Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 44
Die Insel des Namenlosen
von H. G. Ewers
Seit der Stunde, da das Tor zwisc...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 44
Die Insel des Namenlosen
von H. G. Ewers
Seit der Stunde, da das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschlossen wurde, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden und bizarren Umgebung geworden. Um sich behaupten zu können, müssen sie um ihr Leben ringen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Während Ubali zusammen mit Thamai, seiner ebenholzfarbenen Geliebten, sich durch den Dschungel kämpft, den Weg der Prüfungen beschreitet und schließlich der Paladin Vitus, des Lebensgeistes, wird, hat Dragon, seit er Träger des einen Auges Vestas wurde, ein schweres Erbe übernommen, das ihn ruhelos von Ort zu Ort eilen läßt. Er erfüllt eine Mission, die Danilas Welt vor der drohenden Katastrophe retten soll, indem er die Elementargeister zu bewegen versucht, Vesta, dem ehemaligen Herrn der Elemente, wieder zu gehorchen. Zwei Erfolge hat Dragon bereits zu verzeichnen – ebenso wie Akkeron, sein Gegenspieler und Verfechter des Chaos, der Tyde, den Wassergeist, und Skortsch, den Geist des Feuers, in seine Gewalt gebracht hat. Doch nun geht es um alles! Der Atlanter muß Vesta selbst befreien, wenn nicht alle bisherigen Anstrengungen und Strapazen vergebens sein sollen. Er muß Zugang finden zur INSEL DES NAMENLOSEN .
Die Hauptpersonen des Romans:
Dragon - Der Atlanter macht sich auf den Weg zur Burg des Namenlosen.
Aerula-thane - Dragons Wanderwolke.
Vesta - Der Herr der Elemente hofft auf seine Befreiung.
Coleops - Ein seltsamer Weggenosse des Atlanters.
Fennark - Burgherr im Land des Wilden Lebens.
Oranda - Fennarks Tochter.
1. Ich richtete mich auf, wandte mich um und blickte zurück. Aerulas Felsenturm ragte hinter der Wanderwolke und mir hoch in den blassen Morgenhimmel. Eine einzelne kleine Wolke hatte an Aerulas Wohnsitz angelegt, als wäre sie ein Boot, das der Luftgeist zu seiner Verfügung bereithielte. Einen Augenblick lang war mir, als flatterten einige Wesen unterhalb der kleinen Wolke um den Felsenturm – Vogelmenschen aus dem Pueblo-Dorf. Vielleicht wollten sie sehen, wie ich auf Aerula-thane davonsegelte. Vielleicht war auch das Vogelmädchen bei ihnen, das ich vor den Reißzähnen der Grauen Wölfin bewahrt hatte. Doch vielleicht handelte es sich auch nur um eine Sinnestäuschung. Ich richtete den Blick wieder nach vorn, gen Süden, wohin unser Flug ging. Die Insel des Namenlosen war mein nächstes Ziel. Dort wurde Vesta, der Herr der Elemente, gefangengehalten. Wenn es mir gelang, ihn zu befreien, würde die Auseinandersetzung mit Akkeron in greifbare Nähe rücken. Unwillkürlich fühlte ich in meinem Gepäck, in dem sich unter anderem Vorräte befanden, die aus dem Dorf der Vogelmenschen stammten, nach dem kleinen Ball mit der schimmernden Hülle undefinierbaren Materials. Aerula hatte mir diesen Ball überreicht und mir verraten, daß er sein »Innerstes« enthielte. Ich sollte ihn zu Vesta bringen und ihm
überreichen, aber er sollte mir auch auf meinem Weg durch die Sperren helfen, die Vestas Gefängnis umgaben. Ich tastete nach »Vestas Auge« über meiner Nasenwurzel und dachte daran, wie oft es mir schon in tödlich scheinenden Gefahren geholfen hatte. Das verpflichtete mich natürlich dazu, alles zu tun, um auch Vesta zu helfen. Doch ich vergaß dabei nicht, daß mein wichtigstes Ziel war, Informationen über ein anderes Weltentor zu erhalten. Nachdem das Tor, durch das ich auf diese Welt gekommen war, nicht mehr existierte, hatte ich nach einem anderen Tor gesucht, hatte Informationen gesammelt und war schließlich auf Akkathos gestoßen, der mir »Vestas Auge« gegeben hatte, bevor er starb – nicht ohne mich zu bitten, sein Vermächtnis zu erfüllen. Ich wollte das Vermächtnis des Träumers erfüllen, aber ich wollte auch zurück zu meiner eigenen Welt – und dazu mußte ich ein weiteres Weltentor finden. Wenn es eines gab …! Ich warf einen Blick auf das Land tief unter uns. Es handelte sich um eine wellige, grasbewachsene Ebene, auf der Tierherden grasten. Ein silberfarbener Fluß schlängelte sich durch diese Ebene, gesäumt von schmalen lichten Waldstreifen, zwischen deren Bäumen sich dünne Nebelschleier hielten. Es war ein friedliches Bild, das mich beinahe vergessen ließ, daß die Welt, zu der es gehörte, alles andere als friedlich war. Hier wüteten – offen oder versteckt – grausame Kämpfe. Als hätte Aerula-thane meine Gedanken gehört, meldete sie sich. Ich habe eine Botschaft Aerulas erhalten! teilte die Wanderwolke mir mit. Eine wichtige Botschaft? fragte ich rein gedanklich. Laß hören! Ich wußte, daß Aerula mit seinem Wolkengeschöpf gedanklichen Kontakt hielt, und wenn der Luftgeist mir durch Aerula-thane eine Botschaft übermitteln ließ, mußte sie wichtig sein. Zwischen Akkeron und Skortsch, dem Feuergeist, bahnt sich der entscheidende Kampf an! berichtete mir Aerula-thane. Skortsch
zieht alles Feuer in sich zusammen, um mit einem gewaltigen Ausbruch Akkeron und seine Krieger zu vernichten. Aber Akkeron will dem zuvorkommen. Aerula hält es für möglich, daß Skortsch von ihm besiegt wird. Ich ballte grimmig die Fäuste. Wenn Skortsch von Akkeron besiegt wurde – und dieser Teufel mochte es schaffen –, dann mußte auch der Feuergeist dem Abtrünnigen gehorchen, so wie Tyde, der Wassergeist, ihm gehorchte. Schneller, Aerula-thane! Unsere Zeit wird knapp. Wir müssen Vesta befreien, bevor Akkeron Skortsch besiegt hat und den Feuergeist für seine finsteren Pläne einspannen kann. Ich tue alles, was ich kann! antwortete die Wanderwolke. Aerula muß uns helfen. So sage es ihm! Wenig später erkannte ich, daß Aerula sich bemühte, uns nach Kräften zu helfen. Die Luft trübte sich. Wolkenschlieren überzogen den Himmel, und Aerula-thane wurde schneller, als ein kräftiger Windstoß sie anschob. Ich lehnte mich in meinem wolkigen Sitz zurück, den die Wanderwolke für mich aus ihrer Substanz geformt hatte. Alles, was ich während des Fluges nach Süden tun konnte, war Geduld zu haben. Und doch brannte ich vor Ungeduld … * Am Abend des ersten Tages erreichten wir einen schmalen Gebirgszug, an dessen Fuß zahlreiche graue Vulkankegel standen. Aber kein Rauch kräuselte sich aus den Feuerschlünden, keine Flamme leckte über die zerborstenen Ränder und kein Beben deutete an, daß die Erde von den Gewalten des ihr innewohnenden Feuers erschüttert wurde. Da wurde mir erst richtig klar, was Aerula damit gemeint hatte,
als er mir über die Wanderwolke mitteilen ließ, daß Skortsch alle seine Feuer in sich zusammenzog. Wahrscheinlich waren jetzt überall auf dieser Welt die Vulkane erloschen, hatten die Beben aufgehört, die Kruste zu erschüttern. Alle Kräfte des Feuers strömten zu Skortsch. Ich begann zu ahnen, daß sich eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes ereignen mußte, wenn Skortsch alle seine gesammelten Kräfte in einem einzigen Ausbruch freisetzte. Vielleicht bedeutete es den Untergang dieser Welt. Es beruhigte mich nicht, daß bei einem solchen Untergang auch Akkeron vergehen würde, denn ich selbst würde vom gleichen Schicksal ereilt werden. Aber ich mußte zurück auf meine eigene Welt. Es war besser, Skortsch wurde von Akkeron besiegt, als daß der Geist des Feuers mit dem Abtrünnigen eine ganze Welt vernichtete. Ich brauche Ruhe – und Nahrung! teilte Aerula-thane mir mit. Hinter dem Gebirgszug liegt ein See. An seinem Ufer könnten wir rasten und die Nacht verbringen. Ich spähte nach unten. Südlich des Gebirgszugs schimmerte die Fläche eines mittelgroßen Sees. Rund zwei Drittel seines Ufers waren sumpfig, aber das restliche Drittel war von saftigen sattgrünen Wiesen umgeben, auf denen die Wanderwolke äsen konnte. Es kostete mich allerdings einige Überwindung, der Rast zuzustimmen. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht über weitergeflogen. Doch ich sah ein, daß Aerula-thane im Vollbesitz ihrer Kräfte sein mußte, wenn wir die Sperren rings um Vestas Gefängnis überwinden wollten, von denen ich durch einige VestaVisionen wußte. Einverstanden. Suche einen Platz aus, wo ich mir ein Feuer anzünden kann. Sofort ging Aerula-thane tiefer. Sie huschte dicht über einen buckelförmigen Grat hinweg, verharrte für kurze Zeit mitten über dem See und schwebte dann in geringer Höhe auf das östliche Ufer
zu. Die Wanderwolke landete am Rand einer großen Wiese. Weiter östlich standen einige verkrüppelte Bäume, deren bleiche Äste und Zweige verrieten, daß der See öfter über seine Ufer getreten war. Dort würde ich trockenes Holz für ein Feuer finden. Ich lud einige meiner Vorräte und meine Waffen ab und winkte der Wanderwolke zu, die augenblicklich zu äsen begann. Wie ich erwartet hatte, lieferten die vom Hochwasser ihrer Rinde beraubten Äste und Zweige ausreichend trockenes Holz für ein Feuer, das ich während der Nacht unterhalten konnte. Als das Feuer brannte, legte ich ein Stück Fleisch, das in feuchte Blätter gewickelt war, an seinen Rand, wo sich rote Glut gebildet hatte. Als die eine Seite der Blattumhüllung sich zu bräunen begann, drehte ich es um. Nach einiger Zeit war das ganze Paket mittelbraun gefärbt, und ein verlockender Duft stieg mir in die Nase. Ich rollte das Paket mit einem Stock aus der unmittelbaren Nähe der Glut und öffnete es mit dem Messer. Das Fleisch, in seinem eigenen Saft geschmort, war herrlich zart und mundete mir köstlich. Ich aß etwas von dem Fladenbrot dazu, das die Vogelmenschen mir mitgegeben hatten und trank etwas Wein aus dem frischgefüllten Schlauch. Noch während ich aß, brach die Dunkelheit herein. Nur das Lagerfeuer schuf einen kleinen Kreis Helligkeit. Ich legte neues Holz ins Feuer und wollte mich soeben auf meiner Decke ausstrecken, als hinter der Grenze des Lichtkreises jenseits des Feuers ein matter Schein die Dunkelheit durchbrach. Ich hockte auf dem Boden, kniff die Augen zusammen und spähte zu der Erscheinung hinüber. Meine Rechte griff nach dem Schwert, denn auf dieser Welt, so hatten mich zahllose Erfahrungen gelehrt, konnte hinter allem und jedem Gefahr lauern. Plötzlich flackerte mein Feuer. Die Glut färbte sich dunkel, und die Flammen verloren an Leuchtkraft. Die mattleuchtende Erscheinung hob sich dadurch besser gegen
den dunklen Hintergrund ab, und ich sah, daß der fahle Lichtschein von einem riesigen felsgroßen Schemen ausging. Eine strahlende Aura umgab die schemenhafte Gestalt und verzerrte ihre Konturen, so daß ich nichts Genaues erkennen konnte. Unwillkürlich erhob ich mich. Das Schwert ließ ich liegen, denn diese Erscheinung war mir inzwischen vertraut. Das war kein Feind, das war überhaupt kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern eine Vision, die von Vesta, dem Herrn der Elemente, erzeugt wurde. »Dragon!« schallte es hohl zu mir herüber. »Du, der du eines meiner Augen trägst, hast bewiesen, daß du die Kraft und den Willen und die Fähigkeiten besitzt, das Vermächtnis des Akkathos zu erfüllen. Aber noch viele Hindernisse liegen vor dir, noch viele Gefahren wirst du bestehen müssen. Die Insel des Namenlosen wird durch wirksame Sperren gegen jeden geschützt, der von außen kommt. Eine der Sperren ist das Wilde Wasser. Es wird von Tyde beherrscht, dem Wassergeist, der Akkeron gehorchen muß. Wenn du mit Hilfe von Aerula-thane das Wilde Wasser überwindest, wirst du an die nächste Sperre kommen, die Waberlohe, die alles verbrennt, was in ihre Nähe kommt. Aber du wirst eine Chance haben, die Waberlohe zu überwinden, wenn du zum richtigen Zeitpunkt ankommst. In dem Augenblick nämlich, da Skortsch Akkeron unterliegt, wird die Waberlohe für einen Moment völlig in sich zusammensinken. Ich wünsche dir, Dragon, Glück und Mut. Du wirst beides benötigen, wenn du dein Ziel erreichen willst.« Ich stand wie erstarrt und blickte zu dem Schemen hinüber, der zusehens schwächer leuchtete, transparenter wurde und plötzlich verschwand, als hätte es ihn niemals gegeben. Im gleichen Augenblick wurde die Glut des Feuers wieder heller, und die Flammenzungen schlugen wie zuvor empor. »Danke, Vesta!« flüsterte ich. Dann streckte ich mich auf meiner Felldecke aus, rollte mich hinein, schloß die Rechte um den Knauf meines Schwertes und schloß die Augen.
* Als ich erwachte, waren meine Glieder steif von der Kühle der Nacht. Die aufgehende Sonne tauchte die Landschaft in blutrotes Licht, das von den zahllosen Tautröpfchen an den Grashalmen vielfach gebrochen wurde. Ich wickelte mich aus der Felldecke und stocherte mit dem Schwert in dem Aschenhaufen, der vom Lagerfeuer übriggeblieben war. Am Grunde stieß ich auf einen Rest Glut. Ich schichtete trockene Zweige darüber und fachte die Glut an, indem ich ihr mit meiner Decke Luft zufächelte. Bald brannten die Zweige lichterloh, und ich legte einige dicke Äste auf. Danach absolvierte ich eine kurze Morgengymnastik, um die Gelenke, Muskeln und Sehnen wieder beweglicher zu machen. Als ich damit fertig war, sah ich Aerula-thane. Die Wanderwolke war durch reichliche Nahrung und Ruhe etwas größer geworden. Ich hoffte, daß ihre Kraftreserven ausreichten, um den Rest der Strecke an diesem Tage zurückzulegen und mich zur Insel des Namenlosen zu bringen. Nachdem ich gefrühstückt hatte und von Aerula-thane mit durstlöschendem Naß versorgt worden war, bedeutete ich meiner Wanderwolke, mich aufzunehmen. Sie tat es, indem sie wolkige Tentakel ausstreckte, die mich sanft anhoben und in der muldenförmigen Vertiefung an der Oberseite der Wolke absetzten. Heute müssen wir die Insel des Namenlosen erreichen, Aerula thane! Die Wanderwolke stieg auf. Eine kühle Brise wehte heran, traf sie und beschleunigte ihren Flug, der in Richtung See führte. Als Aerula-thane sich über der Wasseroberfläche befand, die infolge der vom Wasser gespeicherten Wärme die Luft darüber erwärmte, stieg sie rasch empor.
Wir werden es schaffen, Dragon. Das blutrote Leuchten des Sonnenaufgangs wich den Farben des vollen Tages. Die Wolken am westlichen Horizont färbten sich weiß, und der vorher blasse Himmel verwandelte sich in einen, tiefblauen Baldachin, der sich über die ganze Welt zu spannen schien. Während Aerula-thane höher und höher stieg und sich dabei, vom Wind begünstigt, immer schneller nach Süden bewegte, erinnerte ich mich an die Vesta-Vision des vergangenen Abends. Ich wußte, daß ich mich auf Vestas Worte verlassen konnte, aber gerade das stürzte mich in einen bedrückenden Konflikt. Aerula thane und ich würden eine gute Chance haben, die Waberlohe zu überwinden – in dem Augenblick, in dem Skortsch Akkeron unterliegen würde und die Waberlohe für einen Moment völlig in sich zusammensank. Doch Vesta hatte nicht gesagt – und wahrscheinlich nicht sagen können –, wann dieser Augenblick sein würde. Wenn ich zu früh auf die Waberlohe stieß, würde ich wahrscheinlich verbrennen – und wenn ich zu spät kam, ebenfalls. Deshalb konnte es ebenso richtig wie falsch sein, wenn Aerula thane sich beeilte, mich zur Insel des Namenlosen zu tragen. Aber Vesta hatte auch gesagt, daß ich Glück brauchte, um den Kampf zu gewinnen – und Glück ließ sich nicht vorausberechnen. So beschloß ich denn, auf mein Glück zu vertrauen. Schließlich hatte es mir schon so oft geholfen. Die Wanderwolke durchstieß eine dünne Schicht niedriger Wolken, segelte an einer Ballung Haufenwolken vorbei und hatte über sich nur noch blauen Himmel und – ganz weit oben dünne, streifenförmige Schleierwolken. Der Wind blies stetig aus Norden, was wohl Aerulas Werk war. So kamen wir gut voran. Als die Sonne so hoch stand, daß ihre Strahlen unbarmherzig auf mich herabbrannten, formte Aerula-thane ein wolkiges Schutzdach über mir. Die Monotonie des Fluges und die wohlige Wärme lullten mich ein, und als ich erwachte, hatte die Sonne den Zenit bereits
überschritten. Ich blickte nach unten und sah, daß Aerula-thane übers Meer flog. Als ich zurückschaute, konnte ich am nördlichen Horizont gerade noch einen graublauen Streifen erkennen: die Küste des Nordlands. Unter uns, das mußte die Meerenge zwischen dem Nordland und der Insel des Namenlosen sein und gleichzeitig die Grenze zwischen Nord- und Westmeer. Ich richtete mich auf und überprüfte meine Waffen, obwohl ich wußte, daß sie mir zumindest gegen das Wilde Wasser und die Waberlohe nichts nützen würden. Dann blickte ich wieder nach vorn. Am südlichen Horizont ballten sich dunkle Wolkentürme zusammen. Ein Gewitter? Eine Gewitterfront, die uns helfen wird, an Höhe zu gewinnen! antwortete die Wanderwolke. Ich nickte. Die aufsteigende Warmluft an den turmartigen Gebilden von Gewitterwolken konnte eine große Hilfe für Aerula-thane sein, in größere Höhen zu steigen. Wenn die Gewitterfront aber so nahe war, dann konnte auch die Insel des Namenlosen nicht mehr weit sein.
2.
Am Nachmittag des zweiten Reisetags erreichten wir die Gewitterfront. Es war ein düsteres Wolkengebirge, das da vor uns aufragte, und es schien fast, als wollte uns diese Barriere am Weiterflug hindern. Doch kein einziger Blitz zuckte aus den Wolken, keine Böen brachten Aerula-thane zum Schwanken. Dicht vor der Gewitterfront wurde die Wanderwolke von einer starken Warmluftströmung erfaßt und förmlich nach oben gerissen. Aerula-thane verringerte ihre Dicke und breitete sich aus, um der aufsteigenden Warmluft eine möglichst große Angriffsfläche zu bieten. Sie drehte sich dabei langsam um sich selbst. Zum Greifen nahe kam ein gigantischer Wolkenturm vorbei. Die Wanderwolke vollführte einen Satz, der sie leicht schwanken ließ, dann war sie über den Wolkenturm hinweg. Und vor und unter uns erblickte ich hinter einem breiten Ring wild durcheinanderquirlenden Wassers, aus dem riesige Fontänen bis in Wolkenhöhe schossen, eine Wand hochauflodernder Flammen. Aerula-thane stieg noch immer, aber längst nicht mehr so schnell wie eben noch. Hinter der Gewitterfront war die Luft kühl. Es gab keine aufsteigenden Strömungen mehr. Viel höher konnte meine Wanderwolke nicht aufsteigen – und das auch meinetwegen, denn ich fror, obwohl ich die Felldecke um mich geschlungen hatte, und die dünne Luft in dieser Höhe erschwerte das Atmen. Aber es schien, als brauchten wir auch nicht höher zu steigen. Die aus dem Wilden Wasser schießenden Fontänen erreichten bei weitem nicht unsere Höhe. Deshalb sah ich dem weiteren Flug recht zuversichtlich entgegen. Das änderte sich allerdings, als wir die äußere Grenze des Wilden Wassers überflogen hatten. Plötzlich schien das Meer unter uns zu kochen. Weißer Gischt
brodelte hoch und vermittelte den Eindruck, als stiege die Oberfläche des Meeres viele Fuß hoch auf. Und aus dem Gischt fuhren explosionsartig gigantische Säulen schäumenden Wassers in den Himmel, durchschlugen die vereinzelten Haufenwolken unter uns und sanken mit dumpfem Donnern wieder zurück. Die Wanderwolke setzte ihren Flug unbeirrt fort. Sie war nur von einigen Spritzern getroffen worden, die ihr nichts ausmachten. Unter uns brodelte der Gischt stärker. Das Wilde Wasser bäumte sich förmlich auf. Abermals schossen schäumende Wassermassen hoch – und diesmal wurde Aerula-thane von einer Wasser- und Gischtsäule getroffen. Das Wasser durchnäßte mich bis auf die Haut, und es durchtränkte auch meine Wanderwolke, die schwerer wurde und allmählich an Höhe verlor. Noch ein Treffer, und wir sind verloren, Dragon! Ich rieb mir den salzigen Gischt aus den Augen und spähte nach unten. Das Wilde Wasser brodelte immer stärker. Einige Wassersäulen schossen dicht an uns vorbei! Gischt regnete herab und durchnäßte uns. Du mußt das Wasser abregnen, Aerula-thane! Dünne Wasserschleier lösten sich aus der Wanderwolke und fielen hinab. Aber es war nicht genug. Wir sinken in tiefere und wärmere Luftschichten! teilte mir Aerula-thane verzweifelt mit. Dort kann ich das Wasser nicht schnell genug abregnen. Abermals wurden wir durchtränkt. Die Wanderwolke sank infolge des aufgenommenen Wassers immer schneller. Es war leicht abzusehen, wann wir in den Bereich der mittelhohen und zahlreicheren Wasserfontänen geraten und von ihrer Gewalt ins Wilde Wasser gezogen werden würden. Dort unten aber, in dieser weißen brodelnden Hölle, drohte uns beiden der Tod. Wenn nicht im letzten. Augenblick ein Wunder geschah, waren wir verloren.
