büchern. In: Der Brenner 2 (1911/12), S. 410. Fjodor Dostojewskij: Selbstmord und Unsterblichkeit. Zwei Briefe. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 543–554 (über Selbstmord und Unsterblichkeit) u. S. 763–778. Theodor Haecker: Vorbemerkung des Übersetzers. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 669f.
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fung ab, die dann, etwa mit Wittgenstein, Kafka, Freud und Max Weber, gerade in Dostojewskij einen Autor des 20. Jahrhunderts entdeckt. Einer der Ersten, die – in diesem Sinne – Dostojewskijs ›Willen zur Demut‹ als einen neuen Anfang dem Ende des westlichen ›Willens zur Macht‹ gegenübergestellt haben, ist Otto Julius Bierbaum, dessen Dostojewskij-Essay der überaus einflussreichen Gesamtausgabe des Piper-Verlags (22 Bände, erschienen zwischen 1906 und 1919) beigefügt wurde.31 Mithin könnte man davon sprechen, dass gerade über Dostojewskij eine Seite an Nietzsche sichtbar gemacht wurde, die dieser selbst zu verdecken versucht hatte. Diese Ethik des Kreatürlichen manifestiert sich bei Nietzsche lebensgeschichtlich im Turiner Zusammenbruch angesichts des misshandelten Pferdes, – ein Vorgang, der quasi als Szenarium eines Nervenkranken schon im Fiebertraum Rodion Raskolnikoffs vor dem Mord Gestalt angenommen hatte.32 Es ist aber neben dieser ethischen noch eine andere Sicht auf das Symptomatische des Nietzsche-Lesers Trakl möglich, in der Stil und Weltanschauung eine Synthese eingehen: Nietzsches nihilistische Diagnose, dass die obersten Werte sich entleert haben, dass, in diesem Sinne, Gott also tot ist, schlägt sich beim Lyriker Trakl darin nieder, dass die Werte der Logik, der Psycho-Logik und der Kausalität, die raum-zeitliche Wirklichkeit sowie die Garantie eines zusammenhängend erkennbaren Sinns abhanden kommen, dass der Sinn tot ist. Dafür kursierten in der Trakl-Forschung immer wieder diverse Erklärungsmuster, von der Bilderwelt des Drogenabhängigen über Traumphantasien bis hin zur psychobiographischen Deutung Gunther Kleefelds, Trakls Dichten »als eine rituelle Sühnehandlung, als einen Versuch magischer Wiedergutmachung phantasierter Zerstörung« zu begreifen.33 In nicht wenigen Texten, und sie werden im Laufe der Jahre 1913 und 1914 dominierender, ist eine zusammenhängende Sinnrekonstruktion nicht mehr möglich (etwa im Gedicht Jahr). Trakl arbeitet die schon zuvor angelegte Gleichberechtigung von semantischem Bild und Klang,34 die syntaktische Polyvalenz seiner Gedichte35 zu einer Paradoxie des Para-
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Hermann Bahr, Dimitri Mereschkowski u. Otto Julius Bierbaum: Dostojevskij. Drei Essays. München 21914, S. 75–105, insbesondere S. 85. Zur deutschen Dostojewskij-Rezeption vgl. Christoph Garstka: Arthur Moeller van den Brucke und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919. Frankfurt a. M. 1998. Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985, S. 117. Ebenda, S. 117f.: »Seine Lyrik ist kein bloßes Sprachspiel, sie hat die Notwendigkeit einer neurotischen Zwangshandlung, den Ernst eines religiösen Zeremoniells, den Ernst eines Gebets«. Vgl. dazu Albert Hellmich: Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1971, insbesondere S. 86–107. Vgl. Eckhard Philipp: Die Funktion des Wortes in den Gedichten Georg Trakls. Linguistische Aspekte ihrer Interpretation. Tübingen 1971, insbesondere S. 63.
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taktischen aus,36 die eine eindeutige Lesbarkeit verunmöglicht. Das Stichwort des Hermetischen wäre dabei eher als Verlust der Wert- und Sinnhaftigkeit, als Scheitern der Lesbarkeit zu reformulieren. In diesem Sinne verstehe ich Heideggers Formulierung von der »zweideutigen Zweideutigkeit« der Dichtung Trakls.37 Somit stellt sich dessen Werk nicht einfach mit Nietzsche ›jenseits von Gut und Böse‹, indem es die traditionelle Moral außer Kraft setzt, sondern es wendet sich immer deutlicher auch gegen Nietzsche und zeigt die Gleichberechtigung von Gut und Böse als existentielle Grunderfahrung seines dunklen Menschenbildes. Indem Trakl sich nicht einfach ›diesseits‹ von Gut und Böse verortet, womit er hinter Nietzsche zurückfiele, sondern indem er die Koexistenz von Gut und Böse in ihrer Gleichzeitigkeit spiegelt, bildet er eine lyrische Logik des Parataktischen aus: Der sogenannte Reihungsstil des Expressionismus – Trakls »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet«38 – mutiert zu einer Paradoxie der sich ausschließenden Gegensätze, die sich in der Gleichzeitigkeit von Gut und Böse als Ambivalenz niederschlägt. Und hierin erweist sich Trakl wo nicht als Leser, so doch als Partner von Kierkegaard und Dostojewskij, sodass hier letztlich Stilistisches, Weltanschauliches und Ethisches wieder zusammentreten. Kierkegaard flieht »das spießige Irrenhaus des Wahrscheinlichen«39 und erkennt gerade in der Absurdität des Paradoxen die eigentliche »Leidenschaft des Gedankens«:40 Hierin folgt ihm, nach Trakl, unter anderem Franz Kafka. Eine erzählerische Gestaltung von Paradoxien wird aber vor allem von Dostojewskij geleistet, dessen Romane, insbesondere Die Brüder Karamasov, um 1914 zu den Wertverlust und eine kreatürliche Ethik thematisierenden Kultbüchern avanciert sind. Der Vatermord als Abrechnung mit der Unglaubwürdigkeit der älteren Generation, als Ausdruck des Kredit- und Werteverlustes der Tradition, wird zum Fanal der Generation um 1914: Nihilismus als Eskalation der Gewalt – mit dieser Erfahrung erweist sich der Autor der Brüder Karamasov als visionärer Historiograph des Kriegsausbruchs von 1914. Die nihilistische Formel »Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!« (KSA 11, S. 146), die Nietzsche im Nachlass bedenkt, übersetzt Dostojewskij in die Gestalt Iwans, der auch
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Rudolf Dirk Schier: Die Sprache Georg Trakls. Heidelberg 1970, S. 35. Martin Heidegger: Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht. In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 61979, S. 35–82, hier S. 75. Georg Trakl an Erhard Buschbeck, Juli 1910 (HKA 1, S. 478). Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. In: Ders.: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff Angst. Hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest. München 1976, S. 66. Sören Kierkegaard: Philosophische Brocken. Übers. u. hg. v. Liselotte Richter. Frankfurt a. M. 1984, S. 36.
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mit der Legende vom Großinquisitor die sozusagen russische Variante vom Tod Gottes erzählt. Indem aber Dostojewskij statt Visionen des Übermenschen das menschliche Leiden selbst in den Mittelpunkt stellt, trifft er die Mentalität von 1914 vielleicht wie kein anderer. Und Trakls Sensibilität kann sich durch die Karamasov-Affinität von Wittgenstein und Freud, Max Weber, Hauptmann, Hofmannsthal und vielen anderen bestätigt sehen. Als zwar nicht linientreuer, aber mit eigenem Anspruch durchaus kreativer Nietzsche-Leser erweist sich Trakl somit da, wo er, anders als die einschlägigeren Figuren unter seinen Schriftstellerkollegen, Nietzsches Philosophie in die Paradoxien seines lyrischen Sprechens umsetzt, um diesen Paradoxien darin zugleich ein auch ethisches Potential zu sichern, das bei der ›reinen‹ Nietzsche-Lektüre leicht übersehen werden konnte. Resümee in sieben Thesen 1. Trakl ist schon früh mit dem Werk Nietzsches vertraut; er wird einen erheblichen Teil gekannt haben. 2. Viele Aspekte aus Nietzsches Konzeptionen lassen sich bei Trakl interpretatorisch erschließen, aber eben doch nicht alle; das heißt auch: Diese Nähe ist nicht unmittelbar evident. 3. Was hingegen entscheidender ist und das Thema Nietzsche–Trakl methodologisch relevant werden lässt: Trakls Texte verweigern sich mit zunehmender Stringenz einer semantischen Instrumentalisierung. Deshalb kann auch Nietzsche kein definitiver Bezugspunkt für sie sein. 4. Vielmehr lässt sich die syntaktische, semantische und logische Offenheit der Texte Trakls vor einem durch Nietzsche geprägten Hintergrund als eine Krise, ja als eine Kritik des hermeneutischen ›Willens zur Macht‹ lesen. Nietzsches philologische Basis mutiert zu einer universalen Hermeneutik, in der alles als Zeichen einer unendlichen Semiose ausgesetzt wird. Bei Trakl dagegen wird die Semantik destruiert. Sie wird nicht vollständig ins Unlesbare oder Surreale aufgehoben, aber in einzelne Fragmente zerlegt; nur punktuelle Lesbarkeit ist möglich. Der Beginn von Nachtseele ist nur als Einzelheit, nicht insgesamt lesbar: »Schweigsam stieg von schwarzen Wäldern ein blaues Wild | Die Seele nieder | Da es Nacht war; über moosige Stufen ein schneeiger Quell« (HKA 1, S. 185). 5. Aber was bei Trakl solchermaßen in einzelnen Punkten, nicht mehr in narrativen Linien oder Zusammenhängen sichtbar wird, widerspricht Nietzsche vielfach: Wir finden keine Apotheose der Lebensphilosophie, kein Übermensch-Pathos, keine messianische Erlösungshoffnung. Trakls Vokabeln fangen das ›Weltunglück‹ ein, zitieren, darin den fran-
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zösischen Symbolisten und Dostojewskij folgend, den Verfall, die Klage und das Mitleid. Der Sinnverlust manifestiert sich als Paradoxie. 6. Darin werden Momente von Negativität, Schuld und Schwermut deutlich. Der von Nietzsche geächtete ›Geist der Schwere‹ wäre als Inspiration der Trakl’schen Trauer fassbar, die ebenso Schuld der Vergangenheit wie Verantwortung für die Zukunft umfasst. Trakl als Kronzeuge einer ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ im Sinne Lukács nimmt den Ersten Weltkrieg als Symptom eines ›Wert-Vakuums‹ (Hermann Broch) wahr, das mit Nietzsche allein nicht zu bewältigen ist. Der von Trakl zuletzt mitgeteilte Aphorismus verdiente also eine Lesart auch jenseits der biographisch-inzestuösen Deutung: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne« (HKA 1, S. 463). 7. In dieser Perspektive wird Trakls Nietzsche-Verwerfung deutlich. Es bedarf weniger der Berufung auf die Rede von Schuld einerseits und Sühne andererseits, um hier an Dostojewskij zu denken. Vielmehr ist es der Zusammenhang, die menschliche, existentialistische Verbundenheit, die mit Nietzsche nicht mehr kompatibel ist. Trakls Trauer, so könnte man sagen, weist auf eine Linie, die, mit dem Trakl-, Kierkegaard- und Dostojewskij-Leser Wittgenstein gesprochen, zwar keinen absoluten Wert mehr zur Verfügung stellen kann, aber doch im Anrennen gegen das Gefängnis der Sprache eine letztlich ethische Verantwortung übernimmt.41
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So die berühmte Formulierung Wittgensteins am Ende seines Vortrags über Ethik von 1929, in Anspielung auf eine Stelle in Kierkegaards Philosophischen Brocken. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hg. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1989, S. 18–19. Siehe zudem Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Neu durchges. v. Joachim Schulte. Bd. 3: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann. Aus dem Nachlaß hg. v. B. F. McGuinness. Frankfurt a. M. 1989, S. 68f.
Gesa von Essen
Resonanzen Nietzsches im Drama des expressionistischen Jahrzehnts Wenn Gottfried Benn in seiner Retrospektive aus dem Jahre 1950 Friedrich Nietzsche als das »größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte« bezeichnet,1 dann wirkt in dieser emphatischen Rede die besondere Intensität, mit der Benns eigene expressionistische Generation auf das Werk Nietzsches reagiert hatte, noch Jahrzehnte später spürbar nach. Die Rezeption Nietzsches gehört zweifellos zu den Konstanten der Literatur des Expressionismus und spiegelt sich in zahlreichen theoretisch-essayistischen Auseinandersetzungen ebenso wider wie in genuin poetischen Applikationen lyrischer, epischer und dramatischer Gestalt, sei es auf der Basis umfassender eigener Nietzsche-Kenntnis oder lediglich gespeist durch einzelne Bruchstücke seiner Philosophie, wie sie im allgemeinen Diskussionszusammenhang der Zeit in Umlauf waren.2 Diese regelrechte ›Allgegenwart‹ Nietzsches im expressionistischen Jahrzehnt hat die literaturwissenschaftliche Forschung bisher in erster Linie für die Rezeption von Also sprach Zarathustra und Ecce homo sowie der Nachlassschriften Der Wille zur Macht herausgearbeitet,3 während Die Geburt der Tragödie demgegenüber weni-
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Gottfried Benn: Nietzsche – nach fünfzig Jahren. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. v. Dieter Wellershoff. Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1046–1057, hier S. 1048. Allgemein zu den verschiedenen Formen und Wegen der Nietzsche-Rezeption in der neueren deutschen Literatur und Kunst vgl. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen, Basel 1993, S. 156–163. Eine besondere Rolle in der expressionistischen Nietzsche-Rezeption spielten immer wieder vermittelnde Drittautoren, nicht zuletzt aus dem Ausland, so v. a. Georg Brandes, August Strindberg, George Bernard Shaw oder Filippo Tommaso Marinetti; vgl. Gunter Martens: Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 2: Forschungsergebnisse. Tübingen 1978, S. 35–82, hier S. 53. Vgl. dazu v. a. die folgenden Überblicksdarstellungen: Gunter Martens: Nietzsches Wirkung im Expressionismus (Anm. 2), S. 35–82. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst (Anm. 2), S. 243–321. Hans Ester: Nietzsche als Leitstern der Expressionisten. In: Ders. u. Meindert Evers (Hg.): Zur Wirkung Nietzsches. Der deutsche Expressionismus, Menno ter Braak, Martin Heidegger, Ernst Jünger, Thomas Mann, Oswald Spengler. Würzburg 2001, S. 99–111. Meyer konstatiert zwar, dass die Breitenwirkung Nietzsches im Expressionismus insgesamt ebenso nachlasse wie seine geradezu kultische Verehrung,
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ger als systematischer Fokus der Untersuchung diente.4 Dabei war es gerade die Tragödienschrift, die mit ihrer eigentümlichen Doppelung von kulturhistorischer Rekonstruktion und prophetischer Vision, das heißt mit ihrer radikalen Neuinterpretation griechischer Kultur einerseits und ihrem auf Gegenwart und Zukunft bezogenen ästhetisch-ideologischen Programm andererseits, dem Selbstverständnis des Expressionismus, seinem zeit- und kulturkritischen Aufbruchspathos5 in besonderer Weise entgegenkam: So konnte man in Nietzsches – teils im Duktus religiöser Erweckung gehaltener – Prophezeiung einer modernen »Wiedergeburt der Tragödie«6 im Schlussteil seiner Schrift die Vorwegnahme expressionistischer Erneuerungsambitionen erkennen, ja die eigene Dramatik sogar mit messianischem Impetus bereits als Einlösung dieser Prophezeiung verstehen. Beispielhaft sei hier an die Widmung erinnert, die Rudolf Pannwitz 1913 seinen fünf Dionysischen Tragödien voranstellte: »Friedrich Nietzsche dem Schoepfer unseres neuen Lebens die Ausgabe dieser Werke als einer ganzen Jugend verspaetete Antwort und Dankbarkeit fuer die Tat«.7
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sieht Nietzsche aber gleichwohl als »geistige[n] Promotor auch des Expressionismus« an (Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst (Anm. 2), S. 243). Dagegen spielen expressionistische Autoren in Bruno Hillebrands Überblick über die Nietzsche-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur im Nietzsche-Handbuch kaum eine Rolle (Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 444–466). Vgl. jüngst allgemein zur Rezeption Nietzsches in der Literatur des 20. Jahrhunderts den Forschungsbericht von Walter Erhart: ›Niemals sage, das hätten wir‹. Neue Studien zur literarischen Nietzsche-Rezeption im 20. Jahrhundert. In: Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 453–468. Als Annäherung unter dem Blickwinkel einer Theorie der Ästhetik wäre hier insbesondere zu nennen die Studie von Richard T. Gray: Metaphysical Mimesis: Nietzsche’s Geburt der Tragödie and the Aesthetics of Literary Expressionism. In: Neil H. Donahue (Hg.): A Companion to the Literature of German Expressionism. Rochester 2005, S. 39– 65. So betont Gray zusammenfassend, dass die Expressionisten die Geburt der Tragödie keineswegs als philologisch-historisches Buch über den Ursprung der Tragödie gelesen hätten, sondern für sie vor allem Nietzsches (zeitkritischer) Ruf nach einer Wiedergeburt der Tragödie in seiner Gegenwart von Bedeutung gewesen sei (Richard T. Gray: Metaphysical Mimesis (Anm. 4), S. 41). Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [oder Griechentum und Pessimismus]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München 1988. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870– 1873. S. 9–156, hier S. 129. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen. Rudolf Pannwitz: Werke. Bd. 1: Dionysische Tragödien. Nürnberg 1913, S. 9. Von Pannwitz stammt auch eine Einführung in Nietzsche aus dem Jahr 1920. Die Rezeption von Nietzsches Wiederkunfts-Idee bei Pannwitz untersucht Hans-Joachim Koch: Die Nietzsche-Rezeption durch Rudolf Pannwitz. In: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 441–467.
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Wenn im Folgenden also von den vielfältigen Resonanzen Nietzsches im Drama des expressionistischen Jahrzehnts die Rede ist, dann soll es weniger darum gehen, der (im Übrigen gut erforschten) Repräsentation verschiedener nietzscheanischer Positionen im dramatischen Spiel nachzuspüren,8 etwa den vitalistischen Zügen in Carl Sternheims Maske-Trilogie Aus dem bürgerlichen Heldenleben, den Übermensch-Allusionen in der Wandlungsdramatik Georg Kaisers, Reinhard Sorges und Walter Hasenclevers oder dem hymnisch-ekstatischen Zarathustra-Tonfall, der in nahezu allen expressionistischen Dramen seinen Niederschlag fand. Stattdessen soll vielmehr das breite Spektrum mehr oder minder innovativer Dramenexperimente in den Blick genommen werden, die in intensiver Auseinandersetzung mit Nietzsches Geburt der Tragödie eine grundlegende Erneuerung des Dramas anstrebten.9 Dabei lässt sich die bis heute meist unterschätzte Antikenrezeption der Expressionisten durchaus als aussagekräftiges Indiz für die tiefgreifende Wirkung der Tragödienschrift Nietzsches verstehen.10 Angesichts der Fülle zu berücksichtigender Texte sollen an dieser Stelle vor allem drei zentrale Aspekte expressionistischer Nietzsche-Rezeption im Drama im Vordergrund stehen: Zunächst gilt es, Formen der Theatralisierung zu untersuchen, bevor dann Tendenzen einer dionysischen Revision und schließlich Grundzüge der sokratischen Moderne in den Mittelpunkt gerückt werden. Natürlich handelt es sich dabei um sachlich eng zusammenhängende Bereiche, die gleichwohl aus heuristischen Gründen getrennt betrachtet werden sollen.
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Wenn Hillebrand allerdings bei den meisten deutschen Autoren (mit Ausnahme z. B. Rilkes oder Benns) ein ›angemessenes‹ Verständnis der Philosophie Nietzsches vermisst und vor allem auf Missverständnisse und Mängel in der literarischen Nietzsche-Rezeption verweist, dann verstellt eine solche normativ perspektivierte Fragestellung den Blick für den poetischen Eigenwert der jeweiligen Nietzsche-Adaptationen (Bruno Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen. Göttingen 2000). Dass Nietzsche bei vielen dieser Erneuerungsbemühungen Pate stand, spiegelt sich symptomatisch darin wider, dass Georg Kaiser seiner dramatischen Skizze Die Erneuerung (1917/19), die als Prototyp expressionistischer Aufbruch-Dramatik intendiert war, das Incipit tragoedia aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft voranstellt, das seinerseits wiederum intertextuell mit dem Zarathustra und der Götzen-Dämmerung verknüpft ist (Georg Kaiser: Werke. Hg. v. Walther Huder. Bd. 6: Stücke 1933–1944. Fragmente 1904– 1945. Zeittafel. Bibliographie. Frankfurt a. M. 1972, S. 710–713, hier S. 710). Volker Riedel: Nietzsche und das Bild einer ›dionysischen Antike‹ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 8 (2001), S. 63–87, hier S. 80.
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I. Theatralisierung Seit der Jahrhundertwende vollzog sich im deutschsprachigen Raum ein Prozess der Re-Theatralisierung des Theaters,11 durch den das szenische Bühnengeschehen wieder eine vorherrschende Rolle gegenüber dem literarischen Text erlangte und die verschiedenen nonverbalen Techniken der körperlichen und zeichenhaften Expression in den Vordergrund rückten. Während einerseits eine zunehmende Desemantisierung der (Wort-)Sprache zu beobachten war, wurden andererseits der Körper- und Objektwelt, den akustischen und optischen Zeichensystemen eigene semantische Qualitäten zugeschrieben. Die in diesem Zusammenhang von den Expressionisten propagierte neue »Ausdruckskunst der Bühne«12 setzte unter der Leitformel des Antinaturalismus an die Stelle der wirklichkeits- und milieudarstellenden Szene des bürgerlichen Illusionstheaters den abstrakt und symbolhaft komponierten (geistigen) Raum13 und sollte sich im synästhetischen Zusammenspiel von Licht, Farbe, Wort, Musik und Körpersprache entfalten, von dem man sich eine Intensivierung des Ausdrucks wie der Wirkung versprach. Diese dramen- und theaterreformerischen Bestrebungen des expressionistischen Jahrzehnts hatten in Nietzsche einen wirkungsvollen Wegbereiter, der in seiner Tragödienschrift ausdrücklich das Prinzip der »Verzauberung« (KSA 1, S. 61) zur Voraussetzung aller dramatischen Kunst erhebt, das es in antinaturalistischer, amimetischer Transgression umzusetzen gelte. Nietzsche proklamiert dabei den theatralen Entwurf einer »neue[n] Welt der Symbole«, in der jenseits des Wortes vor allem die symbolische Ausdruckskraft von Bewegung und Musik aufgewertet wird, »die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm« (KSA 1, S. 33f.). Solche symbolhaft stilisierten intermedialen Grenzüberschreitungen, wie Nietzsche sie als Grundzug der attischen Tragödie ansieht, zählen zu den zentralen Darstellungsformen in der expressionistischen Dramatik und
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Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen 1990, S. 163–166. So der Titel eines Buches von Arthur Kutscher von 1910. Zusammenfassend zu den bühnenreformerischen, synästhetischen Tendenzen im expressionistischen Drama vgl. Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 2002, S. 148–155. Žmegač arbeitet die Tendenz zur Abstraktion als Grundkonstante des expressionistischen Dramas heraus (Viktor Žmegač: Zur Poetik des expressionistischen Dramas. In: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1971, S. 482–515, hier S. 496).
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werden beispielsweise im Einakter Mörder Hoffnung der Frauen (1910 beziehungsweise 1916) von Oskar Kokoschka deutlich, der als Maler und Dichter zu den für den Expressionismus typischen Doppelbegabungen gehört.14 Man denke in diesem Zusammenhang auch an das vom Autor selbst entworfene Plakat für die Uraufführung 1909, das unter dem späteren Titel Pietà in seinem malerischen Œuvre zentrale Bedeutung erlangte, an seine Zeichnungen für die Erstpublikation in der Zeitschrift Der Sturm 1910 sowie an sein Engagement als Regisseur und Bühnenbildner bei der Dresdner Aufführung des Einakters im Jahre 1917. Insgesamt stellt Kokoschkas Kurzdrama mit seiner ekstatischen Freisetzung von Farbe, Licht und stilisierter Gebärde, sich permanent steigerndem »Getöse«15 und teils arios-opernhaft vorgetragener Figurenrede (»immer höher singend, entrückend«16) eine besonders eindringliche Form expressiver Dramatik und Bühnenkunst dar, ja gilt zu Recht als Beginn des Bühnenexpressionismus in Deutschland. Bereits die Uraufführung, von der Kokoschka in seiner Autobiographie berichtet, war geprägt durch den intensiven Einsatz akustisch-musikalischer Elemente und einer mit ausgefeilter Symbolik unterlegten Farb- und Lichtregie, die zu wesentlichen Mitteln theatralen Ausdrucks aufgewertet wurden, während der literarische Text als Spielvorlage an Bedeutung verlor. Dieser Bedeutungsverlust spiegelte sich schon allein darin wider, dass zum Zeitpunkt der Uraufführung noch gar kein fertiger Dramentext vorlag, sondern Kokoschka sich darauf beschränkte, den Schauspielern kleine Zettel mit Stichworten zu ihren Rollen zu geben, wobei er »die Stichworte in Gebärden, verschiedenen Tonhöhen, Rhythmus und Ausdruckswandel ihnen selber vorgemimt« habe.17 Das Szenarium dieser Aufführung, die unter freiem Himmel stattfand, war durch Fackeln wie in lichterlohes Feuer getaucht, die »wilde Stimmung wurde musikalisch mit dumpfen oder rasselnden Trommelschlägen und schrillen Pfeifentönen erhöht und durch eine in grellen Farben wechselnde Beleuchtung gesteigert«.18 In ähnlicher Weise kommt die alle Sinnesorgane gleichzeitig ansprechende Re-Theatralisierung auch im Schlussbild von Franz Werfels Troerinnen (1914) zum Ausdruck, einer ganz im Geist des Expressionismus ent-
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Vgl. die umfassende Studie von Thomas Schober: Das Theater der Maler. Studien zur Theatermoderne anhand dramatischer Werke von Kokoschka, Kandinsky, Barlach, Beckmann, Schwitters und Schlemmer. Stuttgart 1994 (dort zu Kokoschka S. 38–94, zu Kandinsky S. 95–172). Oskar Kokoschka: Das schriftliche Werk. Hg. v. Heinz Spielmann. Bd. 1: Dichtungen und Dramen. Hamburg 1973, S. 33–41, hier S. 35. Ebenda, S. 39. Oskar Kokoschka: Mein Leben. Vorwort u. dokumentarische Mitarbeit v. Remigius Netzer. München 1971, S. 67. Ebenda, S. 65.
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worfenen freien Neubearbeitung der gleichnamigen Tragödie des Euripides. Während Euripides den Brand Trojas, der die Tragödie beschließt, vor allem teichoskopisch, gefasst in pathetischer Figurenrede Hekubas und des Chores zur Darstellung bringt, weitet Werfel hingegen mit Darstellungsmitteln jenseits der Sprache das Geschehen zu einer grandiosen Apokalypse aus, die in einer sich gleichfalls steigernden Abfolge von Regieanweisungen folgendermaßen beschrieben wird: Überall Licht, großes Hellerwerden, die Horizonte bluten, Troja nach und nach in Flammen. […] Auch die Chöre werfen sich nieder und schlagen langsam und fürchterlich den Boden im Takt. […] Vom Lager her beginnt eine ungeheuere Musik. Fanfaren, hohe Flöten und Trommeln, immer näher kommend, dazwischen ein eiserner Marschlärm. […] Die Musik wächst immer mehr. Hekuba hat sich aufgerichtet. Sie geht einige Schritte nach vorn und tritt auf irgendeine Erhöhung, wie auf ein Postament. Alle Frauen fluten an ihr empor, wie an einem Riff. Sie steht ganz in einem schwarzen Licht. – Plötzlich bricht die Musik ab. […] Eine neue Woge von Feuer und Fanfare verschlingt das Bild.19
Solchen synästhetischen ›Bühnenkompositionen‹,20 so der programmatische Terminus Wassily Kandinskys, die gerade nicht auf rationale Durchdringung, sondern auf sinnliches Erleben21 und expressive Überwältigung angelegt sind, hat Nietzsche zweifellos mit seiner scharfen Ablehnung des sokratisch-euripideischen Argumentationstheaters Vorschub geleistet, das er im Rahmen einer Verfallstheorie als vereinseitigende dialektische Rationalisierung des Dramas verwirft, um stattdessen die Rückkehr zu den dionysisch-musikalischen Ursprüngen der Tragödie, also ihren nicht-diskursiven, affektiven und performativen Bestandteilen zu propagieren. Dementsprechend lässt sich in der expressionistischen Antiken-Dramatik insgesamt eine im Vergleich zu den griechischen Bezugstexten, aber auch im Vergleich zum aufklärerischen oder naturalistischen Drama auffallende Reduktion der logisch-rationalen Anteile des dramatischen Geschehens beobachten, die in doppelter Weise zutage tritt: einerseits, wie in Pannwitzens Die Be-
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Franz Werfel: Die Troerinnen. Nach der Tragödie des Euripides. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die Dramen I. Hg. v. Adolf D. Klarmann. Frankfurt a. M. 1959, S. 41–89, hier S. 86–89. Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition [1912]. In: Ders. u. Franz Marc (Hg.): Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe v. Klaus Lankheit, München 31979, S. 189– 208. Insbesondere Kokoschkas Kunsttheorie ist auf das Ziel des individuellen Erlebens ausgerichtet. Vgl. dazu seinen späteren programmatischen Essay mit dem Titel Vom Erleben [1935] in Oskar Kokoschka: Schriften 1907–1955. Hg. v. Hans Maria Wingler. München 1956, S. 47–59. So wolle etwa auch sein Einakter Mörder Hoffnung der Frauen gerade kein Lesestück sein, sondern müsse »gesprochen, auf der Bühne gestaltet und erlebt werden« (Oskar Kokoschka: Mein Leben (Anm. 17), S. 67).
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freiung des Oidipus (1913), einer freien Nachdichtung von Sophokles’ Oedipus auf Kolonos, in der Zurückdrängung und Vereinfachung des Protagonisten-Dialogs, der sich vielfach in endlosen Kaskaden von Einwortversen verflüchtigt;22 andererseits in einer bis weit in den Bereich des A-Semantischen vorangetriebenen Auflösung der Sprache in reine Expression, etwa in melodiös-oratorische Lyrismen wie in Sorges Dramen23 oder ins Pathos des Schreis bei Werfels Hekuba. In Kandinskys szenischer Bilderfolge Der gelbe Klang (1912) ist die Dialogstruktur sogar gänzlich aufgegeben und Sprache in Form von Figurenrede nur noch in rudimentären Schwundstufen erhalten, sei es als »Singen ohne Worte« oder klangloses Flüstern, sei es als Ausruf »vollkommen undeutlicher Worte« oder sinnleerer Klangkombinationen wie »Kalasimunafakola«.24 Statt der traditionell konstitutiven Bedeutung von Sprache als Träger des argumentativen Gehalts des Dramas weist Kandinsky dem Wort nur eine eher sekundäre Funktion zu: »Das Wort als solches oder in Sätze gebunden wurde angewendet, um eine gewisse ›Stimmung‹ zu bilden, die den Seelenboden befreit und empfänglich macht. Der Klang der menschlichen Stimme wurde auch rein angewendet, das heißt ohne Verdunkelung desselben durch das Wort, durch den Sinn des Wortes«.25 Sprache dient in diesem Bühnenkonzept also in erster Linie dazu, eine bestimmte Atmosphäre zu evozieren, die den Rezipienten für die Wahrnehmung des »inneren Klanges«26 in der Kunst sensibilisieren soll. Der Text des Gelben Klangs, der eine Handlung nur vage andeutet, besteht denn auch fast vollständig aus Regieanweisungen27 zu einem teils assoziativ, teils leitmotivisch verknüpften freien Spiel mit Lichtführung und Farbgebung, Bewe-
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Rudolf Pannwitz: Die Befreiung des Oidipus. Ein dionysisches Bild. In: Ders.: Werke. Bd. 1: Dionysische Tragödien (Anm. 7), S. 199–249, hier S. 214–218. In diesem Zusammenhang ist an die charakteristische Verwischung der Grenzen zwischen Lyrik und Dramatik im Expressionismus zu erinnern, man denke etwa an Sorges regelrechte lyrische Oratorien (Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst (Anm. 2), S. 255) oder an Werfels Nachdichtung der Troerinnern des Euripides, die seiner lyrischen Begabung besonders entgegenkamen, da sie wenig äußere Handlung enthalten, sondern vor allem extreme Gefühlszustände zum Ausdruck bringen (vgl. Lore B. Foltin: Franz Werfel. Stuttgart 1972, S. 27). Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang. In: Ders. u. Franz Marc (Hg.): Der Blaue Reiter (Anm. 20), S. 209–229, hier S. 216, 222f. Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition (Anm. 20), S. 208. Ebenda, S. 202. Ähnlich verhält es sich bei Kokoschka, in dessen Einakter Mörder Hoffnung der Frauen etwa die Hälfte des Textes auf Regieanweisungen zu Bewegung und Gebärde, Licht und Farbe entfällt, während die Figurenrede selbst weniger als dialogisch-kausale Kommunikation erscheint, sondern aus weitgehend unverbundenen, fast rezitativischen Elementarsätzen besteht.
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gungschoreographien und Klangformen – man könnte geradezu von einem postdramatischen Theatertext ›avant la lettre‹ sprechen. 28 Die dialogisch-diskursiven Elemente der Rede werden in der expressionistischen Dramatik also deutlich zurückgenommen, nicht jedoch ihre (im Sinn der Rhetorik gesprochen) persuasiven und deklamatorischen Komponenten, die im typisch expressionistischen Pathos kulminieren, das sowohl durch Nietzsches Schriften wie auch durch Nietzsches Stil maßgeblich befördert wurde.29 Pannwitz beispielsweise bemüht sich in seinen fünf Dionysischen Tragödien ausdrücklich um ein hymnisch-visionäres Idiom, um das poetisch umzusetzen, was Nietzsche als Essenz der griechischen Tragödie philosophisch postuliert hatte.30 Zu diesem Idiom gehören (wie bei den meisten expressionistischen Dramatikern) vielfach alliterierende, binnenreimende oder lautmalerische Wort- und Verskompositionen, die bei Pannwitz zwar gelegentlich angestrengt-übersteigerte Züge tragen,31 insgesamt aber als gezielter Versuch einer Musikalisierung der Sprache zu verstehen sind, bei dem die eigentliche Sinnaussage durchaus hinter dem reinen Klangeffekt zurücktreten kann. Auch Werfel setzt in seinen Troerinnen immer wieder auf verschiedene Effekte klangrhythmischen Sprechens, die er durch den ausdrücklichen Verweis auf eine skandierende, also die metrische Struktur besonders hervorhebende Vortragsweise noch zusätzlich zu steigern sucht, etwa wenn es in einer Regieanweisung heißt, dass die Rede »sich in
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So die Charakterisierung von Kafitz, der an Hans-Thies Lehmanns Begriffsprägung anknüpft (Dieter Kafitz: Drama und Bühnenkunstwerk im Expressionismus. In: Benedikt Descourvières, Peter W. Marx u. Ralf Rättig (Hg.): Mein Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-Texte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, S. 61–78, hier S. 71). So hat die jüngste Forschung für den Expressionismus eine nicht zuletzt durch die Nietzsche-Rezeption vorangetriebene Rhetorisierung der Literatur herausgearbeitet, durch die elocutio und persuasio gegenüber argumentativen Inhalten und semantischen Kontexten als ›Ausdruck‹, Pathos oder ›Schrei‹ poetisch und poetologisch profiliert wurden; vgl. Walter Erhart: ›Niemals sage, das hätten wir‹. Neue Studien zur literarischen NietzscheRezeption im 20. Jahrhundert (Anm. 3), S. 464. Vgl. auch ders.: Expressionismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 164–179, hier Sp. 168f., 173. Allgemein zum von Nietzsche inspirierten Pathos der Expressionisten vgl. Peter Stücheli: Poetisches Pathos. Eine Idee bei Friedrich Nietzsche und im deutschen Expressionismus. Bern 1999. Zu Nietzsches Stil jüngst Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007. Zu berücksichtigen sind hier vor allem die beiden Tragödien Die Befreiung des Oidipus. Ein dionysisches Bild sowie Iphigenia mit dem Gotte. Ein apollinisches Spiel (Rudolf Pannwitz: Werke. Bd. 1: Dionysische Tragödien (Anm. 7), S. 199–249 bzw. S. 253–315). Man denke etwa an Ausrufe wie »Oioie Iakche alai iu evoë evoë ewig Iakche!« (Rudolf Pannwitz: Werke. Bd. 1: Dionysische Tragödien (Anm. 7), S. 206) oder an neologistische Wortkombinationen wie »Hohluntersaugendüberblutende/Todumgebärendlebenwendende/Wohlwiderwollendhämischgäische« (ebenda, S. 266).
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die wild skandierten Anapäste der Chöre«32 steigere. Offenkundig empfanden es die Autoren des Expressionismus als (intermediale) Herausforderung, dass Nietzsche sein ästhetisches Programm zwar an einem der Literatur zugehörigen Paradigma, nämlich der Tragödie, entfaltet hatte, es aber in der Moderne gerade nicht in der Literatur, sondern allein im Musikdrama Wagners eingelöst sah. Für die Expressionisten galt es daher, mit der eigenen Dichtung den Nachweis zu erbringen, dass sich Nietzsches Prophezeiung durchaus (und womöglich besser) mit den Mitteln der Wortkunst erfüllen ließ. Kronzeuge dafür hätte im Übrigen Nietzsche selbst sein können, der es im nachgetragenen Versuch einer Selbstkritik von 1886 ausdrücklich bedauerte, dass er das, was er in der Geburt der Tragödie zu sagen hatte, »nicht als Dichter zu sagen wagte«, denn sie »hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« (KSA 1, S. 15). Allerdings verstanden die expressionistischen Dramatiker ihre Wortkunst ohnehin in einem fast emphatischen Sinn als Bühnenkunst, die aufgrund des integrativen Charakters des Mediums Theater in besonderer Weise geeignet erschien, die Idee einer Synthese der Künste zu realisieren. Dass viele Autoren dabei – man denke etwa an die bereits zitierten Passagen aus Kokoschkas und Werfels Dramen – gerade der Musik eine im Vergleich zum gesprochenen Wort herausgehobene Bedeutung zuschrieben, zeigt einmal mehr die geistige Nähe zu Nietzsches Tragödienschrift, in der die Musik zur ureigensten »dionysischen Kunst« erhoben (KSA 1, S. 103) und eine moderne Wiedergeburt der Tragödie allein »aus dem Geiste der Musik« (KSA 1, S. 11), so der ursprüngliche Untertitel der Schrift, beschworen wird. Während in Werfels Troerinnen der Einsatz musikalischer Elemente, die man sich wohl weniger gesanglich-melodiös als vielmehr ekstatisch und rhythmisch-forciert vorzustellen hat, mehrfach in den Regieanweisungen erwähnt wird, hat sich Kokoschka dagegen in Mörder Hoffnung der Frauen nicht nur auf entsprechende Hinweise in den Paratexten beschränkt, sondern schon bei der Uraufführung des Einakters eine eigens von Paul Zinner komponierte (heute verschollene) Musik zu Gehör bringen lassen. Einige Jahre später legte schließlich Paul Hindemith die vierte Fassung von Mörder Hoffnung der Frauen seiner gleichnamigen Oper von 1919 zugrunde, für deren Aufführung in Dresden im Jahre 1922 Kokoschka selbst das Bühnenbild entwarf. Offenbar sind es in erster Linie die opernhaft-oratorischen, fast arios anmutenden Monologe der beiden Hauptfiguren in Kokoschkas Text, die seine besondere Affinität zur Musik begründen – eine Affinität, die bereits Zeitgenossen wie Oskar Walzel bemerkten, der notierte: »Sparsam ist Kokoschka mit Worten, sparsam mit syntaktischen Klam-
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Franz Werfel: Gesammelte Werke (Anm. 19). Die Dramen I. Hg. v. Adolf D. Klarmann. Frankfurt a. M. 1959, S. 75.
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mern. Das ruft nach Musik, wie überhaupt ein guter Teil der Wortkunst des Ausdrucksdramas dem Vertonen entgegenkommt«.33 Einen ähnlich prominenten Stellenwert hat die Musik schließlich bei Kandinsky, dessen Konzept der Bühnenkomposition maßgeblich in Auseinandersetzung mit Wagners Modell des Gesamtkunstwerks entstand.34 In einer – durchaus an Nietzsche erinnernden – zeitkritischen Wendung gegen das 19. Jahrhundert mit seinen Tendenzen zur Rationalisierung und vereinseitigenden Trennung der Künste entwirft Kandinsky das Ideal einer gleichberechtigten Synthese aller künstlerischen Darstellungsmittel,35 die nach den Prinzipien der »Mit- und Gegenwirkung«,36 also der Konvergenz und Divergenz aufeinander bezogen sind, um beim Zuschauer die gewünschten »Seelenvibrationen«37 hervorzurufen. Dieses Programm einer (Re-)Integration der Künste setzt Kandinsky in seinem Bühnenstück Der gelbe Klang, das in dem gemeinsam mit Franz Marc 1912 herausgegebenen Almanach Der Blaue Reiter dem Essay Über Bühnenkomposition unmittelbar nachfolgt, vor allem im Modus synästhetischer Farb-Ton-Koppelungen um. Das gilt nicht nur für den Titel des Bühnenstücks, der eine Klangwahrnehmung mit einem Farbeindruck verknüpft,38 sondern ebenso für solche Textpassa-
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Oskar Walzel: Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod. Berlin 21920, S. 480. Paul Kornfeld wiederum schrieb in einem Programmheft zu einer Kokoschka-Aufführung 1917: »Fragt man: ›Warum schreibt der Maler Kokoschka Dramen, statt nur Bilder zu malen?‹ – so erwidere ich mit der Gegenfrage: ›Warum komponiert er nicht auch Symphonien, Opern, Lieder, warum ist er nicht auch Bildhauer?‹« (Paul Kornfeld: Kokoschka. In: Thomas Anz u. Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982, S. 685f.). Kandinskys Auseinandersetzung mit Wagner, die dessen Modell des Gesamtkunstwerks allerdings keineswegs immer gerecht wird, findet sich vor allem im Mittelteil seines Essays (Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition (Anm. 20), S. 195–200). Vgl. dazu Andreas Anglet: Das frühexpressionistische ›Gesamtkunstwerk‹ als Traumspiel bei Kokoschka, Pappenheim und Schönberg. In: Arcadia 37 (2002), S. 269–288. Zum Zusammenhang von Theatermoderne und Gesamtkunstwerk vgl. Thomas Schober: Das Theater der Maler (Anm. 14), S. 25–37. Dazu ebenda, S. 123–129. Zudem Ulrika-Maria Eller-Rüter: Kandinsky. Bühnenkomposition und Dichtung als Realisation seines Synthese-Konzepts. Hildesheim 1990. Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition (Anm. 20), S. 193. Beide Prinzipien werden von Kandinsky im Gelben Klang angewendet: das Prinzip der Konvergenz z. B., wenn betont wird, dass sich Farb- und Lichtverhältnisse »mit der Musik gleichzeitig« ändern oder sich Bewegungen auf der Bühne zugleich in der Musik spiegeln sollen; und das Prinzip der Dissonanz beispielsweise, wenn es heißt, dass mit der »Steigerung des Lichtes« die Musik »in die Tiefe« gehe und »immer dunkler« werde (Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang (Anm. 24), S. 215f., 222f.). Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition (Anm. 20), S. 192. Auch die nachfolgenden Bühnenstücke Violetter Vorhang, Schwarz und Weiß sowie Der grüne Klang setzen Farbeindrücke bzw. Farb-Ton-Verbindungen prominent in den Titel. Kandinskys Konzept liegt dabei, ähnlich wie bei Kokoschka, eine differenzierte Farbtheorie zugrunde. Vgl. dazu Jutta Göricke: Kandinskys Lautmalerei Der gelbe Klang.
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gen, in denen die Fülle orchestraler ›Klangfarben‹ angespielt wird, die als eigenständige Form von Sprache gelten, etwa wenn es heißt: »Im Orchester fangen einzelne Farben an zu sprechen«.39 Als Komponisten für diese besondere Art der Musik hatte Kandinsky seinen Freund Thomas de Hartmann gewonnen, dessen Partitur zu Der gelbe Klang allerdings nur in Teilen erhalten ist. Mit seiner antisokratischen, dem ›Geist der Musik‹ verpflichteten Argumentation in der Tragödienschrift hat Nietzsche solchen Tendenzen einer intermedialen Grenzüberschreitung, die sich von der alleinigen Zentrierung auf das Wort abwendet und stattdessen ihre Wirkung aus den Interferenzen sämtlicher Künste bezieht, den Weg gebahnt. Im Streben der expressionistischen Dramatiker nach einer umfassenden Bühnensynthese kam dabei jedoch nicht nur Licht, Farbe und Ton, sondern auch Gebärde und Bewegung eine zentrale Bedeutung zu, die mit den Erneuerungsansätzen in der Tanz- und Schauspielkunst seit der Jahrhundertwende – man denke an den Ausdruckstanz einer Isadora Duncan und Mary Wigman, an die Reformen der Schauspiel- und Bühnenkunst eines Adolphe Appia und Edward Gordon Craig, aber auch an den neuen Inszenierungsstil eines Max Reinhardt – korrespondierte und insgesamt mit einer auffallenden Wiederbelebung des Chores einherging.40 Diese modernen chorischen Experimente erhielten maßgebliche Impulse durch Nietzsches Geburt der Tragödie,41 die den Chor als »Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse« zum kollektiven Ursprungsorgan der Tragödie, ja die einzelnen Chorpartien zum »Mutterschooss« (KSA 1, S. 62) des eigentlichen Dramas erhebt. Nietzsches Rekonstruktion der griechischen Tragödie geht dabei von der Grundannahme aus, dass dramatische Handlung und Bühnenszenarium »im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde[n], dass die einzige ›Realität‹ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet« (KSA 1, S. 62f.).
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Ein Interpretationsversuch. In: Hans Holländer (Hg.): Besichtigung der Moderne. Köln 1987, S. 121–131. Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang (Anm. 24), S. 227. An dieser Stelle seien auch die Innovationen in der zeitgenössischen Bühnen- und Lichttechnik nicht vergessen, die viele der intermedialen expressionistischen Bühnenexperimente überhaupt erst möglich machten. Baur hat für das 20. Jahrhundert auf den besonderen Stellenwert des Chores (nicht zuletzt im Rahmen einer Vielzahl von Antiken-Inszenierungen) als experimentelles Formelement (post-)modernen Theaters hingewiesen und dabei – neben den Bemühungen Friedrich Schillers, August Wilhelm Schlegels und später Bertolt Brechts – vor allem den Einfluss von Nietzsches Tragödienschrift betont (Detlev Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen 1999).
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Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Dramen des expressionistischen Jahrzehnts, so nimmt vielfach gerade der singende und tanzende, in formierter Bewegung geführte Chor als Medium eines ekstatisch-kollektiven Sprechens im Vergleich zu den Einzelfiguren enormen Raum ein.42 Erst durch Nietzsche, so Pannwitz, habe er überhaupt »die Möglichkeit eines solchen Chors« erkannt, »der nur schaut und tanzt was schon fertig ist, was schon jeder weiss – sodass alle Illusion unmöglich und nichts weiter da ist als das hellseherische Traumwandeln des Chors«.43 Fast durchgehend auf der Bühne anwesend, werden dem Chor vor allem bei Kokoschka, Werfel und Sorge streng choreographierte, oft pantomimisch-rhythmisierte Bewegungsfolgen zugeschrieben. In Sorges mit einer Nietzsche-Widmung versehenem Odysseus (1911)44 beispielsweise agieren die Freier – kontrastiv zum fast übermenschenhaft erscheinenden Einzelnen Odysseus – lediglich als Masse,45 die in ihrer Bewegung immer wieder symbolhaft zu den geometrischen Figuren Kreis, Winkel und Keil arrangiert wird. Im Konflikt zwischen dem Seher, der die Wiederkunft des Odysseus vorhersagt, und dem Chor beziehungsweise den Chorsprechern scheinen die beschriebenen Bewegungsverläufe dabei die eskalierende sprachlich-diskursive Auseinandersetzung nicht nur zu steigern, sondern letztlich sogar ganz zu ersetzen, wie eine ausführliche Regieanweisung zu dieser Szene zeigt: »Der dritte Freier (Chorsprecher) tut mit drohender Gebärde einige schnelle Schritte vor, den Hang hinauf, der Chor folgt ihm mit gleicher Gebärde, zugleich schließt er sich zur Einheit, zu einem spitzen, sehr kleinen Winkel, dessen Scheitel der Chorsprecher bildet, der demnach an der Spitze des ganzen Chores vor dem
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Es ist daher nur konsequent, dass der Chor im Personenverzeichnis der Tragödie an erster Stelle steht (Rudolf Pannwitz: Werke. Bd. 1: Dionysische Tragödien (Anm. 7), S. 200). Brief vom 17. Juni 1908 an Hugo von Hofmannsthal in Hugo von Hofmannsthal u. Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907–1926. Hg. v. Gerhard Schuster. Frankfurt a. M. 1993, S. 10. Die Widmung lautet: »Der ewigen Wiederkehr Seher: Friedrich Nietzsche« (Reinhard Johannes Sorge: Odysseus. Dramatische Phantasie. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Eingel. u. hg. v. Hans Gerd Rötzer. Bd. 1. Nürnberg 1962, S. 241–273, hier S. 241). Innerhalb weniger Jahre wandelt sich Sorges Verhältnis zu Nietzsche von glühender Verehrung über kritische Würdigung bis hin zu entschiedener Ablehnung – eine Entwicklung, die sich in Sorges Texten zwischen 1910 und 1912 unmittelbar niederschlägt. Hinzu kommen drei Chorsprecher, die jedoch nicht als Individuen, sondern vielmehr stellvertretend für das Kollektiv des Chors agieren, was in einer Regieanweisung eigens hervorgehoben wird, wenn es heißt: Die Chorsprecher »wachsen jetzt in ihren Worten aus jeder persönlichen Besonderheit heraus, herb und ehern verkünden sie ehernes Geschehen« (Reinhard Johannes Sorge: Werke (Anm. 44). Bd. 1, S. 251). Den Chor selbst lässt Sorge als kompakt erscheinendes Kollektiv hervortreten, in dem »man nicht die Gesten der einzelnen, sondern nur die mächtige Bewegung der ganzen Masse« erkenne (ebenda, S. 269). Vgl. zu Struktur und Funktion des Chors in Sorges Odysseus Horst Denkler: Drama des Expressionismus. Programm, Spieltext, Theater. München 1967, S. 152–154.
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Seher steht. Der Chor bildet gleichsam einen schmalen Keil gegen den Seher« und tritt rasch einen Schritt vor, »so daß der Keil eine jähe stechende Bewegung gegen den Seher hin tut«.46 In einer der eindrücklichsten Szenen aus Kandinskys Der gelbe Klang hebt sich aus solchen kollektiven chorischen Formationen, die aus menschlichen »Gliederpuppen«47 gebildet werden, schließlich die Einzelfigur des sogenannten ›weißen Menschen‹ hervor, deren symbolhaft stilisierte Bewegungen und Gebärden nach dem Vorbild des zeitgenössischen Ausdruckstanzes modelliert sind. Dieser weiße Mensch, für dessen Rolle Kandinsky offenbar den damals berühmten Tänzer Alexander Sacharoff vorgesehen hatte,48 macht »unbestimmte, aber viel schnellere Bewegungen bald mit den Armen, bald mit den Beinen. Hier und da behält er eine Bewegung längere Zeit und bleibt in entsprechender Stellung einige Augenblicke. Es ist wie eine Art Tanz. Nur ändert sich auch das Tempo oft, wobei es manchmal mit der Musik zusammengeht und manchmal auseinander«.49 Die Figur steigert sich in einen ekstatisch-selbstvergessenen Tanz, den Kandinsky in seinem Konzept der Bühnenkomposition »als abstrakt wirkende Bewegung mit innerem Klang«50 beschreibt und der sich durchaus als spezifisch moderne Ausprägung »der ganzen Symbolik des Tanzes« (KSA 1, S. 63) verstehen lässt, wie Nietzsche sie als wesentliches Ausdruckselement des Chores in der griechischen Tragödie hervorhebt. Dass der Tanz der Einzelfigur des weißen Menschen in Kandinskys Der gelbe Klang schließlich in einen »allgemeine[n] Tanz« übergeht, der »alle Menschen mitreißend« allmählich »zerfließt«,51 erinnert dabei überdies an das von Nietzsche in seiner Tragödienschrift beschriebene Verschmelzungserlebnis im dionysisch-rauschhaften Tanz des Chores. Insgesamt hat Nietzsche demnach mit seiner Geburt der Tragödie den verschiedenen Tendenzen einer Re-Theatralisierung des Theaters entschieden vorgearbeitet. Dies gilt in der Dramatik des expressionistischen Jahrzehnts besonders für die Idee eines synästhetischen Zusammenspiels von Licht und Farbe, Wort und Musik, Körpersprache und choreographischer Bewegung, das weniger die diskursiv-argumentativen als vielmehr die sinnlich-emotionalen Anteile der Tragödie in den Vordergrund rückt und darin in gegenwartskritischer Wendung das Unbehagen an einer Kultur erkennbar werden lässt, die – ganz im Sinn von Nietzsches Diagnose der sokrati-
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Reinhard Johannes Sorge: Werke (Anm. 44). Bd. 1, S. 255f. Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang (Anm. 24), S. 226. Vgl. Craigs Konzept des Schauspielers als Über-Marionette. Zum Tanzstil Sacharoffs vgl. Thomas Schober: Das Theater der Maler (Anm. 14), S. 132. Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang (Anm. 24), S. 226. Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition (Anm. 20), S. 207. Ebenda, S. 228.
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schen Moderne – eine dominant begrifflich-rationale geworden war. Mit Max Weber gesprochen: Angesichts der umfassenden Rationalisierung als Grundzug der Moderne streben sowohl Nietzsche wie auch die expressionistischen Dramatiker nach einer ästhetischen, alle Sinne affizierenden ›Wiederverzauberung‹ der Welt, die von der Erfahrungswirklichkeit zu abstrahieren und die »Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte« (KSA 1, S. 34) zu befördern vermag. II. Dionysische Revisionen Kaum ein Gedanke aus Nietzsches Geburt der Tragödie hat so weit reichende und tief gehende Wirkungen gezeigt wie die These vom »musikalisch-dionysische[n] Untergrund der Tragödie« (KSA 1, S. 95). Mit dem Apollinischen und dem Dionysischen, also der Sphäre des Traumes und des Scheins, des Maßes und der Individuation auf der einen Seite sowie der Sphäre des Rausches und der Ekstase, des Übermaßes und der Kollektivität auf der anderen Seite (insbesondere KSA 1, S. 25–30, 40), profiliert Nietzsche zwei Kunsttendenzen, deren Duplizität er als konstitutiven Grundzug der Tragödie (und nur der Tragödie) ansieht, insofern diese auf die »apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen« (KSA 1, S. 62) ziele. Auf diese Weise konfrontiere die Tragödie den Zuschauer mit der Einsicht, dass »sein ganzes Dasein, mit aller Schönheit und Mässigung, […] auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss« ruht, der »ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben!« (KSA 1, S. 40). Nietzsches Tragödienschrift legte damit – seit 1900 im Zusammenspiel und in wechselnden Amalgamierungen mit den Thesen Arthur Schopenhauers und Johann Jakob Bachofens, Erwin Rohdes, Jacob Burkhardts und Sigmund Freuds – die Grundlage für ein neues Antikenverständnis, das sowohl das klassische wie auch das klassizistische Bild griechischer Kultur und attischer Tragödie einer »dionysischen Revision«52 unterzog und die vitalistisch-eruptiven, ungezügelt-wilden Seiten eines archaischen Griechenlands jenseits von Winckelmann und Goethe hervorhob.
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Zum Einfluss von Nietzsches Tragödienschrift auf das antiklassizistische Griechenlandbild um 1900 vgl. Werner Frick: ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen 1998, S. 47–58, hier S. 40. Die Freilegung einer ›dionysischen Antike‹ in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts betont auch Volker Riedel: Nietzsche und das Bild einer ›dionysischen Antike‹ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (Anm. 10), S. 63–65. Vgl. ebenso Achim Aurnhammer u. Thomas Pittrof (Hg.): ›Mehr Dionysos als Apoll‹. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt a. M. 2002.
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Dieses neue, durch Nietzsche inaugurierte antiklassizistische Antikenverständnis schlägt sich auch in der Dichtung der Expressionisten nieder, deren Griechenlandbild maßgeblich durch die Rezeption der Tragödienschrift Nietzsches geprägt wurde, zugleich aber wesentliche Impulse durch Hölderlin und Kleist erhielt. Ernst Stadler beispielsweise, eine der Leitfiguren des deutschen Expressionismus, wies bereits 1909 auf die Parallelen zwischen Nietzsches Geburt der Tragödie und Kleists Penthesilea hin, da in beiden Texten ein Bild der Antike gezeichnet werde, das so gar nicht dem verklärten Ideal eines Winckelmann, Goethe oder Schiller entspreche: Den gläubigen Priestern jenes hehren Ideals der Antike mußte Kleists Dichtung wie ein Zerrbild, wie die Entweihung von etwas Heiligstem erscheinen. Erst Nietzsche hat über ein Halbjahrhundert später unter der hellen und glatten Oberfläche der griechischen Kultur jenen tiefbewegten, von dunklen Leidenschaften durchwühlten Untergrund entdeckt und die Geburt der Tragödie aus dem ursprünglichen dionysischen Lebensgefühl gedeutet.53
Diesem dionysischen ›Untergrund‹ der Tragödie, den Kleist poetisch dargestellt und Nietzsche kulturhistorisch freigelegt hatte, spürten die Dramatiker des expressionistischen Jahrzehnts in vielfältiger Weise nach. Kokoschka etwa, der sich zeit seines Lebens für Kleist interessierte, hat ausdrücklich auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kleists Penthesilea und seinem eigenen Einakter Mörder Hoffnung der Frauen hingewiesen, den er aus der Retrospektive als sein »expressionistisches Morgenlied«, angestimmt »einer anonymen Penthesilea zu Liebe«,54 bezeichnete und der dem Kleist’schen Drama nicht nur im Sujet des Geschlechterkampfes verpflichtet ist.55 Kokoschkas Einakter inszeniert eine orgiastische Steigerung des Urwüchsig-Sexuellen, dem sich die Begleiterinnen und Begleiter der beiden Hauptfiguren in dionysischer Lust hingeben, als deren Kern die Fi-
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Ernst Stadler: Penthesilea. In: Ders.: Dichtungen. Gedichte und Übertragungen mit einer Auswahl der kleinen kritischen Schriften und Briefe. Eingel., textkrit. durchgesehen u. erl. v. Karl Ludwig Schneider. Hamburg 1954. Bd. 2, S. 102–113, hier S. 103f. Stellungnahme Oskar Kokoschkas in der Frankfurter Zeitung vom 31. Dezember 1931 (Nr. 968/969), S. 2. In seinen späten Jahren fertigte Kokoschka auch Zeichnungen zur Penthesilea an. Die Einflüsse von Johann Jakob Bachofens Mutterrecht (1861) und Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) auf die Konzeption von Kokoschkas Einakter sind in der Forschung unbestritten. Vgl. dazu Gerlind Frink: Zur Geschlechterbeziehung in Kokoschkas Einakter Mörder, Hoffnung der Frauen. In: Gudrun Kohn-Waechter (Hg.): Schrift der Flammen. Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert. Berlin 1991, S. 95–111. Aber auch der Einfluss von Hugo von Hofmannsthals Elektra ist nicht zu vergessen, die 1903 in einer aufsehenerregenden, die neuesten Bühnentechniken der Licht- und Farbgebung einsetzenden Inszenierung von Max Reinhardt zur Aufführung gebracht wurde. Zu den Analogien zwischen Hofmannsthals Elektra und Kokoschkas Mörder-Einakter vgl. Thomas Schober: Das Theater der Maler (Anm. 14), S. 76–78.
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gur des Mannes jedoch eine ziellos-unerfüllte Triebhaftigkeit erkennt, eine, wie es heißt, »[s]innlose Begehr von Grauen zu Grauen, unstillbares Kreisen im Leeren. Gebären ohne Geburt, Sonnensturz, wankender Raum«.56 Nicht in sexueller Ekstase, sondern in Akten der Gewalt finden auf Seiten des Mannes die exzessiven Gebärden animalischen Lebens ihren Ausdruck, etwa wenn er dem Körper der Frau sein Zeichen einbrennen lässt oder am Ende alle Männer und Frauen »wie Mücken erschlägt«.57 Situiert Kleist das dramatische Geschehen seiner Penthesilea, beeinflusst durch die Bakchen des Euripides, im archaischen Griechenland, so transponiert Kokoschka dagegen die Handlung – jenseits aller historischen Vermittlung – in eine mythische Urzeit,58 die als gänzlich unnahbare, fremdartige »Vor-Vergangenheit«, als »archaisches Plusquamperfekt« erscheint.59 Dieser Eindruck dürfte bei der Uraufführung von Mörder Hoffnung der Frauen zweifellos noch dadurch gesteigert worden sein, dass Kokoschka seine Schauspieler nur notdürftig kostümiert und ihren weitgehend nackten Körpern stattdessen Nervenlinien, Muskel- und Sehnenstränge aufgemalt hatte, wie sie auch auf seinen Zeichnungen für den Erstdruck im Sturm zu sehen sind. Als Vorbild hätten ihm, wie er in seiner Autobiographie notiert, präparierte Totenschädel primitiver Völker gedient, auf die er bei verschiedenen Museumsbesuchen aufmerksam geworden sei.60 Ähnliche Rückprojektionen finden sich auch in Gottfried Benns dramatischer Skizze Ithaka (1914), wo sich der Assistent Rönne in radikaler Zivilisationskritik von der gängigen Deutung der Menschheitsgeschichte als einer Fortschrittsgeschichte abwendet und sie geradezu dekonstruiert, wenn er ausruft: »Aber wegen meiner hätten wir Quallen bleiben können. Ich lege auf die ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert. Das Gehirn ist ein Irrweg. Ein Bluff für den Mittelstand. Ob man aufrecht geht oder senk-
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Oskar Kokoschka: Das schriftliche Werk (Anm. 15). Bd. 1: Dichtungen und Dramen. Hamburg 1973, S. 38. Jäger deutet die Paarungsszenen der Männer und Frauen im Anschluss an Bachofen als dionysisches Zwischenstadium auf dem Weg vom Mutter- zum Vaterrecht (Georg Jäger: Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen. Die Geburt des Theaters der Grausamkeit aus dem Geist der Wiener Jahrhundertwende. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 32 (1982), S. 215–233, hier S. 216). Oskar Kokoschka: Das schriftliche Werk (Anm. 15). Bd. 1: Dichtungen und Dramen. Hamburg 1973, S. 41. Die Erstfassung des Einakters verzichtet auf explizite Raum- und Zeitangaben und suggeriert stattdessen eine geradezu kosmisch-mythische Dimension, während in den nachfolgenden Fassungen das Geschehen im griechischen Altertum lokalisiert wird. Zu Kokoschkas Antikenbild vgl. Peter Vergo u. Yvonne Modlin: Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen: Expressionismus und Antike. In: Marianne Karabelnik-Matta (Hg.): Oskar Kokoschka. 1886–1980. Zürich 1986, S. 20–31. Werner Frick: ›Die mythische Methode‹ (Anm. 52), S. 40, 72. Oskar Kokoschka: Mein Leben (Anm. 17), S. 65.
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recht schwimmt, das ist alles nur Gewohnheitssache«.61 An die Stelle des (aufklärerischen) Glaubens an das evolutionäre Voranschreiten des Menschen tritt bei Rönne die – in teils exklamatorisch-lyrisiertem Ton ausgemalte – Sehnsucht nach einem Aufgehen des menschlichen Subjekts im Animalisch-Vegetabilischen: »O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurchwachsen, eine weite Flur. In lauen und in kühlen Wellen trägt einem die Erde alles zu. Keine Stirne mehr. Man wird gelebt«.62 Solche Verschmelzungsvisionen, die in einen präzivilisatorisch-rauschhaften Urzustand allen Seins zurückdatiert werden, dürften zweifellos Nietzsches antiklassizistischem Antikenbild, seiner Beschwörung des dionysischen »Einswerden[s] mit dem Ursein« (KSA 1, S. 62) als Weg zurück »zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge« (KSA 1, S. 103) verpflichtet sein, gehen allerdings sowohl bei Kokoschka wie auch bei Benn in ihrer betont regressiven Tendenz über Nietzsche hinaus. Dagegen haben wir mit Rudolf Pannwitz’ Dionysischen Tragödien Dramen vor uns, die sich (bis hin zu direkten zitathaften Entlehnungen) als musterhafte poetische Umsetzung der Tragödientheorie Nietzsches,63 insbesondere ihrer Konzeptualisierung des Apollinischen und Dionysischen, verstehen. Mit der Befreiung des Oidipus, einem, so der programmatische Untertitel, Dionysischen Bild, schuf Pannwitz eine »Tragödie rein aus der Erregung, rein Musik und Tanz, auch alle Gestalten«.64 Dabei sind es in erster Linie die von Pannwitz dem sophokleischen Prätext hinzugefügten bacchantisch-orgiastischen Rahmenpartien, die den deutlichen Einfluss Nietzsches verraten: Im Prolog ein ausklingendes Dionysos-Fest, im Epilog ein ekstatischer Tanz, der in mänadischem Getümmel endet und an das Fest des Anfangs wieder anknüpft: »Wilder Chor: Werfet das bein! | Schwinget den leib! | Satyr ist fürst! | Einer: Purpurflossige nacht! | Ge-
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Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1469–1479, hier S. 1475. Meyer weist auf die Parallelen zu Nietzsches Gedicht Im Süden hin, das den in Benns Ithaka konstitutiven toposhaften Antagonismus von Norden und Süden, das heißt von Vernunft und Leben, entfaltet (Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst (Anm. 2), S. 261). Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1476. Zu verschiedenen Aspekten der Auseinandersetzung von Pannwitz mit Nietzsche vgl. Marco Meli: ›Du selbstherrscher und ich treibendes element‹: Rudolf Pannwitz’ ästhetische und philosophische Auseinandersetzung mit Stefan George und Friedrich Nietzsche. In: Gabriella Rovagnati (Hg.): ›der geist ist der könig der elemente‹. Der Dichter und Philosoph Rudolf Pannwitz. Overath 2006, S. 113–133. Marco Castellari: Rudolf Pannwitz’ Tod des Empedokles zwischen Antike, Hölderlin und Nietzsche. In: Ebenda, S. 165–215. Raymond Furness: Zarathustra’s Children. A Study of a Lost Generation of German Writers. Rochester 2000, S. 16–47. Brief vom 17. Juni 1908 an Hofmannsthal in Hugo von Hofmannsthal u. Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907–1926 (Anm. 43), S. 10.
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tuemmel: Wo ist der gott? | Wo ist der bock? | Fackeln in loh! | Den mänaden nach! | Den mänaden nach! | Die wilden weiber zerreissen den gott! | Den mänaden nach! | Den mänaden nach! | Iu! evoë! Iakche! ewig ewig Iakche! (alle stürmen davon)«.65 Diese sinnlich-orgiastische Einbettung wird getragen von einem singenden und tanzenden Chor, dessen Gewicht Pannwitz auch in der eigentlichen Binnenhandlung im Vergleich zu Sophokles erheblich verstärkt.66 Ganz im Sinn von Nietzsches Prophezeiung einer modernen Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Musik nimmt dieser Chor mit seinen musikalisch-expressiven beziehungsweise tänzerisch-performativen Zügen die Zukunftsvision eines neuen Zeitalters vorweg, von dem Theseus in sakralisiertem Tonfall sagt: »es beginnet ein neues alter das goldene wieder nach dem eisernen. heilige sagen haben alles verhießen. die musik wird mächtiger werden denn das wort. aus tänzen werden die erkenntnisse herrlicher neuerstehen«.67 Mit seiner Aufwertung des Chores betont Pannwitz insgesamt das Element des Kollektiven, das in ekstatisch-dionysischer Identitäts- und Grenzaufhebung eine Befreiung aus den Fesseln der Individuation ermöglicht, wie Nietzsche sie als »Zerreissung des principii individuationis« (KSA 1, S. 33) und als »Zerbrechen des Individuums« (KSA 1, S. 62) beschreibt, als Augenblick, »wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind« (KSA 1, S. 109). In solchen Augenblicken lösen sich, so Nietzsche, alle Abgrenzungen des Subjektiven und Individuellen zwischen den Menschen auf, und »[s]ingend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung« (KSA 1, S. 30). Auch bei Pannwitz erleben die Chöre – der rational-diskursiven Rede kaum noch mächtig – den Rausch der Verschmelzung im ekstatisch-selbstvergessenen Tanz, dessen Bewegungen aber weniger einer streng formierten Choreographie folgen (wie noch bei Sorge oder Kandinsky), sondern vielmehr in einem gänzlich ungeordneten ›Getümmel‹ aufgehen. Allerdings bleibt Pannwitz, darin ebenfalls Nietzsches Tragödienschrift entsprechend, nicht bei dieser dionysischen Entgrenzung stehen, sondern lässt ihr in seiner Tragödie Iphigenia mit dem Gotte, mit der die Pentalogie abgeschlossen wird, ein, so der Untertitel, Apollinisches Spiel folgen, das die bereits im Oidipus angelegte, von Nietzsche als konstitutiver Grundzug der Tragödie postu-
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Rudolf Pannwitz: Werke (Anm. 7). Bd. 1: Dionysische Tragödien. Nürnberg 1913, S. 248f. Die wichtigsten Neuerungen des Pannwitz’schen Dramas im Vergleich zum sophokleischen Prätext arbeitet Frick heraus (Werner Frick: ›Die mythische Methode‹ (Anm. 52), S. 88–92). Rudolf Pannwitz: Werke (Anm. 7). Bd. 1: Dionysische Tragödien. Nürnberg 1913, S. 233.
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lierte Synthese von Apollon und Dionysos im »Bruderbund beider Gottheiten« (KSA 1, S. 140) und beflügelt durch die Kraft der Musik zelebriert.68 Ganz Nietzsches Charakterisierung dieser Doppelgottheit folgend, steht Apollon in Pannwitz’ Iphigenia-Tragödie für die maßvolle Begrenzung, ein »unermessen welten-gleichmasz«, während sowohl Dionysos wie auch die Geschwister Iphigenie und Orest mit ihrer Tantalidenherkunft am »rohe[n] unmasz« des Titanenzeitalters, am »alt-heroische[n]« hängen.69 Sie verweisen damit auf die titanisch-heroische Kulturstufe, als deren grundlegendes Kennzeichen Nietzsche in seiner kulturarchäologischen Rekonstruktion der Tragödie »Selbstüberhebung und Uebermaass« (KSA 1, S. 40) herausarbeitet, zugleich aber das Wissen auch der apollinischen Griechen um die eigenen Affinitäten zu dieser titanisch-abgründigen Sphäre betont. Die sich darin spiegelnde Vorstellung einer ›Zeitenwende‹ liegt als Strukturprinzip ebenso Georg Kaisers Drama Der gerettete Alkibiades (1917/19) zugrunde, in dem, so Kaiser, der »ganze Platon« sei, »der ganze Nietzsche – – und alles aufgelöst in Szenisches blutvollster Gestaltung. Ich habe Griechenland neu geschaffen – – und das des Goethe-Winkelmann gestürzt. Die Menschheit muss mir danken – oder es giebt sie nicht«.70 Die hier programmatisch proklamierte antiklassizistische Tendenz des Griechenlandbildes bringt Kaiser in seinem Drama vor allem in der Figur des Alkibiades zur Darstellung, der als sinnlicher Genießer erscheint, sich gerne in seiner »herrliche[n] Nacktheit«,71 umgeben von farbenprächtig gekleideten, Flöte spielenden Knaben zeigt und sich ausschweifenden Gastmahlen und körperlicher Lust hingibt. Zugleich favorisiert er im Festgelage eine Form der Kunst, die Rausch und Trauer in Weh und Lust ›umzugießen‹, ja sogar jen-
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Während im Oidipus die Vision dieses Bruderbundes vor allem in gebetsartigen Anrufungen der Doppelgottheit aufscheint (Rudolf Pannwitz: Werke (Anm. 7). Bd. 1: Dionysische Tragödien. Nürnberg 1913, S. 207, 221, 244), wird sie in der Iphigenia z. B. geradezu programmatisch in der Rede des Apollon deutlich, in der es heißt: »Ich habe mit Dionysos vereinigt | Den seligen olympischen ton verworfen | Erwählt den rauhen dorischen – ich will | Nun in den goldnen hall der kithara | Mänadische seellöserin die flöte | Einmischen mit Dionysos vereinigt | Den satyrschrei in meinem paian schmelzen | Die schicksalbrechende tragödie | Euch tanzen auf des tempelfelds theater« (ebenda, S. 268). Zum Verhältnis der Götter Dionysos und Apoll im Werk von Pannwitz vgl. Karl Jürgen Skrodzki: Mythopoetik. Das Weltbild des antiken Mythos und die Struktur des nachnaturalistischen Dramas. Bonn 1986, S. 95–100. Rudolf Pannwitz: Werke (Anm. 7). Bd. 1: Dionysische Tragödien. Nürnberg 1913, S. 267, 276f. Vgl. vor allem den Disput zwischen Iphigenia und Apollon zu Beginn der Tragödie sowie das durchgehende Motiv eines Ringens um Erlösung für die letzten Tantaliden (ebenda, S. 257–261, 265–270, 293–295). Brief an Otto Liebscher vom 13. August 1919 in Georg Kaiser: Briefe. Hg. v. Gesa M. Valk. Frankfurt a. M. 1980, S. 174f. Georg Kaiser: Der gerettete Alkibiades. In: Ders.: Werke (Anm. 9). Bd. 1: Stücke 1895– 1917. Frankfurt a. M. 1971, S. 755–813, hier S. 773.
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seits der Sprache »das Rauschen von Ruhm«72 zu evozieren vermag – insgesamt also eine in der Tat durchaus rauschhafte, im Vergleich zu den orgiastischen Ekstasen bei Kokoschka oder Pannwitz allerdings ästhetisch eher sublimierte Form des Dionysischen. Darüber hinaus verkörpert Alkibiades als heldenhafter, kampferprobter Krieger das heroische Prinzip73 und die für das alte Griechenland bestimmende militärisch-vitalistische Lebensform. Dieser Werthorizont mit seinem an Nietzsche erinnernden Ideal tragischen Heldentums74 erscheint jedoch in Kaisers Drama in doppelter Brechung: einerseits, indem er – gemäß dem als Motto vorangestellten Zitat aus Hölderlins Hyperion,75 das ein Athen in Trümmern zeigt – als anachronistisch markiert wird, als ein Wertesystem, dessen Niedergang in teils ironischer Tönung (man denke etwa an die grotesken Wendungen der Gerichtsszene) vorgeführt wird und das einer tiefgreifenden geistigen Erneuerung bedarf; andererseits, indem dieses tradierte Heldentum durch das Auftreten des Sokrates als dem Repräsentanten des Geistes und des Wissens in seinen Grundfesten erschüttert wird, so vor allem, wenn die Macht seiner diskursiven, argumentativ-dialektischen Rede dazu führt, dass die griechische Jugend – statt wie früher zur körperlichen Ertüchtigung den Kampfübungen in der Ringschule nachzugehen – sich nun lieber »mit langsamer Beredsamkeit gesprächig in unendlicher Rede und Widerrede« er-
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Ebenda, S. 789, 766. Der Lobredner des Alkibiades leitet seine Äußerungen sogar mit den Worten ein: »[I]ch sehe Alkibiades. Wie bestehe ich vor dem Anblick, der mit weißer Flamme entzündet, die das Rauschen von Ruhm tost und Farbe des Wunders bläht? Nicht Sprache ist hier Kunst – meine Kunst wird hier Widerstand gegen die Sprache!«. Vgl. dazu Frank Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus. Frankfurt a. M. 2000, S. 441– 478, hier S. 452 (als z. T. modifizierte Fassung dieser Studie vgl. Frank Krause: Kaiser’s Der gerettete Alkibiades: An Expressionist Revision of Nietzsche’s Die Geburt der Tragödie. In: Rüdiger Görner u. Duncan Large (Hg.): Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 83–110). Vgl. die Lobrede auf den Krieger Alkibiades (Georg Kaiser: Werke (Anm. 9). Bd. 1: Stücke 1895–1917. Frankfurt a. M. 1971, S. 767). Für Krause etwa stellt Kaisers Stück eine Auseinandersetzung mit der Grundlagenkrise eines spezifischen Ideals tragischen Heldentums dar, das auf Nietzsches Tragödienschrift zurückgehe (Frank Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität (Anm. 72), S. 448). Zu den Veränderungen in Kaisers Einstellung zu Nietzsche vgl. allgemein G. C. Tunstall: The Turning Point in Georg Kaiser’s Attitude toward Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 314–336. Das Motto aus dem Hyperion lautet: »Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind, und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nackten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte, und des Nachts darauf im Feuer aufging« (Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe. Hg. v. Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte [u. a.]. Frankfurt a. M. 1982, S. 293– 439, hier S. 370; vgl. Georg Kaiser: Werke (Anm. 9). Bd. 1: Stücke 1895–1917. Frankfurt a. M. 1971, S. 755).
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geht, in ihrer Tatkraft gelähmt durch das von Sokrates vermittelte Wissen, dass sie nichts wissen.76 Solche ›dialektischen‹ Helden aber, die wie bei Sokrates oder Euripides ihre Handlungen »durch Grund und Gegengrund« zu verteidigen suchen, laufen nach Nietzsches Auffassung Gefahr, »unser tragisches Mitleiden einzubüssen« (KSA 1, S. 94), da nun einmal der optimistische Zug zum Wesen jeder Dialektik gehöre. Indem das Tragisch-Heroische in Kaisers Der gerettete Alkibiades also durch das sokratische Prinzip in eine grundstürzende Krise gerät, spiegelt das Drama im Kern den in der Geburt der Tragödie beschriebenen »ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung« (KSA 1, S. 111) wider und schreibt damit zugleich einen zentralen Aspekt aus Nietzsches Diagnose der Moderne fort.77 III. Sokratische Moderne Verkörpert Alkibiades bei Kaiser eine vitalistisch-militärische, auf sinnlichdionysischen Genuss ausgerichtete Lebensform, so steht Sokrates dagegen für das Prinzip der Rationalität und Vernunft, das als Geist des sokratischen Fragens die griechische Jugend derart ›infiziert‹ hat, dass es den »Himmel über Griechenland«78 zum Einsturz zu bringen droht. In seiner Verachtung des Lebens als, wie es heißt, bloßem »Spiel mit Armen und Beinen«79 erscheint Sokrates als rein theoretischer Mensch, dem sinnliche Schönheit und ruhmvolle Tat fremd sind und der mit seiner diskursiv-argumentativen Rede den Untergang des leidenschaftlich-heroischen Griechentums herbeiführt. Diese kritische Perspektive auf das sokratische Prinzip, die vor allem seine destruktive Wirkung betont, wird überdies durch eine abermals ironische Brechung verstärkt, da die Meisterschaft der dialektischen Verstandestätigkeit des Sokrates erst aus einem komischen Missgeschick heraus entsteht, nämlich daraus, in einer permanent sich fortspinnenden Notlüge seine wahren, gänzlich unheroischen Motive bei der ›Heldentat‹ der Rettung des Alkibiades verschweigen zu müssen – erneut ein typisch nietzscheanischer, hier freilich an das mittlere Werk anschließender Gestus der genealogischen Entlarvung und Ideologiekritik.
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Georg Kaiser: Werke (Anm. 9). Bd. 1: Stücke 1895–1917. Frankfurt a. M. 1971, S. 800f. Krause betont dabei die Ambivalenzen in Kaisers Nietzsche-Adaptation, da z. B. sowohl Alkibiades wie auch Sokrates komische und tragische Züge zugleich trügen (Frank Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität (Anm. 72), S. 456f.). Vgl. Georg Kaiser: Werke (Anm. 9). Bd. 1: Stücke 1895–1917. Frankfurt a. M. 1971, S. 761, 802, 811. Ebenda, S. 775. Für Sokrates ist sogar ganz Griechenland im Kern lediglich ein solches Spiel von Armen und Beinen (ebenda).
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Mit diesem Sokrates-Bild bewegt sich Kaiser ganz in den Bahnen von Nietzsches Geburt der Tragödie, aber auch der Abschnitte zum Problem des Sokrates aus der Götzen-Dämmerung.80 Nietzsche legt in seiner Tragödienschrift nicht nur den historischen Ursprung der Tragödie frei, sondern wendet sich zugleich der Geschichte ihres antiken Niedergangs sowie – in einem gegenwarts- und zukunftsbezogenen geschichtsphilosophischen Gesamtentwurf – ihrer künftigen Wiedergeburt in der Moderne zu. Für den Verfall der Tragödie macht er Euripides und dessen Mentor Sokrates verantwortlich, die als Vertreter eines optimistischen Rationalismus die Tendenz verfolgt hätten, das »ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen« (KSA 1, S. 82). Dem Programm dieses, so Nietzsche, »aesthetischen Sokratismus« folgend, galt nur das Verständige als schön, nur der Wissende als tugendhaft (KSA 1, S. 85), hielten naturalistisch abgespiegelte Alltäglichkeit und »bürgerliche Mittelmässigkeit« (KSA 1, S. 77) ebenso wie »rationalistische[-] Methode« (KSA 1, S. 85) und »optimistische Dialektik« (KSA 1, S. 95) Einzug in die Tragödie, die dadurch jedoch in ihrem Kern zerstört worden sei – Nietzsche spricht an dieser Stelle pointiert vom »Tod der Tragödie« (KSA 1, S. 94). Wenn Kaiser dieser Sokrates-Kritik Nietzsches auch weitgehend folgt, so treten in Der gerettete Alkibiades doch gleichzeitig Modifikationen zutage: einerseits dadurch, dass Sokrates die zerstörerische Verfallswirkung seiner Dialektik selbst erkennt und daher freiwillig, im Dienst am Leben (konkret: zur Rettung des Alkibiades und Griechenlands) in den Tod geht;81 andererseits dadurch, dass am Sterbebett des Sokrates die Figur des Jünglings Platon erscheint, mit der Kaiser einen direkten Bezug zu seinem poetologischen Konzept des platonischen Dramas herstellt. In diesem Konzept hebt Kaiser Platon vor allem als Dichter hervor, dem es in seinen Dialogen gelungen sei, philosophische Denkprozesse dramatisch-szenisch anschaulich zu machen,82 sodass es der Kunst möglich werde, synthetisierend »Einheit
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KSA 6, S. 55–161, insbesondere S. 67–73. Zur Bedeutung von Nietzsches Text Das Problem des Sokrates aus der Götzen-Dämmerung für Kaisers Sokrates-Bild vgl. jüngst etwa Marcus Sander: Strukturwandel in den Dramen Georg Kaisers 1910–1945. Frankfurt a. M. 2004, S. 160–173, hier S. 161. Klaus Petersen: Der gerettete Alkibiades. In: Armin Arnold (Hg.): Georg Kaiser. Stuttgart 1980, S. 84–91, hier S. 87f. Volker Riedel: Nietzsche und das Bild einer ›dionysischen Antike‹ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (Anm. 10), S. 82. Vgl. den Essay Das Drama Platons oder Der gerettete Alkibiades; der platonische Dialog von 1917, in dem Kaiser unter anderem die besondere Plastizität der Platon’schen Darstellungsform rühmt: »Da befriedigt Schauspiel tiefere Begierde: ins Denk-Spiel sind wir eingezogen und bereits erzogen aus karger Schau-Lust zu glückvoller Denk-Lust« (Georg Kaiser: Werke (Anm. 9). Bd. 4: Filme, Romane, Erzählungen, Aufsätze, Gedichte. Frankfurt a. M. 1971, S. 544f., hier S. 545). Vor allem der Umsetzung von Gedanken in
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zu wölben über Zerstreutem – Zerrissenem«.83 In Fortschreibung Nietzsches entwickelt Kaiser also gewissermaßen das Programm einer Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist des platonischen Dialogs.84 Dabei gelten »das Dionysische und das Sokratische« (KSA 1, S. 83) in Nietzsches Tragödienschrift keineswegs als historisch erledigte Antagonismen, sondern sind als Pole eines Spannungsfeldes zu verstehen, das auch für die Gegenwart der Moderne nach wie vor Relevanz besitzt und insofern den Betrachter immer wieder neu herausfordert.85 Für Nietzsche selbst trat der Sokratismus in seiner zeitgenössischen Erscheinungsform vor allem als eine durch Aufklärung und Positivismus, Wissenschaft und Technik geprägte Zivilisation zutage, wie sie sich mit Max Webers Rede von der modernen ›Entzauberung‹ der Welt prägnant auf den Begriff bringen lässt – eine Welt, die in ihrem Fortschrittsoptimismus und Perfektionierungsglauben gegenläufig-abgründige Phänomene zu verdrängen suche. Hier setzt Nietzsches umfassende Zeit- und Kulturkritik an, die in den gegenwartsund zukunftsbezogenen Abschnitten der Geburt der Tragödie Dionysos zum »untrüglichen Richter« (KSA 1, S. 128) »unserer ermüdeten Cultur« (KSA 1, S. 131) der Moderne erhebt, der »alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte« wie »[e]in Sturmwind« hinwegfegen werde (KSA 1, S. 132). Dieser gegenwartskritische Impetus Nietzsches hat zweifellos dem Streben der Expressionisten nach einem radikalen Traditionsbruch, nach der Zerstörung etablierter Werte und Strukturen ebenso den Weg gebahnt wie ihrem allgemeinen Aufbruchs- und Erneuerungspathos. In ihrem ausgeprägten Antirationalismus nehmen die expressionistischen Dramatiker dabei insbesondere Nietzsches Kritik am theoretischen Menschen und an der Wissenschaftsgläubigkeit der modernen Gesellschaft auf. Konkrete Zielscheibe dieser Kritik sind sowohl bei Nietzsche wie auch bei den Expressionisten bevorzugt die institutionalisierten Träger der Wissenschaft,
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Figuren komme dabei zentrale Bedeutung zu: »Die Idee ist ihre Form. Jeder Gedanke drängt nach der Prägnanz seines Ausdrucks. Die letzte Form der Darstellung von Denken ist seine Überleitung in die Figur. Das Drama entsteht. Platon schreibt sein reines Ideenwerk als Dialoge nieder. Personen sagen und treten auf. Heftigere Dramen als Symposion und Phaidon sind schwer zu finden. Für den Dramatiker ist hier deutlichster Hinweis gegeben: Gestalt und Wort propagieren allein überzeugend den Gedanken« (Georg Kaiser: Bericht vom Drama. In: Ebenda, S. 590f., hier S. 590). Georg Kaiser: Mythos. In: Ebenda, S. 554–556, hier S. 554. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Petersen, für den das Auftreten der Figur des Platon am Ende des Dramas ein ästhetisches Prinzip repräsentiert. Die Dialektik nämlich, die Geist und Leben in einer Synthese zusammenbringe, sei hier nicht mehr die Dialektik einer philosophischen Denkmethode von Fragen und Schlüssen (die im Verlauf des Dramas aufgehoben wurde), sondern eine von bzw. in der Kunst vollzogene Wechselwirkung von Erkenntnis und Erscheinung (Klaus Petersen: Der gerettete Alkibiades (Anm. 81), S. 90). Vgl. dagegen Frank Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität (Anm. 72), S. 464f. Vgl. Werner Frick: ›Die mythische Methode‹ (Anm. 52), S. 55f.
