Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten: Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen
Hartmut Westermann
Walter de Gruyter
Hartmut Westermann Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland
Band 54
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen von
Hartmut Westermann
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek − CIP-Einheitsaufnahme Westermann, Hartmut: Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten : zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen / von Hartmut Westermann. − Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 54) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1999/2000 ISBN 3-11-017006-X
쑔 Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Satz: Hans Peter Engelhard, 79856 Hinterzarten Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Meinen Eltern
Danksagung Die vorliegende Untersuchung stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Wintersemester 1999/2000 von den Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg angenommen worden ist. Für die vielfältige Hilfe und Unterstützung, die ich bei der Fertigstellung dieser Arbeit erfahren habe, möchte ich danken. An erster Stelle meinem akademischen Lehrer und Doktorvater: Herr Prof. Rainer Marten hat mir die Freude am Philosophieren vermittelt. Das Entstehen meiner Dissertation hat er mit Wohlwollen, großem Vertrauen und aufmunterndem Rat begleitet. Ohne seine Betreuung, seine Geduld und seinen Ansporn würde es die vorliegende Untersuchung nicht geben. Auch der Zweitgutachter meiner Dissertation, Herr Prof. Klaus Jacobi, hat die Entstehung meiner Arbeit mit großem Interesse verfolgt und durch seine kritischen Anmerkungen und fruchtbaren Hinweise entscheidend gefördert. Ich danke ihm für alle Unterstützung, besonders aber für seine Offenheit und stete Gesprächsbereitschaft. Für die Bereitschaft, das Drittgutachten zu erstellen, und seine wertvollen Anregungen bin ich Herrn Prof. Hans-Christian Günther sehr dankbar. Großen Anteil an der Verwirklichung der vorliegenden Untersuchung hatten auch meine Freunde Dr. Hans Peter Engelhard, Georg Gaiser, Ben Kavanagh, Dr. Hee-Ju Kim, PD Dr. Guido Löhrer, Frank Pauly, Dr. Mischa von Perger, Dr. Steffan Ritzenhoff, PD Dr. Christian Strub und PD Dr. Eckhard Wirbelauer. Den zahlreichen Gesprächen, die ich mit ihnen im Forschungskolloquium Rainer Martens und im „Antiken-Raum“ der Freiburger Seminarbibliothek führen durfte, verdanke ich viel. Dem Cusanuswerk bin ich für ein Promotionsstipendium verpflichtet. Bei den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie“ bedanke ich mich für die Aufnahme der Untersuchung in die Reihe, bei Herrn Christoph Schirmer vom Verlag de Gruyter für die angenehme Zusammenarbeit. Von meinen Eltern habe ich vielfache Unterstützung und Ermutigung bei der Entstehung meiner Dissertation bekommen. Ihnen widme ich dieses Buch. Luzern, im Juni 2002
H. W.
Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen . . . . 1.1 Die Begriffe „Dialog“ und „Gespräch“ . . . . . . . . . . . . 1.2 Die platonischen Dialoge: literarische oder philosophische Schriften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge 1.4 Platons Einschätzung seiner Dialoge . . . . . . . . . . . . . 1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge . . . .
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2 Die Theorie der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer . . . . . . . 47 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9
Das Proömium des Ion . . . . . . . . . . . . . . . . . vs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die
des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pluralität der Interpretation . . . . . . . . . . . . Die Notwendigkeit der Interpretation . . . . . . . . Die Öffentlichkeit der Interpretation . . . . . . . . . Die Kompetenz des Interpreten . . . . . . . . . . . . Die Kompetenz des Publikums . . . . . . . . . . . . Die praktische Unmöglichkeit der -gemäßen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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47 52 57 61 64 69 72 78
. . . . . . . . . . . 86
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist . . . . . . . . . . . 95 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7
vs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Die Lobreden der Rhapsoden und die Autorität der Dichter . . Die praktische und die theoretische Rechtfertigung . . Die allegorische Homer-Auslegung: Metrodor von Lampsakos Die reine Rezitation: Stesimbrotos von Thasos . . . . . . . . . . Eine rhapsodische Theorie der Rhapsodenkunst: Glaukon . . . Die theoretische Unzulänglichkeit der nicht -gemäßen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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121 131 134 140 142
. . 145
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode . . . . . . . 148 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
vs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kraft des
und der Verlust des Die Unberechenbarkeit des
. . . . . . . Der Enthusiast als . . . . . . . . . . . . . . . .
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148 152 162 167
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Inhalt 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8 2.3.9
Der Politiker als Enthusiast im Menon . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ungleiche Kooperation von und im Timaios . Die in den Nomoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Philosophie als im Phaidros . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkung zur enthusiastischen Dichterauslegung
181 189 203 215 229
3 Die Praxis der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras . . . . . . . . . . . . . . 233 3.1.1 Der gesprächstheoretische Kontext: Die -Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die erste Runde der Simonides-Auslegung: Protagoras vs. Prodikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die zweite Runde der Simonides-Auslegung: die des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Sokrates’ Urteil über die Dichterauslegung als Form der Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233 244 254 260
3.2 Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras . . . . . . . . . . . 269
3.2.1 Ein Beispiel für das sophistische im Hippias Maior . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3.2.2 Sokrates’ Interpretation von Homer und Hesiod im Lysis . . . . . . 271 3.2.3 Sokrates’ Theognis-Interpretation im Menon . . . . . . . . . . . . . 277
4 Abschließende Gedanken zum . . . . . 4.1 Die intentio auctoris und das . . . 4.2 Die intentio lectoris und das . . . 4.3 Das Problem der Selbstapplikation von Text- und Dichterauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . 287 . . . . . . . . . 287 . . . . . . . . . 294 . . . . . . . . . 297
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungen und Kommentare . . . . . Weitere zitierte Literaten und Philosophen Hilfsmittel und Bibliographien . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . .
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303 303 303 306 306 307
Register . . . . . . . . . . . . . Stellenregister . . . . . . . Namensregister . . . . . . . Begriffs- und Sachregister
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Einführung: Dichterauslegung in den Dialogen Platons Wer sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Rolle die Dichterauslegung in den Dialogen Platons spielt, wird rasch darauf aufmerksam, daß Dichterauslegung nicht nur als Gegenstand der Gespräche auftauchen kann, die Platon seine Dialogfiguren führen läßt, sondern mitunter auch die Performanz dieser Gespräche selbst bestimmt: Einerseits debattieren die Dialogfiguren über das Thema „Dichterinterpretation“1 , andererseits betreiben die Dialogfiguren – im Szenario der von Platon präsentierten Gespräche – Dichterauslegung in praxi. Von der Dichterauslegung als einem möglichen Gesprächsthema platonischer Dialogfiguren ist daher die Dichterauslegung als eine mögliche Gesprächsform platonischer Dialoge zu unterscheiden. Aussagen der Dialogfiguren über die Dichterauslegung werden im folgenden als Beiträge zu einer Theorie der Interpretation aufgefaßt, während Handlungen, die im Rahmen einer literarisch gestalteten Dichterauslegung vollzogen werden, als Elemente einer Praxis der Interpretation begriffen werden.2 Die methodisch angezeigte Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis der In-
1 Es ist mittlerweile üblich geworden, den Begriff „Interpretation“ in einer sehr weiten Bedeutung zu gebrauchen: Interpretiert werden in diesem Sinne nicht nur Texte, sondern auch Ereignisse, Handlungen usw. Die größte Ausweitung erfährt der Begriff sicherlich im „Interpretationismus“ Günter Abels, der nichts kennt, was nicht Interpretation wäre (vgl. den sog. Satz der Interpretation: „Alles, was ‚ist‘, ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was ‚ist‘.“ (Abel 1996, S. 277)). Die recht unerfreuliche Konsequenz dieses inflationär wirkenden Gebrauchs ist, daß der Begriff ohne Binnendifferenzierung nicht mehr informativ ist (vgl. Lenk 1988, S. 73 und Löhrer 1996, S. 263). Demgegenüber hält die vorliegende Arbeit an einem eng gefaßten Begriff der Interpretation fest, der Interpretation zwar nicht auf Textauslegung, wohl aber auf Dichterauslegung eingrenzt. Demnach sind nicht nur Texte, die schriftlich vorliegen, möglicher Gegenstand von Interpretation, sondern auch Dichterworte, die mündlich – etwa im Rahmen eines Rhapsodenvortrags – geäußert werden (zu den Begriffen „Dichtung“ und „Literatur“ vgl. unten Fn. 43 auf S. 30 und S. 59, zum Verhältnis zwischen Text- und Dichterauslegung vgl. unten Kap. 4.1, insbes. Fn. 1 auf S. 287). 2 Daß die Begriffe „Theorie“ und „Praxis“ hier im Singular gebraucht werden, soll keineswegs den Eindruck erwecken, es handle sich um einheitliche und konsistente Gebilde. Das Gegenteil ist der Fall: Die Theorie der Interpretation wird von Platons Dialogfiguren kontrovers diskutiert, und die Praxis der Dichterauslegung kennt vielfältige Formen.
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Einführung
terpretation3 strukturiert den Aufbau der vorliegenden Arbeit: Nach einigen Bemerkungen zur eigenen Terminologie und zur Dialoghermeneutik (Kap. 1) werden die interpretationstheoretischen Überlegungen der platonischen Dialogfiguren dargestellt und diskutiert (Kap. 2), ehe die Auseinandersetzung mit der von Platon inszenierten Praxis der Dichterauslegung erfolgt (Kap. 3). Die wie selbstverständlich eingeführte methodische Differenzierung, die mit Blick auf die platonischen Schriften zwischen einer Theorie und einer Praxis der Interpretation unterscheidet, ist allerdings keineswegs unproblematisch, da sie implizit ein ganz bestimmtes Verständnis der Textgattung „Dialog“ voraussetzt: Nur wenn der Dialog als ein Text aufgefaßt wird, der nicht schlicht die eigenen Behauptungen seines Autors artikuliert, sondern eine Handlung, genauer: eine Gesprächshandlung präsentiert, ist es überhaupt sinnvoll, die Aussagen der Dialogfiguren zum Thema „Interpretation“ gegen die vom Autor literarisch arrangierte Dichterauslegung abzuheben. Kurz: Die für die vorliegende Arbeit zugleich als Gliederungsprinzip fungierende methodische Differenzierung zwischen einer Theorie und einer Praxis der Interpretation lebt von der Auffassung, daß die platonischen Texte literarische Texte sind, die Gesprächshandlungen auf stilistisch vielfältige Weise inszenieren. Gegen diese Auffassung kann nun aber der Vorwurf erhoben werden, daß sie nicht dem Verständnis entspricht, das der Autor Platon selbst seinen Schriften entgegengebracht hat: Schließlich hat sich Platon doch dezidiert als Philosoph und damit gerade als scharfer Konkurrent der Dichter begriffen. Gerät man also nicht in direkten Widerspruch zum Selbstverständnis Platons, wenn man seine Schriften – trotz der darin geführten heftigen Polemik gegen die Dichter – als literarische Texte begreift? Eng mit diesem Kritikpunkt verbunden ist der weiterreichende Verdacht, daß die literarische Auffassung der platonischen Schriften anachronistisch, da an ein spezifisch modernes Dialogverständnis gebunden sei. Vor dem Hintergrund dieser beiden gewiß nahe3 Meine Differenzierung zwischen einer Theorie und einer Praxis der Interpretation verdankt sich der Differenz zwischen einer Theorie und einer Praxis des Gesprächs, die Joachim Dalfen in die Platonauslegung eingebracht hat (vgl. insbes. Dalfen 1989). Die Nichtberücksichtigung der methodischen Differenz, die zwischen den gesprächstheoretischen Aussagen der Dialogfiguren und der von Platon fingierten Gesprächspraxis bestehen, führt zu unerfreulichen Konsequenzen in der inhaltlichen Platonauslegung. Als Beispiel mag der zwischen Mittelstraß 1982 und Szlezák 1987 und 1988 entbrannte Interpretationsstreit über den platonischen Dialog dienen: Während Szlezák den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Analyse der sokratischen Gesprächspraxis legt, betrachtet Mittelstraß vorrangig die sokratische Gesprächstheorie. Da Sokrates’ Gesprächspraxis dem von ihm proklamierten Gesprächsideal nicht immer entspricht, kommen Szlezák und Mittelstraß zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen, die aber nicht in ihrem methodischen Zusammenhang bedacht werden.
Einführung
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liegenden Vorwürfe soll der methodische Ansatz der vorliegenden Arbeit mit Hilfe hermeneutischer Vorüberlegungen (Kap. 1) plausibel gemacht werden. Dabei kommt zunächst die erwähnte Kritik an einer literarischen Auffassung der platonischen Texte zur Sprache, wie sie sich bereits bei Diogenes Laertios belegen läßt (Kap. 1.2 und 1.3). Um die literarische Auffassung der platonischen Dialoge gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie widerspreche dem Selbstverständnis des dichterfeindlichen Philosophen Platon, wird den aufschlußreichen Hinweisen nachgegangen, die uns Platon im Rahmengespräch und in der Komposition des Theaitetos gibt (Kap. 1.4). Um die literarische Auffassung der platonischen Dialoge schließlich auch vom pauschalen Modernismus-Verdacht zu befreien, wird sie philosophiehistorisch in der Dichtungstheorie des Aristoteles nachgewiesen, der die Schriften seines Lehrers ausdrücklich als literarische, d. h. im Kontext der Poetik: als mimetische Texte versteht (Kap. 1.5). Die Anwendung des aristotelischen MimesisBegriffs auf die platonischen Schriften ermöglicht uns dabei aber nicht nur, die Dialoge als literarische Inszenierungen von Gesprächshandlungen aufzufassen. Da diese Anwendung nämlich gute Gründe für eine Distanzierung von literaturtheoretischen Positionen bietet, die für eine kategoriale Scheidung zwischen literarischen und philosophischen Texten plädieren, erweist sie sich auch als fruchtbar für das systematische Konzept einer historisch reflektierten Dialoghermeneutik. Nicht nur für die hermeneutischen Vorüberlegungen, auch für die spätere Untersuchung der Dichterauslegung in Theorie und Praxis wird ein Begriffsinstrumentarium benötigt, das es erlaubt, sauber zwischen der literarischen Form des Dialogs auf der einen Seite und der im Dialog inszenierten Gesprächshandlung auf der anderen Seite zu unterscheiden. Den hermeneutischen Überlegungen noch vorangestellt ist daher eine terminologische Klärung der Begriffe „Dialog“ und „Gespräch“ (Kap. 1.1), in der insbesondere von der Differenzierung zwischen Mündlichkeit / Schriftlichkeit als Medium und Mündlichkeit / Schriftlichkeit als Konzeption Gebrauch gemacht wird. Den Ausgangspunkt des ersten Hauptteils der Arbeit bildet der Ion, da Platon bereits in diesem kleinen Frühdialog drei Grundmuster angelegt hat, die für die interpretationstheoretische Diskussion in seinem gesamten Werk maßgeblich bleiben. Vereinfacht lassen sich diese drei Grundmuster so begreifen, daß die Dialogfigur Sokrates zunächst das Idealbild einer philosophischen Dichterauslegung entwirft (Kap. 2.1), das dann zum einen mit dem Gegenbild einer sophistischen Dichterauslegung (Kap. 2.2) und zum anderen mit dem Gegenbild einer enthusiastischen Dichterauslegung (Kap. 2.3) kontrastiert wird.
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Einführung
Um das im Ion nur grob umrissene Idealbild einer philosophischen Dichterauslegung begrifflich präziser fassen zu können, erweist es sich als hilfreich, das für die eigene Untersuchung gebrauchte terminologische Instrumentarium durch die im Gorgias explizierten Gegenbegriffe „Fertigkeit“ ( ) und „Übung“ ( ) zu erweitern (Kap. 2.1.1 und 2.1.2). Der Einordnung des Idealbegriffs der Interpretation in einen größeren, vorrangig gesprächstheoretisch geprägten Diskussionszusammenhang dient die Berücksichtigung einschlägiger Partien aus weiteren Dialogen (insbesondere des frühen Platon): Neben einer im ersten Buch der Politeia vorgeführten Argumentation, die für die Notwendigkeit der Dichterauslegung plädiert (Kap. 2.1.5), werden auch die Konzeption einer dialektischen Rhetorik, wie sie im Menon vorbereitet und im Phaidros (Kap. 2.1.7) ausgearbeitet ist, die sog. Gesprächstugenden des Gorgias (Kap. 2.1.8) und schließlich die Ausführungen zur sophistischen Schaurede ( ) im Hippias Minor (Kap. 2.1.9) mit in die Untersuchung einbezogen. Das Ergebnis der Auslegung soll schon hier angedeutet werden: Die von Sokrates begrifflich gefaßte philosophische Interpretationskunst, die sich als verstanden sehen will, hat zwei zentrale Forderungen zu erfüllen. Sie muß in der Lage sein, sich – erstens – die „Absicht“ (
) des Dichters selbst interpretativ zu erarbeiten (vgl. insbes. Kap. 2.1.1 und 2.1.3), ohne dabei der idèe fixe der einen richtigen Interpretation zu verfallen (Kap. 2.1.4), und – zweitens – diese
im kritischen Gespräch auch anderen mitzuteilen (vgl. insbes. Kap. 2.1.6). Der Fähigkeit, die eigene Interpretation in konkreten Vermittlungssituationen argumentativ ausweisen und rechtfertigen zu können ( ), kommt dabei die zentrale Rolle zu. Der merkwürdige Clou dieses Idealentwurfs der Dichterauslegung liegt nun allerdings darin, daß die Kriterien der philosophischen Interpretationskunst so hoch angesetzt sind, daß jede Dichterauslegung in praxi notwendigerweise an diesen Kriterien scheitern muß: Von dem idealen Interpreten wird verlangt, daß er über einen Bereich Rechenschaft gibt, der Rechenschaftsgabe gar nicht zuläßt (vgl. insbes. Kap. 2.1.9). Im zweiten Unterkapitel des ersten Hauptteils (Kap. 2.2) soll die These, daß Platon den philosophischen Idealentwurf der Dichterauslegung mit dem Gegenbild einer sophistischen Dichterauslegung konfrontiert, zunächst durch den Nachweis plausibel gemacht werden, daß der Rhapsode Ion, nach dem der gleichnamige Dialog benannt ist, – entgegen der gängigen Lesart – nicht als Enthusiast, sondern als Sophist zu verstehen ist (Kap. 2.2.1). Bei diesem Nachweis sind auch indirekte literarische Hinweise Platons – wie der Vergleich Ions mit Proteus oder der Topos vom Verbergen des Wissens – zu be-
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achten und die im Text genannten „Kollegen“ Ions – Metrodor von Lampsakos, Stesimbrotos von Thasos und Glaukon – genauer in den Blick zu nehmen (Kap. 2.2.3 bis 2.2.6). Als Ergebnis der Auslegung läßt sich festhalten, daß Ions sophistische Dichterauslegungen als heuchlerische Lobreden (vgl. insbes. Kap. 2.2.2) charakterisiert werden, die sich in keiner Weise um die Absicht des auszulegenden Dichters kümmern, sondern allein den Zwecken des selbsternannten Interpreten dienen. Das signifikante Stigma der sophistischen Dichterauslegung wird entsprechend darin erkannt, daß sie zwar den Rang einer beansprucht, sich aber nicht als argumentativ auszuweisen vermag, so daß ihr nur der Status einer philosophisch nicht zu verantwortenden zuzugestehen ist (Kap. 2.2.7). Wie bereits in Sokrates’ Idealentwurf einer philosophischen Auslegungskunst kommt auch im Konzept sophistischer Dichterauslegung der argumentativen Rechenschaftsgabe, dem , entscheidende Bedeutung zu: Wegen seines Unvermögens nämlich, das von ihm Gesagte und Behauptete auf kritische Nachfragen hin zu rechtfertigen, sieht sich der sophistische Interpret aus philosophischer Perspektive heraus scharf attackiert. Das Gegenbild einer enthusiastischen Dichterauslegung wird schließlich im dritten und letzten Kapitel des ersten Hauptteils (Kap. 2.3) thematisiert. Dieses Kapitel, das Platons Auseinandersetzung mit dem
– von der Apologie und dem Ion über den Menon und den Phaidros bis hin zum Timaios und den Nomoi – nachzeichnet, kann durchaus auch als eigenständige Abhandlung gelesen werden. Doch im Kontext der vorliegenden Arbeit soll die Untersuchung den besonderen Nachweis erbringen, daß nach Platon die enthusiastische Dichterauslegung mit demselben Stigma behaftet ist wie die sophistische: Beiden mangelt prinzipiell die Fähigkeit, die in der Interpretation aufgestellten Behauptungen argumentativ zu rechtfertigen. Die mit dieser Feststellung verbundene erkenntnistheoretische Dimension wird gerade in der im Menon vorgenommenen Deutung der Politiker als Enthusiasten spürbar (Kap. 2.3.5): Der Enthusiast gerät bestenfalls in den Zustand wahrer Meinung ( ), nicht aber in den eines begründbaren Wissens ( ). Noch radikaler wird dem enthusiastischen Rhapsoden des Ion die Fähigkeit zum abgestritten (Kap. 2.3.1 bis 2.3.3): Der Mensch, der sich im Zustand des
befindet, ist ganz vom Gott in Besitz genommen und selbst zum vernunft- und willenlosen Werkzeug geworden. Seiner Vernunft () beraubt kann der Enthusiast nicht um die Aussagen wissen, die der Gott aus seinem Munde zu vernehmen gibt, noch kann er sie rechtfertigen. Bei der Auslegung des Timaios (Kap. 2.3.6) lernen wir
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den interessanten Versuch kennen, den aus philosophischer Sicht heraus brauchbar und kontrollierbar werden zu lassen – durch eine Art von Arbeitsteilung zwischen Propheten, die im Vollbesitz ihrer Vernunft sind, und Sehern, die als Enthusiasten ihre Vernunft notwendig verlieren müssen. Diese ungleiche Kooperation von enthusiastischen und nicht-enthusiastischen Vermögen wird uns wiederbegegnen bei den Gesetzesauslegern, die in den Nomoi mit den wichtigen Auslegungs- und Konkretisierungsaufgaben betraut werden (Kap. 2.3.7). Den Abschluß des Kapitels bilden – gegen die chronologische Ordnung der Dialoge – die vier Arten des , die Sokrates im Phaidros (Kap. 2.3.8) aufführt. Hier wird sich zeigen, daß sich der spezifisch philosophische gerade durch seine Fähigkeit, eigene Behauptungen argumentativ auszuweisen, von allen anderen Arten des fundamental unterscheidet. Damit führt uns das Gegenbild der enthusiastischen Dichterauslegung am Ende zurück zu dem Entwurf der philosophischen Auslegungskunst, der diese Fähigkeit zum
auch auf die Gefahr hin zugedacht wird, daß dann eine ihr entsprechende Interpretationspraxis gar nicht mehr möglich erscheint (Kap. 2.3.9). Verschiedene Motive sind verantwortlich dafür, daß auch Homer, Euripides und Aristoteles mit in die Auslegung des platonischen Begriffs einbezogen werden: Eine kurze Erinnerung an das Konzept des , wie es in den Epen Homers zu finden ist, kann zeigen, daß sich Platon vom traditionellen Konzept, das den keineswegs vom Verlust der Vernunft abhängig sieht, distanziert und den in recht polemischer Weise vorführt (Kap. 2.3.2). Durch einen Blick auf die Bakchen des Euripides (Kap. 2.3.3) soll dagegen der v. a. durch die Ambivalenz von göttlicher Gabe und Gefahr geprägte Vorbegriff des deutlich gemacht werden, den Platon bei seinen zeitgenössischen Lesern wohl voraussetzen konnte. Mit Hilfe einer Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Werkzeugen, die aus der aristotelischen Politik zu gewinnen ist, läßt sich der Organon-Charakter, der den Enthusiasten nach Platon auszeichnet, präziser bestimmen (Kap. 2.3.4). Der zweite Hauptteil der Arbeit (Kap. 3) setzt sich mit der Praxis der Dichterauslegung auseinander, die Platon seine Dialogfiguren im Gespräch demonstrieren läßt. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet hierbei der bekanntlich einzige Fall einer längeren und detailliert ausgeführten Dichterauslegung in Platons Dialogen: die Simonides-Interpretation im Protagoras. Ehe diese Interpretation selbst zu betrachten ist, wird sie in den größeren Kontext des Gesprächs integriert (Kap. 3.1.1). Von Interesse ist hier insbesondere das der Dichterauslegung unmittelbar vorangehende gesprächstheoretische Intermez-
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zo, in dem ein heftiger Streit um die Frage geführt wird, ob im Gespräch der Lang- oder aber der Kurzredeform der Vorzug zu geben ist. Im Rahmen der sich in zwei Runden abspielenden Simonides-Interpretation präsentiert uns Platon mehrere Auslegungspraktiken, die sich zwar in mancher Hinsicht voneinander unterscheiden, aber doch allesamt durch ein eklatantes Desinteresse an der des Dichters vereint sind (Kap. 3.1.2 und 3.1.3). Dies gilt auch für die Interpretationsweise, die Platon seinen Sokrates an den Tag legen läßt. Damit stehen wir vor dem Ergebnis, daß sich nicht einmal der Dialektiker Sokrates in seiner Deutungspraxis an den Zielvorgaben orientiert, die er in seinen interpretationstheoretischen Überlegungen zu einer philosophischen Auslegungskunst proklamiert. Eine kurze Rückerinnerung an den jede konkrete Interpretationspraxis notwendigerweise überfordernden Idealbegriff der Interpretation wird zeigen, daß dieses Ergebnis gar nicht überraschend, sondern im Grunde nur konsequent ist. Abgerundet wird das Bild schließlich durch die unterschiedlichen Stellungnahmen, die Protagoras zu Beginn und Sokrates nach dem Ende der Simonides-Interpretation zur Dichterauslegung als einer möglichen Form der Gesprächsführung abgeben (Kap. 3.1.4): Während Protagoras in der Dichterauslegung die bevorzugte Gesprächsform gebildeter Menschen erblickt, vergleicht Sokrates die Interpretation mit den Symposien ungebildeter Tölpel. Im zweiten und letzten Kapitel des zweiten Hauptteils (Kap. 3.2) wird anhand einiger ausgewählter Beispiele – aus dem Hippias Maior (Kap. 3.2.1), dem Lysis (Kap. 3.2.2) und dem Menon (Kap. 3.2.3) – gezeigt, daß Sokrates, wenn er im Gespräch auf die Werke der Dichter zu sprechen kommt, dabei keineswegs das Ziel verfolgt, sich die des Dichters interpretativ zu erarbeiten. Daher werden wir mit dem Problem konfrontiert, warum sich der platonische Sokrates – trotz der Unmöglichkeit, die Werke der Dichter in einer seinem eigenen Idealbegriff der Interpretation entsprechenden Weise zu deuten – in seiner Gesprächspraxis überhaupt mit Dichtung befaßt. Geklärt wird dieses Problem mit Hilfe einer Differenzierung, die zum einen zwischen Interpretation und Gebrauch von Dichtung, und zum anderen zwischen sophistischem und philosophischem Gebrauch von Dichtung unterscheidet. Den Schlußteil der Arbeit bilden Überlegungen zum Begriff des (Kap. 4), der im Bereich der Interpretationstheorie wie im Bereich der Interpretationspraxis immer wieder als entscheidendes Kriterium fungieren mußte. Vor dem Hintergrund der zuvor etablierten Differenzierung zwischen der Interpretation eines Dichters und dem Gebrauch von Dichtung werden nun zwei Formen des unterschieden: Während die Interpretation ausweisen muß, daß sie sich die intentio auctoris erarbeiten konn-
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te (Kap. 4.1), beruft sich der philosophische Gebrauch von Dichtung auf eine gesprächstheoretisch legitimierbare intentio lectoris (Kap. 4.2). Die Frage, in welchem Verhältnis der Komplex „Dichterauslegung“ zu dem Komplex „Textauslegung“ steht, führt uns am Ende zu einem Problem der Selbstapplikation (Kap. 4.3): Was folgt aus den interpretations- und schriftkritischen Positionen, die im Werk Platons zu finden sind, für Platons eigenes Selbstverständnis als Autor und Literat? Wie bei dieser Frage nicht anders zu erwarten, kann am Ende der vorliegenden Arbeit also nur eines stehen: Spekulation.4
4 Eine kurze Bemerkung zu der Zitationsweise, die in der vorliegenden Arbeit Verwendung findet: Die antiken Autoren werden der Konvention entsprechend zitiert, d. h. Platon nach der Stephanus-Zählung, Aristoteles nach der Bekker-Zählung usw. Die griechischen Platon-Zitate stammen aus der Oxforder Werkausgabe: Platonis Opera, Bd. I-V. Für die Dialoge Euthyphron, Kriton, Phaidon, Kratylos, Theaitetos, Sophistes und Politikos sowie für die Apologie konnte die Neubearbeitung des ersten Bandes der Oxforder Werkausgabe verwendet werden: Platonis Opera, Bd. I, hg. von E. A. Duke u. a., Oxford 1995. Werden andere antike Autoren im Original zitiert, so wird die verwendete Edition jeweils bei der ersten Zitation benannt. Bei Zitaten in deutscher Übersetzung wird der Übersetzer und die Ausgabe, der die Übersetzung entnommen ist, ebenfalls bei der ersten Zitation angegeben (vgl. auch die Auflistung aller verwendeten Editionen und Übersetzungen im Literaturverzeichnis). Sekundärliteratur wird nach dem sog. Harvard-System (Autorname Veröffentlichungsjahr, Seitenzahl) zitiert. Der genauen Entschlüsselung dient das Literaturverzeichnis.