Ein Wunder? Ich fiel der Länge nach hin, als die Wanderwolke von einer weiteren Fontäne getroffen wurde. Doch meine Gedanken arbeiteten weiter. Ein Wunder konnte ich nicht bewirken, das stand fest. Aber ich besaß Aerulas »Innerstes«. Wenn uns jemand in unserer verzweifelten Lage helfen konnte, dann war es der Luftgeist. Aerula hatte jedoch keinen direkten Einfluß auf das Geschehen, denn wo die aufgepeitschten Wassermassen tobten, konnte kein Orkan von außen her etwas ausrichten. Aber vielleicht von innen her? Ich griff mit beiden Händen nach dem Ball, konzentrierte mich auf Vestas Auge in meiner Stirn und rief nach Aerula. Bewirke, daß dein Innerstes uns in größter Not hilft, Aerula, der du die Luft beherrschst! Ich spürte, wie Vestas Auge über meiner Nasenwurzel pulsierte und sah, daß mein Amulett, das ich vor der Brust trug, schwach leuchtete. Das Leuchten und Pulsieren schien sich dem Ball mitzuteilen. Seine Hülle schillerte in allen Regenbogenfarben und wurde so heiß, daß ich unwillkürlich aufschrie. Ich ließ jedoch nicht los, sondern schickte weiter meine Gedanken aus. Plötzlich mischte sich unter das Rauschen und Donnern der Wassermassen ein schrilles Pfeifen, das zu einem dumpfen Brausen anschwoll. Ein Windstoß, wie ich ihn noch nie zuvor kennengelernt hatte, traf die Wanderwolke und zerschmetterte sie fast. Aerula-thane wurde davongewirbelt. Haltlos taumelte sie zwischen den Wasserfontänen hindurch, die ebenfalls vom Orkan getroffen wurden und zerstoben. Mit rasender Geschwindigkeit jagten wir davon. Ich suchte tastend nach einem festen Halt, denn ich hatte das Gefühl, emporgehoben und gleich einem welken Blatt im Herbststurm davongeschleudert zu werden. Die Luft füllte sich mit schaumigem
Gischt, der von den Fontänen stammte, die von dem Orkan förmlich zerblasen worden waren. Ich konnte nichts mehr sehen und schloß die Augen. Als die rasende Fahrt sich milderte und das dumpfe Brausen des Orkans abebbte, öffnete ich meine Augen wieder. Was ich sah, ließ mich erleichtert aufatmen. Die Zone des Wilden Wassers lag hinter uns. Unter uns befand sich ein Streifen Meer, dessen Wasser zwar auch aufgewühlt waren, aber keine Fontänen in den Himmel schickten. Doch dann schaute ich in Flugrichtung – und erblickte eine Wand hochauflodernder Flammen, die bis in den Himmel reichten. Und die Wanderwolke trieb, dem nachwirkenden Impuls des Orkans gehorchend, der uns vor dem Wilden Wasser gerettet hatte, genau auf diese Flammenwand zu … * Sollten wir der einen Gefahr mit knapper Not entronnen sein, um nur desto sicherer in der nächsten umzukommen? Du mußt höher steigen, Aerula-thane! Ich kann nicht, Dragon. Das aufgenommene Wasser macht mich zu schwer, und ich vermag es nicht schnell genug abzugeben. Ich versuche abzubremsen, aber ich fürchte, ich schaffe es nicht. Die Wanderwolke verformte sich zu einem vorn und hinten abgeplatteten Gebilde, um den Luftwiderstand zu erhöhen und dadurch eine möglichst große Bremswirkung zu erzielen. Ihre Geschwindigkeit verringerte sich tatsächlich, aber ich sah, daß das nicht ausreichen würde, uns vor dem Flammentod zu bewahren. Versuche, Aerula zu erreichen! bat ich. Frage ihn, wie der Kampf zwischen Akkeron und Skortsch steht! Ich versuche es, Dragon! antwortete die Wanderwolke. Ich kniff die Augen zusammen, um sie vor der Blendwirkung der himmelhohen Flammen zu schützen, auf die wir unaufhaltsam zutrieben. Schon wurde es heiß. Mein Gesicht brannte, und ich
schöpfte Nässe aus meiner Wolke, um es zu kühlen. Bald wurde das gesamte Blickfeld von der Flammenwand eingenommen. Ich fragte mich, warum Skortsch die Waberlohe immer noch aufrechterhielt, obwohl Akkeron doch inzwischen sein Todfeind war. Aber wahrscheinlich war der Feuergeist zu sehr mit Akkeron beschäftigt, um sich um die Waberlohe zu kümmern. In diesen Augenblicken, in denen ich den Tod unmittelbar vor Augen hatte, wünschte ich nichts sehnlicher, als daß Skortsch endlich Akkeron unterliegen möge, damit seine Flammenwand zusammenbräche, so wie es Aerula prophezeit hatte. Ich bekomme keinen Kontakt mit Aerula! teilte meine Wanderwolke mir mit. Verzweiflung packte mich. Ich hielt die Hände vors Gesicht und spähte durch die Finger zu der Flammenwand, von der ein hohles Brausen ausging. Aerula thane wurde wieder schneller. Der Sog des Feuers hatte uns gepackt und zerrte uns unerbittlich auf die Flammenhölle zu. Ich überlegte, welche Chance wir hatten, wenn ich Aerulas »Innerstes« noch einmal bemühte, damit es uns durch die Flammen blies. Aber die immer stärker werdende Hitze verriet mir, daß auch der seltsame Ball uns diesmal nicht zu retten vermochte. Wir würden zu Asche verbrennen, bevor wir die Waberlohe durchstoßen hatten. Ich blickte hinab zum Meer. Sollte ich abspringen und versuchen, mich schwimmend in Sicherheit zu bringen? Ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Erstens widerstrebte es mir, meine Wanderwolke, die mir bisher so treu gedient hatte, im Augenblick höchster Gefahr allein zu lassen, und zweitens bot das Meer unter uns nur eine trügerische Sicherheit. Ich würde mich im Wasser halten können, aber nur solange, wie es mir die Wärme aus dem Körper gesaugt hatte und ich steif wie eine Statue unterging. Es bot keinen Ausweg an, zumal hinter uns das Wilde Wasser und vor uns die Waberlohe war. Als die Glut des Feuers mir die Brauen versengte, schlug ich die
nasse Felldecke über meinem Kopf zusammen, kauerte mich nieder und wartete auf das Ende. Aerula-thane gab gedankliche Klagelaute von sich. Sie war, wie alle Wanderwolken, äußerst feuerscheu und empfand sicher panische Furcht. Wenn wir sterben müssen, wird es schnell gehen! dachte ich, um sie etwas zu beruhigen. Der Schmerz wird nur kurz sein. Aerula-thane antwortete nicht. Sie gab es auf, durch eine Vergrößerung ihrer Oberfläche den Luftwiderstand zu erhöhen, sondern ballte sich zu einem beinahe genau kugelförmigen Gebilde zusammen. Das war eine kluge Maßnahme, aber sie verringerte die Wärmeaufnahme auch nur vorübergehend. Ich spähte aus einem Schlitz meiner Felldecke. Um mich wallten die schleierförmigen Strukturen der Wanderwolke. Sie schützten mich etwas vor der Gluthitze. Doch nicht lange. Ganz nahe war die brausende und donnernde Feuerwand schon. Aerula-thane vermochte unter der Hitzeeinwirkung ihre zusammengeballte Form nicht länger zu behalten. Sie dehnte sich unaufhaltsam aus, verdünnte dabei ihre Substanz und schützte mich nicht länger. Meine Felldecke dampfte – und wenig später kräuselte sich Rauch von ihr auf. Ein Glutfleck bildete sich und breitete sich rasch aus. Das war das Ende! In diesem Augenblick brach die Flammenwand schlagartig in sich zusammen. Das Rauschen und Donnern verstummte. Es wurde still, beinahe unheimlich still. Aerula-thane segelte über die äußere Grenze der Waberlohe, über ein Gebiet, aus dem noch vor einem Herzschlag himmelhohe Flammen geschlagen waren. Unter uns war eine aufgewühlte, zerrissene und geschwärzte Landschaft, in der sich Glutbäche wanden. Hin und wieder leckten ein paar kleine Flammen empor und berührten die Wanderwolke,
die sich wieder zusammenballte. Aber sie konnten ihr nicht mehr schaden. Aerula-thane besaß noch genug Feuchtigkeit aus dem Wilden Wasser, so daß sie nicht Feuer fangen konnte. Sie löschte den Schwelbrand an meiner Felldecke, und ich atmete tief durch, obwohl die Luft noch bestialisch nach Schwefel stank. Wir waren gerettet, und zwar buchstäblich im allerletzten Augenblick. Ich kann nicht mehr, Dragon! Ich spürte, wie Aerula-thane zitterte und schwankte und tiefer sank. Sie war erschöpft, und das wunderte mich nicht – nicht nach dem langen Flug und den Kämpfen mit dem Wilden Wasser und der Waberlohe. Ich richtete mich auf. Die Asche meiner teilweise verbrannten Brauen rieselte mir in die Augen. Ich wischte sie fort und schaute nach vorn. Hinter dem Streifen verbrannter Erde, aus der immer noch Flammen züngelten, erblickte ich eine grüne Ebene, in der kleine Baum- und Buschgruppen standen. Dort kannst du dich ausruhen, Aerula-thane! dachte ich. Wir beide können eine Verschnaufpause gut gebrauchen. Es wird auch Zeit! gab die Wanderwolke zurück. * Sanft senkte sich die Wanderwolke auf eine einladende grüne Wiese hinab. Sofort begann Aerula-thane zu grasen. Sie war zu erschöpft, um mich auf den Boden zu heben. Statt dessen bildete sie in ihrem Innern eine Art schiefe Ebene, auf der ich nicht sehr sanft ins Freie rutschte. Entschuldige, Dragon, aber ich kann nicht mehr! teilte die Wanderwolke mir mit. Schon gut! gab ich zurück. Schließlich hattest du die Hauptlast des
Kampfes zu tragen. Ruhe dich aus und sättige dich, dann sehen wir weiter. Ich schob mein Schwert in die Scheide zurück, nahm Bogen und Pfeilköcher und entfernte mich von Aerula-thane, in der Hoffnung, auf Wild zu treffen, das mir frisches Fleisch liefern mochte. Ich war vielleicht hundert Schritte gegangen, als mir auffiel, wie still es hier war. Suchend blickte ich mich um. Die Sonne hing schon tief über dem westlichen Horizont und würde bald untergehen. Aber ihr Licht war noch stark genug, um das weite offene Land so zu erhellen, daß mir keine Bewegung darin entgehen konnte. Und doch nahm ich keine Bewegung wahr, abgesehen von Aerula thane, die sich äsend über die Wiese bewegte. In diesem Land schien es kein einziges Tier zu geben, nicht einmal Vögel oder Insekten. Das erklärte auch die hier herrschende Stille. Ich erinnerte mich an eine der Informationen, die Vesta mir durch eine Vision übermittelt hatte. Darin war von einer Zone der Wilden Luft die Rede gewesen, die früher über dem ganzen Gebiet der Insel des Namenlosen existiert hatte. Diese turbulente Zone hatte es jedem Vogel und jedem anderen Flugwesen unmöglich gemacht, die Insel zu erreichen. Zwar existierte diese Zone der Wilden Luft nicht mehr, seit Aerula sich auf die Seite Vestas und damit auch auf meine Seite gestellt hatte, aber die Zeit mochte zu kurz gewesen sein, um die Besiedlung dieses lieblichen Landstrichs durch Luftgeschöpfe zu ermöglichen. Erdgebundene Geschöpfe kamen ja wegen des Wilden Wassers und der Waberlohe ohnehin nicht durch. Das mochte die Erklärung dafür sein, daß es hier außer Pflanzen keine anderen Lebewesen gab. Es hatte also keinen Sinn für mich, weiter nach jagdbarem Wild Ausschau zu halten. Ich verspürte aber auch noch kein Bedürfnis, zu Aerula-thane zurückzukehren und mich an den Vorräten zu sättigen, die die Wanderwolke verwahrte.
Also suchte ich mir einen bequemen Platz zum Ausruhen, einen Baum, an dessen Stamm ich mich lehnte, die Beine weit im üppigen Gras ausgestreckt und die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Die Abendsonne hatte nicht mehr viel Kraft, aber mir genügte die Wärme, die sie ausstrahlte. Wohlig streckte ich mich. Nach den überstandenen Gefahren, die mich zweimal bis an die Schwelle des Totenreichs gebracht hatten, fand ich das Leben doppelt schön. Ich entspannte mich so völlig, daß ich heftig zusammenzuckte, als etwas meine Ruhe störte. Im ersten Augenblick wußte ich nicht, was es war. Dann spürte ich das Pulsieren und Pochen von Vestas Auge in meiner Stirn. Gleichzeitig bemerkte ich, daß das Amulett vor meiner Brust schwach leuchtete. Wollte Aerula mir eine Botschaft übermitteln? Oder stand eine neue schemenhafte Erscheinung Vestas bevor? Ich stand auf und blickte mich um. Irgendwie schien sich die Landschaft verändert zu haben, obwohl ich nicht hätte sagen können, was sich konkret geändert hatte. Alles war wie zuvor. Oder doch nicht? Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Ich legte unwillkürlich die Hand auf den Schwertknauf, obwohl ich ahnte, daß die Gefahr, wenn es eine gab, sich nicht mit dem Schwert bekämpfen ließ. Flieh, denn du stehst auf der Wilden Erde! Wieder zuckte ich zusammen. Es mußte der Luftgeist gewesen sein, der mir die Warnung hatte zukommen lassen. Doch warum warnte er mich vor der Wilden Erde? Erthu, der Erdgeist, stand doch auf unserer Seite und nicht auf der Akkerons. Weshalb also sollte ich vor der Wilden Erde fliehen? Zögernd setzte ich mich in Bewegung. Ich konnte an keine ernsthafte Bedrohung glauben, nicht in diesem friedlichen Land. Andererseits wollte ich Aerulas Warnung nicht in den Wind schlagen. Ich hatte etwa die Hälfte der Entfernung zu Aerula-thane
zurückgelegt, als ich strauchelte. Zuerst begriff ich nicht recht, warum – bis ich merkte, daß der Boden unter meinen Füßen schwankte. Im nächsten Moment vernahm ich ein dumpfes, rollendes Grollen, und gleichzeitig schwankte der Boden stärker. Hier und da zerriß die Grasnarbe, und ein Schauer feuchter krümeliger Erde ergoß sich über mich. Aerula-thane! Mein gedanklicher Aufschrei sollte die Wanderwolke warnen, aber sie hatte offenbar schon von selbst begriffen, daß uns Gefahr drohte. Ich sah, wie sie ihre Auswüchse, mit denen sie im Gras geäst hatte, einzog. Was ist los? Bevor ich darauf antworten konnte, barst der Boden vor mir mit lautem Knall. Ein tiefer Schlund tat sich zwischen mir und der Wanderwolke auf, und aus dem Schlund schoß ein Steinhagel empor, der kurz darauf auf mich und die Wanderwolke herabprasselte. Ich wurde von mehreren Steinen getroffen und ging zu Boden. Blut lief mir in die Augen, meine linke Schulter schmerzte, und durch mein rechtes Knie fuhr ein scharfer Stich. Erst in diesem Augenblick begriff ich, daß es um Leben und Tod ging. Das Wilde Land hatte die Feindseligkeiten eröffnet und drohte, Aerula-thane und mich zu verschlingen. Ich raffte mich unter Aufbietung aller Willenskraft auf, stürmte auf den Erdspalt zu und setzte in einem mächtigen Sprung darüber hinweg. Beim Aufprall stürzte ich, überschlug mich einmal, kam aber sofort wieder auf die Füße. Aerula-thane, warum kommst du nicht? Bevor die Wanderwolke antworten konnte, sah ich, was sie daran hinderte, zu mir zu kommen. Aus dem Boden unter ihr hatten sich zahlreiche Pflanzententakel geschnellt. Sie waren teils in die Wolke eingedrungen, teils hielten sie sie umschlungen – und sie schienen kräftig genug zu sein, um sie ganz herabzuziehen.
Ich riß mein Schwert aus der Scheide. Halte aus! forderte ich Aerula-thane auf. Mein erster Schwerthieb prallte von einer Wurzel ab, die sich in vielen Windungen um einen Ausläufer Aerula-thanes geschlungen hatte. Im nächsten Augenblick ringelte sich ein Pflanzententakel um meinen linken Knöchel und brachte mich zu Fall. Ich wälzte mich aus der Reichweite eines weiteren Pflanzententakels, der nach meinem Hals zielte. Mein nächster Schwerthieb traf den Tentakel, der meinen Knöchel umschlungen hielt, seitlich und durchtrennte ihn. Ich begriff, daß ich den Pflanzententakeln nur beikommen konnte, wenn ich meine Schwerthiebe seitlich führte. Nur dann prallten sie nicht ab. Hilf mir, Dragon! Aerula-thane wand sich unter den stahlharten Griffen der Tentakel. Hinter ihr riß der Boden auf, und ein weiterer Steinhagel prasselte herab. Nur mit Mühe wich ich einem großen Felsbrocken aus, der beinahe meinen Kopf getroffen hätte. Aber ein faustgroßer Stein traf meinen rechten Fuß. Lähmender Schmerz breitete sich vom Fuß bis über den Knöchel hinweg aus. Doch auch Aerula-thane war von dem Steinhagel getroffen worden. Ich sah, daß einer ihrer Ausläufer, der von einem Tentakel umklammert wurde, förmlich zerschmettert worden war und sich vom Hauptkörper gelöst hatte. Aber der Steinhagel hatte auch einige Pflanzententakel getroffen und zerschlagen. Sie hingen kraftlos herab. Ich hinkte auf den nächsten Tentakel zu, der sich tief in den Körper der Wanderwolke gebohrt hatte und seine Spitze nach Aerulas Ball ausstreckte, der neben meinen Vorräten in einer Mulde lag. Ein schräg von oben nach unten geführter Schwertstreich trennte den Tentakel zu zwei Dritteln durch. Der Teil von ihm, der sich
innerhalb der Wolke befand, verdorrte rasch und schrumpfte zu einem unansehnlichen schwarzen Gebilde zusammen. Ein dumpfes Grollen ertönte – und plötzlich barst der Boden direkt unter Aerula-thane. Aus dem Schlund schoß ein dritter Steinhagel heraus. Ich duckte mich, wich vor dem sich verbreitenden Schlund zurück und sah, daß die Wanderwolke diesmal schwer angeschlagen worden war. Die herabprasselnden Steine hatten einen Teil von ihr zertrümmert, und dieser Teil löste sich wallend vom Hauptkörper und verschwand in dem neuen Schlund. Ich schlug einen weiteren Tentakel ab, wich dem Hieb eines anderen aus und maß die Entfernung zu der Wanderwolke mit den Augen. Mir war klar, daß wir schnellstens fliehen mußten, wenn die Wilde Erde uns nicht verschlingen sollte. Die Entfernung zu Aerula-thane war groß. Zwischen uns befand sich ein Teil des Erdspalts, der sich zuletzt aufgetan hatte, und dieser Teil war etwa vier Schritte breit. Ich lief ein Stück zurück, um Anlauf nehmen zu können, stürmte vorwärts und sprang. Das heißt, ich wollte springen, aber eine Wurzel hob sich unmittelbar vor dem Spalt aus dem Boden und verfing sich in meinem verletzten rechten Fuß. Ich flog vornüber, glitt über den Rand des Erdspalts – und sah unter mir eine schier unergründliche Tiefe, aus der ein dumpfes Rollen und Poltern dröhnte. Vorbei! Aber die Wurzel, die tückisch meinen Fuß gefangen hatte, krümmte sich und ließ mich nicht los. Mein Oberkörper prallte hart gegen den Rand des Schlundes. In meinem Mund war plötzlich Erde. Ich bog meinen Körper zur Seite, bekam den Rand des Schlundes zu fassen und hielt mich fest, ohne mein Schwert loszulassen. Es gelang mir, mich wieder auf einigermaßen sicheren Boden zu ziehen. Ich durchtrennte die Wurzel, die noch immer meinen
rechten Fuß umklammerte, dann blickte ich zu Aerula-thane. Die Wanderwolke wurde noch von drei Pflanzententakeln gehalten. Alle anderen waren zerrissen, als der Erdspalt unter Aerula-thane sich verbreitert hatte. Einer der Tentakel stammte vom diesseitigen Rand des Spaltes. Ich mußte es riskieren, diesen Tentakel als Brücke zu benutzen. Mit meinem geprellten und verzerrten Fuß konnte ich keinen neuen Sprung wagen. Ich komme, Aerula-thane! Da ein langsames Vorantasten es dem Pflanzententakel ermöglicht hätte, mich abzuwerfen, lief ich in einem einzigen Schwung darüber. Einmal rutschte mein rechter Fuß aus, aber ich warf mich nach vorn, und meine Hände fanden an der Wanderwolke Halt. Ich zog die Füße nach, drehte mich um und durchtrennte den Tentakel mit einem Schwerthieb. Aerula-thane wußte, was zu tun war. Sie gruppierte ihre Substanz so um, daß ich ohne eigenes Dazutun zu den beiden restlichen Tentakeln befördert wurde, die die Wolke noch festhielten. Als ich auch sie durchtrennt hatte, kroch ich auf allen vieren zu der Mulde, ließ mein Schwert fallen und umfaßte Aerulas Ball mit beiden Händen. Nur er konnte uns noch helfen, denn die Wanderwolke mußte, angeschlagen wie sie war, am Ende ihrer Kraft sein. Aerula, hilf uns! Und Aerula half! Während ein neuer Steinhagel über uns niederging, erhob sich ein Sturmwind. Er packte Aerula-thane und schob sie kraftvoll nach Süden, wo im Schein der untergehenden Sonne die Gipfel eines Gebirgszugs golden leuchteten. Der Sturm blies in Böen, und nach jeder Bösackte die Wanderwolke wieder ab. Sie schien wirklich total erschöpft zu sein. Ohne Aerulas Hilfe hätte sie sich wahrscheinlich nicht mehr erheben können. Als sich unter einem kräftigen Windstoß ein Bruchteil ihrer Substanz löste, brachte sie nicht einmal mehr die Energie auf, ihn
zurückzuhalten. Wir aber stiegen jetzt höher und bewegten uns schlingernd auf den Gebirgszug zu, der mir als sichere Zuflucht erschien.
3. Die Windböen wurden schwächer. Ich fragte mich, ob die Kraft, die in Aerulas »Innerem« wohnte, nachließ, da merkte ich, daß eine stetige warme Luftströmung die Wanderwolke in engen Spiralen aufsteigen ließ. Die Kraft aus Aerulas Ball war also nicht länger notwendig, um uns fortzubewegen. Ich ließ den Ball los und musterte den oberen Teil des Gebirgszugs, der noch von der Sonne beschienen wurde. Der untere Teil lag bereits im Dunkeln – und mit ihm das Wilde Land, das uns so übel mitgespielt hatte. Soweit ich es erkennen konnte, war das Gebirge öde, trocken und ohne jeden Pflanzenwuchs. Das waren nicht die besten Aussichten für Aerula-thane, die dringend der Nahrung bedurfte, um sich zu regenerieren. Aber ein Zurück gab es für uns nicht. Wir konnten nur vorwärts gehen, egal, was uns dort erwartete. Dicht vor einem Einschnitt im Gebirgszug entließ die Warmluftströmung Aerula-thane. Die Wolke trieb auf den Einschnitt zu, streifte die felsigen Ränder und erbebte. Ich hielt mich an der weißen Substanz fest, weil ich fürchtete, die Wanderwolke würde nach vorn kippen. Aber sie fing sich noch einmal und passierte den Einschnitt ohne weiteren Zwischenfall. Dahinter aber sank sie unaufhaltsam tiefer. Was unter uns lag, vermochte ich nicht zu erkennen, denn auch dieses Gebiet lag bereits im Dunkeln. Als ich einen Stoß verspürte und Aerula-thane abermals erbebte, glaubte ich schon, wir wären mit einem Felsen zusammengestoßen. Doch dann lag die Wanderwolke plötzlich ruhig, sackte etwas in sich zusammen und regte sich nicht mehr. War Aerula-thanes Lebenskraft völlig erloschen? Ich nahm mein Schwert, schob es in die Scheide zurück und glitt
vorsichtig von Aerula-thanes Rücken. Meine Füße trafen auf etwas Weiches, Nachgiebiges, stießen aber schon bald auf Widerstand. Eine Weile blieb ich stehen. Meine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Links und rechts sah ich die düsteren Schatten von Bergen, auf deren Gipfeln helle weiße Flecken und Streifen zu sehen waren. Schnee oder Eis. Unter mir war es dunkel, eine ebene Fläche, von der Feuchtigkeit aufstieg. Ich bückte mich und streckte eine Hand aus. Meine Fingerspitzen berührten feuchtes Gras. Aufatmend ging ich ein paar Schritte weiter. Aerula-thane war offenbar auf einem kleinen Plateau gelandet und hatte durch einen glücklichen Zufall eine Wiese gefunden, auf der sie äsen und sich regenerieren konnte. Aber noch traute ich dem Frieden nicht. Auch das Wilde Land hatte einen friedlichen Eindruck gemacht und wäre doch beinahe unser Verderben geworden. Wie sollte ich wissen, ob nicht auch hier verborgene Gefahren lauerten! Ein schwacher Lichtschein erregte meine Aufmerksamkeit. Unwillkürlich fuhr meine Hand zum Schwertgriff, bevor ich merkte, daß der Lichtschein von mir ausging – genauer gesagt, von meinem Amulett. Ich nahm es in die Hand und spürte ein leichtes Pulsieren. Wollte Aerula mir eine neue Warnung übermitteln? Als vor mir, über dem Gras, ein riesiger schimmernder Schemen auftauchte, wußte ich, daß nicht Aerula es war, der sich an mich wandte, sondern Vesta, der mir wieder eine Vision vermittelte. Und wieder verhinderte die strahlende Aura, daß ich Genaueres erkannte, was mir vielleicht Rückschlüsse auf die Gestalt oder das Gesicht der Erscheinung erlaubt hätte. »Du hast drei Sperren überwunden, Dragon!« sprach der Schemen zu mir. »Vorläufig bist du in Sicherheit, denn dieser Gebirgswall stellt die neutrale und damit sichere Grenzlinie zwischen der Wilden Erde und der letzten Sperre dar, die mein Gefängnis umgibt.