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so vor allem die Schulen und Universitäten als staatliche Bildungsinstanzen, aber ebenso der (oft philisterhaft auftretende) Gelehrte, denn in der modernen Welt erscheine, wie Nietzsche betont, »der Gebildete allein in der Form des Gelehrten« (KSA 1, S. 116), ist die Erziehung somit nicht mehr auf das Ideal allseitiger Bildung, sondern professoral-theoretischer Gelehrsamkeit ausgerichtet. In Kaisers Komödie Der Geist der Antike (1905/22) beispielsweise, die zu den im Expressionismus nicht seltenen Wissenschaftssatiren gehört,86 steht ein erkennbar mit Nietzsche-Zügen versehener Professor für Klassische Philologie im Mittelpunkt, der, an der Überfülle des Wissens leidend,87 dem Leben »Abbitte«88 leisten will. Um einen »Schritt weiter ins Leben«89 zu tun, widmet er sich im »Allerheiligsten«90 seines Studierzimmers daher nicht, wie allseits erwartet, einer revolutionär neuen Auffassung der Antike, sondern der Erfindung einer Mausefalle, um am Ende jedoch erfahren zu müssen, dass das von ihm konstruierte Modell schon längst veraltet ist. Während Kaiser also die wissenschaftlichen Erkenntnisformen der Moderne parodistisch-satirisch infrage stellt, führt Gottfried Benns Kampfruf gegen die Welt des Wissenschafts- und Universitätsbetriebs in seiner dramatischen Skizze Ithaka zu geradezu existentiellen Grenzüberschreitungen. Sein Pathologieprofessor Albrecht stellt ein fast vollständiges Abbild des »theoretischen Menschen« (KSA 1, S. 98) aus der Geburt der Tragödie dar,91 der sich, so Nietzsche, gänzlich dem »Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge« (KSA 1, S. 100) verschrieben habe, methodisch einem unendlichen »Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse« (KSA 1, S. 100) das Wort rede und am Leitfaden der Kausalität das Sein nicht nur erkennen, sondern auch »corrigiren« zu können glaube (KSA 1, S. 99). Vom ›Stachel‹ sokratischer Erkenntnis und universaler Wissensgier getrieben, habe der moderne Wissenschaftler »erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Ge-
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Vgl. Silvio Vietta: Zweideutigkeit der Moderne: Nietzsches Kulturkritik, Expressionismus und literarische Moderne. In: Thomas Anz u. Michael Stark (Hg.): Die Modernität des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 1994, S. 9–20, hier S. 16. Dieses Leiden kommt besonders im folgenden Ausruf des Professors Nehrkorn zum Ausdruck: »Herr, wir wissen zuviel! Vollgepfropft sind wir mit Wissen, daß wir keuchen wie verfettete Greise. Noch durch meinen Schenkelmuskel rinnt ein Rest Wissen« (Georg Kaiser: Der Geist der Antike. In: Ders.: Werke (Anm. 9). Bd. 5: Stücke 1896– 1922. Frankfurt a. M. 1971, S. 407–445, hier S. 427). Ebenda, S. 431; vgl. auch S. 427. Ebenda, S. 444. Ebenda, S. 412. Vgl. als Überblick zur intensiven Auseinandersetzung Benns mit Nietzsche etwa Thomas Keith: Nietzsche-Rezeption bei Gottfried Benn. Köln 2001, zudem den Beitrag von Christian Schärf in diesem Band.
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setzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt« (KSA 1, S. 100) und strebe nun unaufhaltsam danach, »jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen« (KSA 1, S. 101), die ganze Welt der Erscheinungen also mit imperialem Gestus dem eigenen wissenschaftlichen System einzuverleiben. Dementsprechend steht Albrecht bei Benn für eine Wissenschaft, die sich in der spezialistischen Zersplitterung ihrer experimentellen Beobachtungen selbst ad absurdum führt, die Systematisierung des Wissens als Selbstzweck ansieht und mit fast militärischem Erobererdrang auf die Welt ausgreift, wenn Albrecht über die ›scientific community‹ seiner Zeit sagt: »Wir stehen über die Welt verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen, Hirne, die erobern. Was aus dem Stein die Axt schnitt, was Feuer hütete, was Kant gebar, was die Maschinen baute – das ist in unserer Hut. Unendlichkeiten öffnen sich«.92 Während der Professor die tiefere Sinngebung all dieses Tuns gerade nicht als Aufgabe der Wissenschaft selbst ansieht, sondern kurzerhand der Theologie zuweist, beharren die Studenten und sein Assistent Rönne dagegen auf der quälenden Frage nach dem ›Wozu?‹, sehen in Albrechts Form der Wissenschaft bloße »Intellektakrobatik« und entlarven in dem (auf Emil Du Bois-Reymond anspielenden) Ruf »Ignorabimus!« die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit.93 Rönne etwa klagt über die zersetzendzerstörerische Wirkung, die von den rational durchdringenden Methoden der zutiefst theorielastigen Moderne ausgehe: »Ich habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut! Ich habe gedacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum Kotbrechen. Und als sich der Nebel verzogen hatte, was war dann alles? Worte und das Gehirn. Worte und das Gehirn. Immer und immer nichts als dies furchtbare, dies ewige Gehirn. […] Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht«.94 Diese – im typisch expressionistischen Motiv des Generationenkonflikts gespiegelte – Analyse der Abgründe und Aporien moderner Wissenschaft nimmt schließlich eine im Zeichen des dionysischen Lebens stehende Wendung, die an Nietzsches Prophezeiung erinnert, dass die Moderne »gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des helle-
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Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1475; vgl. auch S. 1470f. Ebenda, S. 1471, 1473, 1479. Benn nimmt Bezug auf Du Bois-Reymonds Aufsatz Über die Grenzen des Naturerkennens von 1872, in dem die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis angesichts der großen Welträtsel im Ausspruch ›Ignorabimus‹ auf den Begriff gebracht werden. Zu den Parallelen zwischen Nietzsche und der allgemeinen Wissenschafts- und Erkenntniskritik um die Jahrhundertwende, insbesondere mit Blick auf die Grundlagenkrise der Naturwissenschaften, vgl. zusammenfassend Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975, S. 144–150. Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1474f.
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nischen Wesens analogisch durcherleben« und »rückwärts zur Periode der Tragödie« schreiten werde (KSA 1, S. 128). Zum Ausdruck kommt dieser »umgekehrte[-] Prozess, das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt« (KSA 1, S. 127), bei Benn in doppelter Weise: einerseits in Rönnes ekstatisch-rauschhafter, sprachlich durch einen exaltiert-hymnischen Ton ausgezeichneter Verschmelzungsvision, in welcher der Zustand der Individuation, den Nietzsche als »Quell und Urgrund alles Leidens« ansieht (KSA 1, S. 72), überwunden scheint, sich also die von Rönne leidvoll erfahrenen Grenzen des Individuums im Einswerden mit dem Animalisch-Vegetabilischen auflösen; andererseits im exzessiven, durchaus an die antiken Szenarien der Zerreißung erinnernden Gewaltrausch der Studenten,95 dem der Professor am Ende zum Opfer fällt. Während in Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen von Beginn an Aggressivität und Brutalität, Wüten und Töten das (Geschlechter-)Geschehen prägen96 und man sich gelegentlich durchaus an Nietzsches Beschreibung der »abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit« (KSA 1, S. 32) bei den »dionysischen Barbaren« (KSA 1, S. 31) erinnert fühlen mag, ist der Akt der Gewalt bei Benn dagegen zwar durchaus in der immer mehr eskalierenden sprachlichen Auseinandersetzung der Protagonisten angelegt, bricht aber schließlich doch eher unversehens aus der lyrisch-empfindsamen Ekstase der großen Verschmelzungsvision Rönnes hervor, an die sich unmittelbar die Regieanweisung »Geht auf den Professor zu und ergreift ihn«97 anschließt, die durch die schockierende Nüchternheit der nachfolgenden Bemerkung »ihn mit der Stirn hin und her schlagend«98 noch überboten wird. Dieser Gewaltrausch in der Schlusspartie des Stücks wird dabei ausdrücklich im Namen eines Nietzsche- und Antikenzitats proklamiert: Ignorabimus! Das für das Ignorabimus! Du hast nicht tief genug geforscht. Forsche tiefer, wenn du uns lehren willst! Wir sind die Jugend. Unser Blut schreit nach Himmel und Erde und nicht nach Zellen und Gewürm. Ja, wir treten den
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Kaiser betont den Zusammenhang von zivilisationsmüdem Leidensdruck, expressionistischer Irrationalität und (faschistischer) Gewalt; er spricht sogar von einem »a-moralischen Freibrief«, der den gewalttätig werdenden Studenten durch ihr Leiden an der modernen (wissenschaftlichen) Existenz erteilt werde (Joachim Kaiser: Erlebte Literatur: Vom Doktor Faustus zum Fettfleck. Deutsche Schriftsteller in unserer Zeit. München, Zürich 1988, S. 137–143, hier S. 140, 143). Liedtke stellt die Ithaka-Skizze in den Kontext sowohl der Gedichte wie auch der Rönne-Novellen Benns (Anja Liedtke: Auf nach Ithaka? Nur fort aus der Gegenwart und keine Zukunft in Sicht. In: Text & Kritik 44 (2006), S. 58–70). Vgl. dazu aus der Perspektive von Artauds Theater der Grausamkeit den Beitrag von Georg Jäger: Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen (Anm. 56), S. 215–233. Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1478. Ebenda, S. 1479.
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Norden ein. Schon schwillt der Süden die Hügel hoch. Seele, klaftere die Flügel weit; ja, Seele! Seele! Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos und Ithaka! –.99
Die Ahnung Nietzsches, dass die im einseitigen Fortschrittsoptimismus der sokratischen Moderne verdrängten ›Untergründe‹ inkommensurabler Erfahrungen eines Tages umso ungezügelter wieder hervorbrechen würden, hat Benn hier in ihrer ganzen grundstürzenden Radikalität – die zugleich als Gradmesser für Intensität und Ausmaß des Verdrängungsprozesses gelten mag – poetisch dargestellt. Die Ithaka-Skizze führt dabei in nuce eben jenen Umschlagspunkt der Moderne vor, an dem der Geist der Wissenschaft an seine Grenzen gerät, der theoretische Mensch, so Nietzsche, »in das Unaufhellbare starrt« und zu seinem Schrecken sehen muss, »wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst« (KSA 1, S. 101) – eine Beschreibung, in der im Übrigen die absurden Versuchsreihen von Benns Professor Albrecht anzuklingen scheinen, die ohne jeden wissenschaftlichen Ertrag auf groteske Weise im Leerlauf der Logik stecken bleiben. Die großen Welt- und Daseinsrätsel jedenfalls sind aus Nietzsches Sicht mit einem derart vereinseitigenden Rationalismus keineswegs zu bewältigen, im Gegenteil: Es sind gerade die letzten Grundfragen menschlicher Existenz, an denen die moderne Wissenschaft mit ihrem optimistischen Erkenntnisglauben und ihrem Anspruch auf universale Gültigkeit scheitert. Rönne ist mit seinem Leiden an der modernen wissenschaftlichen Existenz, das sich mit Nietzsche als »Urleiden der modernen Cultur« (KSA 1, S. 119) charakterisieren lässt,100 genau an einem solchen Grenzpunkt angekommen, an dem die »Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit« umschlägt (KSA 1, S. 102), also die Einsicht in die Aporien einer einseitig rationalen Moderne zur Wiederbelebung des tragischen Weltgefühls101 – bei Benn gespiegelt im Ruf der Studenten nach Dionysos und
_____________ 99 Ebenda. 100 Die Analogien zwischen Nietzsche und Benn spiegeln sich an dieser Stelle auch in einer ähnlichen Metaphorik wider. So umschreibt Nietzsche das »Urleiden der modernen Cultur« dadurch, dass der theoretische Mensch vor seinen eigenen Konsequenzen erschrecke, ängstlich am Ufer auf und ab laufe und es nicht mehr wage, »sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen« (KSA 1, S. 119). Bei Benn wiederum taucht das Ufer-Bild in vergleichbarem Kontext auf, wenn Rönne über die zerstörerische Wirkung moderner Wissenschaft klagt: »Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht. Ich stehe am Ufer: grau, steil, tot. Meine Zweige hängen noch in ein Wasser, das fließt; aber sie sehen nur nach innen, in das Abendwerden ihres Blutes, in das Erkaltende ihrer Glieder. Ich bin abgesondert und ich. Ich rühre mich nicht mehr« (Gottfried Benn: Gesammelte Werke (Anm. 1). Bd. 2: Prosa und Szenen. Frankfurt a. M. 2003, S. 1475). 101 Zu dieser Idee einer ›Retragisierung‹ bei Nietzsche vgl. auch Werner Frick: ›Die mythische Methode‹ (Anm. 52), S. 57.
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Ithaka – und damit zur erhofften Erneuerung der griechischen Tragödie führt. Dabei verstanden sowohl Nietzsche wie auch Benn ihre je eigene Gegenwart als entscheidenden, von heftigen Kontroversen und Kämpfen begleiteten Scheitelpunkt in dieser Entwicklung. Entgegen der gängigen These, dass die frühe Nietzsche-Rezeption in der deutschen Literatur, nicht zuletzt die der Expressionisten, durch Missverständnisse und eine mangelnde philosophische Durchdringung der Gedankenwelt Nietzsches gekennzeichnet sei, eröffnet somit ein genauerer Blick auf das Drama des expressionistischen Jahrzehnts ein breites Spektrum vielfältiger Nietzsche-Resonanzen, in dem zentrale Impulse seiner Philosophie durchaus zutreffend und sowohl formbildend wie gedanklich organisierend aufgenommen sind. Zugleich hat es freilich den Anschein, als komme gerade denjenigen Texten eine besondere ästhetische Qualität zu, die Nietzsches Gedanken nicht lediglich (wie etwa bei Pannwitz) möglichst getreu poetisch zu übersetzen suchen, sondern sie (wie bei Kokoschka, Kaiser oder Benn) produktiv fortschreiben, in eigenständige dramatische oder theatrale Konzepte transformieren und sich zudem in kritischer Wendung von ihnen absetzen. Dabei diente Nietzsches Geburt der Tragödie in der expressionistischen Dramatik keineswegs nur als Repertoire bestimmter Themen und Motive, vielmehr lieferte sie erst eigentlich einen ästhetisch-poetologischen Referenzrahmen, mit dessen Hilfe sich die Expressionisten um eine Erneuerung des Dramas bemühten – nicht von ungefähr weist das untersuchte Textkorpus eine Fülle experimentierender Kurzformen (zum Beispiel Einakter, Dramatische Phantasie, Impression) auf. In ihrem Aufbruchs- und Erneuerungspathos teilten die Expressionisten mit Nietzsche die Hoffnung, dass die prophezeite Wiedergeburt der Tragödie von der eigenen Epoche ihren Ausgang nehmen würde. Überdies gehört die im Zeichen von Nietzsches Geburt der Tragödie gestiftete Koalition von Archaik und Avantgarde102 zweifellos zu den besonders interessanten Wendungen der Nietzsche-Rezeption im Expressionismus, dessen Selbstbeschreibung in der Rhetorik des Traditionsbruchs auf diese Weise in einem erheblich differenzierteren Licht erscheint.
_____________ 102 Frick hat diese Dialektik von Archaismus und Modernität ganz allgemein als charakteristische Denkfigur in den Tragödienexperimenten der klassischen Moderne herausgearbeitet (Werner Frick: ›Die mythische Methode‹ (Anm. 52), S. 45).
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Skeptische Anthropologie: Kafka und Nietzsche Schön ist Gottes Welt. Nur eines ist nicht schön: wir. Čechov an Suvorin, 9. Dezember 1890
I. Forschungspositionen Ob und auf welche Weise Kafka etwas mit Nietzsche zu tun hatte, darüber bestand in der Forschung lange Zeit keine Einigkeit. Max Brod jedenfalls hat sich scharf gegen jeden Versuch ausgesprochen, eine Verbindung zwischen den beiden Autoren herzustellen. »Nietzsche ist […] in der Geschichte des letzten Jahrhunderts der fast mathematisch genaue Gegenpol Kafkas. Es zeigt die Instinktlosigkeit mancher Kafka-Erklärer, daß sie sich nicht scheuen, Kafka und Nietzsche […] auf einer Ebene zusammenzubringen, – als ob es hier irgendwelche noch so vage Bindungen, Vergleichsmöglichkeiten und nicht den puren Gegensatz gäbe«.1 Tatsächlich sind weder in Kafkas Tagebüchern noch in seinen Briefen explizite Äußerungen zu Nietzsche nachzuweisen. Lediglich Berichte aus zweiter oder dritter Hand dokumentieren die Beschäftigung des Autors mit dem Philosophen. Ironischerweise soll es jedoch gerade ein Streit über Nietzsche gewesen sein, der am Anfang von Brods Freundschaft mit Kafka stand. Am 23. Oktober 1902 referiert der achtzehnjährige Max Brod in der Prager Lese- und Redehalle über Schopenhauers Willensmetaphysik, die er gegen Nietzsches Umwertungen und Fortführungen verteidigt. Der zwei Jahre ältere Kafka habe Brods Argumentation vehement widersprochen und Nietzsches signifikante Weiterentwicklung von Schopenhauers Konzept herausgestellt.2 Die anschließende Diskussion auf dem gemeinsamen Heimweg begründet die nicht zuletzt literaturgeschichtlich relevante Freundschaftsbeziehung. Kafka selbst schweigt zu diesem biographischanekdotischen Detail.
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Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt a. M. 1966, S. 259. Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. München 2005, S. 112f.
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Das andere Extrem des Meinungsspektrums wird von Patrick Bridgwater vertreten, der einige Jahre nach Brods kategorischer Ablehnung einer Verknüpfung oder Einflussnahme, nämlich in seinem 1974 publizierten Buch Kafka and Nietzsche, behauptet: »[N]o objective critic can fail to recognize that there are in fact countless ›connexions‹ and ›parallels‹ between the two writers«.3 Speziell nach 1914, also etwa ab Kriegsbeginn, sei die Welt von Nietzsches Ideen zur Gänze Kafkas Welt geworden,4 ihren gemeinsamen Rückhalt bildeten Schopenhauer und Darwin. Mit den wichtigsten Schriften Nietzsches sei der Autor bestens vertraut gewesen, etwa mit der Geburt der Tragödie, den Unzeitgemäßen Betrachtungen, mit Menschliches, Allzumenschliches oder auch mit der Fröhlichen Wissenschaft. Im Hinblick auf Kafkas Spätwerk nennt er Zur Genealogie der Moral gar das »›sourcebook‹ in one later work after another«.5 Als wichtigste Quelle dienen ihm allerdings die von Gustav Janouch aufgezeichneten Gespräche mit Kafka, die von der Forschung längst nicht mehr ästimiert werden, weil sie zu Recht als unzuverlässig und inauthentisch gelten.6 Dennoch ist die grundsätzliche Differenz in der Wahrnehmung durch Brod und Bridgwater erklärungsbedürftig. Bei aller Skepsis, die man Brods weithin idealisiertem Kafka-Bild entgegenbringen mag, wird man nicht unterstellen wollen, dass er gänzlich falsch geurteilt habe. Natürlich muss er eine Nähe Kafkas zu Nietzsche von vornherein leugnen, um den verehrten Freund und Autor als zutiefst religiösen Schriftsteller positionieren zu können. Doch auch unabhängig davon ist Nietzsche sicher nicht der erste Bezugspunkt, auf den man verfällt, wenn man Kafka liest; eher schon wären Kierkegaard, Dostojewskij oder Flaubert zu nennen.7 Der Hauptgrund für Brods Einschätzung aber scheint darin zu liegen, dass Kafka sich Nietzsches Visionen des Dionysisch-Rauschhaften, oder allgemeiner gesprochen: den mannigfaltigen Postulaten der Lebenssteigerung verweigert, die eine ganze Generation in ihren Bann geschlagen haben. Weder teilt er die lebensphilosophischen Grundannahmen, wie sie von Nietzsche, Simmel, Bergson und Dilthey formuliert worden sind, noch lässt er sich maßgeblich von der vitalistischen Ausrichtung der Epoche beeindrucken. Folglich spielt für ihn Authentizität als Kunstprogramm auch keine Rolle. Dass er sich den zeitgenössischen Lebensreformbewegungen gegenüber
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Patrick Bridgwater: Kafka and Nietzsche. Bonn 21987, S. 14. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 11. Vgl. Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1961. Vgl. etwa Bert Nagel: Kafka und die Weltliteratur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen. München 1983. Manfred Engel u. Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006.
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offen gezeigt hat, steht dazu nicht im Widerspruch, wenn man die durchweg ironische Kommentierung berücksichtigt, mit der er seine Aktivitäten begleitet. Allerdings liegt auch Bridgwater nicht gänzlich falsch, wiewohl seine These von der Allgegenwart Nietzsches in Kafkas Werk überzogen erscheint. Es sind vielmehr einzelne Texte, die konkrete Bezugnahmen auf Nietzsche erkennen lassen, so vor allem die Erzählungen In der Strafkolonie und Ein Landarzt, die bis in die Wort- und Metaphernwahl hinein auf Denkfiguren und Problemstellungen Nietzsches aus der Genealogie der Moral reagieren, indem sie diese narrativ entfalten. Für die Strafkolonie betrifft es zum Beispiel den Zusammenhang von Strafe und Gedächtnis,8 ebenso aber die Genealogie und suggerierte Ebenbürtigkeit verschiedener Moralvorstellungen, mit denen sich der Protagonist im Text konfrontiert sieht, während im Landarzt Nietzsches Überlegungen zu Arzt und Priester als modernen, aber wirkungslosen Inkarnationen des Heilands ebenso eine Rolle spielen wie das Bild einer von Würmern zerfressenen Wunde, die zwar hässlich sein mag, jedoch immerhin als Indiz des Lebendigen aufgefasst werden kann.9 Doch bereits der junge Kafka hatte sich gründlicher mit Nietzsche befasst.10 Es sind folglich zwei Phasen in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche zu unterscheiden: Die erste liegt vor 1910, die zweite nach 1914. In der ersten, im Umfeld der Beschreibung eines Kampfes anzusiedelnden Phase stehen Also sprach Zarathustra, Die Geburt der Tragödie sowie der 1903 erstmals publizierte Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne im Mittelpunkt, und hier wiederum Reflexionen auf die Potentiale und Grenzen der Sprache. Damit partizipiert Kafka an dem von Nietzsche, Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal geprägten sprachkritischen Diskurs der Jahrhundertwende, ohne freilich in ihm aufzugehen. Denn trotz direkter und indirekter Bezugnahmen auf Nietzsches wir-
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Aus der Fülle des möglichen Inspirationsmaterials sei nur ein Beispiel aus Nietzsches Genealogie der Moral zitiert: »Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte ›Besserung‹, sei es für die Zeugen der Exekution« (Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, S. 245– 412, hier S. 318. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen). Ebenda, S. 367. Ein noch deutlicherer Bezug lässt sich zum Abschnitt Die Zukunft des Arztes in Menschliches, Allzumenschliches herstellen, wo Nietzsche den Kleinmut als »Wurmfrass aller Kranken« bezeichnet und die Position des Arztes in der Moderne als Alleskönner und »Heiland« heraushebt (KSA 2, S. 203f.). Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka (Anm. 2), S. 93. Bert Nagel: Kafka und die Weltliteratur (Anm. 7), S. 301.
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kungsmächtigen Aufsatz11 kann man im Falle der Beschreibung eines Kampfes nicht von literarisch inszenierter Sprachskepsis reden, allenfalls von »Sprachexperimenten«,12 die bisweilen geradezu eine Lust an der sprachlichen Selbstermächtigung des Subjekts zelebrieren. Ungeachtet der skizzierten Phasenbildung lassen sich natürlich gemeinsame Überzeugungen oder auch Strukturanalogien entdecken, die sich allerdings nicht notwendig einem unmittelbaren Rekurs Kafkas auf Nietzsche verdanken, sondern eher dem grundsätzlich skeptischen Milieu der Moderne. Darauf hat auch die neuere, immer noch sehr überschaubare Forschung punktuell verwiesen, wie sie überhaupt vorsichtigere Urteile über eine mögliche Korrelation der zwei Autoren fällt.13 Sowohl Nietzsche als auch Kafka begreifen die Moderne in der Tradition Rousseaus als Zeitalter der Vermittelmäßigung, beide üben vehement Erkenntniskritik, beide sind vom unhintergehbaren Perspektivismus des Lebens sowie von der Welt als permanentem Auslegungsgeschehen überzeugt,14 und beide widmen sich mit großer Intensität dem, was Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse die »Stufen der Scheinbarkeit« (KSA 5, S. 53) nennt, die er für realer hält als alle Begriffe von wahr und falsch. Auffällig ist schließlich auch, dass Kafka zunehmend die Erinnerung als Darstellungselement aus dem Erzählprozess ausschließt – als habe er sich die zweite Unzeitgemäße Betrachtung über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben zu eigen gemacht und in der Folge seinen Protagonisten die Last der Vergangenheit ersparen wollen. Im Anschluss an Friedrich Beißner hat Peter U. Beicken von einer »Erzählreduktion aufs Momentane« gesprochen,15 die sich aus Kafkas Beschränkung der Darstellung auf die konkreten Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgänge seiner Figuren ergebe. Diese Fokussierung auf die
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Vgl. Lukas Trabert: Erkenntnis- und Sprachproblematik in Franz Kafkas Beschreibung eines Kampfes vor dem Hintergrund von Friedrich Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 61 (1987), S. 298–324. Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Heidelberg 2004, S. 167–169. Ebenda, S. 167. Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka (Anm. 2), S. 92–94 u. ö. Siehe außerdem Hartmut Binder: Jugendliche Verkennung. Kafka und die Philosophie. In: Wirkendes Wort 34 (1984), S. 411–421. Stanley Corngold: Nietzsche, Kafka, and the Question of Literary History. In: Volker Dürr, Reinhold Grimm u. Kathy Harms (Hg.): Nietzsche. Literature and Values. Madison 1988, S. 153–166. Neuerdings Wiebrecht Ries: Nietzsche / Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne. Freiburg, München 2007. Vgl. etwa Christa Meese: Wirklichkeit als Schein und Deutung im Werke Franz Kafkas und Friedrich Nietzsches. Würzburg 1999. Peter U. Beicken: Berechnung und Kunstaufwand in Kafkas Erzählrhetorik. In: Marie Luise Caputo-Mayr (Hg.): Franz Kafka. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposion in Philadelphia. Berlin 1978, S. 216–234, hier S. 223.
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Darstellung unmittelbar sich vollziehender Bewusstseinsvorgänge bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass für Kafka die Erinnerung als wesentliches Konstituens des Erzählens in der Moderne kaum eine Rolle spielt, ganz im Gegensatz etwa zu Proust, Joyce, Rilke, Thomas Mann oder Uwe Johnson, für die Erinnern und Erzählen unauflöslich miteinander verschränkt sind. Fast programmatisch stellt der Autor bereits im Jahre 1900 fest: »Wie viel Worte in dem Buche stehn! Erinnern sollen sie! Als ob Worte erinnern könnten!«.16 Und in einem späteren Erzählfragment verfällt nicht nur die sprachliche Repräsentation von Erinnerung der Kritik, sondern der Erinnerungsvorgang überhaupt: »[J]a, schon das Erinnern ist traurig, wie erst sein Gegenstand!«.17 Die allmähliche Austreibung der Erinnerung aus der Sprache und damit aus dem Erzählen zeigt der Entwicklungsgang von Kafkas Romanen besonders anschaulich. Während im Verschollenen, der noch an den Realismus des 19. Jahrhunderts anschließt, der Protagonist Karl Roßmann mit einer detaillierten, seinen ganzen Lebensgang bestimmenden Vergangenheit ausgestattet wird, erfährt man über Josef K.s Vergangenheit im Proceß schon sehr viel weniger, und im Schloß beschränken sich die Einblicke in K.s Erinnerung, Vergangenheit oder Herkunft gar auf drei knappe Hinweise, sodass es der Figur an zeitlicher Tiefe mangelt und ihre ursprüngliche Handlungsmotivation dunkel bleibt. Sofern dergestalt die Erinnerung bewusst vorenthalten wird, ist die Figur um eine wesentliche Dimension verkürzt und dem Leser die Möglichkeit genommen, sich ein vollständiges Bild von ihr zu machen und sie ins allgemeine Weltwissen einzuordnen. Mit Ausnahme der Erzählung Ein Bericht für eine Akademie, wo die Abschaffung der Erinnerung allerdings gleich zu Beginn des Textes regelrecht vorgeführt wird, kommt ihr weder für das Erzählen noch für die Ich-Konstitution der Protagonisten erkennbare Bedeutung zu. Wo aber die Erinnerung eine Rolle zu spielen scheint, wie im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer, dort wird sie durch die Aufhebung der chronologischen Ordnung sowie durch die unablässige Vermischung der Zeitebenen diskreditiert. II. Das nicht festgestellte Tier Kafkas Rekurs auf Nietzsche zeichnet sich in oftmals hochgradig vermittelten thematischen, formalen und bildlichen Konstellationen ab, mehr
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Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u. Jost Schillemeit. Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 8. Ebenda, S. 131.
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aber noch in der Entfaltung einer grundsätzlich skeptischen Anthropologie. Die Frage »Was ist der Mensch?« hatte Kant einst als Synthese der Fragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« aufgefasst.18 Nichts dergleichen interessiert Nietzsche. In seiner Sicht ist der Mensch »ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich […]« (KSA 5, S. 235). Mit einer berühmten Formulierung in Jenseits von Gut und Böse charakterisiert er ihn grundlegend als »das noch nicht festgestellte Thier« (KSA 5, S. 81) und zieht damit gleichsam die Konsequenz aus Darwins Evolutionslehre. Die eigene Formulierung hat ihn offenbar so stark überzeugt, dass er fortan kontinuierlich darauf zurückgreift, insbesondere in der Genealogie der Moral. Mal kennzeichnet er den Menschen dort als »interessantes Thier«, dessen Überlegenheit über das »sonstige[-] Gethier« aus seiner Bosheit erwachse (KSA 5, S. 266), mal nennt er ihn ein »ehrliche[s] Thier[-]« (KSA 5, S. 270), mal ein »Raubthier«, das durch den Prozess der Zivilisation zu einem »zahme[n] und civilisirte[n] Thier«, letztlich also zu einem »Hausthier« gemacht werde, eine Vorstellung, in der Nietzsche zugleich den »Sinn aller Cultur« erblickt (KSA 5, S. 275f.). Sobald er über Wertungszusammenhänge spricht, erklärt er den Menschen zum »abschätzende[n] Thier an sich« (KSA 5, S. 306). Er nennt ihn außerdem das »Halbthier« (KSA 5, S. 324), das »kranke Thier«, das »muthige[-] und reiche[-] Thier« (KSA 5, S. 367), das »delikate[-] Thier[-]« (KSA 5, S. 372), das »tapferste und leidgewohnteste Thier« (KSA 5, S. 411) oder schlicht den »Thiermenschen« (KSA 5, S. 332). Nur ein ›animal rationale‹ nennt er ihn bewusst nicht, weil er den Menschen dezidiert von seiner Leiblichkeit her denkt. Ganz auf der Linie Darwins lassen diese Variationen einerseits keinen Zweifel an der Depotenzierung des Menschen als vermeintlicher Krone der Schöpfung; andererseits illustrieren sie im Vollzug der Argumentation noch einmal den tentativen Charakter der Ausgangsthese, dass der Mensch ein noch unbekanntes Tier sei, das vorerst nur näherungsweise zu erfassen ist: »Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel« (KSA 5, S. 367). Sobald Nietzsche jedoch dieses Tier tatsächlich einmal näher zu bestimmen versucht, entscheidet er sich für den schon durch Darwin naheliegenden Vergleich mit dem Affen, und namentlich der »Mensch der ›modernen Ideen‹« ist offenkundig nichts als ein »stolze[r] Affe« (KSA 5, S. 156). Darauf wird zurückzukommen sein.
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Immanuel Kant: Logik. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik. Darmstadt 1983, S. 417–582, hier S. 448 (A 26).
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Kaum anders geht es bei Kafka zu. Auch er behandelt den Menschen im Grunde als das noch nicht festgestellte Tier. In Briefen an Felice Bauer und Max Brod vom Herbst 1917 heißt es in beinahe identischer Formulierung: »Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen […] Zusammengefaßt, kommt es mir also nur auf das Menschen- und Tiergericht an […]«.19 Die wiederkehrende Rede von der »ganzen Menschen- und Tiergemeinschaft« verweist nicht nur auf den gemeinsamen Lebenskreis, dem Mensch und Tier angehören, oder auf ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander, sondern auch darauf, dass es weder eine Hierarchie noch klar erkennbare Grenzen im Reich der Kreatürlichkeit gibt. Die Achtung vor der Kreatur gleichsam als ethische Aufgabe ins Bild zu setzen, zählt deshalb zu den wichtigsten Anliegen von Kafkas Werk.20 Dieses Werk umfasst bekanntlich eine Reihe von Tiergeschichten,21 zum Beispiel Schakale und Araber, Der Bau, Forschungen eines Hundes oder auch Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In all diesen Texten agieren Tiere als Protagonisten. Außerdem begegnet man im gesamten Werk einer Fülle an Tiervergleichen und Tiermetaphern, oftmals an exponierter Stelle, etwa am Ende des Proceß-Romans, wo es von Josef
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So Kafka an Max Brod am 7. oder 8. Oktober 1917. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Briefe 3: April 1914–1917. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M. 2005, S. 342f. (Hervorh. d. Verf.). Vgl. die entsprechende Passage an Felice Bauer im Brief vom 30. September 1917 (ebenda, S. 333). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Mathias Mayers Beitrag zu Georg Trakl in diesem Band. Auf Kafkas Ethik der Kreatürlichkeit hat schon Benjamin zeitig die Aufmerksamkeit gelenkt. Vgl. Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt a. M. 1991, S. 409–438, hier S. 432. Vgl. hierzu ausführlich Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Bonn 1958, S. 92–186. KarlHeinz Fingerhut: Die Funktion der Tierfiguren im Werke Franz Kafkas. Offene Erzählgerüste und Figurenspiele. Bonn 1969. Manfred Schneider: Kafkas Tiere und das Unmögliche. In: Rudolf Behrens u. Roland Galle (Hg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im Roman. Würzburg 1995, S. 83–102. Gerhard Neumann: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 87–122, hier S. 115–122. Ders.: Kafkas Verwandlungen. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX. München 2006, S. 245–266, hier S. 256–258. Oliver Jahraus u. Bettina von Jagow: Kafkas Tier- und Künstlergeschichten. In: Dies. (Hg.): KafkaHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Göttingen 2008, S. 530–552.
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K. heißt, er sei gestorben »[w]ie ein Hund!«.22 Daneben trifft man auf Akteure, die sich tatsächlich wie Tiere verhalten, so zum Beispiel der Verurteilte in der Strafkolonie.23 Drittens schließlich bietet das Werk ein Panoptikum fabelhafter Kreaturen, da es mit einer Vielzahl an Mischwesen und Kreuzungen aufwartet. Man begegnet Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, so in der kurzen Erzählung Ein altes Blatt oder im Falle der mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern ausgestatteten Figur Leni im Roman Der Proceß,24 man trifft auf Kreuzungen zwischen Tieren verschiedener Gattungen, etwa in dem Text Eine Kreuzung, in der »ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm«, im Vordergrund steht, das obendrein »fast auch noch ein Hund sein [will]«,25 aber auch zwischen belebten Wesen und unbelebten Objekten, wie bei Odradek in Die Sorge des Hausvaters. Odradek sieht aus wie eine Zwirnspule auf zwei Beinen, was es aber ist, bleibt völlig offen: »[D]as Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist«.26 Von Odradek weiß man nichts: weder, was oder wer er ist, noch, woher der Name kommt. Und auf die Frage nach seinem Wohnsitz antwortet er: »Unbestimmter Wohnsitz«.27 Im Falle Odradeks ist aber nicht nur der Wohnsitz »unbestimmt«, vielmehr repräsentiert Odradek die Unbestimmbarkeit selbst; er ist gleichsam eine Figur der kategorialen Verweigerung, an der jedes Sinnbegehren scheitert.28 Während Odradek die Extremform der Unbestimmbarkeit veranschaulicht, weist der Mensch als solcher gleichfalls ein hohes Maß an Unbestimmbarkeit auf, sofern er sich permanent auf dem schmalen Grat zwischen Mensch und Tier zu bewegen scheint. Kafkas Texte erzählen ja in
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Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Der Proceß. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1990, S. 312. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 1994, S. 201–248, hier S. 203f.: »Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, daß es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme«. Vgl. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Der Proceß. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1990, S. 145. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 372–374, hier S. 372, 374. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler. Frankfurt a. M. 1996, S. 282–284, hier S. 283. Ebenda, S. 284. Von ähnlich grotesker Qualität wie Odradek sind auch die zwei Zelluloidbälle, mit denen Blumfeld, ein älterer Junggeselle, im gleichnamigen Erzählfragment zu kämpfen hat. Vgl. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 229–266, hier S. 232–252.
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der Tradition des Grotesken nicht nur von Mischwesen und Kreuzungen aller Art, die aus den gewohnten Ordnungen herausfallen und sämtliche Erwartungen zerstören, die folglich anarchisch sind und Desorientierung auslösen,29 sondern sie berichten auch von Verwandlungen und Substitutionen als Veranschaulichungen fließender Übergänge. Das bedeutendste Exempel stellt in dieser Hinsicht selbstverständlich Gregor Samsa dar, der sich eines Morgens »zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt« findet,30 ein Vorgang, der im Gegenzug allmählich zu charakterlichen Wandlungen seiner Familienmitglieder führt. Ob Gregor Samsa damit derjenige geworden ist, der er von Anfang an war, lässt sich nicht sagen. Auf andere Weise versinnbildlicht auch der Hungerkünstler in der gleichnamigen Erzählung einen Verwandlungsprozess, indem er sich durch sein Hungern mehr und mehr in seine Kreatürlichkeit zurückzieht – bis zum Punkt seines fast völligen Verschwindens, an dem er dann durch die wahre Kreatur, nämlich einen jungen Panther, ersetzt wird.31 Sowohl in der Verwandlung als auch im Hungerkünstler tritt jeweils ein Tier an die Stelle des Men-
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Äußerst treffend hat Wolfgang Kayser Kafkas Erzählungen als »kalte Grotesken« bezeichnet. Die Begründung dafür lautet: »Es gibt bei ihm keine ›Begegnungen‹, keine plötzlichen Einbrüche, keine eigentlichen Verfremdungen, weil die Welt von Beginn an fremd ist. Wir verlieren nicht den Boden, weil wir niemals fest auf ihm gestanden haben; wir haben es nur nicht gleich gemerkt« (W. Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg 1957, S. 160). Ähnliches hat Carl Pietzcker im Blick, wenn er für das Groteske allgemein konstatiert: »Das Absurde versteht sich als metaphysisch, das Groteske als irdisch« (C. Pietzcker: Das Groteske. In: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 85–102, hier S. 95). Zum Grotesken in systematischer Hinsicht vgl. außerdem Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln, Weimar, Wien 2001. Franz Kafka: Die Verwandlung. In: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler. Frankfurt a. M. 1996, S. 113–200, hier S. 115. Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. In: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler. Frankfurt a. M. 1996, S. 333–349, hier S. 349: »In den Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehn«. Dass die Erzählung Ein Hungerkünstler auch gegenläufig interpretiert werden kann, gehört zu den typischen Merkmalen von Kafkas Texten. In dieser Perspektive wäre das Bemühen des Protagonisten als eines Körperkünstlers nicht als Rückzug in die Kreatürlichkeit zu bewerten, sondern gerade als Versuch, sich über diese zu erheben und damit den Beweis für eine vergeistigte Kunst anzutreten, die es mit den Bedingungen des Körpers aufnimmt, indem sie diese negiert. Der jeweilige Gang der Argumentation hängt demnach auf elementare Weise von der Wertungsperspektive ab: Folgt man als Leser dem Hungerkünstler in seiner Schilderung oder liest man den Text gegen ihn? Wertet man also auf der Ebene des Erzählers oder auf der Ebene des Erzählten? Wie Reinhard Lettau gezeigt hat, gehört dieses offene Verfahren, bei dem das Erzählte gegen den Erzähler erschlossen werden muss, zu den wesentlichen Darstellungsprinzipien Kafkas. Vgl. R. Lettau: Erzählmodelle Kafkas. In: Ders.: Zerstreutes Hinausschaun. Vom Schreiben über Vorgänge in direkter Nähe oder in der Entfernung von Schreibtischen. München, Wien 1980, S. 192–214, hier S. 214.
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schen, wobei die Übergänge nicht nur minutiös beschrieben werden, sondern offenbar leicht zu vollziehen sind. Die eigentliche Komplementärgeschichte zur Verwandlung ist aber die Satire Ein Bericht für eine Akademie aus dem Jahr 1917. Hier wird nicht die Verwandlung des Menschen in ein Tier erzählt, sondern die Verwandlung eines Tiers in einen Menschen, genauer noch: in einen Künstler. Das Tier-Sein ist als Potentialität im einen Fall ebenso angelegt wie im anderen Fall die Mensch-Werdung, wobei die wechselseitige Durchlässigkeit zugleich als Ausweis der Unbestimmbarkeit, ja der Nicht-Feststellbarkeit im Sinne Nietzsches aufgefasst werden kann. Die drei Erzählungen Die Verwandlung, Ein Bericht für eine Akademie und Ein Hungerkünstler bilden insofern einen Zusammenhang, als sie narrative Variationen über die Grauzonen im Übergang von Mensch und Tier darstellen.32 III. Die geschundene Kreatur: Ein Bericht für eine Akademie Neben den Erzählungen In der Strafkolonie und Ein Landarzt scheint Ein Bericht für eine Akademie wiederum derjenige von Kafkas Texten zu sein, in welchem das stärkste Echo von Nietzsches in Also sprach Zarathustra, in Zur Genealogie der Moral und in Menschliches, Allzumenschliches entwickelten skeptischen Anthropologie zu vernehmen ist.33 Nietzsche redet hier nämlich nicht nur allgemein vom Menschen als Tier und im Verhältnis zum Tier, sondern wiederholt auch in konkreter Hinsicht auf den Affen. »Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. […] Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe« (KSA 4, S. 14). Mit aller gebotenen Vorsicht darf man formulieren, dass Kafkas Text eine umfassende Veranschaulichung dieser Diagnose anzustreben scheint.34
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Gerhard Neumann rückt diese drei Texte nicht nur in einen Zusammenhang, sondern erblickt in ihnen auch »drei verschiedene Varianten« Kafkas, Tiergeschichten zu erzählen (G. Neumann: Kafkas Verwandlungen (Anm. 21), S. 256). Siehe in diesem Zusammenhang Ralf R. Nicolai: Nietzschean Thought in Kafka’s A Report to an Academy. In: Literary Review 26 (1983), S. 551–564. Wesentlich aufschlussreicher ist freilich Klaus-Peter Philippi: Das Paradigma reflektierter Freiheit: Ein Bericht für eine Akademie. In: Ders.: Reflexion und Wirklichkeit. Untersuchungen zu Kafkas Roman Das Schloß. Tübingen 1966, S. 116–151, hier S. 121–124 u. S. 140–143. Am deutlichsten treten die Bezüge bisher ans Licht bei Andreas Kilcher u. Detlef Kremer: Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas Bericht für eine Akademie. In: Claudia Liebrand u. Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition. Würzburg 2004, S. 45–72, hier S. 58–61. Diese Vorsicht ist allemal angebracht bei einem Text, der, traut man der Forschung, gleichsam unendlich viele Traditionslinien verknüpft. Zu Recht sprechen Kilcher und
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Ein Affe namens Rotpeter ist bekanntlich der Protagonist der Erzählung. Auf Einladung einer Akademie soll dieser Affe über sein »äffisches Vorleben« Auskunft geben.35 Sofern er dabei den diskursiven Regeln einer wissenschaftlichen Institution entspricht, tritt ironischerweise allerdings sogleich jene Situation ein, die Nietzsche für keine Seltenheit ›in academia‹ gehalten hat: »Häufiger schon geschieht es, dass, wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib […] gesetzt ist« (KSA 5, S. 45). Dass ein solches Affentum den Protagonisten charakterisiert, versteht sich von selbst, doch Rotpeter thematisiert auch das Affentum seines wissenschaftlichen Auditoriums: »Ihr Affentum, meine Herren, […] kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles« (BA, S. 300). Die Grenze zwischen Tier und Mensch, zwischen Natur und Zivilisation bleibt also nicht nur für den Affen Rotpeter durchlässig. Mit Recht erblickt deshalb Gerhard Neumann in diesem Text Kafkas »kulturanthropologisches Vermächtnis«.36 Durch wiederkehrende Anspielungen und Verweise auf die animalische Herkunft des Menschen macht Rotpeter darauf aufmerksam, dass der Mensch ja selbst einst dem Affentum entsprungen sei, nur eben früher. Und die Gefahr eines Rückfalls ins Affentum scheint jederzeit gegeben. Denn während Rotpeter allmählich menschliches Verhalten annimmt, wird sein erster Lehrer im Gegenzug »selbst […] fast äffisch« (BA, S. 312). In gedrängter Form berichtet Rotpeter über seinen Weg vom wilden Affen zum anerkannten Künstler, von seiner Gefangennahme an der afrikanischen »Goldküste« (BA, S. 301), von seinen Erlebnissen im Käfig auf einem Schiff Richtung Hamburg, von seiner Entscheidung gegen den Zoologischen Garten und für das Varieté. Dieses bietet zwar keine Freiheit, aber immerhin einen »Ausweg«, einen »Menschenausweg« (BA, S. 312), wie es heißt, der ihn vor dem Zugrundegehen in einem Käfig bewahrt: »Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen;
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Kremer hier von einem »verfitzten Diskursbündel«: »Wenn der Bericht für eine Akademie als ›verfitztes‹ Diskursbündel gelesen wird, dann steht dessen Kryptik und Polyphonie dafür ein, daß es nicht darum gehen kann, den Text über einsinnige und vereindeutigende Referentialisierungen gewissermaßen stillzustellen. Gerade die Vielfältigkeit, das Kursorische und das Beliebige in den Textverarbeitungen Kafkas thematisiert der Bericht für eine Akademie als kontingentes Diskurs- und Lektüreprotokoll, in dem Kafka einen literarischen Karneval voller Ironie und Maskierungen inszeniert« (Andreas Kilcher u. Detlef Kremer: Die Genealogie der Schrift (Anm. 33), S. 51). Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. In: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler. Frankfurt a. M. 1996, S. 299–313, hier S. 299. Zitate aus dieser Erzählung werden fortan unter Verwendung der Sigle BA nachgewiesen. Gerhard Neumann: Kafkas Verwandlungen (Anm. 21), S. 257.
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das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen war« (BA, S. 312).37 Der Affe entscheidet sich bewusst für das Mitmachen in der »Menschenwelt« (BA, S. 299), um gerade hierdurch verschwinden und in seiner Eigentümlichkeit unsichtbar werden zu können. In der Deutungsgeschichte des Textes dominieren zwei Interpretationsmuster. Das eine begreift ihn vornehmlich als Parodie auf den Prozess der jüdischen Assimilation. Dieser Bezug liegt nicht zuletzt deshalb nahe, weil Kafkas Erzählung zuerst in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude publiziert wurde. Das andere stellt die Künstlerproblematik in den Vordergrund, weil der Affe sich selbst als Künstler begreift.38 Hier dagegen soll das im Rahmen der Erzählung entworfene Menschenbild im Vordergrund stehen, das sich wesentlich an Nietzsches ›bösem Blick‹ ausrichtet sowie an den von ihm entwickelten Thesen und Beschreibungen. In Menschliches, Allzumenschliches hatte Nietzsche vom »Kreislauf des Menschenthums« behauptet: Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. […] so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in’s Affenhafte, herbeigeführt werden. (KSA 2, S. 205f.)
Kafkas Erzählung nun spielt die reziproken Möglichkeiten zwar nicht als Komödie, wohl aber als Satire durch, in welcher der Punkt des Umschlags
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Die Redewendung ›sich in die Büsche schlagen‹ ist keineswegs zufällig gewählt. Sie geht zurück auf das Gedicht Der Wilde von Johann Gottfried Seume, einen um 1900 weit verbreiteten Text, in dem die Opposition von Natur und Kultur durch den »Huronen« einerseits, einen unverdorbenen, naturnahen und von ursprünglicher Sittlichkeit geprägten »Wilden«, und einen gleichermaßen zivilisierten wie grausamen europäischen Pflanzer andererseits dargestellt wird. Das Gedicht endet mit den Versen: »Ruhig und ernsthaft sagte der Hurone: │ Seht, ihr fremden, klugen, weisen Leute, │ Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen; │ Und er schlug sich seitwärts in die Büsche«. Kafka radikalisiert diese Opposition: Erstens, indem er Natur und Kultur in ihrer jeweiligen »Reinform« miteinander konfrontiert, nämlich das Tier mit den Wissenschaftlern als den Repräsentanten kultureller Elaboration, und zweitens, indem er das explizit didaktische Moment im Rahmen des ironischen indirekten Darstellungsverfahrens eliminiert. Vgl. Johann Gottfried Seume: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jörg Drews. Bd. 2: Apokryphen, kleine Schriften, Gedichte, Übersetzungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 478–481, hier S. 481. Für diesen Hinweis danke ich Dieter Borchmeyer. Zu den verschiedenen Phasen der Deutungsgeschichte des Textes vgl. Hans-Gerd Koch: Ein Bericht für eine Akademie. In: Michael Müller (Hg.): Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2005, S. 173–196, hier S. 177–192.
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präzise markiert werden soll, wo Natur in Kultur übergeht, wo das Tier im Affen endet und der Mensch beginnt – und umgekehrt. In mancher Hinsicht erscheint der Text dabei so eng an Nietzsches Wort- und Bildfeldern orientiert, dass man diese förmlich als Kern der Narration begreifen kann. Aus dem Blickwinkel des gemeinsamen äffischen Ursprungs stellt sich Rotpeter von Beginn an auf eine Stufe mit dem Menschen. Im weiteren Gang der Argumentation zerstört er dann sämtliche Formen spezifisch menschlicher Selbstauslegung. Alle Kriterien und Leitkonzepte, die der Mensch zur Unterscheidung vom Tier verwendet, wie Sprache, Bildung, Wahrheit, Freiheit und Bewusstsein, werden von Rotpeter gezielt entkräftet. Ganz offensichtlich sind dies genau jene Leitkonzepte anthropologischer Selbstverständigung, die Nietzsche kontinuierlich als Illusionen entlarvt oder der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Sprache beispielsweise gilt Rotpeter nicht als Beweis der Differenz, da offenbar die Menschen selbst nicht eigentlich sprechen. Sie »gurrten einander nur zu« (BA, S. 306) wie die Vögel, eine Feststellung, die an die Nomaden aus Ein altes Blatt erinnert, die sich mit dem Schrei der Dohlen verständigen. Dementsprechend hat die sagbare Wahrheit nichts mit der ursprünglichen »Affenwahrheit« (BA, S. 303) zu tun, auf die es letztlich ankäme. Die behauptete Bildung wiederum entspricht nirgends einem traditionellen Bildungsbegriff oder gar den hehren Bildungsidealen des Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert, weil sie aus Spucken, Pfeiferauchen, Schnapstrinken und dem Handschlag besteht – so zumindest lauten die vier vom Affen angegebenen Fertigkeiten (BA, S. 308f.).39 Die Freiheit schließlich erweist sich als Chimäre, denn »mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten« (BA, S. 304). Durch perspektivische Verschiebungen negiert Rotpeter folglich die überkommene Hierarchie von Mensch und Tier und konfrontiert stattdessen zwei gleichrangige Ordnungen miteinander, die sich jedoch von beiden Seiten her durchdringen können: Auf der einen Seite existiert die »Menschenwelt« (BA, S. 299), in der mit »Menschenworten« lediglich »menschliche[r] Sinn« (BA, S. 303) produziert wird und wo es keine Freiheit gibt, sondern nur einen »Menschenausweg« (BA, S. 312). Auf der anderen Seite begegnet man »Affentum« (BA, S. 300), »Affennatur« (BA; S. 301), »Affenwahrheit« (BA, S. 303), »Affenart« (BA, S. 313) und einer allumfassenden »Freiheit« statt nur eines Ausweges (BA, S. 304).
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Mit Recht ist der Text als »Kontrafaktur des Bildungsromans« bezeichnet worden, so Hans H. Hiebel: Antihermeneutik und Exegese. Kafkas ästhetische Figur der Unbestimmtheit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 90–110, hier S. 92.
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Freilich urteilt Rotpeter kaum explizit – er stellt anheim, indem er seine Widerfahrnisse erzählt. Am Ende seines Berichts beansprucht er, die »Durchschnittsbildung eines Europäers« (BA, S. 312) erworben zu haben, eben Spucken, Pfeiferauchen, Schnapstrinken und Handschlaggeben. Doch selbst diese primitive und aus der Perspektive des Textes nur ironisch zu verstehende kulturelle Leistung bedarf der vollständigen Vernichtung der eigenen Natur. Anders gesagt: Der Prozess der Zivilisation wird in diesem Text modellhaft durchgespielt als Prozess gezielter Naturvernichtung. An ihr wirkt der Affe ebenso mit wie die ihn umgebenden Menschen, wobei der Affe hier förmlich die von Nietzsche so genannte »gegen sich selbst Partei nehmende[-] Thierseele« (KSA 5, S. 323) verkörpert. Eingesperrt in seinen Käfig, fürchtet er um seine schiere Existenz: »Immer an dieser Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt. Aber Affen gehören bei Hagenbeck an die Kistenwand – nun, so hörte ich auf, Affe zu sein« (BA, S. 304). Dabei ist die Liquidation der Erinnerung ans »äffische[-] Vorleben« (BA, S. 299) erste Bedingung für das menschenähnliche Nachleben. »Diese Leistung wäre unmöglich gewesen, wenn ich eigensinnig hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der Jugend festhalten wollen« (BA, S. 299). Hier wird nicht nur wie bei Nietzsche das Leben gegen die Last der Vergangenheit ausgespielt, sondern, in einem doppelten Sinne, geradezu das Überleben. Und als wichtigstes Utensil bei der Vertreibung seiner Affennatur dient Rotpeter die innere »Peitsche« (BA, S. 311), die bekanntlich Nietzsche bei der Einübung in asketische Ideale als unverzichtbar erachtete. Diese innere Peitsche ermöglicht dann auch jene »vorwärts gepeitschte[-] Entwicklung«, die Rotpeter an sich selber wahrnimmt (BA, S. 299). Was die Menschen wiederum dem Affen Rotpeter antun, zeugt von außerordentlicher Brutalität. Abermals konsultiere man dazu Nietzsche: »Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden« (KSA 5, S. 302; Hervorh. d. Verf.). Die Wahrheit dieses Satzes würde sicher auch der Affe Rotpeter unterschreiben, sofern sein eigener Leib zum Schauplatz dieser äußerst schmerzhaften Wahrheit gemacht wird. Dabei entsteht ein desaströses Bild vom Menschen, der im Wesentlichen als enorm grausam, sadistisch und aggressiv erscheint: Zuerst schießt man zweimal auf den Affen, um ihn zu fangen (BA, S. 301). Nietzsche zufolge bedarf es eines solchen primordialen Gewaltaktes zur Erhebung über die eigene Natur, bedarf es »einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen […]« (KSA 5, S. 323). Von den Schüssen bleiben dem Affen zwei ihn zeichnende Narben zurück, deren eine ihm seinen Namen Rotpeter einträgt und deren andere sein sexuelles Vermögen ein-
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schränkt. Auf dem Schiff wird er in einen zu engen Käfig gesperrt, in dem er sich wund scheuert. Die Situation im Käfig vermittelt zugleich ein anschauliches Bild davon, dass er hier bereits in einen Zwischenraum zwischen Natur und Kultur eingetreten, dass er also nicht mehr ganz Affe, aber auch noch kein Mensch ist. »Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden Knien, […] während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten« (BA, S. 302). Rotpeter bietet damit genau jenes Bild vom Menschen, das Nietzsche in der Genealogie der Moral entworfen hatte als »dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man ›zähmen‹ will […]« (KSA 5, S. 323). Noch während seiner Gefangenschaft im Käfig beginnt Rotpeters Unterricht. Lernt er nicht schnell genug, zündet sein Lehrer ihn zur Strafe schon mal an: » [W]ohl hielt er mir manchmal die brennende Pfeife ans Fell, bis es irgendwo, wo ich nur schwer hinreichte, zu glimmen anfing, aber dann löschte er es selbst wieder mit seiner riesigen guten Hand; er war mir nicht böse, er sah ein, daß wir auf der gleichen Seite gegen die Affennatur kämpften und daß ich den schwereren Teil hatte« (BA, S. 310). Zur manifesten Niedertracht kommt schließlich die fast noch ärgere latente Bedrohung hinzu, welche die zum Text gehörigen Erzählentwürfe namhaft machen: »Ihr Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeutenden Husten gemischt«40 – Schießen, verletzen, verstümmeln, einsperren, peitschen, anzünden und dressieren: im Verein mit schlechten Umgangsformen sind das die wenig erfreulichen Aktivitäten, aus denen sich das Bild vom Menschen zusammensetzt. Es besteht kein Zweifel, dass hier die von Nietzsche identifizierte Bosheit am Werke ist, die dem Menschen als »Raubthier« seine Überlegenheit gegenüber dem »sonstigen Gethier« sichert. Auf der Erzähl- und Wertungsebene suggeriert der Text eine Höherentwicklung vom primitiven Urzustand hin zur sublimierten, kultivierten und elaborierten Lebensform, die sich im Künstlerdasein exemplarisch vollzieht. Was der Affe durch den Menschen erfährt, soll die Stufen der wachsenden Kultivierung und Zivilisierung markieren. Auf der erzählten Ebene aber handelt der Text ganz im Gegenteil von existentieller Gefährdung, von körperlichen und seelischen Verletzungen, von Verstümmelungen und nicht zuletzt von Identitätsberaubung. Das Erzählte muss demnach gegen das Erzählen erschlossen werden.41 Denn die sogenannte Kultur bil-
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Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe (Anm. 16). Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 384–399, hier S. 397. Vgl. dazu nochmals Reinhard Lettau: Erzählmodelle Kafkas (Anm. 31), S. 214. Ähnliches hat Peter U. Beicken im Blick, wenn er feststellt: »Jede dem Tiefsinn zuneigende
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det nicht das Resultat eines zwanglosen Lern- und Nachahmungsprozesses, sondern von Disziplinierung, Domestizierung, Dressur und schließlich Deformierung der vom Text als ›heilig‹ bezeichneten Natur (BA, S. 305). Über diesen Ursprung der Kultur aus dem Geist der Gewalt hat Nietzsche einen Passus in Jenseits von Gut und Böse eingefügt, der sich förmlich wie ein vorweggenommener Kommentar zu Kafkas Erzählung liest: »Fast Alles, was wir ›höhere Cultur‹ nennen, beruht auf Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz« (KSA 5, S. 166). Der Affe Rotpeter will aber nicht allein »höhere Cultur«: Über den Punkt bloßer Kultivierung hinaus strebt er das Künstlertum an.42 Doch indem er Künstler wird, entwickelt er sich in der Perspektive des Textes gleichzeitig zum naturfernen künstlichen Wesen, zur Unnatur. Kunst als höchste Ausdifferenzierung von Kultur erfordert offenbar die gänzliche Wendung gegen die Natur: sie ist folglich nur als Anti-Natur zu haben.43 Natur aber ist überhaupt das einzige Leitkonzept im Bericht, das nicht nur durchweg positiv konnotiert ist,44 sondern als Inbegriff der Vollkommenheit, gleichsam der Naturvollkommenheit vergegenwärtigt wird. Alle anderen, nämlich zivilisatorischen Leitkonzepte wie Sprache, Bildung, Wahrheit, Freiheit und Kunst verfallen der direkten oder indirekten Kritik und weisen den Menschen überdeutlich als »Mängelwesen« im Sinne Herders
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Interpretation muß zuerst die ironische Persiflierung der Menschenwelt durch den grotesk metaphorischen Affen einbeziehen, dessen penetrante Sucht zur Allerweltsweisheit nicht ohne die Intention ironischer Übertreibung und Relativierung durch den Autor verstanden werden kann« (P. U. Beicken: Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt a. M. 1974, S. 309). Bridgwater zufolge kennt die Tradition zwei Formen literarischer Funktionalisierung des Affen: Entweder repräsentiert er den gelehrten Narren oder den Künstler. Vgl. Patrick Bridgwater: Rotpeters Ahnherren, oder Der gelehrte Affe in der deutschen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 447–462, hier S. 448, 451. Kafkas Text, was Bridgwater überraschenderweise nicht wahrnimmt, verbindet offensichtlich diese beiden Traditionsstränge, indem er den Künstler Rotpeter vor den gelehrten Narren der Wissenschaft, allesamt gewesene Affen, vortragen lässt: »Ihr Affentum, meine Herren […] kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine« (BA, S. 300). Dass über die von Bridgwater benannten hinaus noch ganz andere »Ahnherren« infrage kommen, lässt Wilhelm Buschs Fipps der Affe erahnen. Vgl. dazu Astrid Lange-Kirchheim: Zur Präsenz von Wilhelm Buschs Bildergeschichten in Franz Kafkas Werk. In: Claudia Liebrand u. Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr (Anm. 33), S. 161–204, hier S. 162. Damit spiegelt Rotpeters Kunstverständnis die allgemeine Entwicklung der Kunst seit der Französischen Revolution. Vgl. Hans Robert Jauß: Kunst als Anti-Natur. Zur ästhetischen Wende nach 1789. In: Ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a. M. 21990, S. 119–156. Nicht zu Unrecht hat daher Hans H. Hiebel den latenten »Rousseauismus« des Textes hervorgehoben (H. H. Hiebel: Eine Anamorphose Oder: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Ein Bericht für eine Akademie. In: Ders.: Franz Kafka. Form und Bedeutung. Würzburg 1999, S. 59–80, hier S. 64).
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aus. Rotpeter mag am Ende seine Entwicklung als eine aus der Not geborene Erfolgsgeschichte verstanden wissen wollen;45 genau besehen aber berichtet er von der unablässig misshandelten, vom Menschen fast zu Tode gequälten Kreatur.46 Unter dieser Voraussetzung wiederum kann man allerdings mit einiger Bestimmtheit feststellen, um welche Art von Tier es sich beim Menschen handelt. Von skeptischer Anthropologie lässt sich demnach sowohl bei Nietzsche als auch bei Kafka sprechen, einer Skepsis, die sich im Gefolge Darwins und seines deutschen Platzhalters Ernst Haeckel entfaltet hat.47 Nichtsdestoweniger gibt es einen erheblichen Unterschied in den Präsentationsweisen, der zugleich als Kafkas Kritik an Nietzsches Position gedeutet werden kann. Denn Nietzsche redet in gewohnt launiger, polemischer, witziger, vor allem aber allgemeiner Form von der Bosheit des Menschen. Sein von Komik und ungeheuerlicher Verve geprägter Stil, dem Heinz Schlaffer jüngst in einer aufschlussreichen Studie noch einmal auf den Grund gegangen ist,48 fesselt den Leser nicht nur, sondern versetzt ihn auch in die Lage, aus großer Distanz alles von oben herab zu betrachten. Kafka ist ebenfalls ein Virtuose des Perspektivismus. Doch geht er ganz anders vor. Während Nietzsche mit großer Geste allgemein von der menschlichen Bosheit und Grausamkeit redet und sie womöglich noch als Ausweis der Stärke und Lebendigkeit würdigt, setzt Kafka sie konkret in Szene und führt damit anschaulich vor Augen, was Nietzsche lediglich insinuiert. Weil Kafka hierbei aber die diametral entgegengesetzte Perspektive wählt, nämlich diejenige der geschundenen Kreatur, die den Folterknecht
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Walter H. Sokel spricht von einer »Lebensrettungsgeschichte, einer success story« (W. H. Sokel: Der Realismus des Affen. In: Ders.: Franz Kafka. Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst. München, Wien 1964, S. 330–355, hier S. 341). Während Sokels Argumentation unter bestimmten Voraussetzungen noch plausibel ist, erscheint Bettina von Jagows Behauptung, Rotpeter gebe das »Beispiel eines gelungenen Ausbrechens aus der Macht der bestehenden Ordnung«, kaum nachvollziehbar (B. von Jagow: Rotpeters Rituale der Befriedung. Ein zweifelhafter »Menschenausweg«. Franz Kafkas Bericht für eine Akademie aus ethnologischer Perspektive. In: Zeitschrift für Germanistik 12 (2002), S. 597–607, hier S. 598). Dieser Einschätzung entspricht Peter U. Beickens ironischer Kommentar zur Forschungslage aus dem Jahr 1974: »Der Affe Rotpeter ist nicht nur von seinen Tierfängern malträtiert worden« (P. U. Beicken: Franz Kafka (Anm. 41), S. 307). Zu Kafkas Vertrautheit mit dem über Ernst Haeckel vermittelten Darwinismus vgl. Bianca Theisen: Naturtheater. Kafkas Evolutionsphantasien. In: Claudia Liebrand u. Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr (Anm. 33), S. 273–290, hier S. 273f. u. 287f. Vgl. außerdem Peter-André Alt: Franz Kafka (Anm. 2), S. 91f. Patrick Bridgwater: Rotpeters Ahnherren (Anm. 42), S. 458f. Andreas Kilcher u. Detlef Kremer: Die Genealogie der Schrift (Anm. 33), S. 61–63. Vgl. Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007.
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gleichsam von unten anblickt, verliert die Bosheit allen Charme.49 Die Komödie, die Nietzsche im »Kreislauf des Menschenthums« wahrnimmt, verwandelt Kafka in eine von satirischen Zügen geprägte Groteske, bei der es im Grunde nichts mehr zu lachen gibt.50
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In der Sensibilisierung für alltägliche Grausamkeiten erkennt im Übrigen Richard Rorty eine der vornehmsten Aufgaben der Literatur, wobei er zwar nicht Kafka als Beispiel wählt, wohl aber einen Autor in dessen unmittelbarem Gefolge, nämlich Vladimir Nabokov. Vgl. R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 62001, S. 229– 273. Rezeptionsästhetisch ist das Groteske, das vielfach ans Kreatürliche gebunden ist, durch eine ambivalente Wirkung charakterisiert, weil es Angst und Grauen, aber auch Lachen erzeugen kann – oder alles zusammen. Ob es noch etwas zu lachen gibt, hängt dann stark von der Perspektive ab. Vgl. zu diesem Kipp-Phänomen die hilfreichen Differenzierungen von Carl Pietzcker: »Die Verbindung von Lachen und Grauen unterscheidet das Groteske von dem Komischen und dem Tragischen. Das Komische bewirkt befreiendes und befreites Lachen, weil es den komischen Widerspruch löst und den Rezipienten auf den Boden einer fraglosen und selbstverständlichen Weltorientierung zurückführt, wo er sich gesichert fühlen kann. Das Groteske dagegen mischt dem Lachen Grauen bei, weil es das bisher Fraglose und Selbstverständliche angreift, nicht aber herstellt wie das Komische […]« (C. Pietzcker: Das Groteske (Anm. 29), S. 97f.).
Hans Rudolf Vaget
»Schicksalsgeist« Zu Thomas Manns Nietzsche-Rezeption in der Weimarer Republik I Am 4. November 1924 veranstaltete die Nietzsche-Gesellschaft München eine musikalische Feier zum Gedenken an den Philosophen, der am 15. Oktober 1924 achtzig Jahre alt geworden wäre. Man mietete für diese erste öffentliche Selbstdarstellung der 1919 gegründeten Gesellschaft den großen Odeonsaal, denn man hatte zwei prominente Mitwirkende gewonnen: den Schweizer Pianisten Edwin Fischer sowie Thomas Mann, der dem Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft angehörte und dessen neuer Roman, Der Zauberberg, ungeduldig erwartet wurde.1 Edwin Fischer eröffnete das Programm mit einem Choralvorspiel von Johann Sebastian Bach. Dem folgte Thomas Manns etwa fünfzehnminütige Rede über Nietzsche.2 Die Fortsetzung des Programms brachte Beethovens C-Moll-Klaviersonate Opus 111, die D-Moll-Suite von Händel sowie die beiden Balladen in G-Moll und As-Dur von Chopin. Über den Pianisten, der damals schon auf der Höhe seines Ruhmes stand, hatte Thomas Mann vorsorglich ein Kompliment in seine Rede eingeflochten, denn mit dem »geistigsten Meister« dieses auch von Nietzsche geliebten Instruments ist niemand anderes gemeint als Ed-
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Vgl. dazu Max Werner Vogel: Chronik des Nietzsche-Kreises. Versuch einer Rekonstruktion. Hg. v. Beatrix Vogel. München 2007, S. 21–25. Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher. 22 Bde. Hg. v. Heinrich Detering, Werner Frizen, Eckhard Heftrich u. Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2002ff. Bd. 15.1: Essays II, 1914–1926. Hg. u. textkrit. durchges. v. Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2002, S. 788–793. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle GKFA nachgewiesen. Zur Überschrift des Typoskripts vgl. den Kommentar von Hermann Kurzke (GKFA 15.2, S. 487). Die GKFA bietet den Text des Erstdrucks (vgl. Anm. 8), der um eine halbe Seite länger ist als der in den Gesammelten Werken in dreizehn Bänden abgedruckte (Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 10: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M. 31990, S. 180–184; fortan zitiert unter Verwendung der Sigle GW). Herbert Lehnert hat mir dankenswerterweise Einblick gewährt in seinen Kommentar zu Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung für den im Entstehen begriffenen Band 19 der GKFA.
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win Fischer. Am Tag nach der Münchner Feier schrieb Thomas Mann an Ernst Bertram in Köln, der gleichfalls dem Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft angehörte: »Edwin Fischer konzertierte mit beängstigender Exzentrizität. Namentlich Chopin war toll. Nietzsche hätte ihn wohl umarmt«. Er fügte hinzu, der Saal sei »dicht gefüllt« gewesen, und Friedrich Würzbach, der Vorsitzende der Gesellschaft, habe vor Glück gestrahlt.3 Man würde nun erwarten, dass eine derart prominent besetzte und erfolgreiche Veranstaltung in der führenden Tageszeitung der Stadt, den Münchner Neuesten Nachrichten (MNN), ein Echo gefunden hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zweifellos handelt es sich dabei um einen gezielten Affront. Dafür sind mindestens zwei Gründe geltend zu machen. Der eine war rein politischer Natur. Thomas Mann war den politisch tonangebenden Kreisen Münchens, den Süddeutschen Monatsheften und den MNN, seit etwa zwei Jahren ein Dorn im Auge. Der führende Kopf dieser national-konservativen Kreise war Nikolaus Cossmann, der mit den propagandistisch sehr wirksamen Schlagworten vom ›Dolchstoß‹ und der ›Kriegsschuldlüge‹ auf breite Zustimmung stieß. Cossmann war jüdischer Abkunft; er konvertierte zum Katholizismus und galt vielen als ein ›Gralshüter des Deutschtums‹, ohne dass ihn dies während der Hitler-Herrschaft vor Verfolgung geschützt hätte; er kam 1942 in Theresienstadt um. Mit seinem Aufruf zur Unterstützung der Weimarer Republik vom Oktober 1922 hatte Thomas Mann in den Augen Cossmanns und seiner Freunde eine politische Felonie begangen. Seither ging man zu dem ehemaligen vermeintlichen Gesinnungsgenossen auf Distanz und versuchte seine Stellung auf der kulturellen Szene Münchens zu untergraben. Es entspann sich ein publizistischer Kleinkrieg, der in der giftigen Pressefehde von 1928 – Stichwort ›Flieger-Tröpfe‹ – kulminierte und in dem notorischen Protest der Richard-Wagner-Stadt München vom April 1933 sein trauriges und folgenreiches Nachspiel hatte.4 Was aber die Münchner Neuesten Nachrichten betrifft, so schrieb Thomas Mann schon 1929: »Dies Blatt ist der Krebsschaden Münchens, der Hauptschuldige an seinem Niedergang und seiner Isolierung«.5
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Postkarte an Ernst Bertram, 4. November 1924. In: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. Hg. v. Inge Jens. Pfullingen 1960, S. 131. Vgl. dazu vor allem Albert von Schirnding: Konflikt in München. Thomas Mann und die treudeutschen Männer der Süddeutschen Monatshefte. In: Dirk Heißerer (Hg.): Thomas Mann in München III. Vortragsreihe Sommer 2005. München 2005, S. 261–288. Klaus Harpprecht: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 614. Vgl. zudem den Abschnitt Johst, Hübscher und die Fliegertröpfe in Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München 1999, S. 360–363. Brief an Robert O. Held, 28. März 1929; Regesten 29/38.
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Der andere Grund war kulturpolitischer Natur. Die Münchner Nietzsche-Gesellschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Werke Nietzsches in der sogenannten Musarion-Ausgabe neu zu edieren. Dies musste unausbleiblich den Argwohn des Weimarer Nietzsche-Archivs erregen, das unter der Leitung der Schwester des Philosophen stand, Elisabeth FörsterNietzsches, einer sowohl philologisch als auch politisch schwer belasteten Figur, die zu allem Unglück auch aus ihrer Sympathie für Hitler schon lange vor 1933 keinen Hehl machte.6 Die MNN ignorierten nun aber den achtzigsten Geburtstag des Philosophen keineswegs, denn sie brachten zum 15. Oktober einen längeren Artikel aus der Feder der fatalen Schwester und nahmen damit für das Nietzsche-Archiv und die ihnen weltanschaulich näherstehende Schwester des Philosophen Partei.7 Thomas Manns kurze Rede wurde in Ariadne veröffentlicht, dem ersten und einzigen Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft.8 Obgleich er diesen Text in verschiedene Sammlungen seiner essayistischen Schriften aufnahm, fand er weder in der Literatur über Thomas Mann noch in der über Nietzsche viel Beachtung. In Steven Aschheims Überblick zu Nietzsches Wirkungsgeschichte in Deutschland kommt er nicht vor, ebenso wenig wie in Heinz Schlaffers vor Kurzem erschienenem Buch über Nietzsche und die Folgen.9 Durchaus kennzeichnend für diese Situation ist die Beschreibung dieser Ansprache in einem Kommentar zu Thomas Manns Essays. Dort heißt es: »eine kleine unverbindliche Rede«, die »nur andeutungsweise zum Ausdruck« bringt, »welch tiefgehenden Einfluß Nietzsche auf Thomas Mann ausgeübt hat, hauptsächlich in seinen jungen Jahren«.10 Von der
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Zu dem leidigen Thema Nietzsche-Archiv vgl. Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany, 1890–1990. Berkeley 1992, S. 45–50. Carol Diethe: Nietzsche’s Sister and the Will to Power. Urbana, Chicago 2003, insbesondere die Kapitel The NietzscheArchiv in the 1920s, S. 140–150, und Heil Hitler, S. 150–159. Der werdende Nietzsche. Zum 80. Geburtstag des Philosophen am 15. Oktober von Dr. h. c. Elisabeth Förster-Nietzsche. In: Münchner Neueste Nachrichten, 15. Oktober 1924. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine umfängliche Selbstanzeige der Kompilation Förster-Nietzsches von Nietzsches frühen autobiographischen Aufzeichnungen (Elisabeth Förster-Nietzsche (Hg.): Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen. München 1924). Thomas Mann: Rede gehalten zur Feier des 80. Geburtstages Friedrich Nietzsches. In: Ariadne. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft. München 1925, S. 122–126. Diesem Text hat Hermann Kurzke eine Betrachtung gewidmet: Selbstüberwindung. Thomas Manns Rede zu Nietzsches 80. Geburtstag und ihre Vorgeschichte. In: Kevin Hilliard (Hg.): Bejahende Erkenntnis. Festschrift für T. J. Reed. Tübingen 2004, S. 163–174. Dieser Beitrag befasst sich überwiegend mit der Vorgeschichte der Nietzsche-Rede, insbesondere mit den Betrachtungen eines Unpolitischen. Vgl. Steven Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany (Anm. 6). Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007. Thomas Mann: Aufsätze, Reden, Essays. Hg. u. m. Anmerkungen versehen v. Harry Matter. Bd. 3: 1919–1925. Berlin, Weimar 1986, S. 834.
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Bedeutung Nietzsches für sein Werk hat Thomas Mann ausführlich in den Betrachtungen eines Unpolitischen und später im Lebensabriß gehandelt. Die Gedächtnisrede von 1924 gehört jedoch nicht in die Kategorie der autobiographischen Rechenschaftsberichte; sie verfolgt einen ganz anderen Zweck: nicht einen persönlichen, sondern einen öffentlichen. Es geht weniger um Thomas Manns Weg als um den Weg, den Deutschland nehmen soll. Diese Rede markiert somit den Punkt, an dem der Schwerpunkt von Thomas Manns passioniertem Interesse an Nietzsche sich von der Ästhetik auf die Politik verlagerte. Es spricht viel dafür, dass die Rede von 1924 an einen Gedanken anknüpft, der bereits in den Betrachtungen eines Unpolitischen anklingt, ohne dort weiter ausgelotet zu werden. Es ist die Vorstellung von Nietzsche als dem »größte[n] Schicksalsgeist des neuen Deutschlands« (GW 12, S. 283). Thomas Mann attestiert Nietzsche an dieser Stelle ein »doppelzüngiges, doppelherziges Verhalten« hinsichtlich des Fortschritts im Sinne des »Zivilisationsliteraten«, also auch im Hinblick auf die entschieden abzulehnende Demokratie. Nietzsche habe diesen Fortschritt im politisch-gesellschaftlichen Sinne zwar nicht gewollt, doch habe er ihn »zweifellos gefördert«; er habe ihn »meinungsweise« bekämpft und ihm »tatweise«, zum Beispiel durch die Stärkung und Verbreitung eines kritischen Geistes, Vorschub geleistet (GW 12, S. 284). Was mit »Schicksalsgeist des neuen Deutschlands« genau gemeint ist, bleibt hier noch dunkel. Näheren Aufschluss darüber gibt jedoch die Gedächtnisrede von 1924, wenn wir uns die Mühe machen, die verschiedenen Kontexte auszuleuchten, in die dieser Text zu stehen kam. Zu fragen ist also nach dem Ort dieser Nietzsche-Deutung in der deutschen Nietzsche-Rezeption, nach ihrem zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Stellenwert und schließlich nach ihrer Bedeutung im Werk Thomas Manns. II Wir beginnen mit der Beobachtung, dass die Rede einen eher lyrischen als analytischen Charakter hat und trotz ihrer Kürze keineswegs aus einem Guss ist. Sie stützt sich einerseits auf Ernst Bertrams großes NietzscheBuch von 1918, andererseits zitiert sie einen gewichtigen Passus aus dem Grammophon-Kapitel des Zauberberg, der zum Zeitpunkt der NietzscheRede noch nicht vorlag. Thomas Mann verwendet hier eine Stelle aus der berühmten Meditation über den mächtigen, doch gefährlichen Seelenzauber der Musik der deutschen Romantik von Schubert bis Wagner. Der ihr zugrunde liegende Gedankengang lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen:
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Wenn wir heute das Andenken Nietzsches mit Musik begehen, so habe das seinen guten Sinn, denn im Grunde sei er Musiker gewesen, und zwar in dem umfassenderen Sinn, dass sein Philosophieren eine Art Erkenntnislyrik sei, vorgetragen in einer Prosa von bis dahin ungekannter Virtuosität. In dieser Erkenntnislyrik seien Musik und Kritik verschränkt, wobei die Musik – wie eine ungetreue Geliebte, die einem Zweifel macht – den eigentlichen Unruheherd darstelle. Da aber Kritik Scheidung und Entscheidung verlange, werde bei Nietzsche auch die Musik kritischen Entscheidungen von weit reichenden Konsequenzen unterworfen. Nietzsches herausragende Bedeutung bestehe gerade darin, dass er »die höchsten Entscheidungen seines Geistes und seiner Seele« (GKFA 15.1, S. 789) mit dem Blick auf die Musik traf, wobei Musik weniger als diese oder jene Komposition denn als ein verführerischer, »seelische[r] Machtkomplex« zu denken sei. Dieser ganze psychologische Komplex sei deshalb so mächtig, weil darin das Romantische und das Musikalische verschmolzen sind. Nietzsche begegnete diesem Seelenzauber, dem »paradoxe[n] und ewig fesselnde[n] Phänomen welterobernder Todestrunkenheit« (GKFA 15.1, S. 790), in Richard Wagner und nirgends vollendeter als in Tristan und Isolde. Diesem mächtigen Seelenzauber gegenüber habe Nietzsche großes innerliches Heldentum bewiesen, indem er gegen Wagner Stellung nahm, den er trotz allem geliebt und verehrt habe. So stehe er vor uns als ein heroischer Selbstüberwinder und sittlicher Meister. Als solcher tauge er den Deutschen von 1924 weit besser als Vorbild denn der große Seelenzauberkünstler selbst. Während nämlich Wagner sich uns als der »unendlich bezaubernde Vollender einer Epoche« darstelle, dürfen wir in Nietzsche einen »Führer in die Zukunft« erblicken, einen »Lehrer der Überwindung« (GKFA 15.1, S. 790), das heißt der uns dringend gebotenen Überwindung der Romantik. Es sei nämlich gerade die Romantik in einem umfassenden Sinne, die unsere geistig-seelische Gesundheit bedrohe wie eine überreife, schon verfaulende Frucht, welche die »reinste Labung des Gemütes« sein mag, »wenn sie im rechten Augenblick genossen« wird. Dieselbe Frucht aber verbreite »Fäulnis und Verderben« (GKFA 15.1, S. 791), wenn sie im unrechten Augenblick gegessen wird. Zweifellos ist dieses Bild von der Verderben bringenden Frucht auf Wagner zu beziehen, der abschließend und bündig als »imperiale[r] Romantiker[-]« bezeichnet wird (GKFA 15.1, S. 792). Wenn hingegen Nietzsche uns heute als Wegweiser in die Zukunft dienen könne, in eine Epoche neuer »Lebensfreundschaft« (GKFA 15.1, S. 791), so aufgrund seiner heroischen Selbstüberwindung, die immer etwas von Verrat an sich gehabt habe. Nietzsche aber könne und solle heute Vorbild sein, gerade weil er zum Judas geworden ist. Betrachten wir diesen Text zunächst als Zeugnis der deutschen Nietzsche-Rezeption. Thomas Mann gibt selbst zu erkennen, dass die Konturen
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dieses Nietzsche-Bildes von Ernst Bertram vorgezeichnet sind. Dessen Nietzsche. Versuch einer Mythologie war gleichzeitig mit den Betrachtungen eines Unpolitischen und im wechselseitigen Gedankenaustausch mit Thomas Mann entstanden. In seiner Rede von 1924 nennt er Bertrams Nietzsche das »schönste[-]« Buch über ihn und bezieht sich namentlich auf das Kapitel Judas, das von dem Verhältnis zu Wagner handelt (GKFA 15.1, S. 792). Hier ist daran zu erinnern, dass Bertram der Gestalt des Judas, gestützt auf die äußerst zwiespältige Tradition der Judas-Legende, eine revisionistische, das heißt exkulpatorische Deutung angedeihen lässt. Er evoziert jene Tradition der Judas-Interpretation, der zufolge Judas sich bewusst opfert, »im Wissen, daß die Schrift erfüllt werden muß und daß, tut er das Vorbestimmte nicht, das Erlösungswerk ungeschehen bleibt«. So gesehen stehe Judas »geradezu als die zweite Waagschale im großen Werk der Erlösung« vor uns.11 Darüber hinaus schöpft Thomas Mann aus dem Kapitel Arion, das von der Bedeutung der Musik für Nietzsche handelt. Von dort stammt die Kennzeichnung von Nietzsches Schriften als »Erkenntnislyrik«, die »zufällig nicht mit Noten, sondern mit Worten geschrieben« sei.12 Völlig konform schreiben beide Autoren der Musik für Nietzsche die zentrale, lebensbestimmende Rolle zu. Dabei betont Bertram die »innere Musikalität« und tiefe »Musikverwandtschaft«, welche die Seele Nietzsches mit der deutschen Seele gemeinsam hat.13 Nietzsches Verhältnis zur Musik war das einer Passion im doppelten Sinne; denn es war seine »wahrhaft verzehrende Musikleidenschaft«, die ihn in Ecce homo zu dem Bekenntnis veranlasste, er leide »am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde«.14 Aus diesen und ähnlichen Charakterisierungen destillierte Thomas Mann eine Formulierung, die er in seiner kurzen Rede gleich zweimal verwendet, nämlich dass Nietzsche »die höchsten Entscheidungen seines Geistes«, seiner Seele und seines Gewissens an die Musik geknüpft habe (GKFA 15.1, S. 789, 792). Dieser Satz weist nun aber auf verdeckte Weise über Bertram hinaus, denn die hier gemeinte Gewissensentscheidung ist auf einen Bereich zu beziehen, den Bertram absichtlich außer Acht lässt: die aktuelle politische Situation Deutschlands.
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Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918, S. 143. Ebenda, S. 103 u. 105. Ebenda, S. 102. Ebenda, S. 120. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner. GötzenDämmerung. Nachgelassene Schriften: Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. München 1980, S. 357. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen.
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Steven Aschheim hat sowohl Bertram als auch den Thomas Mann der Betrachtungen demselben großen Trend der Nietzsche-Rezeption zugeordnet: dem Trend zur Politisierung und Germanisierung des Philosophen. Beide evozieren in ihren Kriegsbüchern ein Nietzsche-Bild, dem zweifellos eine im weiteren Sinne politische Bedeutung eingeschrieben ist. Hier sind jedoch wichtige Unterscheidungen zu treffen. Bertram konstruiert eine Mythologie, in der Nietzsche ein durch und durch nordisches und protestantisches Heldentum verkörpert, von dem das ersehnte Heil für Deutschland zu erwarten ist, da er durch die profundeste Affinität zur Musik mit der innersten Seele des Deutschtums verbunden sei. Nietzsche figuriert hier als eine Neuauflage des Dürer’schen Ritters, der trotz Teufel und Tod seinen Weg geht.15 Es ist der Weg aus einer tiefen geistigen und kulturellen Malaise heraus zu den erst erahnten elysischen Feldern einer neuen Zeit deutscher Größe und kultureller Vorherrschaft.16 Wie zu sehen, verdankt sich Bertrams Nietzsche-Bild einer abgehobenen, metapolitischen Betrachtungsweise, in der biographische und historische Gegebenheiten eine gänzlich ephemere Rolle spielen. Thomas Mann stand diesem Nietzsche-Bild zunächst mit kritikloser Bewunderung gegenüber. Nach der ersten Lektüre empfand er Bertrams Nietzsche, wie das Tagebuch belegt, als »mein Buch«.17 Er bildete sich ein, dass Tonio Kröger und Der Tod in Venedig dieser Nietzsche-Mythologie gleichsam vorgearbeitet hätten, und er empfand Stolz auf Bertrams Werk, »als wärs ein Stück von mir«.18 Mit ähnlich unbedachtem Enthusiasmus reagierte er zunächst auch auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, bevor er dessen weltanschauliche Verwerflichkeit, das heißt seinen historischen Determinismus durchschaute. Mit Bertram dauerte der Prozess der Ernüchterung etwas länger. In einem Brief an Ernst Robert Curtius vom 5. September 1929 konstatiert Thomas Mann, dass Bertram »sich völlig von mir getrennt zu haben scheint« – ein Vorgang, der wohl 1922 einsetzte und sich über mehrere Jahre erstreckte. »Es war zuletzt«, heißt es dort weiter, »ein stiller Wettstreit, wer zuerst die Geduld verlöre. Er hat – soll ich sagen: gewonnen?«.19
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Dass Bertram mit der Heroisierung Nietzsches und seiner Stilisierung zu einem Ritter, der weder Tod noch Teufel fürchtet, dem völkischen Rassismus vorgearbeitet hat, belegt das Buch von Hans F. K. Günther: Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke. München 21924 (zuerst 1919). Der Autor avancierte im Dritten Reich zum »Rassegünther« und »Rassepapst«, von dessen Schriften sich Heinrich Himmler inspirieren ließ. Vgl. dazu George L. Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich. New York 1964, S. 206–209. Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1979, S. 6 (14. September 1918). Ebenda, S. 9 (18. September 1918). Brief an Ernst Robert Curtius, 5. September 1929 (unveröffentlicht), N29/11.