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen 1.1
Die Begriffe „Dialog“ und „Gespräch“
Der Begriff „Dialog“ wird, wie die folgenden vier Beispielsätze kurz anzeigen sollen, im Rahmen der Platonforschung1 recht uneinheitlich gebraucht. (a)
Platon hat dem Phaidros die Form eines Dialogs gegeben.
(b)
Sokrates befindet sich im Dialog mit Phaidros.
(c)
Platon hat keine Traktate, sondern Dialoge geschrieben.
(d)
Zwischen Sokrates und Kallikles kommt es nicht zum Dialog, sondern nur zum verbalen Schlagabtausch.
Wird in den Sätzen (a) und (b) der Begriff „Dialog“ in derselben Weise verwendet? Beginnen wir mit einer Substitutionsprobe: In Satz (b) ist „Dialog“ durch den Begriff „Gespräch“ ersetzbar, ohne daß eine auffällige Bedeutungsveränderung zu verzeichnen wäre: (b*) Sokrates befindet sich im Gespräch mit Phaidros. Läßt sich auch in Satz (a) „Dialog“ durch „Gespräch“ substituieren? (a*) Platon hat dem Phaidros die Form eines Gesprächs gegeben. Satz (a*) klingt vielleicht etwas ungewohnt, ist aber in der deutschsprachigen Platonforschung durchaus in ähnlicher Weise anzutreffen.2 Allerdings bleibt der Verdacht, daß die vorgeführte Substituierbarkeit nicht allzu aussagekräftig ist, weil vielleicht nicht nur der Begriff „Dialog“ in Satz (a) anders als in Satz (b), sondern auch der Begriff „Gespräch“ in Satz (a*) anders als in Satz (b*) 1 Betrachtet man die Begriffsverwendung auch außerhalb der Platonforschung, dann zeigen sich zahlreiche weitere Möglichkeiten, die hier aber nicht ausgeführt werden müssen. Man denke nur an die Aussage eines deutschen Außenministers, Deutschland befinde sich mit dem Iran in einem „kritischen Dialog“ (vgl. Badische Zeitung, Do., 6.8.1998, POH 1: „Aufforderung zum Dialog der Kulturen“ ). 2 Heitsch 1992 b, S. 12: „Wie alle wissen, hat Platon fast jedem seiner Werke die Form eines Gesprächs gegeben, das er Sokrates mit einem oder mehreren Partnern führen läßt.“
10
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
verwendet wird. Daß hier in der Tat eine nicht zu unterschätzende Spannung besteht, zeigt der Vergleich von Satz (c) mit Satz (d). Dabei ist zunächst zu konstatieren, daß sich die Begriffsverwendung von „Dialog“ in Satz (a) und (c) auf der einen Seite und Satz (b) und (d) auf der anderen Seite jeweils entsprechen. Begeben wir uns nun auf die Suche nach möglichen Gegenbegriffen zu „Dialog“: In Satz (c) – wie auch in Satz (a) – stellt „Traktat“ einen sinnvollen Gegenbegriff zu „Dialog“ dar. Offensichtlich ist „Traktat“ aber kein sinnvoller Gegenbegriff zum Begriff „Dialog“, wie er in Satz (d) Verwendung findet. Jedenfalls ist der folgende Satz nicht auf eine ebenso leichte Weise verstehbar wie die Sätze (a) bis (d): (d*) Zwischen Sokrates und Kallikles kommt es nicht zum Dialog, sondern nur zum Traktat. Damit können wir als erstes vorläufiges Ergebnis festhalten, daß in den Sätzen (a) und (c) der Begriff „Dialog“ auf eine Weise gebraucht wird, die „Traktat“ als Gegenbegriff plausibel erscheinen läßt, während für die Begriffsverwendung in den Sätzen (b) und (d) nicht „Traktat“, sondern – wie Satz (d) zeigt – „Streitgespräch“ einen brauchbaren Gegenbegriff darstellt.3 Um die bislang nur angedeuteten Unterschiede zwischen den beiden Begriffsverwendungen präziser fassen zu können, ist es m. E. hilfreich, die von Ludwig Söll4 eingeführte und von Peter Koch und Wulf Oesterreicher etablierte Unterscheidung zwischen Mündlichkeit oder Schriftlichkeit als Medium und Mündlichkeit oder Schriftlichkeit als Konzeption heranzuziehen.5 Zum Verständnis dieser Unterscheidung sind einige längere Ausführungen allerdings unumgänglich. Im Bereich des Mediums stellen phonischer und graphischer Code die beiden Realisierungstypen sprachlicher Äußerungen dar, während sich im Hinblick auf die Konzeption sprachlicher Äußerungen idealtypisch die beiden Modi „gesprochen“ und „geschrieben“ unterscheiden 3 „Streitgespräch“ kann zwar – wie Satz (d) nahelegt – in bestimmten Kontexten einen sinnvollen Gegenbegriff zu „Dialog“ abgeben, was aber nicht heißt, daß man nicht auch Formen des Streitgesprächs, die nicht in einen verbalen Schlagabtausch abdriften, als dialogisch verstehen und entsprechend von einer „Kunst des vernünftigen Streits“ sprechen kann. Werden „Streitgespräch“ und „Dialog“ als Gegenbegriffe gebraucht, dann ist die Rede von unterschiedlichen Gesprächskonzeptionen. Dagegen kann man die Gesprächskonzeption, die man mit „Dialog“ bezeichnet, im Rahmen einer anderen Sprachregelung auch so breit anlegen, daß der Begriff „Streitgespräch“ nur mehr eine Sonderform von „Dialog“ bezeichnet. 4 Vgl. Söll 3 1985. 5 Die Differenzierung zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit / Schriftlichkeit wird sich auch in einem späteren Teil der Arbeit (vgl. insbes. Kap. 4) im Zusammenhang mit der sog. Schriftkritik des Phaidros als wichtiges terminologisches Werkzeug erweisen.
1.1 Die Begriffe „Dialog“ und „Gespräch“
11
lassen. Mediale Mündlichkeit (phonischer Code) und mediale Schriftlichkeit (graphischer Code) stehen im Verhältnis einer vollständigen Disjunktion zueinander: Eine sprachliche Äußerung erfolgt entweder im Medium der Schrift oder aber im Medium des Mündlichen.6 Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit schließen sich dagegen nicht wechselseitig aus, sondern bilden ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten, eine Skala mit gleitenden Übergängen. Durch welche Merkmale zeichnen sich mündliche und schriftliche Konzeption aus? Indizien finden sich zum einen in textexternen Kommunikationsbedingungen: Die Kombination ‚Dialog‘, ‚freier Sprecherwechsel‘, ‚Vertrautheit der Partner‘, ‚face-to-face-Interaktion‘, ‚freie Themenentwicklung‘, ‚keine Öffentlichkeit‘, ‚Spontaneität‘, ‚starkes Beteiligtsein‘, ‚Situationsverschränkung‘, etc. charakterisiert den Pol ‚gesprochen‘. Die ihm entsprechende Kommunikationsform läßt sich am besten auf den Begriff Sprache der Nähe bringen.7
Neben den Kommunikationsbedingungen weisen auch bestimmte kommunikative Versprachlichungsstrategien auf mündliche Konzeption (Sprache der Nähe) bzw. schriftliche Konzeption (Sprache der Distanz) hin: So zeichnen sich mündlich konzipierte Sprachäußerungen durch Prozeßhaftigkeit und Vorläufigkeit sowie durch ein geringeres Maß an Informationsdichte, Kompaktheit, Integration, Komplexität, Elaboriertheit und Planung aus.8 Mit dem skalaren Charakter konzeptioneller Mündlichkeit / Schriftlichkeit geht der Umstand einher, daß auch die typischen Kennzeichen der jeweiligen Konzeption nur in einem mehr oder weniger hohen Grad vorliegen. Die signifikanten Merkmale etwa der mündlichen Konzeption dürfen daher nicht als eine Liste von notwendigen Voraussetzungen verstanden werden, bei deren Erfüllung erst von mündlicher Konzeption zu sprechen wäre: Auch wenn bei einer konkreten sprachlichen Äußerung nicht alle genannten Merkmale aufzufinden sind, kann es sich doch sehr wohl um eine konzeptionell mündliche 6 Gegen die These von Koch und Oesterreicher, daß mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit zueinander im Verhältnis einer vollständigen Disjunktion stehen, können allerdings kritische Anfragen formuliert werden. (1) Zunächst hinsichtlich der Vollständigkeit der Medien bzw. Codes: Sind Körpersprache, Zeichensprache u. ä. von vornherein ausgeschlossen oder zu bloßen Hilfsmitteln des phonischen Codes degradiert? Oder stellt eine Äußerung – z. B. im Medium der Taubstummensprache – keine „sprachliche“ Äußerung dar? (2) Und weiter hinsichtlich der Sauberkeit der Disjunktion: Stellen Vorträge mit „Hand-out“ oder Overhead-Projektor-Schriftfolien nicht komplexe sprachliche Äußerungen dar, die zugleich im mündlichen wie im schriftlichen Medium erfolgen und nicht in zwei Äußerungen (eine medial mündlich, die andere medial schriftlich) zergliedert werden können? 7 Koch / Oesterreicher 1985, S. 21. 8 a.a.O. S. 23.
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Äußerung handeln. Die angeführten Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien sind sicherlich hilfreich, einem vagen Vorbegriff von mündlicher / schriftlicher Konzeption eine schärfere Kontur zu geben, eindeutige Kriterien für die Identifizierung einer Konzeption als „mündlich“ oder aber „schriftlich“ können und sollen sie nicht sein. Wer die Forderung nach solchen Kriterien erhebt, zeigt durch seine Forderung, daß er den skalaren Charakter der Konzeptionalität nicht berücksichtigt. Die graduell unterschiedlich in Erscheinung tretenden Merkmale können lediglich auf ebenfalls graduell divergierende Konzeptionen verweisen. Wenn durch Bezug auf die genannten Merkmale konkrete sprachliche Äußerungen als „eher mündlich konzipiert“, „weitgehend schriftlich konzipiert“ u. ä. beschrieben werden können, ist der Zweck der Kennzeichen vollkommen erfüllt. Konzeptionelle und mediale Mündlichkeit / Schriftlichkeit sind prinzipiell logisch unabhängig voneinander, da keine logischen Beziehungen, insbesondere keine Implikationsverhältnisse, aufzufinden sind: So weist ein Vortrag, der exakt entworfen, genau gegliedert und auf ein bestimmtes Ziel hin angelegt ist, ungeachtet seiner medial mündlichen Realisierung einen hohen Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit auf. Dagegen kann ein in der Zeitung abgedrucktes Interview als Beispiel für die gegenläufige Konstellation angeführt werden: weitgehend mündliche Konzeption bei schriftlicher Realisierung. Häufiger scheinen allerdings Kombinationen von mündlicher Konzeption und Realisierung im phonischen Code auf der einen Seite bzw. schriftlicher Konzeption und Realisierung im schriftlichen Code auf der anderen Seite. Entscheidend aber ist, daß diese besonderen Affinitäten kein Argument gegen die prinzipielle Autonomie von Konzeption und Medium abgeben. Für die Beschreibung einer konkreten sprachlichen Äußerung kann man daher das abgebildete Kreuzdiagramm verwenden, das keine der vier Kombinationsmöglichkeiten von Medium und Konzeption ausschließt. Konzeption. Mündlichkeit
Konzeption. Schriftlichkeit
Mediale Mündlichkeit
X
X
Mediale Schriftlichkeit
X
X
Durch die Differenzierung zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit / Schriftlichkeit ist das terminologische Instrumentarium gewonnen, mit dessen Hilfe die oben angezeigten Verwendungsweisen des Begriffs „Dialog“ in ihrer Unterschiedlichkeit genauer zu bestimmen sind: (I) Unter „Dialog“ wird häufig – wie in den Sätzen (b) und (d) – eine bestimmte Form der
1.1 Die Begriffe „Dialog“ und „Gespräch“
13
Gesprächsführung verstanden. Dabei kann je nach eigener Zwecksetzung eine Abgrenzung gegenüber anderen Formen der Gesprächsführung erfolgen, die meist mit einer Wertschätzung des Dialogs verbunden ist: Man befindet sich in einem Dialog und nicht (bloß) in einem Streitgespräch, nicht (bloß) in einem Wettergespräch o. ä. Unabhängig von der genaueren inhaltlichen Explikation gilt ein Dialog nach diesem Verständnis als etwas, was der medialen Mündlichkeit zugehört. (II) Unter „Dialog“ kann aber auch wie in den Sätzen (a) und (c) eine bestimmte literarische Gattung verstanden werden, die gegen andere literarische Gattungen, v. a. gegen den Traktat, abgegrenzt wird. Nach diesem Verständnis ist ein Dialog nichts, was der medialen Mündlichkeit, sondern etwas, was der medialen Schriftlichkeit zugehört. Allerdings zeichnet sich ein Dialog gerade dadurch aus, daß er ein Gespräch, d. i. ein Ereignis medialer Mündlichkeit, fingiert.9 Vielleicht liegt eben hier der Grund für die konstatierte Ambiguität des Begriffs. In der vorliegenden Arbeit wird der Terminus „Dialog“ ausschließlich verwendet, um die angesprochene literarische Gattung zu bezeichnen. Wenn im weiteren von „Dialog“ die Rede ist, steht also etwas medial Schriftliches im Blick. Dagegen bietet sich zur Bezeichnung der Unterredungen, die im schriftlichen Medium des Dialogs als medial mündlich fingiert werden, ein anderer Begriff an, der – anders als gewöhnlich10 – für die mediale Mündlichkeit reserviert werden soll, nämlich schlicht: „Gespräch“. Nach dieser Begriffsregelung hat Platon also im strengen Sinne keine „sokratischen Gespräche“ geschrieben, eben weil sich Gespräche als medial mündliche nicht schreiben, 9 Das Gespräch ist nicht das einzige medial mündliche Ereignis, das in Schriften der philosophischen Literatur fiktional gestaltet wird. Ernst Tugendhat etwa bevorzugt eine literarische Gattung, die kein durch Dialogizität geprägtes Gespräch, sondern die durch Monologizität bestimmte Vorlesung fingiert. Für die Wahl dieser Darstellungsform sprechen kommunikations- und rezeptionstheoretische Überlegungen: „Ich zögerte zunächst, noch einmal ein Buch zu veröffentlichen, das aus fiktiven Vorlesungen besteht. Aber ich habe dann gesehen, daß das die für mich angemessenste Mitteilungsform ist.“ (Tugendhat 2 1994, S. 9) Im Rahmen der heutigen philosophischen Fachliteratur ist es nicht gerade üblich, einen Dialog als wissenschaftliche Arbeit zu begreifen, die etwa als Dissertation eingereicht werden könnte (vgl. allerdings das im Stile eines Epidialogs zum Timaios verfaßte Resümee der Dissertation Mischa von Pergers, in von Perger 1997, S. 225-241). Zwar setzt man sich wissenschaftlich mit Dialogen auseinander, schreibt dabei selbst aber gerade keine Dialoge. Anders als das fingierte Gespräch muß sich die fingierte Vorlesung bemerkenswerterweise nicht mit dem latenten Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit auseinandersetzen. Der Grund scheint mir darin zu liegen, daß hierfür nicht der fiktive Charakter der dargestellten mündlichen Handlung ausschlaggebend ist, sondern der Wunsch des Lesers, für das Ausgesagte eine aussagende Instanz verantwortlich zu wissen, die das Ausgesagte selbst mit Wahrheitsanspruch behauptet. 10 Vgl. den Beispielsatz (a*).
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
wohl aber durch die Schrift fingieren lassen. Platon hat nicht Gespräche, sondern Dialoge geschrieben: Fiktionen medial mündlicher Gespräche, die selbst medial schriftlich sind.11 Sind die medial schriftlich vorliegenden platonischen Dialoge nun auch im Hinblick auf die Konzeption der Schriftlichkeit oder doch eher der Mündlichkeit zuzurechnen? Auf jeden Fall lassen sich Kommunikationsbedingungen, die als typisch für die Sprache der Nähe anzusehen sind, in den platonischen Dialogen ohne Schwierigkeiten finden. Ob und inwieweit eine einzelne Kommunikationsbedingung jeweils erfüllt ist, hängt natürlich in hohem Maße vom konkreten Dialog ab und kann – man vergleiche etwa den Euthydemos mit den Nomoi – großen Schwankungen unterliegen. Zu konstatieren ist bei vielen Dialogen auch die stark unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Kommunikationsbedingungen: So kann das „starke Beteiligtsein“ der Dialogfiguren unübersehbar sein, obgleich von einer „Vertrautheit der Partner“ nichts zu spüren ist. Das Fehlen der einen Kommunikationsbedingung wird so durch die deutliche Präsenz einer anderen wettgemacht. Mit Blick auf die Kommunikationsbedingungen können die platonischen Dialoge also durchaus als Exempel für die Sprache der Nähe verstanden werden. Sehr viel seltener sind in den Dialogen allerdings jene kommunikativen Versprachlichungsstrategien zu finden, die nach Koch und Oesterreicher gleichfalls signifikante Merkmale für die konzeptionelle Mündlichkeit darstellen. In logischen Argumentationsanalysen zeigt sich, wie gut Platon den strukturellen Aufbau seiner Schriften durchdacht hat: Von einem geringen Maß an Informationsdichte, Kompaktheit, Integration, Komplexität, Elaboriertheit und Planung12 kann keine Rede sein. Der platonische Dialog läßt sich auf der Skala „konzeptionell mündlich – konzeptionell schriftlich“ nicht so leicht orten: Es scheint, als müsse er unter Rücksicht auf die Kommunikationsbedingungen als Sprache der Nähe, unter Rücksicht auf die Versprachlichungsstrategien dagegen als Sprache der Ferne aufgefaßt werden.
11 Der Erkenntnis, daß bestimmte konzeptionelle Eigenschaften, die bei medial mündlichen Gesprächen durchaus üblich sind und uns auch als angemessen erscheinen, bei schriftlichen Fiktionen solcher Gespräche häufig deplaziert wirken, hat bereits Friedrich Nietzsche in der selbst dialogisch verfaßten Eingangspassage von Der Wanderer und sein Schatten (Chemnitz 1880) Ausdruck verliehen: „Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspectiven: Alles ist zu lang oder zu kurz.“ (Kritische Gesamtausgabe, Werke IV 3, S. 177) 12 Koch / Oesterreicher 1985, S. 23.
1.2 Die platonischen Dialoge: literarische oder philosophische Schriften?
15
Die Ursache des angezeigten Problems liegt in der Tatsache, daß – wie oben ausgeführt – der medial schriftlich vorliegende Dialog ein Ereignis medialer Mündlichkeit fingiert. Die konstatierten Kommunikationsbedingungen zeichnen nämlich nicht den schriftlichen Dialog, sondern das durch den Dialog fiktional gestaltete Gespräch aus, während die genannten Versprachlichungsstrategien auf den Dialog selbst bezogen sind. Kurz: Die Kommunikationsbedingungen, die auf die Sprache der Nähe schließen lassen, sind fingiert. Dagegen stellen die genannten Versprachlichungsstrategien, die auf die Sprache der Ferne schließen lassen, die Mittel dar, mit deren Hilfe diese Fiktion einer Sprache der Nähe erzeugt wird. Während das im Dialog inszenierte Gespräch – mit Blick auf die Kommunikationsbedingungen – als Fall einer Sprache der Nähe zu verstehen ist, kann der Dialog selbst – mit Blick auf die Versprachlichungsstrategien – als Fall einer Sprache der Ferne aufgefaßt werden. Nach diesen terminologischen Überlegungen zu den Begriffen „Dialog“ und „Gespräch“ sollen nun historisch situierte hermeneutische Überlegungen zur Dialogauslegung vorgestellt werden, die in ihrer Begrifflichkeit von der etablierten Differenzierung zwischen dem medial schriftlichem Dialog auf der einen Seite und dem fingierten medial mündlichen Gespräch auf der anderen Seite Gebrauch machen.
1.2 Die platonischen Dialoge: literarische oder philosophische Schriften? Platon ist beides zugleich: „Philosoph und Künstler“13 . Auch seine Dialoge sind beides zugleich: „philosophische Werke von hohem Rang“ und „literarische Kunstwerke“14 . Nicht ungern möchte man diesen Behauptungen zustimmen. Doch rasch werden auch Zweifel laut: Wird man dem Selbstverständnis Platons gerecht, wenn man gerade diesen Philosophen als Dichter und seine Schriften als literarische Werke begreift? Wer weiß, welch harte Kritik an der Dichtung in den platonischen Dialogen zu finden ist, wird sich fragen, ob Platon in seinen eigenen Schriften denn in der Tat literarische Werke gesehen hat, überhaupt sehen konnte. Hat sich Platon als Philosoph nicht dezidiert von den Künstlern abgegrenzt? Ist der Dichter in seinen Augen nicht eine Spielart des Sophisten und damit Manifestation des Anti-Philosophen? Das Urteil, 13 Schleiermacher 2 1817, S. 14. Wieder abgedruckt in: Gaiser 1969, S. 10. – Vgl. Wyller 1958, S. 20: „Platon ist ein Dichter-Philosoph, was leicht auszusprechen, aber schwer zu verstehen ist.“ 14 Dalfen 1974, S. 5.
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Platons Dialoge seien sowohl philosophische als auch literarische Schriften, scheint einem spezifisch modernen Verständnis von Literatur und Philosophie verpflichtet und von der Auffassung, die Platon und seine Zeitgenossen den Dialogen entgegenbrachten, weit entfernt zu sein. Um dem angezeigten Modernismus-Verdacht bereits vom methodischen Ansatz her entgegenzuarbeiten, sollen im folgenden problembezogene Überlegungen zur Dialoghermeneutik nicht im Sinne einer modernen oder sich ahistorisch gebenden dramen- bzw. dialogtheoretischen Systematik entfaltet, sondern historisch situiert werden. Dabei ist in einem ersten, den Modernismus-Vorwurf zunächst stärkenden Schritt die Ablehnung des literarischen Charakters der platonischen Dialoge durch den spätantiken Philosophiehistoriker Diogenes Laertios zu betrachten, der sich schroff gegen die Klassifikation philosophischer Schriften nach literaturwissenschaftlichen Kriterien wendet (Kap. 1.3). Um zu zeigen, daß Platons eigenes Verständnis seiner Schriften dem des Diogenes Laertios keineswegs entspricht, gehen wir in Rahmengespräch und Komposition des Theaitetos auf Spurensuche nach versteckten Hinweisen Platons zur eigenen Dialogtechnik und literarischen Selbstverständigung (Kap. 1.4). Schließlich wird der Versuch unternommen, Aristoteles’ Auffassung der poietischen Form des Dialogs für die eigene hermeneutisch-methodologische Position fruchtbar zu machen (Kap. 1.5). Die Pointe der Ausführung soll in dem Nachweis liegen, daß der Modernismus-Vorwurf, so man ihn überhaupt erheben will, das Urteil, Platons Dialoge seien keine literarische Schriften, weit eher trifft als das gegenteilige Urteil, nach dem Platons Dialoge sehr wohl literarische Schriften sind.
1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge In De vita philosophorum berichtet Diogenes Laertios, daß einige spätantike Interpreten die Dialoge Platons unter Rücksicht auf ihre literarische Stilform klassifiziert und in dramatische ( ) (1.1), erzählende ( ) (1.2) und „gemischte“ ( ) (1.3) unterschieden haben.15 Diogenes Laertios steht diesen Einteilungskriterien ablehnend gegenüber. Wohl in 15 Zum folgenden vgl. insbes. Diogenes Laertios III 49-51. Die griechischen DiogenesZitate sind der Edition von Long 1964 entnommen. Die Diogenes-Zitate in deutscher Übersetzung stammen von Fritz Jürß (in Jürß 1998). – Die antike Einteilung der platonischen Dialoge in epische, dramatische und „gemischte“ hat Joachim Dalfen in Erinnerung gerufen und für die Interpretation verschiedener Dialoge fruchtbar gemacht. Vgl. Dalfen 1975, insbes. S. 172 f., Dalfen 1979 / 80, insbes. S. 43 und Dalfen 1989, insbes. S. 74.