Diese Sperre ist das Land des Wilden Lebens, eine Sperre, die vor rund zwei Jahrtausenden von Vitu, dem Lebensgeist, errichtet wurde. Sie birgt mehr Gefahren, als du bisher überwunden hast, Dragon. Nimm dich vor den dort wohnenden Geschöpfen in acht, denn nicht alle sind das, was sie zu sein vorgeben. Du fragst dich, warum Erthu, der Erdgeist, und Vitu, der Lebensgeist, noch immer ihre Wächterfunktionen erfüllen, obwohl sie sich doch inzwischen gegen Akkerons Pläne gestellt haben? Wisse, daß alle Elementargeister dieser Welt gewissen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, denen sie sich nicht entziehen können. Die Wälle des Wassers und des Feuers verhindern außerdem, daß Erthu und Vitu spürbaren Einfluß auf ihre Sperren und deren Manifestationen beziehungsweise deren Geschöpfe nehmen können. Hüte dich also vor den Geschöpfen des Wilden Lebens, Dragon! Im übrigen aber lasse dich von deinem Stirnjuwel leiten. Es wird dir in den entscheidenden Augenblicken den Weg zu meinem Gefängnis weisen. Das ist meine letzte Nachricht an dich, Dragon. Ich muß meine Kräfte sammeln, um dich wirksam unterstützen zu können, wenn du – hoffentlich – mein Gefängnis erreicht haben wirst. Viel Glück!« Die Erscheinung schien zu schrumpfen, ihr Leuchten wurde schwächer, während sie gleichzeitig immer durchsichtiger wurde und schließlich ganz verschwand. Eine Weile stand ich noch reglos da und blickte auf die Stelle, an der sich Vestas Vision gezeigt hatte. Ich fragte mich, ob die Erscheinung wirklich gewesen war oder sich nur in meinem Geist abgespielt hatte. Aber bald gab ich es auf, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Ich mußte mich damit abfinden, daß es Rätsel gab, die Menschen nicht zu lösen vermochten. Wichtig für mich war nur, daß Aerula-thane und ich in dem Gebirgszug tatsächlich sicher waren. Ich kehrte zu Aerula-thane zurück, aß von meinen Vorräten und
wickelte mich anschließend in meine angesengte Felldecke, um zu schlafen und Kräfte zu sammeln. * Als ich erwachte, waren meine Glieder eiskalt und bleischwer. Ich richtete mich mühsam auf und merkte, daß ich vor Kälte zitterte. Der neue Tag zog mit fahlgrauem Lichtschein herauf. Die Grashalme hatten sich mit Rauhreif überzogen, und die nächsten Gipfel waren von Nebelschwaden verhüllt. Jetzt hätte ich ein Feuer gebrauchen können, um mich aufzuwärmen und heißen Tee zuzubereiten. Aber so weit ich sehen konnte, gab es weder Baum noch Strauch, die das nötige Holz liefern konnten. Notgedrungen machte ich mich durch einige Körperübungen warm, dann sah ich mich nach Aerula-thane um. Die Wanderwolke lag auf der reifbedeckten Wiese und bewegte sich nicht. Erst jetzt sah ich, daß sie einen erheblichen Teil ihrer Substanz verloren hatte. Sie war viel kleiner als früher. Wie geht es dir, Aerula-thane? Meine Wanderwolke antwortete nicht sofort. Ihre dünnen, durchsichtigen Ränder bebten lediglich schwach. Voller Sorge ging ich zu Aerula-thane hinüber und berührte sie mit der Hand. Die Wolke fühlte sich kalt und feucht an. Ich bin krank, Dragon. Ich erschrak. Kann ich dir irgendwie helfen, Aerula-thane? Du kannst mir helfen, indem du mich in Ruhe läßt, Dragon. Ich trat einen Schritt zurück und überlegte. Aerula-thane benahm sich mir gegenüber wie ein Mensch, der so von seiner Krankheit gequält wird, daß er jede Frage mitfühlender Menschen als unerträgliche Zumutung empfindet. Es hatte keinen Sinn, weiter in Aerula-thane zu drängen. Sie brauchte Ruhe, um sich zu erholen und die verlorengegangene Substanz zu ersetzen. Aber das würde Zeit kosten – Zeit, die ich nicht hatte, denn
Akkeron war nicht untätig. Er hatte Skortsch besiegt und würde bestimmt danach trachten, eine Befreiung Vestas zu verhindern. Mir blieb unter diesen Umständen keine andere Wahl, als Aerula thane zurückzulassen und zu Fuß in das Land des Wilden Lebens hinabzusteigen. Doch bevor ich aufbrach, mußte ich feststellen, auf welchem Wege ich am besten das Gebirge verließ. Zu diesem Zwecke suchte ich nach einem Platz, von dem aus ich den Südhang überblicken konnte. Ich entdeckte einen kleineren abgeflachten Gipfel, der sich wahrscheinlich ohne größere Schwierigkeiten erklimmen ließ, und machte mich auf den Weg. * Der Aufstieg gestaltete sich tatsächlich relativ leicht. Dazu kam, daß die Sonne über den nördlichen Gebirgskamm stieg und mich mit ihren Strahlen wärmte. Als ich den Gipfel erreicht hatte, bot sich mir eine gute Aussicht nach Süden. Ich sah, daß ich auf zwei Wegen ins Land des Wilden Lebens absteigen konnte: auf einem sehr steilen, dafür aber recht kurzen Weg und auf einem bequemen Pfad, der sich an Felswänden entlang schlängelte und etwa fünfmal so lang war wie die andere Strecke. Ich entschied mich für den kürzeren und steilen Weg, weil ich mir sagte, daß ich dadurch Zeit gewinnen würde. Zu meinem Bedauern konnte ich von meinem Aussichtsplatz nur wenig von dem Land unterhalb des Gebirgszugs sehen, da es sich unter dichten Nebelschleiern verbarg. Nur hier und da lugte ein Stück dampfende grüne Wildnis hervor. Die Aussicht auf einen Fußmarsch durch Dschungel besserte meine Stimmung nicht gerade. Ein Dschungel verbarg mögliche Feinde und bot ungezählte Gelegenheiten für Hinterhalte. Doch mir blieb gar nichts weiter übrig, als alle möglichen
Gefahren in Kauf zu nehmen. Ich kehrte zu Aerula-thane zurück und verstaute soviel von meinen Vorräten, wie ich tragen konnte, in meiner Felldecke, die ich anschließend zusammenschnürte und mit Stricken an meinem Rücken befestigte, damit meine Hände frei waren. Ich gehe jetzt, Aerula-thane! Die Wanderwolke antwortete nicht. Ihr Zustand mußte wirklich erbarmungswürdig sein. Ich durfte wohl nicht mit ihrer Hilfe rechnen, wenn ich im Land des Wilden Lebens in Not geriet. Langsam entfernte ich mich. Als ich den Rand des Plateaus erreichte und mich anschickte, mit dem Abstieg zu beginnen, fing ich doch noch einen Gedanken von ihr auf. Viel Glück, Dragon! Danke! dachte ich zurück. Werde bald wieder gesund! * Auf halber Höhe mußte ich eine kurze Rast einlegen. Ich war mehrmals abgerutscht, und die Stricke, die mein Gepäck auf dem Rücken hielten, hatten sich gelockert. Ich setzte das Bündel ab, wischte mir den Schweiß von der Stirn und spähte nach unten. Die letzte Strecke würde auch nicht leichter zu bewältigen sein als die erste. Etwa ein Drittel wurde von einer Felsrinne gebildet, die mit Geröll angefüllt war. Unten hatten sich die Nebel inzwischen ein wenig gelichtet. Ich erblickte einen Ausschnitt des Landes. Ein kleiner Fluß, genährt von den Wassern des Gebirges, schlängelte sich trübrot durch einen Dschungel, der an vielen Stellen kahle Flecken aufwies. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, mit einem selbstgebauten Floß den Fluß abwärts zu fahren. Dadurch würde ich gewiß vielen Gefahren des Dschungels ausweichen. Die Frage war nur, ob auch im Fluß Gefahren lauerten – und von welcher Art sie sein mochten. Eine Entscheidung würde ich erst an Ort und Stelle nach Untersuchung der Gegebenheiten treffen können.
Nachdem ich die Stricke wieder festgezurrt hatte, nahm ich mein Bündel wieder auf den Rücken und setzte den Abstieg fort. Als ich die geröllgefüllte Rinne erreichte, tastete ich mich vorsichtiger vorwärts. Dennoch glitt ich schon nach wenigen Schritten aus. Ich stürzte und warf mich nach hinten, um nicht von der Geröllawine, die ich ausgelöst hatte, mitgerissen zu werden. Meine Absätze bohrten sich förmlich in den Boden, und scharfkantige Steine schlitzten die Haut meiner Hände auf. Doch ich konnte mich halten. Die Geröllawine hatte auch ein Gutes bewirkt. Sie hatte die Felsrinne weitgehend von losem Geröll befreit, so daß meine Füße besser als zuvor Halt fanden. Endlich erreichte ich ebenen Boden. Ich war schweißüberströmt und blutete aus vielen kleinen Wunden. Außerdem machte mir mein rechter Fuß, der am Vortag von einem Stein getroffen worden war, zu schaffen. Jeder Schritt schmerzte. Ich sah ein, daß ich erst etwas für meinen Fuß unternehmen mußte, bevor ich den Weg fortsetzte. Wenn ich ihn im Fluß kühlte und anschließend bandagierte, sollte er mir eigentlich keine großen Schwierigkeiten mehr bereiten. Ich blickte mich um. Der Fluß war von hier aus nicht zu sehen, aber ich wußte, daß er nicht weit entfernt sein konnte. Zwischen ihm und mir lag der Dschungel, eine Pflanzenwelt, die mir teils vertraut erschien, teils fremdartig vorkam. Hellgraue Stämme reckten sich empor und verloren sich oben in einem Gewirr von Ästen, Blättern und Blüten. Zwischen den Stämmen standen farnartige Gewächse, deren Blattwedel sich in einer schwachen Brise matt bewegten. Von oben hingen Lianen herab und hatten trichterförmige Blüten geöffnet, von denen ein schwach süßlicher Duft ausging. Ich hatte nicht den Eindruck, daß dieser Teil des Dschungels Gefahren barg. Doch zahlreiche Erfahrungen auf dieser Welt hatten mir gezeigt, daß dem ersten Eindruck nicht immer zu trauen war.
Deshalb zückte ich mein Schwert, bevor ich in den Dschungel eindrang. Und ich versuchte, den herabhängenden Lianen auszuweichen. Meine Füße schritten auf einem Boden, der sich wie ein Schwamm anfühlte, der voll Wasser war. Die Farnwedel streiften meine Beine. Nach ungefähr zehn Schritten drehte ich mich um. Ich konnte nicht weit sehen, nur ungefähr acht Schritte weit, so daß ich mich im Dschungel völlig isoliert fühlte. Aber diese Isolation hatte nichts Bedrückendes an sich. Im Gegenteil, ich fühlte mich irgendwie geborgen, so, als schützte mich die dichte Pflanzenwelt vor der Entdeckung durch feindliche Geschöpfe. Langsam ging ich weiter. Es gab keine Hindernisse, die ich mit dem Schwert beseitigen mußte. Mühelos drang ich vorwärts, und der Blütenduft erfüllte mich mit Wohlbehagen. Als vor mir eine Lichtung auftauchte, fühlte ich das Bedürfnis, mich auszuruhen, obwohl mein Fuß nicht mehr schmerzte. Der Boden der kleinen Lichtung war mit schwellenden Moospolstern bedeckt, aus denen dünne Stiele mit kleinen weißen Blütenköpfen ragten. Irgendwo summten Insekten, obwohl ich keine sehen konnte. Ich schob das Schwert in die Scheide zurück und schickte mich an, die Lichtung zu betreten und mich auf dem Moos auszustrecken, als ein schmerzhafter Impuls durch mein Gehirn schoß. Unwillkürlich blieb ich stehen und griff an die Stelle über meiner Nasenwurzel, an der Vestas Auge eingebettet war. Der Schmerz schien von dort auszugehen und sich in Stoßwellen durch meinen Schädel bis zum Hinterkopf auszubreiten. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte und wollte weitergehen, da verstärkte sich der Schmerz. Ich stöhnte und fühlte mich versucht, das Stirnjuwel mit beiden Händen aus dem Fleisch zu reißen. Doch der plötzliche starke Schmerz fegte etwas aus meinem
Gehirn, das sich unbemerkt darin eingenistet hatte. Ich konnte mit einemmal klarer denken und besser sehen – und was ich vor mir sah, jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken. Die schwellenden Moospolster waren verschwunden. An ihrer Stelle befand sich ein mit einer grünlichen schleimigen Masse angefüllter Tümpel, der auf grauenerregende Art und Weise zu leben schien. Es war, als bestünde die schleimige Masse aus zahllosen winzigen Tierkörpern, die summend durcheinander krochen. Meine Stirn bedeckte sich mit Schweiß. Ich wich einen Schritt zurück und spürte plötzlich wieder den scharfen Schmerz in meinem rechten Fuß. Der Duft der Lianenblüten rief kein Wohlbehagen mehr bei mir hervor, sondern Angst. Mir wurde klar, daß ich von dem Duft des klaren Denkens beraubt worden war. Beinahe wäre ich in die lebende schleimige Masse gegangen und wahrscheinlich eines grauenvollen Todes gestorben, wenn mich Vestas Auge nicht im letzten Moment durch seine Schmerzimpulse aus der Betäubung gerissen hätte. Wie hatte Vesta mir in einer Vision offenbart: Nicht alle Geschöpfe im Land des Wilden Lebens sind das, was sie zu sein vorgeben! Ich hatte diese Warnung mißachtet, weil ich glaubte, die Geschöpfe der Pflanzenwelt nicht in diese Kategorie einbeziehen zu müssen – und es hatte mich beinahe das Leben gekostet. Von jetzt an würde ich vorsichtiger sein. Ich zog das Schwert und hieb die Lianen ab, die mir im Wege hingen. Unbeirrt verfolgte ich die Richtung, in der der Fluß lag. Und die Pflanzen schienen gemerkt zu haben, daß ich mich nicht mehr von ihnen irreführen ließ. Die Lianen zogen sich, wie von Geisterhand bewegt, vor mir zurück. Die Blüten schlossen sich, und ich kam ungehindert voran. Bald hatte ich den Fluß erreicht. An der Stelle, an der ich aus dem Dschungel kam, befand sich eine gelbe Sandbank, die zwei Schritte vom Ufer entfernt aus dem
schnell dahinströmenden trübroten Wasser ragte. Das Ufer selbst fiel steil etwa einen Schritt ab. Ich bückte mich, hob einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Es spritzte auf, und eine Welle breitete sich kreisförmig von der Aufschlagstelle aus. Sonst rührte sich nichts. Vielleicht war der Fluß harmlos – im Unterschied zu dem Stück Dschungel, das ich durchquert hatte. Dennoch blieb ich vorsichtig. Ich zog den rechten Stiefel vorsichtig aus und wickelte die Lappen von meinem Fuß. Er war nicht sehr stark geschwollen, aber ein Fleck, der sich bereits grün und gelb verfärbte, zeigte die Stelle der Prellung an. Ich setzte mich auf den Rand der Uferböschung und ließ den Fuß ins Wasser hängen. Mein Schwert behielt ich in der Hand, und ich musterte aufmerksam das Wasser, um bei der ersten verdächtigen Bewegung den Fuß zurückzuziehen oder mit dem Schwert zuzuschlagen. Aber alles blieb still. Nach einer Weile zog ich den Fuß zurück, tauchte die Lappen ins kalte Wasser und wickelte sie wieder um meinen Fuß. Dann zog ich den Stiefel an und stand auf. Der Fuß schmerzte noch immer, aber längst nicht mehr so stark wie zuvor. Weit mehr noch aber freute ich mich darüber, daß sich im Fluß kein feindliches Leben gezeigt hatte. Ich beschloß daher, mir aus Ästen und Zweigen ein kleines Floß zu bauen und mich den Fluß hinabtreiben zu lassen.
4. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, als ich das kleine Floß ins Wasser schob. Ich hielt es an einer Leine, die ich aus den Traggurten meines Bündels geknüpft hatte. Mit der anderen Hälfte meiner Stricke hatte ich mein Gepäck auf dem Floß befestigt. Nach einem letzten Blick in die Runde stieg ich ins Wasser, schwang mich auf das Floß und griff nach der Stange, die von einem jungen Baum stammte. Indem ich die Stange auf den Grund stieß und mich mit der Schulter gegen sie stemmte, schob ich das Floß nach und nach in die Mitte des Flusses, wo es von der Strömung erfaßt und davongetragen wurde. Das kleine Floß schaukelte stark, aber das machte mir nichts aus. Ich war recht zufrieden mit meinem Werk. Breitbeinig balancierte ich die Schaukelbewegungen aus und hielt die Stange bereit, um mich von eventuellen Hindernissen abzustoßen. Nach kurzer Zeit beschrieb der Fluß eine Biegung nach links. Das Floß wurde dicht ans rechte Ufer getrieben und wäre in überhängenden Ästen und Zweigen hängengeblieben, wenn ich die Stange nicht immer wieder kräftig in den Grund gerammt und uns dadurch in der Strömung gehalten hätte. Danach schwamm das Floß wieder ohne mein Dazutun, und die Ufer glitten rasch vorbei. Es war eine Fortbewegung, die an die Reise auf Aerula-thane erinnerte, und ich mußte an meine Wanderwolke denken, die im Gebirge zurückgeblieben war. Ich hoffte, daß sie mir folgen würde, sobald sie sich erholt hatte. Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Fluß nach rechts abbog und das Floß dicht ans linke Ufer getrieben wurde. Ich hob die Stange, um mich abzustoßen. Da sah ich das Tier! Es sah aus wie eine Kreuzung von Wildpferd und Echse. Auf vier
kurzen stämmigen Beinen saß ein schlanker geschuppter Körper mit einem langen kräftigen Schwanz, und auf dem gedrungenen Hals saß ein Pferdekopf. Das Tier beobachtete mich aus großen schwarzen Augen, schien aber keine feindseligen Absichten zu hegen. Dennoch fühlte ich mich unbehaglich, als ich merkte, daß mein Floß genau auf das Tier zutrieb. Ich stieß die Stange ins Wasser, um mich abzustoßen, fand jedoch keinen Grund. Das Tier entblößte zwei Reihen von Zähnen, die allerdings keine Pferdezähne waren. Ich erblickte große dolchartige Reißzähne, wie sie nur Fleischfresser haben. Eingedenk Vestas Warnung legte ich die Stange vor mich auf das Floß, nahm meinen Bogen und legte einen Pfeil auf. Als ich den Bogen spannte, drehte sich das Tier blitzschnell um und schlug mit dem Schwanz ins Wasser. Ein Wasserschwall peitschte auf und schlug mir ins Gesicht, so daß ich einen Herzschlag lang nichts sehen konnte. Aber ich wußte noch, wo das Tier stand, und ich ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Ein Brüllen erscholl, dann schnellte ein Schemen vom Ufer auf mich zu. Ich ließ den Bogen fallen, stellte den Fuß darauf und zog mein Schwert. Doch das Tier stürzte unmittelbar vor dem Floß ins Wasser. Ich sah in seinem Rücken das gefiederte Ende meines Pfeiles, und ich sah, daß Blut aus der Wunde floß. Als das Tier seinen Pferdekopf über das Floß hob, ließ ich die Schwertklinge herabsausen. Sie spaltete den Schädel des Untiers, das nach einem letzten Brüllen in den Fluten versank. Ich schob das Schwert zurück, nahm die Stange und stieß mich vom Ufer ab. Das Floß kehrte in die Strömung zurück und wurde weitergetragen. Allerdings fühlte ich mich auf ihm nach der Begegnung mit dem Untier nicht mehr so sicher wie vorher. Ich wußte, daß ich weiter
wachsam sein mußte, wenn ich überleben und mein Ziel erreichen wollte. Doch die Zeit tröpfelte dahin, ohne daß ein neuer Angriff erfolgte. Ab und zu blickten seltsam gebaute Tiere aus dem Dschungel an beiden Ufern, aber sie verhielten sich friedlich. Meine Tätigkeit konnte sich darauf beschränken, das Floß in der Strömung zu halten. Plötzlich, nach einer weiteren Biegung, mündete der Fluß in einen See. Die Ufer waren stark verschilft und versumpft, und mehrere bewachsene Sandbänke ragten aus dem Wasser, das hier eine hellere Färbung angenommen hatte. Am meisten gefesselt wurde meine Aufmerksamkeit jedoch von einer Gruppe gewaltiger Saurier, deren hellgraue Körper zu drei Vierteln im Wasser verborgen waren. Nur die schlammbedeckten Rücken und die auf langen Hälsen sitzenden kleinen Köpfe waren zu sehen. Die Saurier standen in der Nähe des linken Ufers und fraßen Wasserpflanzen, die sie büschelweise vom Grund des Sees rupften. Als ich merkte, daß mein Floß von der Strömung auf die Giganten zugetrieben wurde, versuchte ich mit der Stange den Grund zu erreichen, um das Floß abzustoßen und in eine andere Richtung zu treiben. Ohne Erfolg. Ich überlegte, ob ich das Floß verlassen und schwimmend die nächste Sandbank erreichen sollte. Die Saurier waren zwar offensichtlich Pflanzenfresser, aber im Land des Wilden Lebens durfte ich dem Augenschein nicht trauen, wie ich bereits erfahren hatte. Gerade hatte ich mich entschlossen, ins Wasser zu gehen, als neben dem Floß der häßliche Kopf einer Seeschlange auftauchte. Die unter trüben Häuten verborgenen Augen musterten mich unbeweglich. Ich griff nach meinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Aber bevor ich den Bogen anheben konnte, tauchte der Kopf der
Schlange unter. Etwas schien sie erschreckt zu haben. Ich konnte mir allerdings nicht denken, daß sie vor meinem Bogen erschrocken war. Unwillkürlich blickte ich nach oben – und entdeckte drei seltsame geflügelte Geschöpfe, die in zirka hundert Fuß Höhe über mir kreisten. Die Geschöpfe erinnerten mich an die Vogelmenschen, die ich auf meinem Weg zu Aerula kennengelernt hatte. Ihre Gliedmaßen waren zweifellos menschenähnlich, aber die Köpfe glichen denen von Raubkatzen. Die Körper waren von gelblicher Färbung und offenbar nackt, die Flügel bestanden aus ledrigen Häuten. Sollte die Seeschlange vor diesen Wesen erschrocken sein? Ich blickte von den Geflügelten zu den Sauriern. Die Riesentiere hatten mich offenbar erst jetzt bemerkt. Sie hielten inne mit Kauen, drehten ihre kleinen Köpfe zu mir und starrten mich teilnahmslos an. Wahrscheinlich brauchte ich sie nicht zu fürchten, es sei denn, ich geriet in ihre unmittelbare Nähe und erschreckte sie. Über mir ertönte ein schriller Schrei. Mein Kopf fuhr herum. Ich sah, daß die drei Geflügelten auseinanderstrebten. Ihre ledrigen Schwingen waren weit ausgebreitet, die Köpfe so gedreht, daß sie alle in meine Richtung sahen. Es sah so aus, als bereiteten sie sich auf einen Angriff vor. Als sie umdrehten, bestätigte sich meine Vermutung. Sie gingen gleichzeitig zum Sturzflug über, und da sie von drei Seiten auf mich zukamen, standen meine Chancen nicht sehr gut. Ich hob meinen Bogen an. Der Pfeil war noch immer aufgelegt. Als eines der Geschöpfe so nahe gekommen war, daß ich seine roten Augen in dem Raubtiergesicht deutlich erkennen konnte, zog ich die Sehne an und ließ den Pfeil fliegen. Er traf das Geschöpf ins linke Auge. Es stieß einen schrillen Schrei aus, schwankte und stürzte ins Wasser. Die beiden übrigen Geflügelten aber waren für weitere Schüsse
inzwischen zu nahe gekommen. Ich ließ den Bogen fallen, zückte das Schwert und schwang es in einem Halbkreis um mich herum. Doch die Geflügelten waren schnell und reagierten auch schnell. Sie wichen meinen Schwerthieben aus, stiegen höher und griffen erneut an. Diesmal falteten sie ihre Flügel zusammen, als sie sich über mir befanden. Dadurch stürzten sie wie Steine auf mich herab. Mir blieb weiter nichts übrig, als kopfüber ins Wasser zu springen. Als ich wieder auftauchte, hockten die Geflügelten mit hochgestellten Schwingen auf dem Rand meines Floßes. Sie erspähten mich sofort und trafen Anstalten, sich ebenfalls ins Wasser zu stürzen. Dabei entblößten sie je zwei Reihen spitzer scharfer Zähne. Ich wollte tauchen, um ihnen dadurch zu entkommen. In diesem Moment stießen die Saurier ein markerschütterndes Gebrüll aus und stampften auf mich zu. Schon glaubte ich mich verloren, da erreichten die ersten Saurier mein Floß. Ihre Hälse schnellten vor, und die Schädel prallten gegen die Körper der Geflügelten, die daraufhin durch die Luft flogen und ins Wasser stürzten. Als ich merkte, daß die Saurier mich ungeschoren ließen, ja mir sogar auswichen, um mich nicht zu verletzen, kletterte ich auf mein Floß zurück. Insgesamt acht Saurier versammelten sich um mein Floß. Ihre mächtigen Körper bewegten sich so behutsam durchs Wasser, daß sie kaum Wellen erzeugten, und mit ihren Köpfen schoben sie mein Floß vorwärts. Ihre Augen schauten mich dabei an, als wollten sie mir Mut machen. Am gegenüberliegenden Ende des Sees setzte sich der Fluß fort. Die Saurier schoben mein Floß in die Strömung und wandten sich dann um. »Ich danke euch!« rief ich ihnen nach. Aber sie verrieten nicht, ob sie mich gehört hatten und ob ihnen mein Dank überhaupt etwas bedeutete. Schnaubend und prustend kehrten sie zu ihrem Weideplatz zurück.