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Möglicherweise war es die anfängliche Freundschaft mit Bertram, seine Hochachtung vor dem Germanisten und George-Verehrer, die Thomas Mann in seinem Enthusiasmus über ihre brüderliche Affinität vergessen ließ, dass das Nietzsche-Bild der Betrachtungen keinesfalls mit dem Bertrams zur Deckung zu bringen ist. Während Nietzsche bei Bertram völlig germanisiert und entfranzösisiert erscheint, behält er bei Thomas Mann seine europäischen und kosmopolitischen Züge. Während Bertram die zahllosen deutschlandkritischen Äußerungen Nietzsches bagatellisiert und als eine Form von Selbstopfer mystifiziert, bleibt für Thomas Mann die radikale Deutschland-Kritik ein unverzichtbares Organon seines Nachdenkens über Deutschland bis hin zum Doktor Faustus. Bertram eskamotiert in seinem Buch Nietzsches Leiden an Deutschland, doch eben dieses Leiden schickte sich an, auch für Thomas Mann lebensbestimmend zu werden. Und schließlich unterscheiden sich auch die Zielsetzungen ihrer metapolitischen Indienstnahmen Nietzsches. Bertram denkt in großen epochalen Zeiträumen. Manns Nietzsche-Bild ist in den Betrachtungen ganz auf den geistigen Waffengang in dem aktuellen Krieg zugeschnitten. Als der Ausgang dieses Krieges die Unhaltbarkeit seiner Sache erwiesen hatte, begann er den schmerzhaften Prozess der Revision seiner politisch-weltanschaulichen Orientierung. Damit setzte er den großen politischen Lernprozess fort, in den er sich mit den schrillen Kriegsschriften von 1914 verwickelt sah und der ihn bis zum Ende seines Lebens in Atem halten sollte. Einen vergleichbaren Lernprozess würde man bei Bertram vergeblich suchen. Die Spuren von Thomas Manns denkwürdigem politischen Lernprozess sind in dem Text von 1924 für heutige Leser durch die Rede über die Musik gleichsam überschrieben. Sie werden jedoch sogleich lesbar vor dem zeitgeschichtlichen Horizont, den Mann durch gezielte Anspielungen vor dem geistigen Auge seiner Zuhörer skizziert. Sobald dieser Bezug auf die Zeitgeschichte erkannt ist, stellt sich auch die Erkenntnis ein, dass ihm die Rede über die Musik lediglich zum Vorwand dient für den Versuch, im Lichte Nietzsches für eine neue, kritische Denkweise über Deutschlands Verhältnis zu seiner Musik zu werben. Es geht in dieser Rede somit weniger darum zu erklären, warum diese Nietzsche-Feier mit Musik begangen wird, als um die Frage, »was er [Nietzsche] uns heute bedeutet«, und »in welchem Punkte namentlich wir ihn, eben jetzt […] als unsern sittlichen Meister empfinden« (GKFA 15.1, S. 788). Wie zu sehen, betont Thomas Mann die Wörter »heute« und »jetzt« und wiederholt sie an anderer Stelle, um klarzumachen, dass er nicht etwa, wie Bertram, ein künftiges deutsches Reich im Sinne hat, sondern das gegenwärtige Deutschland der Weimarer Republik im fünften Jahr ihrer vielfach bedrohten Existenz. An was er dachte, wenn er sich auf »heute« und »jetzt« bezog, geht ohne Weiteres aus den Briefen und essayistischen Schriften jener Jahre her-
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vor. Hier ist in erster Linie das Attentat auf den deutschen Außenminister Walther Rathenau im Juni 1922 zu nennen; dem war im August 1921 das Attentat auf Mathias Erzberger vorangegangen. Beide waren als sogenannte ›Erfüllungspolitiker‹ verteufelt worden; in beiden Fällen war die Weimarer Republik das eigentliche Ziel der Attentäter, die aus dem Milieu der rechtsradikalen Republikgegner stammten. Am 9. November 1923 erfolgte mit dem Hitler-Putsch ein weiterer Anschlag auf die Republik. Dies geschah praktisch vor Thomas Manns Haustür in München, einer Stadt, von der er schon im Juni 1923 in einem seiner Kulturberichte für die amerikanische Zeitschrift The Dial schrieb, es sei »die Stadt Hitlers« geworden, »die Stadt des Hakenkreuzes, dieses Symbols völkischen Trotzes […]« (GKFA 15.1, S. 694). Zu dieser politischen Drohkulisse gehört auch die Wiederaufnahme der Bayreuther Wagner-Festspiele im Sommer 1924, bei denen sich die Republikgegner von rechts ein viel beachtetes Stelldichein gaben, nachdem Houston Stewart Chamberlain und Winifred Wagner Hitler als die ersehnte Erlöserfigur, den neuen Parsifal, identifiziert und ihren Anhängern ans Herz gelegt hatten. Dies war das erste Mal, dass Hitler durch eine angesehene Instanz des deutschen kulturellen Lebens legitimiert wurde. So antwortete Thomas Mann, selbst ein passionierter Wagnerianer, auf die Frage, was ihm Bayreuth bedeute, auf uncharakteristisch kurz angebundene Art: »Bayreuth, wie es sich heute darstellt, interessiert mich gar nicht, und ich muß glauben, auch die Welt wird es nie wieder interessieren« (GKFA 15.1, S. 787). Wenig später beschreibt er die »Restaurationsversuche[-] Bayreuths« als den Versuch, Wagner »als Schutzherr[n] einer höhlenbärenmäßigen Deutschtümelei« zu missbrauchen (GKFA 15.1, S. 1022). Wenn Thomas Mann sich auf »heute« und »jetzt« bezieht, so ist damit auch eine Publizistik und eine Mentalität gemeint, die dem Autor der Betrachtungen das Bekenntnis zur Republik vom Oktober 1922 als Verrat ankreidete. Der von ihm zunächst umworbene Hanns Johst, der von 1922 an sein Feind war und im Dritten Reich eine große Karriere machte, brachte die Enttäuschung der Republikgegner auf den Punkt, als er im November 1922 in der München-Augsburger Abendzeitung schrieb, Thomas Mann habe »sein Deutschtum an die Zeit verraten«.20 Manns Münchner Widersacher, also Nikolaus Cossmann und seine republikfeindlichen Gesinnungsgenossen, versuchten ihm daraus einen Strick zu drehen, was ihnen unter den neuen politischen Vorzeichen von 1933 schließlich auch gelang. Es ist nun überaus bezeichnend für Thomas Manns seismographisches Gespür und seine spezifischen Interessen als Chronist des deutschen Bürgertums, dass er die politische Bedrohung der Weimarer Republik nicht
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Zitiert nach Meike Schlutt: Der repräsentative Außenseiter. Thomas Mann und sein Werk im Spiegel der deutschen Presse, 1898–1933. Frankfurt a. M. 2002, S. 179.
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etwa auf ökonomische oder politische, sondern auf psychologische und mentalitätsgeschichtliche Faktoren zurückführt. Woran Europa, das heißt in erster Linie Deutschland, krankt, so argumentiert er in der NietzscheRede, ist ein »lebensgefährliche[s] Zuviel von historischer Frömmigkeit« und »aristokratischer Todesverbundenheit, die es bezwingen muß, wenn anders es sich nicht zu vornehm für das Leben dünkt und zu sterben entschlossen ist« (GKFA 15.1, S. 792). Für jenes »Zuviel an historischer Frömmigkeit« steht im Zauberberg, in den weit ausgreifenden Erzählerreflexionen im Anschluss an Schuberts Lindenbaum-Lied – also gerade jener Passage, aus der in der Nietzsche-Rede zitiert wird –, der tiefer greifende Begriff der »Rückneigung« (GKFA 5.1, S. 989).21 Diese Rückwärtsgewandtheit wird als der schädlichste Erreger einer heillosen, geistig-seelischen »Krankheit« diagnostiziert. Über die Auswirkung von Hans Castorps »Rückneigung« heißt es im Roman, »daß sein Schicksal sich anders gestaltet hätte, wenn sein Gemüt den Reizen der Gefühlssphäre, der allgemein geistigen Haltung, die das Lied auf so innig-geheimnisvolle Weise zusammenfaßte, nicht im höchsten Grade zugänglich gewesen wäre« (GKFA 5.1, S. 987). Auch Deutschlands Schicksal hätte sich anders gestaltet, wäre es in jenen Jahren nicht einer kollektiven Rückneigung erlegen. Die Wahl des populären Kriegshelden Paul von Hindenburg, des ›Siegers von Tannenberg‹, zum Reichspräsidenten im Jahre 1925 erschien Thomas Mann als ein solcher Fall von kollektiver Rückneigung. Kurz vor der Wahl bezeichnete er in einem Brief die Anhänglichkeit der Deutschen an Hindenburg kurz und bündig als »Lindenbaum«.22 Wir haben hier ein besonders erhellendes Beispiel für Manns Überzeugung, dass musikalische Präferenzen politische Implikationen mit sich führen – dass der Seelenzauber der deutschen Musik von Schubert bis Wagner unweigerlich finstere Konsequenzen zeitigt, wenn ihm nach Ablauf seiner historischen Stunde gefrönt wird. Wie finster sich diese Konsequenzen erweisen sollten, ist daraus zu ersehen, dass es Reichspräsident Hindenburg war, der Hitler den Zugriff auf die Macht im Staat erleichterte und ihm am Tag von Potsdam die erschwindelten historischen Weihen verlieh. Die im Zauberberg und der Nietzsche-Rede vorgetragene Diagnose einer Mentalität der »Rückneigung« – das Symptom einer Krankheit der Nation – ist in einem fast gleichzeitigen Essay ins Philosophisch-Allgemeine gewandt und auf den Punkt gebracht. In jenem Essay, Die Ehe im Übergang, heißt es: »Das Schlimmste und Falscheste aber in allen Stücken ist
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Vgl. hierzu Erkme Joseph: Nietzsche im Zauberberg. Frankfurt a. M. 1996, insbesondere S. 276–285. An Julius Bab, 23. April 1925. Thomas Mann: Briefe I, 1889–1936. Hg. v. Erika Mann. Berlin 1965, S. 329.
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Restauration. Die Zeit, der vor sich selber graut, ist voll von Restaurationsverlangen, von Velleität der Rückkehr […]. Umsonst, es gibt kein Zurück. Alle Flucht in lebensleer gewordene historische Formen ist Obskurantismus; alles fromme ›Verdrängen‹ der Erkenntnis schafft nur Lüge und Krankheit« (GKFA 15.1, S. 1043f.). Zur selben Thematik bemerkt Thomas Mann in einem Brief von 1929: »München hat mich verdorben. Wer hier lebt, dem wird himmelangst wenn er das Wort ›Restauration‹ hört«.23 III Was Thomas Mann über die Macht jenes Seelenzaubers schreibt, das gilt in vollem Maße auch für ihn selbst. Von dem Seelenzauber der deutschen romantischen Musik heißt es ja: »Wir alle waren seine Söhne« (GKFA 5.1, S. 990), das heißt nicht nur Hans Castorp, nicht nur die Leser des Romans oder die Zuhörer im Odeonsaal, sondern auch der Zauberberg-Autor selbst. Was er in den Betrachtungen an Wagner so unwiderstehlich fand, was ihn Wagner die »Heimat seiner Seele« nennen ließ (GW 12, S. 80), war jene »welterobernde Todestrunkenheit« des Tristan, die er in der Nietzsche-Rede noch einmal beschwört, um sie zu verabschieden.24 Im Dunstkreis dieser wohl morbidesten Blüte der Romantik hatte sich Thomas Mann seit den Wagner-Orgien seiner ersten Münchner Jahre einer seelischen Disposition überlassen, die im Zauberberg als »Sympathie mit dem Tode« figuriert (GKFA 5.1, S. 988 u. ö.). Sie wird als eine gefährliche, weil lebensfeindliche Mentalität gekennzeichnet, die zu überwinden eine Forderung der historischen Stunde geworden war. Lange Zeit schien er nicht müde werden zu wollen, sich mit jenem Behagen zu identifizieren, das der junge Nietzsche an Wagner und Schopenhauer empfunden hatte. Was ihm behagte, war »die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc.«.25 Bezeichnenderweise fand er die »metaphysische Stimmung von Kreuz, Tod und Gruft« auch in dem Werk wieder, dem er in den Betrachtungen ein glänzendes Denkmal gesetzt hatte: Hans Pfitzners großer Künstleroper Palestrina. Ausdrücklich begründet er seine Liebe zu dieser »musikalischen Legende« (GW 12, S. 407) damit, dass darin »Sympathie mit dem
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An Ernst Robert Curtius, 5. September 1929 (unveröffentlicht). Vgl. hierzu die Passagen über das Faksimile der Tristan-Partitur im sechsten seiner Briefe aus Deutschland [VI] (GKFA 15.1, S. 1010–1012). Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 2: Kindheits-, Schul- und Universitätszeit. September 1864 – April 1869. München 1986, S. 322. Vgl. Manns Brief an Ernst Bertram vom 3. April 1917 (GKFA 22, S. 184 sowie S. 680f.).
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Tode« herrsche (GW 12, S. 423f.). Es hat somit seine tiefe biographische Stimmigkeit und historische Richtigkeit, dass die Selbstüberwindung der Romantik, die bei Nietzsche die Form einer Abkehr von Wagner genommen hatte, bei dem Zauberberg-Autor die Form eines Abschieds von Pfitzner nahm. Der Komponist, der mit Cossmann befreundet und Mitherausgeber der Süddeutschen Monatshefte war, machte in seinem Brief vom 18. Juni 1925 selbst darauf aufmerksam, dass Thomas Manns »politische Umstellung« einen Graben zwischen ihnen aufgerissen habe.26 Dieser selbst gab in seinem großen Antwortbrief ihrer Entfremdung einen glänzenden Nietzsche’schen Anstrich. Dazu zitiert er aus der Nietzsche-Rede von 1924 jenen Passus, wo Wagner, der »Selbstvollender«, mit Nietzsche, dem »Seher und Führer in eine neue Menschenzukunft«, kontrastiert wird. Wie Nietzsche sei er selbst zum Judas geworden, und zwar aufgrund eines »Gewissensurteil[s]« und aus dem »Gefühl einer Verantwortung«, das in einem Schriftsteller nun einmal stärker ausgeprägt sein mag als in einem Musiker. Somit sei das Drama ihrer Künstlerfreundschaft und ihrer Entfremdung lediglich als »eine journalistisch-aktuelle Durchführung des Falles Nietzsche contra Wagner« zu betrachten.27 Thomas Mann wusste sehr wahrscheinlich von Pfitzners Sympathien für Hitler, seit dieser dem Komponisten im Frühjahr 1923 im Schwabinger Krankenhaus einen Besuch abgestattet hatte.28 Vor diesem Hintergrund ist das trefflich platzierte Zitat aus der großen Szene von Wotans Abschied in Die Walküre zu interpretieren. Thomas Mann schreibt: »Du folgtest selig der Liebe Macht«. Pfitzner konnte sich unschwer die Fortsetzung dieser Anspielung aus dem Gedächtnis hersagen: »folge nun dem, den du lieben mußt«. Als Hitler seine Herrschaft antrat und eine opportunistische Allianz von Wagnerianern und Nazis den Zeitpunkt gekommen sah, Thomas Mann als undeutsch zu denunzieren – und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine JudasRolle29 – war Pfitzner einer der Unterzeichner des fatalen und schamvollen Protests der Richard-Wagner-Stadt München.30
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Hans Pfitzner: Briefe. Hg. v. Bernhard Adamy. Tutzing 1991, S. 405f. An Hans Pfitzner, 23. Juni 1925. In: Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955. Ausgewählt, kommentiert u. m. einem Essay v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt a. M. 22005, S. 246–248. Vgl. Johann Peter Vogel: Hans Pfitzner. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 106. Im Protest heißt es: »Herr Mann, der das Unglück erlitten hat, seine früher nationale Gesinnung bei der Errichtung der Republik einzubüßen und mit einer kosmopolitischdemokratischen Auffassung zu vertauschen, hat daraus nicht die Nutzanwendung einer schamhaften Zurückhaltung gezogen […]«. In: Im Schatten Wagners (Anm. 27), S. 234. Vgl. dazu meine Analyse des Protests: Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus als Politikum: Wagner, Hitler, Thomas Mann. In: Stefan Blechschmidt u. Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007, S. 369–385.
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Gehört die Münchner Rede über Nietzsche zu den unverzichtbaren Zeugnissen von Thomas Manns öffentlichem Wirken als Chronist und Repräsentant der deutschen Mentalitätsgeschichte, so ist ihre Bedeutung im Kontext des Gesamtwerks womöglich noch höher einzuschätzen. So unscheinbar dieser Text auf den ersten Blick auch erscheinen mag, er schlägt einen filigranen Bogen vom Zauberberg zum Doktor Faustus, den beiden Gipfelwerken seines Nachdenkens über Deutschland und seine Musik unter den kritischen Auspizien Nietzsches. Die Anknüpfung an den Zauberberg ist in dem Zitat aus dem Schluss des Grammophon-Kapitels am konkretesten zu fassen. Hier wie dort geht es um die potentiell finsteren Konsequenzen eines Seelenzaubers, wenn ihm zum historisch falschen Zeitpunkt gefrönt wird. In seiner Rede apostrophiert Thomas Mann zudem wiederholt Nietzsches »regierende[n] Geist« (GKFA 15.1, S. 788, 790). Dieser ungewöhnliche Wortgebrauch wird erst von der Gestalt des Hans Castorp her verständlich. Von diesem wird gesagt, dass er ›regiert‹, wenn er kritisch abwägt, was er von seinen Mentoren über das Leben, über Geist und Körper in Erfahrung gebracht hat. Das ferne Ziel solchen ›Regierens‹ ist, wie es in der Nietzsche-Rede heißt, »die ideelle und grundsätzliche Wendung vom Tode weg zum Leben« (GKFA 15.1, S. 792). Eine Verbindung zum Doktor Faustus stellt Beethovens Klaviersonate Opus 111 dar. Man darf vermuten, dass dem Faustus-Autor bei der Analyse gerade dieser Komposition im achten Kapitel des Romans die Erinnerung an den Vortrag dieser Sonate durch Edwin Fischer im Odeonsaal mit in die Feder geflossen ist. Im Übrigen liefert bekanntlich die Biographie Nietzsches das Gerüst für den Lebenslauf des fiktiven deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn. Mehr noch: Dieser Roman thematisiert die finsteren Konsequenzen der deutschen Musikverfallenheit, für die Thomas Mann durch Nietzsche zuerst sensibilisiert worden war und die seit dem Zauberberg noch viel finsterer geworden waren. In diesem konkreten Sinn ließe sich also sagen, dass die Musikthematik des Zauberberg im Doktor Faustus im Lichte der jüngsten historischen Erfahrung fortgeschrieben wird. So darf auch der große Essay über Nietzsche von 1947, Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung, als eine Fortsetzung des 1924 erkennbaren Nachdenkens über Nietzsche und seine Wirkung verstanden werden. Die bereits damals gestellte Frage nach Nietzsches Bedeutung für »uns heute« ist der gedankliche Motor auch des späteren Essays, nur dass »im Lichte unserer Erfahrung« diese Prüfung inzwischen einen um vieles dringlicheren und schmerzlicheren Charakter angenommen hatte. Die Frage, was uns Nietzsche 1947 bedeutet, war im Lichte der nationalsozialistischen Herrschaft, des zweiten Weltkriegs und des Massenmords an den Juden zu einem unabweisbaren Gebot der politischen und moralischen Verantwortung geworden. Anders jedoch als in der Rede von 1924 ist in dem Vortrag von 1947
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die Musik kein Thema; dieses war an den Doktor Faustus abgetreten und dort abschließend behandelt worden. Thomas Mann hat sich nicht ohne Stolz als Schüler Nietzsches empfunden; sein »Nietzsche-Erlebnis bildete«, wie er im Lebensabriß schrieb, »die Voraussetzung einer Periode konservativen Denkens« (GW 11, S. 110). Nach dem Bekenntnis zur Weimarer Republik sah er sich darüber hinaus in die Rolle des Erben gedrängt, der die Legitimität seiner Nietzsche-Nachfolge gegen manche falsche Erbansprüche zu behaupten hatte. Dies bescherte ihm eine Erfahrung, die zu jeder authentischen Nietzsche-Nachfolge zu gehören scheint und die ihn bis zum Ende begleitete: das Leiden an Deutschland. Die Legitimität seiner Nietzsche-Erbschaft erweist sich jedoch letztlich gerade darin, dass er gegenüber Nietzsche selbst auch zum ›Selbstüberwinder‹ wurde. Er tat dies keineswegs erst nach der Niederwerfung des Hitler-Regimes, wie gelegentlich behauptet wurde, auch nicht erst 1937, nachdem er von dem nationalsozialistischen Regime »definitiv vor die Tür gesetzt worden war«,31 sondern schon weit früher. Die ersten Spuren finden sich in der Odeon-Rede von 1924 in dem ambivalenten Verhältnis zu Bertrams Nietzsche, das bei aller vorhaltenden Bewunderung ein Abrücken von dessen enthistorisierter Nietzsche-Mythologie markiert. Die offen kritische, auf den Essay von 1947 vorausweisende Sicht auf seinen Mentor ›sans pareil‹ ist schon 1933 in den Leiden an Deutschland betitelten Auszügen aus dem Tagebuch deutlich zu erkennen. Es gehört zu Thomas Manns erhellendsten Einsichten zu Nietzsches Wirkungsgeschichte, wenn er bemerkt, dass immer dort, wo »der Geist sich gegen den Geist wendet«, wie in Nietzsches »Aufstand des Idealismus gegen den Idealismus«, der »Keim des Schlimmen« steckt; und »finstere[-] Möglichkeiten« des politischen »Mißbrauchs« tun sich auf, wenn, wie im Nationalsozialismus, »die Übertragung [einer] geistigen Revolution ins Wirkliche« versucht wird (GW 12, S. 697). Gerade diese historische Erfahrung bestärkte ihn in der Überzeugung, dass Nietzsches »Wagner-Polemik als das geistesgeschichtlich Wichtigste und Repräsentativste in seinem Werk«32 anzusehen sei, wie er am 30. Juli 1934 im Tagebuch notierte, und zwar in sehr bewusster Opposition gegen die gängige Reduzierung Nietzsches auf den ›Willen zur Macht‹. Es ist sicher kein Zufall, dass Thomas Mann am Tag nach dieser Affirmation des kritischen Nietzsche im Tagebuch den Plan
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So Børge Kristiansen in seinem Abriss Thomas Mann und die Philosophie. In: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 32001, S. 259–283, hier S. 273. Freilich ist Kristiansen zuzustimmen, wenn er schreibt: »[A]ber gerade der so zurechtgelegte Nietzsche hat für die Entwicklung des politischen Denkens bei Thomas Mann eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt« (ebenda, S. 269). Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1977, S. 488.
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erwägt, »über Deutschland zu schreiben, meine Seele zu retten in einem gründlichen offenen Brief an die Times, worin ich die Welt und namentlich das zurückhaltende England beschwören will, ein Ende zu machen mit dem Schand-Regime in Berlin […]« (31. Juli 1934).33 IV Wir kehren nun zu der eingangs gestellten Frage zurück: Inwiefern ist Nietzsche als »der größte Schicksalsgeist« (GW 12, S. 283) Deutschlands zu betrachten? Darauf lässt sich nun eine nuancierte Antwort geben. Für Nietzsche als Individuum war der Entschluss, »Wagnern den Rücken zu kehren«, wie er in Der Fall Wagner selbst versichert, »ein Schicksal« (KSA 6, S. 11). Thomas Manns Rede von 1924 geht von der Erkenntnis aus, dass das Gebot der Selbstüberwindung, unter dem sich Nietzsches Schicksal vollzogen hatte, auch für das Deutschland der Weimarer Republik ein Gebot der Stunde geworden war. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, die die Konzeption des Doktor Faustus mitbestimmte, nämlich dass Nietzsche mit seiner Passion für die Musik auch das Schicksal Deutschlands repräsentiert. Bezeichnenderweise sollte der große Nietzsche-Essay von 1947, der in mehr als einem Sinn ein Ableger des Romans war, ursprünglich den Titel Nietzsche und das deutsche Schicksal führen.34 Freilich sind im Lichte unserer Erfahrung bei alledem gewisse kritische Vorbehalte nicht zu unterdrücken. Thomas Manns denkwürdiger Versuch, unter Anrufung Nietzsches als eines ethischen und politischen Vorbilds die Weimarer Republik zu stärken und zu retten, gleicht im Rückblick betrachtet einer rührenden und ehrenwerten, aber aussichtslosen Donquichotterie. Die Aussicht, dass seine Aufforderung, nach dem Vorbild Nietzsches Selbstüberwindung zu praktizieren und der Romantik als einer rückwärtsgewandten Geistesverfassung abzuschwören, irgendeinen Erfolg haben würde, war von vorneherein sehr gering. Vieles sprach dagegen. Es mag hier genügen, zwei Gesichtspunkte zu nennen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass bei Nietzsche Selbstüberwindung beileibe nicht nur auf Wagner zu beziehen ist. Sie hatte für den Philosophen selbst einen weiter reichenden, auch sinistren Sinn. Er fordert letztlich die »fortgesetzte Selbstüberwindung des Menschen« um der »Erhöhung des Typus Mensch« willen; dieser soll uns ein »Führer« werden »weg von der Demokratie, weg von dem, was den socialistischen Tölpeln und
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Ebenda. Vgl. den Brief an Agnes E. Meyer vom 25. Dezember 1945 in Thomas Mann u. Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937–1955. Hg. v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt a. M. 1992, S. 653.
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Flachköpfen als ihr ›Mensch der Zukunft‹ erscheint« (KSA 1, S. 384). Somit musste der Versuch, Nietzsches Selbstüberwindung zu einer republikanischen Tugend umzufunktionieren, zwangsläufig scheitern, weil es abwegig ist, der Demokratie mit einem anti-demokratisch codierten Begriff wie »Selbstüberwindung« zu Hilfe kommen zu wollen. Dieser Versuch zeugt somit in höherem Maße von Thomas Manns gutem Willen – von der Velleität eines Neu-Republikaners – als von Einsicht in das Funktionieren des konkreten politischen Lebens. Zum anderen büßt Thomas Manns Aufruf, nach Nietzsches Vorbild Selbstüberwindung zu üben, jedes Mal etwas von seiner Glaubwürdigkeit ein, sooft er für seine Person konzedieren muss, dass Nietzsche nie wirklich losgekommen sei von Wagner. Auch ihm selbst wollte diese Selbstüberwindung nie richtig gelingen – weder im Hinblick auf Wagner noch im Hinblick auf Nietzsche.
Barbara Neymeyr
Identitätskrise – Kulturkritik – Experimentalpoesie Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften I. Die Identitätsproblematik im Kontext kritischer Kulturdiagnose Musil hat seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften als komplexes Experimentierfeld komponiert. Den Protagonisten Ulrich lässt er zwar wesentliche Tendenzen der Epoche repräsentieren, zugleich aber gestaltet er ihn als einen avantgardistischen Intellektuellen, der durch seine subversiven Diagnosen eine Sonderstellung im Figurenensemble einnimmt. So fällt der ›Mann ohne Eigenschaften‹ immer wieder durch seine unzeitgemäßen Betrachtungen auf. Seine Distanz zur Wirklichkeit, seine Opposition gegenüber Vertretern der traditionellen Gesellschaft und ihren Ideologien, seine Lust zur Provokation und sein Negativismus entspringen einer zukunftsorientierten Experimentierhaltung, die vom Möglichkeitssinn motiviert ist. Ulrichs Skepsis gegenüber gesellschaftlichen Rollen und persönlichen Bindungen, die zur Identitätsbildung beitragen könnten, führt dazu, dass er sich mit den Modellen der Identitätskonstitution, die er in seinem sozialen Umfeld wahrnimmt, kritisch auseinandersetzt. Schon hier zeichnen sich Affinitäten zur Philosophie Nietzsches ab. Denn Musils zentrale Fragestellung zielt auf die moderne Identitätskrise, die auch andere Autoren reflektierten, etwa Hofmannsthal, Schnitzler, Kafka und Benn.1 Bereits seit Nietzsches Attacke auf ein am Begriff des Individuums orientiertes Persönlichkeitskonzept und seit Freuds Psychoanalyse war die Identitätsproblematik zu einem Epochenthema geworden. Ernst Mach brachte die moderne Dezentrierung des Subjekts in seinem bekannten Fazit »Das Ich ist unrettbar«2 auf den Begriff. Musil, der nach seinem
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Zu Benns Nietzsche-Rezeption vgl. Barbara Neymeyr: Das »größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte«. Stationen der Nietzsche-Rezeption im Werk Gottfried Benns. In: Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Berlin, New York 2008, S. 477–496. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Gereon Wolters. Nachdruck der
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Barbara Neymeyr
Ingenieursexamen Philosophie und experimentelle Psychologie studierte, sich schon früh mit Nietzsche auseinandersetzte und über Ernst Mach promovierte, bildete in diesem kulturhistorischen Horizont sein literarisches Sensorium aus. Im Mann ohne Eigenschaften lässt er seinen Protagonisten Ulrich konstatieren: »Das Ich verliert die Bedeutung, die es bisher gehabt hat, als ein Souverän, der Regierungsakte erläßt« (GW 1, S. 474).3 Diese Aussage korrespondiert mit dem berühmten Diktum Sigmund Freuds, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«.4 Zugleich sind aber auch deutliche Affinitäten zu radikalen Thesen Nietzsches zu erkennen, der in der Götzen-Dämmerung die Begriffe Subjekt, Seele und Substanz als obsolet betrachtet und sie ad absurdum glaubt führen zu können, indem er ihren vermeintlichen Gegenstand als illusionär entlarvt: »das Ich […] ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen!«.5 In radikaler Abgrenzung von der philosophischen Tradition des Idealismus hält Nietzsche das Ich nur für »eine begriffliche Synthesis« (KSA 12, S. 32), die »nichts für eine reale Einheit verbürgt« (KSA 13, S. 258f.). Bei vergleichender Betrachtung treten die Analogien zwischen den von Mach, Freud und Nietzsche formulierten Prämissen markant hervor. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der folgende Gedankengang von Musils Romanprotagonisten, für den sich die Stabilität konventioneller Gewissheiten in einen Prozess permanenten Wandels auflöst, seine symptomatische Aussagekraft: Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, […] und die Gegenwart ist nichts als
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9. Aufl. Jena 1922 [zuerst Leipzig 1886]. Darmstadt 1991, S. 20. Für Mach ist das Ich »keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit« (S. 19), sondern lediglich ein »Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen« (S. 2). Er hält die »vermeintlichen Einheiten ›Körper‹, ›Ich‹« für bloße »Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung« (S. 10f.). Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978. Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 2: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. – Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle GW (mit arabischer Bandzahl) nachgewiesen. Sigmund Freud: Studienausgabe in zehn Bänden u. einem Ergänzungsband. Hg. v. A. Mitscherlich, A. Richards u. J. Strachey. Frankfurt a. M. 1982. Bd. 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 33–445, hier S. 284. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin, New York 1980. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle KSA nachgewiesen (Hervorhebungen Nietzsches in Gestalt von Kursivsetzung, Fettdruck oder Sperrung werden im Folgenden einheitlich durch Kursiva wiedergegeben); KSA 6, S. 91.
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eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. […] Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt […], fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber […] immer vorwärts führt. (GW 1, S. 250)
Aus der kritischen Subversion traditioneller Identitätstheorien durch Nietzsche, Mach und Freud zieht Musil insofern eine radikale Konsequenz, als er seinen ›Mann ohne Eigenschaften‹, der die Utopie authentischen Lebens entwirft und sich für das Experiment mit einer neuen, ›anderen‹ Identität entscheidet, am Ende in die Aporie geraten lässt. Auf welche Weise Musil in seinem Epochenroman mit Manifestationen der zeitgenössischen Identitätsproblematik experimentiert, erhellt aber nicht nur aus der spezifischen Konzeption des Protagonisten, sondern auch aus den Charakteristika anderer Figuren, von denen sich der ›Mann ohne Eigenschaften‹ distanziert. In besonderem Maße gilt dies für den Industriemagnaten Arnheim, der aufgrund seiner eitlen Selbstinszenierung als ›Persönlichkeit‹ zum Antipoden Ulrichs wird. Die ambitionierten Bemühungen dieses ›Großschriftstellers‹ um eine öffentlichkeitswirksame Identitätskonstitution erscheinen angesichts moderner Entpersönlichung obsolet.6 Erstaunlicherweise hält es sogar Arnheim selbst für möglich, »daß etwas Kollektives […] im Entstehen sei und daß man […] den veralteten Individualismus verlasse« (GW 1, S. 409). Später wird diese Figurenperspektive auktorial bestätigt: »das Intellektuelle und der Individualismus galten bereits für überlebt und egozentrisch«; sie wurden durch das ›Man‹ substituiert (GW 1, S. 453). Vor diesem Hintergrund kann man Arnheims prätentiösen Habitus auch als antagonistischen Reflex verstehen, als Schutzmechanismus gegen die Identitätsauflösung und Entindividualisierung in der modernen Zivilisation, der durch einen nostalgischen »Ichbautrieb« (GW 1, S. 252) motiviert ist. Arnheim selbst vertritt die These, »ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit« sei »der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale«
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Der zeitgenössische Kult der ›großen Persönlichkeit‹ bot Autoren wie Robert Musil und Thomas Mann Anlass zur Satire. Während Thomas Mann seine als Hauptmann-Karikatur gestaltete Peeperkorn-Figur im Zauberberg mit emphatischer Attitüde und hohlen Kulturgebärden ohne Substanz auftreten lässt, entwirft Musil die nach dem Vorbild von Rathenau modellierte Arnheim-Figur im Mann ohne Eigenschaften als eine fragwürdige Persönlichkeit, die hinter ihrem nur scheinbar idealistischen Anspruch dezidierte Machtambitionen verbirgt.
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(GW 1, S. 381) – eine Ansicht, die bezeichnende Affinitäten zu Musils Theorem der Gestaltlosigkeit aufweist.7 Der Identitätskrise der Epoche, die in der zeitgenössischen Philosophie, Psychologie, Soziologie, Essayistik und fiktionalen Literatur reflektiert wird, gewinnt Musil einen zukunftsorientierten Impuls ab, indem er seinen ›Mann ohne Eigenschaften‹ ins Zentrum eines anthropologischen Experiments stellt: Indem er ihn als scharfsinnigen Diagnostiker auftreten lässt, greift er auf Traditionen der Kulturkritik zurück, insbesondere auf Nietzsches subversive Entlarvungspsychologie. Sie wird vor allem in den Themenfeldern Décadence-Diagnose, Idealismus-Kritik sowie Sexual- und Machtpsychologie relevant, die den Roman maßgeblich konstituieren.8 An den Figuren Diotima und Arnheim, aber auch an Bonadea und Walter macht Musil das Unauthentische eines idealistischen Ethos evident, das primär der Selbstlegitimation dient oder der Absicht entspringt, sich gesellschaftlich zu nobilitieren. Dabei fungiert die idealistische Attitüde als Medium, um Ansehen und Macht zu erlangen (so im Falle von Diotima und Arnheim), um eigene Leistungs- oder Persönlichkeitsdefizite zu kompensieren (so bei Walter) oder um erotische Triebstrukturen zu sublimieren (so im Falle von Diotima und Bonadea). Mit einer an Nietzsche geschulten Entlarvungspsychologie dekuvriert Musil im Roman die wahren Motive seiner Figuren und macht die Fassade idealistischer Prätention auf die dahinter verborgenen, weniger ehrenwerten Persönlichkeitsschichten hin transparent. Auch mit der Idealismus-Kritik im Mann ohne Eigenschaften schließt Musil an Nietzsche an, der insbesondere die platonische Tradition des Idealismus scharf attackiert.9 Bisher habe ich einleitend die Bedeutung skizziert, die Nietzsches Abkehr von traditionellen Identitätsmodellen und seine kulturkritische Methode einer subversiven Entlarvungspsychologie konzeptionell für Musils Roman haben. Darüber hinaus wird Nietzsches Philosophie im Mann ohne Eigenschaften aber auch durch explizite oder implizite Zitate markiert. Im zweiten Abschnitt will ich zeigen, wie Musil den Komplex der ›Jugendfreunde‹, den Nukleus des Romanprojekts, mit dekadenten Erscheinungsformen eines Nietzscheanismus und Wagnerismus verbindet und da-
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Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009. Zu Musils Anthropologie vgl. Teil III dieser Monographie. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005. Vgl. z. B. KSA 5, S. 12f. Vgl. hierzu auch Barbara Neymeyr: Antikisierte Moderne – modernisierte Antike. Zur Idealismus-Problematik in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof (Hg.): »auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Freiburg 2004, S. 401–417.
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durch zeitdiagnostisch profiliert. Im dritten Abschnitt soll schließlich evident werden, wie Musil seinen Protagonisten Ulrich analog zu Konzepten Nietzsches als Experimentalexistenz modelliert. II. Nietzsche contra Wagner: Musils literarische Experimente mit Décadence-Symptomen und dem Diskurs über ›Genie und Wahnsinn‹ Der gruppenbildende Begriff ›Jugendfreunde‹ verschleiert zunächst die Differenzen, die in der Interaktion der drei Figuren Ulrich, Walter und Clarisse markant hervortreten: Dem forcierten Aktivismus der Psychopathin Clarisse und der Lethargie des weichlich-passiven Wagnerschwärmers Walter, der vor seiner künstlerischen Sterilität in Wagner-Exzesse am Klavier und in einen diffusen irrationalen Kulturpessimismus flieht, stehen die Gedankenschärfe und intellektuelle Redlichkeit Ulrichs diametral gegenüber. Verkörpert Clarisse eine naive und eindimensionale Nietzsche-Begeisterung, die immer mehr zur Obsession wird, so weist Ulrich als kritisch reflektierender Intellektueller eine innere Nähe zu Nietzsches Perspektivismus, zur Destruktion traditioneller Ideale und Moralvorstellungen sowie zur Utopie einer Experimentalexistenz im Sinne Nietzsches auf. Auch der Geistesaristokratismus des ›Mannes ohne Eigenschaften‹ entspricht tendenziell der Denkweise des Philosophen. Allerdings werden zugleich Differenzen deutlich: Durch seine Skepsis und Handlungsschwäche unterscheidet sich Ulrich von Nietzsches Voluntarismus und seinem Konzept eines ›Willens zur Macht‹. Auch das Verkündigungspathos von Nietzsches Zarathustra, für das sich die expressionistischen Zeitgenossen Musils begeisterten, ist dem ›Mann ohne Eigenschaften‹ fremd – anders als seiner Jugendfreundin, der Hysterikerin Clarisse, die sich bei ihren theatralischen Auftritten gerne mit einer pathetischen NietzscheAttitüde inszeniert. Bezeichnenderweise war der maßgebliche Initialimpuls für Clarisses distanzlose Nietzsche-Idolatrie sogar von Ulrich selbst ausgegangen, der zum Katalysator einer unvorhersehbaren Entwicklung wurde, als er ihr ausgerechnet »zur Hochzeit die Werke Nietzsches« schenkte (GW 1, S. 49, 609). Dadurch schuf er gewissermaßen die Basis für ein geistiges Konkubinat, denn in der Folgezeit trat Nietzsche für Clarisse allmählich an die Stelle ihres Ehemanns Walter. Musils literarischem Experiment zufolge wurde Ulrichs Hochzeitspräsent also nicht zur intellektuellen Herausforderung für Clarisse, sondern zur Infektion. Die perniziösen Folgen des Geschenks treten nach dreijähriger Ehe- und Inkubationszeit in der Erzählgegenwart des Romans immer stärker zutage. Die Persönlichkeitsstruktur der Hysterikerin verweist insofern auf die Identitätskrise der Epoche, als die Infektion gefährdeter Existenzen in der
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Literatur der Décadence von zentraler Bedeutung war. Mit ihrem exaltierten Nietzsche- und Genie-Kult versucht Clarisse ihre krankhafte Exzentrik wohl unbewusst in kulturell ambitionierte Bahnen zu lenken und zugleich ihre seelische Labilität zu kaschieren. Aber immer wieder fällt ihr unterentwickeltes Reflexionsvermögen auf, das mit stupender Unkenntnis gepaart ist: Obwohl sie in einem Brief an Graf Leinsdorf sogar ein offizielles Nietzsche-Jahr gefordert hat (GW 1, S. 223, 226), gerät sie durch Ulrichs Frage, was »Nietzsche eigentlich verlangt« habe (GW 1, S. 353), in große Verlegenheit (GW 1, S. 354).10 Clarisses Schwärmerei für das Genie erweist sich letztlich als ebenso unfundiert (GW 1, S. 62) wie ihr Nietzsche-Enthusiasmus. Wiederholt kontrastiert Musil ihr forciertes Auftreten mit einem auffälligen Mangel an geistiger Substanz. Dass auch Clarisses voluntative Exaltationen letztlich inhaltsleer sind, zeigt eine Romanpartie, in der vom »substanzlos flammenden Willen« der Hysterikerin die Rede ist (GW 1, S. 62). Mit dem hohlen Aktivismus und infantilen Rigorismus dieser Figur parodiert Musil Perversionsformen des zeitgenössischen Nietzscheanismus,11 die er mit dem unreflektierten Tatkult und der irrationalen Erlösungssehnsucht der Epoche verbindet. Im Medium individualpsychologischer Analyse bietet Musil zugleich eine satirische Kulturdiagnose. Zeitphänomene macht er auf ihre pathologischen Tiefendimensionen hin transparent. Symptomatisch ist eine Szene, in der Clarisse eine Passage aus Nietzsches Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie rekapituliert. Sie greift dabei auf den Versuch einer Selbstkritik zurück, eine spätere Ergänzung, in der Nietzsche auch die tragische Dimension der Griechen hervorhebt: Nietzsche sagt: ›Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse? Eine Tiefe des widermoralischen Hangs? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind?‹ – Solche Worte bereiteten ihr, wenn sie sie dachte, eine sinnliche Erregung im Mund, die so sanft und stark wie Milch war, sie konnte kaum schlucken. (GW 1, S. 435)12
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Die Absurdität von Clarisses offiziellem Vorschlag, »ein österreichisches Nietzsche-Jahr zu veranstalten« (GW 1, S. 226), treibt Musil auf die Spitze, indem er sie später sogar »ein Ulrich-Jahr« postulieren lässt (GW 1, S. 353). Vgl. dazu die substantielle und facettenreiche Darstellung von Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Englischen v. Klaus Laermann. Stuttgart, Weimar 1996. Die sinnliche Komponente in Clarisses Verhältnis zu Nietzsche erscheint als Analogon zu Walters Schwelgen in sinnlicher Wagner-Berauschung. Bezeichnenderweise identifiziert sich auch Walter mit diesem Nietzsche-Zitat: »das haben wir ja alle in uns, diese intellektuelle Neigung für das Ungesunde, Schauerliche und Problematische, wir geistigen Menschen« (GW 1, S. 911; vgl. auch S. 914). Auf diese (von Clarisse präziser zitierte) Textstelle aus Nietzsches Geburt der Tragödie (KSA 1, S. 12) nimmt Musil auch in nachgelassenen Romanentwürfen Bezug (GW 1, S. 1775–1779), wo er Clarisse eine Reihe
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Indem Musil Clarisses Gedanken an Nietzsche geradezu erotisch auflädt, inszeniert er ihren Nietzscheanismus auch als Surrogat ungelebter Sinnlichkeit oder als deren Sublimierung. Entsprechendes gilt für Walters Wagner-Exzesse, die als Substitut für die von Clarisse verweigerte eheliche Sexualität fungieren und im Roman explizit mit einem »Knabenlaster« verglichen werden (GW 1, S. 49). Bezeichnenderweise führt Clarisse Nietzsches Reflexion über den »Pessimismus der Stärke« (GW 1, S. 435), die zu ihren »Lieblingsgedanken« gehört (GW 1, S. 980), später noch mit der Frage fort: »Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig ein Symptom der Entartung?« (GW 1, S. 980).13 Hier deutet sich bereits eine positive Bewertung des Wahns an, die auch von der Figur Meingast beeinflusst ist (GW 1, S. 834, 910).14 Der dubiose Philosoph Meingast, der sich mit prophetischer Attitüde inszeniert (GW 1, S. 781), vertritt die These, der Welt sei »ein guter kräftiger Wahn« zu wünschen (GW 1, S. 834). Clarisse versteht unter Wahn »nichts anderes als man Willen nennt, nur besonders gesteigert« (GW 1, S. 910), ja sie glaubt sogar, »daß man sich einem Wahn überlassen müsse, wenn man der Gnade teilhaftig geworden sei, ihn zu fühlen« (GW 1, S. 910).
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von Nietzsche-Thesen zuordnet: »Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind – ist eine sie bei der Lektüre Ns. ergreifende Vorahnung. Vor-Liebe ihrer Erkrankung« (GW 1, S. 1778). In der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche: »Ist Wahnsinn vielleicht nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten Cultur? Giebt es vielleicht – eine Frage für Irrenärzte – Neurosen der Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? […]« (KSA 1, S. 16). »Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? […] Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann?« (KSA 1, S. 12). Auch Meingast steht im Horizont von Nietzsches Philosophie. Er führt sogar die Décadence-Symptome auf einen Mangel an Wahn zurück, wenn er behauptet: »die Welt ist zur Zeit so wahnfrei, daß sie bei nichts weiß, ob sie es lieben oder hassen soll, und weil alles zweiwertig ist, darum sind auch alle Menschen Neurastheniker und Schwächlinge« (GW 1, S. 834). Angesichts dieser Konstellation betont Meingast die Bedeutung »des Erlösungsgedankens« und vertritt die Auffassung: »Also ist nichts der Welt heute mehr zu wünschen als ein guter kräftiger Wahn«. Dieses Postulat verbindet er mit dem Plädoyer für ein ›sacrificium intellectus‹: Seines Erachtens ist es notwendig, »auf die Erkenntnis zu verzichten« (ebenda).
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Diese Umwertung des Wahns15 ins Positive, die Clarisse im Anschluss an den von ihr verehrten Meingast propagiert, ist offenbar durch Thesen Nietzsches angeregt: In seinem Werk Morgenröthe betont er das »Glück eines starken festen Wahnes« bei den »Barbaren aller Zeiten«, das die modernen Menschen aufgrund ihres forcierten Erkenntnistriebes nicht mehr »zu schätzen« vermögen (KSA 3, S. 264). Und schon in seiner Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben behauptet Nietzsche, jeder Mensch und jedes Volk brauche zur Reife einen »umhüllenden Wahn« (KSA 1, S. 298). Bereits in der Geburt der Tragödie hält er der Décadence »das dionysische Leben« und die »Wiedergeburt der Tragödie« als Therapeutikum entgegen und beschwört mit pathetisch-wagnerisierenden Alliterationen den Gesang »von den Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe« (KSA 1, S. 132). Musils Clarisse-Figur übernimmt Nietzsches Verknüpfung von Wahn und Wille sogar wörtlich: Sie betrachtet es als »Aufgabe dessen, was man Gewissen, Wahn, Wille nennt, […] die Lichtgestalt zu finden« (GW 1, S. 923). Aus diesem Grund gefällt ihr die Angst Walters, »daß sie verrückt werden könnte« (GW 1, S. 435). Immer wieder verbindet Musil mit Clarisses Nietzsche-Rezeption ein voluntatives Moment. Es gehört zu ihren auffälligsten Charakteristika und trägt später zu ihrer zerrüttenden Selbstüberanstrengung wesentlich bei. Individuelle Züge dieser pathologischen Figur macht Musil auf Zeitsymptome hin transparent. Exemplarisch und mit kulturkritischem Scharfblick diagnostiziert er Gefahren der Epoche. Bezeichnenderweise war auch im zeitgenössischen Aktivismus das Plädoyer für die Tat mit einem Bekenntnis zum Willen verbunden.16 Im Kapitel »Jugendfreunde« hält Clarisse sogar das »Genie für eine Frage des Willens« (GW 1, S. 53). Wie diffus und unreflektiert ihre gedanklichen Obsessionen sind, enthüllt die folgende Aussage: »Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben, sie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede war; man fühlt es oder man fühlt es nicht, das war ihr einziges Beweisstück« (GW 1, S. 62).
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Vermutlich sieht sich Clarisse durch Nietzsches positive Äußerungen über den Wahn zu einer naiven Übertragung auf die Kranken angeregt, die sie – nachgelassenen Entwürfen Musils zufolge – erneut im Irrenhaus besucht: »die Wahnsinnigen denken mehr als die Gesunden, und sie führen ein entschlossenes Leben« (GW 1, S. 1302). Kurz darauf korrigiert sie sich: »Sie denken anders. Energischer!« (GW 1, S. 1304). Diese Ansicht korrespondiert mit ihrem eigenen, von Willenskraft geprägten Aktivismus. Hiller behauptet, dass der »Wille […] siegen wird. So ist der Aktivist Voluntarist« (Kurt Hiller: Ortsbestimmung des Aktivismus. Wiederabdruck in Otto F. Best (Hg.): Theorie des Expressionismus. Stuttgart 1976, S. 124–131, hier S. 128).
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Clarisses Genie-Idolatrie erweist sich mithin als irrational und völlig ahistorisch. Durch ihre Unfähigkeit zu kritischer Selbstrelativierung sind auch die rigorosen Ansprüche bedingt, mit denen sie ihren Ehemann konfrontiert. Mit dem Gefühl eigener Berufung »zu etwas Großem« (GW 1, S. 145) und dem Glauben, »daß sie etwas Titanenhaftes tun werde« (GW 1, S. 146), verband sich schon bei der fünfzehnjährigen Clarisse die Erwartung, Walter müsse ein Genie sein (GW 1, S. 53, 146), ja womöglich sogar »ein noch größeres Genie […] als Nietzsche« (GW 1, S. 146). Diesen infantilen Absolutheitsanspruch nimmt auch die in der Erzählgegenwart fünfundzwanzigjährige Frau nicht zurück. Symptomatisch ist Clarisses Phantasie: »sie stand auf einem hohen Berg namens Nietzsche, der Walter unter sich begraben hatte, ihr aber gerade nur unter die Fußsohlen reichte!« (GW 1, S. 607). Dieses Bild signalisiert ihre Enttäuschung über Walters künstlerisches Versagen und spiegelt zugleich die eigene narzisstische Hybris wider. Walter diagnostiziert hellsichtig die psychische Gefährdung seiner Frau, wenn er einen »geheimen Hohlraum in ihrem Wesen« erahnt (GW 1, S. 62), den er als »die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse« beschreibt, als »den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten« (GW 1, S. 63). Zugleich kündigt diese unheimliche Imagination schon ihr späteres Schicksal an: die Aberration in den Wahnsinn. Dass Clarisses Nietzsche-Obsession und Genie-Idolatrie ebenso wie ihr Willenskult einem nicht mehr zu regulierenden Irrationalismus entspringen, zeigt die Diskrepanz zwischen elitärem Anspruch und eklatanter Ignoranz. Trotz ihrer dezidierten Forderungen an Walter weiß Clarisse nicht, was ein Genie eigentlich ist (GW 1, S. 62). Und obwohl sie ihre voluntative Zielgespanntheit durch ein forciertes Auftreten unterstreicht, kann sie die naheliegende Frage Meingasts »Aber was willst du eigentlich?« (GW 1, S. 921) erstaunlicherweise nicht beantworten. Am konkreten Fall dieser Hysterikerin und ihrer Flucht vor innerer Leere inszeniert Musil einen Eskapismus, der über die individuelle Konstellation hinaus auf Charakteristika der Epoche weist. Auch nach der Auffassung Meingasts, den Clarisse neben Nietzsche ebenfalls als charismatischen ›Meister‹ verehrt, »tat der Menschheit nichts so not wie Wille, und dieses Gut, heftig wollen zu können, befand sich seit je in ihrem Besitz!« (GW 1, S. 910).17 Bei diesem Gedanken, der das Wollen als reines Potential ohne spezifische Intention erscheinen lässt, wird ihr »kalt vor Glück und heiß vor Verantwortung« (GW 1, S. 910). Und sie beschließt: »Ich werde etwas tun« (GW 1, S. 911). Dass Clarisse hier um einen
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In einem der nachgelassenen Clarisse-Entwürfe formuliert Musil seine konzeptionelle Absicht: »Auf nichts als auf dem Willen balanzieren« (GW 1, S. 1775).
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projektiven Selbstentwurf mangels gegenwärtiger Identitätserfahrung ringt, verrät ihre Feststellung, »jeder Mensch könne sich durch etwas, das er gewalttätig unternehme, ein Denkmal voransetzen und werde dann von diesem nachgezogen« (GW 1, S. 923). Wie leicht ein solcher voluntativer Aktionismus in Aggressivität umschlagen kann, zeigt Clarisses Ansicht: »Die Welten tauchen nicht auf, wenn man sie nicht zieht […]. Der geniale Mensch hat die Pflicht anzugreifen! Er hat die unheimliche Kraft dazu!« (GW 1, S. 714). Derartige Gewaltphantasien trivialisieren Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht. Zugleich lassen sie auch an den von Musil prognostizierten Wahnsinn der Epoche denken. In einem aufschlussreichen Interview, das Oskar Maurus Fontana im Jahre 1926 mit Musil über seinen Roman führte, konstatiert dieser: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige« (GW 2, S. 941). Das Kapitel mit dem symptomatischen Titel »Die Irren begrüßen Clarisse« (GW 1, S. 977), der ihr späteres Schicksal ironisch antizipiert, beschreibt einen Besuch in einer Nervenheilanstalt, der Clarisses ohnehin labile seelische Balance nachhaltig gefährdet. Nur noch graduell unterscheidet sich der inhaltslose Impetus im Ausruf eines Dementen »Weil ich will!! Ich kann tun was ich will!!!« (GW 1, S. 991) von ihrem eigenen voluntativen Leerlauf und hohlen Aktionismus. Die zeitgenössische Konjunktur des Dezisionismus und der Tat wird so auf pathologische Gefährdungen hin transparent gemacht. Eine verräterische Analogie zu Clarisses Habitus weist der substanzlose Aktionismus der sogenannten ›Parallelaktion‹ auf: Den hochfliegenden Anspruch und die forcierte Handlungsbereitschaft dieser Gruppe konterkariert Musil durch ein geistiges Vakuum: durch den eklatanten Mangel an konkreten Zielen und strukturbildender Programmatik. Durch die Verbindung mit dem Bereich des Psychopathischen führt Musil die Willens- und Tatsphäre in seinem Roman ad absurdum. Indem er den beiden pathologischen Figuren des Romans, dem geisteskranken Frauenmörder Moosbrugger und Clarisse, aber auch dem treuherzig-naiven General Stumm von Bordwehr eine besondere Affinität zur Tat zuschreibt, desavouiert er zugleich den zeitgenössischen Männlichkeits- und Tatkult. Ernst Jünger beispielsweise propagierte die Tat als Rauschmittel und huldigte einem virilen Aktivismus. Zwar rezipiert Musil Nietzsches Perspektivismus und Experimentalphilosophie sowie seine Moralkritik und seine Konzepte ›jenseits von Gut und Böse‹ für den ›Mann ohne Eigenschaften‹. Aber dem voluntativen Aktionismus vieler Nietzscheaner steht er kritisch gegenüber und übernimmt ihn daher auch nicht für die Gestaltung seines Protagonisten, der von skeptischer Distanz bestimmt ist und oft eher lethargisch wirkt. Clarisses forcierte Handlungsbereitschaft spiegelt vor allem problematische Auswüch-
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se einer einseitigen Nietzsche-Rezeption wider. Ihre aktivistische Flucht nach vorn ist von einem Bedürfnis nach Selbsterlösung motiviert. In einem Brief an Ulrich stilisiert sich Clarisse sogar selbst zur Crucifixa (GW 1, S. 712) mit Erlöserqualitäten: »Wir erlösen hinaus« (GW 1, S. 713). Und in Musils Notizen zum Clarisse-Komplex heißt es im Zusammenhang mit der Erlöseridee: »Messias und Übermensch dünkt sie sich in einer Person« (GW 1, S. 1781). Bei seinen literarischen Experimenten mit abnormen Dispositionen greift Musil auf den psychiatrischen Diskurs über Genie und Wahnsinn zurück,18 kodiert ihn aber entsprechend um: In einer nachgelassenen Partie des Romans schreibt er Clarisse sogar die Meinung zu, »daß die sogenannten Geisteskranken eine Art genialer Wesen seien, die man verschwinden lasse und um ihr Recht bringe« (GW 1, S. 1293). Mit subversiver Absicht zeigt Musil, dass die eskapistische Fixierung auf den Übermenschen, das Genie oder eine Erlöserfigur zu Realitätsverlust und Selbstentfremdung, ja sogar zum Wahnsinn führen kann. Statt einer auf Degeneration beruhenden und zum Wahnsinn disponierenden Genialität hat Musil seiner Clarisse-Figur eine Psychose eingeschrieben, die durch den zur fixen Idee gesteigerten Enthusiasmus für Nietzsche, für die Tat und das Genie wesentlich mitbedingt ist. Die Allianz von Genie und Wahnsinn in den Konzepten der Degenerationspsychiatrie ersetzt er in seinem Roman durch einen Wahnsinn ohne Genialität.19 Kunstvoll gestaltet Musil die Opposition zwischen Walters WagnerEnthusiasmus und Clarisses Nietzsche-Idolatrie.20 Bezeichnenderweise entfaltet schon Nietzsche selbst das Konzept des Übermenschen in seinem Werk Also sprach Zarathustra als Gegenentwurf zum Habitus Wagners.21
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Zur Thematik ›Genie und Wahnsinn‹ vgl. die instruktive Monographie von Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin, New York 1973, S. 278–295. Vgl. außerdem die differenzierten, auch wissenschaftstheoretisch profilierten Darlegungen von Horst Thomé: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, S. 169–195. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Darmstadt 21988. Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, S. 291f. Zur Verschränkung von Nietzscheanismus und Wagnerismus in Musils Mann ohne Eigenschaften vgl. erstmals Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose (Anm. 8), S. 107–142, 159–188. Hier finden sich weitere Thesen und Belegstellen zu diesen Diskursen und ihrer kulturdiagnostischen Relevanz. Diese These vertreten mit überzeugenden Argumenten Dieter Borchmeyer u. Jörg Salaquarda (Hg.): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Frankfurt a. M., Leipzig 1994. Bd. 2, S. 1271–1386, hier S. 1355–1359. Die beiden Herausgeber bezeichnen den Zarathustra als Nietzsches »Anti-Parsifal« (S. 1355) und deuten Nietzsches Aussage in Ecce homo, er habe »die Schlusspartie« des ersten Zarathustra-Teils »genau
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Gegen die Décadence generell und zugleich speziell gegen den ›Nervenverderber‹ Wagner mit seiner ›kranken‹ Musik22 lässt Nietzsche Zarathustra, diesen »jasagendste[n] aller Geister«, die Botschaft vom Übermenschen verkünden.23 Auch andere Thesen im Zarathustra richten sich gegen Wagner: Zarathustras Lehre vom Tode Gottes (KSA 4, S. 14f.)24 konterkariert ebenso wie die Absage an metaphysische Hinterwelten25 das christianisierende Mysterium von Wagners Parsifal.26 Und indem Nietzsche die »Härte« als Kennzeichen aller »Schaffenden« und als Signum »einer dionysischen Natur« hervorhebt (KSA 6, S. 349), wendet er sich gegen »das Mitleiden« als »die Tugend der décadents« (KSA 6, S. 29), die zugleich die hervorstechende Eigenschaft von Wagners Parsifal ist. Im Mann ohne Eigenschaften exponiert Musil am Beispiel von Walter und Clarisse bestimmte Ausprägungen von Wagnerismus und Nietzscheanismus als zeittypische Krisenphänomene, und zwar vor dem Horizont der Décadence. Das 14. Romankapitel, in dem Ulrichs Jugendfreunde Walter und Clarisse erstmals in Erscheinung treten, entwirft eine charakteristische Szenerie. Denn die musikalische Ekstase, die beide am Klavier zelebrieren, beschreibt Musil mit wörtlichen Zitaten aus Nietzsches Geburt der Tragödie: »die Millionen sanken […] schauervoll in den Staub, die feindlichen Abgrenzungen zerbrachen, das Evangelium der Weltenharmonie versöhnte,
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in der heiligen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb« (KSA 6, S. 335f.), als Indiz dafür, dass Nietzsche Wagners Tod »gewissermaßen zum Ende der alten Kultur stilisiert, aus deren Asche der Phönix der neuen Kultur entsteht, der ›höhere Mensch‹ geboren wird« (S. 1355). Schon in seiner vierten Unzeitgemäßen Betrachtung über Richard Wagner in Bayreuth beschreibt Nietzsche den Komponisten nicht als »Seher einer Zukunft«, sondern als »Deuter und Verklärer einer Vergangenheit« (KSA 1, S. 510). Dafür finden sich zahlreiche Belege in Nietzsches Schrift Der Fall Wagner (KSA 6, S. 11, 12, 21–23, 29, 42–44, 47). So Nietzsches Formulierung in Ecce homo, wo er ausführliche Retrospektiven auf seine Werke gibt, auch auf den Zarathustra (vgl. KSA 6, S. 343, 348). Im Rückblick auf die Entstehungszeit des Zarathustra attestiert Nietzsche sich selbst in Ecce homo »das jasagende Pathos par excellence« (KSA 6, S. 336). Im Kapitel »Vom höheren Menschen« lässt er Zarathustra verkünden: »Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe« (KSA 4, S. 357). Das Zarathustra-Kapitel »Von den Hinterweltlern« (KSA 4, S. 35–38) korreliert Nietzsche mit der Décadence-Problematik, indem er die Hinterweltler, die »ein himmlisches Nichts« erfinden (S. 36), als »Kranke und Absterbende« bezeichnet (S. 37): Ihre »arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will«, schuf »mit einem Todessprunge […] alle Götter und Hinterwelten« (S. 36). Nietzsche polemisiert besonders gegen Wagners letztes Werk, den Parsifal. In Nietzsche contra Wagner wirft er dem Komponisten vor, er sei als »verzweifelnder décadent […] hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze« niedergesunken (KSA 6, S. 431). Auf die Parsifal-Schlussformel »Erlösung dem Erlöser« spielt Nietzsche im Zarathustra-Kapitel »Von den Priestern« an: »Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!« (KSA 4, S. 117).
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vereinigte die Getrennten; sie […] waren auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen« (GW 1, S. 48). Diese Inszenierung eines musikalisch stimulierten Einheitsgefühls erweist sich jedoch als unauthentische Romantik und verbirgt nur vordergründig die eheliche Disharmonie. Musil greift in seinem Roman nicht nur auf Nietzsches Geburt der Tragödie zurück, sondern zieht für den Komplex der ›Jugendfreunde‹ auch seine späten Anti-Wagner-Schriften mit heran. Nachweislich fungiert Nietzsches Polemik in Der Fall Wagner als Subtext für den Mann ohne Eigenschaften. Musil übernimmt wesentliche Elemente der Wagner-Kritik Nietzsches für die Charakterisierung von Walters Wagnerismus: »Sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik gelähmt und sein Schicksal erleichtert« (GW 1, S. 67), heißt es im Roman über den Décadent Walter, der seine künstlerische Sterilität nicht ertragen kann und in einem eskapistischen Reflex »die wogende Rückenmarksmusik des sächsischen Zauberers« zu spielen beginnt (GW 1, S. 615). Nietzsche stellt die Wirkung der Instrumente in Wagners Musik folgendermaßen dar: »Einige von ihnen überreden selbst noch die Eingeweide […], andre bezaubern das Rückenmark« (KSA 6, S. 24). Auf analoge Weise rekurriert auch Thomas Mann auf Nietzsches Wagner-Kritik, wenn er seine Aschenbach-Figur im Tod in Venedig kurz vor dem finalen Zusammenbruch von einer dionysischen Orgie träumen lässt, begleitet von Geheul und »ruchlos beharrlichem Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide bezauberte«.27 Danach erwacht Aschenbach »entnervt, zerrüttet«.28 Nietzsche hält Wagners Musik für hypnotisch und bezeichnet sie als »Nervenverderberin ersten Ranges, […] als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum« (KSA 1, S. 20). Den Komponisten selbst beschreibt er als »den größten Meister der Hypnotisirung« (KSA 13, S. 405). Auch diese Charakteristika adaptiert Musil für seinen Roman, indem er die musikalischen Exaltationen des Ehepaars Walter und Clarisse mit dem »Zwangsschlaf der Hypnose« vergleicht (GW 1, S. 143). Der ›Mann ohne Eigenschaften‹, der aufgrund einer nostalgischen Anwandlung im ersten Teil des Romans in die dekadente Sphäre seiner Jugendfreunde zurückgekehrt ist, verlässt sie später wieder, um andere Lebensformen zu erkunden.
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Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 8: Erzählungen, S. 444–525, hier S. 516. Ebenda, S. 517.
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III. Die ›Utopie des Essayismus‹ als Entwurf einer Experimentalexistenz Mit seinem Konzept des Essayismus, einer experimentellen Denk- und Lebenshaltung, die den ganzen Roman bestimmt und in Kapitel 62 auch explizit reflektiert wird, folgt Musil Nietzsches Programm einer »Experimental-Philosophie«.29 Sie orientiert sich an Verfahren der modernen Naturwissenschaften und entspricht zugleich Auffassungen Emersons, der sich in seinen Essays als »Experimentirender« versteht, als »ein endloser Sucher« ohne den Ballast der »Vergangenheit« auf dem Rücken.30 Schon frühe Tagebuchnotizen dokumentieren Musils Selbstverständnis als »monsieur le vivisecteur«,31 das Nietzsches Konzept des Experiments entspricht: »wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf« (KSA 5, S. 357).32 In der Vorrede zur Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches erklärt Nietzsche programmatisch, dem »freien Geist« komme das »gefährliche Vorrecht« zu, »auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen« (KSA 2, S. 18).33 Musil charakterisiert seinen Mann ohne Eigenschaften selbst explizit als Roman »eines geistigen Abenteuers«.34 In der Fröhlichen Wissenschaft sieht Nietzsche »die heikeligste aller Fragen« darin, »ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben […]«; dann wäre »ein Jahrhunderte langes Experimentiren« möglich, »welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte« (KSA 3, S. 379f.). Nietzsche versteht
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Vgl. dazu Friedrich Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln, Wien 1980. Volker Gerhardt: »Experimental-Philosophie«. Versuch einer Rekonstruktion. In: Ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, S. 163–187. Ralph Waldo Emerson: Essays. London 1906. Nietzsche las die Übersetzung der Essays von G. Fabricius (Hannover 1858, hier S. 234). Zu der dennoch für das Konzept der Experimentalphilosophie relevanten ›Vergangenheit‹ gehören Voltaire (Metaphysische Abhandlung, 1734) und Hume (A Treatise of Human Nature, 1734), die beide aus dem Geist des aufklärerischen Empirismus eine experimentelle Methode ausdrücklich auch für die Philosophie fordern. Kant spricht vom »Experiment der Vernunft« und verwendet sogar den Begriff der »Experimentalphilosophie« (Kritik der reinen Vernunft, A 425, B 542). Vgl. Volker Gerhardt: »Experimental-Philosophie« (Anm. 29), S. 185f. Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1976. Bd. 1, S. 2. In Jenseits von Gut und Böse empfiehlt Nietzsche: »treibt Vivisektion […] an euch!« (KSA 5, S. 153). Zum Begriff der Vivisektion vgl. auch KSA 5, S. 106, 166. Nietzsches Schrift Menschliches, Allzumenschliches trägt sogar den Untertitel Ein Buch für freie Geister (vgl. KSA 2, S. 9, 15). Robert Musil: Briefe 1901–1942. Hg. v. Adolf Frisé unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 930.
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den Menschen nicht nur als Subjekt, sondern auch als Objekt des Experimentierens: »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Diese These formuliert er im 453. Aphorismus der Morgenröthe (KSA 3, S. 274).35 In einer späteren Passage dieses Werkes erklärt er: »Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – […] Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!« (KSA 3, S. 294). Musil lässt den Protagonisten seines Romans, der »Urlaub von seinem Leben« nimmt (GW 1, S. 47) und das »Wagnis« eingeht, »hypothetisch [zu] leben« (GW 1, S. 249), als »Inbegriff seiner Möglichkeiten« (GW 1, S. 251), gemäß Nietzsches Postulaten aus Menschliches, Allzumenschliches mit einem energischen »Willen zur Selbstbestimmung« die »grosse Loslösung« vollziehen, die ihn zum »freien Geiste« macht und es ihm erlaubt, »auf den Versuch hin [zu] leben« (KSA 2, S. 16–18). Dabei folgt Musil zugleich Nietzsches Bekenntnis: »Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verwünschten und verruchten Seiten des Daseins« (KSA 13, S. 492). In dem Kapitel über die »Utopie des Essayismus« (GW 1, S. 247) versucht sich der ›Mann ohne Eigenschaften‹ »anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten« (GW 1, S. 250). Wenn sich Ulrich sogar zu »jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig« fühlt (GW 1, S. 251), zieht Musil damit Konsequenzen aus Nietzsches Abkehr von der traditionellen Moral. Dies gilt auch für die zahlreichen ›verruchten‹ Inszenierungen im Roman: für die vielfältigen sexualpathologischen Aberrationen ebenso wie für die Symptome von Clarisses Abnormität, für Moosbruggers Gewaltexzesse und den Geschwisterinzest. In seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse postuliert Nietzsche »Artisten der Zerstörung und Zersetzung« mit der »Skepsis der verwegenen Männlichkeit«, die über »Tapferkeit und Härte« verfügen und von einem »Wille[n] zu gefährlichen Entdeckungsreisen« angetrieben sind (KSA 5, S. 141). Dieser Programmatik entspricht tendenziell auch Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹: durch seine unkonventionellen Experimente mit einer ›anderen‹ Identität, durch seine Skepsis gegenüber der erstarrten Wirklichkeit und seine subversive Kritik an der fassadenhaften Idealität einiger Figuren, die durch Selbststilisierung ihre egozentrischen Interessen zu verbergen suchen. Arnheim attestiert seinem Kontrahenten Ulrich, er verlange »das Bewußtsein des Versuchs« (GW 1, S. 636); er selbst sieht darin allerdings bloß den Ausdruck einer wirklichkeitsfernen Experimentierhaltung:
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Vgl. auch KSA 3, S. 160: »Es müssen so viele Versuche noch gemacht werden. Es muss so manche Zukunft noch an’s Licht kommen!«.
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Die verantwortlichen Führer sollen daran glauben, daß sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle auszufüllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen können! Ich bin entzückt von diesem Einfall; aber wie sieht es zum Beispiel mit Kriegen und Revolutionen aus? Kann man die Toten wieder aufwecken, wenn der Versuch durchgeführt ist und vom Arbeitsplan abgesetzt wird?! (GW 1, S. 636)
Mit dieser rhetorischen Frage gibt Arnheim zu verstehen, das von Ulrich propagierte »Bewußtsein des Versuchs« (GW 1, S. 636) sei allenfalls als Aperçu zu goutieren, könne als Programm jedoch nicht ernst genommen werden, da seine Verwirklichung verantwortungslos wäre. Doch verkennt er mit seinem Einwand das eigentliche Anliegen seines Antipoden. Denn mit der Replik, »daß man wahrscheinlich alles, um es fördern zu können, in vollem Ernst anpacken müsse« (GW 1, S. 636), grenzt sich Ulrich gerade von der spielerischen Verantwortungslosigkeit ab, die ihm Arnheim unterstellt. Aufschlussreich ist das Schlussvotum, mit dem der ›Mann ohne Eigenschaften‹ die Opposition zwischen einem modernen experimentellen Essayismus und dem traditionellen Idealismus historisch kontextualisiert: »Früher hat man gleichsam deduktiv empfunden, von bestimmten Voraussetzungen ausgehend, und diese Zeit ist vorbei; heute lebt man ohne leitende Idee, aber auch ohne das Verfahren einer bewußten Induktion, man versucht darauf los wie ein Affe!« (GW 1, S. 636). Allein ein methodisch betriebenes Experimentieren kann zukunftsfähige Alternativen zur obsolet gewordenen idealistischen Deduktion eröffnen. Im Begriff ›Versuch‹ verbindet sich die hypothetisch-tentative Reflexionsmethode des Essays36 mit der Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Experiments, – etwa wenn Musil mit Bedauern konstatiert, dass »die Zeitungen nicht Laboratorien und Versuchsstätten des Geistes« sind, »was sie zum allgemeinen Segen sein könnten« (GW 1, S. 325). Wenn er im Anschluss an Ernst Mach37 von der »Summe der Versuche« im Rahmen einer »Experimentalgemeinschaft« spricht (GW 1, S. 490) und die »Utopie des exakten Lebens« als »eine Gesinnung auf Versuch und Widerruf« beschreibt, die mit einem »Mangel an Idealismus« einhergeht (GW 1, S. 304), dann wird die Differenz zwischen dem deduktiven Ansatz idealistischer Systement-
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Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno. In: Euphorion 94 (2000), S. 79–111. Mach verbindet mit seiner Theorie des induktiven Experiments die Forderung nach gemeinschaftlicher Anstrengung: »Die Bildung eines allgemeinen Urteils auf diesem Wege ist keine Augenblicksangelegenheit, die sich im einzelnen allein vollzieht. Alle Zeitgenossen, alle Stände, ja ganze Generationen und Völker arbeiten an der Befestigung oder Korrektur solcher Induktionen« (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrthum. Leipzig 31917 (zuerst 1905), S. 309).
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würfe und der induktiven38 Methode eines experimentellen Essayismus deutlich: Von deduktiver Systematik und von idealistischer Spekulation, die sich an Ganzheitsvorstellungen orientiert, unterscheidet sich die Flexibilität eines experimentellen Denkens, das induktiv verfährt. Musil lässt seinen Protagonisten mit Möglichkeitssinn experimentieren und zu scharfsinnigen psychologischen Analysen gelangen.39 Subversiv durchleuchtet Ulrich sein soziales Umfeld auf verborgene Motive, falsche Prätentionen und hybride Selbststilisierungen hin. Auch seine Kritik an antirationalistischen und kulturpessimistischen Tendenzen zeigt exemplarisch den Habitus eines »monsieur le vivisecteur«.40 Seine an Nietzsche geschulte Entlarvungspsychologie verbindet sich mit differenzierter Kulturdiagnose.
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Musils Präferenz für das induktive Verfahren entspricht Konzepten von Ernst Mach. Dieser differenziert zwischen der vollständigen Induktion, die als ein rein logisches Verfahren von Individual- zu Klassenurteilen führt, und der unvollständigen Induktion. Letztere, so Mach, »antizipiert zwar eine Erweiterung der Erkenntnis, schließt aber hiermit die Gefahr des Irrthums ein, und ist von vornherein bestimmt, erst auf die Probe gestellt, korrigiert oder ganz verworfen zu werden« (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrthum (Anm. 37), S. 309). Damit korrespondiert Musils essayistisch-experimentelles Verfahren im Mann ohne Eigenschaften. Der Begriff ›Gedankenexperiment‹ findet sich nicht nur in Musils Roman (GW 1, S. 594, 631), sondern auch bereits bei Mach: »Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein anderes, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird – das Gedankenexperiment. Der Projektemacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in Gedanken […]« (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrthum (Anm. 37), S. 186). Vgl. hierzu Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966, S. 52. Vgl. dort auch S. 53: »Mach bezeichnet die ›Methode der Variation‹ als ›Grundmethode des Experiments‹ [Ernst Mach: Erkenntnis und Irrthum (Anm. 37), S. 183], und Ulrich verfährt nach dieser Methode. Er bespricht die gleichen Themen mit verschiedenen Partnern, erläutert sie an verschiedenen Beispielen, beleuchtet sie von verschiedenen Seiten und in immer neuen Zusammenhängen und registriert die Nuancen und Veränderungen, die dabei zutage treten«. Schon in der Literatur der Jahrhundertwende war ›Zergliederung‹ zu einem Leitbegriff und ›Analyse‹ zum Programm geworden. Vgl. dazu Sibylle Mulot: Der junge Musil. Seine Beziehung zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Stuttgart 1977, S. 77. In Stichworten zu den Aufzeichnungen eines Schriftstellers von 1940/41 notiert Musil: »Dieser Spaltungsvorgang, die Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur. Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. À la Nietzsche: ein Psychologe. In summa kommt da etwas von außen. Die ›Moderne‹ kam« (GW 2, S. 915– 936, hier S. 923). Im frühesten Tagebucheintrag erklärt Musil: »Neulich habe ich für mich einen sehr schönen Namen gefunden: monsieur le vivisecteur. […] Mein Leben: – Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts« (Robert Musil: Tagebücher (Anm. 31). Bd. 1, S. 2). Offensichtlich wurde Musil zu seinem Konzept des ›Monsieur le vivisecteur‹ durch seine Nietzsche-Lektüre angeregt. Vgl. dazu Robert Musil: Tagebücher (Anm. 31). Bd. 2, S. 4f.; dort finden sich zu den Begriffen ›Vivisektion‹ und ›Vivisektoren‹ Belegstellen aus Nietzsches Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral.
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Im literarischen Experimentierfeld seines Romans realisiert Musil unterschiedliche Valenzen des Begriffs ›Versuch‹: Die Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Experiments bezieht er auf das spezifische Reflexionspotential der Gattung Essay als ›Versuch‹; dabei konvergieren Literatur und Leben, existentieller Anspruch und poetologische Dimension. Ulrich glaubt sogar, »Welt und eigenes Leben« mit dem polyperspektivischen Denkansatz des Essays analogisieren zu können: Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. (GW 1, S. 250)
Maßgebend für diese poetische Versuchsanordnung ist die Frage nach dem »richtigen Leben«, die – wie Nietzsche betont – bereits in der Philosophie des Sokrates eine zentrale Bedeutung hatte.41 Vor allem Platons Schriften Gorgias und Politeia werfen die Sokratische Frage nach dem rechten Leben auf.42 Da sie für den ›Mann ohne Eigenschaften‹ eine zentrale Rolle spielt, dienen die antiken Reminiszenzen im Roman keineswegs nur dazu, obsolete Formen des Idealismus – etwa in Gestalt von Diotima – der Satire preiszugeben. Über diese negative Funktion hinaus findet auch eine positive Rückbesinnung auf die Quellen des abendländischen Idealismus statt. Aus ihnen gewinnt Musils Protagonist orientierende Leitvorstellungen. Im Kapitel 62 über die ›Utopie des Essayismus‹ gibt er sich auf die hypothetische Frage, »welches Ziel ihm vorschwebe«, selbst die Antwort, »daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens« (GW 1, S. 255). Dieses Bekenntnis macht Ulrichs existentiellen Anspruch evident. Auch sein Ideal eines »wahrhaft experimentelle[n] Leben[s]« (GW 1, S. 826) hängt mit der »Sehnsucht nach einem Gesetz des rechten Lebens« zusammen (GW 1, S. 825). Bei seiner Suche nach einer authentischen Lebensform ist der ›Mann ohne Eigenschaften‹ von einem idealistischen Denkimpuls motiviert, der ihn auch dazu veranlasst, sich mit den unauthentischen Verhaltensweisen
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Zur Frage nach dem ›richtigen Leben‹ vgl. Friedrich Nietzsche: Die vorplatonischen Philosophen. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Weitergeführt v. Wolfgang Müller-Lauter u. Karl Pestalozzi. Abt. 2, Bd. 4: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72–WS 1874/75). Bearb. v. Fritz Bornmann u. Mario Carpitella. Berlin, New York 1995, S. 207–362, hier S. 354. Schon Aristoteles hebt den Stellenwert der Frage nach dem rechten Leben für Sokrates hervor (Metaphysik, 987b, 1f.). Laut Nietzsche ist Sokrates »der erste Lebensphilosoph«, weil er »das richtige Leben« als den Zweck des Denkens betrachtet (ebenda). Vgl. Platon: Gorgias 500c-d, 512e; Politeia 344e, 352d.
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und fingierten Handlungsmotiven anderer Romanfiguren kritisch auseinanderzusetzen. In der ihn umgebenden Gesellschaft, die in normativen Strukturen, dogmatischen Rollenerwartungen, Denkschablonen und Vorurteilen erstarrt ist, nimmt Ulrich die subversive Position eines ›advocatus diaboli‹ ein (GW 1, S. 286). Dabei adaptiert er sogar Elemente des Sokratischen Dialogs: Durch die philosophische Radikalität seines Fragens unterminiert er Denkkonventionen und bloß scheinbare Gewissheiten. Typische Elemente des Platonisch-Sokratischen Dialogs,43 etwa die Methode subversiven Fragens, die Paralyse von Vorurteilen und der oft aporetische Ausgang, sind in seinem Kommunikationsverhalten deutlich zu erkennen.44 Dabei stellt Ulrich nicht nur die Positionen seiner Gesprächspartner, sondern auch sich selbst in Frage. Obwohl er durch seinen existentiellen Anspruch und die universelle Offenheit seines Denkens in die Aporie gerät, fordert er seine Umwelt immer wieder durch Gedankenexperimente heraus. So vermittelt Musil den Sokratischen Dialog mit dem modernen Essayismus45 und reichert ihn zugleich mit Komponenten des ›freien Geistes‹ im Sinne von Nietzsches Experimentalphilosophie an. Der ›Mann ohne Eigenschaften‹ weist erstaunliche Analogien zum Typus der ›freien Geister‹ auf, die Nietzsche in seiner Genealogie der Moral als die »Verneinenden und Abseitigen von Heute« charakterisiert: Sie sind die Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, […] diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt […]. (KSA 5, S. 398f.)46
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Vgl. dazu Wolfgang H. Pleger: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 193–195. Mehrere der frühen Dialoge Platons enden aporetisch. Zu den Dialogtypen in Platons Werk vgl. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 70–83. Ein Grundelement des Sokratischen Dialogs ist die Ironie. In späten Notizen grenzt Musil die »Sokratische u. moderne Ironie« (Robert Musil: Tagebücher (Anm. 31). Bd. 1, S. 964) folgendermaßen voneinander ab: »Sokratisch ist: Sich unwissend stellen. | Modern: Unwissend sein!« (Robert Musil: Tagebücher (Anm. 31). Bd. 2, S. 736). Musil spezifiziert sein Konzept der Ironie in einem am 30. April 1926 mit Oskar Maurus Fontana geführten Interview: Die »ironische Grundhaltung« in seinem Roman versteht er selbst nicht als »Geste der Überlegenheit«, sondern als »eine Form des Kampfes« (GW 2, S. 939–942, hier S. 941). Georg Lukács bezeichnete Platon als den »größten Essayisten« und sah das Leben des Sokrates als »das typische für die Form des Essays« an (G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper. Berlin 1911. In: Ders.: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied, Berlin 1971, S. 7–31, hier S. 24f.). In seiner Geburt der Tragödie übt Nietzsche Kritik an Sokrates als dem »Urbild und Stammvater« des »theoretischen Menschen« (KSA 1, S. 116) und »des theoretischen Optimisten« (KSA 1, S. 100), auf den der Glaube »an die Ergründlichkeit der Natur und an
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Musil selbst erwähnt Nietzsches Konzept des ›freien Geistes‹ im Mann ohne Eigenschaften (GW 1, S. 794f.) sowie in seinem Vortrag Der Dichter in dieser Zeit (GW 2, S. 1245, 1247). Anzumerken bleibt noch, dass die vorurteilsfreie Kritik, mit der Ulrich den ideologischen Verblendungen anderer Romanfiguren begegnet, auch durch das anti-idealistische Erbe der positivistischen Wissenschaft47 und den Exaktheitsanspruch der Neuen Sachlichkeit geprägt ist. Zwar werden Nüchternheit des Urteils und Genauigkeit der Analyse in Musils Roman zum Medium der Kritik an obskuren Ganzheitsvisionen und idealistischen Konzepten. Aber den eigentlichen Fokus bildet das Ideal eines authentischen Lebens.
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die Universalheilkraft des Wissens« zurückzuführen sei (KSA 1, S. 111). Ein Kapitel der Götzen-Dämmerung trägt den Titel »Das Problem des Sokrates«; hier charakterisiert Nietzsche »Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome« und als »antigriechisch«; jene sokratische Gleichsetzung von »Vernunft = Tugend = Glück« hält er für den Ausdruck instinktfeindlicher Décadence (KSA 6, S. 72). Schon in seinen frühesten Tagebuchheften legt Musil Nietzsche-Exzerpte an, unter anderem auch zum Kapitel »Das Problem des Sokrates« in der Götzen-Dämmerung (vgl. Robert Musil: Tagebücher (Anm. 31). Bd. 1, S. 32). Diese Wissenschaftsorientierung ist geradezu von »Nüchternheit […] beseelt« (GW 1, S. 302). Eine Steigerung bietet die folgende Charakterisierung des antimetaphysischen Positivismus: »damals muß das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge nach allerhand Zeugnissen geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein« (GW 1, S. 302).
Paul Michael Lützeler
Hermann Brochs Kulturkritik: Nietzsche als Anstoß I In die Jahre und Jahrzehnte vor Beginn des Ersten Weltkriegs fielen die geistigen und historischen Umbrüche, die das intellektuelle und soziale Leben Europas im 20. Jahrhundert bestimmen sollten: Im Bereich von Wissenschaft und Kunst verbinden wir mit Nietzsche die Religionskrise, mit Mach die Krise des Selbst, mit Freud die Krise des Eros, mit Einstein die Krise in der theoretischen Physik, mit Hofmannsthal die Sprachkrise, mit Kandinsky die Umbrüche in der Malerei, mit Loos die Funktionalisierung der Architektur, im Sozialen mit Le Bon das Phänomen der Massengesellschaft, mit Simmel die Fremde der Großstadt und mit Lenin die theoretische und praktische Vorbereitung einer gesellschaftlichen Revolution.1 Auf all diese Krisen hat Broch schon vor dem Exil – in Ansätzen sogar schon vor 1914 – in einer Reihe von Essays, Stellungnahmen und Resolutionen (KW 9, KW 10, KW 11)2 reagiert, und in der Emigration setzte er die Auseinandersetzung mit ihnen in Hofmannsthal und seine Zeit (KW 9.1, S. 111–275), in der Massenwahntheorie (KW 12) und mit den Studien zum Thema Demokratie und Menschenrecht (KW 11) fort. Keine der Krisen hat ihn so nachhaltig umgetrieben wie die fundamentale Religionskrise, die er in Nietzsches Gesamtwerk artikuliert fand. Broch gehörte der sogenannten expressionistischen Generation an, die in Nietzsche ihren Philosophen gefunden hatte. Er verschrieb sich jedoch keiner einzelnen wissenschaftlichen oder sonstigen Lehre. Für sein Werk sind vielmehr die Verfahren des Eklektizismus, der Kombination, Bricolage und Montage bezeichnend. So kann auch im Fall Nietzsche keine Rede von einer Identifi-
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Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978. Markus Fischer: Augenblicke um 1900. Frankfurt a. M. 1986. Zitiert wird nach Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1974–1981, abgekürzt als KW mit den Band- und Seitenangaben in Klammern. KW 1: Die Schlafwandler; KW 2: Die Unbekannte Größe; KW 3: Die Verzauberung; KW 4: Der Tod des Vergil; KW 5: Die Schuldlosen; KW 6: Novellen; KW 7: Dramen; KW 8: Gedichte; KW 9: Schriften zur Literatur; KW 10: Philosophische Schriften; KW 11: Politische Schriften; KW 12: Massenwahntheorie; KW 13: Briefe.
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kation sein. Allerdings waren die Anstöße, die er aus dessen Büchern bezog, von anhaltender Wirkung. In der Religionskrise wurzelte nach Broch die europäische Kulturkrise überhaupt. Die Katastrophe des Krieges und die Krise der Religion wurden von Broch in einem ursächlichen Zusammenhang gesehen, und es war die Erfahrung des Krieges, die ihn dazu veranlasste, seine Wert- und Geschichtstheorie zu entwerfen, als deren Kernpunkt er das Verschwinden eines in der christlichen Religion gegründeten, gesamtkulturellen europäischen Zentralwertes betrachtete. In Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft (§ 125) wird der »tolle Mensch« geschildert, der »am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹«. Nietzsches ›toller Mensch‹ weiß, dass die Gottverlassenheit in der Moderne menschengemacht ist, wenn er auf die selbstgestellte Frage »Wohin ist Gott?« die Antwort gibt: »Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich!« (KSA 3, S. 480f.).3 Nietzsche variiert hier Diogenes von Sinope. Der griechische Wanderlehrer hatte, so will es die Überlieferung, gut zweitausend Jahre zuvor die Agora Athens betreten. Auch er trug am helllichten Tag eine Laterne in der Hand, wobei er diesem und jenem ins Gesicht leuchtete, den Kopf schüttelte und weiterging. Schließlich fragte ihn jemand, wen er denn zu finden hoffe. »Ich suche einen Menschen«, war die Antwort. In Menschliches, Allzumenschliches – Paragraph 18 des Kapitels Der Wanderer und sein Schatten – überlegt beziehungsweise fragt Nietzsche unter der Überschrift »Der moderne Diogenes«: »Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben. – Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen?« (KSA 2, S. 553). An der oben zitierten Stelle der Fröhlichen Wissenschaft fährt Nietzsche fort (übrigens mit Anspielung auf den Höllensturz der Verdammten, wie er in zahllosen Werken der europäischen Malerei festgehalten worden ist): Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde, von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? (KSA 3, S. 481)
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Zitiert wird nach Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin 1988, abgekürzt als KSA mit den Band- und Seitenangaben in Klammern.