1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge
17
Erinnerung an Platons v. a. in den Büchern II, III und X der Politeia geführte Auseinandersetzung mit der Dichtung im allgemeinen und der attischen Tragödie im besonderen merkt Diogenes Laertios kritisch an, daß jene, die sich von diesem stilistischen Einteilungsschema (1) leiten ließen, eher auf literarische ( ) als auf philosophische ( ) Aspekte achteten. Die platonischen Dialoge aber sind nach Diogenes Laertios nicht als literarische, sondern rein als philosophische Schriften zu verstehen, die entsprechend nach philosophischen und nicht nach literarischen Aspekten eingeteilt werden müssen. Ich ziehe es vor, hier mit „literarisch“ und nicht mit „tragisch“ zu übersetzen, da der Begriff „tragisch“ im Sinne traditioneller Poetik als Unterbegriff zu „dramatisch“ verstanden wird, während in unserem Kontext einen umfassenderen Begriff als darstellt: Nur Schriften, die (und nicht etwa
) sind, dürfen nach Diogenes Laertios anhand stilistischer Kriterien gegliedert werden, entsprechend sind die eine Unterart der , der literarischen Schriften. Daß Diogenes Laertios den Begriff als Bezeichnung für alle literarischen Schriften wählt, ist m. E. eine Reminiszenz an die Dichterkritik der Politeia, in der die attische Tragödie als Dichtung par excellence behandelt wird. Auch in der aristotelischen Poetik nimmt die Tragödie bekanntlich eine dominierende Stellung unter den verschiedenen literarischen Gattungen ein. Bei seiner eigenen Klassifizierung der platonischen Schriften bevorzugt Diogenes Laertios andere Kriterien als die stilistischen: Vor dem Hintergrund einer an Aristoteles angelehnten Disziplinentrennung16 strebt er eine inhaltlich bestimmte Differenzierung an, die einzelne Dialoge je einem spezifischen Gegenstandsbereich zuordnet. Dabei werden Schriften über die Naturphilosophie ( ) (2.1) unterschieden von Schriften über die Logik ( ) (2.2), Schriften über die Ethik () (2.3) und Schriften über die Politik ( ) (2.4). Gegen dieses disziplinenbezogene Einteilungsschema können zwei Vorbehalte ins Spiel gebracht werden, von denen der zweite der entscheidende ist: Erstens: Das Einteilungsschema ist unvollständig. Nach dieser Gliederung kommt etwa die Metaphysik als eigene Disziplin in den
16 Allerdings erweitert Diogenes Laertios die aus der aristotelischen Topik bekannte Dreiteilung von , und , indem er die Politik, ohne hierfür Gründe anzuführen, aus der Ethik ausgliedert. Vgl. Topik I 14 105 b 19-21:
! !" # $ !% & ' ( $ % ( $ % ) (Die Topik wird zitiert nach der Edition von Ross 1958.)
18
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
platonischen Dialogen gar nicht vor. Dieses Problem läßt sich durch die Annahme entschärfen, daß Diogenes Laertios einen so weiten Begriff von Naturphilosophie verwendet, daß die Schriften zur Metaphysik als Unterart der zu verstehen sind. Daß Diogenes Laertios die Naturphilosophie in der Vorsokratik begründet sieht (vgl. III 56) und anscheinend nicht von dem engen aristotelischen Physik-Begriff Gebrauch macht, scheint zunächst für diese Möglichkeit zu sprechen. Doch ist auffällig, daß bei der tetralogisch geordneten Aufzählung aller vermeintlichen Platon-Dialoge (vgl. III 57-60) allein der Timaios zu den gezählt wird. Zweitens: Die platonischen Dialoge lassen sich thematisch nur mit Schwierigkeiten in dieses disziplinenbezogene Raster einfügen. Eine Einteilung der Schriften Platons nach inhaltlich bestimmten Kriterien, die sich der spezifisch aristotelischen Philosophie und der in ihr entwickelten Disziplinentrennung verdanken, kann nicht ohne Gewalt erfolgen.17 Offenbar ist Diogenes Laertios der Illusion eines ahistorischen Klassifikationsschemas nach inhaltlichen Gesichtspunkten erlegen. Für zusätzliche Irritation sorgt, daß sich Diogenes Laertios nicht auf das thematisch orientierte Einteilungsschema (2) beschränkt, sondern zugleich von einer weiteren Klassifikationsmöglichkeit Gebrauch macht, die auf den in den Dialogen herrschenden Gesprächs- und Argumentationsstil ausgerichtet ist: Den auf die Gedankengeburt zielenden Dialogen ( ) (3.1) stellt Diogenes Laertios ausprobierende Dialoge ( ) (3.2), nachweisende Dialoge ( ) (3.3) und widerlegende Dialoge ( ) (3.4) gegenüber. Auch dieses Einteilungsschema sieht sich schnell mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens: Die Vollständigkeit der aufgeführten Dialogtypen ist wieder nicht gewährleistet. Sachliche Gründe, warum nur diese vier Arten benannt werden, sind dem Text nicht zu entnehmen. Weitere gesprächs- bzw. argumentationstheoretisch bestimmte Dialogtypen sind aber durchaus denkbar. Mit Blick auf den Euthydemos ist es z. B. naheliegend, den antilogischen Dialog, der weder als rein anatreptisch noch als rein endeiktisch verstanden werden kann, als einen fünften Typus einzuführen. Zweitens: Im Verlauf eines Dialogs kann der herrschende Gesprächs- bzw. Argumentationsstil durchaus 17 Vgl. auch Jaspers 1957, S. 287: „Was Platon in seinem Scharfsinn entfaltet, ist ergiebig geworden in drei besonderen Denkrichtungen: als Logik (bis zur heutigen mathematischen Logik und Logistik), als Erkenntnistheorie, als Seinsspekulation (Ontologie). Bei Plato aber sind sie ein Ganzes, dessen Trennung (in Logik, Erkenntnistheorie, Ontologie) zwar unumgänglich ist, aber nur im Übergang zur ursprünglichen platonischen Verbundenheit. Denn daß sie bei Platon verbunden sind, bedeutet nicht Unklarheit, sondern die Aufgabe, das nicht zu vergessen, was über jene Gebiete übergreifend, sie alle in sich schließend, das Entscheidende bleibt.“
1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge
19
wechseln. Betrachten wir etwa das erste Buch der Politeia18 , dann weist ein und derselbe Dialog nicht weniger als drei sehr verschiedene Gesprächs- und Argumentationsstile auf, die Einordnung des Gesamtdialogs unter genau eine der oben benannten Arten wird entsprechend schwierig. Damit soll natürlich in keiner Weise in Abrede gestellt werden, daß die Verwendung von Begriffen, die spezifische Gesprächs- und Argumentationsweisen bezeichnen, zur Beschreibung bestimmter Gesprächsphasen und zur Charakterisierung einzelner Kolloquenten für die Interpretation wertvoll ist. Diesen Wert verlieren die Begriffe jedoch dann, wenn man sie zur vereinfachenden Klassifizierung komplexer Dialoge heranzieht, die durch die Anwesenheit unterschiedlicher Kolloquenten, die Präsentation unterschiedlicher Gesprächsstile und die Abfolge unterschiedlicher Gesprächsrunden geprägt sind. Bemerkenswerterweise lehnt Diogenes Laertios das argumentationstheoretisch orientierte Klassifikationsschema nicht ab, obgleich die Gesprächsund Argumentationspraktiken der Dialogfiguren ja nur deshalb als Kriterium überhaupt in Frage kommen, weil der Autor sie zur fiktiven Darstellung gebracht hat. Wegen der Orientierung dieses Einteilungsschemas an den Gesprächs- und Argumentationsstilen ist im Grunde also bereits zugegeben, daß die Dialoge Gesprächshandlungen, d. h. Fiktionen medialer Mündlichkeit, inszenieren, deren performative Aspekte für die Gesamtaussage der Schriften von zentraler Bedeutung sind. Diogenes’ Weigerung, den literarischen Charakter der platonischen Dialoge anzuerkennen und das stilistische Einteilungsverfahren zu akzeptieren, müßte konsequenterweise nicht nur zur Ablehnung des stilistischen, sondern auch zur Ablehnung des gesprächs- und argumentationstheoretischen Einteilungsverfahrens führen, da diesem gleichermaßen die Annahme eines mimetischen, handlungsdarstellenden Charakters der Dialoge zugrundeliegt. Ich hege daher die Vermutung, daß der fleißige Sammler Diogenes Laertios das inhaltliche Einteilungsschema der Dialoge samt der Kritik an dem stilistischen Schema vorgefunden und aufgenommen hat, ohne zu bemerken, daß vor dem Hintergrund dieser Kritik auch das argumentationstheoretische Schema abgelehnt werden müßte, das er – wohl an anderer Stelle – gleichfalls vorgefunden und aufgenommen hat. 18 Die zurückhaltende und respektvolle Manier, wie Sokrates dem greisen Kephalos gegenüber spricht und argumentiert (vgl. insbes. Rep. I 328 d 7 – e 7), unterscheidet sich merklich von dem recht unbekümmerten Ton, in dem er die noch ungeklärten Meinungen des jüngeren Polemarchos aufdeckt (Rep. I 331 e 1 – 336 a 10). Dagegen ist der harte, stellenweise aggressive Gesprächs- und Argumentationsstil, den Sokrates schließlich dem Sophisten Thrasymachos gegenüber walten läßt, von wieder anderer Art (vgl. Rep. I 336 b 1 ff.).
20
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Es ist also anzunehmen, daß Diogenes Laertios auf insgesamt drei vorgefundene Einteilungsschemata Bezug nimmt, von denen er das stilistisch orientierte (1) verabschiedet, während er das inhaltlich (2) und das argumentationstheoretisch orientierte (3) bejaht. Dies allerdings derart, daß beide Schemata in befremdender und sachlich unzulässiger Weise zusammengeschmolzen werden (4). Überblick über die vier Einteilungsschemata: (1) Stilistisches Einteilungsschema (1.2) (1.1)
(1.3)
(2) Inhaltliches Einteilungsschema (2.1) (2.2)
(2.3)
(2.4)
(3) Argumentationstheoretisches Einteilungsschema (3.1) (3.2) (3.3)
(3.4)
(4) Einteilungsschema des Diogenes Laertios (4.2) (4.3) (4.1) (4.5) (4.6) (4.7)
(4.4) (4.8)
Die acht Dialogformen ( ), die sich aus der Verschmelzung des inhaltlichen mit dem argumentationstheoretischen Schema ergeben, gliedert Diogenes Laertios nach recht willkürlich angesetzten Art-Gattungs-Verhältnissen, um sie in einer arbor porphyriana situieren zu können. Die erste Einteilung der Dialogformen erfolgt anhand eines argumentationstheoretischen Kriteriums: Den unterweisenden ( ) Schriften stellt Diogenes Laertios die untersuchenden ( ) gegenüber. Was die spezifische Differenz zwischen beiden Arten ausmacht, bleibt unklar. Auch bei den folgenden Untergliederungen beläßt es Diogenes Laertios bei der Benennung der Gattungen bzw. Arten, ohne die spezifischen Differenzen jeweils zu explizieren.19 Dies hat Gründe. Würde Diogenes Laertios die spezifischen Differenzen nämlich nicht verschweigen, dann wäre offenbar, auf welch eigenwillige Weise sich argumentationstheoretische und inhaltliche Kriterien abwechseln.20 So wird 19 Damit ist zugleich die Möglichkeit verspielt, für die postulierte Achtzahl der möglichen Dialogformen den eigenen Vollständigkeitsbeweis zu liefern, den eine sauber ausgestaltete arbor porphyriana in der Regel verspricht, um nicht zu sagen: suggeriert. 20 Die vorgeführte Kritik an Diogenes’ Einteilungsverfahren orientiert sich an den Vorschriften, denen eine arbor porphyriana zu genügen hat. Dem kann entgegengehalten werden, daß der muntere Kriterienwechsel auf den verschiedenen Einteilungsebenen auch eine Auffälligkeit „platonischer“ Dihairesen darstellt, wie sie uns etwa im Sophistes und im Philebos begegnen. Anscheinend hält es Diogenes Laertios für ausreichend, wenn sein
21
1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge
die durch ein argumentationstheoretisches Kriterium gewonnene Gattung der unterweisenden ( ) Schriften nun mittels eines inhaltlich spezifizierenden Kriteriums aufgegliedert in theoretische ( ) und praktische ( ) Schriften. Die untersuchenden ( ) Schriften zerfallen – jetzt wieder aufgrund eines argumentationstheoretischen Kriteriums – in übende ( ) und streitende ( ) Schriften. Weiter werden die theoretischen ( ) Schriften mit Hilfe eines inhaltlichen Kriteriums in Schriften zur Naturphilosophie ( ) und in Schriften zur Logik ( ), die praktischen ( ) Schriften ebenfalls mit Hilfe eines inhaltlichen Kriteriums in Schriften zu Ethik ( ) und in Schriften zur Politik ( ) aufgegliedert. Dagegen werden die übenden ( ) und die streitenden Schriften ( ) unter Rücksicht auf argumentationstheoretische Kriterien eingeteilt: Während die übenden Schriften ( ) die auf die Gedankengeburt zielenden ( ) und die ausprobierenden ( ) Schriften umfassen, beinhalten die streitenden ( ) Schriften die nachweisenden ( ) und die widerlegenden ( ) Schriften. Das Einteilungsschema des Diogenes Laertios, dargestellt in einer arbor porphyriana:
(4.1)
(4.2)
(4.3)
(4.4)
(4.5)
(4.6)
(4.7)
(4.8)
Bei der konkreten Subsumierung der einzelnen platonischen Dialoge bleibt Diogenes Laertios bemerkenswert konsequent:21 Ein bestimmter Dialog, wie der Laches, gehört einer und nur einer Art von Dialogform zu. Im Fall des Laches entscheidet sich Diogenes Laertios dafür, den Dialog unter die maieutischen Schriften zu rechnen, was vor dem Hintergrund des etablierten ScheEinteilungsverfahren zwar nicht den Vorschriften einer arbor porphyriana, wohl aber denen einer „platonischen“ Dihairese entspricht. Doch müssen sich m. E. die dichotomischen Gliederungen des Diogenes Laertios, der ja ein Zeitgenosse des Porphyrios war, an dem im 3. Jh. n. Chr. etablierten methodischen Standard messen lassen. 21 Vgl. Diogenes Laertios III 57-62.
22
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
mas zur ebenso notwendigen wie erstaunlichen Folge hat, daß der Laches keine Schrift über Ethik ist, ja: gar keine Schrift über Ethik sein kann. An dieser Stelle zeigt sich, daß die Klassifizierung, die Einordnung eines bestimmten Dialogs in ein vorgegebenes Raster, nichts ist, was der Interpretation in irgendeiner Weise vorausgeht, sondern etwas, das selbst integraler Bestandteil der Interpretation ist, sie bereichern oder auch schmälern kann. Im vorliegenden Fall machen sich v. a. die einengenden und beschränkenden Folgen bemerkbar: Durch Diogenes Laertios’ eklektischen Mißgriff ist es in der Tat unmöglich geworden, daß ein bestimmter Dialog in maieutischer Weise über Ethik oder in anatreptischer Weise über Politik handelt. Argumentationstheoretischer Charakter und inhaltliche Ausrichtung eines Dialogs geraten aus sachlich unerfindlichen, aber klassifikatorisch folgerichtigen Gründen in Konkurrenz. Die Schwierigkeiten, mit denen Diogenes Laertios’ kombiniertes Gliederungsschema konfrontiert ist, motivieren dazu, das rasch abgefertigte stilistische Einteilungsschema (1) noch einmal gründlicher in Augenschein zu nehmen. Diogenes’ Ablehnung dieses Schemas ist vor dem Hintergrund der schroffen Gegenüberstellung von Philosophie und Literatur zu sehen, wie sie im Rahmen der platonischen Dichterkritik erfolgt: Fordert nicht der „alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung“22 , daß philosophische und literarische Schriften scharf voneinander zu scheiden sind? Ist es nicht unangebracht, stilistische Kriterien, die sich doch allein für die Einteilung literarischer Texte anbieten, auch für die Einteilung philosophischer Texte zu gebrauchen? Nach Diogenes Laertios kann eine konkrete Schrift nur entweder literarisch oder aber philosophisch sein. Philosophische und literarische Schriften sind extensional klar geschieden, so daß keine philosophische Schrift zugleich eine literarische Schrift und keine literarische Schrift zugleich eine philosophische Schrift sein kann. Weist eine konkrete Schrift philosophischen Charakter auf, dann ist es untersagt, sie so zu behandeln, als wäre sie eine literarische. Diese Einschätzung der Dialoge als rein philosophische Werke hat u. a. zur Folge, daß die methodische Differenz zwischen dem Autor Platon und den literarischen Figuren, die Platon in seinen Dialogen auftreten läßt, zu wenig Beachtung findet. Aus der Tatsache, daß Platon von einer bestimmten Dialogfigur eine im Rahmen des fingierten Gesprächszusammenhanges kontextualisierte Behauptung aufstellen läßt, darf nicht unreflektiert geschlossen werden, Platon vertrete selbst diese – durch den interpretatorischen Zugriff
22 Rep. X 607 b 5 f.: (...)
1.3 Diogenes Laertios’ Einschätzung der platonischen Dialoge
23
nun aus dem Gesprächszusammenhang entkontextualisierte – Behauptung.23 Exakt diesen hermeneutischen Fehlschluß begeht jedoch Diogenes Laertios, der eine ganze Reihe von literarischen Personen gleichsam als Sprachrohre Platons begreift. „Seine Ansichten legt er (sc. Platon) durch vier Personen dar: Sokrates, Timaios, den Fremden aus Athen und den aus Elea.“24 Neben diesen Figuren, die sagen, was Platon denkt, gibt es für Diogenes Laertios nun eine zweite Gruppe von Personen, die genau das sagen, was Platon nicht denkt. „Zur Widerlegung des Falschen läßt er z. B. Thrasymachos, Kallikles, Polos, Gorgias, Protagoras, weiter Hippias, Euthydemos und dergleichen auftreten.“25 Damit sind nicht weniger als alle Dialogfiguren Sprachrohre Platons: Die einen sagen das, was der Autor für wahr hält, die anderen sagen das, was der Autor für falsch hält. Für einen Interpreten wie Diogenes Laertios ist es hinreichend, daß eine Aussage von einem „positiven“ Sprachrohr wie Sokrates oder Timaios behauptet wird, um dem Autor Platon eben diese These zuschreiben zu dürfen. Eine Hermeneutik dieser Art scheitert bereits an der sokratischen Ironie, mit den eristischen Zügen von Sokrates’ Gesprächs- und Argumentationspraxis kommt sie nicht einmal ansatzweise zurecht. Eine Aussage, die Platon dem Sokrates in den Mund legt, ist stets in eine konkrete Gesprächssituation eingebunden. Wer die Aussage verstehen will, ist gehalten, den fingierten Realkontext des Gesprächs in der Deutung zu berücksichtigen. Daher ist es immer schwierig, Aussagen des Sokrates aus dem Gesprächskontext herauszunehmen und zur „Definition“ zu machen, d. h. sie als Bestandteil einer Theorie zu verstehen, die außerhalb bestimmter Gesprächssituationen Gültigkeit beansprucht. Wenn eine Aussage nicht nur sach-, sondern auch stets adressatenbezogen zu sein hat, dann ist zwar der Dialog ein probates Mittel für den Autor, die Adressatenbezogenheit von Aussagen und Argumenten in einer fiktiven Gesprächs- und Argumentationspraxis konkret vorzuführen, schwierig wird 23 Das hermeneutische Problem, wie gegebenenfalls aus Aussagen literarischer Figuren auf die Intention des Autors zurückgeschlossen werden kann (vgl. schon Stenzel 1956 (EA 1916), insbes. S. 38), hängt eng zusammen mit dem sprachphilosophischen Problem, wie gesprächspragmatisch kontextualisierte Aussagen aus diesem Zusammenhang gelöst und in einen anderen Kontext, nämlich den einer noch zu erschließenden Philosophie Platons, überführt werden können. 24 Diogenes Laertios III 52:
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24
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
es jedoch, als Interpret aus diesen Texten den Entwurf einer adressaten- und situationsunabhängigen Theorie zu gewinnen. Der fleißige, dabei allerdings reichlich unkritische Philosophiehistoriker Diogenes Laertios ist sicherlich kein Systematiker, der mit dem Anspruch auftritt, ein konsistentes und kohärentes Gedankengebäude zu errichten. Daher wird es nicht überraschen, daß seine Ausführungen zu Platon zwar einerseits durch die deutliche Absage bestimmt sind, philosophische Schriften wie die platonischen Dialoge nach stilistischen Kriterien zu gliedern, daß sich andererseits aber auch manches finden läßt, was dem literarischen Charakters der Dialoge verpflichtet ist. Diogenes vertritt, wie oben dargelegt, die „Sprachrohrthese“, nach der bestimmte Dialogfiguren genau das behaupten, was Platon für wahr, andere dagegen genau das, was Platon für falsch hält. Wer diese Position wirklich konsequent verfolgt, hat für differenzierte hermeneutische Strategien der Dialogauslegung schlicht keinen Bedarf. Doch eben eine solche Strategie, die dem literarischen Charakter der Dialoge wie dem philosophischen Wahrheitsanspruch der darin zu findenden Ausführungen gleichermaßen Rechnung zu tragen versucht, kennt und referiert Diogenes, ohne sie in irgendeiner Weise zu kritisieren: Die Exegese seiner (sc. Platons) Dialoge umfaßt drei Stufen. Zuerst muß die Bedeutung seiner Äußerungen dargelegt werden; dann der Zweck des Ausgesagten, ob es direkt oder metaphorisch, ob es zum Aufbau der eigenen Lehre oder zur Widerlegung des Gesprächspartners vorgebracht ist, drittens aber, ob die Aussage wahr ist.26
Es ist bezeichnend, daß Diogenes die Spannung zwischen dieser hermeneutischen Maxime und der eigenen „Sprachrohrthese“ gar nicht zu bemerken scheint. Ebensowenig berücksichtigt er eine weitere Spannung innerhalb seiner Ausführungen, nämlich die zwischen der Ablehnung der stilistischen Dialogklassifizierung und der folgenden Definition des Dialogbegriffs, deren Formulierung m. E. sehr an die Diktion der aristotelischen Poetik erinnert: Der Dialog nun ist eine Komposition aus Frage und Antwort über ein philosophisches oder politisches Thema mit passender Charaktergestaltung der eingeführten Personen und stilistischer Formung.27 26 Diogenes Laertios III 65:
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1.4 Platons Einschätzung seiner Dialoge
25
Diogenes unterrichtet seine Leser von dieser Definition, wie er sie mit der erwähnten hermeneutischen Maxime bekannt macht: ohne Kritik zu üben, aber auch ohne das Vorgefundene dialogtheoretisch letztlich fruchtbar zu machen.
1.4
Platons Einschätzung seiner Dialoge
Wenn Diogenes Laertios die platonischen Dialoge als rein philosophische Schriften begreift und ihre Gliederung nach stilistischen Kriterien ablehnt, wird er sich ohne Frage in Einklang mit der sog. Dichterkritik Platons sehen. Doch ihren besonderen Reiz gewinnt seine Kritik an dem stilistischen Einteilungsschema durch die Tatsache, daß diese Dreiteilung dialogischer Stilformen gerade auf Platons eigene dichtungstheoretische Überlegungen zurückgeht: Im dritten Buch der Politeia28 läßt Platon seinen Sokrates die Gesamtheit des von Dichtern und Mythologen Poetisierten ( ) unterscheiden in einfache Erzählung ( ) (1.2), dramatische Darstellung ( ) (1.1) und das, was aus Erzählung und dramatischer Darstellung zusammengesetzt ist (1.3).29 Diese Dreiteilung versteht Sokrates als vollständige Disjunktion: Neben der episch-narrativen, der dramatischen und der „gemischten“ resp. „zusammengesetzten“ kann es keine weitere literarische Form mehr geben; auf einen Vollständigkeitsbeweis allerdings verzichtet auch Sokrates. Die entscheidende Frage lautet nun, ob Platon auch seine eigenen Dialoge zur rechnet und damit das von Diogenes Laertios kritisierte stilistische Einteilungsschema zur Klassifizierung seiner Schriften als zutreffend anerkennen müßte.
. – In bestem Einklang mit dieser Definition des Dialogbegriffs steht dagegen das auf die Fiktion medialer Mündlichkeit bezugnehmende, argumentationstheoretisch orientierte Einteilungsschema der Dialoge. 28 Vgl. Rep. III 392 d 2 – 394 c 5. 29 Vgl. insbes. Rep. III 392 d 5 f.: !" # $ % &'() * & ) ((+ * & ,- . – Eine Kritik an dem verbreiteten Mißverständnis, daß Platon hier auf eine Dreiteilung der Dichtung in Epik, Lyrik und Dramatik zielt, liefert Schwinge 1981, S. 143-146. Zur engen Verbindung zwischen der ' bzw. der &)(' & ) und der Ablehnung einer „Sprachrohr“-Vorstellung literarischer Figuren vgl. auch Figal 2000, S. 306 f.: „Es geht (sc. bei der &)(' & )) darum, daß sich der Erzähler verbirgt, um jemand anderen in der Rede präsent sein zu lassen; (...) Er ist da und will doch nicht selbst da sein, damit ein anderer da ist.“ Vgl. schon Finsler 1900, der vom „Annehmen einer Maske durch den Dichter“ (S. 18) spricht, sowie Koller 1954, S. 15-17, und Koller 1963, S. 168 f.