Da mein Floß vorerst sicher in der Mitte des Flusses dahinglitt, setzte ich mich, um mich nach der Aufregung zu entspannen. Ohne die Saurier hätten die Geflügelten mich vielleicht getötet. Aber wie waren die Saurier dazu gekommen, mir zu helfen? Hatte ich sie vielleicht unbewußt mit meinem Stirnjuwel beeinflußt und dadurch zum Eingreifen veranlaßt. Ich wußte es nicht, aber ich wußte nun, daß es im Land des Wilden Lebens Geschöpfe gab, die mir nach dem Leben trachteten und solche Geschöpfe, die mir willig halfen. * Der See lag etwa einen Zehntel Tagesmarsch hinter mir, als von dem Wasser des Flusses bleigraue Nebel aufstiegen. Sie waren anfangs nur dünn, so daß ich weit genug sehen konnte, um das Floß vom Ufer fernzuhalten. Doch bald wurden sie so dicht, daß ich nicht einmal mehr mein kleines Floß ganz überblicken konnte. Die Fahrt entwickelte sich zu einem Alptraum, denn mit dem Nebel kamen dumpfe Schreie auf, die aus dem Dschungel zu beiden Seiten des Flusses ertönten, Schreie, die nichts Menschliches an sich hatten – aber auch nichts Tierisches. Es war, als klagten Dämonen. Ich beschloß, so lange auf dem Fluß zu bleiben, wie es möglich war. Aber schon bald wurde dieser Entschluß zunichte gemacht, denn mein Floß verfing sich in Gestrüpp. Alle meine Versuche, es wieder flottzumachen, schlugen fehl. Während ich noch überlegte, ob ich einfach auf dem Floß sitzen bleiben und abwarten sollte, bis der Nebel sich lichtete, tauchte zu meiner Linken ein fahler Lichtschein auf. Ich verhielt mich ruhig und versuchte zu erkennen, ob es sich bei dem Lichtschein um eine Fackel handelte und damit um das Anzeichen für Menschen oder menschenähnliche Wesen. Aber als der Lichtschein näher kam, sah ich, daß er von einem quallenähnlichen Gebilde ausging, das dicht über der Wasseroberfläche schwebte. Es leuchtete von innen heraus.
Gleich darauf entdeckte ich zwei weitere dieser Leuchtquallen. Auch sie schwebten dicht über dem Wasser. Bald darauf sah ich, was die Quallen mit ihrem Leuchten bezweckten. Sie lockten Fische an, und wenn diese aus dem Wasser schnellten, wurden sie von zahllosen fadendünnen Tentakeln gepackt, betäubt und in die Leiber der Leuchtquallen hineingezogen. Ich konnte genau beobachten, wie die betäubten Fische in den Quallenkörpern langsam verdaut wurden. Immer mehr dieser Quallen tauchten auf. Ich wußte nicht, ob sie auch mich angreifen würden, wenn sie mich entdeckten. Vorsichtshalber aber verhielt ich mich weiterhin still, denn immerhin hatten die Quallen den durchschnittlichen Umfang eines Kalbes. Doch bei der großen Anzahl der Leuchtquallen und ihrer emsigen Tätigkeit war es unvermeidlich, daß ich schließlich entdeckt wurde. Eines der Wesen geriet an den Rand meines Floßes, hielt ruckartig an und leuchtete plötzlich stärker. Im nächsten Augenblick kamen die übrigen Leuchtquallen herangeschwebt. Ich hielt mein Schwert griffbereit, hütete mich aber, die Feindseligkeiten zu eröffnen. Es waren zu viele Quallen, als daß ich sie alle hätte erledigen können, bevor sie mich überwältigten. Statt dessen konzentrierte ich mich auf mein drittes Auge und versuchte, die Quallen durch meine Gedanken so zu beeinflussen, daß sie mir durch den Nebel flußabwärts leuchteten. Sie reagierten jedoch nicht wie gewünscht, sondern drängten sich immer dichter um mein Floß. Es wurde fast wieder taghell. Dadurch konnte ich zwar meine Umgebung wieder genau erkennen und auch sehen, welche Zweige mein Floß festhielten, aber ich wagte mich nicht zu rühren. Lange Zeit verharrten wir so, ohne daß eine Seite die Feindseligkeiten eröffnet hätte. Endlich lösten sich die Tiere wieder von mir. Sie strebten einfach fort, als hätten sie das Interesse an mir verloren und gingen weiter ihrem Geschäft des Fischfangs nach.
Ich hatte mir in ihrem Schein gemerkt, welche Zweige ich durchtrennen mußte, um loszukommen. Als die Quallen fort waren, kappte ich diese Zweige mit dem Schwert. Mein Fahrzeug drehte sich in der Strömung, schwankte und glitt wieder hinaus in freies Wasser. Bald darauf lichtete sich der Nebel. Ich konnte wieder die Ufer sehen und atmete auf. Doch meine Freude währte nicht lange. Zuerst störte ich mich nicht daran, als ein kleiner Schwarm grünlich schillernder Insekten auftauchte und mich begleitete. Es waren etwa fingerlange Wesen mit schnell schlagenden Hautflügeln, und ihre Facettenaugen leuchteten irisierend im Sonnenschein. Doch dann wurden ihrer immer mehr, und bald begleitete mich eine regelrechte Insektenwolke flußabwärts. Aber sie griffen nicht an. Dann trug der Fluß mein Floß wieder um eine Biegung – und plötzlich erblickte ich weit voraus ein dunkles rauchiges Gebilde, das sich quer über den Fluß spannte. Es sah beim Näherkommen aus wie ein engmaschiges Netz, aber im Unterschied zu einem Netz veränderte es ständig seine Struktur. Es war, als bestünde es aus durcheinanderquirlenden Rauchpartikeln. Und dann sah ich, woraus es wirklich bestand: aus Millionen oder Milliarden kleiner geflügelter Insekten, die ihre Körper zu einem engmaschigen Netz quer über den Fluß verbunden hatten und innerhalb dieser Struktur ständig Positionswechsel vornahmen. Und mein Floß trieb unaufhaltsam auf dieses Netz zu. Ich wußte nicht, was die Insekten mit mir anfangen würden, wenn ich mich in ihrem Netz verfangen hatte, aber ich verspürte keine Lust, abzuwarten, um es herauszufinden. Verzweifelt bemühte ich mich, mit meinem Stab Grund zu erreichen und das Floß zum linken Ufer zu dirigieren, doch das Wasser war zu tief. Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich verhalten sollte. Die Strömung war nicht stark. Ich konnte also das Floß verlassen
und zum Ufer schwimmen, aber dabei würde ich meine Vorräte und einen Teil meiner Ausrüstung verlieren. Aber wenn die Insekten mich einfingen, verlor ich vielleicht sogar mein Leben. Da fiel mir eine bessere Lösung ein, und ich ging sogleich daran, sie in die Tat umzusetzen. Ich schob mein Schwert in die Scheide zurück, ließ Pfeil und Bogen auf dem Floß und schob mich über den rückwärtigen Rand. Meine Hände tasteten nach den Lianen, mit denen ich die Äste der Unterseite verknüpft hatte. Ich bekam sie zu fassen und hielt mich an ihnen fest. Unterdessen war mein Floß nur noch wenige Mannslängen von dem lebenden Netz entfernt. Deutlich vernahm ich das Summen und Brummen der zahllosen Insekten. Ich wartete, bis der Bug meines Fahrzeugs die Sperre fast berührte, dann tauchte ich und zog mich so unter das Floß, daß ich von außen nicht gesehen werden konnte. Ich spürte den Schlag, mit dem das Floß gegen die Barriere prallte. Während ich die Luft anhielt, fragte ich mich, wie lange die Insekten sich für ein leeres Floß interessieren würden. Dauerte es zu lange, mußte ich auftauchen – und mein Spiel war verloren. Aber nichts verriet, daß die Insekten mein Floß freigaben. Ich spürte, wie es hin und her gezerrt wurde. Allmählich wurde mir die Luft knapp. In meinen Ohren rauschte es, und der Drang, nach Luft zu schnappen, wurde immer stärker. Der Augenblick, in dem ich es nicht mehr aushielt, ließ nicht lange auf sich warten. Ich zog mich an den Lianen zum hinteren Rand des Floßes zurück, tauchte auf und schnappte verzweifelt nach Luft. Es dauerte einige Augenblicke, bis das Rauschen in meinen Ohren verklungen war und meine Augen mehr sahen als nur rote Kreise. Zuerst vernahm ich das laute, an- und abschwellende Summen der Insekten. Dann erblickte ich das lebende Netz, in dem sich mein Floß verfangen hatte. Das Netz federte abwechselnd vor und zurück, und jedesmal wurden mein Floß und ich ein Stück näher zum linken Ufer
befördert. Aber ich sah noch etwas anderes! Ungefähr dreihundert Schritt flußabwärts hörte der Fluß plötzlich auf. Dahinter lag eine Strecke geröllbedeckten trockenen Bodens, und danach kam wieder der Dschungel. Ein Rauschen, Schmatzen und Gurgeln schien darauf hinzudeuten, daß dort der Fluß in einem Loch verschwand, das ins Innere der Welt zu führen schien. Ich begriff plötzlich, daß die Insekten alles andere als feindlich waren. Sie hatten mir wahrscheinlich das Leben gerettet, indem sie verhinderten, daß ich meine Fahrt flußabwärts fortsetzte. Als ich Grund unter die Füße bekam, ließ ich mein Floß los und watete ans Ufer. Kurz darauf wurde mein Floß mitsamt der Ausrüstung an Land geschleudert. Ich sah noch, wie die Insektenformationen sich auflösten und fortflogen, dann fielen mir die Augen vor Erschöpfung zu, und ich schlief ein. * Als ich erwachte, stand die Sonne schon ziemlich tief. Es würde bald Nacht werden. Ich fühlte mich ausgeruht und überprüfte zuerst meine Vorräte und Waffen. Die Insekten hatten nicht nur mein Floß ans Ufer gebracht, sondern auch mein Bündel sowie den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen. Dankbarkeit gegenüber den kleinen geflügelten Helfern erfüllte mich. Sie hatten zu meinen Gunsten eingegriffen, obwohl ich sie nicht dazu aufgefordert hatte. Im Gegenteil, ich war anfangs überzeugt davon gewesen, daß sie es auf mein Leben abgesehen hatten. Das war das zweitemal, daß ich erkannte, daß ich im Land des Wilden Lebens nicht nur Feinde, sondern auch Verbündete besaß. Im Dschungel allerdings mochten mehr Feinde als Helfern hausen. Deshalb beschloß ich, die Nacht außerhalb des Urwalds
zuzubringen. Die Geröllstrecke hinter dem jähen Ende des Flusses schien mir am besten dazu geeignet zu sein. Ich nahm mein Bündel und meine Waffen auf und begab mich zu dieser Stelle. Bevor ich sie erreichte, stieß ich auf das Loch im Boden, in dem die Wasser des Flusses verschwanden. Es war ein Loch so groß wie zehn Stadttore zusammen, und seine Ränder waren glattpolierter Fels, auf dem dünne Algenpolster wuchsen. Ich begriff, daß ich verloren gewesen wäre, hätte ich mich vom Fluß bis zu dem Loch treiben lassen. Auf den glitschigen Algenpolstern hätte ich keinen Halt gefunden und wäre hilflos in den gähnenden Schlund gespült worden. Ungefähr fünfzig Schritt hinter dem Schlund richtete ich mich für die Nacht ein. Ich sammelte trockene Äste, die der Fluß an seine Ufer gespült hatte, entfachte ein Feuer und briet darin einige der Früchte, die noch aus dem Pueblo-Dorf der Vogelmenschen stammten. Dazu aß ich einen Streifen Dörrfleisch und trank etwas von dem Flußwasser, das trotz seines unappetitlichen Aussehens frisch und köstlich schmeckte. Ich hatte das Mahl gerade beendet und wollte mich in meine Felldecke wickeln, als ich das Rollen eines Steines vernahm. Mit einem Satz sprang ich aus dem hellen Lichtschein des Feuers, riß mein Messer aus dem Gürtel und hielt es wurfbereit. Aber es bestand offenbar keine Notwendigkeit, zu kämpfen, denn die dunkle Gestalt näherte sich dem Feuer aufrecht und offen, und ihre Hände waren leer. Vor dem Feuer blieb die Gestalt stehen. Ich sah, daß mein Besucher ein schwarzhäutiger Mensch war, ähnlich wie Ubali, aber vollkommen haarlos und etwas kleiner und gedrungener. Er hob die Hände, zeigte mir die leeren Handflächen und sagte mit seltsam raspelnder Stimme: »Ich komme in Frieden und bitte darum, mich an deinem Feuer
niederlassen zu dürfen.« Ich richtete mich aus meiner geduckten Haltung auf, schob das Messer in den Gürtel zurück und sagte: »Wenn du in Frieden kommst, sollst du mir willkommen sein. Ich heiße Dragon.« Während ich sprach, ging ich wieder zum Feuer zurück und musterte meinen Besucher genauer. Seine schwarze Haut glänzte, als wäre sie mit Fett eingerieben, und die Augen spiegelten den Widerschein des Feuers, als bestünden sie aus zahllosen geschliffenen Kristallen. Das einzige Kleidungsstück meines Besuchers war ein schmaler Fellschurz, der gerade die Schamgegend bedeckte. »Ich heiße Coleops«, sagte der Fremde, und wieder fiel mir die raspelnde Stimme auf. »Nimm Platz, Coleops!« sagte ich und deutete auf eine Stelle neben dem Feuer. Als er saß, nahm ich ebenfalls Platz. Ich schob ihm etwas von meinen Vorräten und einen halbgefüllten Wasserschlauch zu und sagte: »Iß und trink! Du bist mein Gast.« Coleops neigte den Kopf und zeigte mir dabei die spiegelnd glatte Oberfläche seines runden Schädels. »Danke, Dragon«, antwortete er. »Aber ich habe weder Hunger noch Durst. Erlaube mir nur, ein wenig an deinem Feuer zu rasten, dann werde ich meinen Weg fortsetzen.« »Du kannst über Nacht bleiben, wenn du willst«, erwiderte ich. Am liebsten hätte ich gefragt, woher er kam und wohin er zu gehen beabsichtigte. Aber wenn ich jemandem meine Gastfreundschaft angeboten hatte, wäre es unhöflich gewesen, ihn auszufragen. Entweder redete er aus freien Stücken, oder er schwieg – ganz wie es ihm beliebte. Coleops entschied sich dafür, zu schweigen. Er nahm jedoch mein Angebot, über Nacht hier zu bleiben, an. Als Mann, der gewohnt war, vollendete Gastfreundschaft zu üben, bot ich meinem Besucher an, meine Decke zu benutzen. Coleops
lehnte jedoch höflich ab. Er benötige keine Decke, erklärte er. Nach einiger Zeit sanken die Flammen des Feuers in sich zusammen. Aber die rotglühenden Holzstücke strahlten noch reichlich Wärme aus. Ich schob mit den Füßen etwas Asche über die Glut, dann rollte ich mich in meine Decke und entspannte mich. Coleops streckte sich ebenfalls aus. Ich war allerdings nicht so unvorsichtig, sofort einzuschlafen. Während ich so ruhig und gleichmäßig wie ein Schlafender atmete, beobachtete ich meinen Gast durch fast geschlossene Lider hindurch. Er lag jedoch völlig ruhig. Dennoch fand ich etwas merkwürdig an ihm. Nur hätte ich nicht sagen können, was es war. Es mochte daran liegen, daß er eben kein Mensch wie ich war, sondern ein Bewohner des Landes des Wilden Lebens. Dennoch nahm ich mein Messer in die Hand, als ich merkte, daß die Müdigkeit mich übermannte. Ich wußte, daß ich beim geringsten verdächtigen Geräusch aufwachen würde -und mit dieser Gewißheit schlief ich endlich ein. * Meine Nachtruhe wurde jedoch durch nichts gestört. Als ich aufwachte, graute bereits der neue Tag. Aus dem Dschungel kamen fremdartige Geräusche, und über dem Fluß lag eine dichte Nebelbank. Der Platz, an dem Coleops sich zur Ruhe gelegt hatte, war allerdings leer. Ich richtete mich auf und blickte mich um. Aber von meinem Besucher war nichts zu sehen. Ich schob mit der Schwertklinge die Asche weg und legte trockenes Holz auf den Rest Glut, der darunter lag. Knisternd sprangen Flämmchen empor. Rauch kräuselte sich in der kalten Morgenluft. Als ich mich vom Feuer aufrichtete, fiel mein Blick zufällig auf die
Stelle, an der der Fluß in der Tiefe verschwand – und meine Augen weiteten sich, als ich Coleops unmittelbar neben dem Schlund stehen sah. Ich rieb mir die Augen, aber das Bild blieb. Dabei wußte ich genau, daß ich es gehört und gesehen hätte, wenn der Fremde aus dem Dschungel gekommen und zu der Stelle gegangen wäre, an der er stand. Besaß er etwa Flügel, die er völlig verbergen konnte, wenn er sie nicht brauchte? Coleops drehte sich um, erblickte mich und hob grüßend die Hand. Dann kehrte er zum Feuer zurück. »Ich habe mich ein wenig umgesehen«, sagte er mit seiner raspelnden Stimme. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich, denn ich war argwöhnisch geworden. Coleops drehte sich halb und deutete zum Schlund. »Dort, wo die Wasser in die Tiefe zurückkehren, aus der alles kommt und in die alles wieder geht«, antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen. »Und vorher?« forschte ich weiter. Coleops blickte mich mit seinen glänzenden Augen an, und wieder kam es mir vor, als bestünden sie aus zahllosen geschliffenen Kristallen. »Überall und nirgends«, erklärte er. Ich gab mich scheinbar mit dieser Antwort zufrieden. Aber mein Mißtrauen war geweckt. Etwas an diesem Fremden kam mir unheimlich vor, und das war keinesfalls nur sein Äußeres. Er war mir irgendwie unheimlich. Ich ließ mich am Feuer nieder und aß. Coleops lehnte auch heute die Nahrungsmittel und das Wasser ab, das ich ihm anbot. Er erklärte, daß er lange Zeit ohne Nahrung auskommen könnte. Als ich meine Sachen zusammenpackte und zum Aufbruch rüstete, fragte er: »Wohin gehst du, Dragon?«
Ich überlegte, ob ich ihm eine falsche Auskunft geben sollte, entschied mich aber dagegen. Vielleicht wollte Coleops mich begleiten. Das konnte mir nur recht sein, denn dann hatte ich ihn wenigstens unter Beobachtung. »Nach Süden«, antwortete ich, ohne ihm direkt mein Ziel zu verraten. Wie ich halb erwartet hatte, meinte Coleops: »Nach Süden? Dahin will ich auch. Ich schlage vor, wir gehen zusammen. Zu zweit lassen sich die Gefahren des Dschungels besser überwinden.« »Einverstanden«, gab ich zurück. Nachdem ich mir mein Bündel wieder umgehängt hatte, bedeutete ich Coleops, vor mir herzugehen, da er den Dschungel besser kenne als ich. Ich erwartete Widerspruch, aber zu meiner Verwunderung willigte Coleops sofort ein. Er schritt zügig voran, und offenbar kannte er den Dschungel tatsächlich gut, denn er benutzte Tierpfade, die einem Uneingeweihten nur durch Zufall aufgefallen wären. Wir gingen dadurch zwar nicht geradlinig nach Süden, aber wir legten doch bis zum Mittag eine weitaus größere Strecke zurück, als ich sie allein geschafft hätte. Als die Sonne am höchsten stand, erreichten wir eine weite Lichtung, in der sich drei hohe steile Klippen aus grauweißem Fels erhoben. Coleops blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Hier können wir rasten, Dragon«, erklärte er. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Platz an den Klippen erschien mir relativ sicher, obwohl wir auch im Dschungel keinem feindlichen Lebewesen begegnet waren. Da die Sonne sehr heiß herabbrannte, suchte ich mir eine schattige Stelle aus und lehnte mich an den kühlen Fels einer Klippe. Später wollte ich etwas essen. Coleops gesellte sich zu meiner Verwunderung nicht zu mir, sondern setzte sich auf einen flachen Felsblock, der den Strahlen der
Sonne ungeschützt ausgesetzt war. Ich hätte mit meiner bloßen Haut nicht mit dem heißen Fels in Berührung kommen können, ohne mich zu verbrennen. Dem Fremden schien die Hitze jedoch nichts auszumachen. Im Gegenteil, er fühlte sich offenbar sehr wohl. Nach einer Weile wurde ich schläfrig und nickte ein. Ich wachte aber sofort wieder auf, da ich mir den Gedankenbefehl gegeben hatte, nicht einzuschlafen. Allerdings öffnete ich die Augen nur einen Spalt weit. Als ich zu Coleops blickte, hätte ich vor Überraschung beinahe laut aufgeschrien. Mit dem Fremden war eine grausige Verwandlung vorgegangen. Arme und Beine waren mit dem Rumpf zu einer Einheit verschmolzen, die von kribbelnder Bewegung erfüllt war, und auch der Schädel schien sich auflösen zu wollen. Praktisch war das, was dort auf dem Felsblock lag, nur noch eine unförmige Masse aus emsig durcheinanderkrabbelnden winzigen Teilen. Und plötzlich wurde mir klar, was ich vor mir sah: einen zusammengeballten Schwarm von schwarzen Insekten, die sich vorübergehend zu einer annähernd menschlichen Gestalt zusammengefunden hatten. Die Frage war nur, ob mir diese Insekten freundlich oder feindlich gesonnen waren. Wenn ich daran dachte, wie sich am Vortag unzählige Insekten zu einem Netz vereinigt hatten, um mich davor zu retten, in den Schlund gespült zu werden, vermochte ich nicht an feindliche Absichten glauben. Doch ich wurde bald eines Besseren belehrt. Das war, als ich durch eine vage Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, veranlaßt wurde, auf meine Füße zu sehen. Erschrocken sprang ich auf, denn dicht vor meinen Füßen wimmelte eine große Anzahl schwarzer Käfer, die sich in meine
Richtung bewegten – und einige hatten sich bereits in meine beiden Stiefel verbissen und halb durch das Leder gebohrt. Ich wich seitlich an der Felswand zurück und trat dabei kräftig mit den Füßen auf, um die Insekten, die sich in meine Stiefel bohrten, abzuschütteln. Aber der Schwarm, aus dem Coleops bestanden hatte, stieg plötzlich mit surrenden Flügeln auf und kam auf mich zu. Nun wurde mir auch klar, wie Coleops unbemerkt zu dem Schlund hatte kommen können: Der Schwarm hatte sich zerstreut gehabt und dann beim Schlund wieder zu der Gestalt von Coleops zusammengesetzt. Doch diese Erkenntnis nützte mir in meiner Lage nicht viel. Ich sah, daß es keinen Sinn hatte, die Felsklippe zu verlassen und zu versuchen, über offenes Gelände in den Dschungel zu fliehen. Die Insekten hätten mich auf halber Strecke eingeholt – und gegen sie halfen weder Schwert noch Messer oder Pfeile. Ich preßte mich an den Felsen der Klippe – und plötzlich trat mein linker Fuß ins Leere. Als ich mich mit den Händen abstützte und mit dem linken Fuß wieder Halt zu gewinnen trachtete, spürte ich einen Spalt hinter mir. Ich drehte mich um. Der Spalt war nur schmal, aber er war hoch und breit genug, um einen Menschen durchzulassen. Was dahinter lag, konnte ich nicht einmal ahnen. Aber auf jeden Fall war es dort dunkel, und wenn die Insekten reine Taglebewesen waren, was mir angesichts von Coleops' Verhalten wahrscheinlich erschien, würden sie sich scheuen, mir in die Dunkelheit zu folgen. Inzwischen war der Schwarm so dicht herangekommen, daß er mich im nächsten Moment erreichen würde. Ich zögerte nicht länger, sondern drang entschlossen durch den Spalt vor. Kühle, feuchte Luft empfing mich. Meine Hände tasteten sich an den rauhen Wänden eines Höhlengangs entlang. Hinter mir summten die Insekten – vor Zorn, voller Enttäuschung oder voller
Hohn? Ich kam nicht dazu, weitere Überlegungen in dieser Hinsicht anzustellen, denn aus dem Innern der Höhle schlug mir ein so eiskalter Odem entgegen, daß ich sofort das Bewußtsein verlor.