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Metaphern des Stürzens, Irrens, des Nichts, der Leere, der Kälte und des Dunkels beherrschen auch Brochs kulturkritisches Vokabular, wie die Essayfolge Zerfall der Werte in der Schlafwandler-Trilogie zeigt. Sowohl bei Nietzsche wie auch bei Broch wirkt ein Bild europäischer Kulturgeschlossenheit nach, wie es die Romantiker – vor allem Novalis in Die Christenheit oder Europa – vom Mittelalter entworfen hatten. War Broch ein ›moderner Diogenes‹, der sich – dem ›tollen Menschen‹ gleichend – Nietzsches Laterne ausborgte, um sich auf die Suche nach Mensch und Gott zu machen? Dass Nietzsches Werk zu seinen primären Inspirationsquellen gehörte, hat Broch selbst in seinem Essay Das Böse im Wertsystem der Kunst bekannt. Dort lobt er Nietzsche wegen dessen »prinzipielle[r] […] Forderung«, den »Wertbegriff zum methodologischen Kernpunkt der Philosophie, besonders aber der Geschichtsphilosophie« gemacht zu haben. Damit sei es Nietzsche gelungen, »die Brücke zwischen einer versinkenden und überlebten Spekulation und den Möglichkeiten einer neuen Metaphysik« (KW 9.2, S. 121f.) zu schlagen. Es überrascht nicht, dass der Autor in seiner Studie Hofmannsthal und seine Zeit für Nietzsche und gegen Richard Wagner Partei ergriff. Nietzsche, so Broch, »durchschaute die Epoche« (KW 9.1, S. 141) und ihr Wert-Vakuum; Wagner dagegen verstand er als »Genie des Vakuums« (KW 9.1, S. 140), als Bediener statt Gegner der bürgerlich-deutsch-nationalen Ambitionen im 19. Jahrhundert. Schon drei Jahrzehnte zuvor hatte Broch in einer Rezension geschrieben, dass man »mit Nietzsche« begreifen könne, »daß in der Bayreuther Schönheitssuche und ästhetischen Rezeptualität die kompakte Masse der ganzen deutschen Philistrosität ihren Drang zur ästhetischen Erhebung zusammenfaßt« (KW 9.1, S. 340). Eine weitere Parallele zwischen sich und Nietzsche sah Broch im Hinblick auf den Anstoß zu ihrem jeweiligen denkerisch-dichterischen Werk. Letztlich sei ihnen ein Verständnis von Kultur als Protest des Lebens gegen den Tod gemeinsam. Dazu schrieb Broch im Jahre 1933: Das Antlitz des Todes ist der große Erwecker! Was Nietzsche 1870 auf den französischen Verbandplätzen erlebt hat, das Kriegsereignis, das für sein Denken wahrscheinlich von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist oder zumindest beschleunigend auf seine Entwicklung gewirkt hat, das war fünfzig Jahre später in unendlich gesteigerten Dimensionen vorhanden, fünfzig Jahre später war in Europa der Tod zum düstern Beherrscher aller Dinge geworden, und das Grauen des Todes schrie zum Himmel: da erst war der Zusammenbruch aller Werte offenbar, die Angst um den Verlust aller Lebenswerte senkte sich auf die Menschheit, die bange Frage nach der Möglichkeit eines neuen Wertaufbaues wurde unabweisbar. (KW 9.2, S. 124)
Broch hatte seinem zeitkritischen Pessimismus, seiner Überzeugung, das Ende einer Zivilisation zu durchleben, bereits in seinen Notizen Kultur 1908/1909 (KW 10.1, S. 11–31) Ausdruck gegeben, aber es ist doch das Er-
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lebnis des Ersten Weltkriegs, das ihn zu den Studien zur Wert- und Geschichtstheorie treibt, deren Ergebnis die zwischen 1917 und 1919 entstandene Arbeit Zur Erkenntnis dieser Zeit (KW 10.2, S. 11–80) ist. Er baute sie in den 1920er Jahren aus, um sie schließlich 1932 in den dritten Band der Schlafwandler unter dem Titel Zerfall der Werte zu veröffentlichen. Für ihn selbst gilt ebenfalls, dass »das Kriegsereignis […] beschleunigend auf seine Entwicklung gewirkt hat« (KW 9.2, S. 124). Entsprechend beginnt die während des Ersten Weltkriegs geschriebene Abhandlung Zur Erkenntnis dieser Zeit mit den Sätzen: Hat dieses verzerrte Leben noch Wirklichkeit? hat diese hypertrophische Wirklichkeit noch Leben? die pathetische Geste einer gigantischen Todesbereitschaft endet in einem Achselzucken – sie wissen nicht, warum sie sterben; wirklichkeitslos fallen sie ins Leere, dennoch umgeben und getötet von einer Wirklichkeit, die die ihre ist, da sie deren Kausalität begreifen. (KW 10.2, S. 11)
Mit diesem Passus, der ohne Änderung übernommen wurde, beginnt noch fünfzehn Jahre später der Zerfall der Werte (KW 1, S. 418) in den Schlafwandlern. Auch in seiner Autobiographie als Arbeitsprogramm4 von 1941 hielt Broch jene Provokation fest, die der Erste Weltkrieg für seine denkerisch-dichterische Existenz bedeutete: »Der Krieg hatte sich als ein sinnloses blutiges Aufeinanderprallen kontradiktorischer Wertsysteme gezeigt, von denen jedes einzelne mit dem Anspruch auf absolute Alleingeltung aufgetreten war«.5 In Nietzsches Werk sah Broch allerdings auch eine Gefahr, der er selbst nicht erlag, nämlich bei aller Kritik am Christentum, bei allem »antitheologische[n]« Denken (KW 9.2, S. 185) nicht dem »Anti-Christ« (KW 9.1, S. 264) das Wort zu reden,6 nicht das »Rüstzeug zur Dämonie« (KW 13.3, S. 214) für die Diktatoren zu liefern, nicht dem »Wahnsinn der Verworfenheit« (KW 9.2, S. 186) zu verfallen, nicht in die Situation zu kommen, statt zu einem »Lehrer[-] der Humanität« zu einem »Lehrer[-] der Dehumanisation« (KW 9.1, S. 265) zu werden. Bereits in den Schlafwandlern erkennt Broch in den »Ideologien« der Moderne – gleichgültig, ob sie »mit dieser oder jener politischen Signatur versehen« sind – die Tendenz zum »Totalsystem«, das, wie er sagt, »vom Standpunkt der Kirche aus gesehen, kein anderes sein wird als das des Antichrist« (KW 1, S. 703f.). Hier wird der Grundunterschied zwischen Nietzsches und Brochs Werttheorie deutlich:
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Hermann Broch: Psychische Selbstbiographie. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1999, S. 83–143. Ebenda, S. 87. Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (KSA 6, S. 165–253).
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Nietzsche operiert mit utopischen Visionen vom ›Übermenschen‹, vom ›freien Geist‹ oder vom ›guten Europäer‹,7 von einem Menschentypus, den es nur nach der sogenannten ›Umwertung aller Werte‹ gibt, nach einem Abstreifen von asketisch-christlichen, sozialistischen, feministischen Vorstellungen, die den – nach Nietzsche – dekadenten Europäer der Gegenwart noch beherrschen. ›Nihilismus‹ (als Verneinung des Bestehenden), ›Wille zur Macht‹ und dionysische Lebensbejahung zählen zu den Grundwerten der Anthropologie Nietzsches.8 Brochs Zerfall der Werte dagegen hat mit materialer Werttheorie nichts gemein. Anders als Nietzsche ist er kein Prophet, der ein neues Menschenbild entwirft, der die Werte einer überlieferten Ethik stürzen und eine neue etablieren möchte. Er ist analysierender Beobachter sich verändernder Strukturen im Gebäude des europäischen Wertekosmos. Seine Zerfallstheorie ist eine formale Werttheorie, letztlich eine Systemtheorie ›avant la lettre‹.9 Broch kombinierte eine soziologische Moderne-Theorie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme, wie er sie von Max Weber10 her kannte, mit einer kulturtheoretischen formalen Werttheorie, wie sie von dem Neukantianer Heinrich Rickert11 entwickelt worden war. Bezeichnend ist für Broch, dass er sich im Detail nicht an die wissenschaftlichen Ergebnisse von Weber und Rickert hielt, dass man vielmehr – wie im Fall Nietzsche – denkerische Anstöße konstatieren kann, wobei der Autor dann eigenständig und eigenwillig weiterarbeitete. II Am Beispiel von Nietzsches Konzept des guten Europäers kann man die Übereinstimmungen und die Unterschiede zwischen ihm und Broch verdeutlichen. In ihrem europäischen Kosmopolitismus, das heißt in ihrem
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Vgl. das Nietzsche-Kapitel in Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, S. 190–204. Vgl. Karl Jaspers: Nietzsche und das Christentum. Hameln 1947. Dieter Henke: Gott und die Grammatik. Nietzsches Kritik der Religion. Pfullingen 1981. Mazzino Montinari: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Berlin 1991. Rüdiger Safranski: Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens. München 2000. Vgl. Bernhard Fetz: ›Der Rhythmus der Ideen‹. On the Workings of Broch’s Cultural Criticism. In: Paul Michael Lützeler, Matthias Konzett, Willy Riemer u. Christa Sammons (Hg.): Hermann Broch. Visionary in Exile. The 2001 Yale Symposium. Rochester/NY 2003, S. 37–54. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1999 (zuerst 1922). Heinrich Rickert: Vom System der Werte. In: Logos 4 (1913), S. 295–327. Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum Frühwerk und zur Romantrilogie Die Schlafwandler (1914–1932). Tübingen 1986.
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Antinationalismus und Antirassismus stehen sie sich nahe. Nur kleindimensionierte Geister konnten Nietzsche zufolge »in irgend einer Vaterländerei« (KSA 5, S. 200), der »Krankheit dieses Jahrhunderts« (KSA 2, S. 593), Genüge finden. Er sei nicht »deutsch« genug, »um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt« (KSA 3, S. 630). Nietzsches Kritik an den »Europäern von heute« ist seitenfüllend: Vermassung, Selbstverkleinerung, Pseudomoral, Prätention, Nihilismus und naiver Fortschrittsoptimismus waren konstante Vorwürfe innerhalb seiner Kulturkritik. »Der heutige Europäer« sei »eine sublime Missgeburt«, eine »verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges« (KSA 5, S. 83). Er lasse sich gängeln durch »den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: ›wir wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!‹ Irgendwann einmal – der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa überall der ›Fortschritt‹« (KSA 5, S. 123). Die aus dem Christentum sich herleitenden modernen Ideen von Gleichheit und Solidarität des Europäers der Gegenwart (Demokratie, Sozialismus, Feminismus) lehnte Nietzsche als Symptome einer Vermassung und seelischen Amputation der Individuen ab. Broch, der ebenfalls das Thema der Vermassung ins Zentrum seiner Kulturkritik stellt, redete umgekehrt der Demokratisierung (inklusive der Gleichberechtigung der Geschlechter) und einer Synthese von Kapitalismus und Sozialismus das Wort, wenn es darum ging, Perspektiven für eine gesellschaftliche Erneuerung im 20. Jahrhundert aufzuweisen. Das zeigen seine politischen, menschenrechtlichen und massenpsychologischen Analysen (KW 11). Nietzsche kontrastierte den Gegenwarts-Europäer mit dem Menschentypus angeblich heroischer Epochen wie der griechischen Antike und der europäischen Renaissance. »[I]ch zweifle nicht«, bekannte der Philosoph, »dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen würde, – damit allein schon giengen wir ihm ›wider den Geschmack‹« (KSA 5, S. 221). Ähnlich lautete es an anderer Stelle: »Der Europäer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung« (KSA 6, S. 171). Nietzsche dachte die Entwicklungslinie des ›Europäers von heute‹ zum ›zukünftigen Europäer‹ fort und wartete mit folgendem, für ihn deprimierenden Ausblick auf: »das intelligenteste Sklaventhier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Excess neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos« (KSA 13, S. 17). Das sind Beschreibungen, mit denen man eine Reihe von Romanfiguren Brochs charakterisieren kann, man denke an Joachim von
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Pasenow in den Schlafwandlern oder an A. in den Schuldlosen. Broch fand sie typisch für die Epoche der Jahrzehnte vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Aber Brochs Figurenensemble (man denke an Bertrand in den Schlafwandlern, an Mutter Gisson in der Verzauberung oder an die Magd Zerline in den Schuldlosen) ist viel komplexer und lässt sich keineswegs auf Exempel der Kulturkritik Nietzsches reduzieren. Wie andere Europatheoretiker ging Broch bei der Diagnose der kulturellen Gegebenheiten seiner Zeit von einem doppelten kontinentalen Erbe aus: von Antike und Christentum. Eine intensivere Diskussion über Katholizismus, Protestantismus und Judentum als jene am Ende der Schlafwandler-Trilogie (im Epilog) ist in einem Roman des 20. Jahrhunderts selten geführt worden, und zwar nicht im Sinne einer Negation, sondern im Geist einer Kontinuität auf einer neuen, abstrakteren Ebene. Nietzsche dagegen strebte einseitig die Fortsetzung der von ihm als heroisch verstandenen Antike (beziehungsweise ihrer angeblichen Neuauflage in der Renaissance) und die Eliminierung des christlichen Traditionsteils an, den er als Manifestation einer Sklavenmoral verachtete. In denkbar schärfster Wendung gegen Christenheits-Europäer wie Novalis und Chateaubriand formulierte Nietzsche sein Verdikt der christlichen Religion: Ich verurtheile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Corruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Corruption gehabt. Die christliche Kirche liess Nichts mit ihrer Verderbniss unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine SeelenNiedertracht gemacht. (KSA 6, S. 252)
Die Revision des Christentums nannte Nietzsche »Europa’s längste[-] und tapferste[-] Selbstüberwindung« (KSA 5, S. 410), und im Sinne eines radikalen Bruchs mit christlichen Verhaltensnormen traute er dem »gute[n] Europäer« zu, »alle Verbrechen« zu begehen, »die gefährlichsten Gedanken und die gefährlichsten Weiber« zu lieben (KSA 11, S. 348). Broch, in den 1930er und 1940er Jahren mit jenen Machtmenschen konfrontiert, die bereit waren, »alle Verbrechen« zu begehen, dachte nicht im Entferntesten daran, Nietzsches Proklamationen mit Beifall zu bedenken. Um seine Utopie vom ›guten Europäer‹ von morgen oder übermorgen zu verdeutlichen, zitiert Nietzsche einige Persönlichkeiten aus der politischen und geistigen Aristokratie von gestern und vorgestern herbei. Im Vergleich mit dem heutigen sei der gute Europäer der Zukunft »eine stärkere Art« Mensch, sei im Gegensatz zu ihm geprägt durch »klassische[n] Geschmack« (KSA 13, S. 17f.). Nachdem »der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden« (KSA 3, S. 573) sei, wäre es an der Zeit,
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sich auf das »Klassische« zu besinnen, das der Autor als »Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit«, als »Muth zur psychologischen Nacktheit« (KSA 13, S. 18) definiert. Napoleon verkörperte nach Nietzsche am reinsten das Bild des ›guten Europäers‹. Er nämlich habe in der Neuzeit »ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht« (KSA 3, S. 610). Napoleons »Erscheinen« als »unbedingt Befehlende[r]« unter all den »Heerdenthier-Europäer[n]« bejubelte Nietzsche als »Erlösung« (KSA 5, S. 120). Der Korse setze die Reihe antiker Heroen mit dem Willen zur Macht wie Alkibiades und Cäsar fort und sei der würdige Nachfolger des »ersten Europäer[s]«, als den Nietzsche den »Hohenstaufen Friedrich den Zweiten« verstand (KSA 5, S. 121). Nichts lag Broch ferner, als Machtmenschen zu bejubeln; im Gegenteil, seine politischen Analysen zielen alle darauf ab, politische Macht unter Kontrolle zu halten, wie es in demokratischen Gemeinwesen auch nicht anders sein kann. In seinem Roman Die Verzauberung (KW 3) von 1935 hat er die Gefahr geschildert, die aufkommt, wenn sich Menschen einer machtbesessenen Führerfigur – sie heißt im Roman Marius Ratti – ausliefern. III Um zu verdeutlichen, wie sehr Brochs formal-struktureller Wertbegriff von Nietzsches material-weltanschaulichem abweicht und wie unterschiedlich deshalb auch die Bewertung des Christentums ausfällt, sei Brochs Geschichtstheorie hier skizziert. Broch versteht die Zeit um 1500 als eine Art innereuropäische Achsenzeit, um einen Terminus Karl Jaspers aufzugreifen und zu variieren.12 Jaspers benutzte den Begriff der Achsenzeit unter welthistorischer Perspektive. Er untersuchte geschichtsphilosophisch die Zeitspanne von 800 bis 200 v. Chr. In jener Phase seien die geistigen Grundlagen der heutigen Menschheits-Zivilisation gelegt worden. Broch schätzt die Zeit um 1500 in ihrer Bedeutung für die europäische Kultur ähnlich ein. Anders als später Reinhart Koselleck, erkennt Broch keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen der Zeit um 1500 und der um 1750. Koselleck meint, dass im 18. Jahrhundert zwei historische Großformationen aufeinandertreffen, die Frühe Neuzeit und die Neuzeit, und dass das 18. Jahrhundert wie ein Bergsattel diese beiden Welten, die vormoderne und die moderne, trenne.13 Moderne bei Broch hingegen ist
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Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949. Reinhart Koselleck: Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977. Ferner ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979.
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ein kontinuierlicher Prozess, der um 1500 in Europa einsetzt, immer weitere Lebensbereiche und Regionen sukzessive erfasst und nach wie vor andauert, auch wenn er im 20. Jahrhundert in eine spezifische Krise gerät. Diese Krise ist das Lebensthema Hermann Brochs. In seinem Historischen Exkurs aus dem Zerfall der Werte-Essay in den Schlafwandlern spricht Broch von den Veränderungen um 1500 als dem »Prozeß, der [die] fünfhundertjährige[-] Wertauflösung« des »mittelalterlichen Organons« einleitete und den »Samen der Moderne« legte. Es sei die Epoche der »Aussaat und zugleich der ersten Blüte« der Moderne gewesen. Alle »Phänomene« dieser »rebellische[n] Zeit« könnten, meint Broch, auf einen »gemeinsamen Nenner« gebracht werden. Die »gemeinsame Wurzel« der Umbrüche um 1500 sei der »Umschwung im Denken« (KW 1, S. 533) gewesen: weg vom »Platonismus«, hin zum »Positivismus«, von der »scholastischen Dialektik« zur »Sprache der Dinge« (KW 1, S. 536), von einer Jenseitsorientierung zu einer Verdiesseitigung, von der Transzendenz zur Immanenz. Die Plausibilität der Scholastik als umfassende Kulturtheorie sei in dem Moment verschwunden, als sie mit den neuen Einsichten der Astronomie (Kopernikus), der Geographie (Kolumbus), und der protestantischen Theologie (Luther) konfrontiert worden sei. Diese neuen Einsichten konnten Broch zufolge nicht mehr in das alte Erkenntnisparadigma integriert werden, verwiesen auf seine Grenzen und sprengten es schließlich auf. Als Grundimpuls der Moderne macht Broch den »Zweifel«, ja »die Pflicht zur Frage und zum Zweifel« (KW 1, S. 624) aus. Mit anderen Worten: Der Grundimpuls des ganzen ununterbrochenen Modernisierungsprozesses seit der Zeit um 1500 lässt sich mit den Begriffen Zweifel, Opposition, Grenzüberschreitung, Verweigerung, Nichtanerkennung und Infragestellung umschreiben. Die Scholastik habe versucht, die beiden wirksamsten, jedoch auseinanderstrebenden europäischen Denktraditionen zusammenzuzwingen: diejenige der Transzendenz und jene der Immanenz, für die in der Antike die Namen Platon und Aristoteles und in der Moderne Kant und Spinoza stehen.14 Das Paulinische Christentum – von den Kirchenvätern systematisiert und von den Scholastikern ins Zentrum des Wissens überhaupt gerückt – habe mit den Dogmen der Trinität und der Eucharistie die Transzendenz immanent und die Immanenz transzendent werden lassen. Im »erhaben-irdische[n], unendlich-endliche[n] Symbol der Eucharistie« (KW 1, S. 535) habe das vorreformatorische Christentum seinen sinnfälligsten Ausdruck gefunden. Der »anthropomorphe[-] Gott« (KW 1, S. 474) der christlichen Trinität und die Eucharistie hätten jedoch als Ausdruck der scholastisch gefassten irdischen Absolutheit vor den Fragen und Zweifeln der Moderne nicht
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Michael Hardt u. Antonio Negri: Zwei Europa, zwei Modernen. In: Dies.: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M. 2000, S. 83–106.
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bestehen können. Das moderne Denken zeichnet sich nach Broch durch die »ewige[-] Fortsetzbarkeit der Frage« und durch das »Bewußtsein« aus, »daß nirgends ein Ruhepunkt gegeben ist, daß immer weiter gefragt werden kann, gefragt werden muß« (KW 1, S. 474). So habe »das Denken« in der Moderne »den Schritt vom Monotheistischen ins Abstrakte gewagt, und der Gott, der im Endlich-Unendlichen der Dreieinigkeit sichtbare und persönliche Gott«, sei in diesem denkerischen Abstraktionsprozess in die »Neutralität des Absoluten« verschoben worden. Diese »Umwälzung« habe zu einer »Umverlegung des Plausibilitätspunktes auf eine neue Unendlichkeitsebene« geführt. Damit sei »die Entrückung des Glaubens aus dem irdischen Wirken« (KW 1, S. 497) verbunden gewesen. Daraus zieht Broch die für ihn entscheidende systemtheoretische Schlussfolgerung: Und angesichts des unendlich fernen Punktes, zu dessen unerreichbar noumenaler Ferne nunmehr jede Frage- und Plausibilitätskette hinzustreben hat, war die Bindung der einzelnen Wertgebiete an einen Zentralwert mit einem Schlage unmöglich geworden; mitleidlos durchdringt das Abstrakte die Logik jedes einzelnen Wertschaffens, und ihre Inhaltsentblößung […] radikalisiert auch die einzelnen Wertgebiete so sehr, daß diese, auf sich selbst gestellt und ins Absolute verwiesen, voneinander sich trennen, sich parallelisieren und, unfähig einen gemeinsamen Wertkörper zu bilden, paritätisch werden, – gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines ›Geschäftemachens an sich‹ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes ›an sich‹, ein jedes in seiner Autonomie ›entfesselt‹, ein jedes bemüht, mit aller Radikalität seiner Logik die letzten Konsequenzen zu ziehen und die eigenen Rekorde zu brechen. (KW 1, S. 498)
Das Zerbrechen der scholastischen Immanenz-Transzendenz-Klammer führt also einerseits zu einer radikalen Abstrahierung der Gottesvorstellung, andererseits zu einer genauso radikalen Verweltlichung aller konkreten menschlichen Lebensbereiche. Aus der »Obhut des Glaubens« entlassen, werde der Mensch »ratlos […] im Getriebe der selbständig gewordenen Werte« (KW 1, S. 498): Er werde zu einem »Berufsmensch[en], aufgefressen von der radikalen Logizität des Wertes, in dessen Fänge er geraten ist« (KW 1, S. 499). Nach dem vor »fünfhundert Jahre[n]« (KW 1, S. 539) begonnenen Prozess der Auflösung des gesellschaftlichen Gesamtsystems in immer isoliertere »Partialsysteme« (KW 1, S. 691) sei die Gegenwart als »Entropie des Menschen« (KW 1, S. 447) im Sinne zunehmender gesellschaftlicher Unordnung und individueller Vereinsamung zu verstehen.15
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Paul Michael Lützeler: Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs. Würzburg 2000. Vgl. ferner den Abschnitt Broch als Analytiker der Krise in Alice Staškova: Nächte der Aufklärung. Studien zur Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie in Voya-
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Broch sieht in seiner Gegenwart eine Art Krieg aller Wertsysteme gegeneinander im Gange, wobei jedes Teilsystem nach der Herrschaft über die anderen Partialbereiche strebt, was bedeutet, dass zumindest die leitenden Teilsysteme (etwa der Politik, des Militärs, des Kommerzes) daran arbeiten, sich in die Position des vakanten Zentralwertsystems zu drängen. Das Bezeichnende für Broch ist, dass er auf einen Neuzusammenschluss der Werte hofft, auf jenen Zustand, »wo alles Getrennte wieder eins wird« (KW 1, S. 712). Aber dieser utopische Zustand kann romanhaft nicht gestaltet werden. Vielmehr geht es in Brochs zeitkritischen Romanen und Dramen Die Schlafwandler, Die Entsühnung, Aus der Luft gegriffen, Die Verzauberung und Die Schuldlosen um den Krieg der Partialwertsysteme gegeneinander. Mit den drei Hauptfiguren der Schlafwandler-Trilogie, mit Pasenow, Esch und Huguenau, zeigt Broch Protagonisten, die auf unterschiedliche Weise auf die Krise der Moderne reagieren: Der romantische Pasenow sehnt sich in religiöse und soziale Verhältnisse der Vormoderne zurück; der anarchische Esch durchlebt orientierungslos die Heterogenität der gegenwärtigen Weltanschauungen und führt vor Augen, wie religiöse Emotionen ohne Verankerung in einer Religion ins Leere laufen; und der sachliche Huguenau hat sich im Nullpunkt der Religionslosigkeit eingerichtet, indem er sein kommerzielles Partialsystem mit dem Gesetz der Gewinnmaximierung zum allein verbindlichen erklärt und absolut setzt. Alle drei Protagonisten schaffen sich künstliche Ersatz-Religionen: Pasenow eine konventionell ständisch-nationale, Esch eine chaotisch-individualistische und Huguenau eine wirtschaftliche. Broch setzt diese zeitkritische Tendenz in seinen beiden Dramen fort. In der Entsühnung zeigt er eine Welt der Wirtschaft, die sich gerade durch die Absolutsetzung, ja Vergöttlichung der Prinzipien des Marktes in Katastrophen stürzt. Schon in den Schlafwandlern hatte Broch die Dominanz des Ökonomischen über die anderen Partialwertsysteme erkannt, als er davon sprach, dass »sogar der Krieg« dem »ökonomische[n] Weltbild […] untertan« sei (KW 1, S. 498). Mit seiner Roman-Trilogie und den beiden Dramen antizipiert Broch Giorgio Agamben, der in seinem Band Profanierungen von der »kapitalistischen Religion«16 spricht, die als Marktideologie zur Ersatzreligion der Gegenwart geworden sei. Nach der Machtergreifung Hitlers sah Broch allerdings eine Verschiebung im Mächtekampf der Partialsysteme im Gange, die er bereits in den Schlafwandlern konstatiert hatte: Jetzt war es der politische Bereich, der mit
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ge au bout de la nuit von Louis-Ferdinand Céline und Die Schlafwandler von Hermann Broch. Tübingen 2008, S. 27–34. Giorgio Agamben: Profanierungen. Frankfurt a. M. 2005, S. 83.
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Totalitätsansprüchen auftrumpfte, und so geriet ihm sein 1935 geschriebener Roman Die Verzauberung zu einer Analyse des Faschismus als Ersatzreligion. Es war kein Zufall, dass Broch damals im Dialog mit Erik Voegelin17 stand, der als Soziologe das Phänomen der politischen Religionen schon in den 1930er Jahren untersucht hat. Den Begriff »politische Religion« wird Broch im Exil in seine Massenwahntheorie übernehmen (KW 12, S. 533), er bestimmt jedoch bereits Struktur und Aussage des 1935 geschriebenen Romans Die Verzauberung.18 Auch sein Roman Der Tod des Vergil hat mit dem Thema genuiner Religionssuche und der Inanspruchnahme der Religion durch die Politik zu tun. Brochs gesamtes politisch-massenwahntheoretisches Denken umkreist immer wieder das Phänomen des totalitären politischen Zugriffs auf den Menschen der Gegenwart. So zeigt er beispielsweise in den Schuldlosen Figuren, die sich wirtschaftlichen, rassistischen und erotischen Ersatzreligionen hingegeben haben. Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang auch Brochs Hinwendung zu und die Beschäftigung mit dem Mythos, die in seinen Essays Geist und Zeitgeist von 1934 (KW 9.2, S. 177–201), Die mythische Erbschaft der Dichtung von 1945 (KW 9.2, S. 202–211) und Mythos und Altersstil von 1947 (KW 9.2, S. 212–233) dokumentiert ist. Mythos ist für Broch letztlich nur ein anderes Wort für Religion, denn Religion und Mythos haben bei ihm die gleiche Funktion. Sie vermitteln Sinn und kennen einen Zentralwert, der für alle Mitglieder der betreffenden Kultur Verbindlichkeit hat. Religionen und Mythen haben nach Broch ihre Zeiten der Vollfunktion, geraten in Krisen, können die Krise überwinden oder durch andere Religionen und Mythen beziehungsweise Ersatzreligionen und Ersatzmythen abgelöst werden. Das Wort Religion benutzt Broch vor allem dann, wenn er über das Christentum spricht, über eine Konfession, die in seiner Gegenwart über Anhänger verfügt. Von Mythos dagegen ist bei ihm die Rede, wenn durch die kulturgeschichtliche Entwicklung überholte, also als Religionen funktionslos gewordene Weltanschauungen der Vergangenheit, vor allem der Antike, gemeint sind. Aleida und Jan Assmann haben zwischen einer Reihe von Mythosbegriffen unterschieden.19 Ihr Spektrum umfasst einen polemischen, historisch-kritischen, funktionalistischen, alltäglichen, narrativen, literarischen
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Erik Voegelin: Die politischen Religionen. Stockholm 1939. Vgl. dazu Thomas Hollweck: Gedanken zu einem Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Eric Voegelin zur Menschenrechtsfrage. In: Thomas Eicher, Paul Michael Lützeler u. Hartmut Steinecke (Hg.): Hermann Broch. Politik, Menschenrechte – und Literatur? Oberhausen 2005, S. 65–81. Paul Michael Lützeler: Die Verzauberung: Intention und Rezeption. In: Ders.: Die Entropie des Menschen (Anm. 15), S. 45–71. Aleida u. Jan Assmann: Mythos. In: Hubert Cancik (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart 1998, S. 179–200.
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und ideologischen Begriff. Übernimmt man diese Unterscheidungen, so wird deutlich, dass Broch vor allem mit einem ›funktionalistischen‹ Mythos-Begriff arbeitet, denn er betont die fundierende, legitimierende und weltmodellierende Funktion des Mythos. Aber er kennt auch den ›literarischen‹ Mythosbegriff. Allerdings würde ich in Anlehnung an Kurt Hübner20 lieber von ›literarischer Mythologie‹ sprechen, an der Broch partizipiert. Hübner unterscheidet zwischen Mythos und Mythologie: Während der Mythos für die von ihm geprägte Kultur eine allgemein akzeptierte Form der Wirklichkeitsdeutung ist, besteht die auf seinem Boden wachsende Mythologie aus Illustrationen und Ausschmückungen ohne vergleichbare Verbindlichkeit. Die mythologischen Geschichten sind es gewesen, derer sich die Kunst und Literatur früh bemächtigten. Sie leben auch dann noch fort, wenn die Macht des Mythos selbst schon längst gebrochen ist. Als Romancier war Broch davon fasziniert, wie Joyce im Ulysses und Thomas Mann in den Joseph-Romanen mit mythischen Themen umgingen. Was diese beiden Autoren betrieben, war literarische Mythologie, war ein dichterisches Geschichtenerzählen, ein Weiterspinnen der endlosen Fäden, die antike und biblische Stoffe ausgelegt hatten, und die seit Jahrtausenden aufgegriffen worden waren, ohne dass von ihnen Sinnstiftung im Sinne von Religion und Mythos erwartet worden wäre. Brochs Interesse am Mythos betraf zum einen diese literaturgeschichtliche Tradition, ging aber gleichzeitig über sie hinaus. Er mutete in der Mitte der 1930er Jahre dem modernen Roman zu, einen neuen Mythos nach dem Zerfall des christlichen Zentralwertes zu konturieren. Schon der letzte Abschnitt der Zerfall der Werte-Folge in den Schlafwandlern dokumentiert diesen Ehrgeiz, und Brochs Roman Die Verzauberung blieb wohl deswegen Fragment, weil er sich mit seinem Projekt, literarisch mythenbildend zu wirken, übernommen hatte. Brochs ›Arbeit am Mythos‹ – um an die Studie von Hans Blumenberg21 zu erinnern – umfasst den Versuch, selbst mythosstiftend tätig zu werden, als auch ein Weiterweben am Teppich literarischer Mythologie. Im Exil gab Broch seine eigenen Ambitionen, Mythen qua Dichtung zu stiften, auf, meinte aber, »Ansätze« (KW 9.1, S. 315) zu einem »neuen Mythos« (KW 9.2, S. 231) als »Gegen-Mythos« im Werk Franz Kafkas gefunden zu haben, weil dort die »Symbolisierung der Hilflosigkeit« des Menschen der Gegenwart »an sich« (KW 9.1, S. 315) gelungen sei. Von seinem alten Traum eines ›Neuzusammenschlusses‹ der Werte, von einer Überwindung der »Wertatomisierung« (KW 1, S. 712), konnte Broch auch im Exil nicht lassen. Es war ein mythisches Minimalprogramm, eine Absolutheit ›ex negativo‹, die er in seiner Studie Menschenrecht und Irdisch-Absolutes
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Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München 1985. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.
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(KW 12, S. 456–510) mit seiner »[i]rdisch-[a]bsoluten« (KW 12, S. 503) Forderung nach dem Verbot von »Sklaverei« und »Konzentrationslagern« (KW 12, S. 474) sowie »der Todesstrafe« (KW 12, S. 503) aufstellte.22 Broch schreibt in diesem Zusammenhang: »Das Konzentrationslager ist die letzte Steigerung […] jeder Versklavung. Der Mensch wird seines letzten IchBewußtseins entkleidet; statt seines Namens erhält er eine Nummer und soll sich auch nur mehr als Nummer fühlen. Er ist zur Leiche geworden, bevor er noch gestorben ist« (KW 12, S. 485). Auch hier nimmt Broch Agamben vorweg, der – ähnlich wie Broch – den Muselmann des Konzentrationslagers als Homo sacer23 beschreibt, als entsubjektivierten, seiner Freiheit, seiner Identität und seines Selbstbewusstseins beraubten, auf sein ›nacktes Leben‹ reduzierten Menschen. Auschwitz steht nach Broch für all das, »was dem Menschen, sofern er Mensch bleiben soll, nicht angetan werden darf« (KW 12, S. 472). Auch Agamben sieht Auschwitz als jenen Tiefpunkt menschheitlicher Entwicklung, von dem aus eine neue Ethik gedacht werden muss. Agamben formuliert paradox: »Der Mensch ist der Nicht-Mensch, wirklich Mensch ist derjenige, dessen Menschsein vollständig zerstört wurde«.24 Nicht mehr vom positiven Pol der christlichen Religion, nicht mehr durch das gotteskindschaftliche Menschenbild des Paulus, das Broch noch am Ende seiner Romantrilogie Die Schlafwandler als Zeichen »des Trostes und der Hoffnung« (KW 1, S. 716) beschworen hatte,25 wird Ethik fundiert, sondern als Distanznahme vom Tiefpunkt der Kultur, von Auschwitz her. Auch Judith Butler stellt in ihrer Kritik der ethischen Gewalt26 die »Denunziation des Unmenschlichen«27 in den Mittelpunkt, wobei sie sich auf Adorno beruft. Das Adorno-Zitat, das an vergleichbare Stellen bei Broch erinnert, lautet bei Judith Butler: Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunziation
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Vgl. dazu auch Hannah Arendt u. Hermann Broch: Briefwechsel 1946–1951. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1996. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a. M. 2003, S. 117 (§ 3.23). Zur Paulinischen Ethik vgl. ebenda, S. 99f. (§ 3.14). Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M. 2003. Es handelt sich um die Übersetzung ihres Buches Giving an Account of Oneself (New York 2005) durch Reiner Ansén und Michael Adrian. Ebenda, S. 142.
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des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und abstrakten Situierung des Seins des Menschen zu suchen ist.28
Broch meinte 1947, dass Theogonie, das heißt die mythische Lehre über die Abstammung der Götter, heute eine »Theogonie der Ethik« (KW 9.2, S. 232) sein müsse. Seine Religionskritik mündet in eine Ethik für die Epoche nach Auschwitz, wenn er die Forderung nach dem irdisch-absolut gesetzten Verbot der Versklavung formuliert. Diese Ethik ist Brochs Beitrag zur Menschenrechtskultur der Gegenwart.29 Damit hatte Broch sich denkbar weit von Nietzsche entfernt. Dessen Kritik an der Kultur seiner Zeit, an der Diagnostik des Wertzerfalls, hat Broch nachhaltig beeinflusst. Wenn es aber darum ging, die Utopien vom ›Übermenschen‹ und vom ›guten Europäer‹ umzusetzen, konnte Broch nicht folgen. Denn hier wurden Eliteideen propagiert, die nicht auf ein Verbot der Versklavung, sondern im Gegenteil auf die Zementierung des Unterschieds zwischen Sklaven und Herrschern hinausliefen, Ideen, deren Umsetzung nicht die Humanität im Sinne einer Synthese von Antike und Christentum beförderte, sondern auf den Kulturbruch und Kulturtod hinauslief.
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Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt a. M. 21996, S. 261. Vgl. dazu die Einleitung von Paul Michael Lützeler in Hermann Broch: Menschenrecht und Demokratie. Frankfurt a. M. 1978, S. 7–30.
Peter Sprengel
›Wille zum Kleinen‹ statt ›Wille zur Macht‹? Gerhart Hauptmann und Nietzsche Für Michael I. Geschichte einer widersprüchlichen Rezeption »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«1 – mit diesem längst in den Volksmund übergegangenen Spruch aus der Götzen-Dämmerung mag sich auch derjenige trösten, der sich der intrikaten Frage nach dem Einfluss Nietzsches auf Gerhart Hauptmann zuwendet. Einen Vorgeschmack auf die Widersprüche, die ihm bevorstehen, gibt ein kurioser philologischer Befund. Er betrifft die früheste explizite Bezugnahme Hauptmanns auf Nietzsche. Sie steht am Ende einer Fragment (und zu Lebzeiten unveröffentlicht) gebliebenen Erwiderung auf die Kritik zu Hauptmanns Dramendebüt Vor Sonnenaufgang und dürfte kurz nach der skandalumwitterten Uraufführung vom 20. Oktober 1889 entstanden sein. »Ich muß durch, und ich werde mich durchringen«, schreibt der knapp 27 Jahre alte Autor im drittletzten Absatz seines Entwurfs, um am Schluss Nietzsches Worte leicht variierend aufzugreifen: »Was uns nicht tötet, macht uns stärker«.2 Die Handschrift läuft hier schon stark aus dem Ruder, und so hatte der Hauptmann-Forscher und -Archivar Felix A. Voigt denn auch erhebliche Mühe bei der Entzifferung, als er 1934 eine erste Transkription des Artikels anfertigte.3 Das hinderte den geschulten Philologen nicht daran, die
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Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin, New York 1967ff. Abt. VI, Bd. 3, S. 54. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KGA mit römischer Abteilungs- und arabischer Bandnummer nachgewiesen. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans-Egon Hass, fortgeführt v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1962–1974. Bd. 11: Nachgelassene Werke. Fragmente. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 755f. Zitate aus der Centenar-Ausgabe werden im Folgenden mittels der Sigle CA und arabischer Bandnummer nachgewiesen. GH Hs 548, 28–30. Die Signatur GH Hs bezieht sich auf den handschriftlichen Nachlass Gerhart Hauptmanns in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der für Zitiererlaubnis und vielfältige Unterstützung freundlichst gedankt sei.
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Nietzsche-Anleihe zu erkennen, und er schrieb, vielleicht etwas besserwisserisch, per Hand unter seine maschinenschriftliche Transkription: »Der letzte [Satz] ist ein (ungenaues) Zitat aus Nietzsches Götzendämmerung 8«. Darunter findet sich wiederum ein handschriftlicher Zusatz Gerhart Hauptmanns selbst, der sich schon wegen des Abschlusses seiner Autobiographie in den 1930er Jahren mit der Erkner-Zeit und seinem literarischen Durchbruch beschäftigte, und dieser Zusatz lautet, mit direktem Bezug auf den von Voigt genannten Titel Götzen-Dämmerung: »Die damals kaum erschienen sein konnte, mir jedenfalls völlig unbekannt war!«, Unterschrift: »G[erhart] H[au]ptm[ann]«. Die trotzige Erklärung hat alles gegen sich: neben der Evidenz des Zitats auch die Chronologie (die Götzen-Dämmerung war schon 1888, also ein Jahr vor Hauptmanns Erwiderung, erschienen, und eine Ausgabe von 1889 hat sich bis heute in seiner Bibliothek erhalten4) und schließlich sogar den Wortlaut der Handschrift. Denn die Stelle vor dem Zitat, die der brave Voigt nicht entziffern konnte, heißt: »Was Ni[e]tzsche sagt« – und dann folgt der Wortlaut des Aphorismus, der in der Götzen-Dämmerung die Überschrift Aus der Kriegsschule des Lebens trägt. Der junge Hauptmann bekennt sich also bereitwillig zu einer Anregung, die der alte leugnet. Dazwischen liegt freilich fast ein halbes Jahrhundert deutscher Politik-, Geistes- und Literaturgeschichte, das heißt auch mindestens 45 Jahre Nietzsche-Rezeption5 und mindestens 45 Jahre Hauptmann-Schaffen und -Entwicklung. Der Stellenwert Nietzsches in den 1930er Jahren war ein völlig anderer als im Jahre seines spektakulären geistigen Zusammenbruchs; inzwischen hatten sich mehrere Generationen der Moderne an diesem Ziehvater abgearbeitet, und dessen eigenes Ansehen war durch das Betragen seiner Zöglinge mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Denn, wie man nicht vergessen darf: Unter den von Nietzsche geprägten ›Klassikern‹ der Moderne ist Hauptmann – dreizehn Jahre vor Thomas Mann und zwölf Jahre vor Hofmannsthal geboren – mit Abstand der älteste. Er ist mithin der Einzige von ihnen, der sich noch mit gewissem Recht an eine geistige Ära vor Nietzsche erinnern kann und in seiner Anfangszeit nachweislich durch Vorbilder geprägt wurde, die von Nietzsche gestürzt werden sollten. Das erklärt vielleicht einen Teil der nie ganz überwundenen Fremdheit im Verhältnis des Dramatikers zum Philosophen; insbesondere seine Vorbehalte gegenüber dem Polemiker Nietz-
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Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Leipzig 1889 (Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. GHB 203762). Vgl. Stephen E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Engl. v. Klaus Laermann. Stuttgart, Weimar 1996. Gangolf Hübinger u. Andrzej Przylebski (Hg.): Europäische Umwertungen. Nietzsches Wirkung in Deutschland, Polen und Frankreich. Bern 2006. Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007.
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sche resultieren daraus, dass dessen Opfer jedenfalls zeitweilig schwärmerisch verehrte Leitbilder des jungen Hauptmann waren: Zur Totenfeier für Richard Wagner pilgerte er 1883 mit seinen Freunden in nächtlicher Wanderung von Jena nach Weimar, und David Friedrich Strauß’ Bücher Das Leben Jesu (1836) sowie Der alte und der neue Glaube (1872)6 bildeten wichtige Bezugspunkte der Jesus-Studien, mit denen sich Hauptmann 1885/86 beschäftigte.7 Seine mehrfach geäußerte (werkbiographisch natürlich so nicht haltbare) Vermutung, Nietzsche habe mit der Strauß-Kritik der ersten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen hauptsächlich Platz für Zarathustra – als seine neue Religion – schaffen wollen,8 gibt einen Hinweis auf das Unbehagen, das Hauptmann bei der posthumen ›Hinrichtung‹ des Religionsphilosophen gespürt haben muss. Eine solche Vermutung liegt übrigens am ehesten für einen Leser nahe, der erst den Zarathustra und dann die Strauß-Kritik kennenlernt – damit sind wir aber schon mitten in den Detailfragen der Forschung. »Was den Einfluß Nietzsches betrifft, so ist noch Raum für weitere Bemühungen«, schrieb Sigfrid Hoefert im Hauptmann-Bändchen der Sammlung Metzler aus dem Jahre 1974.9 Dieser Bemerkung gingen einige noch der zeitgenössischen Rezeption angehörende Beiträge vor allem zu Hauptmanns Märchendrama Die versunkene Glocke voraus,10 ferner eine Dissertation von 192311 und Felix A. Voigts erstmals 1935 erschienene Studie über Hauptmann und die Antike;12 vor allem Ferdinande Nückel in der von Franz Muncker betreuten Münchner Dissertation und Voigt heben das neuheidnische Lebensgefühl und die dionysische Sicht auf die Antike als gemeinsame Basis hervor, die laut Voigt jedoch nicht als bloßer Nietzsche-Import gedeutet werden könne, sondern eine eigenständige Parallel-Erscheinung darstelle. Bewegung in die etwas abgestandene Begrifflichkeit brachte die fortschreitende Erschließung des Hauptmann-Nachlasses, vor allem die Edition der Tagebücher und die bibliographische Aufarbeitung der Reste
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Ein geringfügig annotiertes Exemplar der 6. Auflage (Bonn 1873) hat sich in Hauptmanns Bibliothek erhalten (GHB 204266). Vgl. CA 11, S. 1211–1258. Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905. Hg. v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M., Berlin 1987, S. 42, danach aufgenommen in Hauptmanns Aphorismen-Sammlung (CA 6, S. 1034); vgl. auch CA 10, S. 990 sowie CA 11, S. 493. Sigfrid Hoefert: Gerhart Hauptmann. Stuttgart 1974, S. 101. Vgl. Sigfrid Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. Bd. 2. Berlin 1986, Nr. 4182, 4790, 4906, 4920, 5016, 10268, 11389 u. 11400; s. u. mit Anm. 38 u. 40. Ferdinande Nückel: Hauptmann und Nietzsche. Phil. Diss. München. 1923 (gedr. 1927). Felix A. Voigt: Gerhart Hauptmann und die Antike. Hg. v. Wilhelm Studt. Berlin 1965, S. 47–50 (zuerst 1935 unter dem Titel Antike und antikes Lebensgefühl im Werke Gerhart Hauptmanns).
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seiner Bibliothek. Diese etwas abschätzige Bezeichnung ist mit Blick auf Nietzsche leider wirklich am Platz; denn die erhaltenen Nietzsche-Drucke aus Hauptmanns Besitz können nur einen Bruchteil von dem darstellen, was er einmal besessen hat. Wie zufällig der jetzige Bestand zusammengewürfelt ist, macht beiläufig der Umstand deutlich, dass zwei der intensiver annotierten Bände Hauptmann auf seinen Italien-Reisen geschenkt oder geliehen wurden.13 Die Hinweise auf Nietzsche in den 1982 edierten Notiz-Kalendern der Jahre 1889–189114 ermutigten Gert Oberembt15 und Bengt Algot Sørensen16 zum Nachweis von Nietzsche-Aspekten im naturalistischen Frühwerk. Nachdem fünf Jahre später auch die umfangreichen Nietzsche-Reflexionen im Tagebuch von 1897 veröffentlicht wurden,17 entstand in Amerika, betreut von den Hauptmann-Spezialisten Ralph J. Ley und Philip Mellen, sogar eine neue Dissertation zur Nietzsche-Rezeption Hauptmanns, die als entschiedene Bereicherung aufgefasst werden muss. Ingeborg Kaisers 1995 abgeschlossene Arbeit18 bietet eine Zusammenschau aller bisher bekannten Belege für Hauptmanns Beschäftigung mit Nietzsche und versucht darüber hinaus eine Erweiterung für die späten Jahre, von denen uns noch keine gedruckten Tagebücher vorliegen. Hier scheitert sie freilich dramatisch an den Schwierigkeiten der Handschrift19 und der mangelnden Reflexion der Rahmenbedingungen, unter denen sich Hauptmanns damalige Nietzsche-Lektüre vollzieht; mit Rücksicht auf diese Lücke im gegenwärtigen Wissensstand widmet sich der hier gegebene Überblick der letzten Phase etwas genauer.
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Die Einzelausgabe von Also sprach Zarathustra (s. u. Anm. 45) wurde Hauptmann am 14. April [1898] vom Augenarzt Ludwig Hirsch gewidmet, der im Vorjahr das gegen die Duellpraxis gerichtete Drama Götzendienst veröffentlicht hatte; Der Wille zur Macht (s. u. Anm. 64) war eine Leihgabe von Dora Riess. Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891. Hg. v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M. 1982 (s. Register). Gert Oberembt: Chamäleon und Scharlatan. Nietzsches Vom Probleme des Schauspielers und Hauptmanns Biberpelz. In: Literatur für Leser 5 (1982), H. 2, S. 69–94. Wiederabdruck in: Ders.: Großstadt, Landschaft, Augenblick. Über die Tradition von Motiven im Werk Gerhart Hauptmanns. Berlin 1999, S. 11–36. Bengt Algot Sørensen: Laura Marholm, Friedrich Nietzsche und Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen. In: Orbis Litterarum 47 (1992), S. 52–62 (Wiederabdruck in: Ders.: Funde und Forschungen. Ausgewählte Essays. Hg. v. Steffen Arndal. Odense 1997, S. 369– 378). Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905 (Anm. 8) (s. Register). Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns. New Brunswick, Ph. D. Diss. Rutgers, The State University of New Jersey 1995 (Druck Ann Arbor, Michigan 1996). Ein besonders skurriles Beispiel für die zahlreichen Lesefehler bietet die Verlesung der Verse »Nietzsche: ein Zwitter! | Wolken, ohne Gewitter« (GH Hs 11a, 117r) zu »Nietzsche: Ein Zwitter! Wolken, ohne Gewissen« (ebenda, S. 106).
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Nietzsche-Rezeption heißt hier im Sinne eines sprachlichen Positivismus vor allem und zunächst: Übernahme von Nietzsche-Formulierungen, und angesichts des eminenten Einflusses, den der Stilist Nietzsche unbestreitbar ausgeübt hat, ist diese Verlagerung – weg von der Kopflastigkeit einer ideengeschichtlichen Betrachtung – grundsätzlich zu begrüßen. Es gelingen der Doktorandin auch einige verblüffende Funde, die wörtliche Übereinstimmungen oder Anlehnungen an versteckter Stelle in Hauptmanns Werk betreffen.20 Auf der anderen Seite versteht es sich, dass mit einer solchen Formulierungs-Komparatistik auch eine Grauzone betreten wird, bei der es einer letzten Sicherheit über die Intentionalität des Bezugs, ja auch nur über das Vorliegen eines solchen bzw. einer Rezeptionsspur weithin ermangelt. Das erweist sich leider schon beim frühesten Rezeptionszeugnis, das Ingeborg Kaiser, darin absolut originell, anführt. Es handelt sich um den ersten von mehreren Briefen, die der junge Hauptmann an den dänischen Literaturpapst Georg Brandes schrieb, mit dem ja auch Nietzsche selbst in brieflicher Verbindung stand, und der seinerseits wesentlichen Anteil an der internationalen Nietzsche-Konjunktur um 1890 besaß. Zur Zeit von Hauptmanns erstem Brief an Brandes schreiben wir aber noch das Jahr 1885, genau gesagt: den 19. Februar 1885, der Schreiber ist somit gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Das hindert ihn nicht, sich Brandes gegenüber selbstbewusst als Genie vorzustellen21 – wozu dieser retrospektiv bemerken wird, solche Bekenntnisse fänden sich in neun Zehntel der an ihn gerichteten Schreiben.22 Seine Antwort gibt nicht zu erkennen, dass er die zweite Botschaft verstanden hätte, die Ingeborg Kaiser in Hauptmanns Brief wahrnimmt:23 nämlich das leidenschaftliche Bekenntnis zu Nietzsche in Form einer Art Zitatklitterung aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen. Bei näherer Prüfung der hierfür bemühten Parallelen stellt man allerdings fest, dass die betreffenden Formulierungen kaum Ausschließlichkeit im Sinne einer Nietzsche-Provenienz beanspruchen können, sondern weithin gängige Münze im Diskurs der Zeit darstellen, nicht zuletzt in Kreisen des Frühnaturalismus. Auch angesichts der Tatsache, dass Brandes Haupt-
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Vgl. die späteren Ausführungen zum »tanzenden Stern« (s. u. mit Anm. 45); ein anderes Beispiel bietet Hauptmanns Auseinandersetzung mit der Zarathustra-Passage »dass meine Hand ihren Glauben an Festes nicht ganz verliere« (KGA VI 1, S. 179) (vgl. Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 19f.). Klaus Bohnen: Georg Brandes im Briefwechsel mit Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 23 (1979), S. 50–83, hier S. 58–60. Ebenda, S. 60 (in seiner Antwort auf die Zusendung von Vor Sonnenaufgang vom 4. September 1889). Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 10f.
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mann erst im September 1889 zur Nietzsche-Lektüre auffordert und dieser sich noch später, nämlich im Februar 1890, nach Brandes’ NietzscheEssays erkundigt,24 sowie im Hinblick auf die intensive Beschäftigung mit Strauß in den Jahren 1885/86 erscheint eine so frühe Vertrautheit mit Nietzsches Kultur- und Religionskritik äußerst unwahrscheinlich. Demnach bleibt es wohl bei der Lektüre von Also sprach Zarathustra in Zürich 1888 als dem Startschuss der eigentlichen Nietzsche-Rezeption Hauptmanns. So hat es dieser, wenngleich mit sehr kritischen Untertönen, in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend von 1937 behauptet (CA 7, S. 1072), und da diese Darstellung so etwas wie eine immanente Plausibilität besitzt,25 dürfen wir hier wohl ausnahmsweise dem Autor glauben. Da Hauptmann sich in Zürich als Gast seines dort Philosophie betreibenden Bruders Carl aufhielt, ist ein Austausch mit diesem über Nietzsche damals oder später hochwahrscheinlich;26 nicht umsonst nimmt Hauptmann ein briefliches Gesprächsprotokoll Carls über Nietzsche fast wörtlich in sein zweites naturalistisches Drama Das Friedensfest auf.27 Während der Arbeit am Stück verzeichnet er am 6. November 1889 im Notiz-Kalender: »Nietzsche gelesen, <Seite> Abschnitt 59 wertvoll«28 – eine Bemerkung, die sich auf Götzen-Dämmerung, Jenseits von Gut und Böse oder Zur Genealogie der Moral beziehen dürfte.29 Die beiden letzten Schriften hatte Brandes Hauptmann zur Lektüre empfohlen; dieser stützt sich bei der Arbeit an seinem nächsten Drama, Einsame Menschen, in der Tat auf die Genealogie der Moral.30 Die weibliche Hauptperson Anna Mahr trägt Züge der kurzfristig mit Hauptmann gut bekannten baltisch-dänischen Schriftstellerin Laura Marholm,31 die zusammen mit ihrem Mann Ola
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Klaus Bohnen: Georg Brandes im Briefwechsel mit Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal (Anm. 21), S. 61, 63. Vgl. die späteren Ausführungen zum Apostel (s. u. mit Anm. 92 u. 93). Dafür spricht auch die Traumaufzeichnung vom 29. November 1897 (Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905 (Anm. 8), S. 109). Vgl. Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891 (Anm. 14), S. 203 sowie CA 1, S. 152. Aus Carls »Ich (Nietzsche zitierend) ›Ein Mensch muß kommen, der uns von Gott erlöst‹« wird im Munde der Dramenfigur Robert »Von Gott erlöst sein möchte man lieber«. Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891 (Anm. 14), S. 188. Vgl. ebenda, S. 402f. sowie Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 18. Vgl. den Brief seiner Frau Marie aus Erkner nach Flinsberg vom August 1890, zitiert in Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891 (Anm. 14), S. 403. Schon 1915 wurde auf den Einfluss Nietzsches auf das Drama hingewiesen. Vgl. Sigfrid Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns (Anm. 10). Bd. 2. Berlin 1986, Nr. 5876. Vgl. Susan Brantly: The life and writings of Laura Marholm. Basel, Frankfurt a. M. 1991. Peter Sprengel: ›Entgleisungen‹ in Hauptmanns Nachlaß. Zur Thematisierung weiblicher Sexualität bei Ola Hansson und Laura Marholm. In: Orbis Litterarum 47 (1992), S. 31–51.
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Hansson Nietzsches Philosophie in Deutschland propagierte. Auch Anna Mahr hält es mit Nietzsches Gebot der Rücksichtslosigkeit32 und düpiert die Erwartungen des verheirateten Johannes Vockerat auf eine Liebesgemeinschaft durch ihre Abreise und den zwiespältigen Trost: »Was uns nicht niederwirft, das macht uns stärker« (CA 1, S. 254).33 Solche expliziten Hinweise auf Nietzsche wird man in den nächsten Stücken vergeblich suchen. Dabei ist auch die Komödie Der Biberpelz (1893) zentral durch dessen Ideen − nämlich die Auffassung des Schauspielerischen als Lebenstrieb und die Gleichgültigkeit gegenüber der Moral – inspiriert. Während der Arbeit am Florian Geyer scheint Hauptmann Lou Andreas-Salomés Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) gelesen zu haben; in einem von ihr überlieferten Aphorismus Nietzsches findet er die Tragik des schwarzen Ritters gespiegelt.34 Wenn sich sonst im Bauernkriegsdrama nur periphere Reflexe der Nietzsche-Lektüre ausmachen lassen,35 zeigt sich das Märchenspiel Die versunkene Glocke (1896) umso nachhaltiger durch Nietzsche geprägt: Schon für die Vorstufe Der Mutter Fluch (1894) hat Hauptmann nachweislich die Götzen-Dämmerung exzerpiert.36 Im Schicksal des Glockengießers Heinrich, der aus Ehe, christlicher Glaubensgemeinschaft und bürgerlicher Moral ausbricht, um mithilfe der Naturgeister ein monumentales Werk zu schaffen, schließlich aber doch unter dem Druck von Mitleid und Reue zusammenbricht, haben zahlreiche Zeitgenossen eine direkte Umsetzung nietzscheanischer Ideen gesehen,37 insbesondere des Übermenschenideals, dem Heinrich mit der abschließenden Selbstaufgabe freilich gerade nicht gewachsen ist. Nur wenige Monate nach der Uraufführung erschien eine Broschüre von Albert Rode mit dem Titel Hauptmann und Nietzsche. Ein Beitrag zum Verständnis der
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Vgl. CA 1, S. 207: »Ihr Herz, Herr Doktor, das ist Ihr Feind. […] Ist es gut, wenn man so sehr abhängig ist?«. S. o. mit Anm. 1. Vgl. die Marginalie »Geyer« neben Nietzsches Satz »Heroïsmus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang« in Lou Andeas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien 1894 (GHB 202026), S. 25. Eine spätere Lektüre-Schicht stammt von 1919; vgl. die Notizbucheintragungen GH Hs 51, 245v, zitiert in Ingeborg Kaiser: Die NietzscheRezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 83. Bemerkenswert immerhin die Rede Tellermanns im Ersten Akt: »Ich leugne nit: ich gehör zu den freien Geistern. […] Frei sind wir, weil wir kein Gewissen nit haben und von diesem bösen Tier nit zerfetzet und zerrissen werden« (CA 1, S. 612); vgl. Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 30f. unter Hinweis auf Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. Vgl. CA 8, S. 521 u. Götzen-Dämmerung (Anm. 4), S. 53 mit Anstreichung zur Stelle. S. o. mit Anm. 10.
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Versunkenen Glocke, die Freund Moritz Heimann dem Dichter mit den Worten »Welch Blödsinn!« übersandte.38 Gewiss konnte Rodes schlichte Synopse von Zitaten aus der Genealogie der Moral und Parallelstellen aus dem Drama nicht den Anspruch auf ein erschöpfendes Verständnis des Stückes erheben; übrigens ist Heimanns Reserve gegenüber Nietzsche notorisch.39 Hauptmann selbst scheint, wenn man den spärlichen Anstreichungen in seinem Exemplar der zweiten Auflage der Broschüre trauen darf,40 vorbehaltloser an Rodes Büchlein herangetreten zu sein. In seinem Tagebuch vom 12. August 1897 setzt er sich denn auch nur insofern davon ab, als seine geistige Selbständigkeit auf dem Spiel steht: Zur Genealogie der Moral, die in der Tat, vorliegender Schrift nach, erstaunliche Parallelen zur Glocke ermöglicht, kenne ich kaum. Darum waren auch alle Zitate äußerst merkwürdig für mich und die Übereinstimmungen wunderbar. Denn daß, was ich geschrieben habe, allein durch mein großes Erlebnis und aus mir geboren ist, weiß ich. […] Ich lebte siebenundzwanzig Jahre in der Welt, ehe denn ich Nietzsches Namen einmal aussprach […], dem Antichristentum Goethes schon als Vierzehnjähriger verwandt. […] Wer mir sagt, Goethe sei mein Vordermann, Shakespeare sei mein Vordermann, der sagt mir die Wahrheit. Nietzsche ist nicht mein Vordermann.41
Eben das aber hatte Rode behauptet. Hauptmann sieht einerseits das eigene Drama durch die ihm selbst unbewusste Übereinstimmung mit Nietzsches Thesen aufgewertet (»wunderbar«), andererseits legt er Wert darauf, nicht mit dieser speziellen Philosophie gleichgesetzt zu werden. Der mittlerweile über die Grenzen des Naturalismus hinausstrebende und auch anerkannte Dramatiker sieht sich lieber in Übereinstimmung mit anderen Gipfelerscheinungen der Weltliteratur, über die sich natürlich indirekt (insofern etwa auch Nietzsche auf Goethe zurückgeht) eine Übereinstimmung mit aktuellen philosophischen Theorien ergeben mag. Übrigens versah Hauptmann die Altersangabe »siebenundzwanzig Jahre in der Welt« im November 1934 mit dem Vermerk »unrichtig« – vielleicht mit Blick auf die Zarathustra-Lektüre in Zürich, wohin er ja schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren aufgebrochen war.
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So der von »M. H.« gezeichnete Vermerk am Schluss von Albert Rode: Hauptmann und Nietzsche. Ein Beitrag zum Verständnis der Versunkenen Glocke. Hamburg 1897 (GHB 973794). Vgl. Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 48. Vgl. Albert Rode: Hauptmann und Nietzsche. Ein Beitrag zum Verständnis der Versunkenen Glocke. Hamburg 21897 (GHB 973793). Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905 (Anm. 8), S. 49.
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»Seit einigen Wochen freilich habe ich einen Zug zu Nietzsche, und zwar um ihn kennenzulernen und mit ihm fertig zu werden«. So heißt es an derselben Stelle. Die umfänglichen Tagebuchnotizen, in denen sich Hauptmann ab Ende Juli 1897 mit Nietzsche auseinandersetzt, läuten eine zweite Phase seiner Rezeption ein. Sie stützt sich vor allem auf die Geburt der Tragödie, die Hauptmann damals nach eigener Aussage zum ersten Mal liest, sowie die Unzeitgemäßen Betrachtungen, stellt also gewissermaßen einen Rückgriff auf den frühen Nietzsche dar und steht von Anfang an im Zeichen der Kunst. Bereits die erste Notiz macht diese neue Richtung klar: »Die eigentliche metaphysische Tätigkeit ist die Kunst«.42 Hauptmann hat den Satz später an prominenter Stelle in seine eigene Aphorismen-Sammlung aufgenommen (CA 6, S. 1026), doch wohl ohne klare Erinnerung daran, wie nah die Formulierung einer Paraphrase des Schlusssatzes des Vorworts an Richard Wagner zur Geburt der Tragödie kam.43 Im Rückgriff auf die Kategorie des Dionysischen, die fortan aus Hauptmanns Kunst- und Lebensreflexion nicht fortzudenken ist, gewinnt der postnaturalistische Dramatiker ein neues anthropologisches und poetologisches Fundament, das auch für seine künftige Hinwendung zum Mythos und zur Antike bestimmend sein wird. Von seiner Lektüre der Geburt der Tragödie im Jahre 1897 führt also eine direkte Linie zum Griechischen Frühling (1908), zum Drama Der Bogen des Odysseus (1914) und zur Novelle Der Ketzer von Soana (1917), letztlich sogar zu den antikisierenden Dichtungen der 1930er und 1940er Jahre.44 – Die Fruchtbarkeit des ästhetischen Neuansatzes lässt sich an Hauptmanns Umgang mit einem signifikanten Nietzsche-Zitat illustrieren. »Man muss noch Chaos in sich haben«, sagt Zarathustra in seiner Vorrede zu den Menschen in der Stadt, »um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch« (KGA VI 1, S. 13). Bei der erneuten Lektüre des Zarathustra in Tremezzo am Comer See im Frühjahr 189845 dürfte Hauptmann dieser Stelle neue Aufmerksamkeit geschenkt
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Ebenda, S. 31. KGA III 1, S. 20; vgl. ebenda, S. 11. Vgl. Felix A. Voigt: Gerhart Hauptmann und die Antike (Anm. 12). Richard Franklin Jones: The Aesthetics of Irrationalism. Gerhart Hauptmann’s Theory of Art and Its Correlations with Nietzsche’s Dionysiac Aesthetic. Nashville, Tenn., Ph. D. Diss. Vanderbilt University 1979. Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982. Ders.: Der Dionysos-Mythos im Werk Gerhart Hauptmanns: Kunstreligion, Vitalismus und Totenkult. In: Achim Aurnhammer u. Thomas Pittrof (Hg.): »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt a. M. 2002, S. 401–419. In der von Ludwig Hirsch übereigneten Ausgabe Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. 10. Aufl. Leipzig [1898] (GHB 203759); auf die-
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haben: vor dem Hintergrund der ihm nunmehr bekannten Theorie über das Verhältnis von dionysischem Chaos zu apollinischem Schein. Das Bild ist ihm fortan wie selbstverständlich zur Hand: im Drama Und Pippa tanzt! (1905), im Roman Atlantis (1912) (CA 5, S. 493), im Diarium von 193246 und in einer Rundfunkrede des Vorjahrs (Sursum corda!), die in eine pathetische Interpretation des Finales von Beethovens Neunter Sinfonie mündet: »Plötzlich erklingt da seine eigene Stimme: Freunde, nicht diese Töne, lasset uns andere, heitere anstimmen! Und dann hebt er, wie einen ›tanzenden Stern‹, aus den herrlich ringenden Düsternissen seiner Tonfluten den schönen Götterfunken Freude empor« (CA 6, S. 825). Noch Jahre später wird Hauptmann übrigens den Übergang von Instrumentalmusik zu Gesang im letzten Satz der Neunten Sinfonie reflektieren, und zwar wiederum mit Bezug auf Nietzsche. Er glossiert dessen Aphorismus »Singen ist für Genesende; der Gesunde mag reden«47 zunächst irritiert: »Merkwürdiges Wort | wo bleibt da Beethoven?« – offenbar von der Prämisse ausgehend, dass der gesunde Künstler Beethoven doch gesungen und nicht gesprochen habe, um sich in einem zweiten Schritt neu zu justieren. Am unteren Rand der Seite trägt er die Anmerkung nach: »Irgendwie war N[ietzsche] ein Schlingel | Es ist wahr: B[eethovens] IX[.] S[infonie] hat das Wort gesucht«.48 Um aber auf den »tanzenden Stern« zurückzukommen, der im Text der Rundfunkrede in Anführungszeichen gesetzt, also als Zitat markiert ist: Dieser hat seine größte Bedeutung zweifellos für die Konzeption des ›Glashüttenmärchens‹ Und Pippa tanzt! gewonnen. Denn das Mädchen Pippa wird im Rahmen dieser Kunst-Allegorie als eine Art Funke vorgestellt, der dem Glasofen entsprungen ist. »Wolln m’r wieder tanza, kleenes Fünkla?« (CA 2, S. 316), redet sie der ausrangierte Glasbläser Huhn, eine Inkarnation des dionysischen Prinzips, an. Pippa, die sich angstvoll dem jungen Hellriegel zuwendet, der Symbolfigur des lebensblinden Dichters, nimmt gleichwohl das Bild des Funkens auf und dehnt es in kosmische Dimensionen: »Weißt du, es ist mir fast so zumute, als wär’ ich nur noch ein einziger Funke und schwebte ganz einsam verloren hin im unendlichen
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selbe Lektüre bezieht sich wahrscheinlich die Notiz: »Den Dichter Nietzsche verdarb seine Liebe zum Absoluten« (Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905 (Anm. 8), S. 180). Gerhart Hauptmann: Diarium 1917–1933. Hg. v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M. 1980, S. 205 (15. Juli 1932). Zum vollständigen Wortlaut des Zarathustra-Zitats vgl. KGA VI 1, S. 271. Ernst Bertram (Hg.): Wort und Verantwortung in deutschem Schrifttum. Eine Auswahl. München 1938 (Die kleine Bücherei 215; GHB 202151), S. 51. Weitere annotierte Nietzsche-Aphorismen ebenda, S. 25, 30, 32f., 37 u. 54. Der letztgenannte Aphorismus (»Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt«) wird aufgenommen in Hauptmanns Notizbuch GH Hs 152, 15: »möchten mir einige dieser taubenfüssigen Gedanken ich bitte Gott, beschieden sein«.
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Raum!«. Das Chaos ist bald aufgebraucht, wie schon bei Nietzsche angedeutet; dennoch kann Hellriegel dessen Bild aufgreifen: »Ein tanzendes Sternchen am Himmel, Pippa! warum denn nicht!« (CA 2, S. 316). Eine der enthusiastischsten Reaktionen auf Und Pippa tanzt! erreichte Hauptmann im März 1906 aus Weimar. Elisabeth Förster-Nietzsche dankte darin nicht nur für die Zusendung der Buchausgabe, sondern auch für die vorausgegangene Lesung des Dramas in Weimar im Dezember 1905, die sie zu den »schönsten Stunden meines Lebens« rechnet.49 Hauptmanns Korrespondenz mit Nietzsches Schwester und dem von ihr repräsentierten Archiv beginnt mit seiner Kondolation zum Tod des Philosophen im Sommer 1900 und endet erst mit Elisabeths Tod im Jahre 1935.50 Hinzu tritt die persönliche Begegnung im Oktober 1904 aufgrund einer durch Henry van de Velde angeregten Einladung Hauptmanns zur Feier von Nietzsches 60. Geburtstag im engsten Kreis, die mehrere Gesangsbeiträge und Deklamationen vorsah und am nächsten Tag im Hause von Hauptmanns Freund Ludwig von Hofmann eine gesellige Fortsetzung – wiederum unter Teilnahme von Elisabeth Förster-Nietzsche – fand. Damit war Hauptmann gewissermaßen eingemeindet in den inneren Zirkel des ›Neuen Weimar‹, und der primär ästhetischen Orientierung, die er selbst in diesen Jahren verfolgte, kam diese kleine Form der Repräsentanz im Zeichen einer klassisches Erbe und moderne Ästhetik versöhnenden Kunstauffassung offenbar sehr gelegen. Zwei Jahrzehnte später hatte sich dieses Modell längst überlebt. Damals, nämlich im August 1926, trägt Hauptmann in sein Notizbuch unter der Überschrift Elisabeth Förster-Nietzsche den so schlichten wie vielsagenden Vierzeiler ein: »Eine gut[e] | b[r]ave Pute | eine Pute | bleibt sie doch«.51 Ob er sich dabei an Elisabeths dringlichen Wunsch von 1921 erinnert, Hauptmann möge für das Amt des Reichspräsidenten kandidieren,52 sei hier dahingestellt. In jedem Fall tritt Hauptmanns Verhältnis zu Nietzsche mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Übergang zur Weimarer Republik in eine neue, seine dritte Phase. Dieser Übergang hat keine Auswirkungen auf das Leseinteresse; vielmehr erwirbt Hauptmann weiterhin Nietzsche-Buchausgaben zur Lektüre53 oder liest ältere Ausgaben neu.54 Geän-
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Brief aus Weimar vom 9. März 1906. In: Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 125. Vollständig ediert ebenda, S. 123–130. GH Hs 189, 122r. Vgl. den Brief vom 17. September 1921. In: Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 127. So beispielsweise den 6. Band (Leipzig 1922) der Taschenausgabe von Nietzsches Werken mit den Teilen Aus dem Nachlaß: Die ewige Wiederkunft (1881), Die fröhliche Wissenschaft und Aus dem Nachlaß: Dichtungen. Der intensiv gelesene Band (GHB 203761)
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dert haben sich jedoch die Wertungsvorzeichen, unter denen Nietzsche gesehen wird, und Schuld daran trägt weniger dieser selbst als seine Leser und Verehrer. Noch im Jahre 1914 hatte Hauptmann den Bildungsstand der deutschen Soldaten damit unterstrichen, dass sie »neben dem Gewehr in der Faust ihren Goetheschen Faust, ihren Zarathustra, ein Schopenhauersches Werk, die Bibel oder Homer im Tornister haben« (CA 11, S. 846). Zu diesem Zeitpunkt wird ihm die allgemeine Verehrung des Philosophen jedoch zum Problem, auch und gerade hinsichtlich ihrer politischen Aspekte. »Was hat Nietzsche für Verheerungen angerichtet«, schreibt Hauptmann 1931 nach der Lektüre von Oswald Spenglers Buch Der Mensch und die Technik: »Sein bleicher Verbrecher wird bei Spengler durch das Raubtier ersetzt. Der Mensch ist ein Raubtier mit Raubtierinstinkten. Darüber hinaus ist er nichts«.55 Wenn Spengler nicht schon ohnehin den Untergang des Abendlandes verkündet hätte – Hauptmann hatte das frühere Buch mit ähnlichem Unbehagen aufgenommen56 −, so wäre hiermit der Untergang der abendländischen Kultur erfolgreich eingeleitet: »Blutige Fetzen, nichts weiter, wird also von der Kultur übrig bleiben, wenn das Raubtier sie zerrissen hat«.57 Die Kritik erneuert sich angesichts von Spenglers nächster Veröffentlichung, dem auf politische Aktualität zielenden Buch Jahre der Entscheidung, das Hauptmann unmittelbar nach Erscheinen im September 1933 aufschlägt: »Sollte Spengler an dem scholastischen Moralgewürge Nietzsches im ›willen zur Macht‹, geistich erstickt sein?«.58 Spengler ist nicht der einzige Intellektuelle der damaligen Nachkriegszeit, bei dem Hauptmann eine regelrechte »Nietzscheentzündung« diagnostiziert. Anlässlich des Todes des Psychologen Hans Prinzhorn im Jahre 1933 notiert er mit kalauerndem Wortspiel: »Nietzsche ist für diese Exaltierten ein Organ wie die Lunge, im Geistigen: sie haben kranke geistige
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trägt den Erwerbsvermerk »Buchstube Kloster 1927 August«, woraus Ingeborg Kaiser »Weinstube Kloster« macht – ein wahrhaft ›dionysisches‹ Missverständnis! (I. Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 89). Vgl. die Datierung aus Rapallo 1925 auf dem Titelblatt der 1898 von Hirsch erhaltenen Zarathustra-Ausgabe (Anm. 45). Gerhart Hauptmann: Diarium 1917–1933 (Anm. 46), S. 175. Vgl. das in Hauptmanns Zarathustra-Ausgabe (Anm. 13) stark angestrichene Kapitel Vom bleichen Verbrecher und die kritischen Annotationen in Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München 1931 (GHB 204213), insbesondere S. 19: »Ich stelle mir Herr Spengler als Panterkatze vor«. Vgl. Gerhart Hauptmann: Diarium 1917–1933 (Anm. 46), S. 55f. Unter den beliebig zusammengewürfelten Ingredienzien wird dort auch Nietzsche genannt. Ebenda, S. 175. GH Hs 35, 121v. Vgl. die kritischen Notizen in Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Teil I: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. 23.–24. Tsd. München 1933 (GHB 204210), insbesondere die Marginalie »furchtbare Behauptung« zum Satz »Der Mensch ist ein Raubtier« (S. 14).
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Lungen! bis auf ›Klages‹ Ich klag es!«.59 Der Ausdruck »bis auf« hat hier selbstverständlich die Bedeutung ›einschließlich‹, wie eine Eintragung vom Juli 1933 zeigt: »Und dieser Nietzsche besaamt samenlos die impotentesten Scholastiker unserer Zeit, wie Klages z[um] B. zu [lies: mit] einem kalten, leeren, unerotischen Saamenerguss«.60 Hinter diesen sexuellen Schmähungen steht die in einem biologischen Kreativitätsbegriff fundierte Analogie zwischen künstlerischer und geschlechtlicher ›Zeugung‹, für die sich Hauptmann gern auf Goethe berief;61 ein »Unmann« wie Nietzsche musste ihm unter diesem Gesichtspunkt schon aus biographischen Gründen verdächtig erscheinen.62 Woher kommen aber plötzlich diese scharfen Töne? Wieso assoziiert Hauptmann Nietzsche regelmäßig mit der Scholastik? Die Verbindung mit dem auch von Nietzsche verwendeten Begriff begegnet schon in der knappen Bilanz, die Hauptmann 1925 auf das Titelblatt seiner Zarathustra-Ausgabe eintrug: »Er sprang aus der Scholastik – rettete sich ins Dichterische (aber nicht dahin) und zerbrach und starb an der Scholastik«. Damals setzt Hauptmann noch in Klammern hinzu: »In Ehrfurcht gesagt!«.63 Diese Ehrfurcht verliert sich bei der Lektüre der Kompilation Der Wille zur Macht im April 1933. Hauptmann hat sich die gut 700 Seiten starke Taschenausgabe des Kröner Verlags von einer Mitbewohnerin des Hotels Excelsior in Rapallo geliehen:64 von der (ihm seit Jahren bekannten) Portraitphotographin Frida Riess, einer früheren Geliebten Gottfried Benns, die unlängst von Berlin nach Paris übergesiedelt war.65 An eine Rückgabe des Bandes war allerdings bald nicht mehr zu denken. Denn in einem Maße wie in keinem anderen von Hauptmanns Nietzsche-Drucken sind seine Seiten mit Anstreichungen und Randbemerkungen übersät, die zunehmend kritischer werden. Nimmt man noch die Eintragungen in drei verschiedenen Tage-
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GH Hs 15, 83v. GH Hs 15, 107r. Hinter »leeren« stand ursprünglich »Nichtleben«. Vgl. Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen (Anm. 44), S. 38f. Vgl. den Kalendereintrag vom 14. Februar 1937 anlässlich Lou Andreas-Salomés Tod: »Sie hat ihr Schweigen über den jähen Abbruch ihrer Freundschaf[t] mit Nietzsche nie gebrochen. Und Rilke? Wie Nietzsche ein Unmann?« (GH Hs 117, 29v). Wie Anm. 45. Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Nachwort v. Alfred Baeumler. Leipzig 1930 (Kröners Taschenausgabe 78; GHB 203764). Auf dem Titelblatt vermerkte Hauptmann: »Dies Buch gehört Frau Riess, die mir es vorgestern, am letzten März gab, heute am 2 April 1933 bin ich auf Seite 37. Ich lese es zum ersten Mal«. Vgl. Peter Sprengel: »Gesichter täuschen – auch das meine«. Gerhart Hauptmann und die Riess. In: Marion Beckers u. Elisabeth Moortgat (Hg.): Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon in Berlin 1918–1932. Tübingen, Berlin 2008, S. 162–169 u. 205.
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bzw. Notizbüchern66 hinzu, so handelt es sich bei diesem Lektürevorgang sicher um den am intensivsten dokumentierten Rezeptionsprozess eines Nietzsche-Werks oder -Werkkomplexes. Seine besondere Bedeutung ergibt sich aus der historischen Krisen- und Entscheidungssituation, in der sich Hauptmann damals befand: Gut zwei Monate nach der sogenannten ›Machtergreifung‹ weiterhin im italienischen Winterquartier ausharrend, hat er noch keinen Schritt auf den nunmehr von den Nationalsozialisten beherrschten deutschen Boden gesetzt. Ohne wohl ernsthaft ein definitives Verbleiben im Ausland zu erwägen, schiebt der erst unmittelbar zuvor aus Anlass seines 70. Geburtstags im Jahre 1932 enthusiastisch gefeierte Autor die Rückreise nach Deutschland aus Angst vor Anfeindungen hinaus – daher zunächst auch die Osterreise in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach Capri. Nun sitzt Hauptmann, während seine zweite Frau Margarete zum Baden an die Piccola Marina absteigt, auf einem Aussichtspunkt über der Via Krupp und liest im Willen zur Macht. Im Gedanken an die Zustände in Deutschland67 kommt er dabei zu immer negativeren Schlüssen. Am Anfang der Lektüre stehen eher identifikatorische Reaktionen. »Meine Tierheits-Idee«, schreibt Hauptmann neben Nietzsches Worte von der Bereicherung des Lebens durch den Starken, und sechs Seiten später: »Dies meine Tieridee: Koch in Cardenio und Vorfahren« neben die Frage »Wie kam der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn?«.68 »Cardenio« meint die soeben entstandene erste Fassung der phantastischen Erzählung Das Meerwunder (1934), in deren Zentrum der Bericht des Seemanns Cardenio über seine Begegnung mit der Nixe Astlik steht sowie der scheiternde Übergang in das Stadium eines aufs Höchste gesteigerten animalischen Zustands, eine Art Über-Tier, wenn man es so sehen will wie sein letzter Reisegefährte, der Koch, der in Anlehnung an die Evolutionstheorie von der verpassten Chance des Homo sapiens spricht, seine körperlichen Eigenschaften ins Maximale zu entwickeln.69 Auch dem Autor Hauptmann sind also die Überprüfung der Grenzen zwischen Mensch und Tier sowie ihre tentative Überschreitung grundsätzlich keineswegs fremd; dennoch driftet die hier so harmonisch wirkende Beziehung von Leser und Philosoph schnell auseinander. Zwanzig Seiten weiter schreibt Hauptmann
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GH Hs 51, 49r–52v; 141, 97r; 167, 15v. Etwa zwei Jahre später entsteht die einschlägige Reflexion GH Hs 52, 77r. Vgl. die Marginalien: »Auch heut am 4 April 1933 in Berlin?« − »vielleicht heut 7 April 1933?« (Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht (Anm. 64), S. 61, 80). Ebenda, S. 37, 43. CA 6, S. 380f. Zur Interpretation im Rahmen des Darwinismus vgl. Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998, S. 77–84.
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neben Nietzsches These vom »Fluch« der »Vermoralisierung«: »Wie grausig und töricht ist diese Behauptung«.70 Wie ein Fazit steht auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels unter dem Nietzsche-Zitat »Wir haben die kleinste Welt als das überall Entscheidende entdeckt«: »Ich auch / GHptm« – mit dem Zusatz: »Ich aber: Goethe: ›der Wille zum Kleinen‹«. Das heißt doch offenbar: Mit Goethe, den er schon 1897 gegen Nietzsche ausgespielt hat, distanziert sich Hauptmann vom Gesamtkonzept eines – so die hier artikulierte Außenperspektive − größenwahnsinnigen Machtwillens durch ein Bekenntnis zum Mikrokosmos, zum Alltäglichen des menschlichen Lebens. Der Postnaturalist erneuert gewissermaßen das Bekenntnis zur Kleinheit, das Robert Walser zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleich doppelt vollzog (mit der Entscheidung für die kleine Form und der ostentativen Verweigerung jeder fiktionalen Ich-Größe71), und gibt der Ausrichtung auf das Leben der ›kleinen Leute‹, die seiner sozialen Dramatik von Anfang an eingeschrieben war (und in der »Berliner Tragikomödie« Die Ratten 1911 ausdrücklich zum Programm erhoben wurde72), ex post eine anti-nietzscheanische Wendung. Dahinter steht zweifellos die Verknüpfung von Nietzsches Philosophie mit der aktuellen Politik, insbesondere auch mit der – von Hauptmann konsequent abgelehnten − Rassenpolitik des Nationalsozialismus.73 Eine relativ abgewogene Aufzeichnung von 1935 reiht die Sehnsucht des hier als »durch und durch krankhaft« titulierten Philosophen nach dem Übermenschen in den Kontext nationalsozialistischer Züchtungspläne ein.74 Auch die überscharfe Distanzierung von Nietzsche in der Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend hebt auf den Zusammenhang von »Übermensch« und »blonder Bestie« ab (CA 7, S. 1073f.). In diesem Zusammenhang trifft auch das Nietzsche-Archiv im Jahre 1937 ein schwerer Vorwurf: »Die Leute die Nietzsches Diarium als ›Wille zur Macht[‹] friesiert und veröffentlicht haben waren Verbrecher«.75
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Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht (Anm. 64), S. 73. Man denke an die Idee der dienenden Unterordnung in den Romanen Der Gehülfe und Jakob von Gunten; auch hier spielt die Abgrenzung gegen Nietzsche eine Rolle. Vgl. Dieter Borchmeyer: Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser. Tübingen 1980. Nämlich in der – durch den Ausgang des Dramas bestätigten − Behauptung des Schauspielschülers Spitta, »daß unter Umständen ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear« (CA 2, S. 778). Vgl. Bernhard Tempel: Gerhart Hauptmanns Märchen (1941) im Kontext der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹. Eine Untersuchung aufgrund des Nachlasses. In: Scientia Poetica 6 (2002), S. 77–130. GH Hs 230, 44v–45r. GH Hs 117, 41v.
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Alternativ zu Nietzsche beruft sich der alte Hauptmann auf den Kulturmorphologen Leo Frobenius76 und auf Schopenhauer, dessen philosophischen Vorrang er auch sonst gelegentlich herausstreicht.77 Hierfür ist vor allem eines der Dialoggedichte einschlägig, die Hauptmann seit Mitte der 1930er Jahre einer Kasperle-Puppe in seinem Besitz in den Mund zu legen pflegte.78 In der Tradition der Hanswurst-Dichtungen Goethes kultiviert er darin bewusst einen grotesk-vulgären Ton und eigentlich unmögliche Reim-Verbindungen. »Nietzsche? ich quietsche«, beginnt der kleine Spruch, der als von Hanswurst gesprochen zu denken ist. Er geht weiter: »Schopenhauer: | Er kennt mich genauer. | Ich bin die zeitliche Lust | Die ewige Trauer: | Bewusst unbewusst«.79 Mit diesem verdeckten WagnerZitat (»unbewußt – | höchste Lust!«80) spielt Hauptmann das Vorbild seiner Jugend gegen dessen Rufmörder, den »schwächlichen Psychoanalytiker«81 Nietzsche aus. Ähnlich verfährt die Autobiographie, wenn sie die Unzulänglichkeit Nietzsches allein durch ein längeres Zitat aus Nietzsche contra Wagner zu erweisen versucht.82 Wagner war Hauptmann übrigens, ohne dass dieser davon gewusst haben dürfte, auch schon mit dem skandalisierenden Namensreim vorausgegangen.83 II. Übermensch und Unmensch/Tier in Hauptmanns Werk »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, − ein Seil über einem Abgrunde« (KGA VI 1, S. 10). Die Eröffnungsworte aus
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So schreibt Hauptmann auf das Vorsatzblatt seiner spät erworbenen Reclam-Ausgabe der Geburt der Tragödie: »Ich bin nicht ganz für den Baseler ›Gelehrten‹ ich bin mehr für den kühn, realistisch suchenden Frobenius« (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Nachw. v. Kurt Hildebrandt. Leipzig [1937]; GHB 972332). Andere Eintragungen im selben Band stehen eindeutig im Zusammenhang mit der Arbeit an der Atriden-Tetralogie. Vgl. die Marginalie ebenda, S. 5: »Herkunft von Schopenhauer klar«. Vgl. Peter Sprengel: Priester und Hanswurst. Inszenierungen der Dichter-Rolle im Spätwerk Gerhart Hauptmanns. In: Christiane Caemmerer u. Walter Delabar (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945. Opladen 1996, S. 29–52. GH Hs 236, 298v (7. Juli 1938). Es handelt sich um die letzten Worte aus Tristan und Isolde. Vgl. Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig 21888. Bd. 7, S. 81. Vgl. GH Hs 141, 49r: »Ein schwächlicher (scholastischer) Psychoanalytiker«. CA 7, S. 1074 (vgl. KGA VI 3, S. 429f.). Im Rahmen des scherzhaften Widmungsgedichts, mit dem er Nietzsche 1873 seine Werkausgabe übereignete: »kurz, was im Verlag von Fritzsche | schrei’, lärm’ oder quietzsche [sic], | das schenk’ ich meinem Nietzsche« (Dieter Borchmeyer u. Jörg Salaquarda (Hg.): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1994. Bd. 1, S. 233). – Freundlicher Hinweis von Dieter Borchmeyer.