26
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Daß sich Platon in seinem eigenen Œuvre ganz bewußt unterschiedlicher Formen der Dialogtechnik bedient, vermag die Komposition des Theaitetos30 zu verdeutlichen, in dessen Rahmengespräch die Vielfalt literarischer Gestaltungsweisen zudem explizit thematisiert wird: Eukleides berichtet Terpsion, dem zweiten Kolloquenten des Rahmengesprächs, von seiner Begegnung mit dem Mathematiker Theaitetos, der sich in einer Schlacht gegen die Thebaner31 militärisch auszeichnen konnte und soeben – schwer verletzt und an der Ruhr erkrankt – aus Korinth zurückgekehrt ist. Diese Begegnung hat in Eukleides die Erinnerung an den schon vor langer Zeit hingerichteten Sokrates geweckt, der Theaitetos außerordentlich geschätzt, mit ihm ein philosophisches Gespräch geführt und Eukleides davon erzählt hatte. Da das fiktive Datum, an dem Platon das Rahmengespräch stattfinden läßt, auf das Jahr 369 v. Chr. festzulegen ist, sind seit dem Tod des Sokrates im Jahre 399 v. Chr. bereits 30 Jahre vergangen. Die Unterredungen mit Theaitetos, von denen Sokrates dem Eukleides erzählte, werden auf die Zeit kurz vor Sokrates’ Hinrichtung datiert. Eukleides schrieb das Gespräch auf32 , doch bezeichnenderweise nicht in der narrativen Form, die Sokrates’ mündliche Wiedergabe der Unterredung ausgezeichnet hat: Dies hier ist die Schrift, Terpsion. Und so habe ich die Diskussion aufgeschrieben: nicht in Erzählform ( ), wie Sokrates sie mir erzählte, sondern als Diskussion (
) mit den Partnern, mit denen er nach seiner Rückkehr diskutiert hat. Dies waren nach seinem Bericht der Geometriker Theodoros und Theaitetos. Ich wollte in der Schrift die lästigen Einschübe zwischen den einzelnen Diskussionsbeiträgen vermeiden, in denen Sokrates von sich selbst berichtet, wie ‚da sagte ich‘ oder ‚darauf bemerkte ich‘, oder von dem Antwortenden, daß ‚er zustimmte‘ oder ‚nicht derselben Meinung war‘. Deshalb habe ich Sokrates unmittelbar mit seinen Partnern in meiner Schrift diskutieren lassen und derartige Einschübe weggelassen.33 30 Vgl. insbes. Tht. 142 a 1 – 143 c 8. 31 Gemeint ist die Schlacht von Korinth im Jahre 369 v. Chr. Der Mathematiker Theaitetos, der bekannt wurde wegen seiner Weiterentwicklung der Lehre von den irrationalen Zahlen bzw. Größen und von den fünf regelmäßigen Polyedern, erlag kurz nach seiner Rückkehr aus Korinth seinen Verletzungen. 32 Als Motiv für die Niederschrift wird die Schwäche der eigenen Gedächtniskraft angedeutet (vgl. Tht. 142 d 6 – 143 a 5). Vgl. dazu die sog. Schriftkritik des Phaidros (insbes. 275 a 2-6), die in der medialen Schriftlichkeit eine externe, mit fremden Zeichen operierende Erinnerungshilfe ( ) sieht, die aber durch ihre entlastende Wirkung zugleich selbst zur Verschlechterung der inneren Gedächtniskraft ( ) des Menschen beiträgt. 33 Tht. 143 b 5 – c 5: ! "# ! $# %
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1.4 Platons Einschätzung seiner Dialoge
27
Platon läßt hier einen fiktional gestalteten Dialogautor zu Wort kommen, der aufschlußreiche Hinweise auf die unterschiedlichen Kompositionstechniken der Dialogschreibung gibt. Sicherlich spricht Platon auch in diesem Fall nicht in propria persona, doch kann man durchaus annehmen, daß in Eukleides’ Reflexionen über die Techniken der Dialoggestaltung die Erfahrungen, die Platon selbst als Autor und Literat sammeln konnte, zum Ausdruck kommen. So läßt die Kritik an den leserunfreundlichen Floskeln, die bei der Verwendung der narrativen Schreibweise kaum zu vermeiden sind, an Platons dialogtechnische Ausarbeitung der Politeia denken. In den Bemerkungen Eukleides’ manifestiert sich m. E. eine literarische Selbstkritik Platons, der auf die stilistische Härte narrativer Dialoge wie der Politeia aufmerksam geworden ist und von nun an der rein dramatischen Dialoggestaltung den Vorzug geben wird: Fast alle Dialoge, die Platon nach der Politeia geschrieben hat (Phaidros, Kratylos, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Kritias, Timaios und Nomoi), weisen die dramatische Form auf. Die einzige Ausnahme bildet der Parmenides, dessen erster Teil narrativ ist, während sich im zweiten Teil kaum merklich der Übergang zur dramatischen Form vollzieht. Die spezifischen Mitteilungsmöglichkeiten der narrativen Dialogtechnik, die Platon in dem aus dramatischer und narrativer Form gemischten Frühdialog Protagoras bravourös einzusetzen versteht, sollen damit natürlich keineswegs geleugnet werden. Gestaltet Platon seinen Sokrates in der Doppelrolle von Gesprächsteilnehmer, d. i. dramatischer Figur, und Narrator,34 dann eröffnet er die der rein dramatischen Dialogkonzeption verschlossene Möglichkeit, durch den erzählenden Sokrates Kommentare zum Gesprächsgeschehen einfließen zu lassen, die distanzierender, informierender, irritierender u. a. Art sein können. Das unmittelbar auf die zitierten Worte des Eukleides folgende Hauptgespräch des Theaitetos fingiert Platon als durch einen Diener laut vorgelesenen Dialog, der Eukleides’ schriftliche Verarbeitung des mündlichen Gesprächs zwischen Sokrates und Theaitetos wiedergibt. Dabei bildet das Ende des vorgelesenen Dialogs, der im Theaitetos poetisierten Schrift Eukleides’, zugleich
!" # $ „" %& '“ ( „" %& ) #“ ( * + " , - „, “ ( „ . / #“ 0 1" / . 2 . 3 '4# %& 5 6 (Die deutsche Übersetzung stammt von Ekkehard Martens, in Martens 1981) 34 Vgl. Dalfen 1975, S. 172
28
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
das Ende des Gesamtdialogs Theaitetos.35 In der folgenden Übersicht soll das von Platons Dialogregie im Theaitetos raffiniert arrangierte Zusammenspiel von medialer Mündlichkeit vs. medialer Schriftlichkeit einerseits und narrativer Form vs. dramatischer Form andererseits veranschaulicht werden: (1)
Sokrates und Theaitetos führen ihr Gespräch.
(2)
Sokrates erzählt Eukleides von dem Gespräch.
(3)
Eukleides schreibt das Gespräch nieder.
(4)
Sokrates gibt Eukleides weitere Informationen.
(5)
Eukleides ergänzt die Niederschrift.
(6)
Eukleides läßt die Niederschrift laut vorlesen.
Mündlichkeit dramatisch Mündlichkeit narrativ Schriftlichkeit dramatisch Mündlichkeit narrativ Schriftlichkeit dramatisch Mündlichkeit dramatisch
Eukleides’ Aussagen im Rahmengespräch und die diffizile Komposition des Theaitetos zeigen, daß Platon die unterschiedlichen literarischen Stilformen der Dialogschreibung nicht nur kennt und theoretisch reflektiert, sondern auch in der eigenen literarischen Praxis souverän mit ihren Möglichkeiten umzugehen und sie auf leichte, nahezu spielerische Weise einzusetzen versteht. Damit muß die These, daß Platon – vielleicht durch die forcierte Konkurrenz zu den Dichtern geblendet – den literarischen Charakter seiner eigenen Schriften nicht bedacht oder geleugnet habe, als abwegig erscheinen. Zu dem Ergebnis, daß die Dialoge Platons nach dem Selbstverständnis ihres Verfassers literarische Texte sind, kommt auch Konrad Gaiser in seinem Buch Platone come scrittore filosofico36 . Die wichtigsten Belegstellen findet Gaiser im siebten Buch der Nomoi, in dem der als Gesprächsführer fungierende Athener die aktuelle Unterredung mit den Werken der Dichter vergleicht: Denn als ich eben auf die Reden zurückblickte, die wir vom Morgen an bis jetzt geführt haben – wie mir scheint, nicht ohne eine Art göttlichen Anhauch – , da kam es mir vor, als sei unser Gespräch durchaus einer Dichtung vergleichbar.37
35 Diogenes Laertios weiß zu berichten, daß auch Platon seine Dialoge laut vorzulesen pflegte – allerdings mit nur mäßigem Erfolg: Außer Aristoteles hätten alle Zuhörer Platons Vorlesung des Phaidon vorzeitig verlassen (vgl. Diogenes Laertios III 37). 36 Vgl. insbes. das vierte Kapitel „Platone sulla altrui e la propria poesia“ (Gaiser 1984, S. 103-123). 37 Legg. VII 811 c 6-10: !" #$ – % & ' (") *+ , - ". – / 0 1 23 43 ' 3 - 563"7 (dt. Übers. von K. Schöpsdau und H. Müller, in Eigler 1970-1983)
1.4 Platons Einschätzung seiner Dialoge
29
An späterer Stelle bezeichnet der Athener – im Rahmen einer imaginierten Auseinandersetzung mit auswärtigen, gleichsam konventionellen Tragödiendichtern – sich selbst sowie die übrigen philosophierenden Kolloquenten als „Tragiker“, die mit den traditionellen Dichtern konkurrieren, und tituliert die im Gespräch soeben entworfene Staatsverfassung, welche das schönste und beste Leben darstelle, als „einzig wahre Tragödie“.38 Gaiser schließt daraus, daß zumindest der späte Platon seine Dialoge als Dichtung begriffen habe.39 Diese Ansicht teile ich zwar, doch möchte ich betonen, daß mir die zitierten Passagen aus den Nomoi weniger Aussagekraft zu besitzen scheinen als die vorgeführte Eingangsszene des Theaitetos: Denn was in den Nomoi mit den Werken der Dichtern verglichen wird, ist ein Gespräch (bzw. ein Gesprächsergebnis), also eine fingierte mediale Mündlichkeit, während es im Theaitetos in der Tat um Dialoge geht, also um die medial schriftliche Fiktion eben dieser Mündlichkeit.40 Der versuchte Nachweis, daß Platons seine Dialoge auch als literarische Schriften begreift, verfolgt in der vorliegenden Arbeit nur den Zweck, die methodische Differenzierung zwischen einer Theorie und einer Praxis der Dichterauslegung plausibel zu machen. Daher kann hier auch das schwierige Nachfolgeproblem ausgeklammert werden, ob und inwieweit die in der Politeia und den Nomoi geführte Dichterkritik neben der „traditionellen“ Dichtung eines Homer oder Hesiod auch Platons eigene Dialoge trifft.41 38 Legg. VII 817 a 4 – b 5: „Ihr besten Fremdlinge“, sollten wir sagen, „wir sind selber Dichter einer Tragödie, die, soweit wir dazu fähig sind, die denkbar schönste und zugleich beste ist. Jedenfalls ist unsere Staatsverfassung eine Darstellung des schönsten und besten Lebens, und gerade das, behaupten wir, ist in der Tat die einzig wahre Tragödie.“ („ “, , „ ! " # $ ! %% & ! ' ( ) * % + ! , ! %%+ ! '+ -+ . / 0 1 2 '% 3 4“)
Vgl. auch den größeren Kontext Legg. VII 816 d 3 – 818 e 4. 39 Gaiser 1984, S. 111: „Dopo aver costato nel settimo libro delle Leggi che in ogni caso il Platone dell’ ultimo periodo intende i suoi dialoghi letterari come un esempio di un nuovo tipo di poesia (...)“ 40 Daher scheint mir auch Büttners (gleichfalls auf das siebte Buch der Nomoi rekurrierende) Behauptung, Platon bezeichne „auch die eigenen Prosaschriften als Dichtung ( )“ (Büttner 2000, S. 131) zu stark. Streng genommen läßt sich hier nur sagen, daß eine platonische Dialogfigur das von Platon im Dialog dargestellte Gespräch als Dichtung bezeichnet. 41 Die Frage scheint weniger komplex als sie ist: Eine Antwort kann schließlich in keinem einfachen „ja“ oder „nein“ bestehen, da man hier nicht nur die verschiedenen – sowohl von ontologischen als auch von wirkungsästhetischen Überlegungen Gebrauch machenden – Kritikpunkte, sondern zudem auch die unterschiedlichen Formen der Dichtung, von denen nicht jede von jedem Kritikpunkt tangiert wird, zu unterscheiden hat. Die m. E. nach wie vor beste Erörterung dieser Problematik findet sich in Kuhn 1941.
30
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Im folgenden soll eine kurze Lektüre der Poetik verdeutlichen, daß Aristoteles den literarischen Charakter der platonischen Dialoge nicht nur gesehen, sondern im Rahmen seiner poetologischen Überlegungen auf eine Weise fruchtbar gemacht hat, die wertvolle Hinweise für einen methodisch und hermeneutisch reflektierten Zugang zu den Schriften Platons verspricht. Besonders zu beachten ist hierbei der zur Beschreibung platonischer Dialoge bestens geeignete aristotelische Begriff der .
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge Im ersten Kapitel der Poetik stellt Aristoteles die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Dichtkunst: Welches Kriterium läßt sich für die Werke der Dichtung () sinnvollerweise angeben? Nach einer herrschenden Auffassung ist es das Versmaß ( ), was die dichterische Sprache in spezifischer Weise auszeichnet.42 Die „Vielen“, die laut Aristoteles und miteinander verknüpfen, können sich auf die poetologischen Überlegungen des Sophisten Gorgias berufen, der im Lobpreis der Helena die Dichtung als bestimmt.43 Aristoteles wendet sich gegen diese intensionale Definition der Dichtung mit dem Argument, daß man mit dem -Kriterium der Extension des Begriffs in keiner Weise gerecht wird. Einerseits ist die Definition zu weit, da sie dazu nötigt, medizinische 42 Die Poetik wird zitiert nach der Edition Kassel 1965. Die Zitate in deutscher Übersetzung stammen von Fuhrmann 1982. – Vgl. Poetik 1447 b 13-16: „Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen ElegienDichter, die anderen Epen-Dichter, wobei man sie nicht in Hinblick auf die Nachahmung ( ), sondern pauschal im Hinblick auf den Vers ( ) als Dichter bezeichnet.“ 43 Gorgias, Fragment 11, 9 (in der dt. Übers. von Buchheim 1989, S. 7): „Die gesamte Dichtung erachte und bezeichne ich als Rede, die ein Versmaß hat.“ Vgl. Symp. 205 b 8 – c 9, Gorg. 502 c 5-8, Phdr. 258 d 10, Rep. X 601 b 2-4. Vgl. Kannicht 1980, insbes. S. 10 und S. 22. Von diesem Begriff der „Dichtung“ kann der Begriff der „Literatur“ unterschieden werden, der nach Wolfgang Schadewaldt (1973, S. 15, vgl. auch S. 24) rein durch die schriftliche Medialität bestimmt ist: „Literatur in der Antike
zunächst alles ‚in Buchstaben Geschriebene‘, was den Begriff angeht, ganz ohne innere Abstufung.“ Es ist wichtig zu bemerken, daß „Literatur“ hier keineswegs den Oberbegriff zu „Dichtung“ darstellt. Beide Begriffe sind vielmehr logisch unabhängig: Natürlich gibt es Fälle von Literatur, die zugleich Fälle von Dichtung sind, kurz: medial schriftliche Sprache, die metrisch geformt ist. Aber nicht jeder Fall von Dichtung muß ein Fall von Literatur und nicht jeder Fall von Literatur muß ein Fall von Dichtung sein. Schließlich gibt es metrisch geformte Sprache, die medial mündlich, und medial schriftliche Sprache, die nicht metrisch geformt ist.
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
31
und naturphilosophische Lehrgedichte, nur weil sie in Versen verfaßt sind, zur Dichtung zu rechnen. Ein Schriftsteller wie Empedokles aber hat mit Homer, dem Dichter par excellence, nichts als das gemeinsam, man sollte ihn daher – so Aristoteles – weniger als Dichter, sondern eher als Naturforscher, als 44 , begreifen. Andererseits ist die Definition der Dichtung als metrisch geformte Sprache aber auch zu eng, weil es Schriften gibt, die allgemein als poetisch anerkannt werden, obgleich sie nicht in Versmaßen geschrieben sind. Zu diesen Schriften zählt Aristoteles neben den in der dorischen Umgangssprache verfaßten Mimen des Sophron und des Xenarchos die Dialoge der Sokratiker.45 Gegen die herkömmliche Definition der Dichtung führt Aristoteles seine eigene poetologische Konzeption ins Feld, die dichterische Werke als , als Darstellungen menschlicher Handlungen versteht. Wenn und nur wenn eine Schrift menschliche Handlungen darstellt, darf sie als ein dichterisches Werk gelten. Kurz: ist von . Das ist nicht mehr das Spezifikum der Dichtung, es wird zu einem bloßen Mittel degradiert, zu einem Instrument, von dem der Dichter Gebrauch machen kann, aber nicht Gebrauch machen muß.46 Im 9. Kapitel der Poetik urteilt Aristoteles entsprechend, daß sich Historiograph und Dichter nicht dadurch unterscheiden, daß sich jener in Versen, dieser aber in Prosa mitteilt. Man könnte, so Aristoteles, das Werk Herodots durchaus in Verse kleiden, es bliebe doch ein Geschichtswerk.47 Dem Problem, daß der Historiograph wie der Dichter menschliche Handlungen darstellt, was die Unterscheidung beider schwierig werden läßt, begegnet Aristoteles durch den Hinweis auf den Charakter des Paradeigmatischen, der den poetisch dargestellten Handlungen in spezifischer 44 Käte Hamburger hat zu Recht betont, daß Aristoteles durch den Begriff bereits die Unterscheidung von vs. bzw. von vs. anklingen läßt, was „darauf hinweist, daß der Begriff ‚Dichtung‘ für Aristoteles ausschließlich durch Darstellung, Gestaltung handelnder Menschen gedeckt war“ (4 1994, S. 19). 45 Aristoteles’ Votum, die Prosagattungen des Mimos und des Dialogs zur Dichtung zu zählen, findet sich auch in dem leider nur bruchstückhaft überlieferten Dialog Über die Dichter (Fragment 72 in der Edition von Rose 1886). Vor diesem Hintergrund muß die Aussage des Diogenes Laertios (III 37), Aristoteles habe die Schreibweise Platons in der Mitte von Poesie und Prosa angesetzt, bezweifelt werden. – Zwischen dem Mimos und dem Dialog läßt sich noch eine weitere Verbindung herstellen: Nach Diogenes Laertios (III 18) war Platon der erste, der die zuvor nicht beachteten Mimen des Sophron nach Athen gebracht und zum Gegenstand mimischer Charakterstudien gemacht hat. 46 Der Einschätzung, das sei ein nur kontingentes Mittel der Dichtung, entspricht eine Formulierung in Platons Nomoi (VII 810 b 4 – c 4), „wo alle Schriftsteller, gleichgültig, ob sie in Prosa oder Versen schreiben, Dichter ( ) genannt werden“ (Büttner 2000, S. 131; vgl. auch S. 379). 47 Poetik 1451 a 38 – b 5.
32
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Weise zukommt, während die historiographisch dargestellten Handlungen an wirkliche Handlungszusammenhänge und damit an konkrete Einzelfälle gebunden bleiben.48 Die Vorteile der -Konzeption liegen auf der Hand. Das neue Kriterium vermeidet eben die Schwachpunkte, die Aristoteles am -Kriterium zu beanstanden hatte: Medizinische und naturphilosophische Lehrgedichte müssen nun nicht mehr zur Dichtung gezählt werden, während der Mimos und die Dialoge der Sokratiker ihren Platz unter den poetischen Werken einnehmen können. Spricht Aristoteles von den Dialogen der Sokratiker, so wird er wohl insbesondere an seinen Lehrer Platon denken. Das aber heißt: Für Aristoteles sind die platonischen Dialoge ganz selbstverständlich literarische Kunstwerke.49 Auch seinen zeitgenössischen Lesern gegenüber muß Aristoteles anscheinend gar nicht erst dafür argumentieren, daß die platonischen Schriften als Werke der Dichtung aufzufassen sind: Die Einsicht in den poetischen Charakter der Dialoge scheint so weit verbreitet und so wenig umstritten zu sein, daß Aristoteles sie unbewiesen voraussetzen und zur Grundlage einer Argumentation machen kann, die kein kleineres Ziel verfolgt, als das herrschende Kriterium für Dichtung außer Kraft zu setzen und ein neues Kriterium zu etablieren. Besteht die Leistung des neuen -Kriteriums mit darin, dem poetischen Status der Dialoge zu entsprechen, so wird diese Leistung nur dann als Leistung anerkannt werden, wenn schon zuvor zugestanden ist, daß die platonischen Dialoge in der Tat Dichtungen sind. Damit zeigt die Struktur der Argumentation, daß Aristoteles nicht nur selbst den platonischen Dialogen ihren literarischen Charakter zuschreibt, sondern zudem von der Einsicht seiner zeitgenössischen Leser in den literarischen Charakter der platonischen Dialoge ausgeht. Folgen wir Aristoteles, dann sind Platons Dialoge literarisch, das meint genauer: sie sind mimetisch. Hier gilt es, ein naheliegendes Mißverständnis sogleich auszuschließen: Aus ihrem mimetischen Charakter folgt im Sinne des Aristoteles keineswegs, daß es sich bei den platonischen Dialogen um die protokollarische Wiedergabe von Gesprächen handelt, die in der Wirklichkeit stattgefunden haben. Der Begriff der darf nicht dazu verleiten, Aristoteles eine documentary fallacy vorzuwerfen, nach der zu der fiktionalen Existenz der literarischen Figuren und der literarisch inszenierten Gesprächshandlung eine außerfiktionale Realität hinzugedacht wird, die der Text nach 48 Poetik 1451 b 5-10. 49 Vgl. bereits Stenzel 1956 (EA 1916), S. 33: „Den literarischen Charakter des platonischen, überhaupt des sokratischen Dialoges hat Aristoteles klar erkannt.“
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
33
Art eines Protokolls abbilde. Die Rolle, die dem freien dramaturgischen Gestaltungswillen des Autors zukommt, hat Aristoteles sehr wohl berücksichtigt. Aristoteles reflektiert auf das Verhältnis der Literatur zur Wirklichkeit und fordert von der poetischen keineswegs, daß sie historische Ereignisse möglichst wirklichkeitsgetreu wiedergeben müsse. Daß die protokollarische Reproduktion von Gesprächshandlungen in einem strengen Sinne gar nicht zu leisten ist, war Aristoteles sehr wohl bewußt. Schließlich hatte schon Platon auf das Problem hingewiesen, daß eine in jeder Hinsicht adäquate Nachahmung eines Wirklichen undenkbar ist, da sie in diesem Falle nämlich gar keine Nachahmung mehr wäre, sondern eine Verdoppelung des Nachzuahmenden.50 Daneben sind eine ganze Reihe weiterer Probleme zu berücksichtigen, etwa die notwendig standpunktgebundene Darstellung der Wiedergabe (Perspektivenproblem) oder die unbestimmte Grenze des Handlungszusammenhanges (Kontextproblem). Auf das Kontextproblem kommt Aristoteles im 23. Kapitel der Poetik51 selbst zu sprechen – konsequenterweise mit Bezug auf die Historiographie, die sich – anders als die Dichtung – vor die Aufgabe gestellt sieht, wirkliche Ereignisse, das meint hier: eine komplexe Vielzahl von Einzelhandlungen in einem zeitlichen Neben- und Nacheinander wiederzugeben. Der , die im Kontext der Poetik besser mit „Darstellung“ als mit „Nachahmung“ oder „Abbildung“ zu übersetzen ist,52 räumt Aristoteles einen recht großen Spiel- und Gestaltungsraum nicht nur ein, er fordert ihn ausdrücklich. Der Dichter, führt Aristoteles im 9. Kapitel der Poetik programmatisch aus, soll nämlich nicht – wie der Historiograph – mitteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich ( ) ist. Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.53
50 Vgl. Crat. 432 a 8 – d 3. 51 1459 a 17-30. 52 Vgl. Hamburger 4 1994, S. 17: „Denn eine genauere Betrachtung der Definitionen des Aristoteles zeigt, daß für seinen Begriff der weit weniger die in ihm gewiß enthaltene Bedeutungsnuance der Nachahmung als der Grundsinn des Darstellens, Machens, entscheidend ist. (...) Als werden solche Werke bezeichnet, die , handelnde Personen, und damit auch , Handlungen, zum Gegenstande haben.“ 53 Poetik 1451 a 36-38:
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34
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
So hat die Tragödie die Menschen besser, die Komödie schlechter darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind.54 Das zweite Kapitel der Poetik55 macht deutlich, daß Tragödie und Komödie die Menschen in erster Linie als handelnde Personen und damit in ethischer Hinsicht als „besser“ bzw. „schlechter“ präsentieren. Da die Werke der Dichtung als menschlicher, ethisch relevanter Handlungen bestimmt sind, ist der enge Zusammenhang von Poetik und Ethik evident. In der Dichtung will Aristoteles nach Manfred Fuhrmann „nur solche Handlungen dargestellt wissen, die in ethischer Hinsicht von Belang sind“.56 Hier ist allerdings kritisch nachzufragen, ob es nach Aristoteles überhaupt Handlungen geben könnte, die in ethischer Hinsicht nicht von Belang wären. Der Unterschied kann m. E. nur ein gradueller sein: Bestimmte Handlungen sind in ethischer Hinsicht relevanter als andere, was diese aber nicht zu ethisch indifferenten werden läßt. Die literarische Freiheit des Dichters, der nicht wie der Historiograph der Darstellung wirklich geschehener Handlungszusammenhänge verpflichtet ist, begründet Aristoteles durch die spezifische Aufgabe der Dichtung, die den Rezipienten nicht das Besondere, sondern das Allgemeine im Sinne des Beispielhaften zu vermitteln hat.57 Die Dichtung ist nach Aristoteles philosophischer ( ) und ernsthafter ( ) als die Historiographie, da jene auf das Allgemeine ( ) und Beispielhafte ( ), diese dagegen (bloß) auf das Einzelne ( ) ausgerichtet ist (vgl. 1451 b 5-7). 58 Dabei erscheint die Lösung von der Wirklichkeit schlicht als Konsequenz: „Das Beispielhafte ( ) muß ja die Wirklichkeit übertreffen.“59
54 55 56 57 58
Poetik 1448 a 16-18. 1448 a 1-18; vgl. 1450 a 16-17. Fuhrmann 2 1992, S. 18. Vgl. insbes. Poetik 1451 a 36 – b 4. Vgl. Habermas 2 1985, S. 238: „Was den Vorrang und die strukturbildende Kraft der poetischen Funktion begründet, ist nämlich nicht die Abweichung einer fiktiven Darstellung von der dokumentarischen Wiedergabe eines Vorgangs, sondern die exemplarische Bearbeitung, die den Fall aus seinem Kontext herauslöst und zum Anlaß einer innovativen, weltaufschließenden, augenöffnenden Darstellung macht, wobei die rhetorischen Mittel der Darstellung aus den kommunikativen Routinen heraustreten und ein Eigenleben gewinnen.“ 59 Poetik 1461 b 13. – Vgl. Kannicht 1976, S. 334: Aristoteles kommt „zu dem (richtigen) Ergebnis, daß die Glaubwürdigkeit und mithin die Applikabilität tragischer und überhaupt poetischer Handlungen nicht aus ihrer verbürgten Geschichtlichkeit, sondern allein aus ihrer Wahrscheinlichkeitsstruktur folgt –, und nach diesem Prinzip ist der Dichter ja auch ihr ‚Macher‘ ( ) (1451 b 32).“
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
35
Aristoteles geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur von dem Wirklichen, selbst von dem Möglichen – im Sinne wirklicher Möglichkeiten60 – und den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit darf und soll sich die Dichtung unter bestimmten Bedingungen lösen. Es genügt nämlich nicht, daß die poetisch dargestellten Handlungen paradeigmatischen Charakter besitzen, sie müssen den Rezipienten auch als glaubwürdige Handlungen erscheinen. In der Handlungsdarstellung muß die Dichtung also zwei Forderungen zugleich genügen: Erstens muß die Handlung den Charakter der Allgemeingültigkeit, des Paradeigmatischen, besitzen. Zweitens muß die Handlung den Rezipienten glaubwürdig erscheinen. Beide Forderungen hängen eng zusammen: Nur wenn eine Handlung den Rezipienten glaubwürdig erscheint, werden sie überhaupt bereit sein, der Handlung den exemplarischen Status eines zuzuerkennen. Zwar verbürgen in der Regel die sachliche Möglichkeit einer Handlung bzw. die Gesetze der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit, daß den Rezipienten eine Handlung, die nach deren Vorgaben dargestellt wird, glaubhaft erscheint. Was wirklich geschehen ist ( ), ist nach Aristoteles der Sache nach möglich ( ), da es, wäre es unmöglich ( ), nicht hätte geschehen können. Zugleich wirkt eine Handlung, die der Sache nach möglich ist, meist glaubwürdig ( ).61 Allerdings ist es durchaus denkbar, daß eine bestimmte Handlung zwar sachlich möglich und wahrscheinlich ist, den Rezipienten aber dennoch unglaubwürdig erscheint, während eine andere Handlung glaubwürdig wirkt, obgleich sie der Sache nach unmöglich ist.62 In diesem Fall lassen rezeptionsästhetische Überlegungen die Darstellung des Unmöglichen als zulässig, ja geboten erscheinen, da der Glaubwürdigkeit des Dargestellten zugearbeitet wird: 60 Vgl. die Unterscheidung zwischen „Menschen mit Wirklichkeitssinn“ und „Menschen mit Möglichkeitssinn“ in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: „Ein solcher Mann (sc. mit Möglichkeitssinn) ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit. Da seine Ideen, soweit sie nicht müßige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten.“ (im vierten Kapitel des ersten Buches Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben, in der Ausgabe von Frisè 1978, S. 17) 61 Vgl. Poetik 1451 b 16-19 62 Mit dem Begriff spricht Aristoteles die objektive Möglichkeit einer Handlung an, mit dem Begriff dagegen die subjektive Einschätzung, daß eine Handlung objektiv möglich ist. Damit steht dem Begriff der aus den Analytica Posteriora (I 71 b 34 – 72 a 5), der Physik (A 184 a 16-26) und der Metaphysik ( 11 1018 b 30, Z3 1029 b 3-12) bekannte Begriff resp. , dem Begriff dagegen der Begriff nahe.