5. Ich träumte eine Reihe wüster Träume, in denen mein Geist sich immer wieder verirrte, aber als ich erwachte, konnte ich mich an keinen Traum mehr erinnern. Es war beinahe vollständig dunkel. Nur ein matter grünlicher Lichtschimmer schuf einen hellen Fleck an der Wand vor mir. Als ich genauer hinsah, merkte ich, daß die Wand die Vorderfront eines hohen Marmorsockels war und daß der grünliche Schimmer von diesem Sockel ausging. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber meine Glieder waren steif und gefühllos. Nur den Kopf konnte ich drehen, aber das nützte mir nicht viel, denn links und rechts von dem Sockel war es finster. Ich erinnerte mich an das Insektenwesen, das mich auf die Lichtung mit den drei Klippen geführt und das sich dort aufgelöst hatte. Die Insekten hatten mich angegriffen. Jedenfalls hatte es so ausgesehen. Jetzt, im Nachhinein, zweifelte ich daran, daß sie mich tatsächlich hatten angreifen wollen. Das hätten sie leichter gehabt, wenn sie es während der Nacht versuchten, während ich schlief. Nein, ihre Absicht konnte nur gewesen sein, mich in den Felsspalt zu treiben. Darum hatte mich Coleops zu den drei Klippen geführt. Ich war prompt in die Falle gegangen, und nun lag ich hier, konnte meine Glieder nicht bewegen und starrte auf einen Marmorsockel, der von innen heraus grünlich schimmerte. Warum? In dem Sockel vor mir veränderte sich plötzlich die farbige Äderung des Marmors, verwandelte sich in eine entfernt menschenähnliche Fratze mit vier roten Augen, spitzen Ohren und einem Gebilde, das Mund und Nase gleichzeitig zu sein schien. Ich habe lange auf ein Wesen wie dich gewartet! Was war das? Hatte jemand zu mir gesprochen oder hatte ich eine Stimme direkt in mir empfangen? Ich bin Wakathau! vernahm ich, und diesmal wußte ich, daß die
Botschaft direkt in meine Gedanken gesandt worden war. Die Geflügelten sind meine Diener. Sie haben dich vor dem Tod im Wasserschlund gerettet, damit ich ein Werkzeug für meinen Geist bekomme und mein Gefängnis verlassen kann, in das ich vor einer halben Ewigkeit verbannt worden bin. »Wie soll ich das verstehen?« fragte ich laut. Wir werden die Gefängnisse unserer Seelen tauschen! kam die Antwort. Du wirst, in meinem wohnen, und ich werde deines besitzen und in ihm unter freiem Himmel wandeln. Ich begriff – und erschauderte. Dieses Wesen, das sich Wakathau nannte und offenbar in dem Marmorblock eingeschlossen war, wollte sich meines Körpers bemächtigen und dafür meine Seele in den Marmorblock verbannen. Ich konnte verstehen, daß Wakathau sich danach sehnte, unter freiem Himmel zu wandeln, aber ich verspürte keine Lust, seine Stelle einzunehmen. »Warum willst du meine Seele einsperren, Wakathau?« fragte ich. »Kann ich dir nicht helfen, ohne selbst zu leiden?« Du brauchst nicht für alle Zeiten zu leiden! antworteten die Gedanken Wakathaus. Sobald du dich in meinem Gefängnis befindest, werden die Geflügelten dir gehorchen, und sie werden dir den nächsten Eindringling zutreiben, der sich auf die Insel des Namenlosen wagt und bis ins Land des Wilden Lebens gelangt. Dann kannst du seinen Körper nehmen und ihn in dein Gefängnis verbannen. So erging es einst mir, so ergeht es jetzt dir, und so wird es deinem Nachfolger ergehen. Die Logik Wakathaus war klar und einfach. Ich konnte ihn sogar verstehen. Er war ebenso ein Opfer wie ich und sehnte sich danach, endlich sein Gefängnis verlassen zu können. Dennoch sah ich nicht ein, daß ich mich opfern sollte, um ihm zur Freiheit zu verhelfen. »Und wenn ich mich weigere?« fragte ich. Du wirst bald einsehen, daß es klüger ist, deinen Körper freiwillig zu verlassen! antwortete Wakathau. Ein lebender Körper kann für
den mit ihm verbundenen Geist zur Hölle werden. Die Fratze im Marmorsockel löste sich auf, und bald war nur noch die normale Äderung zu sehen. Der fahle grünliche Lichtschimmer aber blieb. Ich überlegte, was Wakathau mit seiner letzten Mitteilung gemeint haben mochte. Glaubte er wirklich, ich würde meinen Körper freiwillig aufgeben? Im nächsten Augenblick wußte ich, was Wakathau gemeint hatte. Allmählich kehrte das Gefühl in meine Gliedmaßen zurück. Dennoch konnte ich mich nicht bewegen. Dafür fingen meine Zehen und Finger plötzlich so stark an zu kribbeln, daß ich unwillkürlich stöhnte. Es half jedoch nichts. Im Gegenteil, das Kribbeln breitete sich auf Arme und Beine aus. Als es endlich aufhörte, wurde es so heiß, daß ich glaubte, meine Haut würde verbrennen. Da begriff ich, was Wakathau mit seiner letzten Bemerkung gemeint hatte. Ein lebender Körper kann für den mit ihm verbundenen Geist tatsächlich zur Hölle werden, denn er leitet alle Schmerzempfindungen – ob wirklich oder eingebildet – an das Gehirn und damit an den Geist weiter, der die Qualen als echt empfindet. Es half mir nichts, daß ich wußte, Wakathau würde meinen Körper niemals echt foltern, denn er wollte ihn ja für sich haben. Wie immer auch die Schmerzempfindungen erzeugt wurden, sie wirkten absolut echt. Ich biß mir die Lippen blutig, um nicht schreien zu müssen. Wakathau sollte nicht erfahren, wie stark ich litt. Wenn ich lange genug durchhielt, vielleicht gab er dann auf. Doch die Qualen verschlimmerten sich noch. Glühende Klingen schienen meine Eingeweide zu durchbohren, meine scheinbar verbrannte Haut in Streifen zu schneiden und meine Finger nacheinander abzuschlagen. Ich war einer Ohnmacht nahe. Aber ich kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung dagegen an, denn ich ahnte, daß der Seelentausch
stattfinden konnte, sobald ich bewußtlos und damit wehrlos wurde. In meiner Not konzentrierte ich mich auf Vestas Auge in meiner Stirn und rief durch dieses Juwel die Geschöpfe im Land des Wilden Lebens auf, mir zu helfen. Plötzlich vernahm ich einen Wutschrei in meinen Gedanken, einen unartikulierten Laut, dem andere Äußerungen folgten. Verflucht seist du, der du mich verurteilst, mit meinem Gefängnis zugrundezugehen! Gleichzeitig damit kam eine neue Schmerzwelle. Diesmal verlor ich tatsächlich das Bewußtsein, so groß war die Qual. Aber als ich wieder zu mir kam, befand ich mich noch immer in meinem eigenen Körper – und vor mir stand der Marmorsockel. Doch er leuchtete nicht mehr von innen heraus, sondern er war so schwarz, als wäre er in einem sehr heißen Feuer ausgeglüht worden. Dennoch konnte ich ihn sehen. Von irgendwoher fiel helles Licht in die Höhle, in der ich gefangengehalten wurde. Dann hörte ich scharrende Geräusche, begleitet von Knurrlauten, Bellen und lautem Hecheln. Eine neue Gefahr? Ich versuchte, mich zu bewegen – und es gelang mir. Erst danach stellte ich fest, daß ich keine Schmerzen mehr empfand. Langsam richtete ich mich auf. Dabei lehnte ich mich an den Sockel. Ich taumelte und wäre beinahe gestürzt, als der Sockel zerbröckelte und zu Staub zerfiel. Ein klagender Ton erscholl – und verwehte. Ich erschauderte, denn ich wußte, daß Wakathau mit seinem Gefängnis vergangen war. Doch dann ertönte lautes Bellen, und ich fuhr herum und riß mein Messer aus dem Gürtel, bereit, mein Leben zu verteidigen. Aber die hundeähnlichen Geschöpfe, die in die Höhle stürmten, griffen nicht an. Sie blieben dicht vor mir stehen, wedelten mit den Schwänzen und blickten mich treuherzig aus ihren dunkelbraunen Augen an. Ich atmete auf.
Vestas Auge hatte mir also doch geholfen. Die Hundeähnlichen waren auf meinen gedanklichen Hilferuf hin gekommen und hatten ein Loch in die Höhlenwand gescharrt. Offenbar vertrug der Marmorsockel, der wahrscheinlich kein echter Marmorsockel gewesen war, kein Tageslicht. Er war verfallen – und mit ihm das bedauernswerte Geschöpf, das sein Gefangener gewesen war. Doch es hätte wenig Sinn gehabt, dem Vergangenen nachtrauern zu wollen. Ich mußte weiter, mußte das Land des Wilden Lebens durchqueren und Vestas Gefängnis erreichen. Und erstmals verfügte ich über eine Schar von Helfern, die mir geeignet erschienen, mich auf dem ganzen weiteren Weg zu begleiten und vor Gefahren zu beschützen. Ich legte eine Hand auf das Amulett vor meiner Brust, konzentrierte mich auf mein Stirnjuwel und sagte: »Vorwärts! Bringt mich hinaus!« * Die hundeähnlichen Geschöpfe bellten und liefen wild durcheinander, bevor sie sich entschlossen, mich aus der Höhle zu begleiten. Ein Teil von ihnen eilte voraus, die anderen umsprangen mich kläffend. Wahrscheinlich waren sie froh darüber, einen Herrn gefunden zu haben, den sie begleiten konnten. Als ich aus dem Loch gekrochen war, sah ich, daß ich mich noch immer auf der Lichtung mit den drei Klippen befand. Aber es war inzwischen früher Vormittag, wie ich am Stand der Sonne feststellte. Da ich zur Mittagszeit auf der Lichtung angekommen war, mußten inzwischen mindestens ein Nachmittag und eine Nacht vergangen sein, vielleicht sogar mehrere Tage. In der Höhle war mir jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Die hundeähnlichen Geschöpfe jagten bellend um die Klippen, dann versammelten sie sich um mich und blickten mich fragend an.
»Wartet!« befahl ich. Ich wollte zuerst nach meinen Vorräten und nach den Waffen sehen, die draußen geblieben waren. Als ich die Stelle bei den Klippen erreichte, wo ich sie hatte liegenlassen, erblickte ich einen Schwarm schwarzer Insekten, der beinahe unbeweglich in der Luft hing. Zögernd blieb ich stehen. Dann sah ich, daß die Insekten direkt über meinem Bündel und den Waffen schwebten. Mir blieb keine Wahl, wenn ich meine Ausrüstung nicht zurücklassen wollte. Ich ging auf die Stelle zu. Die Insekten stiegen leise summend höher, als ich sie erreicht hatte. Ich bückte mich und nahm meine Ausrüstung und meine Waffen auf. Dabei blickte ich immer wieder mißtrauisch nach oben. Aber die Insekten griffen mich nicht an. Mir wurde klar, daß sie im Grunde genommen nie etwas gegen mich gehabt hatten. Sie waren Wakathaus Diener gewesen, weil sein Geist mit Hilfe des seltsamen Sockels Macht über sie gehabt hatte, und sie hätten mir gedient, wenn ich in den Sockel verbannt worden wäre. Nun, da Wakathau vergangen und die Macht des Sockels erloschen war, waren sie frei. Nichts mehr zwang sie, mich zu täuschen oder gar anzugreifen. Doch irgendwie schien der Ort mit den drei Klippen noch eine rätselhafte Anziehungskraft auf sie auszuüben. Ich konzentrierte mich auf mein Stirnjuwel und dachte: Ihr seid frei! Der Insektenschwarm senkte sich tiefer, bis er dicht vor meinem Gesicht hing, dann entfernte er sich zögernd, stieg wieder höher und entschwebte über dem Wipfeldach des Dschungels. Als ich mit meinem Gepäck zu dem Platz zurückkehrte, an dem ich den hundeähnlichen Geschöpfen zu warten befohlen hatte, standen sie noch immer dort. Sie blickten mir aufmerksam entgegen. »Kommt!« sagte ich und orientierte mich an der Sonne, bevor ich den Ort mit den drei Klippen verließ.
Ich wandte mich wieder nach Süden und mußte dabei notgedrungen in den Dschungel eindringen. Einige der Hundeähnlichen eilten mir voraus und entschwanden dabei manchmal ganz meinen Blicken. Allmählich lichtete sich der Urwald. Aber noch verriet nichts die Nähe offenen Landes. Vielmehr senkte sich der Boden, wurde schlammig, und zu beiden Seiten unseres Weges schillerte das Wasser kleiner Tümpel. Bald hörte der Dschungel ganz auf. Vor uns erstreckte sich ein breiter Sumpf, und dahinter stand erneut die düstere Mauer des Dschungels. Einer der Hundeähnlichen, die vorausgeeilt waren, kehrte zurück, biß spielerisch in meinen rechten Fuß und trottete dann langsam vor mir her. Ich begriff, daß er mir einen sicheren Weg durch den Sumpf zeigen wollte. Es ging über schwankenden Boden, und manchmal sank ich bis zu den Knöcheln in den weichen Morast. Einmal versank ich sogar bis zu den Knien, und ich fürchtete schon, der unsichtbare Pfad, der meine vierbeinigen Helfer trug, könnte für Menschen nicht länger gangbar sein, doch dann wurde es wieder besser. Als wir den gegenüberliegenden Rand des Dschungels fast erreicht hatten, erhob sich zu unserer linken Seite schauerliches Gebrüll. Ich blieb stehen und nahm Pfeil und Bogen zur Hand. Aber ich brauchte nicht zu kämpfen. Drei Saurier, die ich an ihrer Körper- und Kopfform sofort als Pflanzenfresser einstufte, tauchten aus einem Teich auf. Schwarzes Wasser rann über ihre gewaltigen Rücken, und Pflanzenteile klebten an ihrer Haut. Sie beachteten uns überhaupt nicht, sondern entfernten sich einer hinter dem anderen. Wenig später verließen wir den Sumpf und drangen in den Dschungel ein. Die Hundeähnlichen führten mich auf einen breiten Pfad, dessen Boden von schweren Füßen zertrampelt worden war. Ich sah die riesigen Fußabdrücke von Sauriern. Plötzlich erscholl
weiter vor uns aufgeregtes Bellen und Jaulen. Drei meiner Begleiter liefen sofort los, in die Richtung, aus der die Laute ihrer Artgenossen kamen. Ich ging ebenfalls schneller und nahm vorsichtshalber wieder den Bogen schußbereit in die Hand, denn die Aufregung mußte einen Grund haben. Als ich eine kleine Lichtung erreichte, sah ich nicht gleich, was eigentlich los war. Ich erblickte nur eine Anzahl meiner Helfer, die anscheinend etwas verbellten, das auf dem Boden lag. Doch dann entdeckte ich, daß sie am Rand einer Fallgrube standen. Wahrscheinlich hatte sich ein Tier darin gefangen, und vielleicht kam ich auf diese Weise mühelos zu frischem Fleisch. Ich eilte zu der Fallgrube und blickte hinein. Und ein kleiner, grauhäutiger Dinosaurier blickte mir mit seinen kleinen dunklen Augen traurig entgegen. Es mußte ein junges Tier sein, denn es war nicht viel größer als zwei Pferde. Sicher hatte es sich von seiner Herde entfernt, um allein die Umgebung zu erkunden, so wie das neugierige Menschenkinder auch gern tun. Ich steckte den Pfeil in den Köcher zurück und hängte mir den Bogen wieder über die Schulter. Es wäre mir ohnehin nicht möglich gewesen, das Tier mit einem Pfeil zu töten, ganz abgesehen davon, daß ich es nicht übers Herz gebracht hätte, das Saurierjunge umzubringen. Der Blick dieser traurigen Augen erregte mein Mitleid. Ich überlegte, wie ich das Tier befreien konnte. Leicht würde es nicht sein, das war mir klar. Dennoch mochte ich den Saurier nicht seinem Schicksal überlassen. Wer immer die Fallgrube gegraben hatte, er würde kaum davor zurückschrecken, das Tier, das sich darin gefangen hatte, zu töten. Kehrte er aber nicht zurück, um seine Falle zu kontrollieren, so stand dem Saurierjungen ein noch schlimmeres Schicksal bevor. Es würde langsam verschmachten. Ich beschloß, einige Bäume zu fällen und damit eine Rampe ins Innere der Fallgrube zu bauen, auf der das Tier herausklettern
konnte. *
Es kostete mich viel Zeit und Schweiß, mein Vorhaben auszuführen. Meine vierbeinigen Helfer konnten sich dabei nicht nützlich machen. Sie lungerten nur ungeduldig herum oder balgten sich übermütig. Die Sonne stand schon tief, als ich endlich den fünften Stamm in die Grube rutschen ließ. Das Saurierjunge wich ängstlich an die gegenüberliegende Wand zurück. Ich konzentrierte mich wieder auf Vestas Auge und versuchte, dem Tier Vertrauen einzuflößen. »Komm heraus!« rief ich ihm zu. »Ich weiß, es wird nicht leicht sein, aber du mußt dich anstrengen.« Der Saurier blickte mich unverwandt an. Ich merkte, wie seine Furcht schwand. Zögernd stellte er die Vorderfüße auf den Anfang der recht steilen Rampe. Plötzlich bellten die Hundeähnlichen wie verrückt los. Ich blickte mich nach ihnen um und sah, daß sie sich alle in eine Richtung gewandt hatten: nach Süden. Im nächsten Augenblick ertönte ein dumpfes Grollen, dem ein nicht minder dumpfes Trommeln folgte. Die Hundeähnlichen hörten auf zu bellen, zogen die Schwänze ein und winselten leise. Aus dem Dschungel südlich von uns kamen Geräusche: das Brechen von Ästen und das Stampfen von schweren Schritten. Jemand oder etwas näherte sich uns, und den Reaktionen der Hundeähnlichen nach schien es sehr gefährlich zu sein. Ich nahm meinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf. Als die Gestalt dann auftauchte, erschrak ich. Das Wesen war entfernt menschenähnlich, besaß aber einen Echsenschädel – und es war so groß und breit wie zwei Männer
zusammen. Dazu kam, daß es eine rötlich schimmernde Rüstung trug, die aus einem Brustharnisch, einem Kettenhemd und breiten Beinschienen bestand. Die großen Hände waren von grünen Hornschuppen bedeckt, und auch der Schädel wurde von Hornplatten und einem handspannenhohen Hornkamm geschützt. Der Gepanzerte starrte mich aus hellblauen Augen an, dann hob er ein Schwert mit ungewöhnlich breiter ovaler Klinge und ließ es durch die Luft sausen. Die Hundeähnlichen scharten sich winselnd um meine Beine. Ich konzentrierte mich auf Vestas Auge und rief: »Weicht von mir! Lenkt den Gepanzerten ab, aber kommt ihm nicht zu nahe!« Das Echsenmaul des Gepanzerten öffnete sich, und wieder hörte ich das dumpfe Grollen und Trommeln, das ebenfalls aus dem Maul zu kommen schien. Ich wußte, daß ein Zweikampf mit dem riesigen Echsenwesen für mich so gut wie aussichtslos war, aber ich mochte ihm das Saurierjunge nicht kampflos überlassen. Außerdem ließ es mein Stolz nicht zu, daß ich vor einem Gegner floh. Ich konnte an ihm nur zwei verwundbare Stellen für meine Pfeile entdecken: das waren seine Augen, die allerdings durch weit vorspringende Hornwülste geschützt waren. Als das Wesen sich wieder in Bewegung setzte und in meine Richtung stapfte, ließ ich den ersten Pfeil von der Sehne schnellen. Er prallte von einer Hornplatte unterhalb des linken Auges ab. Wieder riß der Gepanzerte den Rachen auf und ließ sein Grollen ertönen. Ich nutzte die Gelegenheit und sandte ihm einen Pfeil genau in den Rachen. Er blieb irgendwo darin stecken; nur ein Drittel ragte noch heraus. Der Gepanzerte packte den Schaft mit der freien Hand und riß den Pfeil heraus. Dann spie er hellblaues Blut aus. Wütend starrte er mich an – und im nächsten Augenblick stürmte er wild vor.