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Zarathustras Rede an das Volk gehören zu den Lieblingszitaten der vorletzten Jahrhundertwende und haben zahlreiche Künstler und Schriftsteller inspiriert. Sie sollen auch dem folgenden stichprobenartigen Versuch, die Umsetzung nietzscheanischer Ideen und Motive in Hauptmanns Werk zu überprüfen, als Ausgangspunkt dienen. Die Argumentation geht dabei bewusst über den Ansatz von Ingeborg Kaiser hinaus, der die NietzscheRezeption primär an der Übernahme einzelner Formulierungen und Begriffe festmacht, nutzt jedoch die mit ihm verbundenen Möglichkeiten zur Verifikation intertextueller Bezüge. So kann die Feststellung als Ermutigung dienen, dass wesentliche wörtliche Bestandteile des zitierten Zarathustra-Spruchs in überraschender Häufigkeit in Hauptmanns Schriften wiederkehren. Das gilt schon für den Ausdruck »Abgrund« oder »Abgründe«, dessen prononcierte Verwendung in einer Aufzeichnung von 1890 von Kaiser geradezu als Nietzsche-Reflex angeführt wird,84 und der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu den Lieblingswendungen Hauptmanns gehört.85 Noch auffälliger ist dessen häufiger Rekurs auf Seiltanz und Seiltänzer(innen). Mit Wedekind und anderen Schriftstellern seiner Zeit teilt er die Vorliebe für das Zirkusmilieu im Allgemeinen (man denke an die Entwürfe zu Und Pippa tanzt!86) und das Seiltanzmotiv im Besonderen (die Titelgestalt des Romans Wanda ist Seiltänzerin); dabei ist sich Hauptmann der Verbindung zu Nietzsche durchaus bewusst. »Der Seiltänzer als Symbol vertieft«, notiert Hauptmann am 28. Februar 1899 (ein knappes Jahr nach der erneuten Lektüre des Zarathustra), setzt allerdings in Klammern hinzu: »nicht im Nietzschesinne«.87 Schon Ingeborg Kaiser weist mehrere prägnante Parallelen aus Hauptmann-Werken des 20. Jahrhunderts nach:88 vom Dramenfragment Die Wiedertäufer (»Du tanztest niemals auf einem Seil | wie itzt, verloren in Abgründen« (CA 8, S. 818)) über die Versdichtung Kaiser Maxens Brautfahrt und das autobiographische Buch der Lei-
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Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 20, mit Bezug auf Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891 (Anm. 14), S. 289: »Ich habe bewiesen, daß ich ruhigen Auges in die tiefsten Abgründe zu blicken vermag. […] Ich habe sogar stets mit einer gewissen Leidenschaft die Abgründe untersucht […] ich bin schwindelfrei und daher meiner selbst gewiß«. Zum Vergleich wird folgender Passus aus Also sprach Zarathustra herangezogen: »Der Muth schlägt auch den Schwindel todt an Abgründen: und wo stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht selber – Abgründe sehen?« (KGA VI 1, S. 195). Vgl. u. a. CA 6, S. 818 (Turmseil-Gleichnis), CA 7, S. 209 (»das Grauen der Abgründe, in die wir hineingeboren sind«) sowie CA 10, S. 509 (Winckelmanns Todesdrang). Vgl. CA 9, S. 1065–1082. Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897–1905 (Anm. 8), S. 265. Ingeborg Kaiser: Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns (Anm. 18), S. 55.
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denschaft bis hin zum nachgelassenen Romanfragment Der neue Christophorus.89 Besonderes Gewicht kommt Hauptmanns Absicht zu, im zweiten Akt des geplanten Galahad-Dramas den Titelhelden auf dem Marktplatz auftreten und – zu »[b]rausende[r] Begeisterung der Menge« – »über das Turmseil« gehen zu lassen (CA 8, S. 924). Denn dieses auch unter dem Titel Die Gaukelfuhre entworfene Drama sollte so etwas wie ein Grundsymbol der menschlichen Existenz und des Theaters bzw. der Kunst liefern. Darin ist es den Eulenspiegel-Dichtungen Hauptmanns verwandt – weniger dem Eulenspiegel-Epos von 1927, das zugleich kritischer Spiegel der Zeit sein will, als zwei szenischen Dichtungen um den populären Narren des Volksbuchs. Das szenische Eulenspiegel-Gedicht, das Hauptmann in den Lyrikband Ährenlese aufnahm, enthält folgende Anrede eines Greises an den Narren: »[…] Till, du bist jung, | gelenk und frisch zu Wurf und Sprung, | behend dich am Trapez zu schwingen: | bist auf dem Turmseil schwindelfrei« (CA 4, S. 259). Ausgestaltet wird diese Idee schon in einem Dramenentwurf von 1909: Till kommt mit seiner Begleiterin Nele auf dem Marktplatz einer kleinen altertümlichen Stadt an und verwickelt sich beim Aufspannen der Turmseile in ein Gespräch mit einem prototypischen Bürger, bei dem die Gegensätze zwischen den Mentalitäten scharf hervortreten. Die Existenz des Narren erscheint als Alternative zum Philistertum: EULENSPIEGEL: […] Die schwerste Kunst dünkt mir weniger schwer, wenn ich damit des Lebens spotte. Besser oben vom Turmseil fehlzutreten, als Jahrmarktskot mit den Fersen zu kneten. − (CA 9, S. 456f.)
Es kann also kein Zweifel bestehen: Hauptmann hat seinen Zarathustra bestens gekannt und hat sich von ihm – in einem Maße, das bislang wohl deutlich unterschätzt wurde – zu dichterischen Sinnbildern der menschlichen Existenz anregen lassen. Wie aber verhält sich sein Schaffen zu den von Nietzsche formulierten Eckpolen jener »Brücke« über den Abgrund, für die Zarathustra das Bild des aufgespannten Seils benutzt? Um zunächst mit der Utopie des Übermenschen zu beginnen, so ist spätestens an dieser Stelle der Punkt erreicht, an dem die von Ingeborg Kaiser erprobte Methode der Wort-Suche nicht mehr trägt, denn Hauptmann hat sich den Begriff im Sinne seines Verkünders letztlich nicht zu eigen ge-
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CA 4, S. 265; CA 7, S. 393; CA 10, S. 1038. Die letztgenannte Stelle entstammt dem 1944 entstandenen Paralipomenon XXI.
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macht. Wenn er von ihm spricht, dann vor allem im Sinne des NietzscheZitats oder der Abgrenzung von Nietzsche. Das Bekenntnis des jüdischen Bildhauers Raoul Markuse etwa zur »Mission« seiner Kunst entlarvt sich gewissermaßen schon durch sein Vokabular als maßlos übersteigert: »Es ist eine Botschaft, zugleich eine frohe und ernste meinethalb, eine neue Heilslehre, die den erniedrigten und von einem Gott zertretenen Menschen wie durch ein Wunder zum Übermenschen erheben kann« (CA 9, S. 620). Unter den Exzerpten zum Drama, die Hauptmann der Kurt-Kroner-Biographie Otto Grautoffs entnahm, finden sich denn auch prompt die Stichworte: »Nietzsches Zarathustra. Sozialromantiker«.90 Immerhin: Diese geistigen Stationen Kurt Kroners (oder Raoul Markuses) bezeichnen Stationen, die auch der junge Hauptmann durchlaufen hat; sie stellen gewissermaßen eine Schnittmenge zwischen Autor und Dramenfigur dar. Die Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend unterstreicht den Zusammenhang von Weltverbesserer-Träumen und Zarathustra-Lektüre, allerdings in der deutlichen Absicht, die Eigenbeteiligung des autobiographischen Subjekts daran so klein wie möglich zu halten. Hauptmann bettet die erste Nennung des Zarathustra in einen Kontext ein, der von messianischen Heilserwartungen nur so wimmelt; der Übergang von der echten Psychose (wie Hauptmann sie damals an den Patienten der Irrenanstalt Burghölzli studiert) zu grenzwertigen Erscheinungen wie der selbsternannten christlichen »Prophetin« Dorothea Trudel in Männedorf oder dem »Kohlrabiapostel« Johannes Guttzeit erscheint dabei denkbar fließend: Aber nicht nur wir, die ganze Epoche Ende der achtziger Jahre des vorigen Säkulums atmete Gläubigkeit. Auch Dorothea Trudel nahm in gewissem Sinne teil daran […] wir glaubten nicht anders als die Trudel an unser Tausendjähriges Reich. Nur waren tausend Jahre des Glücks zu wenig für unsere Ansprüche. Die Welterneuerer, Weltverbesserer tauchten überall auf. Auch Nietzsche, dessen Zarathustra eines Tages als Zeitsymptom im Asyl der Freien Straße lag, gehörte darunter. Der Kohlrabiapostel war ein anderes Extrem. Die Forderung einer asketischen Lebensform war mit dem Fleischverbot verbunden. Auch bei dieser Sekte war der damals weit verbreitete Wahlspruch »Rückkehr zur Natur!« mitwirkend.91
Anschließend referiert die Autobiographie – nach exkursartigen Bemerkungen über die Fortschritte der Medizin und die Entdeckung der Sexualität – die Begegnung mit der Apostelgestalt des Dieffenbach-Schülers Gutt-
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CA 9, S. 625. Vgl. Otto Grautoff: Kroner. Mit einer Vorrede v. Gerhart Hauptmann. Berlin 1927 (GHB 973904), S. 20. CA 7, S. 1071f. In der Wohnung seines Bruders Carl in der Freien Straße fand der vor den Auswirkungen des deutschen Sozialistengesetzes geflüchtete Gerhart Hauptmann 1888 »Asyl«.
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zeit am Pfingstsonntag 1888 auf der Uferpromenade des Zürcher Sees: »So ging denn ein Schauder durch uns hin, als dieser rotbärtige Heiland plötzlich mit rollenden Augen zu reden begann« (CA 7, S. 1072). Erst danach, also fast zwei Seiten nach der zitierten ersten Nennung, nimmt der Autobiograph den Namen Nietzsches wieder auf – um ihn definitiv mit dem Stichwort »Übermensch« zu verbinden: Ein Übermensch, nach der Forderung Nietzsches, zu dem die blonde Bestie die Vorstufe bildet, wenn sie nicht der Übermensch selber ist, war dieser Apostel freilich nicht. Wo man aber seiner Spielart durch Zufall begegnete, erschien auch sogleich im Geiste der Übermensch als sein Gegenteil. Askese, je mehr verwirklicht, verschwindet um so mehr in die Einsamkeit. Sie war und ist in der Welt verbreitet. Die blonde Bestie, die weder Askese noch Weltflucht kennt, hatte freilich doch größere Aussicht, sich zu vermehren. Ob nicht der Übermensch vielleicht in einem allverbreiteten Typus der Roheit schon damals auf- und unterging? Der Übermensch Nietzsches in seiner ideellen Konstruktion erschien mir nun keineswegs als gesünderer Gegensatz des Pfingstapostels, sondern vielmehr als der krankhafte. (CA 7, S. 1073f.)
Einerseits ist Hauptmann sehr wohl bewusst, dass der missionarische Vegetarier den Typ des Asketen repräsentiert, dessen entlarvender Beschreibung Nietzsche eine ganze Abhandlung seiner Schrift Zur Genealogie der Moral gewidmet hat.92 Von Nietzsche aus gesehen, handelt es sich also wirklich um ein »Gegenteil«, einen pathologischen Gegenpol jener Steigerungsform des Menschlichen, die mit dem Begriff »Übermensch« angedeutet ist. Man könnte sich überhaupt fragen, was Hauptmann dazu bringt, im Kontext der Erwähnung Guttzeits den nietzscheanischen Begriff zu verwenden. Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die eine verweist auf Hauptmanns Absicht, die gesamte Konstruktion des Nietzsche’schen Übermenschen als »krankhaft« zu denunzieren – und Guttzeit, wie Hauptmann ihn uns (ohne Namensnennung) zeigt, trägt zweifellos pathologische Züge. Der argumentative Kurzschluss funktioniert jedoch nur (und darin liegt die zweite Antwort), wenn man Guttzeit als etwas betrachtet, das Nietzsche wohl nie in ihm vermutet hätte, nämlich eine – wenn auch scheiternde und schwächliche – Annäherung an den Übermenschen. Eben das hat Hauptmann offenbar in ihm gesehen, als er 1890 unter Auswertung seiner Züricher Erlebnisse die Novelle Der Apostel schrieb. Sie endet mit einer rauschhaften Selbst-Apotheose des Predigers, die alle Züge einer psychotischen Allmachtsphantasie hat. Weil es aber der christliche Heiland ist, mit dem sich die Hauptgestalt in einer frivolen Mischung von
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»Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?« (KGA VI 2, S. 355–430).
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Eitelkeit und mystischem Erbe identifiziert (der manifeste Zielpunkt des Textes also denkbar weit abliegt von den religions- und moralkritischen Vorstellungen Nietzsches), ist offenbar kein Interpret bisher auf die Idee gekommen, in der Schlussvision der Titelfigur dasjenige zu erkennen, was der Autor der Erzählung doch offenbar als bewussten intertextuellen Bezug intendiert: die Zarathustra-Parallele, den Schritt zum Übermenschen. Die Bedeutung dieses Befunds rechtfertigt wohl ein längeres Zitat; in starker Angleichung an die Figurenperspektive, großenteils in erlebter Rede, heißt es da: Gegen Mittag mochte es sein. Er wollte wieder hinauf in den Buchenwald, um seine Zeit abzuwarten. Die Sonne sollte ihn weihen, dort oben. Noch immer kühle und reine Luft, wie er den Berg hinanstieg. Hymnen der Vögel. Der Himmel wie eine blaßblaue, leere Kristallschale. Alles so makellos. Alles so neu. Auch er selbst war neu. Er betrachtete seine Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie frei und rein war sein Geist! Und diese Ungebundenheit der Glieder, diese völlige innere Sicherheit und Skrupellosigkeit. Grübeln und Denken lag ihm nun weltfern. Er lächelte voll Mitleid, wenn er an die Philosophen dieser Welt zurückdachte. Daß sie mit ihrem Grübeln etwas ergründen wollten, war so rührend, wie wenn etwa ein Kind sich abmüht, mit seinen zwei bloßen Ärmchen in die Luft zu fliegen. Nein, nein – dazu gehörten Flügel, breite Riesenschwingen eines Adlers – Kraft eines Gottes! Er trug etwas wie einen ungeheuren Diamanten in seinem Kopfe, dessen Licht alle schwarzen Tiefen und Abgründe hell machte: da war kein Dunkel mehr in seinem Bereich … Das große Wissen war angebrochen. – (CA 6, S. 84)
»Der große Mittag«, könnte man auch mit Nietzsche sagen. Dessen Vokabular und Symbolik sind hier allgegenwärtig: die vertikale Bewegung des Aufstiegs zur Höhe und zum Licht, die Erhebung über die »Abgründe«, der Adler als Tier Zarathustras, sogar die »Ungebundenheit« und »Skrupellosigkeit« eines ›freien Geistes‹! Als Guttzeit sich über die karikierende Abbildung seiner Person im Apostel beschwerte, schrieb Hauptmann ihm zurück: »Ich verspüre auch nie in meinem Leben sozusagen bloß photographische Gelüste«.93 Man muss ihm Recht geben: Diese Überblendung der wahnhaften Anwandlung eines Heiland-Darstellers mit dem Bild- und Wortmaterial Nietzsches, vor allem des Zarathustra, ist weit entfernt von einer Karikatur im üblichen Sinn oder einer platten Kopie des Vorbilds. Hier findet eine Umgestaltung statt, die auch Umdeutung ist. Sie bezieht gewissermaßen schon den geistigen Zusammenbruch Nietzsches von 1889
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Karte vom 20. Juli 1890, abschriftlich in Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891 (Anm. 14), S. 278.
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ein, der genau in das Jahr zwischen der Begegnung Hauptmanns mit Guttzeit und der Ausarbeitung des Apostels fiel. Das ist jedoch keineswegs das letzte Wort des Dichters in dieser Sache. Hauptmann, der die Möglichkeiten des erzählerischen Genres im 20. Jahrhundert mehrfach zur Erprobung irrationaler, mythischer oder metaphysischer Gegebenheiten ausnutzt, entwickelt in den Folgejahren eine ganze Serie narrativer Entwürfe, denen der zitierte Schluss des Apostels als eine Art Urszene dient. Man könnte von Variationen über ein Thema sprechen, das als Aufstieg eines Gottsuchers oder Heilsbringers in die Höhe zu beschreiben wäre. Im Vergleich der verschiedenen Fassungen, die Hauptmann seit 1910 dieser Konstellation widmet, tritt das zunächst so stark betonte pathologische Element zunehmend zurück. Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910), Hauptmanns Roman über einen modernen Jesus, genauer: einen schlesischen Tischlersohn, der durch die Erwartungen seiner Umgebung in die Jesus-Rolle gezwängt wird, bietet dem Leser durchaus noch psychopathologische Erklärungsmuster an. Daran ist vor allem der rationalistische Erzähler beteiligt, von dessen Perspektive sich Hauptmann brieflich allerdings klar distanziert hat,94 aber auch der Aufbau des Romans: Von einem bestimmten Zeitpunkt an scheint der Erwartungsdruck seiner Anhänger bei Emanuel Quint in einen geschlossenen Jesus-Wahn umzuschlagen.95 Dennoch bleiben Zweifel an der Angemessenheit einer solchen medizinischen Perspektive bestehen, und aus ebendiesen Zweifeln bezieht der Roman seine Faszinationskraft. Diese lebt wesentlich von der Suggestion, dass sich hier auf schlesischem Boden und unter den Bedingungen des aufgeklärten 19. Jahrhunderts nichts anderes vollzieht als seinerzeit unter dem Himmel Galiläas, dass uns mithin im Werdegang Quints das Schicksal des Heilands unmittelbar nahegebracht wird. Ein solcher Eindruck stellt sich beim Leser insbesondere bei jenen Episoden des Hauptmann’schen Textes ein, die direkte Entsprechungen im Bericht der Evangelien haben. So bezieht sich die nachfolgend zitierte Passage unverkennbar auf die Versuchung Christi, dem der Teufel von einem hohen Berg aus die Reiche dieser Welt zeigt (Matthäus 4, 8f.) – die Versuchung Emanuels auf seinen einsamen Bergwanderungen besteht hingegen darin, sich selbst für Gottes Sohn, ja für Gott selbst zu halten: Er war wie Gott, so in alles Erhabene aufgelöst, oft stundenlang. Dann stand er zuweilen dicht am Absturz verwitterter Klippen und blickte mit einem bakchantischen Lächeln furchtlos hinunter in die Abgründe. Unter ihm lösten
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Briefentwurf an Carl Busse, zitiert in Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen (Anm. 44), S. 130. Vgl. ebenda, S. 81f. (mit Bezug auf Theodore Ziolkowski: Fictional transfigurations of Jesus. Princeton 1972).
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sich einsame Raubvögel und schwammen verloren im pfadlosen Raum, und plötzlich war es ihm dann zuweilen, als schölle ein Spottgelächter von unten herauf und er müsse, um diesen Schall zu beantworten, einen triumphierenden Sprung in die Tiefe tun: dann würde er schweben, er wusste es, und leichter als eine Taube dahingleiten. (CA 5, S. 58)
Wieder erscheinen die »Abgründe« Zarathustras und das Motiv des Raubvogels (diesmal sogar ganz real, nicht bildlich wie im Apostel), hier außerdem kombiniert mit einem neuen Hinweis auf die Nietzsche-Sphäre: dem »bakchantischen Lächeln« Emanuels. Damit ist offenbar das in der Geburt der Tragödie geschilderte einverständige Wissen der Dionysos-Anhänger um die nahe Auflösung ihrer individuellen Existenz gemeint sowie die daraus hervorgehende Bereitschaft zur Hingabe. In einem derart dionysisch – und damit auch nietzscheanisch − eingefärbten Kontext muss die Annäherung Emanuel Quints an die Figur und Problematik des Übermenschen noch deutlicher hervortreten. Die symbolische Verbindung von Aufstieg und Gottessuche, ja GottAngleichung verdichtet sich in der Novelle Der Ketzer von Soana (1917), in deren Binnenhandlung der junge Priester Francesco dreimal in die Höhe steigen muss, bevor sich ihm im Dickicht des Tals das Mysterium der geschlechtlichen Liebe erschließt. Bei seinen Aufstiegen an der Flanke des Monte Generoso oder am Kapellenhügel von Sant’ Agata nimmt er regelmäßig »hochzeitlich kreisende[-] Fischadler« (CA 6, S. 141) über oder unter sich wahr – das Zarathustra-Tier taucht hier gleich doppelt und als erotisches Versprechen auf. Während der Messe auf Sant’ Agata, die mit einer umfassenden Dionysos-Vision endet, fühlt sich der von ihm selbst noch unbekannten Gefühlen erfüllte Priester in eigentümlicher Weise erhoben – die Versuchung des Übermenschen tritt an ihn heran: Und wie hatte ihm nicht der Weg, der Aufstieg zu diesem Gipfel das Geheimnis erschlossen, nach dessen Sinn er Agata gefragt hatte. […] War nicht die ewige Mutter der Inbegriff aller Wandlungen, und hatte er nicht die verwahrlosten und im Finsteren tappenden verlorenen Gotteskinder auf diesen überirdischen Gipfel gelockt, um ihnen das Wandlungswunder des Sohnes, das ewige Fleisch und Blut der Gottheit zu weisen? So stand der Jüngling und hob den Kelch, mit überströmenden Augen, voll Freudigkeit. Es kam ihm vor, als ob er selber zum Gott würde. (CA 6, S. 135)
Die Übermensch-Anwandlung steht im Ketzer von Soana jedoch nicht unter Krankheitsverdacht, ist vielmehr Teil eines umfassenden Gesundungsprozesses. Dennoch ist sie illusionär und wird durch den Fortgang der Handlung entscheidend korrigiert. Denn Francescos Hochgefühl basiert auf der Verkennung seiner eigenen Sexualität, auf der Verwechslung christlicher Agape mit jenem heidnischen Eros, dem er nach seinem Bruch mit
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dem Zölibat huldigen wird. In der Umarmung Agatas, die der Erzähler als Wiedergewinnung des Paradieses inszeniert, wird der Priester zum »neuen Adam« (CA 6, S. 158) und damit auf eine bestimmte Weise Gott nah oder gleich,96 die jedoch nicht dem Modell der nietzscheanischen Erhebung (oder Überhebung) entspricht. Die Spannung zwischen Erhöhung und Erniedrigung, Aufstieg und »Untergang« (in Nietzsches Sinn) beherrscht auch den unvollendeten Altersroman Der neue Christophorus, dessen wechselvolle Konzeptualisierung hier natürlich nicht aufgearbeitet werden kann. Immerhin sprechen schon die Namen eine deutliche Sprache: Dem Bergpater oder Pater Montanus steht sein Zögling Erdmann (ursprünglich Merlin) gegenüber. Zu den ältesten Schichten des Romankonvoluts gehört die Grabgeburt dieses Heilsbringers, als dessen leiblicher Vater in Entwürfen von 1917/18 ausdrücklich ein »greiser Übermensch« vorgesehen ist, den wir uns vielleicht nach dem Vorbild Wanns (in Und Pippa tanzt!) vorstellen dürfen.97 Er ist jedenfalls nicht mit dem Bergpater identisch, dessen Aufgabe derselbe Entwurf vor allem in der Vermittlung »der oberen und unteren Sphäre« sieht. Als Hauptmann nach der Veröffentlichung des Romanfragments (1943) die Einschätzung eines Lesers mitgeteilt wurde, »Erdmann solle so etwas wie der Nietzschesche Übermensch werden«, hat er das nach Behls Zeugnis »mit allen Zeichen des Entsetzens« abgelehnt.98 Durchaus glaubwürdig und konsequent, denn an seiner Abneigung gegen eine derartige Steigerungsform kann kein Zweifel bestehen, auch wenn sie nicht wie in Das Abenteuer meiner Jugend direkt aus der »blonden Bestie« hergeleitet wird. Auf der anderen Seite ist unverkennbar, dass Hauptmanns eigene Erzählprosa, soweit sie sich religiösen Erfahrungen und Fragestellungen widmet, immer wieder ähnliche Grundfiguren beschwört und vom abgelehnten »Übermenschen« eigentlich nicht loskommt. Wesentlich eindeutiger ist die Präsenz des Gegenpols zum Übermenschen aus Zarathustras Seiltanz-Gleichnis in Hauptmanns Œuvre: Tiere und Tierisches dienen als Modell des Menschen und seiner Verhaltensweisen in weiten Teilen seines – und hier besonders des dramatischen − Schaffens. Ihnen werden die Namen ganzer Stücke (Der Biberpelz, Die Ratten) und wichtiger Figuren (Mutter Wolff, Amtsvorsteher Wehrhahn, der alte Huhn) entliehen; andere dramatische Personen imitieren Tiere und erscheinen als
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Vgl. CA 6, S. 161 (»solches Nahesein bei Gott«) sowie S. 163 (»Paradiesesfrucht, […] deren Genuß Gott gleichmachte«). CA 10, S. 1071. Datierung nach Rudolf Ziesche: Der Manuskriptnachlaß Gerhart Hauptmanns. Teil 1–4. Wiesbaden 1977–2000. Teil 3, S. 45. C. F. W. Behl: Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann. Tagebuchblätter. München 1948, S. 252 (Eintragung vom 24. Oktober 1944).
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solche (Arnold Kramer als Marabu,99 Pippa als Schmetterling100) oder verweisen durch auffällige physiognomische Ähnlichkeiten auf tierische Urbilder (Bruno John als Ratte,101 Paula Clothilde Clausen als Geier102). Dabei knüpft Hauptmann sichtlich an volkstümliche Auffassungen vom Charakter bestimmter Tierarten oder sprichwörtliche Wendungen wie die vom Wolf im Schafspelz an, die nicht zufällig im Biberpelz zitiert wird.103 Dasselbe Gleichnis entfaltet ein überraschendes Eigenleben im Einakter Elga (der 1897 entstandenen Dramatisierung einer Grillparzer-Novelle). Die weibliche Titelfigur betrügt ihren Ehemann Starschenski, indem sie nachts, in einen Schafspelz gehüllt, zu ihrem Geliebten Oginski schleicht. Als sie am Schluss mit dessen Leiche konfrontiert wird, wirft sie sich über den Toten; auf die Annäherung ihres Ehemanns reagiert sie »haßerfüllt, wie eine Wölfin, die ihr Junges verteidigt« (CA 1, S. 754). Auch Oginski erscheint unter der doppelten Optik von Schaf und Wolf. Wenn seine Brüder über ihn reden, erzählt ihm belustigt Elga, so könnte man denken: »du seiest ein armes, hungriges Schaf und sie zwei Löwen« (CA 1, S. 732). Dabei ist er offenbar der Wolf, der in die Hürde von Starschenskis Ehe einbricht und sich das Schaf holt. Nach seiner auftragsgemäßen Ermordung lässt der Hausverwalter dem Ehemann ausrichten: »Der tote Wolf frißt kein lebendiges Schaf« (CA 1, S. 751). Im Unterschied zu ähnlichen Vergleichen in späteren Werken Hauptmanns steht hier weniger das mörderische Wesen des Räubers als die Wildheit und nicht zu bändigende Natur des frei schweifenden Tiers (im Gegensatz zum Haustier Schaf) im Vordergrund. So kann sich Elga ebenso gut mit einem »wilde[n] Vogel« identifizieren.104 Da alle diese Elemente in Grillparzers Novelle Das Kloster von Sendomir fehlen, kann man sie mit besonderem Recht als dichterische Mittel Hauptmanns reklamieren: als Signale der vitalistischen Umdeutung, der er seine Vorlage unterwirft. Auch im Biberpelz (1893) und in Rose Bernd (1903) setzt der vitalistische Naturvergleich primär an der weiblichen Hauptfigur an. Die nach Goethes Heideröslein benannte Kindsmörderin erleidet das Schicksal einer Katzenmutter, der ihr Junges abgejagt wird,105
_____________ 99 Vgl. CA 1, S. 1124, 1138. 100 Vgl. CA 2, S. 277, 284. 101 Vgl. CA 2, S. 737: »Niedrige, weichende Stirn […]. Die Pupillen seiner Augen sind schwarz, klein und stechend. Er bastelt an einer Mausefalle herum«. 102 Vgl. CA 3, S. 279: »Sie hat scharfe, nicht angenehme Züge, einen Geierhals, dabei eine entschieden sinnlich-brutale Körperlichkeit«. 103 »Man kennt sie ja, diese Wölfe im Schafspelz« (CA 1, S. 533). Wehrhahns Worte über Doktor Fleischer treffen viel eher auf die von ihm verkannte Diebin Frau Wolff zu. 104 Mit ihrem Lied »Ich bin ein wilder Vogel | und fahre daher. | Ich bin ein weißer Falke, | ein schwanenweißer Sperber!« (CA 1, S. 728). 105 Vgl. CA 2, S. 257: »da is ma gerannt wie ane Katzenmutter, ’s Kitschla eim Maule! Nu han’s een de Hunde abgejoat«.
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und geht wie ein Tier in die Schlinge des Jägers,106 wird wie ein Wild zur Strecke gebracht: »Streckmann« ist der Name ihres Erpressers, und der Geliebte ist Jäger. Wenn das Tier oder der im Bilde des Tiers begriffene Mensch hier primär als Opfer gesehen wird, so ändert sich die Sicht entschieden im Zuge des Ersten Weltkriegs, der dem Dichter offenbar eine gründliche Lektion in »Bestialität« erteilte.107 »Ich habe mich mit der allmächtigen Bestialität vollkommen abgefunden«, sagt ein ehemaliger Offizier im nachgelassenen Drama Herbert Engelmann: »Seien wir Bestien unter Bestien, wenn Bestie nicht ein euphemistischer Ausdruck ist« (CA 8, S. 352). Die während des Krieges beendete Winterballade (nach Selma Lagerlöf) rückt das Motiv des ›Bluthunds‹ ins Zentrum. Der weiße Heiland, ein Schauspiel über die Eroberung Mexikos, gibt den eng verwandten Begriffen ›Wolf‹ und ›Bestie‹ weiten Raum. »Jenes Rudel weißer Wölfe | hat der Abgrund ausgespien«, sagt ein mexikanischer Fürst zu seinem Kaiser mit Bezug auf die Soldateska des Fernando Cortez (CA 2, S. 1195). Auch auf spanischer Seite setzt sich eine ähnliche Perspektive durch: »Seid ihr Menschen? Wilde Bestien | sind barmherzig gegen euch« (CA 2, S. 1255) – so Pedro de Alvaro in der 6. Szene des Dramas, der seine Kritik am Vorgehen der weißen Söldner zwei Szenen später vertieft: »Dies ist keine gute Praxis, | daß man immer neue Rudel | ungezähmter Wölfe losläßt, | Bestien, die den span’schen Namen, | die den Christennamen schänden | und sich schmählich unter Wilden | als die Wildesten am Ende | gegenseitig selbst zerfleischen« (CA 2, S. 1281). »Grausame Bestien sind doch die Menschen«, hatte schon Michael Kramer am Sarg seines Sohnes geklagt (CA 1, S. 1170). Dreißig Jahre später sieht sich Geheimrat Clausen, die Hauptfigur des Schauspiels Vor Sonnenuntergang (1932), von den eigenen (erwachsenen) Kindern bedroht: »Ein Weib hat Katzen, Hunde, Füchse und Wölfe zur Welt gebracht, und sie sind Jahrzehnte hindurch in Kindergestalt, in Menschengestalt in meinem Haus herumgelaufen – fast ein Leben lang sind sie um mich herumgekrochen, haben mir Hände und Füße geleckt – und plötzlich haben sie mich mit den Zähnen zerrissen« (CA 3, S. 355). Umgekehrt versteht sich die Prostituierte Dorothea Angermann im gleichnamigen Schauspiel (1926) als Opfer ihres unnachsichtigen Vaters, eines evangelischen Pastors: »Er hat mich in die Höhlen und Gruben der hungrigen wilden Tiere hinunterge-
_____________ 106 Vgl. CA 2, S. 256: »Hernach bin ich von Schlinge zu Schlinge getreten«. Zur Jagd- und Natursymbolik in Rose Bernd vgl. Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen (Anm. 44), S. 284–287. 107 Vgl. Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1914–1918. Hg. v. Peter Sprengel. Berlin 1997. René Sternke: »Der Mensch dem Menschen als Nahrung«. Gerhart Hauptmanns Sinnstiftungsversuch im Ersten Weltkrieg. In: Weimarer Beiträge 39 (1993), S. 598–605.
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stoßen. Entehren wir doch nicht den Ausdruck Tier. Bleiben wir doch bei den Ausdrücken Mensch, Mann, Höllenknecht« (CA 3, S. 168). Familie und Gesellschaft als Bestiarium! Dass sich diese Sicht keineswegs auf das dramatische Schaffen Hauptmanns beschränkt, macht das Hauptwerk der zwanziger Jahre, das monumentale Versepos Till Eulenspiegel (1927) deutlich, das in zwei zentralen Passagen auf die Gefährdung der Menschlichkeit Bezug nimmt. Im Dritten Abenteuer erläutert Till einem pazifistischen Angler den Kampf ums Dasein im Bilde der Selbstbehauptung, zu der sich ein Reisender gegenüber hungrigen Wölfen genötigt sieht – unter Einsatz der dem Menschen angeborenen »Zähne, | Fäuste, Krallen und Hamsterbegierde«: Siehst du nicht, ihre drielenden Mäuler aufs Feuer gerichtet, diese schnappenden Wölfe ringsum, denen Aas aus dem Hals keucht? Iß und lache dem Pack in die Schnauze, so kneift es den Schwanz ein! (CA 4, S. 627)
Wenig später wird Tills Gesprächspartner das Opfer eines Fehmemords; er hat die Lektion einer wölfischen Lebenspraxis offenbar nicht gelernt. Bereits im Ersten Abenteuer erklärt der Narr die Funktion des Spiegels, den er mit sich führt und dem er seinen Namen verdankt. Indem er »das heilige Antlitz der Wahrheit« zeigt, enthüllt Tills Spiegel − angesichts der schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs − eine bedenkliche Wahrheit über den Menschen, ja eigentlich seine Ersetzung durch den »Unmenschen«: Was mein Spiegel dem Kläger gezeigt, wenn er halbwegs für gut fand, es genau und nicht nur obenhin, dies Geschöpf, zu betrachten, ist der schreckliche Dämon, den, nach der Vernichtung der Menschheit, die im Kriege sich selbst verschlang, uns die Hölle zurückließ. Übermensch nenn’ ich ihn oder Raubmensch und besser noch: Unmensch. Unmensch aber, das ist schon kein Mensch, und in Wahrheit: er ist nicht, ist vergangen, verschollen, der Mensch, und auf ewig verschwunden. (CA 4, S. 603)
So führt die Frage nach der Thematisierung der Tier-Natur des Menschen bei Hauptmann wieder auf den Begriff des »Übermenschen« zurück, der hier in einem Atemzug mit dem des »Unmenschen« genannt wird. Ehe dem spannungsreichen Verhältnis dieses Begriffspaars in der letzten Schaffensphase Hauptmanns nachgegangen werden soll, ist jedoch eine Zwischenbilanz erforderlich. Aufgezeigt wurde, dass Hauptmanns Dramatik geradezu systematisch eine Angleichung von Mensch und Tier betreibt, und zwar zunächst durchaus mit positiven Vorzeichen. Seit dem Ersten Weltkrieg wird die Mensch-Tier-Parallele, auch im epischen Schaffen, verstärkt fortgeführt, jetzt allerdings mit eindeutig negativen Vorzeichen: im
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Sinne einer Klage über die Inhumanität der Gesellschaft und des Menschen selbst. Diese Entwicklung fällt in genau dieselbe Zeit, in der sich Hauptmanns Nietzsche-Bild zunehmend durch die Wahrnehmung solcher Nietzsche-Wirkungen (bei Spengler und anderen) eintrübt, die auf eine Apologie der Raubtier-Mentalität hinauslaufen. Der Dichter kritisiert also an Nietzsche und seinen Schülern eine Tendenz, der er selbst in seinem Schaffen erheblichen Vorschub geleistet hat, die er aber vielleicht gerade darum von falschen Tönen frei halten will. Hauptmann wendet sich eben deshalb so heftig gegen die Absolutsetzung der Gleichung Mensch-Tier, weil sie als Teilwahrheit auch in seinem eigenen Werk zu finden ist: eine Affinität, die nicht zur Identität werden darf und soll. Einer Klärung bedarf noch die Frage nach den Voraussetzungen der Auffassung Hauptmanns von der Nähe des Menschen zum Tier. Wenn man sie nicht schon als Folge seiner frühen Nietzsche-Lektüre begreifen will, bietet sich der Verweis auf die naturwissenschaftliche Orientierung des Naturalismus an. Insbesondere ist hier der Darwinismus zu erwähnen, von dem ja auch Nietzsche wichtige Anregungen aufnahm. In der Konsequenz einer evolutionsgeschichtlichen Betrachtung lag zweifellos eine Nivellierung der Wesensverschiedenheit von Mensch und Tier im Sinne einer ›zoologischen‹ Anthropologie. Auch durch Émile Zolas gleichnamigen Roman von 1890 wurde die ›bête humaine‹ zum Leitbegriff der Epoche. Vor einer allzu eindeutigen Fixierung des naturalistischen beziehungsweise darwinistischen Anteils sollte allerdings die Erinnerung an ältere geistige Modelle warnen, denen das ›Tier im Menschen‹ geläufig war. In philosophischer Hinsicht sind das vor allem Hobbes und Schopenhauer,108 in literarischer Hinsicht in erster Linie Kleist. In seiner Hermannsschlacht hat dieser – insbesondere mit der drastischen Szenenfolge (V. 15–19), in der Thusnelda ihren römischen Verehrer Ventidius durch einen Bären zerfleischen lässt − das bestialische Element selbst dieses aus germanisch-deutscher Perspektive ›gerechten‹ Krieges in kaum zu überbietender Weise artikuliert. Der junge Hauptmann hat sich Kleists vaterländisches Schauspiel 1881/82 zum Vorbild genommen. In seinem ersten Drama Germanen und Römer zeigt er Hermann den Cherusker am Lager des Varus, wie er das Horn absetzt, mit dem er eben noch seine Leute zum Angriff rufen wollte – von den folgenden Bedenken gegenüber ihrer bzw. seiner eigenen Wolfsnatur erfasst:
_____________ 108 In Die Welt als Wille und Vorstellung beruft sich Schopenhauer mehrfach auf den von Thomas Hobbes für den Naturzustand formulierten Grundsatz »homo homini lupus«. Zum Rezeptionspotential gerade der biologischen Aspekte von Schopenhausers Philosophie vgl. Wolfgang Riedel: »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996.
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Die fallen dann wie Tiger über ihn, der sich mein Freund genannt, der mich geliebt, zerreißen ihn wie Wölfe, die der Hunger zu übermäß’ger Gier getrieben. Den zerreißen sie, den – den zerreiße ich, Er deutet nach dem Gemache des Varus auf diesen hetz’ ich sie? Ich, ich? – Ihr Götter! Der mich vieltausend Male Sohn genannt, der mir vertraute, wie ein Vater nur dem Sohn vertrauen kann, der mich erhob, den stell’ ich vor den Käfig wilder Bestien und öffne diesen Käfig? (CA 8, S. 178)
Hier ist schon das ganze Motivarsenal des Bestialischen versammelt, das Hauptmann bis in seine letzten Jahre beschwört. Man wird daher an eine monokausale Herleitung seiner Tiermotivik aus den Prämissen der eigentlichen Moderne nur mit großer Vorsicht herantreten. Auch die Hinwendung zur Antike, die Hauptmanns Dichtung seit Mitte der 1930er Jahre bestimmt, knüpft an seine eigenen Anfänge, vor allem an die Jenenser Zeit der Jahre 1882/83 an. Selbstverständlich nimmt Hauptmann dabei aber auch neue Gesichtspunkte des Antike-Bildes auf, die er sich durch die Geburt der Tragödie und andere Lektüren (Erwin Rohde, Walter Pater) sowie durch seine Griechenlandreise im Jahre 1907 angeeignet hat. Besonderes Interesse verdient seine Neukonzeption des antiken Heros in der gleichnamigen Versdichtung aus dem Jahr 1938 sowie in der ein Jahr später begonnenen Atriden-Tetralogie. In der hier wie dort gestalteten Thematik des Opfers (für den Heros und durch den Heros) werden die scheinbar unvereinbaren Pole des Unmenschlichen und des Übermenschlichen in irritierender Weise zusammengeführt. Ausgangspunkt der Atriden-Tetralogie ist das »unmenschliche«109 Opfer, zu dem sich der griechische Heerführer Agamemnon in Aulis durch den Seher Kalchas überreden lässt: die Schlachtung der eigenen Tochter Iphigenie, die freilich von Artemis in letzter Minute durch eine Hirschkuh ersetzt wird. Ein eindrucksvoller Botenbericht des Kritolaos zeigt uns Agamemnon zugleich als »Halbgott« (Übermensch?) und Unmensch: als Wahnsinnigen, der einen pathologischen Tötungszwang ausübt – ohne Ansehen seines Opfers. Der Umstand, dass Iphigenie dabei der mythologischen Überlieferung gemäß ohne Wissen ihres Vaters durch eine Hirschkuh ersetzt wurde, kann dem Dramatiker nur recht sein, der ja insbesondere Frauen gerne als Wild des Jägers verbildlichte. Kritolaos spricht zunächst vom »Wun-
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Peter Sprengel
der« des Verschwindens Iphigenies – anhaltend noch in dem Moment, als »der Halbgott Agamemnon« schweren Schrittes, mit »aufgerissenen« Augen und entblößten »Zahnreihn« die Cella betrat: Nun denkt: auf dem Altar lag eine Hirschkuh, noch zappelnd, das Geschling hing um sie her! Was wurde, so er den Betrug entdeckte? − Und einige Choreten hielten ihn; sie wollten mit der Wahrheit ihn belehren. Allein, er stieß sie schweigend vor die Brust, daß sie hinsanken und aus ihren Mündern das Blut hervorschoß. – Und nun stieß er, blind und rasend, mit den Messern in die Hirschkuh, bis sie bewegungslos im Blute lag, und damit schritt er in den Pronaos, nichts ahnend von dem Irrtum, und es klang wie Donner seine Stimme … (CA 3, S. 943)
Unmittelbar vor und nach seiner Tat erscheint der lebende Agamemnon in Iphigenie in Aulis als das, wozu der griechische Held eigentlich erst im Zuge seiner späteren Verehrung, nämlich des Heroenkults, wurde: als Halbgott und übermenschliche Größe. Im Moment der Tat dagegen erscheint er als Monster und ›untermenschliches‹ Wesen. Der Versuch, beide Gegensätze zusammenzuführen, kann als Grundtendenz der Tetralogie Hauptmanns beschrieben werden. Schon in Iphigenie in Delphi, dem entstehungsgeschichtlich ersten Stück des Zyklus, rücken Übermensch(liches) und Untermensch(liches) in der Idee des Opfers zusammen. Auf Pylades’ Frage, wieso die Begegnung mit der verschollenen Schwester Iphigenie Elektra so klein und sprachlos gemacht habe, antwortet diese: »[…] durch ein Opfer! | Damit das Übermenschliche mit seinem | erhabnen Werte nach Gebühr geehrt sei, | schweig’ ich darüber wie ein sprachlos Tier« (CA 3, S. 1087). Die auf den Heroika Philostratos’ des Älteren basierende Versdichtung Der Heros führt denselben Zusammenhang anhand der Opferung der trojanischen Prinzessin Polyxena für den toten Achill vor Augen. In Hauptmanns Darstellung landet Polyxena, von Odysseus geführt, auf der Toteninsel Leuke, wo sie denn auch bald in einem gewalttätigen Akt dahingerafft wird. Achill, der solchermaßen das Opfer annimmt, tritt zugleich als Sprecher auf und korrigiert die beschränkte Sicht auf die Existenzform des Heros, die zuvor von Odysseus mitgeteilt wurde: »Ulysses sprach: ›Heroenlebenswandel, | erfahr’ ich selbst, hat seine Schwierigkeit. | Zur Hälfte ist’s der irdisch-alte Handel, | zur andern Hälfte Übermenschlichkeit‹« (CA 4, S. 234f.).
Gerhart Hauptmann und Nietzsche
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Achill dagegen entwirft das in einem sehr präzisen Sinn utopische Bild einer höheren Existenz, in der die maximale Steigerung sinnlicher Kräfte mit einem »übermenschlichen Verstand« einhergeht. Ihr Ort ist im Niemandsland zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod oder, wie man wohl auch sagen könnte, Tier und Gott. So kehrt in dieser Beschreibung des Heros noch einmal das Bild des Seiltänzers wieder, der zwischen unvereinbaren Gegensätzen auf und ab schwingt: Es ist ein höhrer Kämpe, einer, der webt zwischen Hell und Dunkel her und hin, und immer tiefer da- und dorthin schweifend, näher dem obren und dem untren Zeus, das Rätsel beider nach und nach begreifend. (CA 4, S. 236)
Christian Schärf
Das Ausstrahlungsphänomen Gottfried Benns Nietzsche-Projektionen Wir wissen nicht, wann genau er in sein Leben trat. Es muss früh gewesen sein, aber so früh, wie es tatsächlich gewesen sein muss, sind die Spuren der Auseinandersetzung nicht nachzuweisen.1 Noch Rönne, Benns halluzinierendem Alter Ego aus der Zeit um 1915, geht Nietzsche als Rezeptionshintergrund offensichtlich ab. Rönne ist Psychopath und Autist, kein kulturphilosophischer Denker. Bis 1920 war Nietzsche für Benn ein Eisberg unter Wasser, vorhanden zwar, wirkungsvoll auf die Ideen und das Schreiben hin, aber eben unsichtbar und unbenannt. Erst ganz allmählich tauchte der Berg auf und wuchs zu einer nicht mehr zu überbietenden Höhe an. Es ist trotzdem davon auszugehen, dass Benn schon vor 1910 Nietzsche gelesen hat, denn dies waren die Jahre, da Nietzsche überall in der Luft lag. Auch wer ihn nicht gelesen hatte, sprach über ihn. Zarathustra war ein großes Gerücht und darin eine veritable Sensation. Der Nihilismus erschien als Deutungsangebot – nicht nur der Epoche, sondern des gesamten Abendlands – für eine Generation, die das Erbe der Gründer nicht ungebrochen fortführen wollte, die ahnte oder wusste, dass der wilhelminische Staat auf hohlen Gesten und verbrauchten Prinzipien aufgebaut war. Es war die Zeit der großen Ventilierung von Nietzsche-Bruchstücken, der rasanten Verbreitung der Nietzsche-Fama; die Nietzsche-Heroik wurde ebenso zur Mode wie die legendäre Tragik des Denkers der Ewigen Wiederkehr.2 Die Ecce homo-Schauer, von denen Benn später mystifizierend sprechen sollte, sie waren im Jahrzehnt des Expressionismus, die gesamte Ge-
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Vgl. als einschlägige Literatur zum Thema Horst Fritz: Gottfried Benns Anfänge. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 383–402. Bruno Hillebrand: Artistik und Auftrag. Zur Kunsttheorie von Benn und Nietzsche. München 1966. Ders.: Apotheose der Kunst. Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche. In: Ders.: Was denn ist Kunst? Essays zur Literatur im Zeitalter des Individualismus. Göttingen 2001, S. 210–230. Vgl. hierzu Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde. Tübingen 1978.
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Christian Schärf
neration der um 1880 Geborenen überspannend, spürbar. Für die unter dem Patriarchat der das Deutsche Reich aufbauenden Väter rebellierenden Söhne wurde Nietzsche zur Gegenvaterfigur – und blieb darin immer noch eine Vaterfigur. Davon ist auszugehen, auch im Hinblick auf Benn. Er war kein Renegat im üblichen Sinne, er entstammte einem protestantischen Pfarrhaus, seine Vaterphobie verband sich mit der Vorstellung von Gottvater. Das provozierte unmittelbar die Revolte gegen die Ordnung des großen Ganzen. Für den frühen, den expressionistischen Benn spielte Nietzsche im Prozess der metaphysischen Revolte noch keine tragende Rolle. Erst als es darum ging, das Selbstverständnis der expressionistischen Generation rückblickend zu begründen und für die Gegenwart explizit zu machen, stützte sich Benn beinahe monomanisch auf Nietzsche. Von diesem Zeitpunkt an wurde aus dem Verhältnis Benns zu Nietzsche ein fundamentaler Diskurs über die wesentlichen Fragen, die die moderne Kunst und das Denken über sie betrafen. Wer in Benns Briefen der zwanziger Jahre nach Nietzsche sucht, tut es vergeblich. Da ferner Essays dazu aus der Feder des Schöneberger Kassenarztes in dieser Zeit so gut wie nicht entstehen, wird man auch auf diesem Sektor nicht fündig. Als Benn zur öffentlichen Person wird, ändert sich das fast schlagartig. Mit dem Beginn von Benns Radioarbeit um 1928 steigt Nietzsche zum ideellen Gewährsmann einer ästhetischen Position auf. Wenn man sie durch die beiden Jahrzehnte bis etwa 1950 verfolgt, wird man entdecken, dass dieser Begleiter im Geiste in den unterschiedlichsten Beleuchtungen auftritt und mit sehr verschiedenartigen Zielsetzungen eingeführt wird. Man kann vor diesem Hintergrund zwar nicht verneinen, dass es eine Basisdisposition Benns gegenüber Nietzsche gegeben habe und dass man diese als Benns auf Nietzsche gestützten Kunstglauben herausarbeiten könne. Die Rekonstruktion der pragmatischen Behandlung dieses Phänomens zeigt jedoch einen hohen Grad von Verwerfungen, vor allem auf dem Gebiet der Ideen und ihrer Deutung. Benns Nietzsche-Projektionen beschreiben keine klar zu verfolgende Rezeptionslinie. Eher figurieren sie als ein Driften der Deutungselemente im pragmatischen Raum der Reden. Unterschiedliche Redeanlässe werden Varianten der Nietzsche-Sicht Benns offenbaren, deren Zusammenschau schließlich an einem einheitlich zu begreifenden Phänomen zumindest Zweifel aufkommen lässt. Entsprechend werden sich meine Ausführungen auf vier Punkte in Benns Werkgeschichte konzentrieren: die Rede auf Heinrich Mann (1931); die ersten Briefe an Oelze aus den Jahren 1933–35; die Rede Nietzsche nach 50 Jahren (1950); schließlich der Brief an Alexander Lernet-Holenia aus dem Jahre 1952.
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Die am 28. März 1931 auf dem Bankett des Schutzverbands deutscher Schriftsteller gehaltene Rede zum 60. Geburtstag Heinrich Manns kann als das zentrale Dokument gelten, in dem Benn seine ästhetischen Perspektiven hinsichtlich einer ›deutschen Artistik‹ ausbreitet. Diese Artistik sei, so Benn, in Deutschland erstmals in voller Geltung von den Brüdern Mann eingeführt und umgesetzt worden. Heinrich und Thomas Mann hätten nur einen einzigen Vorläufer darin gehabt, der aber geistig geschlagen war und nichts galt: Nietzsche: die Delikatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Finger für Nuances, die psychologische Morbidität, der Ernst in der Mise en scène, dieser Pariser Ernst par excellence, das tragische Evangelium: ›die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit‹, das finden wir in dessen Theorie – und ihre Verwirklichung im Werk einige Jahrzehnte später in der Art dessen, den wir heute feiern.3
Nietzsche tritt hier noch als Theoretiker auf, und Heinrich Mann wird als der exemplarische Autor vorgestellt, der die praktische Umsetzung dieser Theorie in Literatur geleistet habe. Diese Rollenzuweisung dürfte nicht nur dem Anlass der Rede geschuldet sein, sondern Benns tatsächlicher Ansicht im Jahre 1931 entsprechen. Er bezieht sich dabei konkret auf den Ausdruck ›Artistik‹, der sich bei Nietzsche durchs ganze Werk hindurchzieht. Dabei wird sein Stil emphatisch, nimmt Fahrt auf durch Begriffsballungen und Ausrufe, die synthetischen Adjektive treten auf den Plan, an denen man bei Benn immer den Zug ins Dunkel-Raunende ablesen kann: »Der Einbruch der Artistik, die neue Kunst! Vom Westen den Geist, Fanatismus des Ausdrucks, analytischen Instinkt, hormonbewandert und röntgentief; vom Norden die Eruptivität großen Stoffs, die dunklen tragischen Träume« (ER, S. 432f.). Benn spricht dann nacheinander von der »Kunst an sich«, der »absolute[n] Kunst« und dem »Olymp des Scheins« und weist nun Heinrich Mann das Verdienst zu, den Zusammenhang »zwischen dem europäischen Nihilismus und der dionysischen Gestaltung, […] zwischen dem Verklärten, Verschwärmten, Schwammigen des deutschen Geistes und dieser Oberflächlichkeit aus Tiefe, diesem Olymp des Scheins«, hergestellt zu haben (ER, S. 433). Eine Ballung großer Worte zu einem abendländischen Finalgewitter, das ist der Eindruck, den Benn hier vermittelt, und der so gar nicht zu den Lektüren der Prosa Heinrich Manns passen will. Nicht allein deshalb, son-
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Gottfried Benn: Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1989, S. 432. Zitate aus diesem Band werden fortan im Haupttext unter Verwendung der Sigle ER nachgewiesen.
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dern auch, weil er bewusst nur auf einen Teil des bis 1931 vorliegenden Werkes des Gefeierten eingeht, nämlich lediglich auf den frühen, noch stark auf D’Annunzio und die europäische Dekadenz ausgerichteten Teil, will es scheinen, als konzipiere Benn in dieser Rede vor allem einen ästhetischen Katechismus für sich selbst. Genauer müsste man sagen: von sich selbst, denn er ist es, der mit diesen Thesen für Aufsehen sorgt, der provoziert, weil Heinrich Manns Werk der 1920er Jahre keinerlei Erwähnung findet, und der einen religiösen Duktus in diese Auseinandersetzung um die Kunst einbringt, der quer zu allen Tendenzen der Neuen Sachlichkeit liegt. Schließlich spricht Benn sogar von Deutschland als von einem »artistisch verwandelten Land«, dessen geistiges und künstlerisches Leben einer prinzipiellen Entzweiung entspringt: »Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust« (ER, S. 435). Benn spricht in dieser Passage seiner Rede auch von den Ecce homoSchauern und prägt den später berühmten Satz: »Nihilismus ist ein Glücksgefühl« (ER, S. 435). Er instrumentalisiert Heinrich Mann und dessen Frühwerk für die Idee einer Kunst, die den Nihilismus überwinden soll. Darin folgt er tatsächlich Nietzsche, aber anders als dieser langt er bei einer recht grob gearbeiteten Zweiteilung an: Hier das Leben (vulgo für europäischen Nihilismus), dort die Kunst, das Reich der schöpferischen Transzendenz, das sich über das wertlos gewordene Leben als reine Formgebärde, als Gestaltungskraft im Nichts, erhebt. Die zerfallende Metaphysik des Christentums und damit das Wertgebäude des alten Europa lässt nur noch eine Werte schaffende Instanz zu: den Künstler. Diese von Nietzsche philosophisch ausdifferenzierte Vision findet sich im 19. Jahrhundert bei den radikalsten Ästheten bereits vorgeprägt. Entsprechend zitiert Benn einen Satz Flauberts, der die Schwebe zwischen Nihilismus und Schöpfertum auf den Punkt bringt: »je suis mystique et je ne crois à rien« (ER, S. 435). Was bei Nietzsche Teil einer dynamischen Denkoperation auf den Fundamenten literarischer Kreativität war, verdichtet sich bei Benn zu einem Glaubensbekenntnis. Zu diesem spätestens 1931 gewonnenen Horizont tritt die für Benns intellektuelle Operationen so typische stilistische Form des Essays hinzu, jener Essay-Stil, der ein Höchstmaß an metaphorischer Verdichtung gerade auf der Ebene der Substantive aufweist und tendenziell dazu geeignet ist, den kritischen Geist gegen die Emphase einer mystischen Partizipation einzutauschen. Benn ist darin so gnadenlos, wie es nur ein Religionsgründer sein kann. Nietzsche wird von ihm, ohne noch die geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, zum Propheten erhoben. Dieser Vorgang ist in der europäischen Literatur der Neuzeit einzigartig; die Shakespeare-Verehrung des Sturm und Drang reichte da nicht heran, denn sie blieb vollkommen literarisch. Benns Verhalten aber ist nur noch
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religionsgeschichtlich zu verstehen. Es handelt sich nicht mehr um jenen aus politischer Unmündigkeit resultierenden Überschuss an Kraft, der die jungen Bürgersöhne um 1770 in die Literatur trieb. Jetzt will man die Kultur, die man für geistig bankrott hält, von Grund auf erneuern, und man glaubt fest daran, es allein über die Kunst schaffen zu können. Der politische und wirtschaftliche Gestaltungswille der Gründerväter wechselt nun vollständig und endgültig ins ästhetische Lager. Benn glaubt sich Anfang der dreißiger Jahre dazu gerüstet, das Wort in diesem Sinne zu ergreifen. Wenn er abschließend über Heinrich Mann sagt, dieser sei »de[r] Meister, der uns alle schuf« (ER, S. 436), dann meint er damit eine Figur, die die Rolle eines missionarischen Jüngers für eine Generation von Kunstgläubigen gespielt hat, eines Jüngers, der ganz im Geiste des Propheten Nietzsche agierte. Im letzten von Benn selbst besorgten Druck der Rede auf Heinrich Mann, dem 1950 erschienenen Band Frühe Prosa und Reden, weist Benn selbst darauf hin, dass seine Rede »nur die frühen, die italienischen Werke des Autors zu Grunde legt«, denn »als er sie nach Deutschland verlagerte, verlegte sich die Schönheit nicht mit« (ER, S. 699). Noch immer bekennt sich Benn zu Inhalt und Duktus des Textes, und zwar indem er sich auf den unvergleichlichen Einfluss Heinrich Manns auf seine Generation als Ganze stützt: »Die deutsche Literatur meiner Generation ist in einem Masse von den frühen Romanen und Novellen von H. Mann abhängig, wie in keinem Land der Welt je eine Generation von einem Lebenden abhängig war« (ER, S. 698). Dass man diese Aussage viel eher auf Nietzsche zu beziehen hätte denn auf Heinrich Mann, ist nicht zu überhören. Heinrich Mann ist für Benn der Filter, durch den hindurch der philosophische Nietzsche restlos ins Ästhetische, ja Ästhetizistische verdünnt werden und für eine Generation der Kunstgläubigen zugerüstet werden konnte. Nur darauf kommt es Benn an, wenn er noch 1950 im Vorwort zu Frühe Prosa und Reden schreibt: »Schönheit ist immer Verrat, Schönheit ist seltener als Uran, […] Dass bei H. Mann Schönheit ist, daran ist kein Zweifel. Dass hinter ihm d’Annunzio steht, ist evident« (ER, S. 698f.). Das ist Benns Position auch schon zu Beginn der dreißiger Jahre. Er hat sie sich 1931 endgültig erarbeitet, und in dem Augenblick, da er sie vor Augen hat, da sie für ihn formulierbar, wiederholbar, argumentierbar wird, nimmt Benns gedanklicher Fanatismus Fahrt auf. Er wird fast mit jeder Woche dogmatischer in seinem Glauben, seine kulturkämpferischen Visionen tendieren ins politisch Konkrete und strömen sich in Essays aus, seine Gedichtproduktion kommt darüber nahezu zum Erliegen. 1932 wird Benn in die Preußische Akademie der Kunst gewählt, im selben Jahr erscheint sein meisterhafter Essay Goethe und die Naturwissenschaften, und am Ende dieses gloriosen Jahres erscheint gleichsam wie aus heiterem Himmel Oelze.
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Friedrich Wilhelm Oelze spricht Benn wegen seines Goethe-Essays an. Nachdem Benn zunächst das Angebot zu einem Treffen mit dem Hinweis abblockt, alles, was er zu sagen habe, stehe in seinen Büchern, und ein persönliches Gespräch könne für Oelze nur enttäuschend sein, wird er im zweiten Brief deutlich, fast überdeutlich. Hier nämlich, am 27. Januar 1933, schlägt Benn einen Ton an, mit dem er den ohnehin schon zu allem bereiten Oelze auf absolute Gefolgschaft trimmt. Dies vollzieht Benn mittels einer Interpretation des Begriffs des Perspektivismus, also wiederum mit einer Nietzsche-Interpretation. Benn schreibt: Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt jetzt der Begriff der Perspective […] »Perspectivismus«, von Nietzsche stammend, von Ortega in letzter Zeit populärgemacht. Der Formtrieb, der Gestaltungs- u Abgrenzungstrieb braucht ja Material, Stoff. Aber man verwendet ihn nicht im Wahrheitssinn, sondern perspectivistisch. Man entwickelt eine Perspective. Ist diese existentiell glaubhaft, überzeugend als Ausdruck eines Sehens, einer Vision, ist ihr Zweck erfüllt. Natürlich wird ihr Realitätsgehalt, ihr exacter Befund eventuell bald überholt u. verdrängt von neuen Befunden, Ergebnissen, sogenanntem Beweismaterial. Aber es bleibt ihre visionäre Realität, ihr Bildhaftgewordenes, ihre im Hinblick auf den Autor existentielle Intensität. Sie bleibt als Ausdruck, als Kunst. Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. […] Die Kunst und die perspectivistische Erkenntniss übernimmt die persönliche, ach so schmerzliche u. ewig angegriffene Verantwortung der Abgrenzung des Stoffes, der Gliederung u. Verwerfung unter dem Gesichtspunkt von Idee u. Blick u. existentiellem Recht. Die Wissenschaft läuft, sabbert staatsgeschützt, pensionsberechtigt, mit Witwen- u Waisenversorgung ausflussartig dahin, wagt gar keine Entscheidung, keine Wertung, ist so begnügsam, methodisch verweichlicht, empirisch angezäumt, fürchtet das Allgemeine, flieht die Gefahr. Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich. Der Gedanke u das Wort kam ja nicht in die Welt, um die Wissenschaft u. den Sozialismus u. die Krankenkassen zu rechtfertigen, sondern als die furchtbarste Waffe, die grausamste Schneide, der blutigste Morgenstern dem waffenlosen Menschen in der grausamsten aller Welten zu helfen. Davon ein Rest blieb dem Gedanken, der wirklich denkt, der nicht wissenschaftlich denkt, sondern visionär, zwangshaft unter eingeborenen Ideen. Davon ein Rest blieb in der Kunst, im halluzinatorischen Denken, im Ausdrucksdenken. Das ist tiefes, von weither zwangsmässiges Denken. Daher der Satz, der oft in den Kritiken über meine Bücher zitiert wird: ›überall der tiefe Nihilismus der Werte, doch darüber die Transcendenz der schöpferischen Lust‹. Also: Nihilismus gegenüber den Er-
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gebnissen der Wissenschaft, aber zwanghaft das Gesetz zur Form, zur Gestalt, zur Perspective.4
Erneut ein Glaubensbekenntnis, und wieder verweist Benn auf Nietzsche. Auf Nietzsche zurückführen lässt sich dieser Begriff von Perspektivismus allerdings nur bedingt. Vielmehr klingt hier etwas anderes unüberhörbar an. Es ist ein statischer Dualismus, der Benns Denken prägt und der, wie man sieht, 1933 schon vorhanden ist. Die Abgrenzung, auf der dieser Glaube gründet, ist eindeutig: hier die Wissenschaft, sammelnd, verantwortungsund ergebnislos, dort die Kunst, zwanghaft, visionär, schaffend. Benn wird diesen Gedanken immer klarer herausarbeiten, bis er fast manichäistische Radikalität ausstrahlt. Er wird seine Existenz in den dreißiger Jahren auf diesen Glauben bauen und in den dunkelsten Stunden sich daran festhalten können. Oelze hilft ihm dabei als Gegenüber, das den Gedanken eine gewisse Realität verleiht. Das Leben als das Reich des gefallenen Engels, die Kunst als das Reich Gottes, Nietzsche als ihr Verkünder. Das mag man Denken nennen, sofern man akzeptiert, dass dabei ganz bewusst die kritischen Instanzen des Intellekts ausgeblendet und überformt werden sollen. Der pauschale Angriff auf die Wissenschaft resultiert aus dieser Ansicht. Tatsächlich sind Manöver, wie sie Benn Oelze gegenüber vollführt, Brachialinterpretationen, mit denen um jeden Preis eine ganz bestimmte Perspektive in Stellung gebracht werden soll. Es sind Verschanzungen eines in die Defensive Gedrängten und keine offenen Prozesse im Sinne von Nietzsches Perspektivismus. Benn nutzt Nietzsches Begriff des Perspektivismus nicht, um perspektivistisch zu arbeiten, sondern um eine Perspektive zu setzen, die seine und nur seine sein soll. Seine Praxis des Perspektivismus ist zumindest in der Phase um 1933 nicht anders als dogmatisch zu nennen. Auch später wird sie diesen Zug zum Dogma nicht wirklich ablegen. Die im Brief vom 27. Januar 1933 vorgenommene Setzung steht zunächst in keinem Verhältnis zu Benns tatsächlicher poetischer Produktion. Sein ästhetischer Glaube ist nun für ihn eine Identitätsmarke im Kulturkampf, dem er sich verschrieben hat, und der alsbald, gerade in der Akademie, gravierende Konsequenzen nach sich ziehen sollte, nicht zuletzt für den noch zwei Jahre zuvor so überschwänglich gefeierten Heinrich Mann. Der Kunstgläubige aus dem Jahre 1931 hat sich 1933 in einen Glaubenskrieger verwandelt, der mit Schild und Knappe loszieht, noch nicht
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Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Hg. v. Jürgen Schröder u. Harald Steinhagen. Bd. 1. 1932–1945. Wiesbaden 1977, S. 27f. Zitate aus diesem Band werden fortan im Haupttext unter Verwendung der Sigle BaO nachgewiesen.
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wissend, dass er dem Ritter von der traurigen Gestalt jetzt schon gleicht. Das Schild trägt das Emblem Nietzsches, der Knappe heißt Oelze. Was folgte, war Benns politische Ernüchterung. Er fiel 1934 vom Nationalsozialismus ab und stürzte ins soziale Nichts. Er wusste, nur noch die Aufnahme in die Reichswehr könnte ihn retten, die er mit Hilfe alter Seilschaften aus der Armee bewirkte. Benns Übersiedlung nach Hannover im Jahre 1935 ließ somit eine neue Periode in seinem Leben beginnen, die eine nochmals radikalisierte Nietzsche-Deutung mit sich brachte. Aus dem Begriff der Kunst wird nun der Geist herausdestilliert und dem Leben in schroffer Unvereinbarkeit gegenübergestellt. Schon am 24. November 1934 schreibt Benn an Oelze: Die neue Formel ist ja eben: nur Geist. Alles nur Geist! Das ›Leben‹? Du lieber Gott, das ist ja schon bei Nietzsche ein Krampf. Bei Bergson Feuilletonismus. Ist diese ganze Antithese nicht eigentlich allmählich reine Gedankenspielerei, tragisch vermummt? Das sind ja alles gar keine Denkereignisse mehr, das sind Stimmungen, in Büchern festgehaltene Liebhabereien, Postillen, Herzblättchens Zeitvertreib. (BaO, S. 41)
Benn zelebriert nun zusammen mit Oelze, der sich wie ein Meisterschüler immer hart an der reinen Lehre entlangtastet, sie jedoch nie ganz zu erreichen scheint, einen neuen Spiritualismus. Er eröffnet mit ihm ein Kloster in Briefen, er bittet ihn sogar ausdrücklich darum: »Lassen Sie uns […] ein Kloster gründen« (BaO, S. 42). Es wird zu einem Rückzugsort zweier Männer, die sich jenseits ihrer Zeit sehen, in eine Zeitlosigkeit gerückt, von der sie annehmen, es sei die Zeitlosigkeit des Geistes. Ihre Vision ist es, einmal von diesem fehlgeleiteten Leben erkannt und von ihm begehrt zu werden: »Der Geist wird seine Stellung erst haben, wenn das Leben ihn begehrt, ihn zu sich zu holen sucht, nicht, wenn er das Leben zu führen u. zu meistern trachtet« (BaO, S. 41). Oelze, der elitäre Bildungsbürger ›par excellence‹, die ›Synthese aus Oxford und Athen‹, war wie geschaffen dafür, Benn in diese von BerlinSchöneberg aus erlassene Spiritualität zu folgen, wobei sich beide einig waren, Goethe zum alleinigen und unantastbaren Stellvertreter des Geistes auf Erden zu erklären. Gleichzeitig erwuchs Nietzsche in Benns Augen zu einer problematischen Figur. Der Prophet der reinen Kunst habe irrigerweise denn doch zu sehr dem Leben nachgehangen, habe die ›grosse Gesundheit‹ angestrebt und dabei den großen Fehler begangen, auf die Steigerungskräfte der Physiologie zu setzen. Von dieser Skepsis gegenüber Nietzsche geführt, schwört Benn Oelze darauf ein, dass man dem Philosophen gerade in diesem Punkt, in diesem noch immer praktizierten LeibSeele-Dualismus, zumindest einen Schritt voraus sei: »Einen Schritt sind wir weiter als er, nach meiner Meinung einen sehr weitreichenden in die
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Zukunft dieser Finallage […]: er hatte noch nicht die Geschichte u die Natur vom Geist getrennt, er glaubte noch an ihren Ausgleich, jedenfalls an ihre Beziehung, während wir das doch garnicht mehr tun« (BaO, S. 71f.). In dieser Phase nimmt Benn einen wahren Oberlehrerton gegenüber Oelze an und erteilt ihm zuweilen auch einen strengen Verweis, wenn sich der Bremer Kaufmann als allzu dilettantisch für Benns Gnosis erweist: »Wollen Sie bitte Ihren Einwand, der Geist sei ein Anhängsel des Lebens, weil er nur mit dem Leben zusammen auftrete, als völlig materialistisch nochmals durchdenken!« (BaO, S. 72). Der Brief an Oelze vom 16. September 1935 enthält den ersten Kommentar Benns zu den von ihm herausgehobenen Versen aus Nietzsches Gedicht Der Freigeist. Es ist bezeichnend, dass Benn diese Verse jedes Mal falsch zitiert, sicherlich weil sie ihm nicht als philologische Tatsachen vorliegen, sondern als identifikatorische Problematik auf den Leib gerückt sind: »was meinte N. eigentlich mit den Versen: ›wer das verlor, was ich verlor, | macht nirgends Halt‹ –« (BaO, S. 72). Benn spekuliert in der Beantwortung dieser Frage zunächst auf die »Unmöglichkeit jeder Gemeinschaft« und kommt dann auf seine eigentliche Interpretation zu sprechen. Nietzsches in seine Verse gelegte Erkenntnis laute: »[D]ie Völker brauchen ihre grossen Männer garnicht. Also auch ihn nicht. Sie brauchen ihre kleinen Männer weit eher. Die grossen sind nur skurril. Anhängsel des Lebens? […] Freischwebende Blasen, nichtmal Fruchtblasen. Keineswegs! Idiotisch geradezu gesehn vom Leben aus u. von der Geschichte« (BaO, S. 72). Die Kardinalthese in den Jahren des Rückzugs nach 1935 lautet: Die den Geist vertreten, sind für das Leben vollkommen überflüssig. Alles, was sie tun und äußern, fällt auf sich selbst zurück, sie selbst als historische Figuren fallen ganz und gar auf sich selbst zurück, haben keinen Bezug zum Leben, können gar keinen haben; daher werden sie ausgegrenzt und verhöhnt, verfolgt und vernichtet. Nietzsche habe das gespürt und es in seinem Gedicht von den Krähen, die schwirrenden Flugs zur Stadt ziehen, zum Ausdruck gebracht. Aber seinen Ansatz aufs Ganze hin umzusetzen, so Benn, dazu sei er noch nicht in der Lage gewesen. Ihm sei die Sehnsucht nach dem Leben, das ihn abwies, stets erhalten geblieben. In diesem Punkt seien Oelze und er definitiv einen Schritt weiter. In Benns mobilem Kloster wird auch nach seiner Rückkehr nach Berlin im Jahre 1937 zwischen Bendler-Block und Bozener Straße die Nietzsche-Theologie ständig weiterentwickelt. Der Philosoph bleibt sein Hauptidentifikationsmedium in der Geschichte, doch in einer Symbiose mit ihm, wie es etwa George Bataille von sich behauptet hat, lebt Benn nicht. In Nietzsche sah er ein Scheitern verwirklicht, das nicht nur das Maß alles Erträglichen sprengte, sondern eben auch ein Mahnmal für die Überflüs-
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sigkeit sogenannter ›großer Männer‹ in der Geschichte darstellte. Nietzsches sogenanntes Scheitern ist in den dreißiger Jahren das eigentliche Problem für Benn, wenn er über seinen Kunst-Propheten reflektiert. In Benns Augen war Nietzsches Scheitern ein Untergang, ein Zerbrechen am Leben. Das aber wollte Benn für sich selbst in jedem Fall vermeiden. Als schöpferischer Mensch zu überleben, hieße zu erkennen, dass das Leben der eigentliche Feind der Kunst und des Geistes sei, dass man sich vom Leben und mithin von der Geschichte unbedingt fernhalten müsse, da sie das Reich der Verbrecher darstelle, während es auf der Seite des Geistes nur Mönche geben könne. Alles Agieren auf dem Feld der Politik und letztlich im Rahmen der Geschichte sei verbrecherisch. Dem gegenüber befänden sich die Mönche des Geistes und der Kunst, die, so Benns Vorstellung, in die Geschichte nicht eingriffen, sondern allein dem Schöpferischen zugewandt seien. Die Probleme, die dieses Konzept mit sich bringt, blendet Benn geflissentlich aus und beharrt mit Unterstützung Oelzes auf der Unveränderlichkeit seines Dogmas. Als immer wieder von brauner Seite angefeindete und schließlich zum Schweigen verurteilte Person war Benn andererseits auf die inneren Kräfte angewiesen, die ihn das Dritte Reich überleben ließen. Benn, der den Wert des Lebens auf der Ebene ›niederen Wahns‹ ansiedelte, war, so erscheint es aus der historischen Distanz, ein Überlebenskünstler. Er wird in den fünfziger Jahren als der Überlebende nicht nur der expressionistischen Avantgarde, sondern einer deutschen Geistestradition, deren Kontinuitätslinien von den Nazis zerrissen worden sind, gefeiert werden. Erst zu diesem Zeitpunkt, Anfang der fünfziger Jahre, vermochte es Benn, Nietzsches persönlichen Untergang in seine Nietzsche-Deutung aufzunehmen und auch diesen Untergang identifikatorisch nach außen zu vertreten. Diese Auseinandersetzung mit dem lebensgeschichtlich scheiternden Nietzsche bereitet Benn in seinen Gedichten vor, die sich mit der Biographie des Philosophen auseinandersetzen. In den beiden Turin-Gedichten wird Nietzsche als Märtyrer vorgeführt, der durch seine Selbstopferung die europäische Dekadenz und damit den Nihilismus durchbrochen habe. So heißt es in dem Gedicht Turin: »Ich laufe auf zerrissenen Sohlen«, schrieb dieses große Weltgenie in seinem letzten Brief –, dann holen sie ihn nach Jena –; Psychiatrie. Ich kann mir keine Bücher kaufen ich sitze in den Librairien: Notizen –, dann nach Aufschnitt laufen: – das sind die Tage von Turin.
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Indess Europas Edelfäule an Pau, Bayreuth und Epsom sog, umarmte er zwei Droschkengäule, bis ihn sein Wirt nach Hause zog.5
Nietzsche ist hier die Figur des am Rande des Lebens gerade noch existierenden Genies, das in seinen Untergang steuert und diesen mit einer grotesken Geste, dem Umarmen zweier Pferde auf offener Straße, besiegelt. Doch mit diesem Opfer war es nicht getan. Nietzsche blieb gerade darin für Benn fremd; dieser hatte in den zwanziger Jahren das Geniephänomen als bionegative Lage bestimmter Menschen in der Geschichte studiert, sah sich selbst aber damit nie ganz identisch. Zu sehr war er darauf bedacht, seine bürgerliche Existenz zu wahren und nur ausgewählten Mitmenschen den Paria hinter dem Earl erkennbar werden zu lassen. Was Nietzsche durch sein Opfer vorgegeben hatte, sollte nun auf einer anderen Basis fortgeführt werden. Diese bestand in Benns ›solus spiritus‹-Ideologie, jener merkwürdigen Lehre, dass es nur der Geist sei, der zähle. Wobei Benn nie definitiv sagen wollte, was er unter Geist konkret verstehe. In Turin II, das Ende der dreißiger Jahre entstanden ist, kommt Nietzsche noch stärker in der Doppelfiguration vor, die sich schon in den Briefen an Oelze andeutet: einerseits der absolute Held der Geistesgeschichte, der all ihre Aspekte und Feinheiten umfasst und neu zu deuten weiß; andererseits ein tragisch Scheiternder, der ein Fremdling auf Erden sein und bleiben musste. Die im abschließenden Vers formulierte Frage: »auf welchen schwarzen Stühlen | woben die Parzen dich?« (G, S. 352) steht für dieses faszinierende Befremden. Das Motiv des Scheiterns beherrscht auch das Gedicht Sils-Maria: »In den Abend rannen die Stunden, | er lauschte im Abhangslicht | ihrer Strophe: ›alle verwunden, | die letzte bricht…‹« (G, S. 248). Benn war davon besessen, gerade in Nietzsche das am Leben zerbrechende Genie herauszuarbeiten, einen Menschen, der darüber zum Märtyrer geworden war, dass er denken musste und darin ganz und gar unzeitgemäß war. Wenn es in den Schlussversen von Sils-Maria heißt: »ein ungeheures: Gelitten | stand über dem Tal«, dann erscheint das ästhetisch ebenso fragwürdig wie in Benns Gesamtintention konsequent. Nietzsche ist Ende der dreißiger Jahre noch immer Benns Prophet, vor allem jedoch sein bevorzugter Märtyrer. An dieser Stelle wird deutlich, dass Benns Nietzsche-Bezug stets dynamisch war und in unterschiedlichen Phasen jeweils pragmatischen Vorgaben folgte. Daher ist er nicht in erster Linie als Künstlerglaube im Sinne
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Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1982, S. 271. Zitate aus diesem Band werden fortan im Haupttext unter Verwendung der Sigle G nachgewiesen.
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des Artistenevangeliums zu verstehen. Vielmehr scheint darin ein Identifikationsbedürfnis auf, das die produktive Überwindung des Identifikationsobjekts mit einschließt. Dieser Prozess kommt nicht wirklich zum Abschluss; aus ihm wird ersichtlich, dass es nicht nur Rezeption ist, was Benn mit Nietzsche verbindet, sondern ein Wechselspiel aus Identifikation und Überwindung, welches Benn fast bis zu seinem Lebensende hin beschäftigt. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, wie Benn mit Nietzsche nach dem Zweiten Weltkrieg umgeht. Nun ist er nicht mehr der Prophet einer Religion der Kunst und auch nicht mehr das Opfer einer der Banalität und dem geschichtlichen Wahnsinn ergebenen Zivilisation, die ihre großen Männer ausspeit. Vielmehr wird er in Benns Augen zu einem geschichtlichen Traum: »Wenn ein Leben 50 Jahre beendet ist und das Werk 60 Jahre abgeschlossen vorliegt, darf man vielleicht zu der Methode übergehen, die Gestalt als Traum zu sehen – der Efeu ihres Grabes, das Meer von Nizza, das Eis des Engadin mischen die Figuren und die Widersprüche dieses Traums« (ER, S. 496). Wie uns Nietzsche nun aus Benns Traum in der am 14. August 1950 gehaltenen Rundfunkrede Nietzsche nach 50 Jahren entgegentritt, ist äußerst bemerkenswert. Gegenüber dem Ton und dem Inhalt der Rede auf Heinrich Mann zwanzig Jahre zuvor ist Ernüchterung eingetreten. Nietzsche wird nicht mehr als ein wie auch immer hinlänglich zu begreifendes Phänomen angesehen, und Benn unterstreicht diese Haltung mit einem Zitat von Karl Jaspers: »Nietzsche ist nicht zu erschöpfen. Er ist als Ganzes nicht ein Problem, das zu lösen wäre« (ER, S. 503). Jedoch ist es diese Offenheit an Nietzsche, aus der Benn seine Charakterisierung des Philosophen als Inaugurator der Ausdruckswelt ableitet. Gerade das Zerbrechen aller Inhalte, das Nietzsche an sich und in seinem Denken erfahren hat, bringe ihn dazu, nur noch die Formen in ihrer Zerbrochenheit spielen zu lassen: Dies Herz hatte alles zerbrochen, was ihm begegnete: Philosophie, Philologie, Theologie, Biologie, Kausalität, Politik, Erotik, Wahrheit, Schlüsseziehn, Sein, Identität – alles hatte es zerrissen, die Inhalte zerstört, die Substanzen vernichtet, sich selbst verwundet und verstümmelt zu dem einen Ziel: die Bruchflächen funkeln zu lassen auf jede Gefahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse – das war sein Weg. (ER, S. 500)
Benn argumentiert jetzt offensichtlich auf den Komplex des ›Olymp des Scheins‹ und auf Nietzsches Perspektivismus hin geschichtlich deutend und nicht mehr visionär. Aus dieser poetisch gelagerten Deutung heraus betrachtet er Nietzsche als die erste Verkörperung des sogenannten ›vierten Menschen‹:
Gottfried Benns Nietzsche-Projektionen
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Der Mensch ohne moralischen und philosophischen Inhalt, der den Formund Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommensorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen Sinne mehr. (ER, S. 503)
Nach 1945 ist Benn der Überzeugung, es beginne eine nicht nur kulturell, nicht nur menschheitsgeschichtlich, sondern eine erdgeschichtlich neue Epoche. Die Formel ›Das Quartär geht hinten über‹ aus dem Roman des Phänotyp6 bringt diese Vorstellung auf den Punkt. Benn ist davon überzeugt, dass in dieser neuen Epoche ein neuer Mensch auftreten werde. Es werde der ›vierte Mensch‹ sein, und für ihn sei Nietzsche ebenso Initiationsgestalt wie Modell. Interessant erscheint, wie die Versatzstücke der expressionistischen Kulturideologie hier wiederkehren. Der neue Mensch und das Prophetentum des Gegenübervaters, all diese Elemente sind noch da, nun allerdings in veränderte Wertungshorizonte verschoben. Nach dem Ende des tausendjährigen Reiches kann Benn offenbar nicht anders denken als in noch weiter gefassten Zeitspannen. Erdgeschichtliche Zeitaltersprünge sind da gerade lang genug. Erneut zeigt sich das Prägende der geschichtsphilosophischen Ausrichtung seiner Gedankengänge. Dieser ›vierte Mensch‹ werde in der Ausdruckswelt leben, er werde dem reinen Ausdruck huldigen, da er keine Inhalte mehr habe. Nietzsche, der Vorläufer dieser Menschheit aus lauter Künstlern, wird nun von Benn als reinster aller Artisten vorgestellt und als jene historische Figur, in deren Leben und Denken sich der Epochenumbruch ereignet. Nietzsche, so Benn, habe es noch einmal mit allen Inhalten versucht, mit der ganzen Philosophie als der Zentralagentur abendländischer Geistigkeit. Doch musste er feststellen, »daß alles was bei Nietzsche Philosophie war, eben nur Philosophie war – ein Fischen und Netzeauswerfen, aber die Netze blieben leer. Den archimedischen Punkt, von dem die denkerischen Dinge transzendent und bindend werden, konnte auch er nicht finden, er ist nicht zu finden, er ist nicht da – nicht mehr da« (ER, S. 501). Was zunächst 1931 wie eine Religion der Kunst verkündigt wurde, was Benn nach 1934 ins Kloster seiner Briefpartnerschaft führte, wo im Dialog mit Oelze die Nietzsche-Theologie kritisch bearbeitet wurde, und was in den Turin-Gedichten das Märtyrertum des großen Mannes inmitten einer ignoranten Zivilisation exponierte, verwandelt sich zuletzt in die Vision einer neuen Großepoche, für die wiederum Nietzsche die Leitfigur
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Vgl. Gottfried Benn: Prosa und Autobiographie. In der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1984, S. 149–191. Zitate aus diesem Band werden fortan im Haupttext unter Verwendung der Sigle PA nachgewiesen.
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abgibt. Dieses letzte von Benn ventilierte Nietzsche-Bild zeigt, was von der tragischen Existenz übrig bleibt, wenn man das zwanghaft durchdeklinierte Bild des Märtyrers der Zivilisation überwunden hat. Scheitern wird jetzt zur ›conditio sine qua non‹ einer experimentellen Persönlichkeit im Abseits dessen, was gesellschaftlich überhaupt sanktioniert und resorbiert werden kann. Dennoch arbeitet auch in dieser letzten Nietzsche-Projektion die eschatologische Apokalyptik, die den Expressionisten Benn zeitlebens bewegt hat. Es ist bezeichnend, dass es Benn in seinen Nietzsche-Adaptionen immerfort auf eine Deutung der ganzen Geschichte abgesehen hat. Das gilt für seine religiösen Ansätze ebenso wie für seine erdgeschichtlichen Perspektiven. Benn spricht als ein Überlebender jener Geistesgeschichte, für die Nietzsche den Schlussstein bildete. Als Überlebender dieses Szenarios spricht er sich die Deutungshoheit über die ganze Geschichte zu. Das ist das Energiereservoir, aus dem Benns Sprechen, gerade auch seine diskursiven Äußerungen nach dem Zweiten Weltkrieg, gespeist wird. Nietzsches Bild ändert sich dabei zum Teil erheblich, doch bleibt er als Projektionsfläche für Benn in einem hohen Maße unantastbar. Die Erwiderung an Alexander Lernet-Holenia vom 19. Oktober 1952 spielt genau darauf an. Sie ist wie ein Resümee der Auseinandersetzungen Benns mit Nietzsche zu lesen: Am meisten hat mich Ihre Bemerkung betroffen gemacht, Nietzsche sei gescheitert. […] Ist Nietzsche gescheitert? […] Wenn er […] gescheitert ist, können solche Leute etwas anderes auf sich zukommen sehen, etwas anderes ertragen als – scheitern? Wollen solche Leute denn triumphieren, Pomade im Haar aus Happy-End und Konformismus, wollen sie siegen? (PA, S. 481)
Direkt im Anschluss kommt Benn erneut auf jenen Vers bei Nietzsche zu sprechen, der ihn am meisten beschäftigt hat: »Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends Halt«. Und nun kommentiert er ihn wie folgt: Anfangs dachte auch ich, was er verloren habe, sei die Gemeinschaft mit den Menschen, die Gemeinschaft mit Mann und Frau, die Gemeinschaft mit all und jedem, aber diese Gemeinschaft kann es nicht sein, auf die der Vers sich bezieht. Es ist eine andere Gemeinschaft, die er verloren hatte, es ist die Gemeinschaft mit der Substanz, mit allem, was einmal in den vergangenen Jahrhunderten als Substanz galt, als menschliche Substanz, als menschlicher Inhalt, […] es gab ja keinen Menschen mehr, nur noch seine Symptome, es gab nur noch einen Menschen in Anführungsstrichen, einen ferngerückten Menschen mit Angst und inneren Quälereien, tausendmal philosophisch und literarisch prostituiert, tausendmal ausgestöhnt, von dem hatte er sich entfernt (und wir mit ihm) – was sollte er also tun, sollte er philologisch werden, das hatte er hinter sich, nein, er blieb ungeschichtlich, er blieb nur er selbst, nämlich wahrhaftig… (PA, S. 481f.)
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Dies durchlebt zu haben, so Benns späte Einsicht, sei nicht bloß als Scheitern zu beschreiben. Man müsse dafür ein anderes Wort suchen: »und ich sehe im ganzen Umkreis unseres Sprachbereichs nur eines, das stichhielte, eines von antikem Klang, es heißt: Verhängnis« (PA, S. 482). Nietzsche sei ein Verhängnis, und genau das glaubte dieser in seiner Autobiographie Ecce homo von sich selbst, als er einem der Kapitel den Titel Warum ich ein Schicksal bin gab. Mit dieser von Benn im Oktober 1952 getroffenen Feststellung war jedoch just die Zeit zu Ende, die für dieses Schicksal, dieses Verhängnis ein Organ hatte: die klassische Moderne. Mit dem ›Menschen in Anführungsstrichen‹ leitet Benn eine neue Epoche ästhetischen Denkens ein; sie kommt weitgehend ohne eine emphatische Identifikation mit Nietzsche aus. Das »größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte« (ER, S. 496) ist für die Generationen nach Benn erloschen und einerseits zu einem philologischen Problem, andererseits zu dem halbfiktiven Traum geworden, der schon dem späten Benn vor Augen stand: das Meer von Nizza und das Eis des Engadin.