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche ( ), das glaubwürdig ( ) ist, den Vorzug vor dem Möglichen ( ), das unglaubwürdig ( ) ist.63
Durch die Bestimmung der platonischen Dialoge als menschlicher Handlungen wird die zunächst vielleicht trivial erscheinende Tatsache hervorgehoben, daß Platon – als Literat und Verfasser philosophischer Gespräche – genau kein Historiograph ist. Die Anachronismen, die bewußt in die Handlung zahlreicher Dialoge eingebaut sind, zeigen deutlich, daß Platon diesen Eindruck selbst vermeiden will. Platon ist damit auch nicht der Biograph des Sokrates: Alle Gesprächspartner, die Platon in den Dialogen zum Auftritt kommen läßt, sind als fiktional gestaltete, als literarische Personen zu betrachten64 – auch die Ausnahmegestalt Sokrates.65 Daß für die künstlerische Ausarbeitung vieler Dialogfiguren die Erfahrungen des Autors mit konkreten zeitgenössischen Personen eine entscheidende Rolle gespielt haben, ändert nichts an dem literarischen Charakter des platonischen Sokrates,
63 Poetik 1461 b 11-12; vgl. 1460 a 26-27: „Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.“ ( ), 1460 b 23-24: „Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht (...)“ ( !" #$ %$ & ' " & ()" (...)) 64 Vgl. Jacobi 1988, S. 10: „In Wirklichkeit aber sprechen nicht Gorgias, Polos, Kallikles und Sokrates, sondern Platon läßt – als Autor der Schrift – den Sokrates fragen, den Gorgias oder Polos oder Kallikles antworten, den Sokrates zurückfragen. Platon hat entschieden, wo er einen Gesprächspartner Ausflüchte machen, das Gespräch verweigern, zurückfragen oder antworten läßt. Dabei erfindet er psychologisch so überzeugend, daß man (...) die Absicht bei seinen Erfindungen vergißt. Wenn man unterstellt, daß bei Platon kunstvolle Schriftstellerei und Philosophie nicht getrennt werden dürfen, daß Platon seine Dialoge so verfaßt, daß die Sache, um die es geht, möglichst klar wird, dann muß die logische Reflexion auf die logische Analyse der Argumentationen durch hermeneutische Reflexion auf die Komposition der Gespräche – und auch dies bis in die Details – ergänzt werden.“ 65 Höchstwahrscheinlich hat Platon keinen Dialog noch zu Lebzeiten des historischen Sokrates veröffentlicht. In Hinblick auf den literarischen Charakter des platonischen Sokrates ist jedoch eine Episode, die Diogenes Laertios berichtet, trotz ihrer offenkundigen historischen Falschheit erhellend: Sokrates soll nach der Lektüre des Lysis gesagt haben: „Beim Herakles, wieviel hat der Junge bloß über mich zusammengelogen.“ (III 35). Rückschlüsse von dem platonischen auf den historischen Sokrates sind offenbar nicht eben unproblematisch. „Denn Platon hat vieles geschrieben, was Sokrates niemals gesagt hat.“ (III 35). – Durch Platons literarischen Rückgriff auf historische Personen können und sollen die Eigennamen der Dialogfiguren „Assoziationsimpulse“ bei den Rezipienten wecken (vgl. Latacz 2 1989, S. 93).
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
37
des platonischen Protagoras usf.66 Von Aristoteles erfahren wir – allerdings mit Blick v. a. auf die Tragiker – einen Grund, warum die Dichter ihren literarischen Figuren gerne den Namen von historischen Personen geben: Um die Glaubwürdigkeit der dargestellten Handlung zu stärken.67 Glaubwürdig an den platonischen Dialogen ist dabei nicht, daß sich ein von Platon dargestelltes Gespräch genau so in der Wirklichkeit ereignet hat. Glaubwürdig ist nur, daß sich das Gespräch auf etwa diese Weise hätte ereignen können.68 Die Dialoge präsentieren keine Protokolle69 von wirklichen, sondern fingierte Darstellungen von möglichen Gesprächen. Die Möglichkeit einer von Platon inszenierten Gesprächshandlung hängt in diesem Sinne nicht ab von gleichsam akzidentiellen historischen Bedingungen: Wenn Platon wie im Parmeni66 Die Beschäftigung mit dem platonischen Sokrates eröffnet zwar die Möglichkeit, vorsichtige Mutmaßungen über den historischen Sokrates anzustellen, gleichzusetzen sind beide jedoch keineswegs. Der Sokrates, den Aristophanes in den Wolken, und der Sokrates, den Xenophon in den Memorabilien und im Symposion präsentiert, stellen den Leser in methodischer Hinsicht vor analoge Probleme wie die Figur des platonischen Sokrates: Es handelt sich jeweils um künstlerisch gestaltete Figuren, die literarische Verarbeitungen persönlicher Erfahrungen der Autoren mit einer im übrigen äußerst umstrittenen historischen Persönlichkeit darstellen. Die unterschiedlichen Zwecke und Interessen der Autoren, die von Apologie bis hin zu Polemik reichen, prägen die fiktionalen Gestaltungen des Sokrates von Grund auf. Von einer Konkurrenz zwischen Platon und Xenophon berichtet Diogenes Laertios (III 34): „Auch Xenophon war wohl nicht gut auf ihn (sc. Platon) zu sprechen, weil sie gleichsam wie Rivalen dieselben Themen behandelten (...).“ 67 Vgl. Poetik 1451 b 15-19. 68 Habermas (3 1989), S. 248: „Es zeichnet einen literarischen Text aus, daß er nicht mit dem Anspruch auftritt, ein Geschehen in der Welt zu dokumentieren; gleichwohl will er den Leser Schritt für Schritt in den Bann eines imaginierten Geschehens hineinziehen, bis er den erzählten Vorgängen so folgt, als seien sie real.“ a. a. O. S. 250: „(...) damit der Text glaubwürdig ist, muß die Welt, auf die sich seine Figuren beziehen, als objektiv unterstellt werden können. Der Leser muß das Dargestellte für real halten können.“ 69 Von Protokollen im strengen Sinn sind Protokollfiktionen zu unterscheiden: Literarisch inszenierte Gespräche, die sich als genaue Abbilder realer Gespräche geben, obgleich ihr artifizieller Charakter – z. B. wegen der Kompaktheit und Stringenz der vorgetragenen Argumentationen, wegen fehlender Redundanz und fehlenden Mißverständnissen – kaum zu übersehen ist. Prominentestes Beispiel für Protokollfiktionen sind m. E. die sog. Cassiciacum-Dialoge des Augustinus. Dagegen kann der Parmenides als ironisch gebrochene Protokollfiktion gelesen werden: In der Rahmenhandlung des Dialogs wird – mit einem Augenzwinkern – die Authentizität des dargestellten Gesprächs hervorgehoben: Augenzeugen werden benannt und alle Einzelheiten – der Anlaß und der Ort des Gesprächs, die Unterkunft der Eleaten usw. – detailliert dargelegt, obgleich die zeitgenössischen Leser wußten, daß sich die Kolloquenten wohl nie im Leben getroffen hatten. Nebenbei bemerkt: Innerhalb der fiktiven Chronologie der platonischen Dialoge kommt dem Parmenides, der einen noch sehr jungen Sokrates auftreten läßt, eine interessante Eckstellung zu, die Wolfgang Wieland für die inhaltliche Auslegung des Dialogs im Kontext entwicklungsgeschichtlicher Hypothesen zur platonischen Ideentheorie gewinnbringend eingesetzt hat (vgl. Wieland 1982, insbes. S. 90-94).
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
des literarische Personen ins Gespräch kommen läßt, deren historische Pendants sich wohl niemals kennen gelernt haben, dann ist der Gesprächshandlung innerhalb der fingierten Szenerie, die ja einen eigenen Handlungsrahmen eröffnet, weder die Glaubwürdigkeit noch die sachliche Möglichkeit des fiktional gestalten Realkontextes abzusprechen. Statt von einer (historischen) wirklichen Möglichkeit sollte man daher wohl besser von einer (literarisch fingierten) möglichen Wirklichkeit reden. Ihrem mimetischen Charakter gemäß sind die Gespräche, wie sie in den Schriften Platons präsentiert werden, als Handlungen zu verstehen, präziser: als Gesprächshandlungen.70 Vorgeführt werden jeweils Formen der Kommunikation, der glückenden, aber auch der mißlingenden Kommunikation. Der Leser, der unterschiedliche Praktiken der Gesprächs- und der Argumentationsführung verfolgen kann, erfährt dabei nicht nur, welche Thesen von den Gesprächsteilnehmern aufgestellt werden, sondern auch, auf welche Weise die Gesprächsteilnehmer ihre Behauptungen einbringen, präzisieren, verteidigen, und ob sie ggf. bereit sind, ihre Thesen auch zurückzunehmen. Entsprechend sind die Personen, die Platon an den Gesprächen teilnehmen läßt, als handelnde Figuren zu begreifen, deren Handlungen vorrangig aus Sprechakten bestehen. Andere, nicht-verbale Handlungen können natürlich im Gespräch angesprochen werden – wie die tapferen Taten des Sokrates bei der Belagerung von Poteidaia (432-429 v. Chr.) oder bei den Schlachten beim Delion (424 v. Chr.) und von Amphipolis (422 v. Chr.)71 – oder sind, sofern die Dialogfiguren auf historische Personen zurückverweisen, bei Platons zeitgenössischen Lesern als bekannt vorauszusetzen. Jede literarische Figur – und damit auch jeder Kolloquent dialogisch inszenierter Gespräche – ist nach Aristoteles in ihren Handlungen und Sprechakten durch zwei Charakteristika gekennzeichnet: durch und , durch sittlichen Charakter und Erkenntnisfähigkeit.72 und der Gesprächsteilnehmer artikulieren sich sowohl in den propositionalen Behauptungen, die vertreten werden, als auch in der Art und Weise, wie diese Behauptungen vertreten werden. Die Prüfgespräche, in die Sokrates seine Mitunterredner gerne verwickelt, erwecken zwar zunächst den Anschein, daß nur 70 Den Begriff „Gesprächshandlung“, der die performativen Aspekte der von Platon dargestellten Gespräche betont, verwende ich in Ergänzung zu dem Begriff „Redegeschehen“, den Joachim Dalfen in das terminologische Instrumentarium der Dialogauslegung eingeführt hat (vgl. insbes. Dalfen 1989, S. 73). 71 Vgl. Lach. 181 a 7 – b 5; Symp. 220 d 5 – 221 c 1 72 Zur handlungstheoretischen Dimension der Poetik vgl. insbes. Flashar 1976, Kannicht 1976 und Stierle 1976.
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
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ein behaupteter geprüft werde, in der praktischen Durchführung des aber gerät die Prüfung des zur Prüfung der
und des dessen, der diesen auf seine Weise vertritt.73 Berücksichtigt man auch den von Aristoteles geforderten Charakter des Allgemeingültigen bzw. Beispielhaften poetischer Handlungsdarstellungen, dann ist nicht entscheidend, ob der historische Sokrates den historischen Protagoras in der Tat mit eben den Argumenten konfrontiert hat, die ihm Platon im Protagoras in den Mund legt, sondern daß der Dialog exemplarisch vorführt, wie ein Mensch vom Typ Sokrates im Streitgespräch mit einem Menschen vom Typ Protagoras verfährt,74 d. h. wie philosophische und sophistische Gesprächs-, Argumentations- und Lebensführung aufeinandertreffen.75 Der mimetische Charakter der Dialoge impliziert ferner, daß Platon in propria persona rein gar nichts sagt.76 Es ist kein Zufall, daß Aristoteles diesen 73 Vgl. Lach. 187 e 6 – 188 a 3: „Du scheinst mir nicht zu wissen, daß jeder, der mit Sokrates in nahe Berührung kommt und sich mit ihm ins Gespräch einläßt, zwangsläufig, wenn er auch zuerst die Unterredung über etwas ganz anderes begonnen hat, von ihm unaufhörlich im Gespräch herumgeführt wird, bis er nicht mehr umhin kann, über sich selbst Rechenschaft zu geben ( ), auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er sein bisheriges Leben zugebracht hat; und daß ihn dann, wenn er dahin geraten ist, Sokrates nicht eher loslassen wird, als bis er das alles gut und trefflich geprüft ( ) hat.“ Vgl. hierzu Wieland 1996, insbes. S. 10. – Zur sokratischen Rechtfertigung des vgl. Jacobi 1988, S. 11: „Alle Gesprächspartner müssen bereit sein, ihre Thesen und sich selbst der Untersuchung zu stellen. Dabei ist das gemeinsame Ziel die Wahrheitsfindung. Wenn eine These widerlegt ist, bringt das der Wahrheit näher; der Widerlegte hat Grund zur Dankbarkeit und Freude, nicht zu Ärger. Wer den Inhalt einer Schlußfolgerung nicht akzeptiert, deren formale Schlüssigkeit aber nicht angreifen kann, muß Prämissen in Frage stellen. Er darf sich nicht gegen die Prüfung seiner eigenen Voraussetzungen sperren. Diese Prüfung ist kein Spiel: Jeder muß sagen, was er wirklich meint. Seine geliebtesten Überzeugungen, zumal was die rechte Art, sein Leben zu führen, anbelangt, zur Diskussion stellen – das ist viel verlangt: Wessen Überzeugungen erschüttert werden, der muß seine Lebensführung ändern.“ Zum kommunikativen Ethos, das Sokrates’ Gesprächsund Argumentationsstil bei seinen Gesprächspartnern einfordert, vgl. auch Stetter 1997, insbes. S. 152-154.– Eine Ausnahme bildet in gewisser Hinsicht die Gestalt des Sokrates, die Platon sehr viel freier mit bloß hypothetisch angenommenen Behauptungen umgehen läßt als die übrigen Dialogfiguren, so daß in diesem speziellen Fall eine große Distanz zwischen Behauptung und behauptender Person entsteht. 74 Vgl. Fuhrmann 2 1992, S. 31: Die „Figuren (sc. der Dichtung) sind Symbole, die von ihr geschilderten Ereigniszusammenhänge sind Modelle.“ 75 Die exemplarische Funktion der Kolloquenten, die auf ein Allgemeines verweist, steht mit ihrer individuellen Zeichnung im Rahmen der Gesprächshandlung m. E. in keinem erkennbaren Widerspruch. Wie fruchtbar die Berücksichtigung der Individualität der Dialogfiguren für das Verständnis der platonischen Texte ist, hat Volker Gerhardt exemplarisch am Beispiel des Symposion demonstriert (vgl. Gerhardt 1997). 76 Damit gestattet die Form des Dialogs Platon, die eigenen Überzeugungen nicht unmittelbar preisgeben zu müssen. Philosophische Probleme können im Gang des Gesprächs auf-
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Punkt, den Diogenes Laertios vollkommen ignoriert, energisch betont: „Der Dichter soll möglichst wenig in eigener Person reden; denn insoweit ist er nicht Nachahmer.“77 Literarische Sprache im Sinne mimetischer Sprech- und Handlungsdarstellung und Aussagen des Autors in propria persona schließen sich gegenseitig aus. Die methodische Differenz, die zwischen der Person des Autors und den literarischen Figuren notwendig besteht, hat Aristoteles klar erkannt und zur Bedingung literarischer, d. i. mimetischer Sprache erhoben. Würde Platon in den Dialogen in propria persona sprechen, dann wären die Dialoge schon nicht mehr mimetischer und damit auch nicht mehr literarischer Natur. Aristoteles trägt, auch wenn er zitierend auf die platonischen Dialoge Bezug nimmt, ihrem mimetischen Charakter und der damit zusammenhängenden methodischen Differenzierung zwischen Autor und literarischen Figuren häufig Rechnung. Entsprechende Zitate leitet er nämlich oft nicht mit den Worten ein „Platon sagt, daß“, sondern mit Formulierungen wie „der Satz im Menon lautet“, „wie Polos sagt“, „wie Kallikles im Gorgias sagt“ oder „wie Gorgias es tat und wie es im Phaidros der Fall ist“.78 Bei dieser Aufzählung fällt zwar auf, daß unter den von Aristoteles zitierten Dialogfiguren nicht die Personen zu finden sind, die Diogenes Laertios als „positive“ Sprachrohre Platons anführt, nämlich Sokrates, Timaios, den Athenischen Gastfreund und den Fremden aus Elea. Doch ändert diese Feststellung nichts an der Tatsache, daß Aristoteles sehr wohl zwischen Autor- und Figurenperspektive zu differenzieren versteht. Mit Blick auf die Art und Weise der 79 unterscheidet Aristoteles zwischen der dramatischen Darstellung ( ) (1.1), die handelnde Personen unmittelbar in ihren Aktionen präsentiert,80 und narrativen Formen der Darstellung (
) (1.2) wie Bericht oder Erzählung. Interessant ist gezeigt, entfaltet und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, ohne daß eine fertige Problemlösung durch den Autor gleich mitgeliefert werden müßte (vgl. Heitsch 1992 b, S. 12 f.). – Die Feststellung, daß Platon keine Aussage in propria persona trifft, bezieht sich allein auf die Dialoge. Mit den erhaltenen Briefen liegt eine andere Textgattung vor, die auch andere Rezeptionsvorgaben an den Leser richtet. 77 Poetik 1460 a 7-8:
78 Anal. pr. 67 a 21: ! " (nach der Edition von Ross 1964); vgl. Men. 81 d 5 – e 2. Met. A 981 a 4: # $ %& (nach der Edition von Jaeger 1957); vgl. Gorg. 448 c 4-9. Soph. El. 173 a 7 f.: # ' ( ) * +, ! (nach der Edition von Ross 1958); vgl. Gorg. 482 c 4 – 484 c 3. Rhetorik III 7 1408 b 20: # * + + ' - + . (nach der Edition von Ross 1959). 79 Zum folgenden vgl. Poetik 1448 a 19 – b 3. 80 Vgl. Finsler 1900, S. 64 f., und Stierle 1976, S. 326: „(...) das eigentlich illusionäre Moment des Dramas >ist< seine Gegenwärtigkeit (...). Der Schein der Gegenwart ist nichts
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
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in diesem Zusammenhang auch eine etymologische Überlegung des Aristoteles. Der Begriff wird zurückgeführt auf den Begriff „Handeln“ ( / ). Ein ist demnach eine poietische Handlungsdarstellung, welche die handelnde Personen (
) direkt, im Modus der Gegenwart auftreten läßt.81 Von einer aus dramatischen und narrativen Elementen „gemischten“ oder „zusammengesetzten“ Form (1.3) spricht Aristoteles allerdings nicht, obgleich sie ihm ja durch Platon bekannt sein müßte.82 Daß Aristoteles die Möglichkeit einer Mischform nicht erwähnt, ist kein Zufall. Er muß die Möglichkeit mimetischer Werke, die aus narrativen und dramatischen Partien zusammengesetzt sind, verschweigen, um seine eigene gattungspoetologische Systematik nicht zu gefährden, in der die Epik gerade als die „erzählend darstellende Dichtung“ ( )83 definiert wird – in Abgrenzung gegenüber der Tragödie und der Komödie, der „dramatisch darstellenden Dichtung“ ( )84 . Für diese Gattungsunterscheidung ist es in der Tat kein geringes Problem, daß auch ein Epos dramatische Partien oder eine Tragödie episch-narrative Partien aufweisen kann. Wenn etwa die Ilias zur Epik, d. i. zur erzählenden, nicht aber zur dramatischen Dichtung gezählt wird, muß es irritieren, daß sie nicht ausschließlich in narrativer Form geschrieben ist, sondern im dramatisch gestalteten Modus des Redeberichts ja durchaus auch die direkte Rede der literarischen Figuren kennt. Da ein Epos also nicht ausschließlich aus besteht und das auch keineswegs als Proprium der Epik gelten darf, droht ein für Aristoteles zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Dramatik und Epik verloren zu gehen. Daß Aristoteles dieses Unterscheidungsmerkmal braucht, zeigt insbesondere Poetik 1449 b 11-12, wo die Epik gegenüber der Tragödie dezidiert durch das unterschieden wird. Trotz der m. E. strategischen Unterschlagung der „gemischten“ Form gelangt auch Aristoteles zu einer Dreiteilung literarischer Stilformen, indem er weiter differenziert zwischen zwei Möglichkeiten der Narration: Der Dichter kann entweder – wie in manchen Partien des Epos – „als ein anderer“ sprechen oder aber ohne Veränderung „als derselbe“ sprechen. Im ersten Fall gestaltet der Dichter eine Sprecherrolle, d. h. er konstituiert eine bestimmte literarische Figur, die er etwas erzählen oder berichten läßt. Im zweiten Fall gestaltet der
81 82 83 84
anderes als vergegenwärtigende Vergangenheit.“ Zu und vgl. auch Kannicht 1976, insbes. S. 330. Vgl. Poetik 1448 a 29 f. Vgl. oben S. 25. Vgl. Poetik 1459 b 36 f., 1459 a 17, 1459 b 26 f. Poetik 1448 b 34-38.