Ich wich zur Seite aus, während meine vierbeinigen Helfer den Gepanzerten kläffend umsprangen. Als das Echsenwesen über einen der Hundeähnlichen stolperte, riß ich mein Schwert aus der Scheide und führte einen kraftvollen Hieb gegen die Kniekehle des Angreifers. Der Hieb hätte einem Menschen den Unterschenkel glatt abgetrennt, dem Gepanzerten zerschnitt er lediglich die starke Hornschicht. Immerhin war die Klinge blutig, als ich das Schwert zurückzog. Ich mußte wieder ausweichen, denn diesmal führte der Riese einen Hieb mit seinem ovalen Schwert gegen mich. Die Klinge pfiff dicht an meinem Gesicht vorbei. Erneut schwang ich mein Schwert. Diesmal traf ich die linke Hand des Gepanzerten. Aber die Hornplatten dort waren so stark, daß die Klinge wirkungslos abprallte. Dennoch mußte der Schlag schmerzhaft gewesen sein, denn die Echse brüllte zornig. Einer der Hundeähnlichen wagte es, den Gepanzerten anzuspringen. Er wurde mitten in der Luft von der zur Faust geballten Linken getroffen und stürzte mit gebrochenem Rückgrat zu Boden. Das hatte mir jedoch Zeit gegeben, einen neuen Pfeil aufzulegen und von der Sehne schnellen zu lassen. Diesmal bohrte sich der Pfeil in den äußeren Winkel des rechten Auges. Das Auge selbst wurde offenbar nicht zerstört, aber die Wunde mußte doch gefährlich sein, denn ein blaßblauer Blutstrahl schoß aus ihr hervor, als der Gepanzerte den Pfeil herausriß. Das Echsenwesen wankte, riß sich aber wieder zusammen und stürmte auf mich los. Ich mußte vor der wild geschlagenen Klinge ausweichen und geriet an den Rand des Dschungels. Als ich an einen Baumstamm stieß, merkte ich, daß meine Flucht zu Ende war. Ich konnte nicht schnell genug im verfilzten Dickicht verschwinden, um der wütend geführten Schwertklinge des Gepanzerten zu entgehen. Ich duckte mich, denn ich wollte versuchen, das Schwert meines Gegners zu unterlaufen, da dröhnte
es plötzlich, und ein grauer Körper stürmte heran. Das Saurierjunge! Es war offensichtlich über die Rampe aus der Fallgrube geklettert und griff nun den Gepanzerten an. Sein vorgestreckter Schädel prallte gegen den Rücken des Echsenwesens. Der Gepanzerte wurde nach vorn geschleudert, knickte in den Knien ein und warf unwillkürlich die Arme hoch. Ich sprang vor und führte einen kraftvollen Schwerthieb gegen die für einen Augenblick ungeschützte Kehle des Gepanzerten. Die Klinge trennte dem Echsenwesen beinahe den Kopf vom Hals. Ein hellblauer Blutstrom ergoß sich über mich. Der Gepanzerte brach kraftlos zusammen. Nur seine Glieder zuckten noch eine Weile, obwohl die Augen bereits gebrochen waren. Das Saurierjunge und ich standen uns eine ganze Weile bewegungslos gegenüber und sahen uns an. Ich verzichtete bewußt darauf, das Tier mit Hilfe von Vestas Auge zu beeinflussen. Ich wollte seine echte und ureigenste Reaktion sehen. Als es ein paar Schritte näherkam, seinen Hals reckte und mit seinem Kopf meine Hand berührte, strich ich ihm sanft über den breiten Nasenrücken und die feuchten Nüstern. Der Saurier senkte den Kopf und schnaubte leise. Ich trat näher, umfaßte den Hals des Tieres von unten und tätschelte seinen Nacken. Dabei kam mir ein Gedanke. Der Rücken des Sauriers bog sich zwischen Widerrist und Kruppe schwach nach innen, genau wie der Rücken eines Pferdes. Wenn ich meine Felldecke darüber legte und festband, mußte ich eigentlich gut darauf sitzen können. Und auf dem Rücken eines Sauriers kam ich zweifellos erheblich schneller vorwärts als zu Fuß – vorausgesetzt, das Tier sträubte sich nicht dagegen, geritten zu werden. Ich beschloß, noch heute einen Versuch zu wagen. Als ich dem Tier die Decke über den Rücken legte, bog es den Hals
nach hinten und schaute mir zu. Aber es blieb ruhig. Es scheute auch nicht, als ich die Decke festband und die Stricke, die ich als Ersatz für richtige Sattelgurte nahm, festzog. Vielleicht ahnte das Tier, was ich mit ihm vorhatte. Ich klopfte ihm den Hals und sagte: »Bitte, erschrick nicht, mein Freund. Ich werde auf deinen Rücken steigen.« Da der Saurier größer und höher als ein Pferd war, konnte ich mich nicht auf seinen Rücken ziehen, sondern mußte springen, dabei mit beiden Händen nach dem Widerrist greifen, mich hochstemmen und in den provisorischen Sattel schwingen. Wenn der Saurier dabei gescheut hätte, wäre ich in eine üble Lage geraten. Aber er stand still und ließ geduldig alles mit sich geschehen. Ich saß im Sattel und atmete erleichtert auf. Natürlich würde sich das Saurierjunge auch nicht wie ein Pferd reiten lassen. Der Rücken war zu breit für exakte Schenkelhilfen. Außerdem konnte das Tier auf solche Hilfen nicht reagieren, da es nicht dressiert war. Aber es war willig, und das glich alle Nachteile aus. Als ich ihm aufmunternd zurief, setzte es sich in einen leichten Trab, umrundete die Lichtung einmal und hielt dann von selbst wieder an. Ich klopfte ihm dankbar den Hals und sagte: »Wir werden bestimmt gute Freunde werden, und ich will dich Saddin nennen, nach einem Sturm, der früher regelmäßig über die Ostküste von Atlantis wehte. Was sagst du zu deinem Namen?« Der Saurier hob den Kopf, öffnete das Maul und stieß einen trompetenden Schrei aus, den ich als Zustimmung deutete. »Brav, Saddin!« sagte ich und ließ mich aus dem Sattel gleiten. Ich sah mich um. Die Strahlen der untergehenden Sonne tanzten über dem Wipfeldach des Dschungels. Auf der Lichtung selbst herrschte bereits Dämmerung. Der Leichnam des Gepanzerten lag reglos da wie eine gestürzte Statue.
Ich würde ihn und den toten Hundeähnlichen begraben müssen und dann die Nacht an diesem Ort verbringen.
6. Es war noch empfindlich kühl, als wir am nächsten Morgen aufbrachen. Hinter blieb die zum Grab gewordene Fallgrube zurück, in der der Gepanzerte zusammen mit dem von ihm getöteten hundeähnlichen Geschöpf ruhte. Ich hatte die Ausrüstung des seltsamen Echsenwesens untersucht, aber nichts gefunden, was mir bei meiner Mission vielleicht von Wert hätte sein können. Die Hundeähnlichen führten uns auf einen Wildpfad, und Saddin bewegte sich munter unter mir. Das Saurierjunge hatte am frühen Morgen reichlich von den Blättern und Zweigen der Bäume gefressen und würde bestimmt bis zum Mittag durchhalten. Wie ich gehofft hatte, kamen wir gut voran. Etwa zwei Zehnteltage mochten vergangen sein, als sich der Dschungel vor uns abermals lichtete. Diesmal erreichten wir jedoch kein Sumpfgelände, sondern ein grasbewachsenes Hügelland: die Steppe. Die Hundeähnlichen waren außer sich vor Freude, als sie ihr ureigenstes Gebiet erreichten. Sie jagten davon, wälzten sich im Gras und balgten sich wie übermütige Kinder. Sogar Saddin wurde von der Ausgelassenheit angesteckt. Er verfiel in einen holprigen Galopp, bei dem sich die Sattelriemen lockerten und ich beinahe mitsamt der Decke von seinem runden Rücken gerutscht wäre. Auf meine Zurufe hin hielt das Saurierjunge schließlich auf der Kuppe des nächsten Hügels an. Ich wollte absteigen, um die Sattelriemen erneut festzuziehen, als mein Blick auf etwas fiel, das meine Aufmerksamkeit so fesselte, daß ich sitzenblieb. Es war ein Bauwerk, das sich auf dem Gipfel eines kleinen Berges am fernen Horizont befand, eine düstere Burg, deren Silhouette sich scharf gegen die blasse Helligkeit des Himmels abhob.
Ich musterte die Burg und war ein wenig enttäuscht. Das Gefängnis Vestas sollte auch eine Burg sein, die ehemalige Residenz des Namenlosen, aber ich hatte mir dieses Bauwerk eigentlich imposanter vorgestellt. Oder war das gar nicht Vestas Gefängnis? Die Hundeähnlichen mußten spüren, daß sich etwas ereignet hatte, das für mich von großer Bedeutung war. Sie gaben ihr übermütiges Umhertollen auf und umringten Saddin und mich. Ich war inzwischen zu einem Entschluß gekommen. Egal, ob die Burg am Horizont Vestas Gefängnis war oder nicht, ich wollte versuchen, sie noch an diesem Tag zu erreichen. Nur dort konnte ich feststellen, ob sie mein Ziel war. Ich glitt von Saddins Rücken, zog die Sattelriemen stramm und stieg wieder auf. »Vorwärts!« rief ich und deutete nach Süden. »Wir werden sehen, was uns dort erwartet!« Sowohl das Saurierjunge als auch die Hundeähnlichen schienen begriffen zu haben, was ich gemeint hatte. Sie setzten sich zielstrebig in Bewegung. Wir kamen gut voran. Mein erhöhter Sitz brachte mir unter anderem den Vorteil, daß ich ein weitaus größeres Gesichtsfeld hatte, als wenn ich zu Fuß durch das teilweise übermannshohe Steppengras marschiert wäre. Allerdings war ich bald wundgeritten, da ich wegen Saddins breitem Rücken kaum Druck mit den Schenkeln ausüben konnte und deshalb doch recht arg im Sattel geworfen wurde. Ich mißachtete die Schmerzen jedoch und bemühte mich, die nähere Umgebung aufmerksam zu beobachten. Alle möglichen Arten von Tieren tummelten sich in der Steppe, ein Anblick, der mein Herz höher schlagen ließ, denn ich hatte schon lange kein so wildreiches Gebiet mehr gesehen. Die Steppentiere bewegten sich größtenteils in kleineren Herden durch das Gras, und obwohl ich nur wenige Tierarten als vertraut empfand, erkannte ich doch, daß es sich zum überwiegenden Teil
um jagdbares Wild handelte. Raubtiere waren nicht zu sehen, aber die hielten sich wahrscheinlich verborgen. Kurz vor Mittag erreichten wir eine Wasserstelle, einen kleinen See, dessen schlammige Ufer von den zahllosen Hufen der Tiere zertrampelt waren, die sich zu bestimmten Zeiten hier drängen mußten. Jetzt lag der See allerdings beinahe verlassen da. Nur drei büffelartige Tiere wälzten sich im seichten Uferwasser. Sie sprangen auf, als die Hundeähnlichen bellend auf sie losstürmten. Meine vierbeinigen Helfer hatten jedoch keine Angriffsabsichten. Sie hetzten nur um die Büffel herum, wobei sie den drohend gesenkten Schädeln mit den mächtigen Hörnern geflissentlich auswichen. Ich beschloß, hier zu rasten. Saddin konnte sicher ein Bad gut gebrauchen, und ich mußte mir die Füße vertreten und meine vom Reiten steif gewordenen Muskeln lockern. Das Saurierjunge hielt auf meinen Zuruf gehorsam an. Ich stieg herunter und nahm Saddin den provisorischen Sattel ab. Dann klopfte ich ihm aufmunternd auf das breite Hinterteil. Saddin ließ sich nicht zweimal auffordern. Er stürmte ins Wasser und tauchte völlig unter. Die drei Büffel erschraken bei seinem Anblick und suchten das Weite, als er prustend wieder auftauchte. Ich massierte meine Schenkel, nahm den Bogen und die Pfeile und machte mich auf einen Rundgang um den See. Die Hundeähnlichen waren verschwunden. Wahrscheinlich jagten sie irgendwo ein Tier, um sich an seinem Fleisch zu sättigen. Ich errreichte das gegenüberliegende Ufer und drang ein Stück in die Steppe vor. Plötzlich entdeckte ich etwas, das mich im ersten Moment erstarren ließ, obwohl ich so etwas eigentlich hätte erwarten müssen. Es war ein abgebrochener Pfeil, der neben dem Stamm eines Baumes lag. Ich erkannte, daß er am Stamm abgeprallt und wahrscheinlich dabei zerbrochen war. Ein Pfeil aber bedeutete, daß Menschen – oder zumindest irgendwelche intelligenten Lebewesen – in der Nähe des Sees
gewesen waren. Bewohner jener düsteren kleinen Burg, die hier gejagt hatten? Ich wußte es nicht, aber es erschien mir wahrscheinlich. Wenn es zutraf, dann konnte diese Burg noch nicht Vestas Gefängnis sein, denn dort lebten, wie ich aus einer der Visionen wußte, keine Menschen oder andere intelligente Wesen. Vorsichtig, ging ich weiter – und nach ungefähr hundert Schritten stieß ich auf eine Feuerstelle. Es war ein längst erloschenes Lagerfeuer, aber immerhin ein weiteres Zeichen für die Nähe von intelligenten Lebewesen. Die Spuren rings um das Feuer verrieten mir, daß die, die hier gerastet hatten, nicht zu Fuß gewesen waren. Sie mußten auf Tieren geritten sein, die den Pferden der Erde ähnelten, denn ihre Hufe hatten ähnliche Spuren wie Pferdehufe hinterlassen, und sie waren beschlagen gewesen. Nachdenklich kehrte ich zum Rastplatz zurück. Die Lust auf die Jagd war mir vorerst vergangen. Ich nahm mir vor, etwas von den Vorräten zu essen und dann sofort weiter zu reiten. * Saddin war nicht sehr erfreut, als ich ihn zurückrief. Aber er gehorchte. Von den Hundeähnlichen war allerdings immer noch nichts zu sehen. Dennoch wartete ich nicht, sondern saß auf, nachdem ich den provisorischen Sattel wieder auf Saddins Rücken befestigt hatte. Die Hundeähnlichen tauchten auf, kaum daß wir den See zur Hälfte umrundet hatten. Einige von ihnen liefen wieder voraus, während andere neben uns durch das Gras liefen und wieder andere die Nachhut bildeten. Ich musterte die Umgebung noch aufmerksamer als zuvor, denn ich wollte nicht von fremden Jägern überrascht werden. Meine vierbeinigen Helfer verliehen mir zwar einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, aber ich wußte nicht, ob die fremden
Jäger nicht ebenfalls über Helfer verfügten. Doch nichts geschah. Bald konnte ich die Burg sehen, ohne auf einen Hügel reiten zu müssen. Sie war tatsächlich zu klein für die ehemalige Residenz des Namenlosen, ein düsteres Bauwerk, das auf einem mittelgroßen Berg stand und wie ein einsamer Wächter in der Steppe wirkte. Am späten Nachmittag war die Burg höchstens noch dreitausend Schritt entfernt, und ich konnte erste Einzelheiten erkennen. Ihrer Bauweise nach zu urteilen, wurde sie von Menschen oder von menschenähnlichen Intelligenzen bewohnt. Doch von den Bewohnern zeigte sich nichts. Es waren die Hundeähnlichen, die mich eine weitere Entdeckung machen ließen. Schon seit einiger Zeit hatte ich einige große Raubvögel beobachtet, die links von unserem Kurs über der Steppe kreisten. Aber erst, als die Hundeähnlichen immer wieder in diese Richtung liefen und laut bellten, kam mir der Verdacht, daß dort etwas anderes sein könnte als ein totes oder sterbendes Tier. Ich bedeutete Saddin, diese Richtung einzuschlagen – und bald hielt der Saurier neben einem rotblühenden Busch an. Die Hundeähnlichen standen neben dem Busch und kläfften etwas an, das ich nicht sehen konnte, weil sie mir im Wege standen. Deshalb stieg ich ab und ging darauf zu. Als ich es erreichte, sah ich, daß es sich um einen pygmäengroßen Affen mit rostrotem Fell und starkem Ringelschwanz handelte, der neben dem Busch lag und die Hundeähnlichen aus großen Augen ängstlich anblickte. Erst beim zweiten Blick entdeckte ich den gefiederten Pfeil, der sich von hinten durch den Hals des Affen gebohrt hatte. Die Fiederung war die gleiche wie bei dem abgebrochenen Pfeil in der Nähe des Sees. Ich fragte mich, was ein Affe, den noch dazu der Ringelschwanz als typischen Baumbewohner auszeichnete, hier in der Steppe verloren hatte, da entdeckte ich den Lederriemen, der um die Hüfte
des Tieres gebunden war – und an dem Riemen war ein kleines Messer in einer ledernen Scheide befestigt. Die Sache wurde immer mysteriöser. Wie kam ein Affe an ein Werkzeug, das doch nur von der Hand eines Menschen gefertigt sein konnte? Ich kniete neben dem Tier nieder, das, wie ich sah, nicht mehr lange leben würde. Der Pfeil hatte die Nackenwirbelsäule durchschlagen, und es war fast ein Wunder, daß der Affe nicht sofort tot gewesen war. Aber noch lebte er – und noch erkannte er, was um ihn herum vorging. Ich sah, wie sich seine Augen auf meine Stirn richteten und dann weiteten, als er Vestas Auge erblickte. Er bewegte die blaugrauen Lippen und entblößte dabei ein Gebiß, das mehr Ähnlichkeit mit einem menschlichen als einem äffischen Gebiß hatte. Es war, als wollte er etwas sagen. »Ganz ruhig!« sagte ich, obwohl ich daran zweifelte, daß das Tier mich verstehen konnte. Aber meine Worte würden vielleicht beruhigend wirken. Der Affe blickte mich unverwandt an. In seine großen Augen trat ein seltsames Leuchten, dann durchlief ein Zittern seinen Körper. Die Augen brachen, und der Kopf fiel schlaff zur Seite. Ich streckte unwillkürlich die Hand aus und drückte die Augen des Affen zu. Erst hinterher wurde ich mir bewußt, was ich getan hatte, etwas, das ein Mensch nur bei anderen Menschen zu tun pflegte, niemals aber bei Tieren. Doch durfte ich ein Lebewesen als Tier bezeichnen, nur weil es wie eines aussah? Der Affe hatte zweifellos intelligent gewirkt, und die Tatsache, daß er ein Messer besaß, erhärtete diesen Eindruck noch. Seltsam berührt stieg ich wieder auf Saddins Rücken. Ich fragte mich, wer den Affen getötet hatte und warum. Sicher nicht, um sein Fleisch zu erbeuten. Und sicher auch nicht, um sich zu verteidigen, denn der Pfeil hatte den Affen von hinten getroffen.
Ich riß mich von diesen Gedanken los, ohne sie ganz zu vergessen, und trieb Saddin durch leise Zurufe an. Das Saurierjunge gehorchte bereitwillig und setzte sich in Trab. Die Hundeähnlichen schnüffelten noch etwas an dem Affen herum, dann übernahmen sie wieder ihre Rollen als Führer und Begleiter. Ungefähr tausend Schritt vor dem Bergsockel, auf dem die düstere Burg stand, hörte die Steppe auf. Ein schmaler Weg kam von links und zog sich mitten durch fruchtbare Äcker und Wiesen auf den Berg zu, den er in engen Windungen erklomm. Und plötzlich löste sich das Rätsel des Affen. Zuerst glaubte ich, es seien Menschen, die auf den Feldern arbeiten, sehr kleine Menschen allerdings, doch dann erkannte ich an den rostroten Fellen und den Schwänzen, daß es sich um Affen der gleichen Art wie bei dem Toten handelte. Allerdings war es ungewöhnlich, wie die Affen sich bewegten. Sie gingen aufrecht wie Menschen, und sie verrichteten Arbeiten, wie sie auf meiner Welt nur von Menschen verrichtet wurden. Sie jäteten Unkraut, ernteten Feldfrüchte – und ein Affe war sogar dabei, mit Hilfe eines von zwei pferdeähnlichen Tieren gezogenen Pfluges zu pflügen. Zwei Affen, die Feldfrüchte in Körben an den Rand eines Feldes trugen, entdeckten mich zuerst. Sie stießen schrille Schreie aus und ließen ihre Körbe fallen. Doch sie liefen nicht davon, sondern starrten neugierig zu uns herüber. Mir wurde klar, daß ihre Reaktion nicht durch mich, sondern durch das riesige Untier hervorgerufen worden war, als das sie den Saurier ansehen mußten. Ihre Schreie hatten auch die anderen Affen alarmiert. Alle starrten sie zu uns herüber, aber keiner lief fort. Ich trieb Saddin zu den beiden Affen, die in der Nähe des Weges standen, winkte ihnen zu und rief: »Ich komme in Frieden! Könnt ihr mir sagen, wem die Burg dort gehört?« Erst hinterher wurde mir klar, wie unsinnig es doch sein mußte,
von Affen eine Antwort auf in menschlicher Sprache vorgetragene Worte zu erwarten. Und wieder wurde ich überrascht. Einer der Affen kam zwei Schritte näher, blickte respektvoll auf das Saurierjunge und deutete dann zur Burg. »Fennark!« sagte er undeutlich. »Burg Fennark!« Die Burg gehörte also jemandem, der Fennark hieß, und ein Affe hatte es mir in meiner Sprache verraten. Ich schüttelte den Kopf, weil ich es immer noch nicht fassen konnte. Doch dann nahm ich es als Tatsache hin. »Zu welchem Volk gehört Fennark?« erkundigte ich mich. Die beiden Affen sahen sich an, dann schnatterten sie wild durcheinander – und zwar in einer Sprache, die ich nicht verstand. »Welches Volk?« wiederholte ich. »Oder welcher Clan?« Die Affen hörten auf zu schnattern. Einer sagte etwas, das wie »Vitu-kerri« klang, doch ich konnte mich auch täuschen, denn er hatte sehr undeutlich gesprochen. Danach zogen sich die beiden Affen zurück. Sie flohen nicht, nein, sie gingen einfach weg, so, als hätten sie genug von meiner Gesellschaft. »Vitu-kerri!« wiederholte ich leise. Es konnte stimmen, denn alles im Land des Wilden Lebens hatte mit Vitu, dem Lebensgeist, zu tun, alles Lebendige war sein Werk. Vielleicht hatten die Vitu-kerri die Aufgabe, Eindringlinge aufzuhalten, die zu Vestas Gefängnis wollten. »Wir werden sehen!« sagte ich. »Reiten wir zu Fennarks Burg!« Ich schnalzte mit der Zunge, und Saddin fiel in einen schnellen Trab. Die Meute der Hundeähnlichen stob uns voraus. * Schon als ich den Serpentinenweg hinaufritt, nahm ich den Brandgeruch wahr. Hoch über den steilen Felsen ragten die Steinmauern der Burg empor, doch nirgends zwischen den Zinnen
und in den Schießscharten sah ich Bewegung. Sogar der einzige Wachtturm schien verlassen zu sein. Ich war befremdet, denn ich hatte zumindest erwartet, daß der Burgherr Wachtposten aufgestellt hatte, die das Herannahen Fremder ankündigten. Aber vielleicht waren vor mir keine Fremden hierher gekommen? Der Brandgeruch wurde immer stärker, und dann sah ich, wie hinter der mir zugewandten Ringmauer dicker grauer Rauch emporstieg. Rufe wurden laut. Feierten die Burgbewohner ein Freudenfest? Saddin blähte die Nüstern und schnaubte unwillig, als ein Windstoß eine Rauchwolke über die Zinnen wehte und nach unten drückte, so daß wir auch etwas abbekamen. Von oben ertönte lautes Lachen, aber es galt nicht uns. Ich war gespannt, welcher Anblick sich mir bieten würde, wenn ich in den Burghof einritt – und wie man auf mein Erscheinen reagierte. Abermals ertönte ein lauter Ruf. Diesmal glaubte ich, den Namen »Skortsch« verstanden zu haben. Als ich das Torhaus erreichte, sah ich, daß die Zugbrücke heruntergelassen und das eiserne Fallgatter hochgezogen war. Niemand war zu sehen, nicht einmal ein einziger Wachtposten. Die Burgbewohner schienen keine Feinde zu kennen. Aber das stand im Widerspruch zu der Tatsache, daß sie in einer wehrhaften Burg wohnten. Ich zuckte mit den Schultern und schlug Saddin, der vor der Zugbrücke zögerte, die flache Hand auf den Widerrist. Der Saurier schüttelte heftig den Kopf, setzte aber seinen Weg fort. Es dröhnte dumpf, als er über die Brücke trampelte. Die Hundeähnlichen hielten sich dicht hinter uns. Als ich durch das Tor ritt und Saddin abermals zögerte, trieb ich ihn nicht an, denn der Anblick, der sich mir bot, verschlug mir beinahe den Atem und ließ mich alles andere vergessen. Mitten im Burghof loderten haushohe Flammen aus einem
riesigen Scheiterhaufen, und oben auf dem Scheiterhaufen stand ein hochgewachsener Mensch, ein athletisch gebauter Mann, dessen Haut im Flammenschein bronzefarben glänzte. Und rings um den Scheiterhaufen standen zahlreiche Männer und Frauen. Sie verfolgten das barbarische Schauspiel mit glänzenden Augen und begleiteten es mit lauten Zurufen und Beifallskundgebungen. Viele hielten bauchige Krüge in den Händen, aus denen sie ab und zu tiefe Schlucke nahmen. Mein erster Impuls war, dem Mann, der oben auf dem Scheiterhaufen stand, zu helfen. Doch dann sah ich, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Seine Beine waren bereits verkohlt, und soeben loderte sein langes Haar auf. Unter den Zuschauern brach frenetischer Jubel aus, als der Mann auf dem Scheiterhaufen langsam in den Knien einknickte und vornüber sank. Mehrmals klang der Name »Femur« auf, und ich fragte mich, ob das der Name des Mannes war, der soeben den Feuertod erlitt. Plötzlich kam rechts vom Scheiterhaufen Bewegung in die Menge. Ich sah, daß die Menschen eine schmale Gasse bildeten, um jemanden durchzulassen. Dann stockte mir der Atem, denn aus der Gasse trat ein Mädchen oder eine junge Frau, eine schlanke, schwarzhaarige und wohlproportionierte Schönheit – und sie schritt mit wiegenden Hüften geradewegs auf die lodernden Flammen zu. Wieder ertönten Beifallskundgebungen. Ich hörte vielfach den Namen »Oranda«, was wahrscheinlich der Name des Mädchens war. Wollte Oranda freiwillig den Feuertod erleiden? Vielleicht war der Brennende ihr Geliebter, und sie wollte ihn in den Tod begleiten. Auf jeden Fall, so schloß ich, handelte sie nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Wahrscheinlich befand sie sich in Trance und wußte gar nicht, was sie tat. Jedenfalls konnte und durfte ich nicht tatenlos zusehen, wie ein so
junger und schöner Mensch sich in die Flammen stürzte. Ich trieb Saddin an. Der Saurier drängte sich rücksichtslos durch den Kreis der Zuschauer, als wüßte er, daß wir keine Zeit verlieren durften. Die Burgbewohner schienen uns erst jetzt zu bemerken. Erschrockene und empörte Rufe ertönten; ein graubärtiger Mann griff nach meinem rechten Bein und flog zurück, als ich ihm den Fuß, gegen die Brust stieß. Als Saddin den Kreis der Zuschauer durchbrochen hatte, stürmte er auf die Lücke zwischen dem Scheiterhaufen und dem Mädchen, das unbeirrt weiterging. Ich hielt mich an einem der Sattelriemen fest, beugte mich weit hinab und packte das Mädchen an dem breiten golddurchwirkten Gürtel, der ihr leichtes Gewand zusammenhielt. Mit einem Ruck hob ich sie hoch und setzte sie vor mich. Sie war zuerst wie erstarrt, dann wehrte sie sich heftig, aber ich ließ sie nicht los. Plötzlich ertönte ein vielstimmiger Wutschrei. Ich sah, daß zahlreiche Männer auf uns losstürmten. Sie hielten Spieße und Schwerter in den Händen, und ihre grimmigen Mienen verrieten nichts Gutes. Ich versuchte, Saddin anzutreiben, aber das Saurierjunge kam nicht weit. Männer mit lodernden Fackeln stellten sich uns in den Weg, und vor Feuer hatte das Tier Angst. Im Nu waren wir umzingelt. Ich kam nicht zur Gegenwehr, da ich noch zu sehr mit der sich Sträubenden beschäftigt war. Viele Hände griffen zu und zerrten mich von meinem Reittier. Meine Arme wurden auf den Rücken gedreht. Dann tauchte ein großer breitschultriger Mann mit eisgrauem Haar und grauem Vollbart vor mir auf. Seine Augen blitzten zornig. »Wer bist du, Dreiauge?« fuhr er mich an. »Ich bin Dragon!« antwortete ich stolz. »Und ich kam in Frieden. Wer bist du, daß du einen friedlichen Besucher überfallen läßt?«
»Ich bin Fennark«, antwortete er ruhiger, »und mir ist jeder Besucher willkommen, wenn er sich nicht in unsere Angelegenheiten mischt. Das aber hast du getan. Du hast Oranda daran gehindert, ihren Bruder Femur in die läuternden Flammen zu begleiten und mit ihm zusammen in Skortsch einzugehen. Dafür wirst du sterben, Fremder, der du dich Dragon nennst.« »Er wird sterben!« wiederholten die Umstehenden im Chor. »Nein!« schrie jemand. Das Mädchen, das ich daran gehindert hatte, sich in die Flammen zu stürzen, drängte sich zwischen Fennark und mich. »Töte ihn nicht!« beschwor sie ihn. »Er kennt unsere Bräuche nicht, Vater.« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Außerdem ist er ein herrlicher Mann«, fuhr sie fort. »Stark, mutig, schön und bestimmt auch klug.« Fennark schob seine Tochter unwillig beiseite. »Ach, was!« knurrte er. »Er hat sich in unsere Angelegenheiten gemischt. Außerdem gehört es zu unseren Aufgaben, jeden Fremden daran zu hindern, bis zu Vestas Gefängnis vorzudringen. Vergiß nicht, daß wir ›Vitu-kerri‹ genannt werden und daß dieser Name soviel wie ›Wächter des Lebensgeists‹ bedeutet, Oranda. Es ist besser, wir töten diesen Dragon sofort.« Er rief seinen Leuten einen Befehl zu. Harte Griffe zwangen mich, vorwärts zu gehen. Tränen des Schmerzes traten mir in die Augen – und Tränen des Zorns. Sollte mein Lebensweg hier so abrupt enden – kurz bevor ich mein Ziel erreicht hatte, Vesta zu befreien? Hinter mir ertönte wieder Orandas Stimme. Sie flehte ihren Vater an, mir das Leben zu schenken, aber Fennark ließ sich nicht erweichen. Während die Flammen des Scheiterhaufens allmählich kleiner wurden und der Gestank nach verbranntem Fleisch verwehte, fesselten mich zwei Krieger an einen Eisenring, der in die Steine einer Mauer eingelassen war.