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Thomas Manns Nietzsche im Lichte der Erfahrungen I. Kreuz, Tod und Gruft Im Schopenhauer-Essay von 1938 nennt Thomas Mann den Philosophen einen großen Kenner des Todes. Zum Beleg zitiert er aus dem Anfang des 41. Kapitels des 2. Bandes der Welt als Wille und Vorstellung: »Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie … Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophiert werden«. Das Kapitel gehöre zum »Schönsten, man möchte sagen Tiefsten«,1 was Schopenhauer geschrieben habe. Des Philosophen Kennerschaft hänge mit seinem ethischen Pessimismus zusammen, und der sei mehr als eine Lehre ein Charakter, eine künstlerische Gesinnung, eine Lebensluft. Um welche Atmosphäre es sich dabei handelt, verdeutlicht Thomas Mann dann – zum wiederholten, aber beileibe nicht zum letzten Male –, indem er den jungen Nietzsche über Schopenhauer zitiert: »Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt: Die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft« (GW 9, S. 558). Das Zitat stammt bekanntlich aus einem Brief vom 8. Oktober 1868, in welchem Nietzsche dem Freund Erwin Rohde verrät, wie er sich einzurichten gedenkt, wenn er, der verunglückte »preußische Kanonier«, nach dem nun beendeten militärischen Zwischenspiel in Naumburg wieder zur Fortführung seines philologischen Studiums nach Leipzig zurückkehren wird: Im Übrigen nehme ich mir vor, etwas mehr Gesellschaftsmensch zu werden: insbesondre habe ich eine Frau aufs Korn genommen, von der mir Wunderdinge erzählt sind, die Frau des Professor Brockhaus, Schwester Richard Wagners […] auch die andre Schwester Wagners (in Dresden ehemals Schauspielerin) soll ein bedeutendes Weib sein. Ritschls gehen fast nur mit Familie Brockhaus um.2
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Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 9: Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M. 1974, S. 528–580, hier S. 558. Im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle GW. Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, 8. Oktober 1868. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montina-
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Zu dieser Zeit ist Nietzsche die größte Hoffnung seines akademischen Lehrers, und von der Gattin des Geheimrats Ritschl erfährt der Lieblingsschüler zudem einfühlsame Förderung. Aber selbst diese Gönnerin wird dann den Riss, der sich mit der Publikation der Geburt der Tragödie auftut, nicht überbrücken können. Da Thomas Mann von früh an mit dem biographischen Umfeld seines ewigen Dreigestirns Schopenhauer, Wagner, Nietzsche vertraut war, darf man vermuten, dass ihm beim Lesen oder Wiederlesen des Briefes an Rohde nicht verborgen geblieben ist, welch ein Beziehungszauber von tieferer Bedeutung darin liegt, dass Nietzsche nach der Preisgabe seiner geplanten Gesellschaftsstrategie so fortfährt: »Kürzlich las ich auch (und zwar primum) die Jahnschen Aufsätze über Musik, auch die über Wagner. Es gehört etwas Enthusiasmus dazu, um einem solchen Menschen gerecht zu werden: während Jahn einen instinktiven Widerwillen hat und nur mit halbverklebten Ohren hört« (SB 2, S. 322). Vier Jahre zuvor, 1864, hatte der zwanzigjährige Nietzsche sein Studium begonnen, aber nicht in Leipzig, sondern in Bonn, und dem Wunsch und Glauben von Mutter und Tanten zufolge mit dem Ziel, Theologe zu werden. Die Scheinkonzession hielt nicht lange vor. Über die um diese Zeit noch in Bonn neben- bzw. gegeneinander wirkenden Altphilologen Jahn und Ritschl hatte der Erstsemester im November 1864 nach Hause berichtet, den Brief unterzeichnend »In alter Ergebenheit und Liebe Euer Fritz«: Daß Männer wie Ritschl, der mir eine Rede über Philologie und Theologie hielt, wie Otto Jahn, der, ähnlich wie ich, Philologie und Musik treibt, ohne eins von beiden zur Nebensache zu machen, einen großen Einfluß auf mich üben, wird sich jeder vorstellen können, der diese Heroen der Wissenschaft kennt. (SB 2, S. 18)
Otto Jahn war mit seinem von 1856 bis 1859 in vier Bänden publizierten Mozart eine für die Entwicklung der Musikwissenschaft bedeutende Pionierleistung gelungen. Er hatte damit bewiesen, dass es sich bei ihm nicht um die damals in akademischen Kreisen noch nicht ganz außergewöhnliche musikalische Liebhaberei handelte. Und nun also, 1868, berichtet der mit Ritschl nach Leipzig abgewanderte Nietzsche dem Freund Rohde von seinen Empfindungen bei der rein literarischen Wiederbegegnung mit Otto Jahn, dessen Gesammelte Aufsätze über Musik 1866 erschienen waren. Frappierend ist, dass Nietzsche Jahn, trotz dessen »halbverklebten Ohren« in Sachen Wagner, »vielfach Recht« gibt, »insbesondre darin, daß er Wagner für den Repräsentanten eines mo-
_____________ ri. Bd. 2: September 1864 – April 1869. München 1986, S. 321–324, hier S. 321f. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle SB nachgewiesen.
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dernen, alle Kunstinteressen in sich aufsaugenden und verdauenden Dilettantismus hält« (SB 2, S. 322). Darin steckt bereits ›in nuce‹ die Möglichkeit der radikalen Umwertung, die dann zur Wirklichkeit des eineinhalb Jahrzehnte dauernden exzessiven Leidens Nietzsches an Wagner und des nicht minder exzessiven Kampfes gegen diesen werden sollte. Und es lässt ahnen, welch ein Schatz in diesen Sätzen darauf wartete, einmal gehoben zu werden. Was freilich nur einem Künstler gelingen konnte, dessen Begabung ausreichte, die im Übrigen keineswegs solitäre, sondern ziemlich modische Passion für Wagner und Nietzsche in ein ganz eigenes, unverwechselbares, singuläres Werk zu verwandeln. Hier fällt also das Schlüsselwort »Dilettantismus«, das 65 Jahre später als Reizwort im grotesken Protest der Richard-Wagner-Stadt München so auftaucht: Er [Thomas Mann] hat in Brüssel und Amsterdam und an anderen Orten Wagners Gestalten als »eine Fundgrube für die Freudsche Psycho-Analyse« und sein Werk als einen »mit höchster Willenskraft ins Monumentale getriebenen Dilettantismus« bezeichnet. Seine Musik sei ebensowenig Musik im reinen Sinn, wie seine Operntexte reine Literatur seien.3
Den Unterzeichnern des Protestes wäre gewiss kein Licht aufgegangen, wenn man sie mit der Nase darauf gestoßen hätte, dass Thomas Mann hier von dem Gebrauch gemacht hat, was ausgerechnet der bereits in den Bann der Wagner-Sphäre geratene junge Nietzsche über den von Otto Jahn erkannten, aber in seiner Genialität offenbar verkannten Dilettantismus Wagners zu sagen wusste. Für eine Forschung, die sich nicht mit einer weiteren Wiederholung des schon von Thomas Mann selbst so strapazierten Kreuz-, Tod- und Gruftzitates zufriedengibt, liegt hier ein Dokument von hohem, keineswegs spekulativem Deutungspotential vor, handelt es sich doch mitnichten nur um den möglichen Nachweis einer allenfalls Fußnoten werten Anregung oder Quelle. Nietzsche also, nachdem er Jahn wegen der Decouvrierung von Wagners Dilettantismus recht gegeben hat, leitet nun gerade daraus Wagners Genie und Leistung ab: »[A]ber gerade von diesem Standpunkte aus kann man nicht genug staunen, wie bedeutend jede einzelne Kunstanlage in diesem Menschen ist, welche unverwüstliche Energie hier mit vielseitigen künstlerischen Talenten gepaart ist […]« (SB 2, S. 322). Was die Unterzeichner des Protests zu ihrem zitathaften Empörungsschrei animierte, hat Thomas Mann in seinem Essay bereits mit der Beru-
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Im Schatten Wagners – Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895– 1955. Ausgew., kommentiert u. m. einem Essay v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt a. M. 1999, S. 232.
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fung auf die vierte der Unzeitgemäßen Betrachtungen Nietzsches abzusichern versucht. Der von Mann zitierte Abschnitt schließt mit dem Satz: »wer oberflächlich hinblickte, möchte meinen, er [Wagner] sei zum Dilettantisieren geboren«. Sodann fährt Mann fort: »Tatsächlich und nicht nur oberflächlich, sondern mit Leidenschaft und Bewunderung hingeblickt, kann man sagen, auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden, daß Wagners Kunst ein mit höchster Willenskraft und Intelligenz monumentalisierter und ins Geniehafte getriebener Dilettantismus ist« (GW 9, S. 375f.). Damit befinden wir uns aber nicht mehr im Kontext der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, sondern exakt bei Nietzsches Brief an Rohde, wo davon die Rede ist, wie Wagners unverwüstliche Energie mit seinem Dilettantismus gepaart ist. Ehe Nietzsche dann seine Betrachtung über Jahns Verständnis beziehungsweise die Grenzen seines Verständnisses in Sachen Wagner mit dem Bekenntnis zum eigenen Behagen an Kreuz, Tod und Gruft ausklingen lässt, postuliert er noch das folgende gravierende Manko des einstigen Lehrers: Jahn bleibe eine »Gefühlssphaere« Wagners »ganz verborgen« und verschlossen, nämlich »Tannhäusersage und Lohengrinathmosphaere«, und zwar, weil Jahn »ein Gesunder« sei (SB 2, S. 322). »Incipit tragoedia« (KSA 3, S. 571): 20 Jahre wird das schon im Brief an Rohde vorgezeichnete Drama dauern, in dem Wagner – Nietzsches Wagner – in protheischen Verwandlungen allgegenwärtig bleibt bis zur Turiner Katastrophe. II. Schopenhauers Musik-Tempel Seit dem großen Wagner-Essay von 1933 träumt Thomas Mann immer wieder vom Gegenstück eines Nietzsche-Essays.4 An einen Versuch über Schopenhauer denkt er zunächst nicht. Den Nietzsche-Essay von 1947, dem eine bis heute nicht erloschene Wirkung beschieden sein sollte, hat Thomas Mann selbst als unzulänglich, als »übers Knie gebrochen[-]« bewertet. Eine von Koketterie nicht freie Untertreibung beiseite gelassen, verraten die Bemerkungen im Brief vom 26. Dezember 1947 an den alten Weggenossen
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Vgl. den Tagebucheintrag vom 17. Juli 1936 über einen Besuch des »herrlich gelegenen« Wagner-Hauses in Tribschen: »Einblick in die Zimmer. Ausblick auf die Landschaft der Nietzsche-Freundschaft, die in 6 Jahren, von 1866–72, eine gewaltige Werk-Bewältigung sah. Des Längern vor der Haus-Inschrift, die die Vollendung von Meistersinger, Siegfried, Götterdämmerung (?), Siegfried-Idyll, Kaisermarsch, Beethoven an diesem Orte anzeigt. Bewegung. […] Auf der Fahrt fragte ich K., ob sie meine, daß auch am Hause Schiedhaldenstraße später eine Inschrift die Vollendung des Joseph, des Freud-Aufsatzes, vielleicht des Essays über Nietzsche an diesem Orte melden wird« (Thomas Mann: Tagebücher 1935–1936. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1978, S. 332f.).
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Maximilian Brantl, warum die Zeit über den nur erträumten NietzscheEssay endgültig hinweggegangen war: »Ich schreibe ja immer ›Verfalls‹geschichten; mein erster Roman gleich war eine solche – herkommend vom Nietzsche-Erlebnis, und der Dr. Faustus, den Sie bald lesen werden, ist erst der richtige Nietzsche-Roman, gegen den jener Aufsatz nur small talk, ein kleines Geplauder ist«.5 Es bedurfte des Zufalls eines finanziell verlockenden Angebots, für eine amerikanische Schopenhauer-Auswahl eine Einleitung zu schreiben, damit Thomas Mann sich etwas systematischer als gewöhnlich mit dem Philosophen beschäftigte, der ansonsten ja von Anfang bis Ende stets mit anwesend war, auch wenn im Vordergrund der Bühne von Thomas Manns philosophisch-musikalischem Geisterspiel die beiden anderen agierten. Die Assoziation zu einer Bühne ist nicht abwegig. Im Schopenhauer-Essay heißt es dort, wo Wagner gegen den Vorwurf des Missverständnisses, ja Missbrauchs von Schopenhauers Lehre verteidigt wird: »So gehen Künstler mit einer Philosophie um […]«. Auch ohne einen dann folgenden Zusatz wäre klar, dass Thomas Mann so gut wie von Wagner von sich selber spricht. Überdies ist die nun nachgereichte vermeintliche Exkulpation nur die konziliante Form eines für unanfechtbar gehaltenen Rechtsanspruchs. Heißt es doch von den Künstlern: »[S]ie ›verstehen‹ sie auf ihre Art, eine emotionelle Art: denn nur zu emotionellen, zu Leidenschafts-Ergebnissen braucht die Kunst ja zu kommen, nicht zu moralischen, wozu die Philosophie, als eine Lehrerin, sich jederzeit angehalten fühlte« (GW 9, S. 562). Zu den »Leidenschafts-Ergebnissen«, das heißt zu dem, was dann im Werk erscheint, kommt der Künstler durch leidenschaftliche Erlebnisse. Eben dafür findet sich im Schopenhauer-Essay selbst der treffende Beleg. Der Darstellung der Lehre entledigt sich Thomas Mann pflichtschuldig, aber doch nur so, dass man bei bestem Willen nicht von höherem Abschreiben reden kann.6 Hingegen geht es hoch her, sobald vom Erlebnis Schopenhauer gehandelt wird, und am höchsten geht es her, wenn die Schopenhauer-Lektüre sich mit der Erinnerung an das rauschhafte Erlebnis ver-
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Thomas Mann an Maximilian Brantl, 26. Dezember 1947. Thomas Mann: Briefe. Hg. v. Erika Mann. Bd. 2: 1937–1947. Frankfurt a. M. 1963, S. 580. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle B nachgewiesen. Was er als ›höheres Abschreiben‹ schon immer betrieben habe, skizziert Thomas Mann in seinem berühmten Brief von 1945 an Theodor W. Adorno. Darin geht es natürlich um dessen Anteil am entstehenden Doktor Faustus, und die »bedenklich-unbedenklichen« Griffe in Adornos »Musik-Philosophie« werden, so gut es geht, »entschuldigt[-]« (GW 11, S. 245): mit der Erinnerung daran, dass er das ›höhere Abschreiben‹ bereits in den Buddenbrooks praktiziert habe.
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bindet, das vier Jahrzehnte zuvor der junge Autor Thomas Buddenbrook vermacht hatte. Der Senator erhält für den flüchtigen Augenblick einer euphorischen Elevation die Lizenz für jene Künstler-Freiheit, die sein Schöpfer sein ganzes weiteres Leben lang in Anspruch nehmen wird. Dabei vermengt schon der Senator Schopenhauer mit Nietzsche. Mit den Worten des Schopenhauer-Essays formuliert: Ihm, dem leidenden Helden meines Bürger-Romans, des Werkes, das Last, Würde, Heimat und Segen meines Jünglingsalters war, schenkte ich das teure Erlebnis, das hohe Abenteuer, in sein Leben, dicht vor dem Ende, wob ich es erzählend ein und ließ ihn im Tode das Leben finden, die Erlösung aus den Fesseln seiner müden Individualität […]. (GW 9, S. 559)
Stillschweigend geht Thomas Mann hier darüber hinweg, dass er sein eigenes ekstatisches Erlebnis, das doch so untrennbar mit dem jugendlichen Wagner-Rausch verbunden war, einem Protagonisten vermacht hat, dessen musikalischer Geschmack nicht übers Triviale hinausgeht. Dass hier jedoch weder eine Nachlässigkeit noch gar ein Kunstfehler vorliegt, verrät der Roman. Und zwar bereits dort, wo der Senator von Gerda Buddenbrook, der Geigenvirtuosin und passionierten Wagnerianerin, wegen seiner Freude an banalen Melodien abgekanzelt wird. Das geschieht auf eine so rüde Art, dass man sich ein wenig an die Bissigkeit des schimpfenden Schopenhauer erinnert fühlt. Was wiederum aufs Beste dazu passt, dass Thomas Mann unüberhörbar von Schopenhauer geborgt hat, was Gerda zugunsten des Wesens und Wertes ernsthafter Musik sowie zur vernichtenden Entlarvung von hübschen Melodien vorzubringen hat. Von den Mysterien, die im Hause Buddenbrook gefeiert werden, bleibt der Senator ausgeschlossen; die Musikstücke, die da erklingen, muten ihn »herb und verworren« an: »Er stand vor einem Tempel, von dessen Schwelle Gerda ihn mit unnachsichtiger Gebärde verwies […] und kummervoll sah er, wie sie mit dem Kinde darin verschwand«.7 Im Essay zitiert Thomas Mann, wie eingangs erwähnt, Schopenhauer: »Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie … Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophiert werden« (GW 9, S. 558). Und auch hier folgt das Kreuz-, Tod- und GruftMantra. Erneut wird hervorgehoben, dass zur ethisch-pessimistischen Le-
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Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher. 22 Bde. Hg. v. Heinrich Detering, Werner Frizen, Eckhard Heftrich u. Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2002ff. Bd. 1.1: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Textband. Hg. u. textkrit. durchges. v. Eckhard Heftrich. Frankfurt a. M. 2002, S. 560. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle GKFA nachgewiesen.
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bensluft, dieser »Jugend- und Heimatluft«, Musik gehöre. Folglich wird der Satz Schopenhauers, dass ohne den Tod schwerlich philosophiert würde, so transponiert: Schopenhauer »hätte wohl sagen können: ›Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, musiziert werden‹« (GW 9, S. 559). Gerdas Geigenspiel, so erläutert der Erzähler, habe für Thomas Buddenbrook bislang »eine reizvolle Beigabe mehr zu ihrem eigenartigen Wesen bedeutet; jetzt aber, da er sehen mußte, wie die Leidenschaft der Musik, die ihm fremd war, so früh schon, so von Anbeginn und von Grund aus sich auch seines Sohnes bemächtigte, wurde sie ihm zu einer feindlichen Macht […]« (GKFA 1.1, S. 559). So von Anbeginn und von Grund aus: Spätestens jetzt weiß der Leser, was mit der schönen Fremden in das Haus Buddenbrook geholt wurde. Die Ohnmacht des Senators wird emblematisch durch das Bild vom Tempel vor Augen geführt. Es ist der Tempel, den Schopenhauer erbaut hat und in dem die Mysterien von Wagners Musik gefeiert werden. Wenn der vereinsamte Senator schließlich doch den Tempel betritt, umfängt ihn die Ruhe einer Totengruft. Solange er darin verweilt, glaubt er, es sei die feierliche Stille, in der ihm eine tröstliche Offenbarung zuteilwerde. III. Montage oder Collage? 63 Druckseiten umfasst der große Wagner-Essay, jener über Nietzsche lediglich 37. Demgegenüber bringt es der Schopenhauer-Versuch immerhin auf 52 Seiten. Des ungeachtet billigt diesem die ›communis opinio‹ nicht das Gewicht von jedem der beiden anderen Essays zu. In diesem Fall kann man dem verbreiteten Urteil wohl zustimmen. Was im Tagebuch während der Entstehungszeit von Schopenhauer notiert wird, zeugt vor allem von Thomas Manns Rührung des Erinnerns.8 Diese nostalgische Empfindung wird bis ins hohe Alter ungeschwächt bleiben. Als Ferdinand Lion 1952 berichtet, er lese Schopenhauer, beklagt Thomas Mann, dass er nicht die Ruhe finde, »wenigstens das Hauptwerk auch noch einmal Wort für Wort con amore durchzunehmen« (13. März 1952): Schließlich, er war das stärkste Lese-Erlebnis meiner Jugend. Und ist er denn nicht auch als europäischer Essayist (lassen wir die metaphysische Lehre bei Seite!) ersten Ranges, ebenbürtig dem Allerbesten außerhalb Deutschlands? Ich brauche kaum zu ihm »zurückzukehren«, habe ich ihn doch eigentlich nie verlassen und verloren. (B 3, S. 248)
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Vgl. die zahlreichen Tagebuch-Notate ab Januar 1938, die von der Gefühlsintensität während der Niederschrift beredtes Zeugnis ablegen.
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Die Parallele zum stärksten musikalischen Erlebnis ist offenkundig. Aber trotz allem, was Schopenhauer aufs Innigste an die Musik bindet und ihn darüber hinaus zum Leibphilosophen so vieler Künstler werden ließ, war er doch kein genuiner Künstler. Deshalb war er nicht dafür zu gebrauchen, als diaphanes Portrait auf einen Spiegel gebannt zu werden, aus dem uns Thomas Mann entgegenblickt. Eben deshalb und noch aus weiteren Gründen konnte auch Nietzsche nicht dafür taugen, wie sich zuletzt noch bei den spezifischen Schwierigkeiten des Doktor Faustus erweisen sollte. Wohl aber bot Wagner alles nur Wünschbare, um an seinem Beispiel die Leiden eines ganz dem Werk verschriebenen Künstlerdaseins als den Tribut für nicht nur prätendierte, sondern durch vollendete Werke wirklich bewiesene Größe vorzuführen. Am Wagner-Essay lässt sich aufweisen, wie es Thomas Mann gelingt, den Tondichter in einer Art Collage aus biographischen, psychologischen, geistesgeschichtlichen und werkgenetischen Elementen zum Portrait zu fügen und zugleich bei wechselnder Beleuchtungsintensität in partieller Analogie sich selber erscheinen zu lassen. Aber obwohl die analogische Parallelführung gelegentlich fast bis zur Ununterscheidbarkeit getrieben wird, bleibt Thomas Mann doch stets der souveräne Regisseur des Identifikationsspiels. Dabei wird Goethe und Nietzsche eine je ganz unterschiedliche Rolle als Gegenspieler Wagners zugeteilt. Über Fertigkeiten von solchem Raffinement verfügt außer Thomas Mann nur noch sein ureigenes Geschöpf, der aus der Jahrtausendtiefe morgen- und abendländischer Überlieferung wiedergeborene Joseph. Mit diesem Joseph werden alle Dichterträume zu Taten. Aber zu der Zeit, in der Thomas Mann seinen Beitrag zu den Feiern im Goethe-Säkularjahr und dann zum fünfzigsten Todestag von Richard Wagner leistet, also 1932 und 1933, ist sein Joseph gerade erst nach alter Weise auf die vorgeschriebene Reise hinab gen Ägypten geschickt worden. Kein Wunder, dass es mit der Beschreibung dieser Reise nur stockend vorangeht. Auf die von Thomas Mann an vielen Orten gehaltenen Goethe-Reden reagieren die Völkischen so, dass im Nachhinein der Münchner Protest auf die Wagner-Rede wie die fast unausweichliche Steigerung erscheint. Bedenkt man, dass auch diese Reden ein Teil von Thomas Manns Verteidigung der fundamental bedrohten Republik waren, muss man sich wundern, dass sein Joseph, von dessen Reise nach Ägypten der Autor im Juli 1932 zu erzählen begonnen hatte, nicht sogleich und auf vorerst unabsehbare Zeit schon vor dem »Eintritt in Scheol« gleich in der Grenzfeste Zel hängen geblieben ist.9
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Am 22. März 1933 wird in Lenzerheide die Beschäftigung mit dem dritten Band »im Hinblick auf notwendige Kürzungen des Eintritts in Ägypten« notiert und zurückgeblickt: »Die Unterbrechung der Arbeit war lang und tief: Der Wagner-Essay, Amster-
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Wohl möglich, dass gerade die Arbeit am Wagner-Essay während der politisch hochbrisanten Jahreswende 1932/33 Thomas Mann geholfen hat, über die schweren Zweifelsanfälle hinwegzukommen, wie und ob er überhaupt das Riesenunternehmen seiner modernen biblischen Saga weiterzuführen und gar zu vollenden vermöchte, auch wenn ihm zu dieser Zeit nicht klar war, dass er fast drei Viertel der ganzen Erzählstrecke noch vor sich hatte. Hilfreich also dürfte für ihn gewesen sein, dass er mit der Beschreibung der Entstehungsgeschichte von Wagners Ring zugleich die seines Joseph-Romans zu entwerfen vermochte. Dabei legte er die allenfalls halbbewusste und desto wirksamere Entelechie offen, die schon beim älteren Opus magnum buchstäblich ›am Werk‹ gewesen war, und die nun beim jüngsten, gerade erst im Entstehen begriffenen definitiven Opus magnum sich wiederholte.10 In der zweiten Februarhälfte 1933 hielt Thomas Mann seine WagnerRede in Amsterdam, Brüssel und Paris, reiste in die Schweiz und kehrte, vorgewarnt, nicht mehr nach Deutschland zurück. Der am 16./17. April publizierte Protest der Wagner-Stadt München schlug hohe Wellen, erfuhr aber auch entschiedenen Widerspruch, und dies nicht nur im Ausland. Thomas Manns eigene Erwiderung erschien schon am 22. April in mehreren deutschen Zeitungen und in Wien. Sie ist im Gestus zurückhaltender, Provokation vermeidender Überlegenheit gehalten und lässt selbst zwischen den Zeilen nichts von dem durchblicken, was im Tagebuch vom 19. April so lautet: »Heftiger Choc von Ekel und Grauen […]«.11 Sehr anders hingegen als die offizielle Erwiderung fällt die Reaktion auf Hans Pfitzner aus. Der verquere Tonsetzer hatte es schließlich im Sommer doch für nötig erachtet, öffentlich kundzutun, dass er keineswegs als blinder Mitläufer, sondern in Wahrnehmung seiner nationalen Künstler-Verantwortung seine Unterschrift geleistet habe.
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dam, Brüssel, Paris, Arosa, die Erschütterungen seitdem« (Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1977, S. 17). Aber einem Brief vom 20. August an den Vertrauten Hans Reisiger ist zu entnehmen, wie beharrlich am poetischen Hauptgeschäft festgehalten wird: »Vormittags schreibe ich dann immer, bevor ich Zeitungen und sonstiges gesehen habe, denn danach ginge es nicht mehr, am Joseph weiter. Ich habe ihn glücklich, Schritt für Schritt, in Potiphars Haus und Hof bei Theben gebracht und bin neugierig, wie sich die Dinge, die mir nur im Großen bekannt sind, hier im Einzelnen weiter entwickeln werden« (Hans Wysling (Hg.): Thomas Mann. Bd. 2: 1918–1943, S. 136). Der Erkenntnis des exzeptionellen Ranges der Joseph-Tetralogie innerhalb des Gesamtwerkes von Thomas Mann sowie im vergleichenden Hinblick auf die weltliterarischen Meisterwerke der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verweigern sich bis heute selbst zahlreiche Germanisten. Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934 (Anm. 9), S. 52.
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Um dem gebührend Nachdruck zu verleihen, zitiert Pfitzner einen eigenen alten Brief vom 18. Juni 1925. Es war eine reichlich verspätete, merkwürdige Gratulation zum 50. Geburtstag des ihm aus politischen Gründen bereits damals entfremdeten Zauberberg-Autors; und zugleich gibt Pfitzner jetzt, 1933, der Öffentlichkeit Thomas Manns Antwort vom 23. Juli 1925 preis. Da aber trotz allem der Komponist von Thomas Mann nicht einfach nur zu den »Münchner Strohköpfen« und »Ochsen« (20. Juli 1933)12 gezählt, sondern in ihm noch immer der Schöpfer der auch jetzt nicht verleugneten Palestrina-Oper anerkannt wird, scheint nun eine Antwort an diesen als geboten. Sie gerät Thomas Mann zu einem Aufsatz von erheblichem Umfang; zu einer Veröffentlichung kommt es jedoch nicht.13 Eigentlich hatte Thomas Mann schon in seinem Brief von 1925 die Antwort gegeben. Lautet das Resümee des Briefes doch: Es steht uns frei, uns zu verfeinden; aber wir werden nicht hindern können, daß künftige Zeiten unsere Namen häufig in einem Atem nennen werden. Vielleicht sollten wir also unser Verhältnis ein wenig sub specie aeterni betrachten und über alle Meinungsgegensätze hinweg eine Brüderlichkeit anerkennen, von der die Nachwelt uns kaum dispensieren wird.14
In der Antwort an Pfitzner von 1933 schreibt Thomas Mann, fast nichts im Wagner-Essay sei neu, er nennt ihn ein »Sammelbecken, in dem zusammenfloß, was ich durch viele Jahre hin über Wagner gedacht, empfunden und […] schon öffentlich formuliert hatte«. Doch werde in dieser Sammlung das zuvor Zerstreute im Großen durchkomponiert, sie sei eine »›Komposition‹ ebensosehr im mechanischen wie im organischen Sinne des Wortes«.15 Während der Arbeit am Doktor Faustus wird Thomas Mann dann in dem programmatischen großen Brief an Adorno vom 30. Dezember 1945 stattdessen einfach vom »Prinzip der Montage« (B 2, S. 469) sprechen. Das zielt gerade nicht auf das Mechanische, sondern auf den höheren, den geistigen Prozess, also aufs Organische. Denn bei diesem Prozess erfahren die ins Werk eingebrachten Materialien im Beziehungsnetz der neuen Konstellation die entscheidende Verwandlung. Die Reflexionen in Thomas Manns Antwort an Hans Pfitzner verraten, wie durchlässig die ohnehin nie ganz fest geschlossene Grenze zwischen Essay und Kunstwerk gerade bei der Komposition Leiden und Größe Richard Wagners geworden war. Und nicht etwa, weil hier der Künstler mit
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Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934 (Anm. 9), S. 130. Zu Thomas Manns Plänen einer Publikation seiner Antwort an Pfitzner vgl. Im Schatten Wagners (Anm. 3); dort auch der Brief von 1925, S. 244–246. Ebenda, S. 245f. Ebenda, S. 255.
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dem Essayisten durchgegangen wäre, sondern weil das Sujet eben Wagner, das Werkgenie war. Über den Wagner-Essay hinaus halte ich den Begriff der Collage für zutreffender als den von Thomas Mann stets gewählten der Montage, zudem nicht erst im Hinblick auf den Doktor Faustus, sondern gerade auch auf Leiden und Größe Richard Wagners sowie darüber hinaus auch auf mehrere andere seiner Essays. IV. Wagner und Goethe Im Essay von 1933 bleiben die Anspielungen auf den Joseph-Roman im Vergleich zu Wagners Ring eher schemenhaft. Viel deutlicher hingegen werden die Konturen der Analogien, zu denen alle gegenwendigen Umkehrungen zählen, bei der nächsten Wagner-Rede sichtbar. Es handelt sich um eine aus Anlass der Gesamtaufführung von Wagners Ring 1937 in Zürich gehaltene Einführung. Thomas Mann befand sich jetzt gegenüber 1933/34 in einer sehr veränderten Situation. Der quälende Zustand der interimistischen Quasi-Emigration war seit 1936 beendet. Vom Joseph-Roman waren inzwischen drei Bände erschienen. Die nach dem grandiosen Gipfel von Joseph in Ägypten begreiflicherweise nötige Ruhepause wurde nun schon seit einem Jahr mit dem sich von der geplanten Novelle zum Roman entfaltenden Goethe-Projekt Lotte in Weimar ausgefüllt. Dort drüben, in Bayreuth, logierte inzwischen bei den Festspielen der zahlungsmächtigste Sponsor des Tausendjährigen Reiches als Privatgast bei seiner Freundin Winifred, freilich ohne dass sein Wähnen in Wahnfried Ruhe fand. Thomas Mann schlägt schon im ersten Satz seiner Einführung den Bogen zurück zur letzten, vor bald fünf Jahren in Deutschland gehaltenen Rede, eben jener folgenträchtigen über Wagner. Und er zitiert daraus das Bekenntnis zur Passion für das zaubervolle Werk, das seit je sein eigenes Leben begleitet. Das Zitat endet mit der Beschreibung des Glückes, das nur diese Kunst gewähre. Im Text von 1933 folgte, dass diese Bewunderung nie ohne Misstrauen und Zweifel war, was ihr »so wenig Abbruch« tat »wie die unsterbliche Wagnerkritik Nietzsche’s, die ich immer als einen Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen, als eine andere Form der Verherrlichung empfunden habe« (GW 9, S. 373). 1937 folgt stattdessen, dass die Bewunderung »durch keine Skepsis, auch durch keinen feindseligen Mißbrauch, zu dem ihr großer Gegenstand etwa die Handhabe bietet«, beeinträchtigt werden konnte (GW 9, S. 502). Am Ende der Rede wird dann noch deutlicher gesagt, wer jetzt Wagner missbrauche: »eine geistmörderische Staatstotalität« (GW 9, S. 527). Der aktuelle Missbrauch, obwohl nur knapp behandelt, wird so zu einem der stärksten Akzente der Rede. Sehr viel Raum wird der schon 1932/33 durch die Gedenkfeiern herausgeforderten Konstellation
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Goethe-Wagner eingeräumt. Noch immer gilt, was für Thomas Mann bereits 1900 gegolten hatte (auch wenn eine freilich schwindende wagnertaube Fraktion der Mann-Forschung bei der gegenteiligen Meinung verharrt): nicht Goethe contra oder Goethe nach Wagner, sondern Goethe und Wagner. Natürlich greift Thomas Mann auch diesmal auf ältere eigene Texte zurück. Aber auffällig ist, dass Nietzsche, in den früheren Wagneriana stets als Eideshelfer direkt oder zumindest spürbar anwesend, jetzt wie unter den Horizont entschwunden scheint. Zumindest bis zur Katastrophe von 1933 hing Thomas Mann der Zauberberg-Träumerei von Nietzsche als bestem Sohn und Überwinder Wagners an. Noch am 30. Juli 1934 ist im Tagebuch von einem Gespräch über Nietzsche die Rede, »wobei ich seine WagnerPolemik als das geistesgeschichtlich Wichtigste und Repräsentativste in seinem Werk bezeichnete«.16 Dieser Glaube blieb lange verhakt in die schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen gehegte Utopie von einem politischen Sonderweg Deutschlands, wobei Nietzsche eine gewisse Mentorenrolle zugesprochen wurde. Mit jedem weiteren Jahr der Festigung von Hitlers Diktatur musste die bereits im Endkampf für die Republik rissig gewordene Gedankenkonstruktion neu justiert werden. Zur Klärung quälender Reflexionen hat Thomas Mann meist deren Verlagerung in jenen Bereich verholfen, von dem er noch im Alter gesagt hat, hier sei »Freiheit vielleicht allein möglich und natürlich«: in der Kunst (GW 11, S. 318). Doch gewährte das biblische Hauptwerk, obwohl weitergeführt, zunächst nicht die erhoffte Befreiung. Schon vom Frühjahr 1933 an taucht im Tagebuch die »Faust-Novelle« auf. Und obwohl sie weiterhin eigentlich erst als Nachfolge des Joseph gedacht ist, gerät das Sujet sogleich in den Sog der politischen Erregung. Zum 11. Februar 1934 findet sich die Notiz: »Auf dem Abendspaziergang dachte ich wieder an die Faust-Novelle […]. Ein solches freies Symbol für die Verfassung und das Schicksal Europa’s wäre vielleicht nicht nur glücklicher, sondern auch richtiger u. angemessener als ein redend-richtendes Bekenntnis«.17 Fortan wird bei der Erwähnung der wechselnden Lektüre stets festgehalten, wann immer Einschlägiges für die Faust-Novelle, aber auch für den weiterhin geplanten Nietzsche-Essay begegnet. Zwischen der Niederschrift der letzten Seite von Joseph in Ägypten (23. August 1936) und der ersten von Lotte in Weimar (11. November 1936) liegt weniger als ein Vierteljahr. An Ablenkungen und Aufregungen privater wie politischer Natur herrscht auch jetzt kein Mangel. Aber den vor-
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Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934 (Anm. 9), S. 488. Ebenda, S. 321.
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schnellen Ausweg über das Faust-Nietzsche-Projekt brauchte Mann nicht zu gehen, den bot Goethe. Mit Lotte in Weimar ist die Goethe-Imitatio, auch wenn die ›unio mystica‹ des siebenten Kapitels noch weit vorausliegt, auf der allein angemessenen Höhe angelangt. Denn hier haftet der Nachahmung und Nachfolge nichts mehr an von der Nachsicht heischenden Ridikülität, welche die Imitatio selbst bei Thomas Mann gelegentlich gestreift hat, auch wenn sie ihm nie zur Peinlichkeit à la Gerhart Hauptmann geraten ist. »Das Mythologische bei Goethe, besonders in der Klassischen Walpurgisnacht bedeutet für mich immer die Brücke von ihm zu Wagner« (B 2, S. 69), schreibt Thomas Mann später an Karl Kerényi.18 Das mutet wie ein Nachhall der Ring-Einführung an. Denn Goethe und Wagner werden in dieser Rede als »zwei gewaltige und kontradiktorische Ausformungen des vielumfassenden Deutschtums« gefeiert: […] Deutschland als mächtigstes Gemüt und Deutschland als Geist und vollendetste Gesittung, […] Goethe und Wagner, beides ist Deutschland. Es sind die höchsten Namen für zwei Seelen in unserer Brust, die sich voneinander trennen wollen und deren Widerstreit wir doch als ewig fruchtbar […] immer aufs neue empfinden lernen müssen […]. (GW 9, S. 506f.)
Gemüt: So wird Wagner auf ein Grundwort der deutschen Romantik fixiert. Als der wahre Erbe der Romantik vermochte in der Tat er allein den zuvor nie realisierten Traum der Romantik von einer Universalpoesie als Synthese der Jahrtausendmythen kraft ästhetischer Zelebration ins Werk zu setzen. Eben darum kann Thomas Mann Ring und Faust II so eng aufeinander beziehen. Der Unterschied liegt darin, wie Goethe und Wagner den Mythos »traktieren«: »[W]elch ein Antagonismus der künstlerischen Haltung und Gesinnung! Größe, unzweifelhafte Größe da wie dort. […] Aber die Großartigkeit der Goethe’schen Vision ist ohne jeden pathetischen und tragischen Akzent; er zelebriert den Mythus nicht, er scherzt mit ihm […]« (GW 9, S. 507). Keine Frage, dass Thomas Mann während der Entstehung seiner eigenen Tetralogie, deren Protagonist Joseph immer mehr zu einem Anti-Siegfried reift, mit dem Mythos in der Art Goethes verfährt. Und doch geht das nicht auf Kosten Wagners. Deshalb kann die Züricher Rede in das Bekenntnis münden, die »himmlische Melodie« am Schluss der Götterdäm-
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Am 6. Dezember 1938 bedankt Thomas Mann sich bei Karl Kerényi für den schönen Aufsatz über die Geburt der Helena und wünscht, er wäre schon wieder beim Joseph, dem »[d]ie Welt« der Studien Kerényis »unmittelbarer fruchten könnte[-] als meinem gegenwärtigen Betreiben«, das heißt dem Goethe-Roman, wo es aber »am Ende ohne Helena auch nicht ganz abgehen wird« (B 2, S. 68).
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merung verkünde »in Tönen dasselbe […] wie das Schlußwort des anderen deutschen Lebens- und Weltgedichts: Das Ewig-Weibliche | Zieht uns hinan« (GW 9, S. 527). Dass Thomas Mann hier seine bereits 1903 formulierte Deutung wiederholt,19 verrät: Wir haben es mit einem jener Elemente zu tun, die sich so früh schon in eine alle zeitbedingte Modifikationen überdauernde, feste Konstellation fügten. Goethe und Wagner, Nietzsche contra Wagner stets eingeschlossen, sind Konstanten dieses Ideen-Kosmos. Zu den starken Erlebnissen des sehr jungen Thomas Mann zählte neben Wagner und Nietzsche auch Goethe. Auf den Zwanzigjährigen machte eine Aufführung von Faust II einen überwältigenden Eindruck.20 Der Zweiundzwanzigjährige liest mit Bewunderung, das heißt bereits mit signifikanten zukunftsweisenden Anstreichungen, Eckermanns Gespräche mit Goethe.21 Dennoch sind bis zur Schiller-Goethe-Novelle Schwere Stunde nur wenige Spuren im Werk zu entdecken; sie verschwinden beim Vergleich mit der Fülle und Komplexität der Wagner-Nietzsche-Ingredienzien. Schon für die vom Autor selbst als Durchbruch empfundene Novelle Der kleine Herr Friedemann (1897) gilt im Kleinen, was bald mit Buddenbrooks im Großen gelingt: die Übertragung von Wagners Kompositionstechnik auf die Literatur sowie die inhaltlich-thematischen An- oder Abwandlungen von Werken, Figuren und Motiven Wagners, und dies stets mit dem Rückgriff auf Nietzsches Décadence-Analysen und seine Moralgenealogie. Unter den Händen eines dürftigen Talentes wäre aus dem Lübecker Stoff einer autobiographisch durchtränkten Familiengeschichte trotz Anleihen beim literarischen Wagnerismus, der ja um 1900, ebenso wie der Naturalismus, schon reichlich altersschwach daherkam, nur ein Dutzendprodukt mit kurzem Verfallsdatum geworden. Thomas Mann hingegen
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Zum »Ewig-Weibliche[n]« vgl. GKFA 14.1, S. 54–59 sowie Heinrich Deterings Kommentar in GKFA 14.2, S. 68–78. Anfang Mai 1895 schwärmt Thomas Mann aus München gegenüber Otto Grautoff, dem Schulfreund aus Lübecker Leidenstagen, von einer Faust II-Aufführung und fügt hinzu: »Vielleicht ist es lächerlich; aber mir wurde fromm und gläubig zu Sinn bei diesem electrisch beleuchteten Blick ins Metaphysische« (Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff, 1894–1901, und Ida Boy-Ed, 1903–1928. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1975, S. 44). Am 21. Juli 1897 berichtet Thomas Mann von Rom aus Otto Grautoff: »Augenblicklich bewundere ich Eckermanns Gespräche mit Goethe – welch ein beschämender Genuß, diesen großen, königlichen, sicheren und klaren Menschen beständig vor sich zu haben, ihn sprechen zu hören, seine Bewegungen zu sehen! Ich werde garnicht satt davon, und ich werde traurig sein, wenn ich zu Ende bin« (Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff (Anm. 20), S. 96). Thomas Mann hat sein mit zahlreichen Anstreichungen versehenes Exemplar, eine dreibändige Reclam-Ausgabe, 1899 Ilse Martens geschenkt. Es befindet sich heute im Besitz des Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrums, Buddenbrookhaus, Lübeck.
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vermochte aus der heterogenen Mischung den ersten modernen deutschsprachigen Roman von weltliterarischem Format zu gestalten. Wagner bleibt trotz der vorläufigen Bewältigung in Buddenbrooks eine permanente Herausforderung, denn Thomas Mann konnte sich auf Dauer ihr nur gewachsen zeigen, wenn es ihm gelang, auf anderer und höherer Ebene mit den Mitteln der Literatur zu leisten, was Wagner mit dem Ring gewagt hatte. Das gelang auch mit dem Zauberberg noch nicht, ganz zu schweigen von den Virtuosen-Etüden, der Tristan-Novelle und Wälsungenblut. Den Zauberberg durchziehen zwar parodistische und ernste WagnerAnklänge in Hülle und Fülle. Aber im Rückblick vom Joseph-Roman und Doktor Faustus zeigt sich die Vorläufigkeit des im Sanatorium getriebenen Kunstspiels mit Wagner und der Apotheose Nietzsches als bestem Sohn und Überwinder von Bayreuth. In der Ring-Einführung wird Wagners Hauptwerk der deutsche Beitrag zur »Monumental-Kunst« des 19. Jahrhunderts genannt, »die bei anderen Nationen vorzüglich in der Gestalt der großen sozialen Romandichtung erscheint« (GW 9, S. 525). Das ist kein neuer Gedanke bei Thomas Mann. Aber wie er nun mit dem anderen deutschen Weltgedicht verbunden wird, noch dazu auf der Folie der Joseph-Tetralogie, macht die Botschaft unüberhörbar: Da Gemüt und Mythos im 20. Jahrhundert auf den Hund, auf den Hitler gekommen sind, heißt das Gebot der Stunde die Schöpfung eines dritten deutschen Weltgedichtes als Wiedergeburt von Wagners Ring aus dem Geiste der Klassischen Walpurgisnacht Goethes. V. Lebensschauspiel oder Philosophie? Wie erwähnt, hoffte Thomas Mann nach 1933, die Faust-Novelle könnte im Kampf gegen den Faschismus ein »freies Symbol für die Verfassung u. das Schicksal Europa’s« werden. Nachdem das Monumental-Epos über Josephs Träume und Taten zu Ende gebracht und auch der Doktor Faustus bewältigt war, kam nun doch jener Nietzsche-Aufsatz zustande, der als Ersatz für das versäumte Gegenstück zum großen Wagner-Essay dienen muss. Ein Ersatz nur, auch wenn Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung nicht mit dem Hinweis auf des Autors eigenes Wort zum »small talk« herabgestuft werden kann. Das eigentliche Problem der ironischen Bescheidenheitsfloskel im Brief an Brantl liegt im Hinweis auf den Doktor Faustus als dem genuinen Nietzsche-Werk. Der Anlass war, dass Thomas Mann einen Text benötigte, um seiner Vortragspflicht an der Library of Congress nachzukommen. Da durch die Vorarbeiten und durch den Roman alles Nietzsche Betreffende dem Autor zur Hand war, und zwar in Verbindung mit der Ursachen-Ergründung der
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deutschen Schuld, die auch in den USA betrieben wurde, lag das Thema nahe. Schon am 25. Dezember 1945 schlug Thomas Mann Agnes E. Meyer für den nächsten Washingtoner Vortrag das Thema Nietzsche vor. Er nannte es »[d]as schwierigste, aber auch reizvollste und beziehungsreichste« (B 2, S. 469) und hatte auch schon einen Titel parat: Nietzsche und das deutsche Schicksal. Die Lungenoperation und anderes mehr führten dann zu Verzögerungen, sodass der Vortrag erst 1947 zustande kam.22 Der Unterschied zwischen dem zunächst erwogenen Titel und dem letztgültigen markiert nur eine Verschiebung des Standortes, von dem aus das Licht auf Nietzsche gerichtet wird. So fällt das Schlüsselwort »Schicksal« auch 1947, und bereits mehrmals auf den ersten Seiten. Zwar scheint hier vorerst allein von Nietzsches individuellem Schicksal die Rede zu sein, und auf den kürzesten Nenner gebracht meint das so viel wie: Nietzsches Schicksal war seine Krankheit. Wie die Mehrzahl der kritischen Zeitgenossen hielt auch Thomas Mann die Syphilis-Diagnose für eindeutig. Doch war dies für ihn nur die gleichsam naturalistische Außenseite, von der er zwar als Erzähler den ausgiebigsten Gebrauch gemacht hat. Worauf es ihm jedoch in erster Linie ankommt, formuliert er im Essay: »[A]ber was ist Wahrheit: das Erlebnis oder die Medizin?« (GW 9, S. 682). Erlebnis meint hier, was Nietzsche im krankheitsbedingten, rauschhaften »Reizungszustand« widerfuhr, was er aber in Ecce homo, also bereits in zweifelsfrei pathologischer Euphorie, noch grandios als das Wunder der Inspiration zu beschreiben vermochte – wovon der Teufel im Selbstdisput Leverkühns dann trefflichen Gebrauch macht. Das Krankheits-Trauma der Generation von Thomas Mann war im Fin de Siècle nicht die von Literaten allseits gepflegte modische Neurasthenie, auch wenn sie brauchbares Material für Dekadenz-Romane jeglichen Niveaus lieferte, es war vielmehr die heimtückische und im Finalstadium so brutale Lues. Aber nicht, weil die Katastrophe Nietzsches einen weit mächtigeren Widerhall gefunden hatte als etwa das Unglück von Robert Schumann, Hugo Wolf oder Guy de Maupassant, wurde der Fall Nietzsche für Thomas Mann zum Schicksalsfall, sondern weil das bleibende Erlebnis Nietzsche für ihn von derselben Intensität war wie das Erlebnis Wagner. Der eine wie der andere der stets ineinander verschlungenen Fälle steht unter dem Gesetz der Wandlungen, Irrtümer und Erkenntnisse auf der Lebensbahn Thomas Manns. Einen der beiden zu verleugnen, wäre dem Verlust eines essentiellen Teiles seiner selbst gleichgekommen. Wagner und Nietzsche standen nach 1945 überall vor den Spruchkammern der Simplifikateure, schon allein weil beide zuvor als Propheten des
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Der Vortrag Nietzsche’s Philosophy in the Light of Contemporary Events fand am 29. April 1947 in der Library of Congress in Washington statt.
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Dritten Reiches gefeiert worden waren. Als Verteidiger Wagners gegen die allzu schlichten Anwürfe konzediert Thomas Mann stets, was er noch 1949 in das Schlagwort zusammengefasst hat: »[G]ewiß, es ist viel ›Hitler‹ in Wagner«.23 Die Formulierung bedient sich im Übrigen einer Wendung Nietzsches, die in Leiden und Größe Richard Wagners zitiert wurde: »Es ist viel Wagner in Baudelaire« (GW 9, S. 423). Sogar 1949 liegt das Übergewicht immer noch auf den Defiziten von Wagners Charakter, auch wenn nun einiges am Werk kritischer gesehen wird als anderthalb Jahrzehnte zuvor, wo es etwa im Tagebuch vom 20. März 1934 mit Berufung auf Gottfried Kellers Diktum von Wagner als »Friseur und Charlatan« geheißen hatte: »Das Widerliche Wagners, aber freilich nur dies, ist bei H. genau wiederzufinden«.24 Von der ›Rettung‹ Wagners – der Terminus hier in Anlehnung an Lessings Rettungen verstanden – unterscheidet sich die ›Rettung‹ Nietzsches um mehr als nur um Nuancen. Weder der mit Wagner getriebene Missbrauch noch die Widerwärtigkeiten der Person, noch das in Bayreuth stets neu geschürte Antisemitismus-Potential des Meisters und auch nicht die ›im Lichte der Erfahrungen‹ deutlicher gewordenen Flecken des Werkes konnten für Thomas Mann aus Wagner die Schicksalsfigur werden lassen. Und auch nicht, dass die spezifische Bedeutungsüberladenheit des deutschen Wortes ›Schicksal‹ mit Wagners Musikdrama untrennbar verbunden war. Im Doktor Faustus hat der Chronist Zeitblom, im Unterschied zum Künstler Leverkühn, alle politisch-unpolitischen Naivitäten und Anfälligkeiten des Autors zu tragen. Darum verfällt Zeitblom beim Kriegsausbruch 1914 der allgemeinen Hochstimmung, »erfüllt von der Gewißheit, daß Deutschlands säkulare Stunde geschlagen habe, […] daß […] wir an der Reihe seien, der Welt unseren Stempel aufzudrücken und sie zu führen«; und weiter: »das war’s, was das ›Schicksal‹ […] beschlossen hatte«. Da aber auch Zeitblom auf seine Weise diese Vergangenheit im Lichte der Erfahrung zu betrachten gelernt hat, setzt er nicht nur das Wort »Schicksal« in Anführungszeichen, sondern fügt hinzu: »(Wie ›deutsch‹, dies Wort, ein vor-christlicher Urlaut, ein tragisch-mythologisch-musikdramatisches Motiv!)« (GKFA 10.1, S. 438f.).25 Im Sommer 1914 hatte Thomas Mann bis zuletzt nicht glauben wollen, dass es tatsächlich zum Krieg kommen werde. Als der Krieg da ist, nennt
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GW 10, S. 926. Der Brief an Emil Preetorius wurde unter dem Titel Richard Wagner und kein Ende publiziert. Vgl. Im Schatten Wagners (Anm. 3), S. 202–205. Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934 (Anm. 9), S. 365. Zum Kriegsausbruch im Jahre 1914 und zur Übertragung von Thomas Manns damaligen Stimmungen und Meinungen auf Zeitblom vgl. im Einzelnen den Kommentar zum Abschnitt GKFA 10.1, S. 436–438 in GKFA 10.2, S. 630–634.
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er ihn in einem Brief an den Bruder Heinrich (7. August 1914) immerhin eine Katastrophe und fragt sich, wie Europa innerlich und äußerlich danach aussehen werde. Mit dem pathetischen Ausruf »Welche Heimsuchung!« (B 1, S. 111) überträgt er bedenkenlos, um nicht zu sagen gedankenlos, weil schon vom allgemeinen Rausch angesteckt, einen Leitbegriff seines gesamten literarischen Musizierens auf die Politik. Bereits das Schicksal des buckligen Friedemann war, wie jenes von Aschenbach, als Tragödie der Heimsuchung inszeniert worden. Ausgerechnet an Heinrich schreibt er im selben Brief auch noch, ob man nicht dankbar sein müsse »für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen?«. Sein Hauptgefühl sei »eine ungeheure Neugier – und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses [in der Welt] verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland« (B 1, S. 112). Allein daran ist bereits abzulesen, was alles aufzuarbeiten sein wird, wenn zuletzt die eigene Lebensbeichte mit dem Amalgam aus faustischer Verschreibung und Nietzsche-Schicksal als Allegorie der Epoche bewältigt werden soll. Wie stark der für die dichterische Produktion so förderliche, also doch wohl unentbehrliche Glaube an die Repräsentativität der eigenen Erlebnisse und Erfahrungen bei Thomas Mann war, legt eine depressiv-enthemmte Notiz im Tagebuch vom 14. März 1934 bloß: Dass er aus seiner an Goethe gemahnenden Existenz hinausgedrängt worden sei, empfindet er als schweren »Stil- und Schicksalsfehler meines Lebens«.26 Ernst Bertrams 1918 erschienenes Nietzsche-Buch hielt Thomas Mann, unerachtet der späteren politischen Verirrungen Bertrams, stets für das beste Werk über den Philosophen. Der Untertitel von Bertrams Nietzsche lautet Versuch einer Mythologie. Was es zu dieser Zeit mit dem Mythos Nietzsche für Thomas Mann auf sich hatte, geht aus den Tagebuch-Notizen vom Herbst 1918 hervor. Sofort nach Überreichung durch Bertram liest er »mit Rührung« in dem Werk, »ganz ›bei mir‹« (11. September 1918).27 Dieses »bei mir« wird dann bald erläutert (14. September 1918): »RückblickErgriffenheit beim Betrachten dieser geistigen Landschaft, Übersicht des eigenen Lebens«.28 Und bereits resümierend: »Kurz, es ist mein Buch, behandelnd den mir weitaus interessantesten – meinen Central-Gegenstand und ihn mit bewegter Liebe behandelnd, wie Philologie, Historie sie noch nie hervorgebracht hat«.29 Als »tief musikalisch« wird das Buch gerühmt
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Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934 (Anm. 9), S. 356. Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1979, S. 3. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 6.
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und dargelegt, worin seine Musikalität besteht. Es läuft auf ein Wunschbild der eigenen Essayistik hinaus. Zum ›Mythos‹ gehört vor allem, wie Bertram Nietzsches »Deutschheit sehr tief und geistreich herausgearbeitet« habe. »Parallele zu Göthe [sic!], der ebenfalls deutsch sei dort, wo er am höchsten und wo er am lässigsten« (15. September 1918).30 Nicht etwa grotesk oder auch nur komisch, sondern gespenstisch kommt es uns heute vor, wenn im Tagebuch unter den Notizen vom September 1918, wo so sehr die Rührung über Bertrams Nietzsche herausgestrichen wird, ein anderer, höchst aktueller Text auftaucht, den Thomas Mann soeben »nicht ohne Rührung und Sympathie […] wenn auch mit Erheiterung ebenfalls« gelesen hat. Es ist die Rede des deutschen Kaisers an die Krupp’schen Arbeiter. Als »[s]oziale Menschlichkeit, patriarchalisch« und »sehr deutsch in Ton [und] Geist«, kommentiert Thomas Mann das eigens ins Tagebuch abgeschriebene Glanzstück der Rede: »Jeder hat seine Pflicht und seine Last, Du an Deiner Drehbank und ich auf meinem Thron!«. Aus dem »geforderte[n] Ja! der Männer« hört der Tagebuchschreiber »Schiller-Pathetik« heraus, und das nicht einmal ganz zu Unrecht, wie das weitere Kaiser-Zitat verrät: »Ich danke Euch! Mit diesem Ja geh’ ich – zum Generalfeldmarschall« (12. September 1918).31 Nicht gespenstisch, sondern nur grell und unzureichend wirkt Heinrich Manns Untertan- und Wilhelms-Satire im Vergleich zu dieser Szene und ihrer Kommentierung durch denselben Autor, der während der Arbeit am Doktor Faustus stöhnen wird: »Lesen in Tagebüchern von 1918/19, unzuträglich, verwirrend und niederdrückend« (5. Dezember 1945).32 Die Beschreibung von Adrian Leverkühns letztem Werk endet mit der Beschwörung der »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit«, der »Transzendenz der Verzweiflung«, und sie wird zuletzt »ein Licht in der Nacht« genannt (GKFA 10.1, S. 711). Das Echo davon lässt Thomas Mann noch in Leverkühns Wahnrede nachklingen: »Vielleicht auch siehet Gott an, daß ich das Schwere gesucht und mirs habe sauer werden lassen, vielleicht, vielleicht wird mirs angerechnet und zugute gehalten sein, daß ich mich so befleißigt und alles zähe fertig gemacht […]« (GKFA 10.1, S. 727). Beim Schreiben seines Romans hat auch Thomas Mann es sich in der Tat »sauer werden lassen«, weit mehr als beim Verfertigen des Parallel-Essays. Der Unterschied ist nicht dort auszumachen, wo ohnehin jeder Essay schon immer im Nachteil ist gegenüber dem wirkungsmächtigeren Kunstwerk. Er liegt vielmehr darin, dass der Roman, obwohl überbürdet und schon im Fundament voller Risse, insgesamt seiner Intention weit eher ge-
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Ebenda. Ebenda, S. 4. Thomas Mann: Tagbücher 1944–1946. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 1986, S. 282.
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recht wird als der Essay. Denn der Roman ist zwar voll von Nietzsche-Reminiszenzen, aber doch kein genuiner Nietzsche-Roman. So darf er an anderem und an mehr als an dem in ihn eingegangenen fragmentierten Nietzsche gemessen werden. Der Essay hingegen fordert zur kritischen Prüfung sowohl der Nietzsche-Mythologie Thomas Manns wie auch seiner Auslegung von Nietzsches Philosophie heraus; das eine wie das andere im Lichte der in den vergangenen Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse über diese Philosophie. Das Ergebnis dieser Prüfung könnte lauten: ›So gehen Künstler mit einer Philosophie um‹. Nur zwei glänzend formulierte Eingangsabschnitte des Essays benötigt Thomas Mann, um Nietzsche auf die Bühne des mythologischen Theaters zu zaubern. Und dabei gelingt auch noch das Kunststück, ihn im Gewand seines nächsten Anverwandten, Hamlet, erscheinen zu lassen. Nietzsche in Hamlet wiederzuerkennen, ist eine alte Idee Thomas Manns, die freilich zurückgeht auf die sehr viel ältere Vereinnahmung von Shakespeares Dänenprinzen als einer Schicksalsfigur Deutschlands.33 Von Thomas Manns mythologischem Theater zu sprechen, ist nicht abschätzig gemeint; das Bild dient der klärenden Abgrenzung. Im Essay ist unmittelbar nach der Evokation Hamlets vom »tragischen Lebensschauspiel« die Rede, das Nietzsche veranstaltet habe, wobei er sich selber des »hamletischen Zuges« mehr oder weniger bewusst gewesen sein soll (GW 9, S. 675). Ersichtlich ist hier bereits der Erzähler am Werk. Folgerichtig verknüpft sich ihm, leicht erkennbar, obwohl nicht direkt benannt, der Anfang des Essays mit der Introduktion des Romans.34 Der Übergang vom Lebensschauspiel zur Philosophie wird bildkräftig vorgeführt: Vom Schicksal, dessen anderer Name ja Krankheit lautet, wird Nietzsche »gleichsam an den Haaren in ein wildes und trunkenes Prophetentum […] des […] Bösen gezerrt« (GW 9, S. 676). Das ist die Ankündigung dessen, was dann als die krankheitsbedingte Ausartung von Nietzsches Philosophie vorgeführt wird; mit Belegen freilich, deren Herkunft zu erforschen keine philologische Spitzfindigkeit ist. Als Quellen dienten nämlich weniger die sonst stets zur Hand genommenen Ausgaben oder die noch vom Faustus her parat liegenden anderen Bücher. Vielmehr wurde viel von dem für den Hauptzweck des Essays Benötigten ausgerechnet der Schrift Nietzsche der Philosoph und Politiker von Alfred Baeumler sowie dessen Zusammenstellung Nietzsches
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Vgl. das Kapitel Nietzsche als Hamlet der Zeitenwende in Eckhard Heftrich: Zauberbergmusik – Über Thomas Mann. Frankfurt a. M. 1975, S. 281–316. Die Gelenkstelle ist das um eine Zeile abgewandelte Zitat aus Stefan Georges Gedicht Nietzsche von 1900. Vgl. hierzu meine Interpretation des Doktor Faustus mit dem Titel Radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche in Eckhard Heftrich: Über Thomas Mann. Bd. 2: Vom Verfall zur Apokalypse. Frankfurt a. M. 1982, S. 173–288; hier auch zur Bedeutung von Georges Gedicht für den Roman.
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Philosophie in Selbstzeugnissen von 1931 entnommen, außerdem zwei Beiträgen aus der Moskauer Internationalen Literatur von 1944 und 1945. Der eine dieser beiden Beiträge stammt von Georg Lukács und trägt den Titel: Der deutsche Faschismus und Nietzsche. Die Anstreichungen und Randbemerkungen in Thomas Manns Baeumler-Exemplar zeugen von starker Empörung während der Lektüre. Sie richtet sich vor allem gegen Baeumlers Nietzsche-Auslegung. Und wenn die Erregung von Nietzsche-Zitaten herrührt, dann sind es solche, die Thomas Mann ohne jede Nachprüfung ihrer Entstehungszeit oder ihres Kontextes als Produkte des Verfallsprozesses vereinnahmt. Eindeutige Anregungen durch Baeumler tauchen gleichsam spiegelverkehrt auf. Die bis 1918 zurückreichende Beziehung zwischen Thomas Mann und Baeumler kann hier nicht aufgerollt werden, doch sei wenigstens darauf hingewiesen, dass Letzterer schon in seinem Vorwort den für Eingeweihte unübersehbaren Seitenhieb auf Bertrams Buch und damit auch auf Thomas Mann nicht unterlassen hat. Selbst dann, wenn man zum größeren Teil Thomas Manns Empörung über die Vereinnahmung Nietzsches durch Baeumler versteht, sie sogar teilt, bedeutet das nicht, die elementaren philosophischen Defizite der Nietzsche-Deutung Thomas Manns zu ignorieren. Zwei Grundirrtümer glaubt Thomas Mann in Nietzsches Denken entdeckt zu haben, die dann auch hinter den »Atrozitäten und trunkenen Botschaften« der so »glänzend« degenerierenden späten Schriften stehen sollen (GW 9, S. 694). Der erste Irrtum: die Verkennung des Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt; der zweite Irrtum: das falsche Verhältnis, in das Nietzsche Leben und Moral zueinander bringt. Aufgrund dieser zwei Irrtümer sei Nietzsche der »vollkommenste und rettungsloseste Ästhet« geworden, »den die Geschichte des Geistes kennt« (GW 9, S. 706). Mit doppelter Auswirkung: zum einen für ihn selbst, dessen Leben »eine künstlerische Darstellung«, bis in die »Selbst-Mythologisierung des letzten Augenblicks und bis in den Wahnsinn hinein« nichts weniger als ein »lyrisch-tragisches Schauspiel von höchster Faszination« darbietet (GW 9, S. 707). Und ferner: »Er hat Geschichte gemacht, fürchterliche Geschichte, und übertrieb nicht, wenn er sich ›ein Verhängnis‹ nannte« (GW 9, S. 710). Thomas Manns eigene Irrtümer rühren daher, dass er den Grundbegriff ›Wille zur Macht‹ rein biologisch auffasst, ein Missverständnis, das er mit fast allen Interpreten – und nicht nur seiner Generation – teilt. Die weiteren Missverständnisse sind unvermeidliche Folgerungen. Wobei man zugestehen muss, dass Nietzsche bei seiner Begriffswahl in Verbindung mit der ihm eigenen Metaphern- und Sprachgewalt der Fehldeutung und dem Missbrauch seiner Philosophie gründlich Vorschub geleistet hat.
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Eckhard Heftrich
Als eine »Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen« und als »tragische[s] Mitleid« umschreibt Thomas Mann zu Beginn des Essays sein schon früh empfundenes Gefühl für Nietzsche (GW 9, S. 676). Im letzten Satz des Essays wird Nietzsche »eine Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik« (GW 9, S. 712) genannt. So ist in den Essay zurückgetragen, was am Ende des Doktor Faustus lautet: »Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland« (GKFA 10.1, S. 738). Nach dem Roman zuletzt doch noch den eigentlichen Essay über Leiden und Größe Friedrich Nietzsches zu schreiben, hatte keinen Sinn mehr, obwohl der Doktor Faustus, entgegen dem frühesten Plan, gerade kein Nietzsche-Roman, sondern Thomas Manns ›Parsifal‹ geworden war. Weder im Falle Wagners noch in jenem von Thomas Mann kann das Problematische ihres Spätwerks übersehen werden. Dennoch sollte man weder Parsifal noch Doktor Faustus zu jenen Kunstexperimenten zählen, denen nachgesagt wird, sie seien zwar großartig gescheitert, aber eben doch gescheitert.
Jacques Le Rider
André Malraux und Nietzsche Im Falle des Romanciers, Kunstliteraten und Kulturpolitikers André Malraux (1901–1976) haben wir es mit einer intensiven und in allen Lebensund Schaffensphasen fortgesetzten Nietzsche-Rezeption zu tun.1 Durch die große Breitenwirkung des 1943 erschienenen Romans Les Noyers de l’Altenburg (Die Nussbäume der Altenburg), dessen wichtigste Abschnitte in die Antimémoires von 1967 wiederaufgenommen wurden, erreichte Nietzsche in der französischen Literatur erstmals den Status einer Romanfigur.2
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Vorarbeiten des Verfassers zur französischsprachigen Nietzsche-Rezeption: Nietzsche in Frankreich. München, Paderborn 1997. Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent. Paris 1999. Nietzsche. Cent ans de réception française. Saint-Denis 1999. Nietzsche und Frankreich: Der Meinungswandel Elisabeth Förster-Nietzsches und Henri Lichtenbergers. In: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 366–376. Abbitte an Nietzsche. Klossowski als Wegbereiter Nietzsches in Frankreich. In: Johannes Gachnang u. Pierre Klossowski (Hg.): Pierre Klossowski: Anima. Buch zur Ausstellung der Wiener Secession, 24. Mai – 9. Juli 1995. Basel, Frankfurt a. M. 1995, S. 111–117. L’autografia e la decadenza. Bourget, Nietzsche e Hofmannsthal lettori del Journal intime di Amiel. In: Maria Cristina Fornari (Hg.): La Trama del testo. Su alcune letture di Nietzsche. Lecce 2000, S. 69– 89. Georges Bataille, interprète de Nietzsche. »Crise des Lumières« et »irrationalisme«? Un cas de transfert sans re-transfert franco-allemand. In: Nicole Pelletier, Jean Mondot u. Jean-Marie Valentin (Hg.): L’Allemagne et la crise de la raison. Festschrift für Gilbert Merlio. Bordeaux 2001, S. 279–286. Les premières biographies de Nietzsche. In: Robert Kopp (Hg.): La biographie, modes et méthodes. Akten des zweiten Colloque international Guy de Pourtalès an der Universität Basel, 12. – 14. Februar 1998. Paris 2001, S. 329– 345. Proust und Nietzsche. In: Thomas Hunkeler u. Luzius Keller (Hg.): Marcel Proust und die Belle Epoque. Frankfurt a. M. 2002, S. 158–188. Nietzsche et Flaubert. In: Volker Gerhardt u. Renate Reschke (Hg.): Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa. Berlin 2007, S. 237–249. André Gide et Nietzsche. In: Sandro Barbera u. Renate Müller-Buck (Hg.): Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg. Pisa 2007, S. 37–57. Nietzsche et Victor Hugo. In: Romantisme 132 (2006), H. 2, S. 11–20. Romain Rolland et Nietzsche. In: Europe. Nr. 942. Oktober 2007, S. 117–124. Zum ersten Mal in einem veröffentlichten Roman; ein früheres Nietzsche-Roman-Projekt war das 1927 entstandene, von Michel Contat und Michel Rybalka edierte Manuskript Une Défaite (Eine Niederlage) von Jean-Paul Sartre (J.-P. Sartre: Écrits de jeunesse. Paris 1990, S. 204–286). Vgl. dazu Jacques Le Rider: Le projet de roman nietzschéen de Jean-Paul Sartre. In: Ders.: Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent. Paris 1999, S. 136–138. Der Frage, ob André Malraux dieses von Sartre aufgegebene Manuskript kannte, gehen Contat und Rybalka nach, jedoch ohne eine eindeutige Antwort zu finden: »Selon le témoignage de Sartre [en 1975], il [Sartre] aurait remis le
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Wegen der prominenten kulturpolitischen Rolle Malraux’ rückte Nietzsche durch ihn in den quasi offiziellen Kanon der deutsch-französischen kulturellen Freundschaft. Seit der Zeit seines Einsatzes in den Widerstandskämpfen gegen die Nazi-Besatzung zum Freund und Berater von Charles de Gaulle geworden, spielte er von 1958 bis 1969 eine wichtige Rolle als Ministre d’État. Zweifelsohne sind ihm zum Teil die Impulse zur kulturellen Versöhnungspolitik mit der Bundesrepublik zu verdanken. Schon in Les Noyers de l’Altenburg zeigte sich, dass für Malraux mitten im Befreiungskampf die Zuneigung zur deutschen Kultur und Kunst von der Erfahrung des Krieges gegen die Nazi-Herrschaft nicht tangiert wurde. Als er im Sommer 1940 in Gefangenschaft geriet und von General Wiet von Wieterstein, dem Befehlshaber der 11. Panzerdivision, verhört wurde, antwortete er nach eigenem Zeugnis: Wir werden dann schließlich und endlich wieder Ihre Gegner werden. Doch was auch das Waffenglück bestimmen möge, welches auch der Charakter der politischen Systeme sein möge, ich kenne wenig geistige Menschen in Frankreich, die bereit sein könnten, sich mit dem Gedanken abzufinden, Hölderlin und Nietzsche, Bach und sogar Wagner habe es nie gegeben.3
Drei Jahrzehnte später, im Jahre 1971, stellte André Malraux den »Autor« Friedrich Nietzsche in den Mittelpunkt eines Portrait-Interviews mit dem Theater-Regisseur Jean Vilar. Inzwischen hatte die neue intellektuelle Avantgarde Nietzsche wieder aktuell gemacht (Gilles Deleuze, Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida): Jean Vilar: Nietzsche als Mensch und als Autor hat Sie wohl intensiv gefesselt? Malraux: Es gibt nicht fünfzig theoretische Werke vergleichbarer Größe im späten 19. Jahrhundert, es gibt nur zwei, ihn und Marx. Es gab weitere ganz große Denker, jedoch weit vorher. Nietzsche ist etwas jünger als Marx, aber die beiden Gedankensysteme gehören derselben Epoche an. Das europäische Denken am Ende des 19. Jahrhunderts, das ist entweder Nietzsche oder Marx.
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début de ce roman, une centaine de pages, à Nizan, pour qu’il [Nizan] le fasse lire à Malraux, avec l’espoir que celui-ci le recommanderait à Gallimard. […] Mais les archives de la maison Gallimard ne contiennent aucune information à ce sujet, et il est probable que Malraux, s’il en a été saisi, n’a pas donné suite à la demande de Nizan. Il est possible aussi que la mémoire de Sartre, en 1975, l’ait trompé, ou que Nizan n’ait pas transmis le texte à Malraux, car il ne semble pas que Nizan ait entretenu des relations avec lui [Malraux] avant 1933« (Anmerkung zu Une Défaite; ebenda, S. 189–203, hier S. 191). André Malraux: Anti-Memoiren. Aus dem Französischen übers. v. Carlo Schmid. Frankfurt a. M. 1968, S. 205. »Nous allons enfin redevenir vos adversaires. Mais quel que soit le sort des armes, quels que soient les régimes, je ne connais pas beaucoup d’intellectuels français qui soient prêts à tenir pour non avenus Hölderlin et Nietzsche, Bach et même Wagner« (André Malraux: Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 174f.).
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Jean Vilar: Und schließlich haben Sie Nietzsche Recht gegeben gegen Marx? Malraux: […] Marx hatte gemeint, alles würde im europäischen Internationalismus seinen Abschluß finden, und das glaubten die meisten im 19. Jahrhundert, angefangen mit Victor Hugo. Nietzsche im Gegenteil hatte ausgesagt: ›Das 20. Jahrhundert wird das Jahrhundert der nationalen Kriege sein‹. Und Nietzsche hatte Recht.4
Diese Stelle wirkt heute überraschend, da man viel eher den ›guten Europäer‹ Nietzsche in den Vordergrund stellt als den Nationalisten, für den man die verfälschende Propaganda des Nietzsche-Archivs verantwortlich macht. Und doch ist es bei Malraux ein wiederkehrendes Leitmotiv der Nietzsche-Beschwörung: Er habe das Aufkommen eines neuen Nationalismus vorhergesagt, der den Nationalismus des 19. Jahrhunderts nicht fortsetzen, sondern potenzieren würde. Dieser von Malraux nicht näher belegte Gedanke Nietzsches findet sich in den Antimémoires zweimal: in einem Gespräch mit de Gaulle im Jahre 1945 und in einem fiktionalen Gespräch in Singapur mit Méry.5 Für Malraux waren die Kriege des 20. Jahrhunderts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin, ja erst recht national. – Zurück zum Interview aus dem Jahre 1971: Malraux: [Nietzsche] ist der größte Irrationalist seiner Zeit. Man hat aus Kierkegaard etwas so Wichtiges gemacht, daß man [es] vergißt. Nach seinem Tode hat seine Schwester falsche Überschriften erfunden, man hat aus ihm den Propheten des Nazismus gemacht, was gelinde gesagt grotesk war, da es sich um einen handelte, der geschrieben hat, der Antisemitismus sei eine Infamie.6
Wenn er Nietzsche als Irrationalisten bezeichnet, will Malraux ihn gewiss nicht in die Nähe Klages’ rücken; wahrscheinlich denkt er vielmehr an mystische Tendenzen in Nietzsches Denken der späten 1880er Jahre sowie an seine radikale Vernunftkritik. Die strikte Trennung von Nietzsche und
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André Malraux im Interview mit Jean Vilar im Magazine littéraire: Entretien avec André Malraux. In: Magazine littéraire. Nr. 54. Juli 1971. Zitat nach einem Auszug dieses Interviews unter dem Titel: Nietzsche est le plus grand irrationaliste de son temps. In: Magazine littéraire. Hors-série Nr. 3/2001 (Sonderheft Nietzsche), S. 101 (Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate aus diesem Interview durch den Verfasser). Gespräch mit de Gaulle: »Dans le domaine de l’Histoire, le premier fait capital des vingt dernières années, à mes yeux, c’est le primat de la nation. Différent de ce que fut le nationalisme: la particularité, non la supériorité. Marx, Victor Hugo, Michelet (Michelet qui avait écrit: ›La France est une personne!‹) croyaient aux États-Unis d’Europe. Dans ce domaine, ce n’est pas Marx qui a été prophète, c’est Nietzsche, qui, lui, avait écrit: ›Le XXe siècle sera le siècle des guerres nationales‹« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 91). Gespräch mit Méry: »[J]’ai toujours choisi Nietzsche contre Marx: ›Le XXe siècle sera le siècle des guerres nationales‹. Qu’aurait eu à faire un Français dans un mouvement national indochinois?« (ebenda, S. 324). André Malraux im Interview mit Jean Vilar im Magazine littéraire (Anm. 4).
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Nietzsche-Archiv, von Nietzsche und Förster-Nietzsche ist die Grundlage der Nietzsche-Faszination nicht nur bei Malraux, sondern bei nahezu allen französischen Nietzsche-Bewunderern seit den 1930er Jahren, insbesondere im Kontext der ›linken‹ Nietzsche-Rezeption von Georges Bataille bis Jacques Derrida. Da treffen sich der junge Malraux der Zwischenkriegszeit, der als linker ›intellectuel engagé‹ galt, und der späte, durch elf Jahre Teilnahme an der Staatsregierung verwandelte Autor. Im Laufe des Interviews mit Jean Vilar gibt Malraux folgende autobiographische Auskunft über seine erste Entdeckung Nietzsches: »Ich war sechzehn, für uns war Nietzsches Denken von kapitaler Bedeutung. Marx kam später hinzu. Vergessen wir nicht, dass an Nietzsche etwas einzigartig ist: Er ist zugleich ein großer Denker und ein großer Schriftsteller«.7 In ihren Memoiren Apprendre à vivre (1963) beschreibt Clara Goldschmidt-Malraux den jungen Malraux als »besessen von Nietzsche«, sogar »[s]chon bevor wir uns kennenlernten«.8 Durch Clara Goldschmidt verstärkte sich André Malraux’ Interesse für die deutsche Literatur. Doch waren die Grundlagen seiner Nietzsche-Verehrung schon früher gelegt worden. Nach einem anderen Zeugnis Clara Goldschmidts kam es während der Zeit seiner Bewährungsfrist in Phnom-Penh zu einer Relektüre verschiedener Nietzsche-Werke: »Zu dieser Zeit glaubte mein Lebensgefährte an eine nicht nur soziale, sondern im Sinne wesentlich nietzscheanischer Werte etablierte Hierarchie«.9 Im Laufe der 1920er und 1930er Jahre vollzog sich der deutsch-französische Kulturtransfer bei Malraux durch die Vermittlung von Yvan und Claire Goll, Bernard Groethuysen,10 Edmond Jaloux und Daniel Halévy. Drieu La Rochelle, damals ein enger Freund Malraux’, war ebenfalls ein französischer Nietzscheaner.11
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Ebenda. Clara Malraux: Das Geräusch meiner Schritte. Erinnerungen. Aus dem Französischen v. Annette Lallemand u. Ruth Groh. Bern, München 1982, S. 61. Im Original: »hanté par Nietzsche, et cela avant même que nous nous soyons connus« (Clara Malraux: Le bruit de nos pas. Bd. 1: Apprendre à vivre. Paris 1963, S. 271). André Malraux lernte Clara Goldschmidt 1921 kennen. »À l’époque, mon compagnon croit en une hiérarchie, non pas sociale, mais établie en fonction de valeurs pour l’essentiel nietzschéennes« (Clara Malraux: Le bruit de nos pas. Bd. 2: Nos vingt ans. Paris 1966, S. 176; Übers. d. Verf.). Vgl. Jean-René Bourrel: Malraux et la pensée allemande de 1921 à 1949. In: Walter G. Langlois (Hg.): André Malraux. 3. Influences et affinités. Paris 1975, S. 103–134, hier S. 104f. (zuerst in: La Revue des Lettres modernes (1975). Nr. 425–431). Zum Einfluss Bernard Groethuysens auf Malraux vgl. Jean Lacouture: André Malraux: Une vie dans le siècle. Paris 1973, S. 161–163. Zu Drieu La Rochelle und Nietzsche vgl. Jacques Le Rider: Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent. Paris 1989, S. 167f. Nicholas Hewit: Malraux et Nietzsche: un rapport qu’il faut nuancer. In: Walter G. Langlois (Hg.): André Malraux. 3. Influences et affinités (Anm. 9), S. 135–160.
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Die Frage nach der politischen Tendenz von Malraux’ Nietzscheanismus bleibt unentschieden. In dem schon mehrmals zitierten Interview mit Jean Vilar im Jahre 1971 weigert sich Malraux, von einem »engagement nietzschéen« zu reden: »Jean Vilar: Aber schließlich hat Marx Ihre Jugend mehr als Nietzsche geprägt, was Ihre engagements betrifft. Malraux: Ich bin nicht sicher. Meine engagements… Es gibt kein nietzscheanisches engagement. Das ist ein Scherz«.12 In der Tat hat Malraux den Begriff »Nietzscheanischer Sozialismus«, den er in seiner Hommage an Léo Lagrange 1945 einführte, nie wieder verwendet.13 Malraux verwindet die moderne Sinnkrise, die aus dem Tod Gottes und dem daraus folgenden Tod des Menschen durch eine »tragische Philosophie der Tat« resultiert.14 Eine der ersten Spuren der schriftlichen Auseinandersetzung mit Nietzsche findet man in La Tentation de l’Occident (1926), einem Briefroman beziehungsweise einem Essay in der Form eines Briefwechsels zwischen einem jungen chinesischen Intellektuellen, Ling, und einem Europäer, der offenkundig als ein Alter Ego Malraux’ zu verstehen ist. Dort schreibt Ling: Die absolute Realität war für euch zuerst einmal Gott, dann der Mensch; aber nach Gott ist auch der Mensch gestorben, und ängstlich fragt ihr euch, wem ihr nun seine seltsame Erbschaft anvertrauen könntet. Euren Strukturvorschlägen für gemäßigte Nihilismen scheint mir keine lange Lebensdauer beschieden zu sein…15
Nach dieser Suspendierung des traditionellen Humanismus bleibt »l’homme précaire«,16 der prekäre Mensch, dessen Wille zur Macht von Malraux als
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André Malraux im Interview mit Jean Vilar im Magazine littéraire (Anm. 4). Horst Hina: Malraux entre Nietzsche et Marx. In: Michel Cazenave (Hg.): André Malraux. Paris 1982, S. 415–422. Hina bezieht sich auf den Text Hommage à Léo Lagrange, zitiert in Eugène Baudé u. Gilbert Prouteau: Le Message de Léo Lagrange. Paris 1950, S. 180. Pierre Boudot: Nietzsche et l’au-delà de la liberté. Nietzsche et les écrivains français de 1930 à 1960. Paris 1970, S. 47. André Malraux: Lockung des Okzidents. Aus dem Französischen v. Friedrich Hagen. Köln, Berlin 1966, S. 78f. »La réalité absolue a été pour vous Dieu, puis l’homme; mais l’homme est mort, après Dieu, et vous cherchez avec angoisse celui à qui vous pourriez confier son étrange héritage. Vos petits essais de structure pour des nihilismes modérés ne me semblent plus destinés à une longue existence…« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 1. Hg. unter der Leitung v. Pierre Brunel. Paris 1989, S. 100). Malraux gab seiner letzten Buchveröffentlichung, einer Sammlung seiner literaturkritischen Essays, deren Druckfahnen er noch korrigiert hatte, den Titel L’Homme précaire et la littérature (Paris 1977). Das Buch erschien im Februar 1977; Malraux war am 23. November 1976 gestorben. Claude Tannery: Malraux: l’avènement de l’homme précaire. In: Magazine littéraire. Hors-série Nr. 3/2001 (Sonderheft Nietzsche), S. 97–99, hier S. 97.
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Ethik der Tat und des Engagements gedeutet wird. Im Essay D’une jeunesse européenne (1927) schreibt Malraux: Wir sind hier an jenem Punkt, wo der triumphierende Individualismus von sich aus ein klareres Bewusstsein annehmen will. Beladen mit den aufeinanderfolgenden Leidenschaften der Menschen, hat er alles vernichtet, mit Ausnahme seiner selbst; von den höchsten Geistern unserer Epoche erhoben, im Fahrwasser von Nietzsches Wahnsinn und geschützt vor der Hinterlassenschaft der Götter liegt er nun vor uns, und wir sehen in ihm nichts als einen blinden Triumphator. […] Wenn Nietzsche derart großen Widerhall in den verzweifelten Herzen findet, dann mag das daran liegen, dass er selbst nur der Ausdruck ihrer Verzweiflung und Gewaltsamkeit ist.17
Nietzsches Wahnsinn wird hier als die letzte Folge eines absoluten Individualismus dargestellt. In Les Conquérants (1928) sucht die Romanfigur Garine »des valeurs de la métamorphose« (Werte der Verwandlung). Wie in La Condition humaine (1933) unterliegen die Revolutionäre, weil sie die Werte nicht umzuwerten wussten und weil sie den Willen zur Macht als Machtwillen missverstanden. Das Fazit dieser frühen Phase der Nietzsche-Rezeption Malraux’ zieht Emmanuel Berl im Zusammenhang mit den Conquérants im Essay Mort de la pensée bourgeoise (1929): »Seit Nietzsche ist mir kein so heroisches Buch bekannt«.18 In seinem Roman Les Noyers de l’Altenburg hat André Malraux Nietzsche am ausführlichsten besprochen und zugleich als Romanfigur aufleben lassen.19 Der Erzähler trägt den Namen Berger: Es ist jener Name, deutsch und französisch zugleich, den Malraux für sich als Widerstandskämpfer wählte. Nach einer Beinverletzung im Juni 1940 im Gefangenenlager von Chartres interniert, schreibt Berger seine Lebenserinnerungen; in diesen Aufzeichnungen werden sein Vater Vincent Berger (in der Zeit des deut-
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»Nous voici au point où l’individualisme triomphant veut prendre de lui-même une conscience plus nette. Chargés des passions successives des hommes, il a tout anéanti, sauf lui-même; élevé par les plus hauts esprits de notre époque, précédé de la folie de Nietzsche et paré de la dépouille des dieux, le voici devant nous, et nous ne voyons en lui qu’un triomphateur aveugle. […] Si Nietzsche trouve tant d’échos dans des cœurs désespérés, c’est qu’il n’est lui-même que l’expression de leur désespoir et de leur violence« (André Malraux: D’une jeunesse européenne. In: André Chamson, Jean Grenier, Pierre Jean Jouve, André Malraux u. Henri Petit: Écrits. Hg. v. Daniel Halevy. Paris 1927, S. 129–153, hier S. 145; zitiert in Horst Hina: Nietzsche und Marx bei Malraux. Mit einem Ausblick auf Drieu La Rochelle und Albert Camus. Tübingen 1970, S. 13; Übers. d. Verf.). Emmanuel Berl: Mort de la pensée bourgeoise. Paris 1929, S. 190. Vgl. Horst Hina: Nietzsche und Marx bei Malraux (Anm. 17), S. 12 (Übers. d. Verf.). André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. Marius-François Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996.
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schen Kaiserreichs im Elsass geboren) und sein Onkel Walter Berger zu Protagonisten. Letzterer hatte [n]ach einer schönen Laufbahn als Historiker, die glanzvoll zu werden versprach, wäre er nicht Elsässer gewesen, […] jene ›Altenburger Kolloquien‹ ins Leben gerufen […]. Jedes Jahr versammelte er dort einige bedeutende Kollegen, wenigstens fünfzehn Intellektuelle aus allen Ländern und die begabtesten seiner alten Schüler. Schriften Max Webers, Stefan Georges, Sorels, Durkheims, Freuds waren aus diesen Gesprächen hervorgegangen. Schließlich […] war Walter einst mit Nietzsche befreundet gewesen.20
In die fiktiven Kolloquien auf der Altenburg projiziert Malraux persönliche Erinnerungen an die von Paul Desjardins konzipierten und organisierten Décades de Pontigny.21 Der Bruder Walters und Vater des Erzählers war vor dem Ersten Weltkrieg Professor an der Universität Konstantinopel und hatte 1908 seine erste Vorlesung mit dem Titel Philosophie de l’action dem Thema Nietzsche gewidmet. Etwas später im Roman schildert Walter Nietzsches Zusammenbruch: Hier folgt Malraux dem Zeugnis Overbecks, der in einem Brief an Bernoulli vom Januar 1889 seine Zugreise mit Nietzsche von Turin nach Basel erzählte: »Ich war in Turin – aus Zufall gerade in Turin –, als ich vernahm, er sei vor kurzem geisteskrank geworden. […] er war von fraulicher Sanftheit, trotz seines Nußknackerschnurrbartes… Diesen Blick gab es nun nicht mehr…«.22 Walter spielt im Roman die Rolle Overbecks. Er berichtet, wie mitten im Gotthardtunnel mit einem Male […] sich in der schwarzen Dunkelheit über dem stampfenden Gepolter der Achsen eine Stimme zu erheben (begann). Friedrich sang – und er, der im Gespräch stammelte, artikulierte die Worte richtig – und er sang ein Lied, das wir noch nicht kannten; es war sein letztes Gedicht: Venedig. […] Es war das Leben – ich sage einfach: das Leben… Etwas sehr Sonderbares geschah: der Gesang war so stark wie das Leben. Ich hatte eben etwas entdeckt.