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Dichter eine – nicht mit dem Autor zu identifizierende – auktoriale Erzählperspektive, für die es nicht notwendig ist, auch als ausgestaltete Person Kontur zu gewinnen.85 In unserem Zusammenhang ist der entscheidende Punkt darin zu sehen, daß nach Aristoteles die Berücksichtigung der literarischen Stilform für alle mimetisch-poietischen Werke sinnvoll ist, also auch für die Beschreibung platonischer Dialoge, deren Klassifikation nach stilistischen Kriterien Diogenes Laertios, wie wir gesehen haben, vehement ablehnt. Im Rahmen der teleologischen Grundstruktur der aristotelischen Philosophie ist es nicht verwunderlich, daß Aristoteles auch der und ihren verschiedenen Unterarten klare Zielvorgaben gibt.86 Allgemein besteht das der Dichtung darin, dem Rezipienten zu bereiten. Mit der wirkungsästhetischen Kategorie der hat Aristoteles zugleich ein Kriterium zur Verfügung, das es erlaubt, die einzelnen Gattungen der Dichtung durch die je spezifische Wirkung ( )87 zu unterscheiden, die sie auf die Rezipienten ausüben, besser: ausüben sollen.88 Durch die berühmte Tragödiendefinition gut bekannt ist die , die der attischen Tragödie, wie Aristoteles sie denkt, eigentümlich ist: und .89 Den griechischen 85 Vgl. die abweichende Deutung von Fuhrmann 2 1992, S. 105, Anm. 1: „Beim wird eine weitere Unterscheidung getroffen: der Dichter könne entweder in der Rolle eines anderen, aus fremdem Munde, oder stets als er selber sprechen.“ M. E. ist es nicht Aristoteles’ Absicht, den zweiten Fall der Narration als Rede des Dichters in propria persona zu verstehen – denn dann wäre der narrative Dichter ja gar kein / (vgl. Poetik 1460 a 7-8). Es geht wohl v. a. um die Konstanz einer bestimmten Erzählperspektive, die ohne Veränderung des Blickwinkels und ohne Gebundenheit an konkrete, literarisch ausgestaltet Figuren die Handlungsdarstellung leistet. Die Differenz zwischen Autor und (ggf. auktorialer) Erzählperspektive hat Aristoteles also sehr wohl gesehen. 86 Zu dem engen Zusammenhang zwischen der Allgemeingültigkeit, welche die vom Dichter dargestellten Handlungszusammenhänge auszeichnen soll, und der wirkungsästhetisch verpflichteten Zielsetzung der Dichtung vgl. Fuhrmann 2 1992, S. 34 f. 87 Poetik 1459 a 21. 88 Vgl. Schadewaldt 1955, S. 160: „Die verschiedenen Kunstarten unterscheiden sich mithin am entschiedensten durch die spezifische Lust, die jede von ihnen erregt, und so geht es für den, der das Wesen einer dieser Kunstarten bestimmen will, darum, die spezifische Lust anzugeben, die die betreffende Kunstart hervorruft.“ 89 Poetik 1449 b 24-28: „Die Tragödie ist die Darstellung ( ) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Darstellung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer () und Schaudern () hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ Daß Lessings Übersetzung für und , „Mitleid“ und „Furcht“, nicht gerade glücklich ist, hat Schadewaldt 1955 nachgewiesen (vgl. auch Pohlenz 1956 und Fuhrmann 2 1992, insbes. S. 92-110). Mit „Jammer“ oder „Rührung“ für und „Schaudern“ oder „Schrecken“ für ist wohl besser wiedergegeben, was Aristoteles im Blick hat. Vgl. Flashar 1956, S. 48: „(...) so ist zunächst festzustellen, daß die
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
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Begriff , wie er im Kontext der Poetik verwendet wird, mit „Lust“ oder „Vergnügen“ zu übersetzen, kann leicht zu Mißverständnisse führen, da es für die einzelnen Arten der Dichtung ja spezifische wie und gibt, die nur in einem sehr ungewöhnlichen Sinne Vergnügen oder Lust bereiten. Allgemein geht es schlicht darum, daß Aristoteles von jeder Form der verlangt, daß sie auf die der Rezipienten in der ihr bestimmten Weise einwirkt. Daher ziehe ich es vor, in unserem Zusammenhang mit dem formalen Begriff „Wirkung“ wiederzugeben, wobei allerdings mitzubedenken ist, daß die Wirkung hier jeweils mit einem besonderen, die Kunstrezeption auszeichnenden „Reiz“ verbunden ist. Insofern kann man auch sagen, daß der Tragödienbesucher, der und empfindet, diese Gefühle, die selbst keineswegs mit der Lust einfach gleichzusetzen sind, doch auf lustvolle Weise empfindet. Welche Wirkung ein konkretes poietisches Werk nun genau erzielen soll, hängt wesentlich ab von der literarischen Gattung, der es zugehört. Eine Tragödie ist demnach genau dann eine gute, ihr treffende Tragödie, wenn sie nicht die Wirkung einer Komödie90 oder eines Satyrspiels, sondern eben die spezifische Wirkung der Tragödie hervorruft: und .91 Lassen sich die Arten der Dichtung nach Aristoteles durch ihre jeweilige spezifizieren, dann stellt sich die Frage nach dem spezifischen des platonischen Dialogs: Welche Wirkung soll der platonische Dialog in der der Rezipienten erzielen? Aristoteles selbst äußert sich nicht zu dieser Frage. Zwar ergibt sich notwendig aus seiner Theorie der Dichtkunst, daß die Dialoge der Sokratiker über eine eigene verfügen müssen, doch über welche, das erfahren wir nicht. Erlauben wir uns daher einige hoffentlich nicht ganz unbegründete Spekulationen, die bei den Wirkungen ansetzen, die der platonische Dialog bei einem ganz bestimmten Leser erzielen konnte, bei „dem Leser“92 . jetzt von SCHADEWALDT vorgetragene Ansicht, und als ‚Schrecken‘ und ‚Jammer‘ zu verstehen, durch das hier vorgelegte Material eine Bestätigung erfährt. Unter der unnormal starken Kälteempfindung, durch die der medizinisch bestimmt ist, muß konkret ein Kälteschauer verstanden werden, der den Zuschauer als unmittelbares Schreckgefühl befällt; entsprechend muß unter der unnormal starken Feuchtigkeit, durch die der bestimmt ist, konkret jene Rührung verstanden werden, die dem Zuschauer die Tränen in den Augen stehen läßt.“ 90 Vgl. Poetik 1453 a 30-36. 91 Vgl. Poetik 1453 b 10-11. 92 Vgl. Jacobi 1982, S. 53: „Es wird erzählt, man habe in der Akademie den jungen Aristoteles ‚den Leser‘ genannt; der Atmosphäre der Akademie entspricht es, wenn man sich diesen Beinamen ironisch-geringschätzig, und doch mit einer Beimischung von Bewunderung ausgesprochen vorstellt.“
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1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
In seiner Kritik an den Überlegungen Platons zur Theorie der und des 93 nimmt Aristoteles zwar auch, aber nicht nur auf die mündliche Lehrtätigkeit Platons im Rahmen der Akademie Bezug. Betroffen sind auch die veröffentlichten Dialoge seines Lehrers. An dieser Stelle ist es nicht nötig, detailliert auf die aristotelische Platon-Kritik einzugehen94 , es genügt festzuhalten, daß die Lektüre der platonischen Dialoge Aristoteles zu einer kritischen philosophischen Auseinandersetzung mit eben den Positionen führt, die in den Dialogen vorgeführt werden. Aristoteles befaßt sich dabei – wie seine bereits angesprochene Zitierweise deutlich macht – auch mit denjenigen der in den Dialogen präsentierten Thesen, von denen er sicher ist, daß sie nicht seinem Lehrer selbst zuzuschreiben sind. Als Leser platonischer Dialoge ist Aristoteles immer auch philosophischer Kritiker. Offensichtlich ist der literarische Charakter, den er den Dialogen zuschreibt, für Aristoteles kein Grund, die Texte Platons nicht auch zugleich als philosophische Schriften zu lesen. Dazu gehört insbesondere, die Behauptungen, die Platon seine Dialogfiguren aufstellen läßt, ernst zu nehmen und zu kritisieren. Dies zeigt nebenbei, daß Thesen mit kritisierbarem Wahrheitsanspruch keineswegs das Spezifikum philosophischer Traktate sind. Läßt Platon eine Dialogfigur eine These behaupten, dann handelt es sich natürlich um eine Behauptung, die mit Wahrheitsanspruch auftritt und der Kritik unterzogen werden kann. Nur ist es nicht der Autor, sondern die literarische Figur, die hinter diesem Anspruch steht. Der Autor erhebt nicht selbst einen Wahrheitsanspruch, er läßt einen Wahrheitsanspruch erheben. Durch diese Differenzierung scheint mir Habermas’ Behauptung, daß ein Leser nicht von literarischen, wohl aber von philosophischen und wissenschaftlichen Texten „zu einer Kritik aufgefordert <wird>, die sich auf die im Text erhobenen Geltungsansprüche richtet“, problematisch zu werden.95 Diogenes Laertios’ Option, literarische und philosophische Texte streng voneinander zu separieren, hat in Aristoteles’ Auseinandersetzung mit den platonischen Dialogen einen scharfen Konkurrenten gefunden. Denn im Sinne des Aristoteles ist die – für Diogenes Laertios ja durchaus sinnvolle – Fra
93 Daß die aristotelische Kritik an Platon oft zu eingeschränkt als Kritik an der Konzeption der Idee ( , ) gedeutet und seine Kritik an der Konzeption des Sinnendings ( ) dabei außer acht bleibt, hat Gerold Prauss zu Recht beanstandet (vgl. Prauss 1968, insbes. S. 99 f.). 94 Zur Platon-Kritik des Aristoteles, die zugleich auf der Unterschiedlichkeit ontologischer Grundbestimmungen wie auf der Unterschiedlichkeit der Selbstverständnisse im Rahmen der praktischen Philosophie beruht, vgl. Marten 1975 a, insbes. S. 9-13. 95 Habermas 3 1989, S. 262. Vgl. auch S. 263: „Anders als literarische Texte, von denen einer den anderen parodieren kann, kann ein philosophischer Text einen anderen kritisieren.“
1.5 Aristoteles’ Einschätzung der platonischen Dialoge
45
ge, ob eine konkrete Schrift wie der Phaidros zur Klasse der literarischen oder aber zur Klasse der philosophischen Texte zu zählen ist, bereits als Frage verfehlt. Der Phaidros ist für Aristoteles beides zugleich: literarisches Kunstwerk und philosophisches Werk. Die literarische Form, d. i. der mimetische Charakter, der platonischen Dialoge steht nicht in Opposition zu ihrem philosophischen Inhalt und ihrer zum kritischen Philosophieren anregenden Wirkung.96 Es ist gerade das spezifische des Dialogs, daß durch die Darstellung philosophischer Gespräche beim Rezipienten die Anregung zum eigenen kritischen Umgang mit philosophischen Überlegungen bewirkt werden soll – mit philosophischen Überlegungen, die im dargestellten Gespräch zum einen thematisch ausgeführt und zum anderen durch die Sprechakte performativ angezeigt werden. Ein poietisches Werk kann, so Aristoteles, seine Wirkung nur entfalten, wenn in der mimetisch dargestellten Handlung diese Wirkungen schon selbst enthalten sind.97 Insofern korrespondieren philosophische Thematik und philosophisch relevante Performanz der vorgeführten Gesprächshandlung bestens mit der zum Philosophieren bewegenden . Um die spezifische Wirkung, die , die ein Dialog beim Rezipienten erzeugen soll, terminologisch zu fassen, scheint es mir hilfreich, den Begriff des ins Spiel zu bringen.98 Die , die Aristoteles den Schriften Platons zuschreiben könnte, liegt nicht wie bei der Tragödie im Jammer und Schrecken, sondern im Staunen, in einer Irritation der Vernunft, die es nicht als Irritation zu bewahren, sondern durch die Arbeit der Vernunft zu bewältigen gilt. Treffen die vorgeführten Spekulationen zu, dann versteht Aristoteles die Dialoge Platons als literarische Texte, die eine philosophische Gesprächshandlung darstellen – mit dem erklärten Ziel, bei den Lesern eine hervorzurufen, die im , im Angeregtwerden zur eigenen philosophischen Tätigkeit liegt.99
96 Vgl. die Feststellung Andreas Graesers, daß beim literarischen Genre des Dialoges „das Dramatisch-Mimetische und das Philosophisch-Inhaltliche zu einer unlösbaren Einheit verschmilzt“ (Graeser 2 1993, S. 126). 97 Vgl. Poetik 1453 b 11-14. 98 Vgl. Tht. 155 d 1-7; Metaphysik A.2 982 b 12-21. – Als Ergänzung könnte auch der platonische Begriff des /
(att.) angeführt werden, wie er etwa im Symposion Verwendung findet: Der Zustand der zeichnet zum einen den philosophierenden Sokrates in seiner Suche nach dem Schönen aus (216 d 3), zum anderen ist es eben dieser Zustand, in den die Gesprächspartner des Sokrates bei seinen Worten geraten (215 d 5 f., vgl. auch 194 a 5 – b 5). 99 Zum „philosophischen Ziel“, das die platonischen Dialoge verfolgen, vgl. auch Ferber 2 1989, S. 13.
46
1. Terminologische und hermeneutische Vorüberlegungen
Durch Aristoteles’ Poetologie, die nicht wie Diogenes Laertios das Ziel einer kategorischen Scheidung philosophischer und literarischer Texte verfolgt, ist die Möglichkeit eröffnet, Platon gleichermaßen als Literat wie als Philosoph zu begreifen. Der literarische Charakter der platonischen Dialoge schließt ein Verständnis der philosophischen Inhalte, wie sie in den fingierten Gesprächen thematisch werden, also keineswegs aus. Das Gegenteil ist der Fall: Wer den literarischen Charakter der Dialoge zur Grundlage seiner Interpretation platonischer Texte macht, kann sich ernsthaft mit den inhaltlichen Aussagen und Argumentationen der Dialogfiguren befassen, darüber hinaus aber auch die Performanz der dargestellten Gesprächshandlungen100 betrachten und indirekte literarische Hinweise des Autors berücksichtigen, die den philosophischen Diskussionsstand, der in den Gesprächen der Dialogfiguren erreicht wird, erweitern, vertiefen, kritisch beleuchten und problematisieren. Für die vorliegende Arbeit heißt dies konkret, daß vor dem Hintergrund einer literarischen Auffassung der platonischen Texte die Differenzierung möglich wird zwischen einer Theorie der Interpretation, in der die Ausführungen platonischer Dialogfiguren zum Thema „Dichterauslegung“ behandelt werden, und einer Praxis der Interpretation, die sich mit dem Szenario literarisch gestalteter Dichterauslegung auseinandersetzt. Im nun folgenden ersten Hauptteil der Arbeit werden – wie bereits ankündigt – die interpretationstheoretischen Fragen thematisiert, die Platon seine Dialogfiguren diskutieren läßt. Beginnen werden wir mit der Auslegung des Ion. Diese Frühschrift stellt nicht nur den einzigen Dialog dar, bei dem Platon die Dichterauslegung zum zentralen Gesprächsthema gemacht hat, sie ist auch für alle späteren interpretationstheoretischen Überlegungen in seinem Werk strukturbildend geworden.
100 Vgl. auch Schildknecht 1990, S. 13: „Literarische Texte zeichnen sich, neben einer Ebene des Mitteilens (Sagens) von Inhalten, überwiegend durch eine Ebene des Aufweisens (Zeigens) von Sinn aus.“
2. Die Theorie der Interpretation 2.1
Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer 2.1.1 Das Proömium des Ion
Das Gespräch zwischen Sokrates und Ion inszeniert Platon in rein dramatischer Form: Sokrates spielt hier nicht die Doppelrolle von Erzähler und Mitunterredner, sondern wird allein als Gesprächsteilnehmer dargestellt. Als Schauplatz der Unterredung ist die Agora Athens zu vermuten. Sokrates begegnet dem Rhapsoden Ion, der eben erst in Athen eingetroffen ist. Ion kommt aus Epidauros, wo er auf dem Asklepiosfest den Sieg im Rhapsodenagon errungen hat, um in Athen gleich den nächsten Wettkampf zu bestreiten, der im Rahmen des Panathenäenfestes ausgetragen wird. Die Asklepiosfeste wurden in Epidauros alle zwei Jahre im Hochsommer veranstaltet.1 Ab wann musische Agone in Epidauros stattfanden, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Hinsichtlich des fiktiven Gesprächsdatums zieht Hellmut Flashar nach gründlicher Prüfung der zahlreichen historischen Bezüge, die im Text angelegt sind, den Schluß: „Es ist wahrscheinlich, daß Ion von den großen Asklepieen des Jahres 395 zu den großen Panathenäen des Jahres 394 kommt, die beide dicht beieinanderliegen. Damit kommen wir für die fiktive Zeit des Ion auf das Jahr 394, wobei sich dann allerdings in dem Auftreten des Sokrates ein Anachronismus ergibt, der aber für Platon nicht ungewöhnlich ist.“2 Faßt man die fiktive Zeit als terminus post quem, dann kommt für den Ion, der ohne Zweifel in die Gruppe der frühesten Schriften Platons gehört, eine Abfassungszeit zwischen 394 und 390 in Frage. Flashars Vermutung, daß Platon „den Dialog Ion auch um das Jahr 394 geschrieben hat“,3 ist m. E. sehr plausibel.4 Die zu Ehren der Athena veranstalteten Panathenaia fanden jedes Jahr am 28. Hekatombaion (Juli / August), dem angeblichen Geburtstag der Göttin, statt. Während die Panathenaia mikra jedes Jahr begangen wurden, 1 2 3 4
Vgl. Sève 1993. Flashar 1958, S. 100; vgl. auch Sève 1993, insbes. S. 323. Flashar 1958, S. 101. Zur Chronologie platonischer Dialoge vgl. allgemein Ledger 1989 und Brandwood 1990.
48
2. Die Theorie der Interpretation
feierte man die von Peisistratos eingeführten und von Perikles geförderten sehr viel prächtigeren Panathenaia megala, die auch die große Prozession mit dem Peplos einschlossen, nur alle vier Jahre. Zu diesem Anlaß wurden zahlreiche gymnische und musische Agone veranstaltet, u. a. trug eine Gruppe von Rhapsoden die gesamte Ilias und Odyssee vor.5 Neben Sokrates und Ion nehmen keine weiteren Kolloquenten an der kurzen Unterredung teil. Da Sokrates in diesem Gespräch nur zu einem Gesprächspartner spricht, sind seine Aussagen – innerhalb des dramatischen Handlungsrahmens – als einfach adressierte zu verstehen. Grundsätzlich ist Wolfgang Wieland zwar rechtzugeben, wenn er bemerkt, daß, was „im Dialog gesagt wird, (...) sich unmittelbar niemals an den Leser, sondern an eine auf der dramatischen Ebene agierende Dialogfigur .“6 Doch bestritten werden muß m. E. Wielands weiterreichende These, wonach von „seiner Konzeption her (...) der Dialog nicht darauf angelegt , den Leser einzubeziehen“ und so „auf der Ebene der literarischen Fiktion eine Abgeschlossenheit präsentiert <wird>, die nicht mehr über sich hinausweist.“7 Ausgangspunkt meiner Kritik ist die Beobachtung, daß in der überwiegenden Mehrzahl der platonischen Dialoge mehr als nur zwei Personen an dem vorgeführten Gespräch teilnehmen, obgleich fast immer nur zwei der Dialogfiguren auch in der gleichen Gesprächsrunde zu Wort kommen. Die übrigen Personen übernehmen entweder in einer anderen Phase des Gesprächs den Part eines Kolloquenten – wie Gorgias, Polos und Kallikles im Gorgias – oder sie bleiben das gesamte Gespräch über als schweigende, mitunter auch kommentierende Zuhörer präsent. Gesprächsabschnitte, die wie die Passage 334 c-338 e des Protagoras mehr als zwei Sprecher kennen, sind in den Dialogen kaum zu finden.8 Der Umstand, daß Platon viele Gespräche in der Anwesenheit von schweigenden, aufmerksamen Zuhörern (man könnte hier den Ausdruck „Parachoregema“ aus der Theatersprache entlehnen) stattfinden läßt, sollte nicht unterschätzt werden: Durch die Anwesenheit des Publikums gewinnen die sokratischen Gespräche den Charakter der Öffentlichkeit, und der Interpret platonischer Dialoge hat entsprechend die Implikationen zu berücksichtigen, die sich aus
5 Vgl. Hipparchos 228 b 4 – 230 e 5. Zur Bedeutung der musischen Agone vgl. Flashar 1958, S. 19, S. 22 f.; zum Verhältnis von Fest und Agon vgl. Schmitt Pantel / Zaidman 1994, S. 102-111 und Barmeyer 1986, insbes. S. 76-78. 6 Wieland 1982, S. 57. 7 Ebd. 8 Vgl. die entsprechende Konstellation in der zeitgenössischen Theaterpraxis: „Dreiergespräche werden tatsächlich weit seltener realisiert, als sie theoretisch möglich wären.“ (Blume 3 1991, S. 83)
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
49
diesem Charakter ergeben. Die Aussage, die ein Kolloquent an seinen direkten Gesprächspartner oder -gegner richtet, wird, wenn sie in der Anwesenheit von umstehenden Zuhörern geäußert wird, zu einer mehrfach adressierten Aussage. So wendet sich Sokrates in den sog. Sophisten-Dialogen mit seinen Argumentationen nicht allein an den jeweiligen Sophisten, den er mit seiner Argumentation konfrontiert, sondern zugleich an die Umstehenden, denen er zeigt, auf welche Weise der Sophist argumentativ in Bedrängnis zu bringen ist. Mit den umstehenden Zuhörern bietet Platon dem Leser des Dialogs eine Rezeptionshaltung an, die einzunehmen oft leichter fällt, als sich in der Rolle eines Kolloquenten wiederzuerkennen. „Bisweilen wird der Leser geradezu ‚eingeladen‘, sich dem Kreis der Zuschauer eines im ‚Dialog‘ geschilderten Gespräches einzureihen. (...) Es wird also die Vorstellung eines nicht näher bestimmten Hörerkreises geweckt, dem sich der Leser anschließen soll (...)“9 Dem Leser des Dialogs ist damit die Möglichkeit gegeben, an dem Gespräch zwar nicht als direkter Adressat der von den Dialogfiguren geäußerten Sprechakte, wohl aber als Zeuge der Gesprächshandlung teilzunehmen. Von einer „Abgeschlossenheit“ ist daher weder auf der dramatischen Ebene noch auf der Rezeptionsebene zu sprechen.10 Schon in der Begrüßungsszene des Ion fällt der spöttische Ton auf, den Sokrates auch im weiteren Verlauf des Gesprächs pflegen wird. Bemerkenswert ist v. a. das joviale „wir“, von dem Sokrates in der Gesprächseröffnung geradezu penetrant Gebrauch macht.11 Ion übernimmt Sokrates’ Rede vom „wir“ – „Den ersten Preis trugen wir davon, Sokrates.“12 – doch bezeichnet der Rhapsode damit wohl nur einen einzigen: sich selbst. Gegenüber dem herablassend jovialen Ton, der in Sokrates’ „wir“ mitschwingt,13 scheint mit dem „wir“ Ions eher ein pluralis majestatis vorzuliegen, ein erstes Anzeichen für 9 Erler 1987, S. 2 f. Fn.7; vgl. Dalfen 1979 / 80, S. 43. 10 Vgl. auch Habermas’ treffende Bemerkung über das Verhältnis literarischer Personen, die als Leser fiktional gestaltet sind, und realen Lesern: „Der dargestellte Leser muß einerseits ein abstrakter Platzhalter sein, um seinen Platz für jeden realen Leser offenzuhalten. (...) Andererseits muß >der< Leser bestimmte eigene Züge annehmen und trotz aller Vorsichtsmaßregeln aus seiner Anonymität heraustreten, weil er sich als Romanfigur nicht dagegen wehren kann, in eine Geschichte verwickelt zu werden.“ (Habermas 3 1989, S. 258) 11 Ion 530 a 1 – b 3: „Woher kommst du uns denn jetzt hierhergereist? (...) Was denn, hast du uns etwa mitgekämpft? (...) Nun, sieh zu, daß wir auch auf dem Panathenäenfest siegen.“ ( (...) ! "# (...) $ %! & ' ( )) (Die Zitate aus dem Ion in deutscher Übersetzung stammen von Flashar 1988.) 12 Ion 530 b 1: *+ + $,! -. / 01* ) 13 Vgl. Flashar 1958, S. 17: „Und in der Tat treibt Sokrates hier (sc. im Proömium) in übermütiger Laune ein ironisches Spiel mit dem Rhapsoden Ion, das sich vor allem in den
50
2. Die Theorie der Interpretation
die kaum übersehbare Eitelkeit dieses Rhapsoden. Was motiviert aber Sokrates, von „wir“ zu sprechen? Platon gibt uns keinen Hinweis auf eine Gemeinsamkeit, die Sokrates und Ion auf signifikante Weise verbinden würde. Das „wir“ kann nicht das „wir“ einer kollektiven Identität sein, wie sie die Angehörigen eines Demos, einer Phyle oder auch nur einer Polis eint: Sokrates ist Athener, Ion dagegen stammt aus dem ionischen Ephesos. Da wir von einem historischen Rhapsoden namens Ion nichts wissen, ist es naheliegend, eine Anspielung Platons auf den mythischen Stammvater der Ionier, Ion, zu vermuten. Ion als Vertreter der als verweichlicht geltenden ionischen Lebensform stünde damit dem Sokrates als dem Repräsentanten einer dorischen Lebensform gegenüber.14 Allerdings kann sich die Gegenüberstellung eines typisch ionischen und eines typisch dorischen Gesprächskontrahenten, jedenfalls was die Bezeichnung angeht, nicht auf den platonischen Sokrates stützen. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Tendenz, den mythischen Ion in die legendäre Frühgeschichte Athens einzubinden und für diese Polis zu vereinnahmen, und in der Nachfolge des Euripides, der diesen „Ahnherrn“ in seiner gleichnamigen Tragödie zum Sohn Apollons gemacht hat, äußert Sokrates im Euthydemos, nicht Zeus heiße bei den Athenern „väterlich“ ( ), sondern Apollon und zwar wegen der Erzeugung des Ion.15 Sokrates’ rhetorische Frage im Ion (541 d 6) – „Seid ihr Ephesier nicht überhaupt Athener von alters her (...)?“ – muß m. E. vor diesem Hintergrund gedeutet werden: Die Ionier, die sich auf den Stammvater Ion berufen können, sind ursprünglich in Attika und insbesondere in Athen zu Hause, die ionischen Städte in Kleinasien dagegen verdanken sich Koloniegründungen, ohne auch nur zu einer eigenständigen Benennung zu gelangen, denn die „eigentlichen“ Ionier sind die Athener. Die Herkunft Ions erfährt der Leser schon in der ersten Anrede des Rhapsoden.16 Im späteren Verlauf des Gesprächs wird das politisch keineswegs unproblematische Verhältnis von Ephesos und Athen auch direkt angesprochen:17 Dort bezeichnet Ion – gegenüber Sokrates – Ephesos als „unsere Polis“, die von „euch Athenern“ beherrscht wird. Aus Ions Perspektive steht damit „unsere Polis Ephesos“ „eurer Polis Athen“ diametral gegenüber: Athen beherrscht Ephesos, Ephesos wird von Athen beherrscht. Zum fiktiven Zeitpunkt des Gesprächs hat das schlechte Verhältnis beider Poleis bereits eine
14 15 16 17
sociativen Pluralen äußert, wodurch sich Sokrates ausdrücklich ‚herablassend‘ in den Lebensbereich des Ion einbezieht.“ Vgl. Wyller 1958, S. 28. Vgl. Euthd. 302 c 6 – d 3. Ion 530 a 1 f. Ion 541 c 3-6.
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
51
lange Vorgeschichte: Athen hatte den von Milet initiierten Aufstand der griechischen Poleis Kleinasiens gegen die Perser unterstützt, während sich das ionische Ephesos dem Aufstand nicht anschließen wollte. Milet wurde im Rahmen der militärischen Auseinandersetzungen von Dareios zerstört, Ephesos blieb verschont. Nach dem Ende der Perserkriege hatte sich Ephesos zwar dem attischen Seebund angeschlossen, doch im peloponnesischen Krieg wechselte Ephesos die Seiten und ergriff Partei für Sparta. Dagegen klingt Sokrates’ Bemerkung, die Einwohner Ephesos’ seien von alters her Athener, zunächst versöhnlich. Sollte er in der Begrüßungsszene etwa doch „wir Athener“ gemeint haben? Wohl kaum, berücksichtigt man auch die zweite Bemerkung des Sokrates: Ephesos stehe hinter keiner anderen Polis zurück! Vor dem Hintergrund der um 395 v Chr. herrschenden machtpolitischen Verhältnisse fällt es schwer, diese Bemerkung nicht als boshaften Seitenhieb zu interpretieren. Auf jeden Fall muß Ion, der ja auf der klaren Trennung beider Poleis beharrt, die Rede von „uns Athenern“ als unangenehme Vereinnahmung auffassen. Das „wir“ in der Rede des Sokrates kann aber auch nicht das „wir“ einer kollektiven Identität sein, wie sie die Fachleute eines bestimmten Gebietes, etwa die Rhapsoden und Homer-Experten, auszeichnet. Schließlich gibt Sokrates deutlich zu verstehen, wie schlecht er über die gesellschaftliche Praxis der Rhapsodenagone informiert ist: „Wie? Stellen die Epidaurier auch einen Rhapsodenwettkampf dem Gotte zu Ehren an?“18 „Wir Experten“ meint Sokrates also ebensowenig wie „wir Athener“. Es ist zu vermuten, daß Sokrates durch sein joviales „wir“ die beiden angeführten Verwendungsweisen des „wir“ gerade karikieren will: Sokrates verspottet zum einen all die Mitglieder einer Polis, die ihre Stadt ausgerechnet in den wenig geistreichen Rhapsoden19 repräsentiert sehen. Und zum andern die selbsternannten Rhapsoden und Homer-Experten, die vermeintlichen Fachleuten auf einem Gebiet, das – wie der Dialog zeigen will – doch gar keine Fachleute zuläßt. Das „wir“ des Ion und das „wir“ des Sokrates unterscheiden sich demnach fundamental: Spricht Ion mit seinem „wir“ nur von sich selbst, so schließt das „wir“ des Sokrates den Sprecher gerade aus. Ganz am Ende des Gesprächs schließlich begegnet uns das joviale „wir“ noch einmal, wenn Sokrates dem Rhapsoden aus Ephesos mitteilt, welchen Preis er bei seinem Gastspiel in Athen erringen konnte: „Dies Schönere also wird dir zuteil bei uns, Ion, zu sein ein göttlicher 18 Ion 530 a 5 f.: 19 Vgl. in Xenophons Memorabilien (I 7, 14) und in seinem Symposion (III 5-6) die Darstellung der Rhapsoden als geistlose Männer, die „ihren“ Homer zwar dem Wortlaut nach auswendig können, doch keineswegs in der Lage sind, auch den tieferen Sinn, die , seiner Dichtung zu verstehen.
52
2. Die Theorie der Interpretation
und nicht fachkundiger Lobredner Homers.“20 Was von dieser Auszeichnung zu halten ist, wird im Kapitel zu Sokrates’ Kritik am 21 deutlich werden. Dann wird klar, daß die vermeintliche Würdigung als „göttlicher Lobredner“ nicht einmal als Trostpreis gelten kann: Ion, der berühmte Wettkämpfer aus Ephesos, hat in Athen bei dem Aufeinandertreffen mit Sokrates eine herbe Niederlage einstecken müssen.