Ich stand mit dem Rücken zur Mauer und mußte mitansehen, wie die Vorbereitungen zu meiner Hinrichtung getroffen wurden. Eine Gruppe von Bogenschützen baute sich vor mir auf. Ich sollte demnach durch Pfeile getötet werden. Mein Blick suchte Saddin. Ich fand den Saurier nicht. Wahrscheinlich war er überwältigt worden. Auch von den Hundeähnlichen war nichts zu sehen. Es schien, als wäre ich tatsächlich am Ende meines Weges angelangt – und doch verspürte ich unbändigen Lebenshunger in mir. Verzweifelt zerrte ich an meinen Fesseln, doch sie gaben nicht nach. Plötzlich stürzte eine Meute Affen schnatternd heran. Die Tiere brachten die Formation der Bogenschützen durcheinander, dann bauten sie sich vor mir auf. Ihre Leiber bildeten, indem sie übereinander kletterten, einen lebendigen Schutzwall vor mir. »Verschwindet, ihr verdammten Labris!« erscholl Fennarks Stimme. »Verschwindet, oder ich lasse euch das Fell bei lebendigem Leibe abziehen!« Doch die Affen wichen nicht. Sie scharten sich noch dichter um mich. »Schießt!« brüllte Fennark. Ich sah nicht, wie die Bogenschützen ihre Pfeile losschickten, aber ich hörte, wie einige der Pfeile in die Körper von Affen fuhren, die von Fennark Labris genannt worden waren. Einige Affen fielen, aber neue kamen hinzu. Bald mußten es mehr als hundert Labris sein, die sich um mich scharten und offenbar bereit waren, sich für mich zu opfern. »Wenn du alle unsere Labris töten läßt, wer verrichtet dann die niederen Arbeiten, Vater?« vernahm ich Orandas Stimme. »Halt deinen Mund!« schrie Fennark sie an. Dann fügte er ruhiger hinzu: »Du hast ja recht. Ich habe keine Lust, wegen eines einzigen Fremden meine ganze Dienerschaft niedermetzeln zu lassen.« Er hob die Stimme und rief: »Wachen, bindet den Fremden los! Und ihr, Labris, verschwindet!
Ab sofort ist Dragon mein Gast.« Mir wurde vor Erleichterung ganz flau im Magen. Selten war ich dem Tod so nahe gewesen wie eben noch, und das Leben erschien mir plötzlich wie ein köstliches Geschenk.
7. Fennarks Gesicht wirkte nicht mehr drohend, sondern strahlte freundlich, als er mir seine schwere Hand auf die Schulter hieb. Vorher hatten die Labris sich zerstreut, und zwei Männer mich von den Fesseln befreit. »Willkommen auf meiner Burg!« sagte Fennark jovial. »Ich habe ein Festmahl bereiten lassen, mit dem wir Femurs Eingehen in Skortsch feiern wollen. Als mein persönlicher Gast bist du herzlich dazu eingeladen, Dragon.« »Ich danke dir, Fennark«, sagte ich. »Wo ist Oranda? Ich möchte mich auch bei ihr bedanken, denn sie hat mir- zusammen mit den Labris – das Leben gerettet.« Fennark grinste. »Du wirst noch genug Zeit haben, Oranda deinen Dank abzustatten, Dragon«, erwiderte er. »Meine Tochter ist in die Küche gegangen, um die Arbeit der Küchen-Labris zu überwachen. Komm, laß uns in den Festsaal gehen.« Er dirigierte mich durch eine Menge von Kriegern hindurch. Die Männer musterten mich neugierig, aber nicht feindselig. Manche lächelten allerdings eigentümlich, aber ich war zu verwirrt, um mir darüber Gedanken zu machen. Zu viele Eindrücke waren auf mich eingestürmt. Es war unmöglich, sie alle gleichzeitig zu verdauen. Fennark schien den Tod seines Sohnes nicht zu bedauern, sondern sich im Gegenteil darüber zu freuen. Das allein war schon seltsam genug. Noch seltsamer erschien es mir, daß er mich hatte töten lassen wollen, weil ich seine Tochter daran gehindert hatte, sich ebenfalls zu verbrennen. Das Eingreifen der Affen zu meinen Gunsten erschien mir dagegen verständlich. Sie waren eben doch nur Tiere und hatten deshalb auf die Ausstrahlung meines dritten Auges reagiert. »Wo sind die Tiere, die mich begleitet haben?« fragte ich.
»Das riesige Untier steht in einem Stall«, antwortete Fennark. »Die übrigen Tiere wurden von meinen Männern aus der Burg gejagt. Wir konnten nicht wissen, daß wir dir unsere Gastfreundschaft anbieten würden. Ich hoffe, du bist nicht nachtragend, Dragon.« Ich schüttelte den Kopf. »Zwischen Menschen kommt es immer wieder zu Mißverständnissen, Fennark«, erwiderte ich. »Wenn wir alles nachtragen würden, gäbe es niemals Frieden. Ihr nennt euch Vitu kerri?« »So ist es«, sagte der Burgherr. »Allerdings kennen nur wenige von uns noch den Auftrag, der sich mit unserem Namen verbindet. Aber wir wollen nicht von dem reden, was uns trennen könnte.« Er schob mich durch ein Portal in eine weite Halle, in der mehrere langgestreckte Tische standen, deren Holzplatten weißgescheuert waren. Zahlreiche Vitu-kerri ließen sich an den Tischen nieder, und Labris trugen Speisen und Getränke auf. Fennark geleitete mich an den Tisch, der quer zu den übrigen gestellt war. »Nimm Platz!« sagte er zu mir. »Ich werde persönlich meinen besten Wein holen, denn dir gebührt als meinem Ehrengast nur das beste vom Besten.« Ich gehorchte und sah zu, wie Fennark in der Menge untertauchte. Nach einer Weile erschien er wieder, in jeder Hand einen Weinkrug. Er reichte mir einen davon. »Auf unsere Freundschaft, Dragon!« sagte er feierlich. Ich wollte meinen Krug an die Lippen heben, da griffen zwei bronzehäutige Hände von hinten an mir vorbei und nahmen mir den Krug ab. Als ich mich verwundert umdrehte, blickte ich in Orandas lächelndes Gesicht. Aber sie lächelte nicht mich an, sondern ihren Vater. »Was soll das, Oranda?« brauste Fennark auf. »Dragon ist mein Gast, vergiß das nicht!« Oranda lächelte stärker.
»Eben daran dachte ich – und mir fiel ein, daß es sich schnell stirbt, wenn man vergifteten Wein trinkt.« Sie hob meinen Krug an ihre Lippen und trank. Fennark stieß eine Verwünschung aus und trat auf seine Tochter zu, um ihr den Krug zu entreißen. Aber Orandas Hände ließen das Gefäß von allein los, so daß es auf dem Boden zerschellte. Oranda aber brach zusammen, wie vom Blitz getroffen. »Was ist das?« schrie ich entsetzt und kniete neben Oranda, deren Augen bereits gebrochen waren. »Sie ist tot! Der Wein war vergiftet!« Ich sprang auf und packte Fennark an seinem Gewand.. »Das wirst du büßen, alter Mann!« sagte ich außer mir. »Aber sie ist nur für eine Weile tot, Dragon«, erwiderte Fennark und versuchte nicht, sich von meinem Griff zu befreien. Er grinste nur verschmitzt. »Das Ganze war nur ein Scherz, wie er bei uns Vitu-kerri üblich ist.« »Sie ist nur für eine Weile tot?« fragte ich ungläubig. »Wie soll ich das verstehen, Fennark?« Ich ließ ihn los. »Wir Vitu-kerri sind beinahe unsterblich«, antwortete Fennark. »Vitu selbst hat uns die Fähigkeit verliehen, auch schwerste Verletzungen in kurzer Zeit zu regenerieren und absolut tödliche Gifte zu neutralisieren.« Er seufzte. »Das klingt verlockend, Dragon, aber wenn man, wie ich, siebenhundertfünfzig Sommer und Winter gelebt hat und niemals dieses Land verlassen konnte, so fällt es oft schwer, dieses Leben zu ertragen. Femur hat, wie viele Vitu-kerri vor ihm, diesem Scheinleben den Tod vorgezogen.« »Er erwacht nicht wieder zum Leben? erkundigte ich mich. »Nein, denn sein Körper wurde vollkommen von den Flammen verzehrt«, sagte Fennark. »Er ist in Skortsch eingegangen.« Er deutete auf Oranda, die von vier Labris fortgebracht wurde. »Aber Oranda wird weiterleben, denn ihr Körper existiert noch. Und nun wollen wir dem Wein und den Speisen zusprechen,
Dragon.« Aber mir war der Appetit vergangen. Außerdem ahnte ich, daß Fennark weiterhin versuchen würde, mich durch Gift umzubringen, und ich konnte niemals im voraus sagen, ob ein Getränk oder eine Speise vergiftet war. Selbst wenn Fennark vorher davon kostete, war das für mich keine Garantie, denn Fennark würde nur für eine Weile tot sein, ich dagegen für immer. »Sei mir nicht böse, aber ich habe keinen Appetit mehr«, sagte ich deshalb. »Du wirst verstehen, daß mir dein Scherz auf den Magen geschlagen ist. Außerdem bin ich den ganzen Tag geritten und müde. Ich wäre dir dankbar, wenn du mir einen Platz zuweisen würdest, an dem ich mich ausruhen kann.« Fennark verzog, enttäuscht das Gesicht, doch er überwand die Enttäuschung schnell. »Ich lasse dich in eines meiner besten Zimmer bringen, Dragon«, erklärte er. »Morgen wirst du eher geneigt sein, meine Gastfreundschaft voll zu würdigen.« Er klatschte in die Hände, und zwei Labris erschienen. »Bringt Dragon in das Gelbe Zimmer!« befahl der Burgherr. »Und sorgt dafür, daß es ihm an nichts fehlt, oder ich lasse euch die Schwänze abhacken!« * Das Gelbe Zimmer war ein Schlafgemach, wie man es sich kaum luxuriöser vorstellen konnte. Dennoch war mir nicht danach zumute, diesen Luxus gebührend zu würdigen. Ein Mordversuch durch Gift mochte bei den Vitu-kerri ein harmloser Scherz sein; mich hätte er getötet, wenn Oranda nicht dazwischengetreten wäre – und Fennark hatte das gewußt. Ich mußte damit rechnen, daß der alte Fuchs nicht aufgeben, sondern immer wieder versuchen würde, mich umzubringen. Da er das wegen seiner äffischen Diener nicht offen tun konnte, würde er sich neue Listen einfallen lassen. Ich hatte nicht vergessen, daß die
Vitu-kerri den Auftrag hatten, alle Fremden von Vestas Gefängnis fernzuhalten. Demnach mußte die Burg, in der Vesta gefangengehalten wurde, ganz in der Nähe von Fennarks Burg sein. Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Mein Zimmer befand sich im ersten Stock des Herrenhauses, und ich konnte durch das Fenster in den Innenhof blicken, in dem die Überreste des Scheiterhaufens verglühten. Es war still draußen – und auch aus dem Festsaal drang kein Lärm mehr herauf. Die Feier hatte sehr zeitig aufgehört – und auch das gab mir zu denken. Als in meinem Rücken ein scharrendes Geräusch ertönte, fuhr ich herum, die rechte Hand auf dem Schwertknauf. Ich sah, daß sich in der vergoldeten Ledertapete neben dem riesigen Bett eine schmale Tür geöffnet hatte. Eine Geheimtür. Ich riß das Schwert aus der Scheide und wollte mich neben die Tür stellen, als eine Gestalt in hellgrauer Lederkleidung durch die Öffnung trat. Die Gestalt hielt eine Öllampe in der Hand. Überrascht ließ ich das Schwert sinken. »Oranda!« Oranda huschte herein, stellte die Öllampe beiseite und schmiegte sich an mich. Ich spürte ihren Atem und ihren Herzschlag und blickte in ihre glänzenden Augen. »Dragon!« flüsterte Fennarks Tochter. Sie bot mir ihre feuchten Lippen zum Kuß, und ich preßte meine Lippen fest auf die ihren. Doch schon bald machte Oranda sich los und schob mich sanft von sich. »Nicht jetzt, Dragon«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir müssen fliehen. Mein Vater hat alle Gäste mitsamt ihren Labris fortgeschickt, aber sie werden ohne ihre Diener zurückkommen. Ich habe die Beratung belauscht. Danach hat mein Vater beschlossen, alle seine eigenen Labris von den anderen Vitu-kerri töten zu lassen, damit er an dich herankommt.«
»Also doch!« entfuhr es mir. »Aber warum willst du mir helfen, Oranda?« »Weil ich dich liebe, Dragon«, antwortete Oranda. Meiner Ansicht nach sprach Oranda da ein großes Wort gelassen aus. Sie begehrte mich vielleicht, aber Liebe, das war ein anderes Kapitel. Immerhin war sie bereit, mich zu retten, und dafür mußte ich ihr dankbar sein. »Wohin fliehen wir, Oranda?« erkundigte ich mich. Fennarks Tochter lächelte. »Es gibt nur einen Ort, an dem wir vor meines Vaters Zorn sicher sind: die Burg des Namenlosen«, flüsterte sie. »Aber dort werden wir nicht so leicht hineinkommen«, erwiderte ich, obwohl mein Herz beim Gedanken daran, endlich zu Vestas Gefängnis zu kommen, höher schlug. Oranda lächelte stärker. »Ich habe einen alten Bauplan der Burg gesehen«, erklärte sie. »Darauf war ein geheimer Zugang verzeichnet, der nicht von den geflügelten Ungeheuern kontrolliert wird, die die Burg bewachen.« »Dann brechen wir sofort auf«, sagte ich. »Kannst du uns Reittiere beschaffen?« »Sie stehen bereit«, antwortete Oranda. »Komm!« Sie griff wieder nach ihrer Öllampe und trat durch die Geheimtür. Ich zögerte kurz, weil ich an das Saurierjunge dachte, das in einem Stall von Fennarks Burg gefangengehalten wurde. Saddin tat mir leid, und er war ein echter Freund geworden. Doch dann sagte ich mir, daß in Vestas Gefängnis Gefahren auf uns lauerten, die auch einem Saurier zum Verderben gereichen konnten. In Fennarks Burg war Saddin vorerst sicher. Entschlossen folgte ich Oranda. Fennarks Tochter führte mich durch verwinkelte Geheimgänge und Treppen zu einem feuchten Felsenstollen, der schließlich hinter einem Gebüsch endete. Als wir uns durch das Gebüsch gezwängt hatten, standen wir auf einem kleinen, von Bäumen und Sträuchern umgebenen Platz
unterhalb des Berges, auf dem Fennarks Burg thronte. Eine Anzahl Labris wartete hier – und zwei gesattelte Reittiere. Als Oranda und ich auf die Reittiere stiegen, hörten wir das dumpfe Donnern zahlreicher Hufe. Die Affen schnatterten aufgeregt durcheinander. »Still!« rief Oranda ihnen zu – und, zu mir gewandt: »Das sind die Männer, die mein Vater herbestellt hat. Wir müssen uns beeilen, Dragon!« Sie trieb ihr Reittier an, und ich tat es ihr gleich. Wir hatten gerade das freie Land erreicht, als hoch über uns die Hufe von Reittieren über die Bohlen der Zugbrücke polterten. Bald würden die Häscher festgestellt haben, daß ich nicht mehr in der Burg war. Dann begann die Verfolgung. Glücklicherweise reagierten unsere Reittiere auf die gleichen Hilfen wie die Pferde, die ich auf der Erde geritten hatte. Bald galoppierten wir durch das Gelände. Die Labris folgten uns. Wir waren allerdings noch nicht weit gekommen, als ein Hornsignal von Fennarks Burg her erscholl. Die Klänge schmetterten aufreizend durch die Stille der Nacht. Ich hob mich ein wenig aus dem Sattel und trieb mein Tier stärker an, denn ich wußte, daß wir von nun an die Gejagten waren.
8. Die Verfolger holten trotz der Geschwindigkeit unserer Reittiere immer mehr auf. Wir hörten es am Getrommel der Hufe, das immer lauter in unseren Ohren dröhnte. Zu meinem Erstaunen hatten die Labris mit uns Schritt gehalten. Es mußte sie alle ihre Kraftreserven kosten, aber sie hielten durch – und das war unser Glück. Der erste Lichtstreif zeigte sich bereits im Osten, als wir einen Hügel überquerten und plötzlich eine Schar Berittener erblickten, die von rechts auf den Abhang zustürmten, den wir gerade überwinden wollten. Ich rief Oranda eine Warnung zu. Doch Fennarks Tochter hatte die Reiter inzwischen selbst entdeckt. Sie wich jedoch nicht von der bisherigen Richtung ab, sondern wies mit dem ausgestreckten Arm nach vorn, womit sie andeuten wollte, daß wir nicht ausweichen würden. Ich begriff ihr Verhalten erst, als ich die Meute der Labris entdeckte, die uns rechts überholte und genau auf die Reiterschar zuhielt. Reiter und Affen prallten heftig zusammen. Flüche ertönten, Reittiere schrien und bäumten sich auf, und die Todesschreie von Labris mischten sich mit den Schmerzensschreien der Vitu-kerri. Als mein Tier den Hang hinablief, stützte ich mich mit den Händen am Mähnenkamm auf und neigte mich leicht nach vorn. Dabei korrigierte ich mit den Schenkeln die Richtung, damit das Tier nicht mit der Hinterhand ausbrach, was einen Sturz zur Folge gehabt hätte. Endlich war auch der Hang überwunden. Ich blickte noch einmal nach rechts und sah, daß sich Labris und Reittiere zu einem wirren Knäuel vermischt hatten. Diese Vitu-kerri würden für einige Zeit als Verfolger ausfallen, dank der Labris, die sich für uns geopfert hatten. Ich trieb mein Tier zum gestreckten Galopp an und glaubte schon,
daß unser Vorsprung nun groß genug sei, als auf dem Hügelkamm die nächste Verfolgergruppe auftauchte. Doch auch diese wurde von Labris angegriffen und dadurch wenigstens für einige Zeit aufgehalten. Wahrscheinlich brachen sich etliche Reiter bei Stürzen das Genick, aber sie würden nur für einige Zeit tot sein und später die Verfolgung wieder aufnehmen. Hoffentlich erreichten wir unser Ziel bald. Und dann, als der Ball der Sonne über den Horizont stieg und es heller wurde, entdeckte ich die Burg des Namenlosen! Sie brach aus dem Morgennebel mit der Wucht eines lautlosen Donnerschlags, ein düster-bizarres Bauwerk, dessen starke Mauern und Türme einen kahlen und steilen Felsen krönten, der mitten aus der Ebene ragte. Aber ihre wuchtige Drohung wurde abgemildert durch verspielte Türmchen, Mäuerchen und überhohe Zinnen, die überall wie angeklebt an ihr hafteten und ihr den Eindruck eines Märchenschlosses gaben. Unwillkürlich zügelte ich mein Reittier, und Oranda folgte meinem Beispiel, als sie merkte, daß ich ihr nicht folgte. Ihre Augen brannten in einem seltsamen Feuer, als sie sagte: »Die Burg des Namenlosen – sie beeindruckt dich, Dragon, nicht wahr?« »Ja, sie beeindruckt mich«, gab ich zu. »Aber nicht so sehr, daß ich mich fürchten würde.« Ernst erwiderte Oranda: »Du bist so stark und so stolz wie ein Gott, Dragon. Vielleicht bist du auch einer, denn niemand kam vor dir bis hierher. Kein gewöhnlicher Sterblicher kann die Sperringe überwinden, die vor dem Land des Wilden Lebens liegen. Wer oder was bist du wirklich, Dragon?« »Ich bin ein Mann aus der Vergangenheit – und aus einer fernen Welt«, antwortete ich. »Aber ich bin kein Gott.« »Aber du mußt mehr wissen und können als andere Männer«, sagte Oranda leise. »Und das Auge Vestas leuchtet auf deiner Stirn.