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André Malraux: Die Nußbäume der Altenburg. In: Ders.: Anti-Memoiren (Anm. 3), S. 19–92, hier S. 26. »[a]près une belle carrière d’historien, éclatante s’il n’eût été alsacien, […] organisé ces ›colloques de l’Altenburg‹ […]. Chaque année, il y réunissait quelquesuns de ses collègues éminents, une quinzaine d’intellectuels de tous pays et ses anciens élèves les plus doués. Des textes de Max Weber, de Stefan George, de Sorel, de Durkheim, de Freud étaient nés de ces colloques. […] Walter avait été jadis l’ami de Nietzsche« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. Marius-François Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996, S. 635f.). Malraux nahm an den Décades de Pontigny vom 19. bis 29. August 1928 und ein zweites Mal vom 28. August bis zum 7. September 1932 teil. André Malraux: Die Nußbäume der Altenburg (Anm. 20), S. 32f. »J’étais à Turin – à Turin, par hasard… – quand j’appris qu’il venait d’y devenir fou. […] il était d’une douceur féminine, malgré ses moustaches de croquemitaine… Ce regard n’existait plus…« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. Marius-François Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996, S. 662).
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Etwas Bedeutungsvolles. In dem Gefängnis, von dem Pascal spricht, ist es den Menschen gelungen, aus sich selber eine Antwort herauszuholen, die – wenn ich es wagen darf, so zu sprechen – jene mit Unsterblichkeit überflutet, die ihrer würdig sind.23
Der von Nietzsche im Stadium des Zusammenbruchs erreichte Grenzzustand definiert als extreme Überwindung der ›condition humaine‹ den Begriff Mensch viel besser als der gelehrte Meinungsaustausch im Rahmen des Kolloquiums auf der Altenburg, der einen überholten Humanismus zu retten bemüht ist. Während des Altenburg-Kolloquiums versuchen Intellektuelle zu ergründen, ob es eine »fundamentale Grundlage« gebe, auf welcher sich der Begriff des Menschen fundieren lasse. […] Ermüdet von diesem ins Leere laufenden Gedankenspiel, verlässt Berger das Kolloquium. Nach einem langen Fußmarsch bleibt er vor zwei Nussbäumen stehen […]: »Sie drängten die Idee eines Willens und einer endlosen Verwandlung auf. […] Anstatt die Bürde der Welt zu tragen, verströmte sich das knorrige Holz dieser Nussbäume in einem ewigen Leben…«24
Wer den Menschen in sich selbst überwunden hat, der Übermensch, dem die Epiphanien des Lebens offenbart werden, »akzeptiert das Leben, anstatt sich über den Sinn des Lebens zu befragen, versucht, das Leben mit dem Leben zu bewerkstelligen«.25 Der im Gotthardtunnel singende, das eigene Gedicht deklamierende Nietzsche ist der Künstlerphilosoph auf dem Wege zum Übermenschlichen.
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André Malraux: Die Nußbäume der Altenburg (Anm. 20), S. 34. »tout à coup […] une voix commença de s’élever dans le noir, au-dessus du tintamarre des essieux. Friedrich chantait – avec une articulation parfaite, lui qui, dans la conversation, bredouillait –, il chantait un poème inconnu de nous; et c’était son dernier poème, Venise. […] C’était la vie – je dis simplement: la vie… Il se passait… un événement très singulier: le chant était aussi fort qu’elle. Je venais de découvrir quelque chose. Quelque chose d’important. Dans la prison dont parle Pascal, les hommes sont parvenus à tirer d’eux-mêmes une réponse qui envahit, si j’ose dire, d’immortalité, ceux qui en sont dignes« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. Marius-François Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996, S. 663f.). »Pendant le colloque de l’Altenburg, des intellectuels cherchent s’il existe ›une donnée fondamentale‹ sur laquelle puisse être fondée la notion d’homme. […] Fatigué par ce jeu de l’esprit qui tourne à vide, Berger quitte le colloque. Après une longue marche, il s’arrête devant deux noyers […]: ›Ils imposaient l’idée d’une volonté et d’une métamorphose sans fin. […] Le bois convulsé de ces noyers, au lieu de supporter le fardeau du monde, s’épanouissait dans une vie éternelle…‹« (Claude Tannery: Malraux: l’avènement de l’homme précaire (Anm. 16). S. 98; Übers. d. Verf.). »accepte la vie, au lieu de s’interroger sur le sens de la vie, essaie de faire de la vie avec la Vie« (ebenda, S. 99; Übers. d. Verf.).
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Vincent Berger, der Vater des Erzählers, vertritt hier André Malraux’ eigenen Standpunkt, dessen Nähe zur Gedankenwelt der Geburt der Tragödie deutlich wird: Unsere Kunst scheint mir eine Verbesserung der Welt zu sein, ein Mittel, um der ›conditio humana‹ zu entkommen. Die hauptsächliche Verwirrung scheint mir von dem her zu rühren, was man geglaubt hat – hinsichtlich unserer Idee von der griechischen Tragödie ist dies eklatant! –, dass eine Fatalität darzustellen bedeute, sie zu erdulden. Nein, es bedeutet vielmehr fast, sie zu besitzen. Allein die Tatsache, sie darstellen zu können, sie zu erfassen, lässt sie dem eigentlichen Schicksal, dem unerbittlichen göttlichen Maßstab entkommen und reduziert sie auf das menschliche Maß.26
Im Interview mit Jean Vilar aus dem Jahre 1971 kommentiert Malraux rückblickend seine Darstellung Nietzsches in Les Noyers de l’Altenburg, jenem Roman, aus dem er wichtige Teile in die Antimémoires mit aufgenommen hat. Jean Vilar: Was ist an diesen Szenen, an dem Umgang Walters mit Nietzsche wahr? Malraux: Alles, abgesehen davon, daß ich eine wahre Person mit Walter identifiziert habe. Jean Vilar: Nietzsche hat Sie wohl ganz besonders frappiert… Malraux: Hier wird Nietzsche zu einer Theaterfigur Shakespeares. Sein Wahnsinn ist so beeindruckend wie König Lears Wahnsinn, der gar kein Wahnsinniger ist. Es ist ein außerordentliches Ereignis, wenn eines der größten Genies seines Zeitalters vom Wahnsinn heimgesucht wird.27
Am Schluss der Noyers de l’Altenburg wird Vincent Berger als Frontkämpfer an der Weichsel ein Opfer der von den Deutschen gegen die Russen eingesetzten Kampfgase. Als er realisiert, dass er vergiftet worden ist, bringt er den Nietzscheanismus Malraux’ auf die Formel: Aber was ging den Menschen die Welt an! O flammende Absurdität! […] Er war beherrscht von einer funkelnden Einsichtigkeit, genauso energisch wie das in seiner Kehle zurückgehaltene Pfeifen: Der Sinn des Lebens war das Glück,
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»Notre art me paraît une rectification du monde, un moyen d’échapper à la condition d’homme. La confusion capitale me paraît venir de ce qu’on a cru – dans l’idée que nous nous faisons de la tragédie grecque c’est éclatant! – que représenter une fatalité était la subir. Mais non! C’est presque la posséder. Le seul fait de pouvoir la représenter, de la concevoir, la fait échapper au vrai destin, à l’implacable échelle divine; la réduit à l’échelle humaine« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. Marius-François Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996, S. 680 ; Übers. d. Verf.). André Malraux im Interview mit Jean Vilar im Magazine littéraire (Anm. 4).
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und er, dieser Idiot!, hatte sich um anderes gekümmert als darum, glücklich zu sein!28
Nach Les Noyers de l’Altenburg erschien kein weiterer Roman von André Malraux; der Romancier wurde zum Kunstessayisten. 1951 fand Nietzsche als wahnsinniges Genie in Les Voix du silence erneut Aufmerksamkeit: Dieser [der Wahnsinn] mag gelegentlich, wie bei Nietzsche, siegreich sein; doch je mehr Zerstörung und Nacht ihn bedrohen, desto höher preist Nietzsche die Größe. »Sterbend hält Zarathustra die Erde umarmt«, schreibt er, schon vom Wahnsinn umfangen; nicht seinen Wahnsinn, sondern seine gequälte Fülle erweckt van Gogh in Grünewald.29
Viele hielten den Schriftsteller Malraux bereits für verstummt, als der erste Band seines Memoirenwerks im Jahre 1967 unter dem Titel Les Antimémoires erschien. Das literarische Niveau und der ungeheuer große Erfolg dieser Autobiographie, die zugleich eine Chronik des 20. Jahrhunderts in der Tradition von Chateaubriand darstellt, verblüffte alle Zeitgenossen. Und wieder war Nietzsche ein Modell für den Autobiographen Malraux. In ihrer Struktur selbst sind die Antimémoires an das Modell von Nietzsches Ecce homo angelehnt. Jeder Teil der Antimémoires ist nämlich einer Phase des eigenen Schaffens gewidmet, für die Malraux eine Selbstinterpretation liefert, an der er gelegentlich – wie Nietzsche in Ecce homo – eine nachträgliche Korrektur vornimmt. Die Antimémoires sind zugleich eine strenge Absage an die oberflächliche autobiographische und biographische Anekdotenerzählung. Folgende Passage, in welcher Malraux sich über das unbedeutende Zeugnis der in Paris getroffenen ›alten Dame‹ Lou Andreas-Salomé auslässt, ist in diesem Sinne zu verstehen: Eines Tages sah ich Lou Salomé: eine alte Dame, bekleidet mit einem Sackkleid. Sie hatte gerade Madame Daniel Helévy geantwortet, die sie fragte: »Tee oder Portwein? – Ich bin nicht gekommen, um mich um so etwas zu kümmern!«. Wir befanden uns alleine in einer Ecke des Salons, und ich sprach zu ihr von Ihrem Buch über Nietzsche, sodann über Nietzsche selbst; sie antwortete
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»Mais qu’est-ce que l’homme venait donc foutre sur la terre! Ô flamboyante absurdité! […] il était possédé d’une évidence fulgurante, aussi péremptoire que ce sifflement ténu dans sa gorge: le sens de la vie était le bonheur, et il s’était occupé, crétin! d’autre chose que d’être heureux!« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 2. Hg. v. MariusFrançois Guyard, Maurice Larès u. François Trécourt. Paris 1996, S. 743; Übers. d. Verf.). André Malraux: Stimmen der Stille. Dt. Übers. v. Jan Lauts. Baden-Baden 1956, S. 575. »Il advient, comme chez Nietzsche, que la folie soit victorieuse; mais Nietzsche exalte d’autant plus la grandeur que l’écroulement et la nuit le menacent davantage. ›Zarathoustra mourant tient la terre embrassée…‹ écrit-il, déjà fou; ce n’est pas sa folie que Van Gogh ressuscite dans Grünewald, c’est sa plénitude déchirée« (André Malraux: Les Voix du silence. Paris 1951, S. 576).
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[…]: »Ich würde mich doch zu gerne erinnern, ob ich ihn geküsst habe oder nicht, auf diesem Weg, Sie wissen schon, oberhalb des Comer Sees«… Was mich an einem x-beliebigen Menschen interessiert, das ist die conditio humana; an einem großen Menschen sind es die Mittel sowie die Natur seiner Größe; an einem Heiligen der Charakter seiner Heiligkeit. Und einige Züge, die weniger einen individuellen Charakter, sondern vielmehr eine bestimmte Verbindung mit der Welt zum Ausdruck bringen.30
Malraux plädiert gegen den biographischen Reduktionismus und für eine andere Auffassung der Autobiographie. Schon 1946 hatte er bemerkt: Nietzsche war kein Lehrer, den seine Mutter Fritz nannte und der zudem große, aber verkannte Bücher schrieb, er war in erster Linie eine mythische Person, geboren aus all jenen Schriften, die er unterzeichnet hatte, ähnlich einer Romanfigur, die allen ihr vom Verfasser verliehenen Äußerungen entstammt.31
Diese Überzeugung veranlasst Malraux, die Freud’sche Psychoanalyse zu verwerfen, die den Menschen auf »[e]in elendes Häufchen Geheimnisse«32 ([u]n misérable petit tas de secrets) reduziere. Wie Jean-François Lyotard in einem brillanten Essay über Malraux konstatiert, »schreibt das autobiographische Ich in der ersten Person, und doch hat es keine Identität […]. ›On n’a de biographie que pour les autres‹ [eine Biographie hat man nur für die anderen]«.33 In den Antimémoires und im folgenden Band der Memoiren, der die Überschrift La Corde et les souris trägt, wird Nietzsche oft in einem interkulturellen Zusammenhang erwähnt. 1963 unterhält sich Malraux in Japan mit einem Bonzen in der kaiserlichen Residenz:
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»J’ai vu un jour Lou Salom[é:] c’était alors une vieille dame vêtue d’un sac. Elle venait de répondre à Mme Daniel Halévy, qui lui demandait: ›Thé ou porto? – Je ne suis pas venue pour m’occuper de ça!‹ Nous nous trouvâmes seuls dans un coin du salon, et je lui parlai de son livre sur Nietzsche, puis de Nietzsche; elle me répondit, en perdant le regard d’yeux magnifiques et en avançant une mâchoire de dentiste américain: ›Je voudrais tout de même bien me souvenir si je l’ai embrassé ou non, sur ce chemin, vous savez, audessus du lac de Côme‹… Ce qui m’intéresse dans un homme quelconque, c’est la condition humaine; dans un grand homme, ce sont les moyens et la nature de sa grandeur; dans un saint, le caractère de sa sainteté. Et quelques traits, qui expriment moins un caractère individuel qu’une relation particulière avec le monde« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 14f.; Übers. d. Verf.). »Nietzsche n’était pas un professeur que sa mère appelait Fritz et qui, par ailleurs, écrivait de grands livres méconnus, [c’était] d’abord le personnage mythique né de tous les écrits qu’il avait signés, comme un personnage de roman de tous les propos que lui prête l’auteur« (André Malraux: N’était-ce donc que cela? In: Saisons. Nr. 3. Paris 1946, S. 11– 23; Übers. d. Verf.). André Malraux: Die Nußbäume der Altenburg (Anm. 20), S. 30. Jean-François Lyotard: Chambre sourde. L’antiesthétique de Malraux. Paris 1998, S. 51 (Übers. d. Verf.).
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Selbst Buddhist und auch Schintoist, wie zahlreiche seiner Landsleute, dachte er zweifellos in einer japanischen Denkungsart: Nietzsche will die Umwandlung der Werte – ein zu vernachlässigendes Ziel, da die Werte zu den vorübergehenden Dingen gehören, zur Maya. Der ernsthafte Buddhismus ist eine Infragestellung der Werte im Namen eines höheren Wertes, Objekt des Glaubens und insofern nur durch einen seltenen und unübertragbaren Seelenzustand zu erreichen: die Erleuchtung.34
Für den Kunstessayisten Malraux ist Nietzsche zu einer Bezugsfigur geworden, die in den verschiedensten Kontexten wiederkehrt, zum Beispiel in einem Gespräch mit Georges Salles über Alexander den Großen, dessen Mythos in der neueren Literatur versiegt sei, weil die von Nietzsche geprägte Moderne den Siegergestalten nicht mehr gehuldigt habe: »Hugo hätte in Alexander nicht eine Figur Poussins gesucht. Er hätte ihn an seine fantastische Antiquiertheit ausgeliefert. […] Aber Alexander hat existiert und starb als Sieger. Wenn nicht, hätte er seinen Propheten gefunden: nicht in Hugo, sondern in Nietzsche«.35 Ein interessanter Fall der ›Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‹ ist das von André Malraux mit der fiktiven Figur Max Torrès (einer Verdichtung verschiedener Personen) im Mai 1968 geführte Gespräch. Während die studentischen Unruhen und die streikende Arbeiterschaft ganz Frankreich bewegen und die Regierung erschüttern, in der Malraux als Ministre d’État die ›Affaires culturelles‹ leitet, wird die große Diskrepanz zwischen dem Nietzscheanismus der älteren Generation und dem Nietzsche-Bild der Studenten sichtbar. Malraux versucht, den Sinn der Trias Marx – Freud – Nietzsche nachzuvollziehen: Die Propheten deiner Studierenden suchen nicht nach dem Sinn der Welt, sie suchen das Geheimnis in ihr.
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»Bouddhiste lui-même, et aussi shintoïste, comme nombre de ses compatriotes, il pensait sans doute, sous une forme japonaise: Nietzsche veut la transmutation des valeurs – but négligeable, parce que les valeurs appartiennent aux choses-qui-passent, à la maya. Le bouddhisme sérieux est une mise en question des valeurs au nom d’une valeur suprême, objet de foi, puisque atteinte seulement par un état psychique rare et intransmissible, L’Illumination« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 446; Übers. d. Verf.). »Hugo n’aurait pas cherché en Alexandre un personnage de Poussin. Il l’aurait livré à son antiquité fantastique. […] Mais Alexandre a existé et il est mort vainqueur. Sinon, il eût trouvé son prophète, qui n’est pas Hugo: Nietzsche« (ebenda, S. 530; Übers. d. Verf.). Dieses Kapitel trägt das Datum 1966 und bildet eine Hommage an den Orientalisten und Kunsthistoriker Georges Salles (von 1941 bis 1945 Direktor des Pariser Musée Guimet; von 1945 bis 1957 Generaldirektor der Musées de France; ab 1957 zusammen mit André Malraux Mitherausgeber der kunsthistorischen Buchreihe L’Univers des formes im Verlag Gallimard; gestorben 1966).
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– Ja… ja! Die Spitze des Eisbergs! Marx will das Geheimnis des Kapitalismus enthüllen. Besser ist jedoch, dass das Geheimnis zähflüssig ist. Marx und Freud zusammen, sogar Nietzsche, das ist wirklich interessant.36
Nach dem Tod Charles de Gaulles im November 1970 in Colombey-lesDeux-Églises erscheint im März 1971 bei Gallimard der de Gaulle gewidmete Band der Memoiren Les chênes qu’on abat. Dort erscheint Nietzsche in einem Gedankenaustausch zum Thema ›Ambition‹: (De Gaulle): Die individuelle Ambition ist eine kindische Leidenschaft. Das, was man zu sein scheint, dem vorzuziehen, was man ist, wenn man Napoleon ist! […] Ich glaube, dass er – sogar auf Sankt Helena – sein Schicksal begriffen hat als jenes eines außergewöhnlichen Individuums. Dennoch ist das keine große Sache, ein Individuum, im Angesicht eines Volkes. (Malraux): Er ist sicherlich der Schutzheilige Rastignacs, mein General, aber auch derjenige Nietzsches.37
An einer anderen Stelle fragt de Gaulle: »Warum glauben die Intellektuellen nicht mehr an Frankreich?«. Und Malraux antwortet, indem er sich auf Nietzsches Analyse des modernen Nihilismus bezieht: Haben sie jemals so sehr daran geglaubt? […] Nietzsche schrieb, dass der Nihilismus (der für ihn dasjenige war, was ich das Absurde nenne) von 1860 an
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»[L]es prophètes de tes étudiants ne cherchent pas le sens du monde, ils en cherchent le secret. | – Oui… oui! La partie immergée de l’iceberg! Marx veut dévoiler le secret du capitalisme. Pourtant, mieux vaut que le secret soit visqueux. Marx et Freud ensemble, même Nietzsche, c’est vraiment intéressant« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 563–564; Übers. d. Verf.). Die Trias Marx – Freud – Nietzsche macht sich Malraux gelegentlich zueigen, wie beispielsweise an dieser Stelle: »L’Asie a découvert dans l’Occident moderne le secret meurtrier de l’univers: pour Darwin, Nietzsche, Marx, même Freud, le tao de la nature, de l’histoire, de l’homme, est combat« (ebenda, S. 766); »Asien hat im modernen Okzident das mörderische Geheimnis des Universums entdeckt: Für Darwin, Nietzsche, Marx, sogar Freud ist das Tao der Natur, der Geschichte und des Menschen der Kampf« (Übers. d. Verf.). »(De Gaulle). L’ambition individuelle est une passion enfantine. Préférer ce qu’on paraît à ce qu’on est, quand on est Napoléon! […] Mais je crois qu’il a conçu son destin, même à Sainte-Hélène, comme celui d’un individu extraordinaire. Pourtant, c’est peu de chose, un individu, en face d’un peuple. (Malraux). Il est certainement le saint patron de Rastignac, mon général, mais aussi celui de Nietzsche« (André Malraux: Œuvres complètes (Anm. 3). Bd. 3. Hg. v. Marius-François Guyard. Paris 1996, S. 615; Übers. d. Verf.). Das Kapitel trägt den Titel Colombey, 11. Dezember 1969. De Gaulle war vor Kurzem von seinem Amt als Président de la République zurückgetreten. Übrigens war Nietzsche für de Gaulle ein vertrautes Thema; vgl. Philippe Bedouret: De Gaulle face à la philosophie de Friedrich Nietzsche. In: Espoir. Revue de la Fondation Charles de Gaulle. Nr. 149. Dezember 2006, S. 41–58.
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fast alle Künstler heimsuchte. Von da an, wohlgemerkt! Das Genie, von Baudelaire bis hin zu unseren Schriftstellern, war zu achtzig Prozent Nihilist.38
Wenige Autoren haben im Leben und Schaffen André Malraux’ von der Jugend bis zu den letzten Jahren eine so überragende Bedeutung gehabt wie Friedrich Nietzsche. In den verschiedensten historischen, literarischen und theoretischen Zusammenhängen war Nietzsche für Malraux ein Fixstern.
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»Y ont-ils jamais beaucoup cru? […] Nietzsche écrivait que, depuis 1860, le nihilisme (c’était, pour lui, ce que j’ai appelé l’absurde) atteignait à peu près tous les artistes. Depuis, pensez! Le génie, de Baudelaire à nos écrivains, a été nihiliste à quatre-vingts pour cent« (ebenda, S. 639; Übers. d. Verf.).
Gilbert Merlio
Sisyphos und der Übermensch Auf den Spuren Nietzsches bei Camus Nietzsche ist nicht der einzige ›Erzieher‹ Camus’ gewesen.1 Mit Nietzsche verbindet ihn aber eine besondere Geistesverwandtschaft, die nicht nur in expliziten Zitaten, sondern auch in der Thematik, in der Argumentation und in der Metaphorik zum Vorschein kommt. Wenn Camus von der Notwendigkeit von »Gegen-Alexandern« für unsere moderne Zivilisation2 oder, wie am Ende seines Essays Der Mensch in der Revolte, vom Denken des Mittags oder vom gespannten Bogen und geraden Pfeil spricht, fällt einem unweigerlich der Name Nietzsche ein. Ich kann allen diesen mehr oder weniger heimlichen Spuren nicht nachgehen, versuche sie jedoch im Folgenden zu berücksichtigen.3 Es liegt mir daran, diese Geistesverwandtschaft wie
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Camus wird zitiert nach der vierbändigen Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade: Albert Camus: Œuvres complètes. Hg. v. Jacqueline Lévi-Valensi. Paris 2006–2008. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle O nachgewiesen. Sämtliche Übersetzungen stammen vom Verfasser. Einige Zitate entstammen dem Band Essais der älteren Pléiade-Ausgabe (Albert Camus: Essais. Hg. u. kommentiert v. Roger Quilliot. Paris 1965; fortan mittels der Sigle E nachgewiesen). – In einem Vorwort aus dem Jahre 1954 zitiert Camus neben Nietzsche auch Tolstoi und Melville (O 3, S. 337). Man könnte noch viele andere hinzufügen, angefangen mit Dostojewskij, der gewissermaßen sogar Vorrang hat. Er habe »lange vor Nietzsche schon den zeitgenössischen Nihilismus erkennen, definieren, seine ungeheueren Folgen vorhersagen und den Weg der Erlösung weisen können« (zitiert in Jean Daniel: Avec Camus. Comment résister à l’air du temps. Paris 2006, S. 114). »Oui, cette renaissance est entre nos mains à tous. Il dépend de nous que l’Occident suscite ces contre-Alexandre qui devaient renouer le nœud gordien de la civilisation, tranché par la force de l’épée« (aus einem Vortrag vom 14. Dezember 1957, der im Rahmen der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an der Universität Uppsala unter dem Titel Der Künstler und seine Zeit gehalten wurde (O 4, S. 262f.)). Bei dieser Passage handelt es sich um eine Nietzsche-Paraphrase; im vierten Kapitel der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung betont Nietzsche nämlich die Notwendigkeit solcher ›Gegen-Alexander‹, um dann in Wagner eine solche Figur zu erkennen (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen 1–4. Nachgelassene Schriften 1870–1873, S. 447; Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle KSA nachgewiesen). Maurice Weyembergh ist diesen Spuren in dem ersten, erst posthum erschienenen Roman von Camus La mort heureuse (Der glückliche Tod) nachgegangen. Siehe Maurice Weyem-
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Gilbert Merlio
auch ihre Grenzen herauszuarbeiten. Da Camus der deutschen Sprache nicht mächtig war, hat er Nietzsche in den damaligen französischen Übersetzungen gelesen (einschließlich des noch als wissenschaftlich fundiert angesehenen Werkes Der Wille zur Macht). Er kannte auch die in französischer Sprache damals zugängliche Sekundärliteratur, also nicht nur Charles Andler, Daniel Halevy, Georges Bataille, Jean Garnier, Thierry Maulnier, Geneviève Bianquis, Pierre Lasserre, sondern auch die damals schon übersetzten Arbeiten von Walter Kaufmann, Erich F. Podach, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Georg Lukács, um nur einige Namen zu nennen.4 Schon 1932 veröffentlichte Camus – mit gerade einmal 19 Jahren – einen Essay Über die Musik, in dem er sich mit der Musikästhetik Schopenhauers und Nietzsches beschäftigt. Eine recht schulmäßige Übung, die aber schon das Thema des Pessimismus der Stärke anschneidet: »Während Schopenhauer zu einem unfruchtbaren Pessimismus gelangte, vertrat Nietzsche einen Optimismus, der im Rausch des Leidens gründet« (O 1, S. 529). Mit einer intensiveren Lektüre der Werke Nietzsches hat Camus 1938 begonnen. Im Mai dieses Jahres findet man die erste Erwähnung Nietzsches in den Carnets. Camus liest gerade Der Antichrist und notiert Nietzsches These, der zufolge Luther das Christentum gerettet habe gegen die Werte der Liebe und des Lebens, die der Renaissance-Mensch Cesare Borgia vertreten habe. Unmittelbar darauf folgt eine Bemerkung, die vom Interesse Camus’ für eine Art des ›leichtfüßigen‹ Philosophierens zeugt: »Was mich an einer Idee anzieht, ist das Pikante und Originelle an ihr – das Neue und Oberflächliche. Das muss ich zugeben« (O 2, S. 850). Bei Nietzsche hat Camus wahrscheinlich denselben »Instinkt der Verwandtschaft« gespürt, den Nietzsche bei seiner Entdeckung Dostojewskijs empfand.5 Nicht nur das Werk, sondern auch der Mensch Nietzsche scheinen ihn gefesselt zu haben. Da mögen persönliche Ähnlichkeiten eine Rolle gespielt haben, insbesondere die Krankheit, die bei beiden den Sinn für das Absurde und Tragische des Lebens zweifelsohne verschärft hat.6 Auch an den Stellen, an denen er
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bergh: Une lecture nietzschéenne de La mort heureuse. In: Ders.: Albert Camus ou la mémoire des origines. Brüssel 1998, S. 75–84. Eine Liste der reichen Nietzsche-Literatur, die in der Bibliothek Camus’ vorhanden war, findet man in Frantz Favre: Quand Camus lisait Nietzsche. In: Raymond Gay-Crosier (Hg.): Le premier homme en perspective. Paris 2004, S. 192–206. Brief an Overbeck vom 23. Februar 1887 (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in acht Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1986. Bd. 8: Die Wanderjahre. Januar 1887 – Januar 1889. Nachträge. Gesamtregister, S. 27). Maurice Weyembergh, dessen Aufsätzen über das Verhältnis zwischen Nietzsche und Camus dieser Beitrag viel verdankt, weist auf andere biographische Gemeinsamkeiten hin (M. Weyembergh: Une lecture nietzschéenne de La mort heureuse (Anm. 3), S. 41f.).
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Nietzsche kritisiert und die Gefahren seines Denkens unterstreicht, bringt ihm Camus viel Verständnis und Empathie entgegen. Im November 1954 ist Camus in Turin, wo er sich das Haus Nummer 6 in der Via Carlo Alberto ansieht, in dem Nietzsche in geistige Umnachtung fiel: »Ich habe die Erzählung von der Ankunft Overbecks, von seinem Eintritt ins Zimmer, in dem Nietzsche irre redet, von der Bewegung, mit der dieser sich weinend in die Arme Overbecks stürzt, niemals lesen können, ohne selbst zu weinen. Vor diesem Haus versuche ich an ihn zu denken, den ich immer mit ebenso großer Zärtlichkeit wie Bewunderung geliebt habe, aber vergebens«.7 In einem Brief aus der Zeit, in welcher er L’homme révolté zu Ende schreibt, rühmt er Nietzsches stoische Haltung: »Er ist der einzige Mensch [wohlgemerkt Mensch, nicht Philosoph], dessen Schriften mich damals beeinflusst haben. Ich habe mich dann von ihm entfernt. Nun aber kommt er wieder zum richtigen Zeitpunkt zu mir. Er lehrt, das zu lieben, was ist, sich auf alles zu stützen, angefangen mit dem Schmerz […]. Das macht den großen Stil aus, wie er sagt: sein Glück wie sein Unglück meistern«.8 Mehr noch als ein philosophischer Erzieher scheint Nietzsche für Camus also ein menschliches Ideal gewesen zu sein: N. verwirklicht. Vervielfachung der Experimente, aber beherrscht, orientiert auf das größte Sein und die höchste Epoche, mit extremer Freiheit, aber auch der Disziplin gemäß – als andauernde Prüfung ein unaufhörlich riskiertes Leben – eine akzeptierte und verschwenderische Einsamkeit, die nur vor dem Wesen der Welt sich beugt, heimlich. Nicht mehr bloß reden, sondern handeln, um einem höheren Wort einen Sinn zu geben […].9
Die Geistesverwandtschaft kommt aber auch in der Art des Philosophierens zum Vorschein. Beide sind Dichterphilosophen, die sich weigern, ein philosophisches System aufzubauen. Wie Nietzsche in der Götzen-Dämmerung, so meint auch Camus: »Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit« (KSA 6, S. 63). Er betonte wiederholt, er sei kein Philosoph; für ihn seien Philosophie und Literatur nicht zu trennen, da man doch am besten in Bildern denke. Daher Camus’ Diktum: »Wenn Du Philosoph sein willst, schreibe Romane« (O 2, S. 800). Wenn Camus auch nicht
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»Je n’ai jamais pu lire sans pleurer le récit de l’arrivée d’Overbeck, son entrée dans la pièce où Nietzsche fou délire, puis le mouvement de celui-ci qui se jette dans les bras d’Overbeck en pleurant. Devant cette maison j’essaie de penser à lui que j’ai toujours aimé d’affection autant que d’admiration, mais en vain« (O 4, S. 1200). Zitiert in Olivier Todd: Albert Camus. Une vie. Paris 1996, S. 510. »N. réalisé. Multiplication des expériences mais dominées orientées vers le plus grand être et la plus haute époque, par la liberté extrême mais selon la discipline – et la vie risquée sans trêve comme une satisfaction permanente – une solitude acceptée et prodigue, inclinée seulement devant l’être du monde, secrètement. Ne plus dire mais faire pour donner un sens à une parole plus haute […]« (O 4, S. 1257).
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wie Nietzsche in Aphorismen geschrieben hat, ist die Neigung zu aphoristischen Formulierungen bei ihm öfters anzutreffen. Wie Nietzsche schätzt er die französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Gelegentlich hat Camus von sich behauptet, er sei eher ein Moralist; in welchem Sinne, wird sich im Folgenden noch herausstellen. Für Nietzsche wie für Camus ist die Philosophie nicht vom Philosophen zu trennen: Man denkt, wie man ist. Jede Philosophie baut auf den eigenen Erfahrungen des Philosophen auf. »Die Philosophien sind so viel wert wie die Philosophen. Je größer der Mensch, desto wahrer die Philosophie«10 – eine Aussage, die sich als genuin nietzscheanisch entpuppt. Bei beiden steht nicht die theoretische, sondern die praktische Philosophie im Vordergrund. In einem Interview aus dem Jahre 1945 behauptet Camus: »Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Was mich interessiert, ist zu wissen, wie man sich zu verhalten hat. Genauer gesagt: wie man sich zu verhalten hat, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt«.11 Mit diesem Zitat sind wir schon bei den Voraussetzungen des Philosophierens bei beiden angelangt. Der Ausgangspunkt ist die Feststellung des Nihilismus, der apriorischen Sinnlosigkeit des Lebens. Die Grundfrage lautet also bei beiden: Wie kann man leben, wenn nichts einen Wert hat, an den man zu glauben vermag? Der bekannte erste Satz des Sisyphos-Essays lautet: »Es gibt nur ein einziges, wahrhaft ernsthaftes philosophisches Problem, und das ist der Selbstmord« (O 1, S. 221). Zuvor wurde der Selbstmord, wie bei Durckheim, nur als soziales Problem behandelt. Camus will an dieses Thema philosophisch herangehen. Warum lohnt es sich zu leben, wenn man alle Gründe hätte, auf das Leben zu verzichten? Die Fragestellung erinnert an den schmerzlichen Ausruf des Silen im dritten Kapitel der Geburt der Tragödie (KSA 1, S. 35) und an die auch in diesem Zusammenhang angeführte Hamlet-Frage: »to be or not to be«. Später nannte Nietzsche den Selbstmord die »That des Nihilismus« (KSA 13, S. 222). Camus beruft sich dankbar auf Nietzsche, weil dieser als Erster mit solcher Konsequenz die wuchtige Präsenz des Nihilismus im modernen Europa diagnostiziert hat. Er verkörpere »das akuteste Bewusstsein des Nihilismus« (O 3, S. 127): »Er hat den Nihilismus erkannt und ihn wie eine klinische Tatsache untersucht. Er nannte sich den ersten vollendeten Nihilisten Europas. Nicht aus Neigung, sondern als Tatbestand, und weil er
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»Les philosophies valent ce que valent les philosophes. Plus l’homme est grand, plus la philosophie est vraie« (O 2, S. 816). »Je ne suis pas un philosophe. Je ne crois pas assez à la raison pour croire à un système. Ce qui m’intéresse, c’est de savoir comment il faut se conduire. Et plus précisement comment on peut se conduire quand on ne croit ni en Dieu ni en la raison« (E, S. 1427).
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zu groß war, um die Erbschaft seiner Zeit zurückzuweisen. Bei sich selbst und bei den anderen hat er das Verschwinden des ursprünglichen Fundaments allen Glaubens diagnostiziert, nämlich des Glaubens an das Leben«.12 Nietzsche hat nicht nur den Tod Gottes, dieses letzten Garanten aller Wahrheiten und Werte, er hat auch alle Formen entlarvt, in denen der Glaube an eine Hinterwelt sich überlebt. Denn er war davon überzeugt, dass die Überwindung des Nihilismus nur auf der Grundlage seiner Vollendung, das heißt eines bewusst gewordenen und akzeptierten Nihilismus, möglich ist. Dies ist auch der Ausgangspunkt von Camus. Bei Nietzsche ist das Ding da, bevor das Wort erscheint. Der Nihilismus hat bei dem Schüler Schopenhauers seine Quelle zunächst in der Erfahrung des von einem blinden Willen getriebenen Lebens, das absurd, fragwürdig, rätselhaft, tragisch erscheint. Die Lösung, um diesen ontologischen Pessimismus zu ertragen und weiter am Leben zu hängen, hatten Nietzsche zufolge die alten Griechen gefunden. Das war die ästhetische Lösung der Tragödie, die leider bald vom ›theoretischen Menschen‹ Sokrates und seinen Nachfolgern zunichtegemacht wurde. Von ihrer Wiedergeburt in der modernen Form des Wagner’schen Gesamtkunstwerks versprach sich damals Nietzsche die Heilung der modernen Krise. Später schilderte er die ›Heraufkunft des Nihilismus‹, das heißt die fortschreitende Diskreditierung der (platonischen, christlichen und nachchristlichen) Metaphysik, deren Konstrukte nur das Tragische und Sinnlose des Lebens zu verschleiern versuchten. Die ästhetische Lösung der schopenhauerischen Zeit wurde nun auch ins Reich der Metaphysik verbannt. Die Selbstentlarvung der Metaphysik als Fabel öffnete in der Moderne erneut den Blick für das Absurde des Lebens. Das Werk von Camus ist nicht zu verstehen, wenn man vom geschichtlichen Kontext absieht. Das Absurde und die Revolte wären bei ihm nicht so präsent ohne die »seltsame Niederlage« (Marc Bloch) von 1940, ohne die Besetzung Frankreichs und die Erfahrung des Totalitarismus – sowohl in der Form des Nationalsozialismus als auch in jener des Bolschewismus – und auch nicht ohne den für ihn schmerzlich empfundenen Algerienkrieg. Über die Bedeutung von Camus’ Engagement als Widerstandskämpfer, Journalist, Dramaturg und Schriftsteller gilt es im Folgenden noch nachzudenken. Es hebt sich deutlich von der Politikferne
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»Il a reconnu le nihilisme et l’a examiné comme un fait clinique. Il se disait le premier nihiliste accompli de l’Europe. Non par goût, mais par état, et parce qu’il était trop grand pour refuser l’héritage de son époque. Il a diagnostiqué en lui-même, et chez les autres, l’impuissance à croire et la disparition du fondement primitif de toute foi, c’est-à-dire la croyance à la vie« (O 3, S. 116).
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Nietzsches, genauer von dessen völlig irrealistischem, in mancher Hinsicht gefährlichem »ästhetisierendem Platonismus« (Henning Ottmann) ab. Das Gefühl des Absurden wird von Camus andererseits als ein metaphysisches und moralisches Unbehagen wahrgenommen, das die europäische Intelligenz befallen hat. In seiner Abhandlung über Sisyphos (1942) will er diese allgemeine Stimmung der Zeit theoretisch erschließen, was ihm gleichzeitig erlaubt, nach der Lektüre von Pascal, Kierkegaard, Nietzsche, Husserl, Chestov, Jaspers und vielen anderen mehr zur eigenen Philosophie zu finden. Denn die Zeit bringt nur auf akute Weise die Grundbefindlichkeit des Menschen zum Vorschein, der sich in einer ihm fremden Welt heimatlos fühlt: Welches ist somit dieses unberechenbare Gefühl, das den Geist seines lebensnötigen Schlafes beraubt? Eine Welt, die man erklären kann, auch mit schlechten Gründen, ist eine Welt, in der man sich heimisch fühlt. Aber in einer Welt, die plötzlich ihrer Illusionen und ihres Lichts beraubt ist, fühlt sich der Mensch wie ein Fremder. Dieses Exil ist ausweglos, denn es ist der Erinnerung an eine verlorene Heimat und der Hoffnung auf ein verheißenes Land beraubt. Dieser Riss zwischen dem Menschen und seinem Leben, dem Schauspieler und dem Bühnenbild, ist an und für sich das Gefühl des Absurden.13
Eine Polarität kennzeichnet das Absurde bei Camus: »Das Absurde entsteht durch diese Konfrontation zwischen dem menschlichen Anspruch [l’appel humain] und dem unvernünftigen Schweigen der Welt« (O 1, S. 238). Die zerrissene, sinnlose Welt enttäusche das Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Einheit und Verständnis: Verstehen heiße vereinheitlichen (O 1, S. 230f.). Dies mag eher an Kant als an Nietzsche erinnern, ist doch auch bei Kant die Vereinheitlichung ein Bedürfnis der Vernunft. In einer anderen Textpassage, in der Camus die Verwandtschaft seines Gefühls des Absurden mit dem Ekel (»la nausée«) von Sartre hervorhebt, wird das Absurde durch das Unbehagen definiert, das die »Inhumanität« des Menschen erzeugt, ein Gefühl, das zum Beispiel entsteht, wenn wir jemanden in einer Telefonzelle reden sehen, ohne seine Worte zu verstehen (O 1, S. 229). Etwas im Menschen hält diese Situation für absurd, das heißt für unvereinbar mit seiner wahren Bestimmung: »Es kann kein Absurdes geben außerhalb des menschlichen Geistes« (O 1, S. 240). Hier erscheint also schon der Mensch mit seinem Anspruch als der Widerpart der absur-
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»Quel est donc cet incalculable sentiment qui prive l’esprit du sommeil nécessaire à sa vie? Un monde qu’on peut expliquer même avec de mauvaises raisons est un monde familier. Mais au contraire, dans un univers soudain privé d’illusions et de lumières, l’homme se sent un étranger. Cet exil est sans recours puisqu’il est privé des souvenirs d’une patrie perdue ou de l’espoir d’une terre promise. Ce divorce entre l’homme et sa vie, l’acteur et son décor, c’est proprement le sentiment de l’absurdité« (O 1, S. 223).
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den Welt. Der Keim der Philosophie der Revolte ist darin enthalten, denn das Absurde existiert nur, wenn ich mich dagegen auflehne. Deshalb kann Camus in seinem Vorwort schreiben, er betrachte das Absurde nicht mehr als einen Abschluss, sondern als einen Ausgangspunkt, der zukünftigen Positionen nicht vorgreife (O 1, S. 219). Fürs Erste aber verpflichtet der Ausgangspunkt. Vom Gefühl des Absurden soll man zum Willen zum Absurden übergehen. Hier bleibt Camus ganz auf der Linie Nietzsches. Die erste Verpflichtung ist die zur Hellsicht, das heißt zur Erkenntnis und sogar Bejahung des Absurden. Camus verurteilt als »philosophischen Selbstmord« den »Sprung«, den die Existenzphilosophen ausführen, indem sie ihrer eigenen Prämisse, der von ihnen selber gestellten Diagnose von der Absurdität des Lebens, ausweichen und den Rekurs auf die Transzendenz predigen (das von Kierkegaard wieder aufgenommene ›credo quia absurdum‹). Der Mensch soll sich der »absurden Mauern« bewusst bleiben, die ihn, angefangen mit dem Tod, umstellen und seiner Handlung den Charakter des Fragwürdigen, Gleichgültigen, Prekären, Vergänglichen, Unvollendeten verleihen. Weder die Hoffnung auf eine Transzendenz noch der Selbstmord seien Auswege für den absurden Menschen. Die Lösung kann er nur in einer Art ›fröhlicher Wissenschaft‹ finden, die, wie Camus sagt, zur »Leidenschaft« (O 1, S. 234) wird und den Preis der Welt umso höher ansetzt, als sie ihn nicht mehr von anderswoher erhält. Camus zitiert einen Spruch aus Nietzsches Zarathustra: »›Von Ohngefähr‹ – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke« (O 1, S. 235).14 Diese Entbindung vom Zweck, von jeder transzendenten ewigen Norm (also der Tod Gottes) ist bei Camus wie bei Nietzsche die Bedingung einer bisher unbekannten Freiheit und Unschuld des Menschen: »Ich kann nicht verstehen, was eine Freiheit, die mir von einem höheren Wesen gewährt wäre, sein kann. […] Wenn aber das Absurde alle meine Chancen auf eine ewige Freiheit zunichte macht, gibt es mir meine Handlungsfreiheit zurück und erhöht sie. Dieses Versagen von Hoffnung und Zukunft bedeutet eine Steigerung der Disponibilität des Menschen«.15 Die Zweck- und Sinnlosigkeit des Lebens entwerten es nicht, sondern vermehren vielmehr dessen Wert: »Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben« (E, S. 44). Oder umgekehrt: »Alles, was das Le-
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Vgl. KSA 4, S. 209. Die von Camus zitierte Übersetzung entfernt sich vom Text Nietzsches: »Par hasard, c’est la plus vieille noblesse du monde. Je l’ai rendue à toutes les choses quand j’ai dit qu’au-dessus d’elles aucune volonté éternelle ne voulait«. »Je ne puis comprendre ce que peut être une liberté qui me serait donnée par un être supérieur. […] Or si l’absurde annihile toutes mes chances de liberté éternelle, il me rend et exalte au contraire ma liberté d’action. Cette privation d’espoir et d’avenir signifie un accroissement dans la disponibilité de l’homme« (O 1, S. 258).
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ben steigert, verstärkt auch seine Absurdität. Im algerischen Sommer lerne ich, dass eine einzige Sache noch tragischer ist als das Leiden, nämlich das Leben eines glücklichen Menschen«.16 Das Bewusstsein der Vergänglichkeit des Glückes macht seinen tragischen Charakter aus. Dennoch besteht die »heroische Pflicht« des Glückes weiter. Nur unter der Voraussetzung der Bejahung des Absurden findet der Mensch zu seiner wahren Größe: Schickt man sich an zu sterben, durch den Sprung auszuweichen, sich einen maßgeschneiderten Ideen- und Formenbau zu schaffen? Schickt man sich im Gegenteil an, die wunderbare und schmerzhafte Wette des Absurden einzugehen? Machen wir in dieser Hinsicht eine letzte Anstrengung und ziehen wir unsere letzten Konsequenzen. Der Körper, die Zärtlichkeit, die Schöpfung, die Tat, der menschliche Adel werden dann in dieser sinnlosen Welt wieder ihren Platz einnehmen. Der Mensch wird dort endlich den Wein des Absurden und das Brot der Gleichgültigkeit wiederfinden, von denen sich seine Größe nährt.17
Vom Ewigen befreit, will sich Camus mit der Zeit verbünden (O 1, S. 278). Eine Maxime von Pindar ist als Motto dem Essay über Sisyphos vorangestellt: »O meine Seele, verlange nicht nach dem ewigen Leben, sondern erschöpfe das Feld des Möglichen« (O 1, S. 217). Diese Oszillation zwischen Nein und Ja, zunächst dem Nein des Nihilismus und der Bejahung des Lebens im Nihilismus, zwischen dem Elend des Menschen und dem Leben in der Sonne, ist eine Thematik, die Camus bereits in seinen ersten, 1937 erschienenen Essays L’Envers et l’endroit (Licht und Schatten) aufgegriffen hat. Vier andere Texte, die wie die erste Sammlung den Weg zur Abhandlung über das Absurde eröffnen, erscheinen zwei Jahre später unter dem Titel Les Noces (Hochzeit des Lichts). Hier wird in einer lyrischen Sprache, die an manche Lieder und Dithyramben Nietzsches erinnert (der Einfluss von André Gides Uns nährt die Erde ist wahrscheinlich auch nicht gering zu schätzen),18 die Verschmelzung mit der
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»Tout ce qui exalte la vie, accroît en même temps son absurdité. Dans l’été d’Algérie, j’apprends qu’une seule chose est plus tragique que la souffrance et c’est la vie d’un homme heureux« (O 1, S. 125). »Va-t-on mourir, échapper par le saut, reconstruire une maison d’idées et de formes à sa mesure? Va-t-on au contraire soutenir le pari déchirant et merveilleux de l’absurde? Faisons à cet égard un dernier effort et tirons toutes nos conséquences. Le corps, la tendresse, la création, l’action, la noblesse humaine, reprendront alors leur place dans ce monde insensé. L’homme y retrouvera enfin le vin de l’absurde et le pain de l’indifférence dont il nourrit sa grandeur« (O 1, S. 255). Im engen Rahmen dieses Aufsatzes lässt sich der Frage nach dem Einfluss Gides auf Camus nicht weiter nachgehen. Als Gide im Jahre 1951 starb, fasste Camus sein Verhältnis zu ihm in dem kurzen Text Rencontres avec André Gide zusammen (O 3, S. 881– 885). Dort erklärt er, dass er erst bei der zweiten Lektüre von Uns nährt die Erde das »Evangelium der Entblößung« (»l’évangile du dénuement«), das heißt der Befreiung von
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Sonne und dem Meer besungen. Der Mensch ist beseelt vom doppelten Bewusstsein seines unentrinnbaren Todes und seiner Sehnsucht nach Dauer. Er lernt, dass er auf nichts zählen kann und ihm nur die Gegenwart als Wahrheit zur Verfügung steht: »Die Welt ist schön. Außer ihr gibt es kein Heil«.19 »Die einzige Wahrheit«, die dem Menschen gegeben sei, »ist die des Körpers«.20 Was in diesen Texten gelehrt wird, die im vollen Bewusstsein der Zwecklosigkeit und der Vergänglichkeit des Lebens das Glück des Augenblicks, den heidnischen Genuss der Sinne, die Schönheit der Natur und die Liebe verherrlichen, ist nichts anderes als die Treue zur Erde, die Zarathustras Evangelium zugrunde liegt: »Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, liegt sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, ein anderes Leben zu erhoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen«.21 Einer dieser Texte, der über eine Reise nach Florenz und durch die Toskana berichtet, trägt den Titel Die Wüste – eine Metapher, die bei Nietzsche sowohl die Landschaft des Nihilismus als auch die asketische Einsamkeit des schöpferischen Menschen symbolisiert;22 die Wüste als derjenige Ort, an dem eisige Kälte und brennende Hitze ineinander übergehen, in einer Mischung, die sowohl Nietzsche als auch Camus zu schätzen wissen. Dass diese (Dennoch-)Lebenslust, die Freude an der Schönheit der Welt und am Genuss der Sinne sich am besten in einer südlichen, mediterranen, ja griechischen Landschaft entfalten können, ist ein weiterer Punkt, in dem Camus und Nietzsche übereinstimmen. Die Griechen sind auch für ihn vorbildliche Menschen, die es verstanden, trotz der Tragik des Lebens dessen ungeheure Schönheiten und Schätze ›hic et nunc‹ zu genießen und zu zelebrieren. Camus erkennt dabei aber auch die Gefahr der dionysischen Einheitserfahrung, die zu einer Versuchung oder zu einer Art »hedonistischem Selbstmord« werden kann: Und diese Welt macht mich zunichte. Sie trägt mich bis ans Ende. Sie leugnet mich ohne Zorn. […] ich aber schritt einer Wahrheit entgegen, in der schon alles erobert war, wären mir nicht Tränen in die Augen gestiegen und hätte mich
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allem Menschlichen gefunden habe, die erst das liebevolle Einswerden mit der Erde erlaubt (O 3, S. 882). »Le monde est beau, et hors de lui, point de salut« (O 1, S. 135). »L’immortalité de l’âme, il est vrai, préoccupe beaucoup de bons esprits. Mais c’est qu’ils refusent, avant d’en avoir épuisé la sève, la seule vérité qui leur soit donnée et qui est le corps« (O 1, S. 129). »Car s’il y a un péché contre la vie, ce n’est peut-être pas tant d’en désespérer que d’espérer une autre vie, et se dérober à l’implacable grandeur de celle-ci« (O 1, S. 125). Vgl. im Zarathustra: »In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als der Wüste Herren« (KSA 4, S. 133); siehe auch Zur Genealogie der Moral (KSA 5, S. 351).
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das schwere Aufschluchzen der Dichtung, das mich erfüllte, nicht die Wahrheit der Welt vergessen lassen.23
Die Rückkehr des dichterischen Subjekts inmitten der dionysischen Ekstase erinnert an die Funktion des Apollinischen bei Nietzsche. Sie zeugt zugleich von der anhaltenden Dualität oder Polarität zwischen Mensch und Welt, ein Zug, der bei Camus immer deutlicher hervortreten und den Unterschied zu Nietzsche markieren wird. Das Thema des ›amor fati‹ erklingt auch in der Abhandlung über das Absurde (so lautete der ursprüngliche Titel von Der Mythos des Sisyphos). In einer Situation, die keinen transzendenten Horizont mehr zulässt, in der der Mensch sich fortwährend an den ›absurden Mauern‹ stößt, kann es nur darum gehen, das Leben zu steigern: Wenn ich mich davon überzeuge, dass dieses Leben kein anderes Gesicht hat als das des Absurden, wenn ich empfinde, dass sein ganzes Gleichgewicht an dem fortwährenden Gegensatz zwischen meiner bewussten Revolte und der Dunkelheit hängt, in der sie ringt, wenn ich annehme, dass meine Freiheit nur im Verhältnis zu ihrer Begrenztheit einen Sinn erhält, dann muss ich mir sagen, dass das, was zählt, nicht darin besteht, am besten zu leben, sondern so viel wie möglich zu leben. […] Denn auf der einen Seite lehrt das Absurde, dass alle Erfahrungen gleichgültig sind, und auf der anderen Seite treibt es zu der größtmöglichen Zahl von Erfahrungen an.24
Jedes gesunde Wesen ist geneigt, sich zu vervielfachen. Um diese ›Ethik der Quantität‹ zu erklären, zitiert Camus den Aphorismus 188 aus Jenseits von Gut und Böse: »›Deutlich wird, dass das Wesentliche im Himmel und auf Erden darin besteht, lange und in einer Richtung zu gehorchen: Auf die Dauer resultiert daraus etwas, dessentwillen es sich lohnt, auf dieser Erde zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, irgend etwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles oder Göttliches‹«.25 Das,
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»Et ce monde m’annihile. Il me porte jusqu’au bout. Il me nie sans colère. […] je m’acheminais vers une sagesse où tout était déjà conquis, si des larmes ne m’étaient venues aux yeux et si le gros sanglot de poésie qui m’emplissait ne m’avait fait oublier la vérité du monde« (O 1, S. 135f.). »Si je me persuade que cette vie n’a d’autre face que celle de l’absurde, si j’éprouve que tout son équilibre tient à cette perpétuelle opposition entre ma révolte consciente et l’obscurité où elle se débat, si j’admets que ma liberté n’a de sens que par rapport à son destin limité, alors je dois dire que ce qui compte n’est pas de vivre le mieux mais de vivre le plus. […] Car d’une part l’absurde enseigne que toutes les expériences sont indifférentes et de l’autre, il pousse vers la plus grande quantité d’expériences« (O 1, S. 260f.). »›Il apparaît clairement que la chose principale au ciel et sur la terre est d’obéir longtemps et dans une même direction: à la longue il en résulte quelque chose pour quoi il vaille la peine de vivre sur cette terre comme par exemple la vertu, l’art, la musique, la
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was nach Nietzsche eine große Moral kennzeichnet, soll die Lebensregel des absurden Menschen sein: sich wiederholten Erfahrungen beziehungsweise Wagnissen hinzugeben. Camus exemplifiziert nun diese Ethik der Quantität, die sich von der an transzendenten ewigen Werten orientierten Ethik der Qualität des Heiligen unterscheidet und von der tiefen Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit der Dinge ausgeht, an drei Gestalten: an Don Giovanni, an der Gestalt des Eroberers und an jener des Schauspielers. Es sind Typen, die sich für die Immanenz entschieden haben. Don Giovanni erschöpft sich selbst, indem er alle Möglichkeiten des Liebeslebens ausschöpft. »Wenn ich die vita activa wähle«, sagt der Eroberer, »sollt Ihr nicht glauben, dass mir die vita contemplativa ein unbekanntes Land ist. Aber sie kann mir nicht alles geben, und des Ewigen ledig, will ich mich mit der Zeit verbünden«.26 Der Eroberer weiß um die Vergänglichkeit und den Illusionscharakter der eroberten Reiche. Wenn er die Wörter Sieg und Überwindung gebraucht, dann meint er eigentlich Selbstüberwindung. Der Schauspieler verkörpert seinerseits ebenfalls den absurden Menschen, denn er gründet seinen Ruhm auf wiederholte vergängliche Rollen beziehungsweise Schöpfungen und weiß, dass der Schein das Sein ausmacht, was an manche Aussagen Nietzsches über die scheinbare Welt als die einzig wahre erinnert. Mit einem verkürzten Zitat aus den Vermischten Meinungen und Sprüchen (KSA 2, S. 534) rechtfertigt Camus die Funktionsweise des absurden Menschen: »Worauf es ankommt, sagte Nietzsche, ist nicht das ewige Leben, sondern die ewige Lebendigkeit« (O 1, S. 276). Camus interpretiert die Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen im Sinne einer produktiven Wiederholung (O 4, S. 1181). Die Intensivierung des Lebens erfolgt auf dem Weg der Wiederholung oder der Duplikation. Eine Form der Intensivierung ist die Kunst. »Die absurde Freude par excellence ist die Schöpfung«, formuliert Camus, der sich hier wiederum auf Nietzsche beruft: »Die Kunst und nichts als die Kunst, sagte Nietzsche, wir haben die Kunst, um nicht gänzlich an der Wahrheit zu sterben«.27 Das absurde Kunstwerk verdoppelt und erhöht die absurde Welt und erlaubt es zugleich dem menschlichen Bewusstsein, sich darin zu behaupten: »Für einen Menschen, der sich vom Ewigen abgewendet hat, ist das ganze Dasein nichts als ein maßloser Mime unter der Maske des Absurden. Die
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danse, la raison, l’esprit, quelque chose qui transfigure, quelque chose de raffiné, de fou ou de divin‹« (O 1, S. 263). »Si je choisi l’action, ne croyez pas que la contemplation me soit comme une terre inconnue. Mais elle ne peut tout me donner, et privé de l’éternel, je veux m’allier au temps« (O 1, S. 279). »À cet égard, la joie absurde par excellence, c’est la création. ›L’art et rien que l’art, dit Nietzsche, nous avons l’art pour ne point mourir de la vérité‹« (O 1, S. 283).
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Schöpfung ist der große Mime«.28 Die absurde Schöpfung hat die Welt des Absurden zu beschreiben, ohne ihr einen Sinn anzudichten, wobei sie sich ihrer eigenen Grenzen und Endlichkeit bewusst bleiben soll. Sie ist letztlich nur ein Spiel mit dem Schein. Auf dieser Ebene teilt Camus die Meinung Nietzsches: »Die absurde Welt hat nur eine ästhetische Rechtfertigung« (O 2, S. 974). Auch aus dieser Perspektive der produktiven Wiederholung lässt sich erklären, warum Sisyphos sich schließlich mit seinem absurden Los zufriedengibt. Sisyphos ist der absurde Held, der sein ungerechtes und rätselhaftes Los schließlich bejaht. Er verachtet die Götter und weiß, dass sein Leben unwiderruflich elend und absurd ist. Aber seine Leiden und seine Freuden gehören ihm. Wenn er vom Berg heruntersteigt, auf den er wieder einmal seinen Felsen hinaufgewälzt hat (das unaufhörliche Auf- und Absteigen symbolisiert selbstverständlich die ewige Wiederkehr des Gleichen und erinnert auch an die Auf- und Untergänge des Zarathustra), fühlt er sich froh, weil er im Augenblick, da er sein Schicksal bejaht, dessen Herr wird. Das vom Schicksal aufgezwungene Pensum wird in diesem Augenblick zum Menschenwerk. Die letzten Sätze der Schrift sind berühmt: »Allein der Kampf, um zu den Gipfeln zu gelangen, genügt, um ein Menschenherz zu erfüllen. Man muss sich Sisyphos glücklich vorstellen« (O 1, S. 304). Camus’ Pessimismus ist ein Pessimismus der Stärke im Sinne Nietzsches. Der ›amor fati‹ ist nicht das Geständnis einer Niederlage, einer Ergebenheit, eines Verzichts. Eben weil der Mensch fähig ist, das Absurde seines Daseins zu erkennen und zu bejahen, gerät er in die Lage, es zu meistern: »Das Absurde hat nur Sinn, insofern man ihm nicht zustimmt« (E, S. 121). Bejahung bedeutet jedoch gerade nicht Zustimmung. Sie ist vielmehr der erste Akt der Revolte, denn die Befreiung von den Illusionen der Hinterwelten entfesselt die menschliche Freiheit. Camus erklärt: »Ich ziehe aus dem Absurden drei Konsequenzen: meine Revolte, meine Freiheit und meine Leidenschaft. Durch das bloße Spiel des Bewusstseins mache ich das zur Lebensregel, was Einladung zum Tode war – und ich lehne den Suizid ab«.29 Das Bewusstsein des Absurden soll, um ein von Nietzsche auf die Kunst angewandtes Bild zu gebrauchen, kein Quietiv, sondern ein Stimulans des Lebens sein, das uns dazu anregt, intensiv und schöpferisch zu leben. Leben bedeutet, das Absurde leben zu lassen. Es leben zu lassen heißt vor allem, es direkt anzublicken. Im Gegensatz zu Eurydike stirbt das Absurde nur,
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»L’existence tout entière, pour un homme détourné de l’éternel, n’est qu’un mime démesuré sous le masque de l’absurde. La création, c’est le grand mime« (O 1, S. 284). »Je tire ainsi de l’absurde trois conséquences qui sont ma révolte, ma liberté et ma passion. Par le seul jeu de la conscience, je transforme en règle de vie ce qui était invitation à la mort – et je refuse le suicide« (O 1, S. 263).
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wenn man sich von ihm abwendet. Eine der einzigen sinnvollen philosophischen Haltungen ist die Revolte. Sie ist eine ständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Dunkelheit. Sie ist beständige Forderung einer unmöglichen Durchsichtigkeit.30
Die Opposition des Ja und des Nein nimmt nun ein anderes Gesicht an: Das Ja zur sinnlosen Welt paart sich mit dem sinnstiftenden Nein der Revolte. Camus bezeichnete den ersten Zyklus seiner Werke als »les absurdes«, die absurden Schriften. Dazu zählen der Roman Der Fremde (1942) sowie die Theaterstücke Das Missverständnis (1944) und Caligula (1945). Sie sind nicht allein deshalb interessant, weil sie das Absurde veranschaulichen, sondern auch, weil sie den Übergang von einer Philosophie des Absurden zu einer Philosophie der Revolte gewährleisten und somit eine mindestens teilweise Abkehr von der Philosophie Nietzsches vorbereiten. In Der Fremde verkörpert Meursault den absurden Menschen, der jener Gesellschaft, in der er lebt, völlig ›fremd‹ gegenübersteht, ihre moralischen Regeln nicht einhält, nicht ganz genau weiß, warum er so handelt, wie er – schuldig oder unschuldig – handelt (er erschießt fast unwillkürlich einen Araber), seinen ungerechten Prozess wie sein vorhergehendes Leben mit der größten Gleichgültigkeit über sich ergehen lässt, bis er trotzdem eine gewisse Rebellion an den Tag legt, indem er die Kooperation mit der Justiz und die tröstende Hilfe des Priesters vor seiner Hinrichtung sogar noch als absurde Phänomene von sich weist. Im Missverständnis wird ein Sohn, der sich nach einer langen Abwesenheit nicht zu erkennen gegeben hat, von seiner Mutter und seiner Schwester vergiftet, welche dann Selbstmord begehen. Dieses Stück greift das antike Motiv des Fatums wieder auf, plädiert aber, wie Camus in einem Vorwort erklärt, nicht für die Unterwerfung unter das Schicksal, sondern für eine »Moral der Wahrhaftigkeit«, »une morale de la sincérité« (O 1, S. 507): Verhehlt man, wer man ist, dann führt das zum Unglück und zum Tod für sich und die Nächsten; im umgekehrten Fall stirbt man zwar, aber nachdem man sein eigenes Leben und das der anderen gefördert hat. Deshalb sei Das Missverständnis bereits ein »Stück der Revolte«. Absurd ist die Demütigungs- und Mordgier des Kaisers Caligula, der sich so verhält, weil er das Absurde der Welt und die Kleinheit der Menschen erkannt hat. In seiner Einleitung von 1958 zu der amerikanischen
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»Vivre, c’est faire vivre l’absurde. Le faire vivre, c’est avant tout le regarder. Au contraire d’Eurydice, l’absurde ne meurt que lorsqu’on s’en détourne. L’une des seules positions philosophiques cohérentes, c’est ainsi la révolte. Elle est un confrontement perpétuel de l’homme et de sa propre obscurité. Elle est exigence d’une impossible transparence« (O 1, S. 256).
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Ausgabe Caligula and three other plays hat Camus Caligula als eine »Tragödie der Intelligenz« (O 1, S. 447) gekennzeichnet: Wenn seine Wahrheit darin besteht, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, besteht sein Irrtum darin, die Menschen zu leugnen. Man kann nicht alles zerstören, ohne sich selbst zu zerstören. Deshalb entvölkert Caligula die Welt um sich herum und tut gemäß seiner eigenen Logik das Nötige, um gegen ihn diejenigen zu bewaffnen, die ihn schließlich töten werden. Caligula ist die Geschichte eines höheren Selbstmordes. Es ist die Geschichte des menschlichsten und tragischsten Irrtums. Dem Menschen untreu aus Treue zu sich selbst, willigt Caligula ein zu sterben, weil er verstanden hat, dass kein Wesen sich ganz allein retten und dass man gegenüber den anderen Menschen nicht frei sein kann.31
Die im Widerstand verfassten Briefe an einen deutschen Freund (erst 1945 veröffentlicht) enthalten Elemente, auf welche die spätere Kritik an Nietzsche sich stützen wird. Angesichts der Absurdität und Gleichgültigkeit der Welt hat der deutsche Freund den Weg der Gewalt und der Ungerechtigkeit eingeschlagen. Ihm konnte Camus zwar kein philosophisches Argument entgegensetzen, aber durchaus seine heftige Neigung für die Gerechtigkeit: Ich habe im Gegenteil die Gerechtigkeit gewählt, um der Erde treu zu bleiben. Ich denke weiterhin, dass diese Welt keinen höheren Sinn hat. Aber ich weiß auch, dass etwas in ihr Sinn hat, und dies ist der Mensch, weil er das einzige Wesen ist, das Sinn verlangt. Diese Welt besitzt zumindest die Wahrheit des Menschen, und unsere Aufgabe besteht darin, ihr gegen das Schicksal selbst gerecht zu werden.32
Camus will Erde und Mensch gleichzeitig und in gleichem Maße geachtet wissen. Er fasst den Nationalsozialismus als eine »Revolution des Nihilismus« auf, die den Menschen verstümmelt und die Gerechtigkeit, diesen rein menschlichen Anspruch, missachtet hat. Der Humanismus, der in diesen Briefen laut wird, kulminiert in dem Satz: »Um unserem Glauben treu zu bleiben, müssen wir bei Ihnen das respektieren, was Sie bei den anderen
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»Mais, si sa vérité est de se révolter contre le destin, son erreur est de nier les hommes. On ne peut tout détruire sans se détruire soi-même. C’est pourquoi Caligula dépeuple le monde autour de lui et, fidèle à sa logique, fait ce qu’il faut pour armer contre lui ceux qui finiront par le tuer. Caligula est l’histoire d’un suicide supérieur. C’est l’histoire de la plus humaine et de la plus tragique des erreurs. Infidèle à l’homme, par fidélité à luimême, Caligula consent à mourir pour avoir compris qu’aucun être ne peut se sauver tout seul et qu’on ne peut être libre contre les autres hommes« (O 1, S. 447). »J’ai choisi la justice au contraire, pour rester fidèle à la terre. Je continue à croire que ce monde n’a pas de sens supérieur. Mais je sais que quelque chose en lui a du sens et c’est l’homme, parce qu’il est le seul être à exiger d’en avoir. Ce monde a du moins la vérité de l’homme et notre tâche est de lui donner ses raisons contre le destin lui-même« (O 2, S. 26f.).
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nicht respektieren«.33 Dieser Glaube ist der Glaube an den Menschen, den es auch im unmenschlichen Feind zu respektieren gilt. *** Die Erfahrung und Bejahung des Absurden ist ein erster Schritt, eine notwendige Etappe. Erst die Revolte kann dem Dasein einen Sinn verleihen, so relativ und gefährdet dieser auch sein mag. In seiner Schrift Der Mensch in der Revolte (1951) schickt sich Camus an, nach der Beschreibung des Neins, das heißt des Absurden, das Ja, das Positive, das heißt die sinn- und wertstiftende Revolte des Menschen genauer zu beschreiben. Nach dem Sisyphos-Mythos soll nun der Prometheus-Mythos dargelegt werden. Nicht die Geschichte des Nihilismus, sondern jene der menschlichen Revolte und ihrer verschiedenen Formen, Erfolge und Misserfolge erzählt uns nun Camus. ›Im Lichte der Erfahrung‹34 der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Kriege, in den Konzentrationslagern der Nazis, aber auch im Gulag begangen worden sind, sieht er nun klarer die Problematik der Philosophie des Absurden. Wenn man unmittelbar vom Absurden eine Lebensregel herleitet, dann kann sie auch zur Rechtfertigung des Mordes führen. Das entspricht der Maxime eines Ivan Karamasow: Wenn nichts wahr ist, ist alles erlaubt, also auch der Mord. Camus versucht die Schwierigkeit zunächst auf eine etwas sophistische Weise zu umgehen: Weil das Bewusstsein des Absurden aus der Konfrontation zwischen dem menschlichen Fragen und dem Schweigen der Welt und des Lebens entsteht, würde die Vernichtung des Lebens die Aufhebung des einen Pols bedeuten, was Unsinn wäre: »Um zu sagen, dass das Leben absurd ist, muss das Bewusstsein lebendig bleiben«.35 Das Denken des Absurden schließe also prinzipiell sowohl Mord wie auch Selbstmord aus. Nietzsche wird hier wiederum zu Hilfe gerufen: »Meine Feinde sind diejenigen, die umstürzen wollen und nicht sich selbst erschaffen wollen«.36 Die Analyse der Revolte soll nun diese Positivität betonen, die beim Absurden nicht so evident war.
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»Pour être fidèles à notre foi, nous sommes forcés de respecter en vous ce que vous ne respectez pas chez les autres« (O 2, S. 28). Ich denke hier selbstverständlich an Thomas Manns berühmten Vortrag Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung. »Pour dire que la vie est absurde, la conscience a besoin d’être vivante« (O 3, S. 66). »Ceux-là sont mes ennemis, dit Nietzsche, qui veulent renverser, et non pas se créer euxmêmes« (O 3, S. 68). Es war nicht möglich, dieses Zitat bei Nietzsche ausfindig zu machen; beim vorliegenden Text handelt es sich somit um eine Rückübersetzung.
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Der Mensch revoltiert immer im Namen eines Teils seiner selbst, der ihm als unantastbar erscheint: »Die Analyse der Revolte führt zumindest zur Vermutung, dass es eine menschliche Natur gibt, wie die Griechen es dachten, und im Gegensatz zu den Postulaten des gegenwärtigen Denkens. Warum sollte man rebellieren, wenn man in sich selbst nichts Dauerhaftes zu bewahren hat?«37 Die Revolte setzt also ein Werturteil, eine Entscheidung voraus. Das Ressentiment ist nicht wie im Nietzsche’schen Aufstand der Sklaven in der Moral der Beweggrund der Revolte, die dann nur den Hass auf die Starken und das Leben zum Ausdruck bringen würde. In der Revolte Camus’ paaren sich immer das Ja und das Nein, die Zustimmung zum Leben (das heißt die Ablehnung tröstender Hinterwelten) und die Auflehnung gegen seine Absurdität. Die Revolte ist im Grunde nicht »reaktiv«, sondern »aktiv«, weil sie sich auf ein positives Gut bezieht, das im Menschen zu verteidigen ist. Im ›Lichte der Erfahrung‹ erscheint nun auch das Bild Nietzsches, das im Kapitel über die metaphysische Revolte entworfen wird und recht positiv bleibt. Nietzsches große Verdienste werden unterstrichen: sein ›methodischer Zweifel‹, der alle Masken der »Götzen« durchschaut hat – nicht nur das Christentum, sondern auch seinen feindlichen und ›entarteten‹ Bruder, den Sozialismus – seine Verurteilung der »schändlichen Neigung zum Ausweichen« (»le goût honteux de l’évasion« (O 3, S. 118)), sein Wille, auf der Grundlage des festgestellten Nihilismus eine Umwertung der Werte durchzuführen, die neue Verantwortung, die somit nach dem Tode Gottes dem Menschen zufällt. Insofern ist er ein Vertreter der Revolte. Insgesamt teilt Camus Nietzsches Einschätzung des Christentums. Die Ablehnung jeder metaphysischen Sinnstiftung schließt hauptsächlich die Ablehnung der Religion bzw. des Christentums mit ein. Wie Nietzsche ist Camus von der Figur Jesu Christi angezogen. Nicht weil dieser wie bei Nietzsche etwa die Unschuld des Werdens verkörpert.38 Jesus wird von Camus als eine absurde Figur gedeutet: Ein Gott, der Mensch geworden ist, aber vor allem ein Mensch, der am Kreuz das Absurde seines Loses feststellt: In dieser Hinsicht hat es das Christentum verstanden. Wenn es uns so tief berührt hat, dann wegen seines Mensch gewordenen Gottes. Aber seine Wahrheit und seine Größe hören mit dem Kreuz auf, in diesem Augenblick, in dem er seine Verlassenheit laut beklagt. Man reiße die letzten Seiten des Evangeliums heraus, dann wird uns eine humane Religion, ein Kult der Einsamkeit und
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»L’analyse de la révolte conduit au moins au soupçon qu’il y a une nature humaine, comme le pensaient les Grecs, et contrairement aux postulats de la pensée contemporaine. Pourquoi se révolter s’il n’y a, en soi, rien de permanent à préserver?« (O 3, S. 73). Siehe Aphorismus 33 des Antichrist, wo erklärt wird, dass Jesus die Sünde aufgehoben hat (KSA 6, S. 205f.).
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der Größe angeboten. Ihre Bitterkeit macht sie selbstverständlich unerträglich. Darin liegt jedoch ihre Wahrheit und die Lüge alles Übrigen.39
Nietzsche hat erkannt – und Camus teilt diese Ansicht – dass eine von einer jenseitigen Macht oktroyierte Freiheit keine Freiheit ist. Freiheit kann aber nicht ohne Gesetz bestehen: »Wenn das Schicksal nicht auf einen höchsten Wert hin ausgerichtet ist, wenn der Zufall herrscht, dann hat man das Tappen im Dunkeln, die abscheuliche Freiheit des Blinden«.40 Diesem Dilemma entgeht Nietzsche, Camus zufolge, durch einen Salto mortale. Da die Maxime Ivan Karamasows nicht gelten kann (denn das Chaos wäre auch eine Knechtschaft), mündet seine Revolte in der ständigen Selbstüberwindung und in der Askese, die meint: Da nichts wahr ist, ist nichts gestattet. Dies nennt Camus eine »Sackgasse« im Denken Nietzsches: »Da, wo niemand mehr sagen kann, was weiß und was schwarz ist, erlischt das Licht, und die Freiheit wird zum freiwilligen Gefängnis«.41 Man versteht, was Camus bei Nietzsche vermisst, nämlich eine wertende, ja moralische Instanz, welche die Revolte begründet. Seine Kritik am Nietzsche’schen ›amor fati‹ ist darauf zurückzuführen. Der ›amor fati‹ – an dieser Stelle gebraucht Camus übrigens das Wort nicht – impliziert die Treue zur Erde, die (stoische) Bejahung der Notwendigkeit als höchste Form der Freiheit, die Unterwerfung des Individuums unter das unschuldige kosmische Werden. Dies alles mündet in der Vergöttlichung der zwecklosen Welt und im ausschließlichen Lob jener schöpferischen Tätigkeit, durch die der Mensch an dieser Göttlichkeit teilhaben kann: nämlich der Kunst, die mit dem zwecklosen Spiel des Kindes bei Heraklit verglichen wird und die die Welt mimetisch wiederholt, das heißt es ihr in ihrem Schöpfungsakt gleichtut: »Die Welt bejahen, sie wiederholen bedeutet, sie zugleich in sich selbst wiedererstehen zu lassen, der große Künstler zu werden, der Schöpfer. Die Botschaft Nietzsches kristallisiert sich im Wort Schöpfung, mit dem zweideutigen Sinn, den dieses angenommen hat. Nietzsche hat immer nur den Egoismus und die Härte verherrlicht, die jedem Schöpfer eigen sind«.42 Dieser Versuch der Identifikation mit dem
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»Le christianisme à cet égard l’a compris. Et s’il nous a touchés si avant c’est par son Dieu fait homme. Mais sa vérité et sa grandeur s’arrêtent à la croix, et à ce moment où il crie son abandon. Arrachons les dernières pages de l’Evangile et voici qu’une religion humaine, un culte de la solitude et de la grandeur nous est proposé. Son amertume la rend bien sûr insupportable. Mais là est sa vérité et le mensonge de tout le reste« (O 2, S. 909). »Si le destin n’est pas orienté par une valeur supérieure, si le hasard est roi, voici la marche dans les ténèbres, l’affreuse liberté de l’aveugle« (O 3, S. 121). »Là où nul ne peut plus dire ce qui est noir et ce qui est blanc, la lumière s’éteint et la liberté devient prison volontaire« (O 3, S. 121). »Dire oui au monde, le répéter, c’est à la fois recréer le monde et soi-même, c’est devenir le grand artiste, le créateur. Le message de Nietzsche se résume dans le mot de création,
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Kosmos – oder mit Dionysos als Verkörperung des Urgrunds der Welt – habe aber den kühnen Philosophen in die geistige Umnachtung geführt: »Wie dieser Empedokles, der sich in den Ätna stürzte, um die Wahrheit dort zu suchen, wo sie ist, im Schoße der Erde, schlug Nietzsche dem Menschen vor, im Kosmos zu versinken, um seine ewige Göttlichkeit zu finden und selbst Dionysos zu werden«.43 Die Selbstaufgabe des Menschen als Subjekt findet offensichtlich keine Zustimmung bei Camus. Bei aller anhaltenden Sympathie und Bewunderung für den Menschen Nietzsche und sein tragisches Schicksal sieht Camus nun die Ambivalenzen seines Denkens ein. Er kritisiert die Grenzenlosigkeit seines ›amor fati‹: »Wenn man zu allem ja sagt, muss man auch zum Mord ja sagen« (O 3, S. 126). Bei einem solchen ›amor fati‹ kann die Revolte in der Verherrlichung des Bösen enden. Diesen Schluss haben Nietzsches verachtungswürdige Nachfolger gezogen, die weder seine Intelligenz noch seinen Mut, seine Ehrlichkeit oder seinen aristokratischen Geist besaßen. Er träumte von Künstler-Tyrannen: »Das Leben, von dem er mit Furcht und zitternd sprach, wurde zu einer Biologie für den Hausgebrauch herabgesetzt. Eine Rasse von ungebildeten Herren, die den Willen zur Macht herunterleierten, hat die ›antisemitische Missgeburt‹44 auf sich genommen, die er stets verachtet hat«.45 Man dürfe also Nietzsche nicht mit Rosenberg verwechseln. Noch immer gelte es, der Fürsprecher Nietzsches zu sein. Dennoch trage er einen Teil der Verantwortung für die Verfälschung und Vereinnahmung seines Werkes durch unwürdige Nachfolger: Das Nietzsche’sche Ja vergisst das ursprüngliche Nein und verleugnet die Revolte selbst, indem es gleichzeitig die Moral leugnet, welche die Welt so, wie sie ist, ablehnt. Nietzsche wünschte sich einen römischen Cäsar mit der Seele Christi. Das bedeutete, in seinem Sinne, gleichzeitig ja zum Sklaven und ja zum Herrn zu sagen. Aber zu den beiden ja zu sagen führt letztendlich dazu, den Stärkeren, also den Herrn heilig zu sprechen. Der Cäsar musste notwendigerweise auf die Herrschaft des Geistes verzichten, um die Herrschaft der Tatsachen zu wählen. […] Die Verantwortung Nietzsches besteht darin, aus höheren methodischen Gründen, und sei es nur für einen kurzen Augenblick, am
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avec le sens ambigu qu’il a pris. Nietzsche n’a jamais exalté que l’égoïsme et la dureté propres à tout créateur« (O 3, S. 123). »De même que cet Empédocle qui se précipitait dans l’Etna pour aller chercher la vérité où elle est, dans les entrailles de la terre, Nietzsche proposait à l’homme de s’abîmer dans le cosmos pour retrouver sa divinité éternelle et devenir lui-même Dionysos« (O 3, S. 124). Wahrscheinlich eine Anspielung auf Ecce homo, wo über den Bayreuther Kreis gesagt wird: »Keine Missgeburt fehlt darunter, nicht einmal der Antisemit« (KSA 6, S. 324). »La vie dont il parlait avec crainte et tremblement a été dégradée en une biologie à l’usage domestique. Une race de seigneurs incultes ânonnant la volonté de puissance a pris enfin à son compte la ›difformité antisémite‹ qu’il n’a cessé de mépriser« (O 3, S. 124f.).
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Mittag des Denkens, dieses Recht auf Unehre legitimiert zu haben, von dem Dostojewskij schon sagte, dass, wenn man es den Menschen gewährt, sie sich darauf stürzen.46
Die ›unwillkürliche Verantwortung‹ Nietzsches hat noch einen anderen Aspekt. Ausgehend von der Negation des Ideals (Nihilismus) wollte er dieses säkularisieren. Da der Mensch nun auf sich selbst angewiesen ist, soll er selbst der gottlos-sinnlosen Welt eine Richtung geben: Das war für Nietzsche die Realisierung des Übermenschen und der Kampf um die Beherrschung der Erde: »Als Theorie des individuellen Willens zur Macht war der Nietzscheanismus dazu verurteilt, in einem totalen Willen zur Macht aufzugehen«.47 Die Theorien des Willens zur Macht und des Übermenschen sollten als Appell an die Selbstüberwindung des Menschen der Überwindung des Nihilismus dienen. Schließlich führten sie zu dessen letzter Konsequenz, zur Rechtfertigung eines verbrecherischen Reichs. Nachdem die Philosophen das Ideal säkularisiert haben, kommen Tyrannen, die ebenjene Philosophien säkularisieren, welche ihnen dieses Recht gewährten: Der Mensch in der Revolte, den Nietzsche vor dem Kosmos niederknien ließ, wird dann zum Niederknien vor der Geschichte gezwungen. […] Beide, Nietzsche – zumindest mit seiner Theorie des Übermenschen – und vor ihm Marx mit der klassenlosen Gesellschaft, ersetzen das Jenseits durch das Später. Darin verriet Nietzsche die Griechen und die Lehre Jesu, die nach seiner eigenen Interpretation das Jenseits durch das Sofort ersetzten.48
Camus eruiert einen weiteren Unterschied zwischen Marx und Nietzsche: Bei Marx ist die Natur das, was man unterjocht, um der Geschichte zu gehorchen, bei Nietzsche hingegen das, worauf man hört, um die Geschichte zu unterjochen. Nichtsdestoweniger sieht Camus in beiden die Meilenstei-
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»Le oui nietzschéen, oublieux du non originel, renie la révolte elle-même, en même temps qu’il renie la morale qui refuse le monde tel qu’il est. Nietzsche appelait de tout ses vœux un César romain avec l’âme du Christ. C’était dire oui en même temps à l’esclave et au maître, dans son esprit. Mais finalement dire oui aux deux revient à sanctifier le plus fort des deux, c’est-à-dire le maître. Le César devait fatalement renoncer à la domination de l’esprit pour choisir le règne du fait. […] La responsabilité de Nietzsche est d’avoir, pour des raisons supérieures de méthode, légitimé, ne fût-ce qu’un instant, au midi de la pensée, ce droit au déshonneur dont Dostoïevski disait déjà qu’on est toujours sûr, l’offrant aux hommes, de les voir s’y ruer« (O 3, S. 126f.). »Le nietzschéisme, théorie de la volonté de puissance individuelle, était condamné à s’inscrire dans une volonté de puissance totale« (O 3, S. 127). »Le rebelle que Nietzsche agenouillait devant le cosmos sera dès lors agenouillé devant l’histoire. […] Nietzsche, du moins dans sa théorie de la surhumanité, Marx avant lui avec la société sans classes, remplacent tous deux l’au-delà par le plus tard. En cela, Nietzsche trahissait les Grecs et l’enseignement de Jésus qui, selon lui, remplaçaient l’au-delà par le tout de suite« (O 3, S. 128).
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ne eines Weges, der von der entfesselten Freiheit der Revolte zum biologischen oder historischen Cäsarismus führt: »Der große Rebell schafft also mit eigenen Händen und um sich darin einzusperren die unerbittliche Herrschaft der Notwendigkeit. Aus Gottes Gefängnis entkommen, wird seine erste Sorge sein, das Gefängnis der Geschichte und der Vernunft zu bauen. Er vollendet somit die Verschleierung und die Legitimierung dieses Nihilismus, den Nietzsche besiegen wollte«.49 Die teleologische Deutung des Nietzsche’schen Übermenschen durch Camus verdiente selbstverständlich in einem anderen Rahmen eingehend diskutiert zu werden. Hier soll es jedoch darum gehen, seine Distanznahme zu Nietzsche einzuschätzen. Der absurde Mensch schien irgendwie noch jenseits von Gut und Böse leben zu wollen. Auf der Ebene des SisyphosEssays sind die dort geforderten Werte vor allem jene des Stoizismus: die Hellsichtigkeit, die Verachtung, die Gleichgültigkeit oder der Abstand – Werte jedoch, die auf die kommende Revolte vorbereiten. Der Absurdismus war eigentlich schon ein Humanismus. Im März 1943 schreibt Camus an Pierre Bonnel: Und der tiefe Gedanke dieses Buches [Der Mythos des Sisyphos] ist, dass der metaphysische Pessimismus keineswegs nach sich zieht, dass man am Menschen verzweifeln soll, im Gegenteil. Um ein genaueres Beispiel zu nennen, glaube ich, dass es ohne Weiteres möglich ist, eine Philosophie des Absurden mit einem politischen Denken zu verbinden, das um menschliche Vervollkommnung bemüht ist und seinen Optimismus im Relativen zum Einsatz bringt.50
Trotz allen Respekts für die herausragende Person Nietzsches kritisiert Camus nun den Nietzsche’schen ›amor fati‹, weil er die ganze Welt zu bejahen gebietet. Sein Pendant, die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, wird auch jetzt mit Skepsis betrachtet, weil sie das »Wohlgefallen im Leiden voraussetzt« (O 2, S. 1001). Camus verabscheute die Selbstkasteiung. Vor allem galt für ihn: Der ›amor fati‹ vermag nicht klar genug zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Für Camus sollen gewisse Handlungen, die verbrecherisch sind, unterlassen werden. Zwar ist er kein Moralist im christlichen Sinne des Worts, aber er tritt für eine Moral ein, die
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»Le grand rebelle crée alors de ses propres mains, et pour s’y enfermer, le règne implacable de la nécessité. Échappé à la prison de Dieu, son premier souci sera de constuire la prison de l’histoire et de la raison, achevant ainsi le camouflage et la consécration de ce nihilisme que Nietzsche a prétendu vaincre« (O 3, S. 129). »Et la pensée profonde de ce livre, c’est que le pessimisme métaphysique n’entraîne nullement qu’il faille désespérer de l’homme – au contraire. Pour prendre un exemple précis, je crois parfaitement possible de lier à une philosophie absurde une pensée politique soucieuse de perfectionnement humain et plaçant son optimisme dans le relatif« (O 1, S. 321).
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im rein Menschlichen ihre Wurzeln findet. Deren erstes Gebot heißt, fast wie im Christentum: Du sollst nicht töten, insbesondere nicht im Namen eines späteren Heils, das die Mittel heiligen würde. Das Motiv klang schon in den Briefen an einen deutschen Freund an. Denn der Mord respektiert im Menschen die Natur nicht, in deren Namen er revoltiert. So knüpft Camus auf dem Umweg über das Absurde wieder an die Konzeptionen Kants an: Handle so, dass der Mensch immer nur als Ziel und nie als Mittel betrachtet wird. Nun wird aber das ›Reich der Zwecke‹ als historischer Horizont gestrichen. Die Nähe und der Unterschied zu Kant erscheinen in diesem Satz: »Ja, der Mensch ist sein eigenes Ziel, und er ist sein einziges Ziel. Wenn er etwas sein will, dann in diesem Leben«.51 Wie bei Hannah Arendt soll nicht das Ziel die Mittel definieren und heiligen, sondern umgekehrt, denn die Mittel sind jetzt das Ziel. Der (Selbst-)Mord, der durch die innere Logik des Absurden schon ausgeschlossen war, wird jetzt durch ein moralisches Gebot untersagt. Nietzsche hatte die Tendenz, das menschliche Subjekt zu ›vernatürlichen‹, es auf seine Affekte zu reduzieren und in den Kosmos einzufügen. Bei Camus wie bei Kant behält das menschliche Subjekt eine Autonomie als moralische Instanz. Aber Camus’ Ethik bleibt ›moralinfrei‹. Der Roman Der Fall (1956), in dem der »juge-pénitent« Clamence aus der Selbstanklage das Recht herleitet, alle anderen Menschen moralisch anzuklagen, brandmarkt mit nietzscheanischer genealogischer und psychologischer Virtuosität alle Verstecke, Hinterlisten und Schleichwege der ›moralisierenden‹ Moral: vielleicht ein Mittel für Camus, eine eigene Versuchung zu bannen? Wenn die Revolte im Namen einer ›menschlichen Natur‹ erfolgt, die in jedem Menschen respektiert werden soll, dann kann sie nicht individuell bleiben, denn diese Natur kann auch bei anderen verletzt oder gefährdet werden. Die intersubjektive Solidarität gründet eben in der Revolte: »Ich rebelliere, also sind wir« (O 3, S. 79). Sobald ein Mensch sich gegen das Absurde des Lebens und der Geschichte auflehnt, kann er nicht umhin, auch für die anderen einzutreten. Die Revolte kann also »einer seltsamen Liebe«, der Liebe zum Menschen, nicht entbehren (O 3, S. 322). Sie zielt darauf, eine neue Ordnung zu schaffen, in der Gerechtigkeit herrscht: »Da aber Gottes Thron umgestürzt ist, wird der Mensch in der Revolte erkennen, dass er nun die Aufgabe hat, diese Gerechtigkeit, diese Ordnung, diese Einheit, die er umsonst in seinem menschlichen Dasein suchte, mit eigenen Händen zu schaffen, so er die Absetzung Gottes rechtfertigen will«.52 Die Revolte des
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Zitiert in Jean Daniel: Avec Camus. Paris 2006, S. 87. »Le trône de Dieu renversé, le rebelle reconnaîtra que cette justice, cet ordre, cette unité qu’il cherchait en vain dans sa condition, il lui revient maintenant de les créer de ses propres mains et, par là, de justifier la déchéance divine« (O 3, S. 82).