2.1.2 vs. Nach der kurzen Begrüßungsszene eröffnet Sokrates das Gespräch mit einem Paukenschlag: Schon oft habe er die Rhapsoden beneidet – wegen ihres „Könnens“, wegen ihrer 22 . Der Begriff ist im Deutschen nur schwer mit einem einzigen Begriff zu übersetzen. Statt einer einfachen Übersetzung sei darum eine kurze Skizzierung des Begriffs vorangestellt: Gemeint ist ein fach- und gegenstandsbezogenes „Sich-verstehen-auf“, eine spezifische Fähigkeit, ein „Können“, das die Trennung zwischen Experten auf der einen Seite und Laien auf der anderen Seite ermöglicht. In den Augen des Sokrates als gelten zu dürfen, ist keine Kleinigkeit. Genauere Auskunft über den Begriff , der im Ion zwar verwendet, nicht aber expliziert wird, soll uns eine Passage des Gorgias geben.23 Die Auslegung dieser Stelle ist m. E. für eine Interpretation des Ion auch deshalb lohnend, weil sie mit einen Gegenbegriff zu bereitstellt, der zur Beschreibung von Ions eigener rhapsodischer Praxis bestens geeignet ist. Neben wird auch als Gegenbegriff zu angeführt. Die Begriffe und sind eng assoziiert, ein klarer Bedeutungsunterschied ist der Passage nicht zu entnehmen. Sokrates streitet im Gorgias der konventionellen Rhetorik, d. i. der Rhetorik, wie sie von den Sophisten gelehrt und ausgeübt wird, den Rang einer energisch ab. Auf die Frage seines Mitunterredners Polos, welche die Rhetorik ( )24 sei, entgegnet Sokrates, sie sei gar keine
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20 Ion 542 b 3 f.:
21 Vgl. unten Kap. 2.3. 22 Ion 530 b 5 f. 23 Zum folgenden vgl. insbes. Gorg. 462 b 3 – 466 a 3 und Baumhauer 1986, insbes. S. 6177. 24 Obgleich die auf - & endenden griechischen Begriffe – wie (& #, #, ()*+ # u. v. m. – auch selbständig als substantivierte Adjektive gebraucht werden kön-
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
53
, sondern eine gewisse Übung ( ).25 Mit den Indefinitpronomina „ “ und „ “ macht Sokrates gerne auf einen anstehenden Präzisierungsbedarf aufmerksam. Wird die Rhetorik im Gorgias als „ “
bezeichnet, dann ist erst ein vager Vorbegriff artikuliert, den es sogleich näher zu bestimmen gilt: Erstens in Hinblick auf den eigenen Gegenstands- bzw. Wirkungsbereich der , zweitens im Verhältnis zu anderen und drittens in der Abgrenzung gegenüber den verschiedenen Arten der . Die Leistung, die mittels der zu erzielen ist, beschreibt Sokrates als Bewirkung eines gewissen Wohlgefallens ( ) und einer gewissen Lust (). Um die eigene Wirkung der zu klären, unterscheidet sie Sokrates von drei weiteren : von der Sophistik ( , die wie die Rhetorik eine Wirkung auf die Seele ausübt, sowie von den sich auf den Körper beziehenden Koch- (
)26 und Putzvermögen ( ). Alle vier bestimmt Sokrates als Teile der Schmeichelei ( ), die ihrerseits zwar -los ist, wohl aber richtiges Treffen ( )27 , Kühnheit ( ) und Einflußreichtum ( ) im Umgang mit Menschen voraussetzt.28 Diesen vier
stehen vier gegenüber: Die Kunst der Rechtspflege ( ), die Kunst der Gesetzgebung ( ), die Heilkunst (! ) und die Turnkunst ("# ). Lange vor Sophistes, Philebos und Politikos dokumentiert das im Gorgias zu findende, Rationalität signalisierende Ordnungssystem,29 in das die vier genannten integriert werden, Platons Neigung
25 26
27
28 29
nen, verlangen sie in der Regel nach der Ergänzung durch ein Substantiv wie , oder . Gorg. 462 b 6 – c 3. Mit hat Sokrates sicherlich keine diätetische, „gesunde“ Kochkunst im Sinn, die auf das Beste des Körpers zielt und damit eher einen Teilbereich der ausmacht. Man sollte bei an einen Zuckerbäcker denken, der etwas Angenehmes, um nicht zu sagen: etwas Leckeres, zubereitet, das aber gerade zum Nachteil des Körpers gereicht. Durch den Begriff gelangt die in die Nähe der resp. , die ebenfalls bestimmt ist durch ein glückliches Treffen, das aber nicht an Gründe gebunden und daher nicht wie die zur Rechenschaftsgabe, zum , befähigt ist. Vgl. insbes. Gorg. 463 a 6-8. Vgl. Buchheim 1986, S. 122 f.: „Durch Ausrichtung auf ein bestimmtes, bleibendes Ergon erhält die platonische Techne eine rationale und gefestigte Struktur. (...) Dieses Modell ist für Platon im wesentlichen unverändert geblieben. Was ist denn übrig, so fragt er im Philebos (55 e), wenn man aus einer Techne die Momente der ‚Normorientierung‘ ( ), der ‚Rationalität‘ ( ) und der ‚festen Strukturierung‘ ( ) entfernt hat?“
54
2. Die Theorie der Interpretation
zu dichotomisch gestalteten Gliederungen: Die beiden für die Seele zuständigen , und , bilden gemeinsam die Gattung 30 , während die beiden für den Leib zuständigen , und , einer Gattung zugehören, für die Sokrates gerade keine passende Bezeichnung zur Verfügung hat.31
ohne Bezeichnung
Entscheidend ist nun das Abbildverhältnis, das zwischen einer bestimmten und einer bestimmten jeweils herrscht: Keine ist eigenständig. Die ist das Schattenbild ( ) und Gegenstück ( )32 der , die das Schattenbild der , die das Schattenbild der und die das Schattenbild der . Jede bezieht sich auf dasselbe Gegenstandsgebiet wie die , deren Schattenbild sie ist, so daß eine Konkurrenz um diesen Gegenstandsbereich entbrennt. Auf die Belange der Seele sind die beiden sich ergänzenden und , aber auch die und gerichtet. Auf den Leib entsprechend die und , sowie die und .
(A) Bereich der Seele
(B) Bereich des Körpers
(A1 )
(A1 *)
(A2 )
(A2 *)
(B1 )
(B1 *)
(B2 )
(B2 *)
30 Die von Sokrates ins Spiel gebrachte entspricht keineswegs der Kompetenz, die Gorgias’ sophistisches Geschäft auszeichnet. Beruft sich Gorgias auf eine , so wird ihm Sokrates allein eine zugestehen. Der Begriff ist hier als Gattungsbegriff zu den Arten und , der Begriff als Gattungsbegriff zu den Arten und zu begreifen. Im Gorgias vertritt allein Sokrates die (vgl. insbes. 521 d – e), Gorgias ist dagegen der Repräsentant der . 31 Vgl. Gorg. 464 b 2 – c 3. 32 Gorg. 463 d 2 und 464 b 8.
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
55
Vor dem Hintergrund des oben stehenden Schaubilds lassen sich die verschiedenen Beziehungen zwischen den verschiedenen und präziser fassen: 1.
Einzelne und einzelne stehen jeweils miteinander in Analogie, wenn sie sich auf gleiche Weise mit unterschiedlichen Gegenständen befassen. Die (A1 ) etwa kümmert sich so um die Seele, wie sich die (B1 ) um den Körper kümmert, und der Art und Weise, wie sich die (B2 *) mit dem Körper befaßt, entspricht die Behandlung der Seele durch die (A2 *). Insgesamt sind die folgenden vier Analogien aufzeigbar, die jeweils Relationen zwischen oder aber Relationen zwischen bezeichnen: A1 steht in Analogie mit B1 , A2 mit B2 , A1 * mit B1 * und A2 * mit B2 *.
2.
, die in unterschiedlicher Weise auf das gleiche Gegenstandsfeld
bezogen sind, ergänzen sich jeweils. Dasselbe gilt für die Binnenrelationen der . In komplementärer Beziehung stehen also: A1 und A2 , B1 und B2 , A1 * und A2 *, B1 * und B2 *. 3.
Ein Abbildungs- und Konkurrenzverhältnis herrscht zwischen einer bestimmten auf der einen Seite und einer auf der anderen Seite genau dann, wenn sich sowohl ihr Gegenstandsfeld und als auch ihre Bezugsweise entsprechen. In Konkurrenz steht damit A1 mit A1 *, A2 mit A2 *, B1 mit B1 * und B2 mit B2 *.
Schreibt Sokrates allen Nachahmungscharakter zu, so ist für uns ihre klare Abwertung zu verzeichnen: Eine verkleidet sich als , sie äfft ihr Vorbild nach.33 Im Gegensatz zu der nachgeahmten , mit der sie konkurriert, hat eine keine Kenntnis von dem Gegenstandsbereich, auf den sie sich bezieht. Noch nicht einmal für ihre eigene Vorge33 Es gibt eine Bemerkung des Sokrates, die allerdings an ein ganz anderes Verhältnis von und denken läßt: Die sei etwas, so heißt es dort, was aus einer hervorgeht (Gorg. 462 b 11 – c 1). Dieser Satz wird zwar von Sokrates geäußert, doch ist er m. E. nicht als eigene Behauptung des Sokrates, sondern nur als eine Erinnerung an den Gesprächspartner Polos zu verstehen, der den Begriff in einer Schrift auf diese Weise verwendet hat, während Sokrates ihn ganz anders deutet. Offensichtlich liegt es nicht in der Absicht des Sokrates, die Begriffe und in einen engen Zusammenhang zu bringen: Der – wie in Polos’ Schrift, die übrigens zusammen mit der Dialogfigur von Platon fingiert ist, – eine wichtige Rolle im Entstehungskontext der zuzuschreiben, steht mit dem von Sokrates proklamierten Abbild- und Nachahmungscharakter der in Spannung.
56
2. Die Theorie der Interpretation
hensweise kann sie Gründe anführen. Zur Rechenschaftsgabe, zum resp. , ist die daher nicht in der Lage. Kurz: Eine ist ein verantwortungsloses, ein unverständiges Geschäft, ein .34 Im Falle einer konkreten Auseinandersetzung aber kann – wie Sokrates am Vergleich zwischen und demonstriert35 – eine trotz ihrer methodischen Unzulänglichkeit nicht selten einen Erfolg über die konkurrierende verbuchen. Der Grund für die häufige Präferenz des liegt in der Unverständigkeit derjenigen, die zwischen dem konkreten Urteil einer und dem konkreten Urteil einer
zu entscheiden haben. Während eine stets auf das Beste für die ihr anvertraute Sache gerichtet ist, hat eine , obgleich sie suggeriert, Wissen zu besitzen und selbst auf das Beste zu zielen, nur das im Sinn, was als das Angenehmste erscheint. Nun geben unverständige Richter dem, was angenehm zu sein verspricht, den Vorzug gegenüber dem, was zwar das Beste ist, zugleich aber von den unverständigen Richtern nicht als das Beste erkannt werden kann. Streiten sich etwa ein Arzt und ein Zuckerbäcker darum, wer von ihnen über das Wissen um gesunde und ungesunde Ernährung verfügt, dann stehen Kinder und Erwachsene, die so unverständig sind wie Kinder, natürlich auf der Seite des Zuckerbäckers. Der Arzt erfährt dagegen von diesen Richtern, wie Sokrates ausführt, so wenig Zuspruch, daß er selbst Hungers sterben könnte. Stellen wir fünf Merkmale heraus, durch die sich der Vertreter einer signifikant vom Vertreter einer unterscheidet: Der Vertreter einer ...
Der Vertreter einer ...
verfügt über Wissen ist zu einem in der Lage zielt auf das Beste hat Erfolg bei den Fachleuten / Techniten erhebt zu Recht einen Wissensanspruch
verfügt über kein Wissen ist zu keinem in der Lage zielt auf das Angenehme hat Erfolg bei der unverständigen Menge erhebt zu Unrecht einen Wissensanspruch
Offensichtlich sind der bloße Anspruch und das Selbstverständnis, über Wissen zu verfügen, keine hinreichenden Gründe dafür, daß dieser Anspruch auch zu Recht erhoben wird und das Selbstverständnis korrekt ist. Nach Sokrates zeichnen sich nämlich diejenigen, die über keine , sondern nur über verfügen, häufig dadurch aus, daß sie auch den Status der als verkennen und irrtümlich meinen, sich im Zustand einer zu 34 Gorg. 465 a 6. 35 Gorg. 464 d 3 – e 2.
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befinden.36 Da demnach nicht nur der Wissende, sondern auch der Meinende, der sich hinsichtlich des Status seiner Meinung irrt, einen Wissensanspruch erhebt, muß jeweils konkret geprüft werden, ob ein bestimmter Wissensanspruch zu Recht erhoben wird oder nicht. Als Prüfmethode ist nach Sokrates eine besondere Form der Gesprächsführung, des , geeignet. Über den wahrheitsvergewissernden ist zu klären, ob ein als Wissen beanspruchter auch argumentativ fundiert werden kann. Nur wenn die Rechenschaftsgabe, das , im konkreten Vollzug des gelingt, darf der Wissensanspruch aufrechterhalten werden. Bezeichnet Sokrates im Ion die Rhapsodenkunst als , dann schreibt er Ion einen Wissensanspruch zu, der fundiert ist und der argumentativen Prüfung im Vollzug eines konkreten standhalten kann. Die Frage ist nur, ob Sokrates Ion diesen Anspruch auch ernsthaft zuschreibt. Verfügt Ion in der Tat über ein fundiertes Wissen, das er im unter Beweis stellen kann? Ion selbst jedenfalls ist mit seiner ihm von Sokrates zugedachten Rolle gerne einverstanden, auch er spricht von seiner und erhebt damit genau den Wissensanspruch, den Sokrates ihm nahegelegt, fast aufgedrängt hatte.37 Doch daß Ion entgegen der Zuschreibung durch Sokrates nicht als rhapsodischer Technit,38 sondern vielmehr als der typische Vertreter einer anzusehen ist, macht das im Dialog inszenierte Prüfgespräch deutlich: Ion kann das von einer geforderte nicht leisten, da es ihm nicht einmal ansatzweise gelingt, die kritischen Fragen des Sokrates nach dem spezifischen Inhalt und Umfang seiner zu beantworten. 2.1.3 Die des Dichters Schon daß Sokrates im Ion dem rhapsodischen Geschäft seines Gesprächspartners so schnell, vor jeder kritischen Prüfung im , das Prädikat 36 Zum Selbstmißverständnis der vgl. insbes. Rep. V 476 d 5 – e 2. Vgl. dazu auch Horn 1997, S. 297: „In Platons Darstellung ist es aber von erheblicher Bedeutung, daß die doxa selbst ihren defizienten Status nicht begreift. Sie versteht sich vielmehr als ein Wissen (...)“ Einschränkend ist allerdings festzustellen, daß der Meinende sich zwar mit Blick auf den Status seines Meinens irren und seine fälschlich als Wissen deuten kann, daß dieses Mißverständnis aber auch in Sinne Platons nicht aus Notwendigkeit geschieht: Denkbar ist schließlich auch ein Meinender, der sich nicht für einen Wissenden hält, sondern korrekt als Meinender versteht. Vgl. unten Kap. 2.3.5. 37 Ion 530 c 8. 38 Vgl. auch die Schlußworte des Gesprächs (542 b 4), mit denen Sokrates – gleichsam als Resümee des Gesprächs – Ion ausdrücklich als einen nicht -gemäßen Lobredner Homers bezeichnet: (...)
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2. Die Theorie der Interpretation
zuerkennt, muß mißtrauisch stimmen.39 Wie berechtigt das Mißtrauen
ist, zeigen die Ausführungen, die Sokrates sofort im Anschluß an die Auszeichnung als über die Rhapsodenkunst macht. Die Auslegungskunst, die von Sokrates hier in wenigen Worten umrissen wird, ist nämlich alles andere als die Beschreibung dessen, was Ion in seinem rhapsodischen Geschäft selbst praktiziert. Während die konventioneller Prägung ganz zu Unrecht das Prädikat einer in Anspruch nimmt, skizziert Sokrates, wie eine ideale, als argumentativ ausweisbare Interpretationskunst in ihren Grundzügen aussehen müßte. Die signifikanten Merkmale dieser gedanklich gefaßten Interpretationskunst werden im Ion zwar benannt, auf eine detaillierte Darlegung verzichtet Sokrates allerdings. Doch kann durch die Berücksichtigung einschlägiger Partien aus anderen Dialogen Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation, wie er hier zunächst zu rekonstruieren ist, in einem größeren gesprächstheoretischen Kontext situiert werden, was ihn deutlich an Substanz gewinnen läßt. In dem Lob, Ion sei ein beneidenswerter rhapsodischer Technit, ist sokratische Ironie am Werk. Sokrates erdenkt die ideale, d. i. die -gemäße, Rhapsodenkunst gerade gegen die rhapsodische Praxis des Ion.40 Daß sich Sokrates’ Idealbegriff der Dichterauslegung und Ions rhapsodische Praxis keineswegs entsprechen, wird deutlich, wenn wir die -gemäße Rhapsodenkunst, wie sie von Sokrates begrifflich bestimmt wird, nun etwas genauer betrachten und anschließend mit Ions Aussagen über seine eigene Praxis vergleichen. Sokrates sieht die Aufgabe des Rhapsoden darin, den Zuhörern die „Absicht“, den „Gedanken“, die „Aussage“ – die – des Dichters zu vermitteln. Dazu ist erforderlich, daß der Rhapsode selbst um die des 39 Die vorschnelle Zuschreibung des -Prädikats, das sogleich durch das anstehende Prüfgespräch wieder aberkannt wird, findet sich in ähnlicher Form auch beim Mythos von Theuth und Thamus, mit dem Sokrates seine schriftkritischen Überlegungen im Phaidros einleitet: Dem ägyptischen Erfindergott Theuth sind neben Arithmetik, Logistik, Geometrik und Astronomik auch das Brettspiel und die Schreibkunst zu verdanken. All diese Erfindungen werden von Sokrates ausdrücklich als bezeichnet, obgleich die Prüfung der einzelnen Erfindungen durch den kritischen Thamus, der nicht wie der Erzeuger Theuth von der Liebe des Vaters geblendet wird, schließlich ergeben wird, daß im Falle der Schreibkunst nicht, wie Theuth erhofft, ein Mittel zur Verbesserung des Verstandes und zur Stärkung des Gedächtnisses gewonnen wurde, sondern daß durch die Schrift vielmehr Pseudo-Wissen und Vergeßlichkeit zunehmen werden (vgl. Phdr. 274 c 5 – 275 b 2). Zur Schriftkritik vgl. unten insbes. Kap. 4.1 und Kap. 4.3. 40 Daß Sokrates an dieser Stelle nicht von der konventionellen, sondern von der idealen Rhapsodenkunst spricht, hat bereits Paul Friedländer (Friedländer 3 1964 b, S. 117) deutlich gemacht: „Sokrates beginnt das eigentliche Gespräch, indem er ein Bild des Rhapsoden entwirft, wie er sein müsse.“ (Hervorhebung im Zitat von H. W.)
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Dichters weiß. Terminologisch gefaßt: Der Rhapsode muß erstens die intentio auctoris selbst verstehen und er muß sie zweitens seinen Zuhörern auf adäquate Weise zu verstehen geben. Von dem Rhapsoden ist also eine gleichermaßen sach- wie adressatenangemessene Verständnis- und Vermittlungsleistung gefordert. Der Begriff wird im folgenden als unübersetzter terminus technicus verwendet. Statt einer Übersetzung gebe ich einen Hinweis auf Sokrates’ Verständnis dieses Begriffs, das im weiteren Verlauf der Arbeit noch deutlicher herausgestellt werden kann: Sokrates schreibt der des Dichters – ebenso wie der Interpretation, die sich die des Dichters erarbeitet,Behauptungsstatus zu. In Übereinstimmung mit Sophisten wie Protagoras und Hippias begreift er die eines Dichters als inhaltliche Aussage, die mit Wahrheitsanspruch auftritt. Herauszufinden, worin die des Dichters besteht, heißt also: herauszufinden, was der Dichter als wahr hinstellt. Da die Behauptungen der Dichter komplex sind, ist Dichten nach Sokrates letztlich nichts anderes als eine bestimmte und zwar reichlich verklausulierte Form, Theorie zu treiben.41 Hier ist erneut darauf hinzuweisen, daß Dichterauslegung und Textauslegung nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden dürfen: Das auszulegende Dichterwort liegt ja nicht notwendigerweise medial schriftlich vor. Die von Homer dargestellten Sänger etwa, die auf den Höfen der Adligen bei festlichen Gelegenheiten auftreten, sind Dichter und Sänger in Personalunion. Wer ihre verstehen will, hat sich an ein Dichterwort zu halten, das medial mündlich zum Vortrag gebracht wird. Im konkreten Fall des Rhapsoden Ion, der sich als Spezialist für Homer begreift, stehen wir vor dem Sachverhalt, daß sich Ion als Interpret Homers auf ein Dichterwort bezieht, das zwar ihm medial schriftlich vorliegt, das er aber in seinem Homervortrag in medial mündlicher Form präsentiert, so daß seine Zuhörer die poetische aus einer medial mündlichen Sprachäußerung gewinnen müssen. Trotz dieser Differenz zwischen der Dichterauslegung, die sich auf medial kontingente Sprachäußerungen bezieht, und der ausschließlich auf medial schriftliche Sprachäußerungen bezogenen Textauslegung bestehen zwischen beiden auch bedeutsame Gemeinsamkeiten, denen v. a. im Schlußkapitel der vorliegenden Arbeit nachgegangen wird. Das Verständnis der dichterischen erschließt sich dem Rhapsoden nicht intuitiv, auch genügt es nicht, den Wortlaut der Dichtungen auswendig
41 Vgl. unten S. 242.
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zu lernen. Der Rhapsode ist bei seinem mühsamen Geschäft vielmehr genötigt, die des Dichters genau durchzuarbeiten und gründlich zu erforschen: (sc. ) .42 Sokrates läßt keinen Zweifel daran, daß eine rhapsodische , die dieses Prädikat in der Tat verdient, eine ganz außerordentliche menschliche Denkleistung darstellt, die zu Recht Bewunderung verdient. Der ideal erdachte Rhapsode des Sokrates ist dadurch ausgezeichnet, daß er der des Dichters in eigener Denkarbeit erst auf die Spur kommen muß, ehe er sie in einer nicht weniger schwierigen Arbeit anderen Menschen mitzuteilen hat. Dem idealen Rhapsoden wird ein , ein , ein , ein 43 abverlangt: Diese Prädikate, die Sokrates zur Bezeichnung der rhapsodischen Denkarbeit verwendet, lassen darauf schließen, daß es sich hierbei um eine Spielart des dianoetischen und nicht des noetischen Denkens handelt.44 Kein unmittelbares geistiges Treffen ist gefragt, sondern ein diskursives Durchdringen der des Dichters, das sich in Urteile fassen und als wahr oder falsch beurteilen läßt. Kurz: Der ideale Rhapsode muß sich die des Dichters erarbeiten durch die Leistung seiner eigenen Interpretation, wie sie genauer als ein Vermögen des menschlichen dianoetischen Denkens zu bestimmen ist. Im folgenden sind zwei naheliegende Einwände gegen Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation zu diskutieren. Der erste Einwand besitzt einen literaturgeschichtlichen, der zweite Einwand einen eher systematischen Hintergrund. Der erste Einwand kritisiert, daß Sokrates ein Modell der Dichterauslegung favorisiert, das Interpretation in unzulässiger Weise reglementiert, damit weit hinter den zeitgenössischen Rezeptionsstil attischer Tragödien zurückfällt und auch dem Selbstverständnis der Tragiker nicht gerecht zu werden vermag. Der zweite Einwand kritisiert, daß Sokrates in seinem Modell die Notwendigkeit der Interpretation zwar implizit postuliert, aber nicht argumentativ ausgewiesen habe.