Es muß schön sein, von dir geliebt zu werden.« »Dazu ist jetzt keine Zeit!« entgegnete ich schroffer als ich beabsichtigt hatte. »Wie kommen wir in die Burg des Namenlosen?« Oranda deutete nach vorn. »Ein Serpentinenweg führt hinauf, aber er wird bewacht von geflügelten Ungeheuern, die in und auf der Burg nisten. An ihnen kämen wir niemals vorbei. Wir müssen zur Quelle des Blauen Wassers. Dort gibt es einen Zugang, der zu einem alten Treppenschacht führt. Auf ihm kommen wir nach oben.« »Dann los!« sagte ich, denn ein Blick über die Schulter nach hinten hatte mich darüber belehrt, daß eine zahlenmäßig noch ziemlich starke Verfolgergruppe dabei war, aufzuholen. Oranda erblickte die Verfolger wenig später. Sie preßte sich erschrocken eine Hand vor den Mund und traf keine Anstalten, ihr Reittier anzutreiben. Ich ritt neben sie, beugte mich aus dem Sattel vor und schlug ihrem Tier die flache Hand aufs Hinterteil, so daß es durchging. Dann trieb ich mein Tier zum Galopp an. Nachdem Oranda die Gewalt über ihr Reittier wiedergewonnen hatte, trieb sie es in eine Richtung, die links am Burgfelsen vorbeiführte. Jedenfalls schien es so, aber ich vertraute ihr. Unterdessen waren die Wächter der Burg erwacht. Riesige Ungeheuer lösten sich von den Zinnen und Türmen, breiteten gewaltige lederne Schwingen aus und umkreisten die Burg, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der den Serpentinenweg erklomm. Es waren mindestens dreißig, und an ihnen vorbeizukommen, wäre für zwei Personen unmöglich gewesen. Als wir ein Wäldchen passierten, erblickte ich wieder eine Gruppe Labris, die zwischen den Bäumen standen und zu uns schauten. Es war mir schleierhaft, wie diese Affenartigen uns hatten überholen können, aber ich war natürlich froh darüber, sie hier zu sehen, denn sie konnten unsere Verfolger wieder einige Zeit aufhalten. Oranda lenkte ihr Tier etwas nach rechts, als wir uns auf gleicher Höhe mit dem Burgfelsen befanden. In diesem Augenblick ritten
unsere Verfolger an dem Wäldchen vorbei – und wieder erlebte ich, wie die Labris sich todesmutig auf ihre Herren stürzten und deren Reittiere zu Fall brachten. »Wir müssen uns beeilen!« rief Oranda mir voller Panik zu und deutete nach oben. »Die Wächter sind aufmerksam geworden. Sie kommen.« Ich legte den Kopf in den Nacken und hätte mir beinahe das Genick ausgerenkt, als mein Reittier stolperte. Meine Nackenwirbel knackten, doch es ging noch einmal gut. Ohne etwas zu sehen, denn mir schossen Tränen in die Augen, half ich meinem Tier durch Schenkeldruck und Zügelhilfen, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann wischte ich mir das Wasser aus den Augen und blickte erneut nach oben. Vier, fünf der Geflügelten stürzten mit angelegten Schwingen nach unten. Es sah so aus, als hätten sie Oranda und mich als Beute auserkoren. Ich wußte, daß es sinnlos gewesen wäre, sie mit Pfeilen aufhalten zu wollen. Deshalb trieb ich mein Reittier näher an den Felssockel heran, während Oranda sich suchend umblickte. Wir hätten es nicht geschafft, wenn die Drachenähnlichen es auf uns abgesehen hätten. So aber breiteten sie etwa hundert Fuß über uns ihre Schwingen aus und segelten genau auf die kleine Gruppe Reiter zu, die sich mit den restlichen Labris herumschlug. Augenblicke später wurden Reiter, Reittiere und Affen unter schweren Körpern, wild schlagenden Schwingen und zupackenden Krallen begraben. Ich wandte mich erschüttert ab. In dem Augenblick rief Oranda: »Dort oben ist die Quelle des Blauen Wassers, Dragon! Komm – und treib dein Tier gut an, denn der Hang ist sehr steil!« Der letzte Hinweis war überflüssig gewesen, denn als Oranda ihr Tier zum Hang trieb, sah ich, daß er nicht nur steil, sondern auch steinig war. Von einer Quelle vermochte ich allerdings nichts zu erkennen.
Oranda ließ die Zügel fahren, damit ihr Tier den Kopf frei hatte, und ich verfuhr ebenso. Um nicht hinter die Bewegung zu geraten, griff ich meinem Tier außerdem mit einer Hand vorn um den Hals und hielt mich daran vornübergeneigt im Gleichgewicht. Dennoch war der Aufstieg eine Quälerei – wenn auch mehr für die Tiere als für Oranda und mich. Immer wieder rollten unter ihren Hufen Steine fort, und die Tiere mußten wie wild arbeiten, um nicht abzurutschen. Ich fragte mich schon, ob wir die Reittiere nicht besser hätten unten lassen und den Aufstieg zu Fuß bewältigen sollen, als Oranda ihr Tier anhielt. »Wir sind da!« verkündete sie stolz. Ich blickte die blaugrauen Nebelwolken an, die oberhalb eines kleinen Felsvorsprungs aus einem Spalt in der Wand krochen, sich träge über den Boden wälzten und wieder auflösten. Das also sollte die Quelle des Blauen Wassers sein! »Müssen wir dort hinein?« fragte ich und deutete auf den Spalt. Oranda lächelte geheimnisvoll. »Ja, Dragon. Geh du voran!« Ich zögerte, denn ich argwöhnte plötzlich eine Falle. Aber dann entdeckte ich die zirka vierzig Reiter, die unter uns ihre Tiere zügelten. An ihrer Spitze sah ich den alten Fennark. Der schlaue Fuchs hatte also seine Männer in mehreren Abteilungen vorausgeschickt, damit sie die Labris aufrieben und er selbst unbehelligt blieb. Oranda umklammerte meinen Arm und flüsterte: »Töte ihn für eine Weile, Dragon! Er kann uns gefährlich werden, gefährlicher als die anderen Männer.« Ich wußte, daß sie ihren Vater meinte, und ich zögerte nur so lange, bis mir klar wurde, daß Fennark tatsächlich nur für eine Weile tot sein würde, wenn ich ihn hier und jetzt umbrachte. Ich hob den Bogen, legte einen Pfeil auf und ließ ihn von der Sehne schnellen. Er durchschlug Fennarks Hals. Der Burgherr warf die Arme hoch, stieß einen gurgelnden Schrei aus und sank von
seinem Reittier. Im nächsten Augenblick war ich von meinem Tier gesprungen und hatte Oranda aus dem Sattel gerissen. Nicht zu spät, denn ein Pfeilhagel prallte dicht über unseren Köpfen gegen den Fels. Mein Reittier wurde getroffen, stieg vorn hoch und stürzte den Hang hinab. Eine Gerölllawine polterte hinterher. Oranda stieß mich vorwärts. Diesmal zögerte ich nicht, sondern kroch durch den Spalt. Feuchte, kühle Luft umfing mich. Draußen zog Oranda ihr Reittier hinter sich her, als wollte sie es gewaltsam durch den zu engen Spalt zerren. Wie zu erwarten gewesen war, blieb es stecken. Fennarks Tochter zog solange weiter, bis es weder vor noch zurück konnte. Als sie mich erreichte, lachte sie triumphierend und meinte kalt: »Unsere Häscher müssen das Tier erst in Stücke schneiden, bevor sie uns folgen können. Das gibt uns einen guten Vorsprung.« Ich erschauderte ob der Gefühllosigkeit dieser Frau gegenüber der hilflosen Kreatur. Aber ich sah ein, daß ich nichts für das Tier tun konnte. Also wandte ich mich um und schritt tiefer in den Höhlengang hinein … * Nach einer Weile blieb ich stehen. Etwas beunruhigte mich, ohne daß ich mir klar darüber wurde, was das war. Plötzlich stieß Oranda gegen mich. In der Dunkelheit hatte sie nicht gesehen, daß ich stehengeblieben war – und ich hatte sie nicht kommen sehen. Aber ich hatte sie auch nicht kommen hören. Mit einemmal wußte ich, was mich beziehungsweise mein Unterbewußtsein beunruhigt hatte. »Unsere Schritte sind unhörbar«, sagte ich. »Und wenn schon, Dragon«, gab Oranda zurück. »Hier gibt es Kräfte, von denen niemand etwas weiß, weder normale Sterbliche
noch wir Vitu-kerri. Gehen wir weiter! Wir müssen bald die Treppe erreicht haben.« Ich wandte mich wieder um und schritt weiter, die Hände vorgestreckt, damit ich nicht mit dem Kopf gegen eventuelle Hindernisse stieß. Weit hinter uns wurde Stimmengewirr hörbar. Ein Tier schrie in höchster Pein. Unsere Verfolger zerrten Oranas Reittier gewaltsam aus dem Spalt, um uns folgen zu können. Ich ballte die Fäuste, aber ich blieb nicht stehen. Alles hing davon ab, ob unser Vorsprung groß genug blieb. Ich hoffte, Vesta befreien zu können, bevor die Verfolger uns einholten. Der Herr der Elemente würde uns dann schon helfen. Als ich einen eisigen Hauch spürte, ging ich langsamer. Nach wenigen Schritten stießen meine Hände gegen glatten Fels, der mit einer Schicht Rauhreif bedeckt war. Von links wehte eiskalte Luft an meinem Gesicht vorbei nach oben. Ich ging weiter und ertastete mit den Füßen die unterste Stufe einer Treppe. »Es wird kalt«, jammerte Oranda. »Wir werden es aushalten – oder erfrieren«, gab ich zurück. Vorsichtig stieg ich die ersten Treppenstufen hoch. Der kalte Luftzug fauchte durch meine zerfetzten Beinkleider. Als ich herausgefunden hatte, daß ich mich auf einer Treppe befand, die eng gewendelt und ohne Geländer durch einen Schacht führte, bückte ich mich, so daß ich die Stufen über mir mit den Händen ertasten konnte und nicht versehentlich ins Leere trat. Ich machte auch Oranda darauf aufmerksam, aber sie antwortete nicht. Offenbar litt sie trotz ihrer Lederkleidung stärker unter der Kälte als ich, der in dieser Beziehung einiges gewohnt war. Dennoch spürte ich den Zugriff der Kälte immer stärker, je weiter ich stieg. Meine Füße wurden allmählich gefühllos, und meine Finger schienen auf den doppelten Durchmesser angeschwollen zu sein. »Dragon, ich kann nicht mehr!« rief Oranda unter mir.
Ich wandte mich halb nach rechts, griff nach unten und packte eine Hand Orandas. »Ich helfe dir«, sagte ich. »Wir dürfen nicht stehenbleiben, wenn wir nicht erfrieren wollen.« »Ja!« flüsterte Oranda folgsam. Plötzlich erschien sie mir so hilflos wie ein Kind, obwohl sie doch eine Quasi-Unsterbliche und vielleicht zweihundert alt war – trotz ihres jugendlichen Aussehens. Aber sie hatte wohl noch nie eine solche gefährliche Situation erlebt wie diese. Ich mußte alle Energie aufbieten, um mich trotz der Kälte, die an meinen Kräften zehrte, weiterzuschleppen und obendrein Oranda hinter mir her zu ziehen. Fennarks Tochter schien immer schwerer zu werden. Deshalb atmete ich auf, als meine tastenden Finger keine weiteren Stufen mehr fanden, sondern gegen eine Säule stießen, die sich aus einer fugenlosen Steinplatte erhob. Ich zog Oranda hoch und tastete mich mit den Füßen über glatten Stein. Nach einer Weile traf meine freie Hand gegen eine Wand, und wenig später ertastete sie eine Öffnung darin. Und aus der Öffnung schlug mir ein Schwall warmer Luft entgegen! Maßlos erleichtert zog ich Oranda hinter mir her, durch die Öffnung hindurch, und ich spürte, wie sie schlaff wurde. Ich konnte sie gerade noch auffangen. Behutsam ließ ich die Vitu kerri zu Boden gleiten. Die warme Luft umspülte uns und sog mir die letzte Kraft aus den Gliedern. Obwohl ich wußte, daß die Verfolger hinter uns waren, gab ich mich der Erschöpfung hin. Als ich wieder erwachte, wußte ich, daß ich nicht lange geschlafen haben konnte. Mein Körper wurde noch von dem eisernen Willen beherrscht, Vesta zu befreien und selbst zu überleben. Oranda dagegen schlief neben mir fest. Ich rüttelte sie an den Schultern. Ihre tiefen Atemzüge brachen ab; ihre Hände umklammerten meine Unterarme. »Dragon?« flüsterte
sie. Ich strich ihr sanft übers Haar. Der Groll über ihre Grausamkeit gegenüber dem Reittier war verflogen. Immerhin hatte sie mir das Leben gerettet und nicht gezögert, mich durch Dunkelheit und Eiseskälte in die Burg des Namenlosen zu begleiten. »Ja, ich bin es«, antwortete ich. »Glaubst du, daß du wieder gehen kannst?« »Können wir nicht liegenbleiben, Dragon?« fragte sie. »Nimm mich in deine Arme und halte mich fest!« Ein grober Fluch aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, verriet mir, daß die Verfolger uns keine Zeit ließen. Im nächsten Augenblick ertönte ein langgezogener Schrei, der gleichzeitig mit einem dumpfen Aufprall abbrach. Jemand war von der schmalen Treppe in die Tiefe gestürzt. Ich half Oranda auf die Füße, dann gingen wir weiter. Nach einiger Zeit wurde es vor uns hell. Zuerst sahen wir nur einen kleinen hellen Kreis, aber bald konnten wir erkennen, daß der Lichtkreis nur ein Tor war, hinter dem eine Art Gewölbe liegen mußte. Wir gingen schneller und erreichten die Öffnung. Dahinter lag tatsächlich ein Gewölbe. Von der Decke hingen spinnwebartige Schleier herab – und sie verstrahlten das düstere Licht. Als wir das Gewölbe betraten, hörten wir zum erstenmal wieder unsere Schritte. Es war, als hätten wir einen Bezirk verlassen, der unter einem Bann lag. »Ich kann nicht mehr!« jammerte Oranda. »Wir haben es bald geschafft«, versuchte ich sie zu trösten, obwohl ich dessen gar nicht sicher war. Oranda riß sich zusammen. Sie brachte sogar ein mattes Lächeln zuwege. Ich lächelte ihr aufmunternd zu und nahm ihre Hand. So gingen wir weiter. Bis wir die Mauer erreichten, die das Ende des Gewölbes markierte! Ich blieb stehen, starrte die Mauer an, die aus soliden Steinwürfeln errichtet zu sein schien, dann wirbelte ich herum.
»Zurück!« sagte ich. »Wir müssen aus dem Gewölbe kommen, bevor die Verfolger es erreichen!« Doch wir waren kaum zehn Schritte gelaufen, als wir das Klirren von Waffen hörten und den Ruf: »Hier, Fennark! Sie müssen durch das Tor gegangen sein!« Oranda und ich blieben stehen und sahen uns an. Wir hatten beide begriffen, daß wir in der Falle saßen. Das Spiel war verloren. Ich konnte mein Leben nur noch so teuer wie möglich verkaufen, indem ich einige der Verfolger tötete. Gegen meinen Willen mußte ich lachen, als mir klar wurde, daß die von mir Getöteten bald wieder zum Leben erwachen würden. Ich war der einzige Mensch, dessen Tod ein endgültiger Tod sein würde. * Und während die Schritte und Rufe der Verfolger sich immer weiter näherten, entstand vor mir ein grelles Leuchten, das sich zu einem hellen felsgroßen Schemen formte. »Du hast deine Aufgabe fast erfüllt, Dragon!« ertönte Vestas Stimme. »Nur eine magische Mauer trennt dich von mir, aber diese Mauer ist beinahe unzerstörbar. Nur Erthus Hammer kann sie zertrümmern. Aber nur ein Ausgewählter kann Erthus Hammer anfassen, ohne zu vergehen. Du, Dragon, mußt selbst entscheiden, ob du das Wagnis auf dich nimmst oder nicht.« Der leuchtende Schemen geriet in fließende Bewegung, wurde allmählich durchsichtig und verschwand schließlich, wie bei früheren Vesta-Visionen auch. »Was war das, Dragon?« flüsterte Oranda. Ihr bronzefarbenes Gesicht war grau vor Angst. »Eine Vision des Herrn der Elemente«, gab ich zurück, während ich noch zu begreifen versuchte, was Vesta mir mitgeteilt hatte. Meine Grübeleien wurden jäh unterbrochen, als jemand schrie: »Dort sind sie, Fennark!«
»Endlich!« antwortete eine Stimme, die durch ein heiseres Krächzen entstellt war. »Überlaßt den Fremden mir!« Ich zog mein Schwert, als ich neben drei Bewaffneten den alten Burgherrn auftauchen sah. Er war nicht lange tot gewesen, aber ein blutrotes Mal an seinem Hals verriet, wo mein Pfeil ihn getroffen hatte. »Bist du zum Sterben bereit, Dragon?« rief Fennark. »Ich bin bereit zum Kämpfen, Fennark!« rief ich grimmig zurück. »Wir werden sehen, ob du mit dem Schwert ebenso gut umgehen kannst wie mit Gift.« »Ich werde dich töten!« versprach Fennark. Er hielt ebenfalls ein Schwert in der Hand. Einer der anderen Männer reichte ihm einen runden Schild, dann kam der Burgherr langsam auf mich zu. Er war noch ungefähr fünf Schritt von mir entfernt, als genau zwischen uns ein kleiner gleißender Hammer quasi aus dem Nichts auftauchte und auf mich zu schwebte. Fennark stieß einen Entsetzensschrei aus und wich zurück. Seine Begleiter hoben schützend die Schilde vor die Gesichter, als fürchteten sie, durch das Gleißen des Hammers geblendet zu werden. Erthus Hammer! Gehörte ich zu den Auserwählten, die Erthus Hammer anfassen konnten, ohne zu vergehen? Oder würde ich sterben, sobald ich nach dem gleißenden Werkzeug griff? »Ich jedenfalls kann nur einmal sterben!« sagte ich grimmig. Ich ließ mein Schwert fallen und griff nach dem Hammer, als er dicht vor mir angekommen war. Er fühlte sich kalt an und schien zu pulsieren – aber er tötete mich nicht. Vielleicht hatte Vesta nur geblufft, um meine Entschlossenheit zu prüfen. Ich wußte es nicht, würde es sicher niemals erfahren, aber es war mir gleichgültig. Unsere Verfolger hatten ihre Schilde sinken lassen. Aber sie rührten sich nicht, als ich mit dem Hammer an die rückwärtige Mauer ging und auf die Steinblöcke einschlug.
Ich spürte keinen Aufprall des Hammers an der Mauer, aber ich sah die Wirkung. Das Mauerwerk zerbröckelte wie spröder Zuckerguß und löste sich auf. Und aus dem hinter ihr liegenden Raum schwebte eine übermannsgroße gleißende Gestalt, deren Konturen sich nur erahnen ließen, in das Gewölbe. »Vesta?« fragte ich und ließ den Hammer Erthus fallen. Die leuchtende Gestalt antwortete nicht. Dafür löste sich mein drittes Auge aus meiner Stirn und schwebte zu der Gestalt hinüber. Ich spürte keinen Schmerz. Dennoch faßte ich unwillkürlich an die Stelle, an der Vestas Auge gesessen hatte. Aber es hatte keine Wunde oder Narbe hinterlassen. Die Haut war glatt. Plötzlich ertönte wieder die Stimme, die ich bei meinen VestaVisionen schon gehört hatte. Doch sie richtete sich nicht an mich, sondern an die Verfolger. »Fennark!« sagte sie. »Du und deine Männer, ihr habt ausgedient. Ihr habt schon zu lang gelebt.« Ich wandte mich um und sah voller Entsetzen, wie die Vitu-kerri sich veränderten. Ihre Haut wurde faltig, ihre Augen wurden glanzlos, und sie verfielen Zusehens. »Dragon!« Der Aufschrei Orandas traf mich wie ein glühender Pfeil ins Herz. In ihm lagen Grauen, Schmerz und Verzweiflung – und noch etwas, das ich nicht genau definieren konnte. Als ich herumfuhr, sah ich, daß Oranda sich genauso verändert hatte wie die anderen Vitu-kerri. Sie sank kraftlos in meine Arme, bäumte sich noch einmal auf und suchte mit ihren welken Lippen meinen Mund. »Liebster!« hauchte sie, dann schrumpfte ihre Gestalt zusammen, ihr Körper wurde federleicht und zerfiel zu Staub. Mit brennenden Augen starrte ich Vesta entgegen, der auf mich zuschwebte und heller strahlte als zuvor. »Was hast du getan?« fragte ich tonlos. Noch herrschte die Trauer über den Zorn. »Warum hast du Oranda getötet, ohne deren Hilfe
ich dich niemals hätte befreien können?« »Nicht ich habe Oranda und die anderen Vitu-kerri getötet«, entgegnete der Herr der Elemente. »Es waren die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt, die dafür sorgten, daß alle widernatürlichen Geschöpfe ihr Leben verloren, sobald ich befreit war. So gesehen, bist du, Dragon, am Tode der Vitu-kerri schuld, denn du hast mich befreit.« Ich war erschüttert, aber mein Zorn entfaltete sich nicht, denn was Vesta gesagt hatte, erschien mir logisch. Dennoch dauerte es eine Weile, bevor ich wieder an die Zukunft denken konnte, an das, was noch vor mir lag – und an das, was noch zu tun war. »Was soll nun werden, Vesta?« fragte ich. Vestas leuchtende Gestalt verharrte neben mir. »Wir werden beide diese Burg verlassen, Dragon«, antwortete der Herr der Elemente. »Von nun an handeln wir gemeinsam, denn wir haben ein gemeinsames Ziel – jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt. Ich spüre, daß deine Wanderwolke sich inzwischen erholt hat. Wir werden draußen auf Aerula-thane warten und uns von ihr zur endgültigen Auseinandersetzung mit Akkeron tragen lassen. Komm!« Vesta schwebte zurück, auf die Öffnung zu, an der vorher die magische Mauer gewesen war. Ich zwang mich dazu, nicht auf das zu blicken, was einst Oranda gewesen war. Noch benommen von all den Ereignissen, folgte ich dem Herrn der Elemente. ENDE Der Vorstoß in das Land des Wilden Lebens gelang, und Dragon befreite Vesta aus 2000jähriger Gefangenschaft. Damit naht die Entscheidung über das künftige Schicksal von Danilas Welt – und das DUELL DER GIGANTEN … DUELL DER GIGANTEN unter diesem Titel erscheint auch der nächste Dragon-Band. Als Verfasser des Romans zeichnet Ernst Vlcek.