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absurden Menschen war im Wesentlichen eine einsame metaphysische Revolte gegen »das Schweigen der Welt«. Der ›Mensch in der Revolte‹ kämpft in der Geschichte im Namen der menschlichen Solidarität. Dabei ist er beides, »solitär« und »solidarisch« (»solitaire ou solidaire«), wie die letzten Worte der Erzählung Jonas oder der Künstler an der Arbeit lauten (O 4, S. 83). In dieser Moral der Solidarität liegt der große Unterschied zu Nietzsche. Ist der Nietzscheanismus ein Humanismus? Im Sinne einer individuellen produktiven Selbstüberwindung sicherlich. Nietzsches vornehme Seele hält sich nicht an die Gebote oder Verbote einer Moral. Ihr einziger Imperativ ist ihr Wille zur Macht, ihre Fähigkeit, die eigenen Werte durchzusetzen und auszudehnen. Dies braucht nicht unbedingt im Sinne einer Herrschsucht interpretiert zu werden. Der Wille zur Macht ist auch in der Gestaltung eines Kunstwerks am Werke. Was aber für Nietzsche zählt, sind eben die schöpferischen Kräfte, die ein aufsteigendes Leben fördern, im Gegensatz zu den reaktiven Kräften, die aus Ressentiment handeln. Der Akzent liegt auf der Expansion, dem Wachstum, und dann auf der Beherrschung, der Meisterung im Leben wie im künstlerischen Schaffen. Nietzsches Ideal bleibt im Wesentlichen ein individuelles und eigentlich ästhetisches. Der starke, vornehme Mensch kann selbstverständlich auch schwächeren Menschen helfen, aber nicht aus Mitleid, sondern aufgrund eines Kräfteüberschusses (KSA 5, S. 208–212). Das Mitleiden steht hingegen im Mittelpunkt von Camus’ Humanismus. Im Gegensatz zu Nietzsche, der sich immer mehr in die Einsamkeit zurückzog, blieb Camus sein ganzes Leben lang ein engagierter Mensch, Journalist, Theatermensch, Widerständler, der mitten unter den anderen leben und wirken wollte. Noch in der – freilich etwas konventionellen – Stockholmer Rede anlässlich der Entgegennahme des Nobel-Preises unterstreicht er die soziale Dimension seiner Persönlichkeit und seines Werkes. Von seiner Kunst sagt er: Wenn sie mir notwendig ist […], dann deshalb, weil sie sich von niemandem trennt und mir erlaubt, so, wie ich bin, auf der gleichen Ebene wie alle zu leben. In meinen Augen ist die Kunst kein einsamer Genuss. Sie ist ein Mittel, die größte Zahl von Menschen zu bewegen, indem sie ihnen ein erhöhtes Bild der gemeinsamen Leiden und Freuden anbietet. […] Deshalb verachten die wahren Künstler nichts; sie verpflichten sich zu verstehen statt zu urteilen. Und wenn sie in dieser Welt Partei ergreifen sollen, dann nur für eine Gesellschaft, in der – nach dem großen Wort Nietzsches – nicht mehr der Richter herrschen wird, sondern der Schöpfer, sei er Arbeiter oder Intellektueller.53
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»S’il m’est nécessaire […], c’est qu’il ne se sépare de personne et me permet de vivre, tel que je suis, au niveau de tous. L’art n’est pas à mes yeux une réjouissance solitaire. Il est un moyen d’émouvoir le plus grand nombre d’hommes en leur offrant une image privi-
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Obwohl Nietzsche hier wieder einmal als Bezugsgröße herangezogen wird, werden letztlich doch sein Aristokratismus, sein Hang zur Einsamkeit sowie seine Scheu vor der Popularität und der Kommunikation schlechthin verurteilt. Mit Bezug auf den Zarathustra meint Camus: »Plato hat gegen Moses und Nietzsche recht. Der Dialog auf Menschenhöhe kostet weniger als das Evangelium der totalitären Religionen, das als Monolog von der Höhe eines einsamen Berges herab diktiert wird«.54 Während Nietzsche für die Stärkeren Partei ergreift, kümmert sich Camus um die Schwächeren: »[…] es gibt die Schönheit und es gibt die Gedemütigten. Wie schwer das Unternehmen auch sein mag, ich möchte weder der einen noch den anderen je untreu werden«.55 Die Akzentverschiebung im Denken Camus’ kommt in seiner Einstellung zur Kunst zum Vorschein. In seinen beiden philosophischen Traktaten ist ein Kapitel der Kunst gewidmet. Wie bereits deutlich wurde, war zwar die absurde Kunst wegen der Verdoppelung des Lebens, die sie vollzog, ein ›Stimulans des Lebens‹. Sie hatte aber wesentlich eine Entlarvungsfunktion: »Das absurde Werk veranschaulicht den Verzicht des Denkens auf seine Wunderkraft und seine Beschränkung darauf, nur noch eine Intelligenz zu sein, die den Schein gestaltet und mit Bildern das überdeckt, was keine Vernunft besitzt. Wenn die Welt klar wäre, gäbe es die Kunst nicht«.56 Der absurde Künstler verzichtet darauf, eine künstliche Einheit der Welt zu konstruieren und ist somit auf die Beschreibung der Welt in ihrer ganzen konkreten Mannigfaltigkeit und Heterogenität angewiesen. Das absurde Kunstwerk soll also ohne Rekurs auf einen metaphysischen Trost zum Leben ermutigen: Hier liegt vielleicht das Geheimnis dieser wunderbaren Dürre, die das Werk Nietzsches atmet. In dieser Ordnung der Ideen scheint Nietzsche der einzige Künstler gewesen zu sein, der die letzten Konsequenzen einer Ästhetik des Absurden gezogen hat, da seine ultimative Botschaft in einer sterilen und erobe-
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légiée des souffrances et des joies communes. […] C’est pourquoi les vrais artistes ne méprisent rien; ils s’obligent à comprendre au lieu de juger. Et, s’ils ont un parti à prendre en ce monde, ce ne peut être que celui d’une société où, selon le grand mot de Nietzsche, ne régnera plus le juge, mais le créateur, qu’il soit travailleur ou intellectuel« (O 4, S. 240). »Platon a raison contre Moïse et Nietzsche. Le dialogue à hauteur d’homme coûte moins cher que l’évangile des religions totalitaires, monologué et dicté du haut d’une montagne solitaire« (O 3, S. 304). »[…] il y a la beauté et il y a les humiliés. Quelles que soient les difficultés de l’entreprise, je voudrais n’être jamais infidèle ni à l’une ni aux autres« (O 3, S. 614). »L’œuvre absurde illustre le renoncement de la pensée à ses prestiges et sa résignation à n’être plus que l’intelligence qui met en œuvre les apparences et couvre d’images ce qui n’a pas de raison. Si le monde était clair, l’art ne serait pas« (O 1, S. 286f.).
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rungslustigen Hellsicht und in einer hartnäckigen Verneinung jeglichen übernatürlichen Trostes bestand.57
Eine schwer haltbare Position: Ansätze zur Flucht aus dem Absurden findet Camus sogar bei Dostojewskij und Kafka, da Ersterer aus der Notwendigkeit des Selbstmords, die sich für Kirilov ergibt, auf die Unsterblichkeit der Seele schließt, während der Held in Kafkas Schloß im Absurden selbst Gott zu finden wähnt. Man wäre versucht, auf die Ästhetik der Revolte eine Formel anzuwenden, mit der die Lehrer in Frankreich den Unterschied zwischen Racine und Corneille charakterisieren: Sie hat nicht mehr die Welt und den Menschen zu beschreiben, wie sie sind (Racine), sondern wie sie sein sollten (Corneille): »In einem gewissen Sinne ist die Kunst eine Revolte gegen die Welt, gegen das Unbeständige und Unvollendete in ihr«.58 Die Kunst soll der Sehnsucht des Menschen nach Einheit Ausdruck verleihen; jede Revolte versucht, ein neues Universum zu schaffen. Sobald der Künstler sich des Zwiespalts der Welt (oder des Zwiespalts zwischen sich und der Welt) bewusst wird, revoltiert er und schafft im Kunstwerk eine andere Welt. Die Kunst berichtigt und stilisiert die Wirklichkeit. Das bedeutet nicht, dass sie den Boden der Wirklichkeit – der Quelle ihrer Inspiration – zu verlassen hat und ins Metaphysische flüchten soll. Sie ist eben zugleich Ablehnung und Zustimmung. Zuweilen spricht Camus auch von »symbolischem Realismus«. Die große Kunst hält sich zwischen zwei Extremen: der allzu großen Stilisierung, die von der Wirklichkeit trennt, und der stillosen, das heißt einheitslosen Darstellung des Konkreten. Die Ästhetik der Revolte soll das Beispiel einer lebendigen Transzendenz geben. Sie verwandelt die Natur und macht aus den in ihr hörbaren vereinzelten, ungeordneten Tönen eine für den Geist und das Herz befriedigende Symphonie. Man mag mit Nietzsche jede göttliche oder moralische Transzendenz als Verleugnung der Welt verwerfen; die Kunst hat gleichwohl den Weg einer immanenten Transzendenz zu zeigen, deren Schönheit ein Versprechen und eine Verpflichtung darstellt: »Die Kunst führt uns auf diese Weise zu den Ursprüngen der Revolte zurück, in dem Maße, wie sie einen Wert zu gestalten versucht, der im ewigen Werden zu vergehen droht,
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»C’est peut-être ici le secret de cette aridité superbe qu’on respire dans l’œuvre de Nietzsche. Dans cet ordre d’idées, Nietzsche paraît être le seul artiste à avoir tiré les conséquences extrêmes d’une esthétique de l’Absurde, puisque son ultime message réside dans une lucidité stérile et conquérante et une négation obstinée de toute consolation surnaturelle« (O 1, S. 314). »L’art, dans un certain sens, est une révolte contre le monde dans ce qu’il a de fuyant et d’inachevé« (O 4, S. 259).
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den aber der Künstler vorausahnt und der Geschichte entreißen will«.59 Für Camus hat der Mensch eine ›Essenz‹, die vor der Existenz vorhanden ist. Deshalb wollte er nicht als Existentialist gelten. Die Kunst der Revolte zeugt vom Übergang von der individuellen Erfahrung zum Gedanken der Solidarität aller Menschen: »In der absurden Erfahrung ist das Leiden individuell. Mit der Bewegung der Revolte wird sie sich dessen bewusst, dass es kollektiv ist, das Abenteuer aller« (O 3, S. 79). Der Mensch des Absurden war auf den ›amor fati‹ angewiesen. Der Mensch der Revolte hingegen kann ihn nicht mehr vollständig verantworten, denn sonst müsste er auch die Untertänigkeit, die Unterwerfung unter die Macht und die Geschichte akzeptieren: »Wird diese Welt durch die Ablehnung eines Teils dieser Welt lebenswert? Gegen den Amor fati. Der Mensch ist das einzige Tier, das sich weigert, das zu sein, was es ist«.60 Transzendenz ist das Wesen des Menschen, aber keine vertikale mehr, von der er, wie Jaspers meint, seine Freiheit ›geschenkt‹ bekommt, sondern eine horizontale, deren ›Anspruch‹ er in sich selbst entdeckt und die ihn zur Solidarität mit den anderen Menschen verpflichtet. Die literarischen Werke der zweiten Schaffensperiode Camus’, Die Pest (1947), Der Belagerungszustand (1948) und Die Gerechten (1949), waren gleichsam vorwegnehmende Illustrationen jener Probleme, die er in Der Mensch in der Revolte (1951) anspricht. Alle drei Werke sind sehr stark von der Erfahrung des Totalitarismus geprägt. Die Pest markiert den Übergang von einer einsamen zu einer kollektiven Revolte. Am besten wird die Moral der Solidarität durch den Helden des Romans, den Arzt Rieux, verkörpert, der für seinen Kampf gegen die Pest (eine Metapher für den Faschismus) jede transzendente religiöse Begründung ausschließt und sich nur auf die menschliche Brüderlichkeit und Liebe beruft. Es gilt, das zu tun, was das Christentum bisher noch nicht gemacht hat: sich der Verdammten der Erde anzunehmen. Die beiden folgenden Theaterstücke handeln vom Problem des Widerstands gegen die Diktatur und stellen die komplexe Frage nach dem Verhältnis zwischen Revolte und Mord, zwischen Zweck und Mitteln. Der Revolutionär Kaliayev, der mit der Ermordung des Großherzogs beauftragt ist, verzichtet darauf, seine Tat zu vollstrecken, als er feststellt, dass die jungen Neffen des Tyrannen neben ihm in der Kutsche sitzen. Hat er ein zu weiches Herz für den Kampf gegen den Terror, oder ist auch in diesem Kampf nicht alles erlaubt? Ein paar Tage später gelingt das
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»L’art nous ramène ainsi aux origines de la révolte, dans la mesure où il tente de donner sa forme à une valeur qui fuit dans le devenir perpétuel, mais que l’artiste pressent et veut ravir à l’histoire« (O 3, S. 283). »C’est par le refus d’une partie de ce monde que ce monde est vivable? Contre l’Amor fati. L’homme est le seul animal qui refuse d’être ce qu’il est« (O 2, S. 1123).
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Attentat, Kaliayev wird verhaftet und zum Tode verurteilt. Er stirbt mit ruhigem Gewissen, in der festen Überzeugung, kein Mörder zu sein, sondern für die Gerechtigkeit und seine Brüder gehandelt zu haben. Camus fasste einen dritten Zyklus für sein Werk ins Auge: Nach der grundlegenden Erkenntnis und Beschreibung des Absurden (die negative Seite mit der emblematischen Figur des Sisyphos) und der Schilderung der noch möglichen Haltung der Revolte (die positive Seite mit der emblematisch-mythischen Figur des Prometheus) eine dritte Phase, die unter dem Zeichen der Nemesis, der Göttin des Maßes und der Gerechtigkeit stehen sollte. Sein plötzlicher Tod hat ihn daran gehindert, diesen dritten Teil seines Werkes auszuführen. In seinen Essays Der Sommer (1954), in seinen letzten unter dem Titel L’exil et le Royaume erschienenen Novellen (1957) und in seiner unvollendeten Erzählung Le premier homme (1994 posthum erschienen) ist schon die Erwartung eines Reichs der Liebe, der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Glücks spürbar. Als Theoretiker des Absurden behauptete Camus, der Mensch solle auch außerhalb jeglicher Hoffnung handeln, im vollen Bewusstsein der Relativität und Endlichkeit seiner Handlung. Er konnte sich aber schließlich einer messianischen Hoffnung nicht erwehren.61 Hat er selbst die verhängnisvolle Büchse der Pandora geöffnet, die die Hoffnung in seinen Augen darstellte?62 Ein Gespräch mit Koestler, Sartre, Malraux und Manès Sperber vom Oktober 1946 zeigt, wie Camus auf Distanz zu Nietzsche geht: Glauben Sie nicht, dass wir alle für den Mangel an Werten verantwortlich sind. Wenn wir alle, die wir vom Nietzscheanismus, vom Nihilismus oder vom historischen Realismus kommen, öffentlich sagen würden, dass wir uns geirrt haben, dass es moralische Werte gibt, und dass wir nunmehr das Nötige tun werden, um sie zu begründen und zu veranschaulichen, glauben Sie nicht, dass das den Beginn einer Hoffnung bedeuten könnte?63
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Eine Aufzeichnung der Carnets aus dem Jahre 1947 besagt: »La fin du mouvement absurde, révolté, etc., la fin du monde contemporain par conséquent, c’est la compassion au sens premier, c’est-à-dire pour finir l’amour et la poésie. Mais cela exige une innocence que je n’ai plus. Tout ce que je peux faire est de reconnaître correctement la voie qui y mène et de laisser venir le temps des innocents. Le voir, du moins, avant de mourir« (O 2, S. 1084). »De la boîte de Pandore où grouillaient les maux de l’humanité, les Grecs firent sortir l’espoir après tous les autres, comme le plus terrible de tous. Je ne connais pas de symbole plus émouvant. Car l’espoir, au contraire de ce qu’on croit, équivaut à la résignation. Et vivre, c’est ne pas se résigner« (O 1, S. 126). »Ne croyez-vous pas que nous sommes tous responsables de l’absence des valeurs. Et que si, nous tous qui venons du nietzschéisme, du nihilisme ou du réalisme historique, nous disions publiquement que nous nous sommes trompés et qu’il y a des valeurs morales et que désormais nous ferons ce qu’il faut pour les fonder et les illustrer, ne croyezvous pas que ce serait le commencement d’un espoir?« (O 2, S. 1074).
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In der letzten Phase seines Schaffens hat Camus wieder eine Zukunft entdeckt. Aber wegen dieser Zukunft dürfen in keinem Fall die gegenwärtige Würde und das gegenwärtige Glück des Menschen vergessen und geopfert werden. Der Sinn für das Tragische des Lebens und das Verlangen nach Glück, nach Sonne verstärken einander. Zwischen beiden gilt es ein Gleichgewicht zu finden: So will es ›das Denken des Mittags‹. Die Metapher des Mittags ist selbstverständlich Nietzsche entlehnt, bei dem sie nicht nur den Übergang vom Menschen zum Übermenschen bezeichnet, sondern auch die totale Erdbejahung Zarathustras symbolisiert, wie sie in bestimmten ›verweilenden‹, mystisch anmutenden, ekstatischen Augenblicken erlebt wird. Ein kleines Gedicht aus dem Nachlass (1882) gibt dieses Erlebnis wieder, bei dem die Welt im reinen Dahinströmen der Zeit ohne Ziel vollkommen erscheint: »Hier saß ich wartend – Jenseits von gut und böse, bald des Lichts | Genießend bald des Schattens: ganz nur Spiel | Ganz Meer, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel« (KSA 10, S. 150). Das ›Denken des Mittags‹ ist bei Camus ein Denken der Begrenzung und des Maßes. Es erzielt das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten, Süden und Norden, Erde und Mensch, Gegenwart des Körpers und der Natur und geschichtlichem Werden. Das Gedenken an die Natur, das ›Sonnendenken‹ der alten Griechen soll die Vergöttlichung der Geschichte und die Hybris, die der moderne Mensch darin entfaltet, begrenzen und aufwiegen: Das griechische Denken hat sich stets auf die Idee der Grenze zurückgezogen. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige noch die Vernunft, weil es nichts verleugnet hat, weder das Heilige noch die Vernunft. Es hat allem seinen Teil gegeben, hat ein Gleichgewicht zwischen Schatten und Sonne geschaffen. Unser Europa hingegen, das sich der Eroberung der Totalität verschrieben hat, ist die Tochter der Maßlosigkeit.64
Lässt sich bei Camus eine Entwicklung zum Christentum erkennen, wie manche Kritiker es wahrhaben wollten? Gegen ein solches Urteil hat sich Camus stets gesträubt. Trotzdem fällt seine Einstellung zum Christentum günstiger aus als dies bei Nietzsche der Fall ist: Das Christentum hat damit begonnen, die Betrachtung der Welt durch die Tragödie der Seele zu ersetzen. Aber es bezog sich dabei zumindest auf eine geistige Natur und gewährleistete dadurch eine gewisse Beständigkeit. Nach dem Tod Gottes bleiben nur noch die Geschichte und die Macht. […] Während die
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»La pensée grecque s’est toujours retranchée sur l’idée de limite. Elle n’a rien poussé à bout, ni le sacré, ni la raison, parce qu’elle n’a rien nié, ni le sacré, ni la raison. Elle a fait la part de tout, équilibrant l’ombre par la lumière. Notre Europe, au contraire, lancée à la conquête de la totalité, est fille de la démesure« (O 3, S. 597).
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Griechen dem Willen die Grenzen der Vernunft setzten, haben wir schließlich den Schwung des Willens so tief im Herzen der Vernunft eingeprägt, dass sie dadurch mörderisch geworden ist. Für die Griechen existierten die Werte vor jeder Handlung, deren Grenzen sie präzise markierten. Die moderne Philosophie stellt ihre Werte ans Ende der Handlung. […] Heraklit zufolge ist die Maßlosigkeit ein Brand. Der Brand greift um sich, Nietzsche ist überholt. Nicht mehr mit dem Hammer, sondern mit Kanonen philosophiert Europa. […] Bis das Atom seinerseits Feuer fängt, und die Geschichte im Triumph der Vernunft und im Todeskampf der Gattung endet.65
Die Hybris der Moderne ist hauptsächlich auf ihren historischen Geist zurückzuführen, gegen den Camus zufolge die Kunst anzukämpfen hat: »Der historische Geist und der Künstler wollen beide die Welt neu erschaffen. Aber unter dem Zwang seiner Natur erkennt der Künstler seine Grenzen, die der historische Sinn verkennt. Deshalb ist das Ziel des Letzteren die Tyrannei, während die Leidenschaft des Ersten die Freiheit ist«.66 Camus hatte auch Oswald Spengler mit Interesse gelesen, der dem faustischen, historisch veranlagten Geist des Abendlandes das ›hic et nunc‹ und das Maß der antiken Hochkultur entgegensetzte. Findet sich hier eine Reminiszenz an ihn? Wahrscheinlich wurde Spengler selbst durch Nietzsche zu seiner Gegenüberstellung inspiriert, der auch des Öfteren antikes Maß und moderne Hybris gegenüberstellt, beispielsweise im Aphorismus 224 aus Jenseits von Gut und Böse, in dem er zwar, vom »historischen Sinn« handelnd, »jene Augenblicke und Wunder, wo eine große Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb«, rühmt, aber dahingehend kommentiert: »Das Maass ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten – in Gefahr sind« (KSA 5, S. 160).
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»C’est le christianisme qui a commencé de substituer à la contemplation du monde la tragédie de l’âme. Mais, du moins, il se référait à une nature spirituelle et, par elle, maintenait une certaine fixité. Dieu mort, il ne reste que l’histoire et la puissance. […] Tandis que les Grecs donnaient à la volonté les bornes de la raison, nous avons mis pour finir l’élan de la volonté au cœur de la raison, qui en est devenue meurtrière. Les valeurs pour les Grecs étaient préexistantes à toute action dont elles marquaient précisément les limites. La philosophie moderne place ses valeurs à la fin de l’action. […] La démesure est un incendie, selon Héraclite. L’incendie gagne, Nietzsche est dépassé. Ce n’est plus à coups de marteau que l’Europe philosophe, mais à coups de canon. […] Jusqu’à ce que l’atome prenne feu lui aussi et que l’histoire s’achève dans le triomphe de la raison et l’agonie de l’espèce« (O 3, S. 599f.). »L’esprit historique et l’artiste veulent tous deux refaire le monde. Mais l’artiste, par une obligation de sa nature, connaît ses limites que l’esprit historique méconnaît. C’est pourquoi la fin de ce dernier est la tyrannie tandis que la passion du premier est la liberté« (O 3, S. 600).
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Nietzsches Aussagen sind ambivalent, denn schließlich scheint er sich im modernen Barbarentum zu gefallen. Und in dieser Ambivalenz Nietzsches erblickt Camus nun die Gefahr seiner Botschaft. Nietzsche wird verurteilt, insofern er an der Maßlosigkeit der Moderne teilhat. *** Camus’ Einstellung zu Nietzsche hat sich ›im Lichte seiner Erfahrung‹ gewandelt. In einem Interview in den Nouvelles Littéraires vom Mai 1951 erklärt er: »Die schlechten Genien des heutigen Europa tragen Philosophennamen: Sie heißen Hegel, Marx und Nietzsche«. Aber gleich berichtigt er das Urteil über Nietzsche: »Das Bewundernswerte an Nietzsche ist, dass man bei ihm das Nötige findet, um das Schädliche, das sein Denken anderweitig enthält, zu berichtigen«67. Auch Nietzsches Maßlosigkeit wird von Camus entschuldigt und der Heiligkeit gleichgestellt, weil sie in der geistigen Umnachtung des waghalsigen Philosophen endete (O 3, S. 319). Wie Nietzsche findet Camus seine geistige Heimat bei den Griechen, kann aber den christlichen Einschlag in seinem Denken nicht ganz verleugnen: »Ich habe christliche Sorgen; aber meine Natur ist heidnisch. Die Sonne… Ich fühle mich heimisch bei den Griechen, und nicht denjenigen Platos, sondern bei den Vorsokratikern, Heraklit, Empedokles, Parmenides… Ich glaube an antike Werte, obwohl das seit Hegel ungern gesehen wird«.68 Gegen den Begriff des Humanismus hat Camus einige Bedenken. Er findet ihn zu abstrakt und »zu kurz«, das heißt unzulänglich. Zur Charakterisierung seiner eigenen Position zieht er den Ausdruck ›Philosophie des Menschen‹ vor. Denn gegen die Maßlosigkeit eines allzu prometheisch verstandenen Humanismus muss dieser auch durch die Bindung an die Erde, an die Sonne und an die Sorge um das gegenwärtige Glück aufgewogen werden: »Es scheint, dass ich einen Humanismus erst noch entdecken muss. Ich habe selbstverständlich nichts gegen den Humanismus. Er greift meines Erachtens zu kurz, das ist alles. Und das griechische Denken, zum Beispiel, war etwas völlig anderes als ein Humanismus. Es war ein Denken, das al-
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»L’admirable, chez Nietzsche, est qu’on y trouve de quoi corriger ce que sa pensée présente d’autre part de nuisible« (E, S. 1341). »J’ai des préoccupations chrétiennes, mais ma nature est païenne. Le soleil… Je me sens à l’aise chez les Grecs, et pas ceux de Platon: les présocratiques, Héraclite, Empédocle, Perménide… J’ai foi en des valeurs antiques, bien que cela soit mal vu depuis Hegel« (E, S. 1615. Interview vom 21. Dezember 1957 in der Zeitung Le Figaro).
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lem seinen Platz zuwies«.69 Der ›Erzieher‹ Nietzsche ist wieder einmal nicht weit. Aber auch er ist irgendwie unzulänglich. Die Erde … und die Verdammten der Erde!
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»Il paraît qu’il me reste à trouver un humanisme. Je n’ai rien contre l’humanisme, bien sûr. Je le trouve court, voilà tout. Et la pensée grecque par exemple était bien autre chose qu’un humanisme. C’était une pensée qui faisait sa part à tout« (O 2, S. 1065).
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Zarathustra als Wiedergänger in der Moderne Oder: Wie man mit Nietzsche experimentiert1 Zu den Problemkapiteln im Umgang mit Nietzsche zählt der Komplex des Identifikatorischen. Dazu gehört wesentlich die Empathie mit einem Denker, der das Mitleid verachtete. Auch das Einebnen des Unterschieds von Person und Werk, das Nietzsche selbst noch in Ecce homo zu verhindern suchte (»Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften«2), bleibt ein Problemfeld, das sogar dazu geführt hat, dass sein Denken zum Gegenstand einer ›Biographie‹ wurde.3 Dies bedeutet jedoch, das Denken zum Leben zu erklären, was einer – durchaus nachvollziehbaren – Apologie von Nietzsches Vitalismus gleichkommt. Daraus wurde vielfach eine »Nietzsche-und-wir«-Erfahrung abgeleitet, so noch in einem 1975 – bezeichnenderweise im Thomas Mann-Jahr – unter diesem Titel geführten Literatengespräch.4 Der identifikatorische Ansatz im Umgang mit Nietzsche, gemeinhin verbunden mit Stefan Zweig und dem Typus seiner Nietzsche-Darstellung in Der Kampf mit dem Dämon (1925), erscheint mitunter deswegen problematisch, weil er auch – sofern konsequent gehandhabt – die Identifikation
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Teile dieses Textes sind in das Schlusskapitel Logos der Sinne meines Buches Wenn Götzen dämmern eingegangen (Rüdiger Görner: Wenn Götzen dämmern. Formen des ästhetischen Denkens bei Nietzsche. Göttingen 2008, S. 163–179; siehe dort den Abschnitt: ›Das Verlöschen der Substanz zugunsten der Expression‹ oder wie man poetisch mit Nietzsche experimentiert hat). Für die Druckfassung des vorliegenden Aufsatzes wurde der ursprünglich im Rahmen der Tagung Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne vorgetragene Text nochmals umgearbeitet, inhaltlich anders gewichtet und erheblich erweitert, sodass eine getrennte Publikation im Rahmen dieses Bandes vertretbar erscheint. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. München 1999, S. 298. Zitate aus dieser Werkausgabe werden im Folgenden textintern unter Verwendung der Sigle KSA ausgewiesen. So der Untertitel von Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. München, Wien 2000. Nietzsche und wir. Fragen von Manès Sperber. Antworten von Iring Fetscher, Erich Heller, Walter Jens, Hans Mayer. In: Merkur 29 (1975), S. 1140–1165.
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mit dem ›Pathos der Distanz‹ einschließen müsste; das freilich ergäbe eine paradoxe Rezeptionssituation. Nicht dass sich gerade Zweig dieses Problems bewusst gewesen wäre. Im Gegenteil – er exponiert dieses Problem, indem er zeigt, dass man Nietzsche nur durch die Skizzierung von »Doppelbildnissen« beikommen könne.5 Des Weiteren spricht er von Nietzsches »ununterbrochenem Dialog mit den Nerven«,6 verweist also auf dessen kompromisslose Selbstbezogenheit, die identifikatorischen Annäherungen Grenzen setzt. Zweig unterscheidet Nietzsches »pathetisches Heroenbild« vom »Bildnis des Menschen«; Ersteres betrachtet er mit ironischem Blick: Unter den buschigen Augenbrauen blitzt Falkenblick, jeder Muskel des gewaltigen Gesichts steht straff von Willen, Gesundheit und Kraft. Der Vercingetorix-Schnurrbart männisch über herben Mund und das vorstoßende Kinn stürzend, zeigt den barbarischen Krieger, und unwillkürlich denkt man sich zu diesem muskelkräftigen Löwenhaupt eine germanische Wikingergestalt mit Siegschwert, Hifthorn und Speer. So, zum deutschen Übermenschen, zum antiken Promethiden der gefesselten Kraft gewaltsam übersteigert, lieben es unsere Bildhauer und Maler, den Einsamen im Geiste darzustellen, um ihn einer kurzgläubigen Menschheit anschaulicher zu machen, die von Schulbuch und Bühne her unfähig ist, das Tragische anders als in theatralischer Drapierung zu verstehen. Das wahrhaft Tragische aber ist niemals theatralisch und Nietzsches wahres Bildnis darum unendlich weniger pittoresk als seine Büsten und Bilder.7
Zweig gelingt in diesem Abschnitt Rezeptions- und Kulturkritik in einem, ironische Distanzierung von seinem Gegenstand sowie ein Verweis darauf, worauf es ihm wirklich ankommt: »Nietzsches wahres Bildnis« herauszuarbeiten. Wie sah sich Nietzsche selbst bei seiner schein-biographischen Arbeit? Als »heiter und verhängnißvoll«, so beschrieb er sich seinem Freund Overbeck gegenüber nach Abschluss von Ecce homo. ›Literatur‹ habe er mit diesem Werk geschaffen, und zwar zu den zeitlich bedingt wiederkehrenden Themen Selbstentlarvung, Selbstüberwindung und der Frage nach dem Sinn des moralischen Wertens sowie seines Spannungsverhältnisses zum ästhetischen Urteil im Kant-fernen Wortverständnis; man könnte auch sagen: Diese ›Literatur‹ Nietzsches glich Protokollen über Versuche im Denklabor, über Experimente mit Stil und Grammatik. Da er sich noch und gerade in seiner letzten Schaffensphase als »alten Musiker« verstand, als einen lebenden, wieder ins Tanzen mit sich selbst geratenden Kontrapunkt zum Zeitgeist begriff, reichen diese Überlegungen Nietzsches bis zu subtilen Er-
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Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin. Kleist. Nietzsche. Frankfurt a. M. 1981, S. 171–174. Ebenda, S. 178. Ebenda, S. 171.
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wägungen zu einer neuen Rhythmuslehre. Er spricht in seiner von Carl Fuchs vorgetragenen Auseinandersetzung mit Hugo Riemanns Phrasierungsbegriff vom »Beseelen, Beleben der kleinsten Redetheile der Musik« und damit vom Avanciertesten, was in jener Zeit an musikästhetischen Überlegungen greifbar war. In der Fragmentierung, ja Atomisierung von Sprache und Musik sieht er zwar eine »Entartungsform des Rhythmischen«, jedoch auch eine Bestätigung dessen, was für ihn seit dem Zarathustra gängige Schreibpraxis gewesen ist. Er zielte sogar auf »[e]ine Veränderung der Optik des Musikers«: »[…] nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge … folglich macht man nur [sic] auch noch solche«.8 Andererseits hoffte Nietzsche, längst zum synästhetischen Denker avanciert, auf die »Wiedergewinnung des großen rhythmischen Sinns«,9 den er durch Wagners ›ewige Melodie‹ bedroht, wenn nicht liquidiert geglaubt hatte. Nietzsches Denken artikulierte sich von Anbeginn in einer Art des Schreibens, die auch den Gehörsinn fordern wollte. Er, der sich durchaus eine Vertonung der Geburt der Tragödie als eine ideale Form ihrer Lektüre vorstellen konnte, dachte und schrieb in zunehmendem Maße dithyrambisch. Betont experimentelle Komponisten – von Arnold Schönberg bis Wolfgang Rihm, von Paul Hindemith bis Ernst Pepping und Peter Ruzicka – haben in ihren Nietzsche-Vertonungen gerade diese mit dem Sprachklang experimentierende Dimension seines Werkes wörtlich genommen und ihm somit in ihren Kompositionen musikalische Transparenz verleihen können. Richten wir den Blick aber zunächst auf Edvard Munchs berühmte Bildkomposition zu Nietzsche, seinem einzigen nach einer Photographie gearbeiteten Portraitwerk aus dem Jahre 1906, das wie ein Sinnbild des entschieden gesamtkünstlerischen Umgangs mit dem Erbe Nietzsches betrachtet werden kann. Eine geistige Landschaft in dem Sinn, wie Thomas Mann die im Jahre 1918 erschienene Nietzsche-Studie von Ernst Bertram gesehen hatte, bildet den Hintergrund von Munchs Nietzsche-Portrait. In ihrer Formgebung wirkt diese geistige Phantasielandschaft betont rhythmisiert; die Farbgebung ist kontrastiv, nicht komplementär. In der geschwungenen Linienführung von Berg und Tal im Hintergrund mag man die Amplituden des Nietzsche’schen Denkens erkennen. Und über allem steht er,
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An Carl Fuchs in Danzig, 26. August 1888. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 8: Januar 1887 – Januar 1889. Nachträge. Gesamtregister. München 1986, S. 399–403, hier S. 401. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan unter Verwendung der Sigle SB nachgewiesen. An Heinrich Köselitz in Buchwald, 12. September 1888 (SB 8, S. 416–418, hier S. 417).
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Nietzsche, eine Art Zarathustra im Bürgergewand, keineswegs nur ganz Kopf, sondern auch massiger Körper, die Balance zwischen Geistigem und Physischem in seinem Werk andeutend, versunken blickend, auf die Landschaft hinter und neben ihm hörend. Was vor ihm liegt, entzieht sich dem Betrachter des Bildes und wohl auch dem Munch’schen Nietzsche. Die Zivilisation ist auf diesem Bild neben Nietzsches Bürgerrock in Gestalt einer kleinen, menschenleer wirkenden Ansiedlung mit fensterlosen Gebäuden vertreten. Nietzsche betritt die Szene quasi als ein Letzter. Er scheint auf einer Balustrade zu stehen, einem Balkon eines vermutlich gleichfalls leeren Hotels; vielleicht aber handelt es sich auch um das Promenadedeck eines im Gebirge auf Grund gelaufenen Geisterschiffs. Dem Ausdrucksdenken Nietzsches einen neuen Ausdruck verschaffen: Dies scheint den Grundgedanken zu umschreiben, der die Auseinandersetzung mit seinem Philosophieren von Anbeginn geprägt hat. Als Paul Valéry im Jahre 1927 Anlass hatte, sich seiner frühen Beschäftigung mit Nietzsche zu erinnern, hob er folgende Aspekte hervor: Er [Nietzsche] gefiel mir auch wegen des intellektuellen Taumels durch den Exzeß des Bewußtseins und erahnter Beziehungen, wegen gewisser Grenzgänge […]. Ich bemerkte darin ein nicht näher bestimmbares Bündnis zwischen dem Lyrischen und dem Analytischen, das bisher keiner so beherzt geschlossen hatte. Und schließlich schätzte ich an dieser von der Musik genährten Ideologie besonders die Mischung und den gelungenen Gebrauch von Begriffen und Voraussetzungen gelehrter Herkunft; Nietzsche war sozusagen mit einer Kombination von Philologie und Physiologie ausgerüstet, die seinem mentalen Mechanismus in bemerkenswerter Weise angepaßt oder mit ihm verbunden war.10
›Von Musik genährte Ideologie‹, ›Grenzgänge‹, ›intellektueller Taumel‹, ›Exzess des Bewusstseins‹, ›Bündnis des Lyrischen mit dem Analytischen‹ – damit hatte Valéry nicht nur die entscheidenden Stichworte der Nietzsche-Rezeption seiner Zeit geliefert, sondern einer Art der Nietzsche-Deutung, die dieser Denker gewissermaßen in seinem Werk vorgegeben und schon selbst reflektiert hatte. Valéry fügte jedoch einschränkend hinzu, dass er in frühen Jahren Nietzsche geradezu »schockierend« gefunden habe, weil dieser sein von der Mathematik her kommendes »Gefühl der Strenge« verunsichert hatte. Und schließlich: »Ich begriff nicht, daß dieser heftige und unermeßliche Geist mit dem Nichtverifizierbaren nicht zu Ende gekommen war…«.11 Das wiederum übersahen die Jünger Nietzsches geflissentlich und behaupteten, dort, wo Nietzsche Auslassungszeichen gesetzt hat-
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Paul Valéry: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden. Hg. v. Jürgen SchmidtRadefeldt. Bd. 4: Zur Philosophie und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1989, S. 145. Ebenda.
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te, weil er an das »Nichtverifizierbare« im Sinne Valérys gestoßen war, nur Ausrufungszeichen gesehen zu haben. Der junge Valéry sprach vom »Kontradiktorischen« als der eigentlichen Gestalt in Nietzsches Denken.12 Und in seinen spärlichen, aber treffenden Reflexionen zu Nietzsche identifizierte er einen Widerspruch von erheblicher Bedeutung, sprach Valéry doch von einer »schrecklichen Zwecklosigkeit«, die hinter Nietzsches suggestivem Denken und Schreiben lauere, und das bei einem Denker, der dem Zweckfreien in der Kunst im Namen der höheren Moral des höheren Menschen den Kampf angesagt hatte. Das Entscheidende jedoch, das Valéry mit dem Studium Nietzsches verband, war »die Erforschung der Denkformen«13 und die Art, wie Nietzsche mit Bewusstsein umging, in dem er das Unbewusste stets aufgehoben ließ. Valéry spricht vom »Vorteil des Unbewußten«, den sich Nietzsche zunutze gemacht habe. Dadurch sei dann dieser »Überschuß« an Bewusstsein entstanden. Das »Kontradiktorische« war eine jener »Denkformen«, das orgiastische Reflektieren die andere. Zu diesem gehörte das Heiligsprechen des Schmerzes analog der Mysterienlehre, und das in einer Sprache, wie Nietzsche sie bei Sallust bewundert hatte, in der »jedes Wort Klang« sein wollte, sich verströmend, sich ausgebend, aber eben als Form. Nietzsche formulierte dafür eigens ein am römischen Ideal orientiertes, jedoch quasi expressionistisches Stilgesetz, das sich überdies sprachtheoretischen Überlegungen des aufklärerischen Sensualismus verdankte: mit einem Minimum »in Umfang und Zahl der Zeichen« ein Maximum »in der Energie der Zeichen« zu erzielen (KSA 6, S. 155). Am Ende der beispiellosen Denkambitionen Nietzsches standen Dionysos-Dithyramben, letzte Gedichte des ersten und letzten Menschen als poetischer Denker, der das Erste und Letzte in sich überwunden zu haben glaubte, auch den Gedanken an Glück und Verhängnis; ein lyrischer Philosoph, der am Ende die Wahrheit in der Stille suchte. Die Wahrheit worüber? Über die Frage, wie man am wirkungsvollsten sich und anderen bleibend zum Labyrinth werden könne. So wie er seine Korsika-Pläne motiviert hatte, wollte Nietzsche »so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterblicken«, wie er Georg Brandes am 19. Februar 1888 schrieb; dieser hatte ihm seinen Band Moderne Geister zukommen lassen.14 Im selben Brief bezeichnete Nietzsche sich als
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Brief an André Gide vom 13. Januar 1899. In: André Gide u. Paul Valéry: Briefwechsel 1890–1942. Aus dem Französischen v. Hella u. Paul Noack. Eingeleitet u. kommentiert v. Robert Mallet. Nachwort v. Daniel Moutote. Frankfurt a. M. 1987, S. 400. Ebenda. Georg Brandes: Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1882.
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ein »capitales Ereigniss in der Krisis der Werthurtheile«. Brandes veröffentlichte diesen sowie elf weitere Briefe, die Nietzsche ihm zwischen 1887 und 1889 geschickt oder als Entwurf zugedacht hatte, als Teil seiner 1893 verfassten »Nachschrift« zu seinem pionierhaften Versuch Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus.15 In ihr deutet Brandes dieses »capitale[-] Ereigniss« als Nietzsches Ansinnen, die von der christlichen Scheinmoral betriebene »Begierde nach Selbstmißhandlung« zu neutralisieren und in ein neues Selbstbewusstsein umzupolen.16 Beinahe auf den Tag genau, als Nietzsche seinen dritten Brief an Brandes schrieb, schloss Friedrich Engels in London seine Abhandlung Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie ab, in der er die für die Moderne so wesentliche Polarität von »Selbstbewußtsein« und »Substanz« zur Diskussion stellte.17 Wie Nietzsche nimmt er eine Vogelperspektive ein, beziehungsweise jene des insular-distanzierten Beobachters der kontinentalen Denkverhältnisse. Wie Nietzsche, aber in Unkenntnis von dessen erster Unzeitgemäßen Betrachtung, geht Engels von David Friedrich Strauß und dessen Historisierung des Christentums in Das Leben Jesu (1835) sowie der dadurch ausgelösten erbitterten Debatte aus. Er verweist auf Bruno Bauers Korrektur in Fragen der Mythenbildung sowie zentral auf Feuerbachs Das Wesen des Christentums und entwickelt daraus die These von der Tendenz aller entstandenen Religionen zu konservativem Traditionalismus. Wichtiger für unsere Zwecke ist jedoch die Tatsache, dass Engels in der Polarität von Selbstbewusstsein und Substanz, man könnte auch mit Schiller sagen: subjektivem Formtrieb und bloßem Stofftrieb, eine im Grunde klassische Begrifflichkeit bemühte, um die Modernität des materialistischen Standpunkts – auch und gerade gegenüber religiösen Fragen – zu begründen. Als Engels’ Kronzeuge fungiert neben Feuerbach der »Prophet des Anarchismus«, Max Stirner, mit seinem »das souveräne Selbstbewußtsein übergipfelnden« souveränen »Einzigen«.18 Engels’ Diagnose einer antinomischen Struktur im Nachhegelianismus, eben jener zwischen subjektivistischer Ausdruckswelt und Glaube an die Wirksamkeit des bloßen Stoffes, ist noch bei Gottfried Benn präsent, und
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Georg Brandes: Nietzsche. Mit einer Einleitung v. Klaus Bohnen. Berlin 2004, S. 113– 127, hier S. 116. Ebenda, S. 82. Erwähnenswert scheint, dass Lovis Corinth in seinem gewissermaßen nach-impressionistischen Portrait des betagten Georg Brandes (im Museum für Schöne Künste, Antwerpen), geschaffen im Todesjahr Corinths 1925, den Intellektuellen als eine das Dunkel-Lichte, das »Späte und Moderne« ausstrahlende Persönlichkeit dargestellt hat. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hg. v. Richard Sperl u. Hanni Wettengel. Bd. 6. Berlin 21973, S. 263–314, hier S. 273. Ebenda.
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zwar in der Pointe vom »Verlöschen der Substanz zugunsten der Expression«.19 In unserer Zeit sieht auch Charles Taylor, insbesondere in seinem Versuch Das Unbehagen an der Moderne (1991), den angeblich auf Nietzsche zurückführbaren Substanzverlust und Ausdrucksgewinn als konstitutives Phänomen im Modernismus am Werke. Das Bekenntnis zum souveränen Selbstbewusstsein des modernen Ichs definiert Taylor als »Suche nach Authentizität«. Die in dieser Authentizität enthaltene Originalität verlange, so Taylor, eine »Revolte gegen die Konvention«.20 Er erkennt in Nietzsche einen Denker, der im Ästhetischen und durch es »eine Art Selbsterschaffung« angestrebt habe, wodurch er gezwungen gewesen sei, mit einer christlich inspirierten Ethik zu brechen.21 Taylor erkennt im Futurismus Marinettis und in Artauds Theater der Grausamkeit Versuche, diesen Ansatz Nietzsches noch zu übertrumpfen. Und in der Tat zeigt sich in der Moderne zwar eine Tendenz, Nietzsche zu imitieren, aber mehr noch, ihn zu überbieten, und nicht nur, wie ich dies andernorts zu zeigen bemüht war, auf unüberhörbar ironische Weise zu »überwinden«.22 Das ›Unbehagen‹ an diesem Überbieten-Wollen führte Taylor zu der These, dass erst in der versuchten Übersteigerung Nietzsches, im Experimentieren mit seinem intellektuellen ›Dynamit‹ faschistisches Potential, Grausamkeitsphantasien und -praktiken in seinem Namen sich bilden konnten. Die ästhetische Moderne fand im experimentellen Charakter von Nietzsches Denkweise Ansatzpunkte für die Forderung nach Selbstüberwindung. Solche Selbstüberwindung setzte offenkundig ein Ich voraus, das von sich selbst zu abstrahieren in der Lage war und das seine ›Authentizität‹ in seiner Autonomie begründet sah, selbst dann, wenn es sich – wie schon in Menschliches-Allzumenschliches – als Dividuum erkannt hatte. Denn auch eine solche Einsicht in den Charakter des Subjekts und die Natur des Ichs kann als Ausdruck authentischer Autonomie gelten. Zu Ende gedacht bedeutet das Dividuale den Ausgangspunkt schizophrener Disposition, wie Nietzsche dies zu Beginn der Morgenröthe im Abschnitt Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität dar-
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Gottfried Benn: Nietzsche – nach fünfzig Jahren. In: Ders.: Das Hauptwerk. Hg. v. Marguerite Schlüter. Bd. 2: Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden, München 1980, S. 305–316, hier S. 312. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Übersetzt v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1995, S. 76. Ebenda, S. 77. Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Wie ich Nietzsche überwand. Zu einem Motiv der Nietzsche-Rezeption bei Rilke, Döblin und Hugo Ball. In: Rüdiger Görner u. Duncan Large (Hg.): Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 193– 204.
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gelegt hat (KSA 3, S. 26f.). Er bestimmt darin den Wahnsinn als einen das Außergewöhnliche in der Kultur bewirkenden Zustand. Theodore Ziolkowski hat als Erster darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Aphorismus zu einem strukturbildenden Merkmal in der modernen Prosa geworden ist, insbesondere bei Alfred Döblin und Hermann Hesse.23 Sein wichtigstes Beispiel ist Hesses Steppenwolf (1927) mit dem Traktat Nur für Verrückte und dem »magischen«, gleichfalls den »Verrückten« vorbehaltenen Theater, in das einzutreten den Verstand kostet. Für Hesses eigene Auseinandersetzung mit Nietzsche ist freilich sein Essay über Zarathustras Wiederkehr von 1919 der grundlegende Text. Diese essayistische Prosadichtung versetzt Zarathustra in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ist er Wiederkehrer oder Wiedergänger, ein Retter in der Not, der sich allzu lange im Verborgenen aufgehalten hat, oder ein reinkarnierter Geist, ein Gespenst von des toten Nietzsche Gnaden? Als sich unter den aus dem Krieg in eine »umgestürzte Heimat voll rastloser Besorgnis« zurückgekehrten »Jünglingen« herumspricht, dass Zarathustra »wieder erschienen« sei, suchen sie ihn auf, weil sie in ihm einen Heilsbringer sehen.24 Aber Zarathustra kann sie nur enttäuschen. Er erklärt ihnen: Zarathustra ist kein Lehrer, man kann ihn nicht fragen und von ihm lernen und ihm gute kleine Rezepte für nötige Fälle nachschreiben. Zarathustra ist der Mensch, er ist Ich und Du. Zarathustra ist der Mensch, nach dem ihr in euch selber auf der Suche seid, der Aufrichtige, der Unverführte – wie sollte er an euch zum Verführer werden wollen?25
Hesse orientiert die Struktur (und zunächst auch die Tonlage) seines Zarathustra-Textes an Nietzsches Vorlage; er lässt den Wiedergekehrten »vom Schicksal« handeln, »vom Leiden und vom Tun« und von der »Einsamkeit«, ihren Wegen in den »Wahnsinn« des Außerordentlichen. Doch dann setzt er sich von Nietzsches Struktur ab und zwingt seinen Zarathustra, Stellungnahmen über zeitgeschichtliche Fragen abzugeben, zum Spartakusbund etwa, zum »Vaterland« und seinen Feinden, zu dem, was deutsch ist und »Weltverbesserung« bedeutet. Der Tenor dieser Abschnitte bleibt freilich unverkennbar nietzscheanisch; handeln sie doch davon, wie man sich selbst zum Schicksal wird, wie man seine eigene Hypokrisie bloßstellt und wie man Gott in sich selbst sucht. Das Motto lautet: »Reif zu werden und
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Theodore Ziolkowski: Strukturen des modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäische Zusammenhänge. Aus dem Amerikanischen v. Beatrice Steiner u. Wilhelm Höck. München 1972, S. 298–301. Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Hg. v. Volker Michels. Bd. 15: Die politischen Schriften. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 2004, S. 220–246, hier S. 222. Ebenda, S. 225.
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Gott in euch selbst zu finden«.26 Ein unmittelbares Echo darauf findet sich in Hesses Wanderung (1920), die das zarathustrische Motiv des »Wanderers und sein[es] Schatten[s]« aufnimmt, schließlich Bäume sprechen lässt und vom Vertrauen des Ich-Vaganten spricht, »daß Gott in mir ist«.27 Hesses Zarathustra-Text setzt alles daran, den Patriotismus zu relativieren und die Gefahren blinden Gehorchens, aber auch jene der Selbstüberhebung und Selbstübersteigerung aufzuzeigen. Dieser Zarathustra weigert sich, ein ›Führer‹ zu sein oder zu werden; er predigt – ›avant la lettre‹ – die ›innere Führung‹ und zeigt, wie verhängnisvoll es ist, auf den Einen zu warten. Dieses Warten nämlich verhindere die individuelle Persönlichkeitsbildung, auf die alles ankomme. Doch auch dieser Ansatz, nämlich eine mit äußerster Konsequenz gelebte Autonomie, kann problematisch werden und zu dem führen, was man »größenwahnsinnige Selbständigkeit« genannt hat.28 So geschehen in Thomas Bernhards letztem Roman Auslöschung (1988), in dem der Protagonist die Möglichkeit einer »Umwertung aller Werte« verneint und stattdessen auf ihre Annihilierung zusteuert. Die Kulturwerte, die er auslöscht, erweisen sich schon deswegen als nicht resistent, weil sie an der Sprache kranken, in der sie vermittelt werden. Die dieser ›Auslöschung‹ vorgeschaltete Sprachkritik verfügt über eindeutig nietzscheanische Töne: »Die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache […] und drücken in jedem Fall den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene. Das deutsche Denken wie das deutsche Sprechen erlahmen sehr schnell unter der menschenunwürdigen Last seiner Sprache, die alles Gedachte, noch bevor es überhaupt ausgesprochen wird, unterdrückt […]«.29 Wie Nietzsche, der einen tänzelnden Stil empfahl und Südlichkeit oder ›italianità‹ im sprachlichen Ausdruck, bewundert auch der Protagonist der Auslöschung, FranzJosef Murau, die »Mühelosigkeit und Leichtigkeit und Unendlichkeit des Italienischen«.30 Zur »Auslöschung« aufgerufen wird in diesem Roman alles – von Goethe, dem »Gesteinsnumerierer, Sterndeuter und philosophischen Daumenlutscher der Deutschen«,31 bis Thomas Mann, dem großbürgerlichen Verfasser »kleinbürgerlicher Literatur«,32 von Schopenhauer bis
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Ebenda, S. 245. Hermann Hesse: Die Romane und großen Erzählungen. Bd. 3: Demian. Frankfurt a. M. 1998, S. 163–201, hier S. 182. Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a. M. 1988, S. 12. Zu Nietzsche findet sich hier unter anderem die Aussage: »[…] Nietzsche hat mich immer fasziniert, aber ich habe gleichzeitig von ihm immer nur soviel wie gar nichts verstanden« (ebenda, S. 153). Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 575. Ebenda, S. 608.
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Heidegger. Nietzsche bleibt – wie andere einer Art Gegenkanon zugehörende Dichter und Denker – verschont von dieser »Auslöschung«; vielmehr geschieht sie in seinem, freilich unausgesprochenen Namen. Die verdeckte Wirkung Nietzsches bis hin zu Thomas Bernhard und Botho Strauß zeigt oft eindrücklicher als emphatische Bekenntnisse oder Ablehnungen Nietzsches, wo er subtile Folgen zeitigte. Wenn etwa Ernst Blass in den Vor-Worten zu seinem Gedichtband Die Straße komme ich entlang geweht (1912) leitmotivisch die These wiederholt und variiert, dass der Lyriker künftig ein Erkennender sein werde,33 dann ist der Leser vorgewarnt und wundert sich schwerlich, in den nachfolgenden Gedichten nur mühsam durch die Sonettform gebändigte dithyrambische Ansätze zu finden, die in ihrer Tönung und Farbgebung unmittelbar an Nietzsche erinnern, jedoch dazu eingesetzt werden, Erfahrungen des Alltags zu analysieren, beziehungsweise das Besondere im Alltäglichen zu erkennen. Nietzsche traf zu jenem Zeitpunkt erneut auf großes Interesse in der Diskussion über die Moderne, als diese sich selbstkritisch zu definieren begann. »[N]ichts fruchtbarer und stimulierender zu guter Letzt als die Kritik der Modernität«, meinte Thomas Mann in seinem vernichtenden Kommentar zu Theodor Lessing aufgrund von dessen verunglimpfender Attacke gegen Samuel Lublinski, der seinerseits zur kritischen Bilanz der Moderne aufgerufen hatte.34 »Kritik der Modernität« im Sinne Thomas Manns war Kritik der Moderne an der Zeit und Kritik am ideologisch gewordenen Modernismus, der zur Selbstkritik aufgerufen werden sollte. Nietzsche galt in diesem Spannungsgefüge den einen als kritisches Paradoxon, nämlich als ein zur rechten Zeit gekommener Unzeitgemäßer, den anderen als Prophet – und wieder anderen als Begründer einer neuen Klassizität; so vor allem Paul Ernst, der mit Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski mit ausdrücklicher Berufung auf Nietzsche die klassische Tragödie mitten in der Moderne erneuern wollte.35 Bedenkt man allein die stilistisch-intellektuelle Bandbreite der Wirkung Nietzsches unmittelbar nach 1900, dann reicht sie (am weitesten verbreitet) von Modulationen des Zarathustra-Tones oder regelrechten ZarathustraEkstasen, assoziativen Reflexionen über den musikalischen Charakter poe-
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Ernst Blass: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Thomas B. Schumann. München, Wien 1980, S. 8–12. Vgl. Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Nachdruck der Ausgabe v. 1904. Mit einem Nachwort v. Gotthart Wunberg. Tübingen 1974. Ders.: Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition. Dresden 1909. Vgl. den großen Essay von Paul Ernst: Nietzsche. Berlin 1900.
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tischen Schreibens seitens des jungen Rilke36 bis hin zu Parodien, aber auch um Nüchternheit bemühte Auseinandersetzungen wie etwa jene von Karl Joel, dessen heute zu Unrecht vergessene Studie Nietzsche und die Romantik (1905) die Verachtung des Romantischen durch den Spätromantiker Nietzsche herauszuarbeiten versuchte,37 und von Georg Simmel, der auf Nietzsches Wertkategorie der »Vornehmheit« verwies, die, wie er bemerkte, »in der Ethik bisher so gut wie unbekannt war«.38 Auf das Beispiel von Rilkes früher Auseinandersetzung mit Nietzsche, so ausführlich sie inzwischen bearbeitet ist,39 sei hier im Hinblick auf experimentelle Ansätze noch einmal verwiesen. Nietzsche-Spuren sind im Frühwerk Rilkes auf alle Genres verteilt: erzählende Prosa (Der Apostel und Ewald Tragy), Lyrik (der erste Teil von Das Stunden-Buch) sowie das lyrische Drama (Das Tägliche Leben) und die essayistische Skizze (Marginalien und Die Melodie der Dinge). Der junge Rilke versteht Nietzsche – noch vor seiner Begegnung mit Lou Andreas-Salomé – als den »fremden Gast«, einen solitären Anti-Humanisten, der die (Nächsten-)Liebe verachtet, unverdauten Darwinismus von sich gibt, dämonisch wirkt und als Spaltpilz in der feinen bourgeoisen Gesellschaft agiert. Man übersieht aber oft, dass der frühe Rilke besonders am erzählend darstellenden Umgang mit Nietzsche seine ironischen Fähigkeiten erprobte. Die Erzählung Der Apostel (1896) liest sich denn auch stellenweise wie eine Vorwegnahme von Thomas Manns Prosa Beim Propheten (1904). Rilkes Apostel, ein Alter Ego Nietzsches, predigt das Recht des Stärkeren auf höhere Erkenntnis, Wille und Macht und darauf, »aus der Zwangsatmosphäre des Massenneides emporzuschweben zum Lichte«.40 Was dieser Apostel spricht, verurteilt die anderen zur Sprachlosigkeit. Nur der gastgebende Bankier findet wieder Worte: »›Das war entweder ein Narr, oder …‹ Das Folgende verstand ich nicht; denn er kaute mit vollen Backen ein Stück Hummerpastete«.41 Rilke
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Vgl. seine Marginalien zu Friedrich Nietzsche. In: Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski u. August Stahl. Bd. 4: Schriften. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 161–172. Vgl. Irina Frowen: Nietzsches Bedeutung für Rilkes frühe Kunstauffassung. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 14 (1987), S. 21–34. Rüdiger Görner: »… und Musik überstieg uns«. Zu Rilkes Deutung der Musik. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 10 (1983), S. 50–68. Katja Brunkhorst: Verwandt-Verwandelt. Nietzsche’s Presence in Rilke. München 2006. Karl Joel: Nietzsche und die Romantik. Basel 1905. Georg Simmel: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Teil 1. Frankfurt a. M. 1995, S. 62. Vgl. Katja Brunkhorst: Verwandt-Verwandelt: Nietzsche’s Presence in Rilke (Anm. 36). Rainer Maria Rilke: Werke (Anm. 36). Bd. 3: Prosa und Dramen. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 51. Ebenda, S. 52.
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verweist auf die Skurrilität, die aus einem solchen, sich in jenen Jahren rapide in Nietzsches Namen verbreitenden Aposteltum ergibt, sowohl bezogen auf den Apostel selbst wie auch auf die Gesellschaft, die er wach rütteln und radikalisieren will. Im lyrischen Künstlerlesedrama Das Tägliche Leben (1900, erschienen 1902) drehen sich die Kunstgespräche um die nietzscheanischen Fragen Melodie des Lebens, Rhythmik des Erlebens, Entdogmatisierung des Christlichen und um das, was als überlebt oder neu bezeichnet werden sollte. Die Aussage: »Ich glaube nicht, dass das zerstörte Alte schon etwas Neues ist«,42 erinnert an eine Bemerkung Nietzsches, die Rilke freilich nicht kennen konnte: »Das schlechte Gewissen dem Neuen anhaftend […]« (KSA 12, S. 335). Für den Maler Georg, die Hauptfigur des Stückes, ist Christus allenfalls eine Landschaft. Nur die Kunst könne das unerhörte Wort aussprechen, nicht mehr der Religionsstifter. Die ästhetische Rechtfertigung des Daseins erzeugt sprechende Lebensbilder, Welten aus Rhythmen, für jedes Erlebnis die »entsprechenden Takte« und das jeweils geeignete Leben.43 Das Kunstwerk sucht sich demnach das ihm gemäße Leben – in Rilkes Lesedrama vermerkt der Künstler dies spöttisch, seine Vertraute meint es damit jedoch ernst. Im Buch vom mönchischen Leben (1899), dem ersten Teil des StundenBuches, wagt Rilke dann jedoch eine unmittelbare Anverwandlung oder Parodie des berühmten Flammen-Dithyrambus Nietzsches: Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt, indem sie glänzt für irgend einen Kreis, aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß. Aber die Dunkelheit hält alles an sich: Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie’s errafft, Menschen und Mächte – Und es kann sein: eine große Kraft Rührt sich in meiner Nachbarschaft. Ich glaube an Nächte.44
Rilke experimentiert mit der Vorlage und kehrt sie dabei um: Das Ich entstammt nicht mehr wie bei Nietzsche der Flamme, sondern der Dunkel-
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Ebenda, S. 756. Ebenda, S. 771. Rainer Maria Rilke: Werke (Anm. 36). Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. v. Manfred Engel. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 161f.
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heit. Das Dunkle wird zum Glanz von innen. Anders als bei Nietzsche wird das flammend Gefasste nicht zu Kohle, vielmehr »hält die Dunkelheit alles an sich«, wahllos »errafft« sie die Dinge und Wesen. Später heißt es, dass sich Ton und Tod zitternd im »dunklen Intervall« versöhnen, wobei es nun allein auf eines ankommt, nämlich dass das Lied »schön« bleibe.45 Als Lyriker verzichtete der frühe Rilke auf ironische Töne und betrieb die Umwertung von Nietzsches Selbstübersteigerung in poetische Selbstintensivierung. Dass er sich nur ein Jahr zuvor in seiner Erzählung Ewald Tragy (1898) über eine Wilhelm von Scholz nachgebildete Figur lustig machen konnte, der von sich behauptete, Nietzsche überwinden zu können, mag dabei wie ein ironisches Präludium zu jenem Nietzsche-Gedicht aus dem betont weltlich-ästhetisch verstandenen, »mönchische[n] Leben« klingen. In jenes Jahr fiel auch Rilkes Auseinandersetzung mit dem Wert des Monologs, eine Entgegnung auf Fritz Seltens Versuch Über den Monolog im Drama in der Zeitschrift Dramaturgische Blätter.46 Der bereits sprachskeptisch gewordene Rilke argumentiert, der Monolog geschehe »im Augenblick der Unentschlossenheit oder Hilflosigkeit der handelnden Person, gleichsam am Vorabend einer Tat«. Er zeige »die innersten Konflikte dieses Menschen, seine Seele mit Zweifel und Zorn, Sehnsucht und Hoffnung zu enthüllen«. Es sei der Monolog, der jene »geheimnisvollen Dämmerungen aufzudecken« vermöge, »in denen alle Entschlüsse noch wie kleine, klare Quellen sind«.47 Freilich betrachtet er den Monolog seinerseits als eine Form des Übergangs; wenn es nämlich gelungen sei, das Leben, dessen Elemente auf der Bühne wie »in kleinen Probiergläsern« Experimenten unterzogen werden, zu befreien und jenseits aller Regieanweisungen, Monologe und Dialoge selbst »sprechen« zu lassen, bedürfe es des Monologes nicht mehr.48 Der Monolog, so legt Rilke nahe, erschließe das Unbewusste. Zwar ist zu bezweifeln, dass er bei der Abfassung dieses Textes Nietzsches Äußerungen zur monologischen Kunst aus der Fröhlichen Wissenschaft zur Hand gehabt hat, wenngleich sich dies auch nicht mit Bestimmtheit ausschließen lässt. Im Fünften Buch findet sich nämlich folgende Stelle, deren Tragweite bis zu Gottfried Benn reicht:49 »Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt, componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen«. Nietzsche unterscheidet somit zwischen einer intentionalen Kunst (»vor« und für Zeugen) und ei-
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Ebenda, S. 167. Rainer Maria Rilke: Werke (Anm. 36). Bd. 4: Schriften. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 121–124; vgl. auch den Kommentar auf S. 811. Ebenda, S. 121. Ebenda, S. 124. Vgl. dazu auch den anregenden Aufsatz von Walter Grasskamp: Unerhörte Monologe. In: Die Zeit. 7. August 1992, S. 39.
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ner genuin monologischen Kunst, welche »›die Welt vergessen‹« habe; daher nennt er sie auch »Musik des Vergessens« (KSA 3, S. 616). Problematisch wird die Kunst des Monologs, wenn sie zur, mit Nietzsche gesagt, »Mimonanie« führt, zur weltvergessenen, aber selbstversessenen Schauspielerei, wie Nietzsche sie an der Person Richard Wagners exemplifiziert. Jedoch hatte zuletzt auch Nietzsche als Parodist seiner selbst, der im Kostüm des Harlekin auftreten wollte und als des Weltgeistes Hanswurst sich empfahl, durch sein in monologische Worte gefasstes (zynisches) Gelächter zu wirken versucht: »Ich halte es aufrichtig für möglich, die ganze absurde Lage Europa’s durch eine Art von welthistorischem Gelächter in Ordnung zu bringen«, prophezeite er am Neujahrstag 1889 Jean Bourdeau (SB 8, S. 570). Da hatte er sich das Lachen Kundrys zu eigen gemacht, dessen Echo noch bei André Glucksmann in den Maîtres penseurs (1978) vernehmbar ist. Dieser zitiert Nietzsches Wort, dass Parsifal »Wagner’s heimliches Überlegenheits-Lachen über sich selber« gewesen sei, ein Exempel in lachender Selbstüberwindung beziehungsweise einer Selbstüberwindung durch Gelächter, das, so Glucksmann, »uns ins Gesicht« gelacht sei.50 Andere Kritiker sehen in der Tatsache, dass Nietzsche das Lachen ins Denken habe eindringen lassen, seinen eigentlichen Beitrag zur Moderne.51 Es handelte sich jedoch um ein Lachen aus Leiden am Leben, ein Lachen, das sich dem verzweifelt bemühten Vitalismus eines kranken Menschen entrang, ein nihilistisches Lachen, das der Erkenntnis des Nihilismus und seiner Überwindung galt. Nachwirken, was meint das? Sind Ironie, Parodie und Wille zum Experiment Voraussetzungen für ein Nachwirken im ästhetischen Sinne? Das würde bedeuten, dass ein Werk, um nachwirken zu können, über entsprechende ›wirkungsvoll‹ parodierbare Flächen oder Tiefen verfügen müsste. ›Einfluß‹ definierte Friedrich Gundolf 1911 als ein Phänomen, bei welchem der Fluss des Schaffens durch einen neuen Zustrom eine andere Richtung nimmt.52 Das kann zu einer surrealen Extremerfahrung führen, wie der klassisch gewordene Modernist, der am Rande des Surrealen schrieb, Witold Gombrowicz, in seinem Tagebuch vermerkt. In seinem vorletzten Jahr
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André Glucksmann: Die Meisterdenker. Aus dem Französischen v. Jürgen Hoch. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 277. Die Kulturtheorie hat seit Helmuth Plessners Studie über Lachen und Weinen (H. Plessner: Lachen und Weinen: eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Bern 1941) das Lachen, Lächeln und Gelächter bis zurück in die Antike und das Mittelalter fruchtbar gemacht, namentlich Jacques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter. Mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider. Aus dem Französischen v. Jochen Grube. Stuttgart 2004; darin eine Auflistung der wichtigsten Literatur zu diesem Thema (S. 127– 128). Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1911, S. VIII [Vorwort].
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in Argentinien, vor der Rückkehr nach Europa, hört er Beethovens vierzehntes Quartett (op. 135, F-Dur) und dessen, wie er sagt, »Grenzklänge«. Am selben Tag im Café bemerkt er die am Kellner herabhängende, unbeschäftigt, beinahe verborgen wirkende Hand, was ihn wenig später zu der surrealen Reflexion verleitet: »Die Hand des Kellners war verschwunden, es gab sie nicht mehr. Bis plötzlich ein Gedanke von Nietzsche ihr wieder eine Dosis Sein injizierte – majestätisches Sein«.53 Ein Kulturstrom, nach dem sich der Autor sehnt, nimmt eine unerwartete Richtung ins isoliert Einzelne, Abseitige beinahe, die eigentlich servierende Hand des Kellners, die unter Nietzsches Einfluss gebietend werden könnte, auf eine neue Weise schaffend. Abschließend sei ein ganz anders gelagerter Fall einer Nachwirkung Nietzsches betrachtet: Ein Autor, der das zuvor benannte Leiden und (stets etwas surreale) Lachen verinnerlicht hatte, der stilistisch spätexpressionistisch über Nietzsche handelte und dabei mit dem Genre des Essays und mit Denkformen Nietzsches experimentierte, nämlich Theodor Lessing in seinem Versuch über Nietzsche aus dem Jahr 1925. In jenem Jahr tat er sich unter anderem auch durch eine scharfe Polemik gegen die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten hervor, den er als Totengräber der Demokratie durchschaute. Lessing nun, im Jahre 1933 von nie identifizierten Nationalsozialisten im tschechischen Marienbad ermordet, hatte Nietzsche schon früh in zivilisationskritischer Absicht instrumentalisiert, sogar in seinem 1901 verfassten Aufsatz Über den Lärm, in dem er schreibt: Für Künstler und Philosophen wurden die großen Städte ungeeignet. Unter dem Gerassel der Eisenbahnen, zwischen Pfeifen und Peitschenknallen, unter dem Schreien der Händler und Hausierer, im Gerassel von Fleischer- und Bäckerwagen, beim Dröhnen von Rädern, knarrenden Thüren und unaufhörlich klingenden Glocken, da sollen sie leuchtende Gedanken und tiefe Stimmungen auf das Papier bringen.54
Dies ist eine unmittelbare Paraphrase des Aphorismus 280 aus Die Fröhliche Wissenschaft, welcher der »Architektur der Erkennenden« gilt. Er beginnt folgendermaßen:
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Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. Aus dem Polnischen v. Olaf Kühl. München, Wien 1988, S. 577f. Theodor Lessing: Über den Lärm. In: Nord und Süd 97 (1901). H. 289, S. 71–84, hier S. 72 (ich danke meinem Mitarbeiter, Mr. John Goodyear, MA, für diesen Hinweis). Vgl. auch Lessings Autobiographie Einmal und nie wieder (Gütersloh 1969). Hans Eggert Schröder: Theodor Lessings autobiographische Schriften. Ein Kommentar. Bonn 1970. Hans Mayer: Theodor Lessing. Bericht über ein politisches Trauma. In: Ders.: Der Repräsentant und der Märtyrer. Frankfurt a. M. 1971, S. 94–120. Ders.: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1985, S. 414–421.
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Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des SichBesinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. (KSA 3, S. 524)
Charakteristisch an dieser ›Transliterierung‹ ist Lessings expressives ornamentalisierendes Verfahren. Lessings zunehmend manisch betriebener Anticlamorismus tritt – nicht nur an dieser Stelle – seinerseits ›lärmend‹ auf, indem er sprachlich die Nicht-Stille artikuliert, ja durch die Art seiner Wortwahl geradezu erzeugt. Anders gesagt: Lessing orchestriert gleichsam Nietzsches Überlegung zu lärmberuhigten Denkzonen in den Städten. Und ganz ähnlich geht er vierundzwanzig Jahre später in seinem Versuch über Nietzsche vor. Man kann ihn spätexpressionistisch oder frühdekonstruktivistisch nennen, experimentell ist er in jedem Fall. Denn Lessing stellt Nietzsche hier als einen Philosophen des Ausdrucks, als einen ausdrucksvollsten Stils sich bedienenden Denker, aber auch als einen Analytiker der Auflösung vor, der selbst die Auflösung gelebt habe. Lessings Nietzsche schwankt zwischen Dogmatik und Relativismus, zwischen atomisierten Einsichten in Leben und Kunst und einem Willen zur Allumfassung des Denkens. Lessing beschreibt Nietzsche als den Gesamtkünstler unter den Denkern: »Sein Ziel wird: das eigenste Innere völlig auszugraben und in Worte zu münzen, so wie ein Musiker in Tönen, ein Maler in Farben seines Lebens Niederschlag und Überschwang der Nachwelt hinterlegt«.55 Zudem verdanke sich dieses Denken dem Landschaftlichen, das es umgab; es handele sich bei ihm, so Lessing, um die kritische Durchdringung der Kultur und um das Zeugnis eines augenleidenden »großen Sehers«.56 In seinem Versuch bedient Lessing ein solches klischeehaftes Denken des Öfteren; und stets geht er von der Perspektive aus: Seht, welch’ ein Denker. Das durchaus ›Moderne‹ an seinem Versuch ist freilich, dass er einige der vielen Widersprüche im Denken Nietzsches herausarbeitet und sich auch in seiner eigenen Argumentation in Widersprüche verstrickt, sodass man den Eindruck gewinnen kann, er wolle sagen: Über Nietzsche lässt sich nur widersprüchlich schreiben. Das bedenkenswert philosophische Problem, das Lessing aus Nietzsches Werk destilliert, beschäftigt einen Gutteil der Nietzsche-Interpreten bis heute: Wie lässt sich die ›Umwertung aller Werte‹ mit dem Gedanken der ›ewigen Wiederkunft‹ vereinbaren? Kann
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Theodor Lessing: Nietzsche. Berlin 1926, S. 36. Ebenda, S. 51.
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man von der Möglichkeit einer Umwertung überhaupt sprechen, wenn sie im Zeichen der Kreisläufigkeit steht? Oder besteht die Umwertung ausschließlich im Gedanken der ›ewigen Wiederkunft‹? Hierbei handelt es sich um Fragen, die sich im Zuge der Nachwirkung Nietzsches in der literarischen Moderne stellen und die bis in unsere Gegenwart reichen. Dieser Befund deckt sich mit jenen Worten, mit denen Manès Sperber das Gespräch Nietzsche und wir beschlossen hatte: Er sprach von der »überaus erstaunlichen, ja unvergleichlichen Präsenz Nietzsches«; aufgrund der von ihm »besonders scharf formulierten Fragen« habe er »eine eigentümliche, bedrängende Aktualität« bewahrt. Sperber weiter: »Die Aktualität Nietzsches, wie die so vieler anderer Denker und Dichter, wird aufrecht erhalten durch die Unfähigkeit der Nachgeborenen, die Fragen zu lösen, die jene lange vor uns gestellt und unzulänglich beantwortet haben. So erben wir von ihnen nur Fragen«.57 Und so erweisen sich diese Fragen im Zusammenhang mit Nietzsche ihrerseits als ›Wiedergänger‹. Sie gehören wesentlich zum Versuchsaufbau im Denk- und Sprachlabor, das Nietzsche in einer Weise eingerichtet hat, dass es je nach Zeitperiode und Erkenntnisinteresse umgebaut werden kann. Denn was Nietzsche als »Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen« einforderte (KSA 2, S. 24), sorgt auch weiterhin für anhaltende Kettenreaktionen.
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Manès Sperber in: Nietzsche und wir (Anm. 4), S. 1165.
Autorenverzeichnis DIETER BORCHMEYER, geboren 1941, Studium der Germanistik und Katholischen Theologie in München. Promotion 1971. Habilitation 1979. Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München (1982–1988). Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg (seit 1988). Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (seit 2004). Wichtigste Publikationen: Höfische Gesellschaft und Französische Revolution bei Goethe: Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik (1977); Weimarer Klassik (1980, Neuausgabe 1994); Das Theater Richard Wagners: Idee, Dichtung, Wirkung (1982); Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein (1988); Goethe. Der Zeitbürger (1999); Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen (2002); Mozart oder die Entdeckung der Liebe (2005); Nietzsche – Cosima – Wagner. Porträt einer Freundschaft (2008). Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Musiktheater (insbesondere Mozart und Richard Wagner), Weimarer Klassik, Klassische Moderne. RÜDIGER GÖRNER, geboren 1957, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Musikwissenschaft in Tübingen und der Anglistik in London. Promotion 1988. Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der Aston University in Birmingham (1997–2004). Professor für Neuere deutsche Literatur am Queen Mary College, University of London (seit 2004). Gründungsdirektor und Leiter des Centre for AngloGerman Cultural Relations am Queen Mary College, University of London (seit 2004). Wichtigste Publikationen: Das Tagebuch. Eine Einführung (1986); Hölderlins Mitte. Zur Ästhetik eines Ideals (1995); Wissen und Entsagen – aus Kunst. Studien zu einem Motiv bei Goethe (1995); Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen (1996); Nietzsches Kunst. Annäherungen an einen Denkartisten (2000); Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen (2001); Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache (2004); Thomas Mann. Der Zauber des Letzten (2005); Das Zeitalter des Fraktalen. Ein kulturkritischer Versuch (2007); Wenn Götzen dämmern. Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche (2008); Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Romantikforschung, Deutsch-britische Kulturtransfers im 19. und 20. Jahrhundert Ästhetik und Poetik, Literarisierung von Musik.
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ECKHARD HEFTRICH, geboren 1928, Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik. Promotion 1958. Habilitation 1970. Ab 1958 freiberuflicher Schriftsteller und Literaturkritiker. Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität München (1970–1974). Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Münster (ab 1974). Wichtigste Publikationen: Die Philosophie und Rilke (1962); Nietzsches Philosophie – Identität von Welt und Nichts (1962); Hegel und Jacob Burckhardt (1967); Novalis – Vom Logos der Poesie (1969); Zauberbergmusik – Über Thomas Mann, Bd. 1 (1975); Lessings Aufklärung (1978); Vom Verfall zur Apokalypse – Über Thomas Mann, Bd. 2 (1982); Musil (1986); Geträumte Taten – Joseph und seine Brüder – Über Thomas Mann, Bd. 3 (1993); Nietzsches tragische Größe (2000). Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Philosophie und Literatur, Komparatistik, Textkritik, Aufklärung, Klassik, Romantik, Fin de Siècle, Nietzsche, Thomas Mann. NIKOLAS IMMER, geboren 1978, Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Jena. Promotion 2008. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Jena (2004–2009). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Trier (seit 2009). Mitarbeit an der Schiller-Nationalausgabe (seit 2007) und an der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe (seit 2008). Wichtigste Publikationen: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung (hg. mit Klaus Manger, 2006); Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (2008). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, Dramenästhetik und -theorie. JACQUES LE RIDER, geboren 1954, Studium der Germanistik und Politikwissenschaft an der École normale supérieure Paris, an der Sorbonne Paris IV und am Institut d’études politiques Paris. Promotion 1982. Habilitation 1989. Seit 1999 Professor für deutsche Kulturgeschichte (18. bis 20. Jahrhundert) an der École pratique des Hautes Études Paris. Wichtigste Publikationen: Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent (1999); Kein Tag ohne Schreiben. Die Tagebuchliteratur der Wiener Moderne (2002, übers. v. Eva Werth); Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne (2004; übers. v. Christian Winterhalter); Malwida von Meysenbug (1816–1903). Une Européenne du XIXe siècle (2005); Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Epoque (2006; übers. v. Christian Winterhalter); L’Allemagne au temps du réalisme (1848– 1890). De l’espoir au désenchantement (2008). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Fritz Mauthner, Österreichische Kulturgeschichte (18. bis 20. Jahrhundert), Intermedialität von Text und Bild.
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PAUL MICHAEL LÜTZELER, geboren 1943, Studium der Germanistik, Anglistik, Philosophie und Geschichte in Berlin, Edinburgh, Wien, München, Bloomington. Promotion 1972. Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte, Vergleichende Literaturwissenschaft und Europa-Studien an der Washington University in St. Louis seit 1973 (dort seit 1993 Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities). Wichtigste Publikationen: Hermann Broch. Eine Biographie (1985); Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit. Deutschsprachige Romane im 20. Jahrhundert (1986); Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (1992); Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte (1997); Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs (2000); Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur (2005); Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller (2007). Forschungsschwerpunkte: Deutsche und europäische Romantik, Exilliteratur (Hermann Broch), Literatur- und Kulturtheorie, Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte, Europa-Diskurs der Schriftsteller, Gegenwartsliteratur der deutschsprachigen Länder. MATHIAS MAYER, geboren 1958, Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Freiburg und Wien. Promotion 1987. Habilitation 1993. Editor bei der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe in Frankfurt (1987–1992). Professor für Neuere Deutsche Literatur an den Universitäten Regensburg (1995–2002) und Augsburg (seit 2002). Wichtigste Publikationen: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im Wilhelm Meister (1989); Hugo von Hofmannsthal (1993); Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis (1997); Die Kunst der Abdankung. Neun Kapitel über die Macht der Ohnmacht (2001); Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen (2001); Mörike und Peregrina (2004); Nachträgliche Wahrheit. Der Epilog auf der Bühne des Lebens (2007). Forschungsschwerpunkte: Goethezeit, Musiktheater, Österreichische Literatur, Literatur und Ethik. GILBERT MERLIO, geboren 1934, Studium der Germanistik in Lille, Paris und Saarbrücken. Agrégé de l’Université. Studienrat für Deutsch in Roubaix und Bordeaux (1956–1966). Habilitation 1980. Dozent und Professor für Germanistik an der Universität Bordeaux (1966–1993). Gastprofessur für Germanistik an der Universität Hamburg (1983). Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne (1993–2003). Wichtigste Publikationen: Oswald Spengler, témoin de son temps (1982); Les résistances allemandes à Hitler (2001); Linke und rechte Kulturkritik (hg. mit Gérard Raulet, 2005); Spengler – Ein Denker der Zeitenwende (hg. mit M. Gangl u. M. Ophälders, 2009). Forschungsschwerpunkte: Kulturkritik, Spengler,
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Nietzsche, Jaspers, Ernst Jünger, die Konservative Revolution, Geschichte der Intellektuellen in Frankreich und Deutschland. BARBARA NEYMEYR, geboren 1961, Studium der Germanistik, Philosophie, Latinistik und Pädagogik in Münster. Promotion 1993. Habilitation 2000. Apl. Professorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg i. Br. (seit 2006). Wissenschaftliche Kommentatorin in der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (seit 2008). Wichtigste Publikationen: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik (1996); Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes (2004); Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften (2005); Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays (2009). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere der Romantik, des Realismus und der klassischen Moderne; Literatur im kulturhistorischen Kontext; Ästhetik und Literaturtheorie. DIRK NIEFANGER, geboren 1960, Studium der Germanistik, Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Tübingen und Wien. Promotion 1992. Habilitation 1999. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Technischen Universität Braunschweig (2002–2003). Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg (seit 2003). Wichtigste Publikationen: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne (1993); Historismus und literarische Moderne (mit M. Baßler, C. Brecht u. G. Wunberg, 1996); Barock (2000, 22006); Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773 (2005). Forschungsschwerpunkte: Kultur der Frühen Neuzeit, insbesondere Barockliteratur; Klassische Moderne, insbesondere Wiener Moderne; Literaturtheorie; Gegenwartsliteratur. DIRK OSCHMANN, geboren 1967, Studium der Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena und Buffalo/USA. Promotion 1998. Habilitation 2006. Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der University of Wisconsin in Madison/USA (2001–2002). Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Jena (seit 2005). Gastprofessor an der University of California in Davis/USA (2006). Wichtigste Publikationen: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers (1999); Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist (2007). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Aufklärung, Klassik und Romantik, Klassische Moderne, Nachkriegslite-
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ratur, ästhetische Bewegungskonzepte von der Aufklärung bis zur Gegenwart. CHRISTIAN SCHÄRF, geboren 1960, Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz und Paris. Promotion 1993, Habilitation 1998. Apl. Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz sowie Lehrkraft am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. Wichtigste Publikationen: Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift (1994); Werkbau und Weltspiel. Die Idee der Kunst in der modernen Prosa (1999); Geschichte des Essays (1999); Franz Kafka. Poetischer Text und heilige Schrift (2000); Der Roman im 20. Jahrhundert (2001); Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert (2006); Schriftsteller-Inszenierungen (mit Gunter E. Grimm, 2008); Frankreich. Eine literarische Entdeckungsreise (2009). Forschungsschwerpunkte: Goethezeit, Nietzsche und die Folgen, Literarische Kreativität, Mediengeschichte der Literatur, Essayforschung. PETER SPRENGEL, geboren 1949, Studium der Germanistik und Gräzistik in Hamburg und Tübingen. Promotion 1976. Habilitation 1981. Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg (1980–1986). Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Kiel (1987–1992). Professor für Neuere deutsche Literatur mit besonderer Berücksichtigung der Klassischen Moderne an der Freien Universität Berlin (seit 1990). Wichtigste Publikationen: Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden an der Gesellschaft (1977); Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses (1982); Darwin in der Poesie (1998); Berliner und Wiener Moderne (mit Gregor Streim, 1998); Geschichte der deutschen Literatur 1870–1900 (1998); Geschichte der deutschen Literatur 1900–1918 (2004); Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich (2009). Forschungsschwerpunkte: Goethezeit, Klassische Moderne, Drama und Theater/Kabarett. HANS RUDOLF VAGET, geboren 1938, Studium in München, Tübingen, Cardiff sowie an der Columbia University, New York. Promotion 1969. Professor of German Studies and Comparative Literature am Smith College in Northampton, Massachusetts (1967–2004). Gastprofessuren an der University of California, Irvine, der Columbia University, New York, der Princeton University, Yale University sowie an der Universität Hamburg. Mitbegründer und Präsident (2001–2004) der Goethe Society of North America. Mitherausgeber der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher Thomas Manns. Wichtigste Publika-
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tionen: Dilettantismus und Meisterschaft: Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe (1971); Thomas Mann. Studien zu Fragen der Rezeption (1975); Goethe: Der Mann von 60 Jahren (1982); Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen (1984); Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner, Texte und Zeugnisse (22005); Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik (2006); Thomas Mann, The Magic Mountain. A Casebook (2008). THORSTEN VALK, geboren 1972, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Freiburg. Promotion 2000. Habilitation 2006. Leiter des Referats Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar und Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Jena (seit 2007). Wichtigste Publikationen: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie (2002); Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950 (2008); Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968 (hg. mit Wolf Gerhard Schmidt); Der junge Goethe. Epoche – Werk – Wirkung (in Vorb.). Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, insbesondere Klassik, Romantik und Klassische Moderne; Intermedialität und Medienästhetik; Poetologische Lyrik. GESA VON ESSEN, geboren 1967, Studium der Germanistik, Geschichte, Politik und Pädagogik in Göttingen und Wien. Promotion 1997. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger SFB Internationalität nationaler Literaturen (1997–2000). Wissenschaftliche Assistentin am Göttinger Seminar für Deutsche Philologie (2001–2004). Wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Freiburg (2004–2007); dort Akademische Rätin (2007–2008). Seit April 2008 Wissenschaftliche Koordinatorin der School of Language & Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Wichtigste Publikationen: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts (1998); Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität (hg. mit H. Turk, 2000); Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur (hg. mit W. Frick u. F. Lampart, 2003); ›Du sollst dich nicht vorenthalten!‹. Albrecht Goes in Gebersheim (2008). Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Aspekte der Internationalitätsforschung, kulturwissenschaftliche Fragestellungen.