42 Ion 530 b 10 – c 1. 43 Ion 530 b 8 – c 5. – Vgl. auch Bruno Snells klassische Studie zur Bezeichnung geistiger Tätigkeiten im Griechischen: Snell 1978, S. 21-90. 44 Vgl. Oehler 2 1985, S. 72: „Von da (sc. der Übersetzung der als Urteil) aus bestimmt sich auch der Charakter des : es ist jene Form des Denkens, die sich im Urteilen realisiert. ist das diskursive Denken, das Überlegen oder Nachdenken. Es erfaßt seinen Gegenstand nicht, wie das , in einem ungeteilten, einheitlichen, kontinuierlichen Akt, sondern im Hin und Her der Verbindung und Trennung von Begriffen und Vorstellungen, und es durchläuft mehrere Stadien der Denkoperation, bis es zu einem Fixpunkt kommt.“
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2.1.4 Die Pluralität der Interpretation Wenn Sokrates das interpretierende Denken so fest an die eine des Dichters bindet, liegt der Einwand nahe, daß der Interpretation damit ihr notwendiger Freiraum versagt wird. Der Verdacht entsteht, daß Sokrates nur eine einzige Interpretation eines dichterischen Werkes erlauben will und sich damit in der „idée fixe“45 der einen richtigen Interpretation verfängt. Wie ist die von Sokrates proklamierte Suche nach der einen des Dichters zu verstehen? Ist damit auch nur genau eine richtige Interpretation zugelassen? Werfen wir einen kurzen Blick auf die zeitgenössischen Dichtungen, deren Auslegung Sokrates ja im Blick haben muß. Neben Homer und Hesiod, neben Simonides und Pindar gehören Aischylos, Sophokles und Euripides zu den Dichtern, auf deren Werke der platonische Sokrates in seinen Gesprächen immer wieder Bezug nimmt.46 Macht es überhaupt Sinn, von der einen etwa des Euripides zu sprechen? Will Sokrates von einem so komplexen literarischen Kunstwerk wie den Bakchen, das doch viele plausible Deutungen nebeneinander zu ermöglichen, fast zu erzwingen scheint, in der Tat nur eine richtige Interpretation zulassen? In der heutigen Forschung ist man sich weitgehend einig, daß in der attischen Tragödie die Wirklichkeit nicht gespiegelt, sondern auf eine Weise problematisiert wird, die einfache Antworten ausschließt. Es liegt ganz in der pädagogisch-politischen Absicht der drei großen griechischen Tragiker, ihr Publikum zu einem selbständigen und eigenverantwortlichen Denken zu erziehen und den Rezipienten aus diesem Grund jede fertige Problemlösung zu versagen. Nach Joachim Latacz präsentieren die Tragödien eine „Vielzahl von Bewertungsmöglichkeiten“, so daß der Rezipient „von einem schnellen, grobgestrickten Urteil immer weiter distanziert und zu differenzierterer Betrachtung angehalten“ wird. Gesellschaftlich erfüllt die Tragödie damit die wichtige Funktion einer „Schule menschlich verantwortbarer Urteilsbildung“.47 Da die Tragödien stets tradierte mythische Stoffe zum Inhalt haben,48 ist dem 45 Vgl. Enzensberger 1988, S. 33. 46 Nach der herrschenden Aufführungspraxis in Athen kamen die Tragödien im Rahmen der festlichen Agone zwar nur zu einer einmaligen Werkrealisation. Da nach der Aufführung aber ein reges Interesse an den Tragödientexten bestanden hat, wurden entsprechende Schriften in Umlauf gebracht. Ein direktes Zeugnis für die Vorhandenheit solcher Tragödientexte finden wir etwa in Aristophanes’ Fröschen (52 ff., 151). 47 Latacz 1993, S. 12. 48 Ähnliches gilt bereits für die Thematik der homerischen Epen. Vgl. Latacz 2 1989, S. 93: „(...) die Erkenntnis, daß die Ilias in der Grundthematik ihrem Publikum nichts Fiktionales darbot, sondern Altbekanntes. Das heißt: der allgemeine Hintergrund und größere
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antiken Zuschauer zwar die allgemeine Problemlage meist bekannt, neu und selbst zu bedenken sind jedoch die Möglichkeiten noch unbekannter Problementfaltungen und Problemlösungen. „Worum es geht, das muß der Zuschauer bei einmaliger Rezeption sofort begreifen, warum es aber gerade so darum geht in diesem Stück, das muß er durchaus nicht sofort begreifen.“49 Von den Rezipienten ist daher die eigene denkende Mitarbeit gefordert, die nur dann gelingt, wenn sie bei einer Vielzahl von Interpreten gerade auch zu einer Vielzahl an Interpretationen führt. Der Intention der griechischen Tragiker liegt es entsprechend fern, unter all diesen Interpretationen nur eine einzige zu sanktionieren. Die Pluralität der Deutungen ist also nicht nur zugelassen, sie ist gewollt. Daß die Beschränkung auf nur eine Interpretation griechischer Tragödien zum einen der Absicht der antiken Autoren entgegensteht und zum anderen dem Rezeptionsverhalten ihres zeitgenössischen Publikums nicht gerecht wird, läßt sich noch besser verstehen, wenn man sich auch vergegenwärtigt, welcher Art die Probleme und Fragen sind, die in der attischen Tragödie thematisch werden. Christian Meier legt überzeugend dar, daß den Athenern des 5. und des 4. Jahrhunderts die Tragödie zur Klärung ihres eigenen politischen Selbstverständnisses, zur Institutionalisierung und Konsolidierung einer neuen Bürgeridentität, überaus hilfreich ist. Da sich zu den vielfältigen Fragen der aktuellen Tagespolitik, wie sie auf der Agora und der Pnyx, aber auch im Rahmen der Komödien, verhandelt werden, auch grundsätzliche Probleme ethisch-politischer Natur gesellen, benötigen die Athener ein Forum, das zur kritisch prüfenden Reflexion dieser grundsätzlichen Probleme taugt. Die Tragödie ist daher zu verstehen als die „Plattform einer welthistorisch einmaligen, höchst eigenartigen institutionalisierten ‚Diskussion‘ der tieferen Probleme einer Bürgerschaft“.50 Die Fragen, mit denen sich die zeitgenössische Rezeption und Interpretation griechischer Tragödien notwendig auseinanderzusetzen hatte, sind vorrangig ethisch-politischer Natur. Aristotelisch gedacht gehören damit alle Antworten, die auf die in der Tragödie aufgeworfenen Fragen gegeben werden können, dem Bereich menschlicher Meinungen, dem Bereich der an.51 Zusammenhänge der im Prooimion angekündigten Geschichte ist diesem Publikum vertraut.“ 49 Latacz 1993, S. 24. 50 Meier 1988, S. 52. 51 Gemäß der aristotelischen Methodologie ist nicht allen Wissenschaften der gleiche Grad an Bestimmtheit, an wissenschaftlicher Genauigkeit ( ) erreichbar. Der „Kenner“ zeichnet sich dadurch aus, daß er in den einzelnen Wissenschaftsbereichen den Grad an
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In Hinblick auf Fragen ethischer und politischer Art ist es aber nach Aristoteles prinzipiell nicht möglich, zu absolut verläßlichen Antworten, zu unumstößlicher Gewißheit zu gelangen. Wer die Thematik der Tragödien in ihrer ethisch-politischen Relevanz erkennt, sieht sich vor der Notwendigkeit, nach eigenen Antworten und Problemlösungen zu suchen. Und dies so, daß er prinzipiell verpflichtet ist, die eigene Lösung nicht absolut zu setzen. Interpretationen, die sich allein selbst sanktionieren, verfehlen in ihrem Selbstverständnis nicht nur die Intention der Tragiker, sondern – nach Aristoteles – auch ihren eigenen Status als , der ihnen aufgrund der ethisch-politischen Thematik zukommt. Will man dem Selbstverständnis der griechischen Tragiker und ihrer Rezeption durch ihr zeitgenössisches Publikum entsprechen, dann darf man offensichtlich nicht der idée fixe von der einen, der einzig richtigen Interpretation anhängen. Es liegt sicher nicht ganz fern, gegen Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation den Vorwurf zu erheben, daß er wegen des Gedankens von der einen des Dichters mit dem Selbstverständnis der Tragiker und dem in der kritischen Athener Öffentlichkeit gepflegten Rezeptionsstil in Konflikt kommt. Doch beruht diese Kritik auf dem Schluß, daß sich aus Sokrates’ Forderung, der Interpret müsse sich die eine des Dichters interpretativ erarbeiten, die Notwendigkeit einer einzig richtigen Interpretation ableiten lasse. Dieser Schluß ist m. E. vorschnell. Im folgenden soll mit Hilfe der von Umberto Eco etablierten Unterscheidung zwischen der kritischen und der semantischen Interpretation gezeigt werden, daß aus der Feststellung, daß es nur eine des Dichters gibt, keineswegs folgt, daß es auch nur eine zulässige Deutung dieser geben kann. Mit dem Begriff „semantische Interpretation“ ist nach Eco das „Resultat des Prozesses“ gemeint, „durch den der Adressat, angesichts der linearen Manifestation des Textes, diesen mit Sinn erfüllt“ . Die kritische Interpretation versucht dagegen zu klären, „aufgrund welcher Strukturmerkmale der Text diese (oder andere) semantischen Interpretationen hervorbringen kann.“52 Somit zeigt die kritische Interpretation auch an, warum und auf welche Weise ein bestimmter Text viele semantische Interpretationen erlaubt oder erforGenauigkeit fordert, den die Natur der Sache – d. i.: der zugrundegelegte Stoff – ermöglicht. Im Bereich der Ethik und der Politik hat man es nun ganz anders als etwa in der „Psychologie“ mit einem Gegenstand zu tun, der nur einen geringen Grad an zuläßt. Den höchsten Grad an erreichen dagegen diejenigen Wissenschaften, die am meisten die Wissenschaften von den Grundsätzen, den Prinzipien sind (vgl. insbes. NE I 1 1094 b 11-27, De anima I 1 402 a 1-4 und Met. A 2). 52 Eco 1990, S. 43.
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dert. Wie wir gesehen haben, läßt die eines griechischen Tragikers die Pluralität von Interpretationen nicht nur zu, sondern wünscht sie. Die eine des Tragikers wird also – im Sinne der kritischen Interpretation – nur dann entdeckt, wenn man gerade viele semantische Interpretationen des Stückes intendiert sieht. Die Suche nach der des Euripides darf sich – gerade nach dem Selbstverständnis dieser – nicht in der Erzeugung einer einzigen semantischen Interpretation der Bakchen erschöpfen. Vielmehr gilt es, in einer kritischen Interpretation zu entdecken, daß die des Dichters viele semantische Deutungen nebeneinander hervorrufen will. Erst durch die kritische Interpretation des Werks kann sich eine bestimmte semantische Interpretation richtig verstehen lernen: als eine semantische Interpretation, die der Dichter neben anderen semantischen Interpretationen hervorzurufen beabsichtigt. Eine semantische Deutung der Tragödie, die als die eine richtige Interpretation gelten will, ist damit nicht nur nicht verlangt, sie wird ausgeschlossen. Und daß sie ausgeschlossen ist, erkennt derjenige, der sich in der kritischen Interpretation die eine des Dichters, wie sie viele Interpretationen nebeneinander intendiert, erarbeitet hat. Wie der konkrete Fall der attischen Tragiker gezeigt hat, kann man Sokrates’ Forderung, der Interpret müsse sich die eine des Dichters erarbeiten, immerhin nicht den Vorwurf machen, sie sei der fixen Idee der einen richtigen Interpretation verhaftet. Doch die Frage, was Sokrates zu der heute so problematisch erscheinenden Privilegierung der intentio auctoris letztlich motiviert, ist damit natürlich noch nicht gelöst. Erst gegen Ende der vorliegenden Arbeit werden wir auf diese Frage zurückkommen. Zunächst aber gilt es, einen weiteren Einwand zu diskutieren, der gegen Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation vorgebracht werden kann.
2.1.5 Die Notwendigkeit der Interpretation Sokrates’ Skizze einer idealen Rhapsodenkunst muß sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es überhaupt nötig ist, zum Verständnis der Dichtung das Vermögen des dianoetischen Denkens zu bemühen. Müssen die Dichter denn in harter Denkarbeit auf diskursive Weise ausgelegt werden? Stellt Sokrates den Interpreten vor die Aufgabe, sich die intentio auctoris zu erarbeiten, dann ist der Auffassung, literarische Texte verstünden sich „von selbst“, eine klare – allerdings nicht argumentativ gesicherte – Absage erteilt. Im Ion kann Sokrates von der prinzipiellen Interpretationsbedürftigkeit der Dichtung ausgehen, ohne sie eigens beweisen zu müssen. Doch im ersten Buch der Politeia
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bekommt es Sokrates mit Gesprächspartnern zu tun, die von der Notwendigkeit der Interpretation allererst zu überzeugen sind.53 Für die Behauptung der prinzipiellen Interpretationsbedürftigkeit von Dichtung, die im Ion unbewiesen vorausgesetzt wird, argumentiert Sokrates in der Politeia mit einem indirekten Beweis,54 indem er die Gegenthese, nach der sich poetische Werke gleichsam „von selbst“ verstehen, ad absurdum führt. Von dem greisen Gesprächspartner Kephalos erhält Sokrates auf seine Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit die einfache Antwort: „Gerecht ist es, wahrhaftig zu sein und das, was man von anderen empfangen hat, ihnen auch wieder zurück zu geben.“55 Kephalos liefert keine Definition des Begriffs „Gerechtigkeit“ sondern nur ein (zudem strittiges) Beispiel für gerechtes Handeln. Damit steht er freilich nicht alleine: Es gehört zu dem typischen Ablauf der platonischen Frühdialoge, daß die Gesprächspartner des Sokrates auf eine „Was-ist X?“-Frage nur Fälle von X, nicht aber eine Definition von X angeben. Es ist bemerkenswert, daß Sokrates im Rahmen der hier zu diskutierenden Politeia-Passage seinen Gesprächspartner nicht – wie sonst üblich – auf den verfehlten Charakter des präsentierten Definitionsvorschlages aufmerksam macht, sondern statt dessen auf interpretationstheoretische Fragen zu sprechen kommt. Sokrates reagiert auf diese verfehlte Definition56 mit einem kasuistischen Einwand, der zwar – wie die meisten kasuistischen Einwände – recht konstruiert wirkt, aber gleichwohl die Antwort des Kephalos unglaubwürdig macht: Ob es etwa auch gerecht sei, einem wahnsinnig gewordenen Freund die aufbewahrten Waffen zurückzugeben?57 Hier springt 53 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß das erste Buch der Politeia auf den Frühdialog Thrasymachos zurückgeht und damit in der gleichen Schaffensperiode anzusetzen ist wie der Ion. 54 Dies ist ein typisches Beispiel für die komplexen inhaltlichen und argumentativen Bezüge, die zwischen einzelnen Dialogen bestehen. Eine These, die in einem Dialog nur als Annahme eingeführt und unbewiesen zur Grundlage einer Argumentation gemacht wird, kann in einem anderen Dialog selbst problematisiert, geprüft, ggf. bewiesen oder auch widerlegt werden. 55 Rep. I 331 c 1-3. 56 Vgl. die klassische Studie zur „Was-ist X?“-Frage von Puster 1983, ferner Wieland 1996, insbes. S. 12 f., und Graeser 2 1993, S. 89: „Die Menschen haben die Tendenz, Beispiel und das, wofür etwas Beispiel ist, nicht auseinanderzuhalten. Sie identifizieren ein XDing mit der Eigenschaft, X zu sein, und verwechseln somit Idee und Abbild. Sie halten das letztere für das erstere und fallen damit einem Irrtum bezüglich Wirklichkeit einerseits und Schein andererseits zum Opfer (cf. Rep. V 467 a – d).“ 57 Es ist daher kein Zufall, daß Schleichert 1997, S. 40 eben dieses Argument des Sokrates als paradigmatisches Beispiel für die sog. freak cases anführt: Mit dem Ausdruck freak cases „bezeichnet man ausgefallene, scheinbar abwegige oder verrückte Beispiele. Sie dienen als Gegenbeispiele gegen eine allgemeine These. Im Hintergrund steht ein
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Polemarchos, der Sohn des Kephalos, in die Bresche, um die Position des Vaters durch ein Dichterzitat zu stärken: Natürlich ist die Antwort des Vaters die richtige Antwort, schließlich stimmt sie ganz mit dem überein, was der große Dichter Simonides über die Gerechtigkeit gesagt hat. Sokrates erkennt zwar die Struktur dieses Arguments aus der Autorität und spielt in seiner Frage, die klar zwischen der aussagenden Instanz und der Richtigkeit der Behauptung trennt, auch darauf an: „Was sagt doch Simonides, das du als richtig gesagt behauptest über die Gerechtigkeit?“58 Wichtiger als die Aufdeckung der Autoritätsstruktur des Arguments ist Sokrates in diesem Fall aber, daß Polemarchos ganz selbstverständlich davon ausgeht, das vom Dichter Gesagte schon verstanden zu haben: Freilich ist es schwer, dem Simonides nicht zu glauben, denn weise und göttlich ist der Mann; was er aber hiermit eigentlich meint, siehst du, o Polemarchos, vielleicht ein, ich aber verstehe es nicht.59
Da Sokrates die unbestreitbare Kompetenz des Simonides in Sachen Ethik nur in einer ganz offensichtlich ironischen Weise akzeptiert, weist er erneut kurz unangreifbares logisches Prinzip: Eine (allgemeine) These, zu der es auch nur ein Gegenbeispiel gibt, ist falsch. Eine These mag zunächst einleuchtend scheinen, aber der freak case gibt ein Gegenbeispiel. Auch ein exzentrisches Gegenbeispiel ist ein Gegenbeispiel. Diese Figur findet sich schon bei Platon. Er benützt ein exzentrisches Beispiel zur Widerlegung einer bestimmten These über den Begriff der Gerechtigkeit (...)“ – Der Definitionsvorschlag des Kephalos findet sich in nur leicht modifizierter inhaltlicher Ausführung, aber in einem völlig anderen Diskussionszusammenhang (nämlich im Rahmen der Ausführungen zur lex naturalis) in der Summa Theologica des Thomas von Aquin wieder. Auch bei Thomas wird ein ausgefallenes Beispiel zur Problematisierung herangeführt. Wieder geht es um geliehene Waffen, die nun aber nicht von einem Wahnsinnigen, sondern von einem Vaterlandsverräter zurückgefordert werden. Vgl. Thomas v. Aquin, STh II-I, q. 94 a. 4: „Ex hoc autem principium sequitur quasi conclusio propria, quod deposita sint redenda. Et hoc quidem ut in pluribus verum est: sed potest in aliquo casu contingere quod sit damnosum, et per consequens irrationabile, si deposita reddantur; puta si aliquis petat ad impugnandum patriam.“ (Übers. der lateinisch-deutschen Thomas-Gesamtausgabe: „Aus diesem Grundsatz ergibt sich nun als Einzelfolgerung, daß hinterlegtes Gut zurückzugeben ist. Das ist zwar wahr für die meisten Fälle; es kann aber der Fall eintreten, daß die Rückgabe hinterlegten Gutes verderblich und folglich unvernünftig ist; z. B. wenn jemand sein Eigentum zurückfordert, um es im Kampf gegen sein Vaterland einzusetzen.“) 58 Rep. I 331 e 1-2: (...) vgl. die im Phaidros (229 c 4 f.) explizit gestellte Frage nach der sachlichen Wahrheit dessen, was der Mythos in seiner Autorität als wahr hinstellt (vgl. dazu Krüger 1978, S. 13). 59 Rep. I 331 e 5-8: ! " #$ % & ' () * + , + * - , . / 0 1 2 3 4 5% $ #6 0 *7
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auf die Autoritätsproblematik hin, um dann die prinzipielle Interpretationsbedürftigkeit der Dichtung zu betonen. Dem vorschnellen Pseudoverstehen des Polemarchos, das sich nicht als Interpretation, sondern als gleichsam „unmittelbares“ Treffen der poetischen begreift, stellt er antithetisch sein eigenes Unwissen gegenüber. Was nun im Gespräch folgt, ist nichts anderes als die gemeinsame Auslegung des Simonides-Zitats „Gerecht ist es, einem jeden das Schuldige ( ) zu leisten.“60 Als frischgebackener Interpret muß Polemarchos rasch einsehen, daß die Bedeutung des Dichterspruchs keineswegs „auf der Hand liegt“, sondern erst in der Interpretationsarbeit ans Licht gebracht werden muß. Vor diesem Hintergrund erscheint Polemarchos’ Annahme einer unmittelbar – d. i. vor aller Auslegung – verstehbaren Bedeutung des Dichterwortes selbst als eine Interpretation; genauer: als eine Interpretation, die sich selbst falsch, eben gerade nicht als Interpretation versteht. Am Ende der Deutung des Simonides-Spruches, die dann bezeichnenderweise in eine von poetischen Autoritäten freie Sachanalyse der Gerechtigkeit übergeht, formuliert Sokrates als Fazit: Also hat Simonides, wie es scheint, gar dichterisch versteckt angedeutet, was das Gerechte ist. Er dachte nämlich, wie sich zeigt, das sei gerecht, jedem das Gebührende ( ) abzugeben, und dies nannte er das Schuldige ( ).61
Als Grund für die Interpretationsbedürftigkeit der Dichtung erweist sich ein Charakteristikum literarischer Produktion: Die Dichter drücken ihre Gedanken nicht in einer klaren, präzisen und leicht verständlichen Sprache aus. Im Gegenteil: Es ist gerade die Spezialität der Dichter, ihre Gedanken zu verhüllen, unkenntlich zu machen und so ein rasches Verstehen ihrer Werke zu verunmöglichen. Hier bleibt allerdings noch offen, warum die Dichter ihre Gedanken verhüllen: Ist es dem Dichter wenigstens prinzipiell möglich, auch 60 Rep. I 331 e 3 f. 61 Rep. I 332 b 9 – c 3. – Die hier geführte Diskussion der Begriffe und zeigt auf exemplarische Weise die – von Wolfgang Wieland als genuin dialektisch begriffene – Fähigkeit des Sokrates, im Gespräch mit Begriffen so zu operieren, „daß jener Wandel (sc. der Bedeutung), der sich sonst zumeist nur unterschwellig ereignet, geradezu provoziert wird“ (Wieland 1997, S. 383). Grundsätzlich ist festzuhalten, daß die Begriffe – wie Platon sie von seine Dialogfiguren gebrauchen und thematisieren läßt – keineswegs eine feststehende Bedeutung besitzen, die von Anfang bis Ende der Unterredung unverändert bliebe. Vielmehr macht Platon in seinen Dialogen deutlich, „wie sich Begriffe allein schon dann ändern können, wenn man mit ihnen in der Weise umgeht, daß man sie und ihre Inhalte zum Gegenstand von Fragen und Diskussionen macht.“ (Wieland 1997, S. 379)
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klar, präzise und verständlich zu sprechen? Entscheidet er sich für eine rätselhafte Sprache, obgleich er auch anders dichten könnte? Oder ist die Sprache der Dichtung notwendigerweise rätselhaft? Eine Antwort auf diese Fragen gibt uns Sokrates im zweiten Alkibiades:62 Als sich Alkibiades über die vermeintliche Sinnlosigkeit eines (pseudo-)homerischen Verses ärgert, hält ihm Sokrates entgegen, daß sehr wohl ein Sinn in dem Dichterwort verborgen liege. Ein Sinn, den Alkibiades in seinem übermütigen Temperament jedoch nicht entdeckt habe. Daß der Sinn der Dichtung ein verborgener ist, hat nach Sokrates gleich zwei Gründe. Erstens: Jedes Werk der Dichtung hat bereits „von Natur aus“ ( ) etwas Rätselhaftes an sich.63 Das bedeutet: Dichtung ist notwendig rätselhaft, sie muß interpretiert werden. Ein Verständnis der Dichtung ohne Interpretation ist unmöglich. Zweitens: Die Dichter gefallen sich zudem in einer rätselhaften Sprache. Weil die Dichter mit ihrem Wissen geizen, teilen sie nicht offen mit, was sie zu sagen haben, sondern verschleiern den Sinn.64 Zu der notwendigen Rätselhaftigkeit, die in der Natur der Dichtung liegt, gesellt sich eine kontingente Rätselhaftigkeit, die darauf zurückzuführen ist, daß die Dichter ihr Wissen eifersüchtig zurückhalten, daß sie nicht nur – wegen der Natur der Dichtung – in Rätseln sprechen müssen, sondern auch in Rätseln sprechen wollen.65 Wer nicht wie Alkibiades auf die Sinnlosigkeit der Dichtung schimpfen, sondern ihren verborgenen Sinn entdecken will, ist daher gezwungen, diesen Sinn durch die Leistung der eigenen Interpretation erst an die Oberfläche zu heben. Die geforderte Interpretationsarbeit ist, wie Sokrates im zweiten Alkibiades
62 Alcib. II 147 b 5 – d 8. 63 Alcib. II 147 b 9: „Und es ist auch ihrer Natur nach die gesamte Dichtkunst rätselhaft (...).“ (...)) (Die deutschen Zitate aus dem zweiten Alkibiades stammen aus der Übersetzung von F. Schleiermacher, in Hülser 1991) 64 Alcib. II 147 c 1-5: „Und wenn sie (sc. die Dichtkunst) dann, außerdem daß sie von Natur so (sc. rätselhaft) ist, noch einen mißgünstigen Mann ergreift, der seine Weisheit nicht zeigen, sondern soviel irgend möglich ist verbergen will, dann wird es eine über die Maßen schwer zu beurteilende Sache, was wohl jeder von ihnen meint.“ ( ! " # $ %&% ' ()%" !* ! " +# ) + %, - . / 0 ) ) 1 # 2 3,4)
65 Vgl. Dalfen 1974, S. 176: „Dadurch, daß Platon mehrmals auf die Rätselhaftigkeit der Dichtung hindeutet und davon spricht, daß die Dichter ihre Gedanken hinter ihren Worten verbergen, betont er, daß letztlich sie selbst für die willkürlichen Interpretationen verantwortlich sind. Den Charakter des Rätselhaften erhalten Dichtungen durch die Unbestimmtheit der Aussage, durch die mythische Einkleidung und durch die dichterische Ausdrucksweise.“
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offen ausspricht, nicht jedermanns Sache.66 So bekommen wir mit Polemarchos und Alkibiades gleich zwei Personen vorgeführt, die mit den Mühen der Interpretation nichts anzufangen wissen. Sowohl Polemarchos als auch Alkibiades urteilen viel zu schnell über die Dichtung: Glaubt Polemarchos, die Worte des Simonides schon vor jeder Interpretation verstanden zu haben, so macht Alkibiades dem Ausspruch Homers den Vorwurf der Sinnlosigkeit, noch ehe er sich zureichend um die Interpretationsarbeit bemüht hat. Obwohl sich beide im Grunde ganz unterschiedlich zu der Werthaftigkeit der Dichtung verhalten – Polemarchos stützt sich auf die Autorität des Simonides, Alkibiades greift die Autorität des Homer gerade an – sind sie sich in einem zentralen Punkt doch einig: Beide interpretieren nicht. Daß die Interpretationsarbeit des dianoetischen Denkens zum Verständnis der poetischen notwendig ist, hat Sokrates gezeigt: Sich wie Polemarchos auf eine „wörtliche“ Bedeutung der Dichtung zu verlassen, führt in die Irre, wenn die Rätselhaftigkeit schon in der Natur der Dichtung begründet ist und die Dichter darüber hinaus das Gemeinte auch noch bewußt verhüllen.67 Ob die notwendige Interpretation aber auch die Möglichkeit des Gelingens kennt, ist noch nicht entschieden: Zwar geben die Dichter Hinweise auf ihre , doch ob eine konkrete Interpretation in praxi möglich und philosophisch vertretbar sein kann, läßt sich erst nach der Etablierung von maßgeblichen Interpretationskriterien bestimmen.
2.1.6 Die Öffentlichkeit der Interpretation Welchen Kriterien eine Dichterauslegung zu genügen hat, wenn sie als
gelten und sich auf diese Weise philosophisch legitimieren will, bringt Sokrates im Ion klar zur Sprache: Ein Dichter wird dann und nur dann richtig ausgelegt, wenn sich der Interpret die intentio auctoris erarbeitet. Und dies auf eine Weise, die eine weitere Versprachlichung – die Mitteilung der poetischen an andere – möglich werden und gelingen läßt. Damit ist einerseits
66 Alcib. II 147 c 1: Es ist „nicht eines jeden Sache, sie (sc. die verrätselten Werke der Dichtkunst) richtig zu deuten.“ ( ) 67 Spricht Andreas Graeser mit Blick auf die Textauslegung von Platons „alarmierende Erkenntnis, daß Geschriebenes prinzipiell auslegbar ist“ (Graeser 2 1993, S. 129), so ist diese Feststellung mit Blick auf die Dichterauslegung dahingehend zu modifizieren, daß Gedichtetes nicht nur prinzipiell ausgelegt werden kann, sondern zu seinem Verständnis auch prinzipiell ausgelegt werden muß.
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2. Die Theorie der Interpretation
daran festzuhalten, daß -gemäße, argumentativ ausweisbare und philosophisch verantwortbare Interpretationen poetischer Werke nur durch die Kraft des dianoetischen Denkens erreicht werden können. Unerläßlich für eine philosophisch legitimierbare Interpretation ist jedoch andererseits, daß das Denken des Interpreten nicht dem Zug der Selbstermächtigung verfällt, sondern seinen doppelten Halt und Einhalt findet: zum einen in dem Denken des Dichters, das es in der eigenen Auslegung zu ergründen gilt, und zum anderen in dem Denken Dritter, denen die eigene Interpretation mitzuteilen ist. Durch die Ausrichtung auf die des Dichters wird das hermeneutische Denken zu einem rezeptiven. Die des Dichters geht der Interpretationsarbeit immer schon voraus, sie ist bereits vor der Auslegung realisiert.68 So muß die Interpretation die intentio auctoris nicht selbst konstituieren, sondern als das entdecken, was ihr als Ziel gesteckt ist und den notwendigen Halt verspricht.69 Sokrates spricht der von ihm geforderten Interpretationskunst zwar die Freiheit dianoetischen Denkens zu. Um diese Freiheit des verstehenden und auslegenden Denkens jedoch nicht zur Beliebigkeit geraten zu lassen, ist seine prinzipielle Gebundenheit an die vorgegebene intentio auctoris notwendig. Versteht es der Interpret, die des Dichters in der eigenen Auslegung zu entdecken, so hat er damit erst die Vorbedingung zu seiner Vermittlungsaufgabe erfüllt. Zur besonderen Leistung des Interpreten gehört nämlich auch, daß er seine Interpretation eines poetischen Werkes den Zuhörern mitzuteilen vermag:70 Der Rhapsode soll den Zuhörern zum Vermittler des Ge68 Verfolgt Sokrates das Ziel, die als ideal konzipierte Interpretation ganz auf eine feststehende und damit Verläßlichkeit signalisierende poetische auszurichten, so wundert es nicht, daß der folgende Einwand bei ihm keine Erwähnung findet: Wird die intentio auctoris denn erst bei der Auslegung des Hermeneuten und nicht bereits bei ihrer literarischen Gestaltung durch den Dichter interpretiert? Vgl. Marten 2000, S. 160: „Fragt Platons Sokrates kritisch nach der Absicht ( ) der Dichter, dann hätte er genauer nach der von ihnen gedeuteten fragen müssen, anstatt anzunehmen, daß sie in ihrer Erstausgabe rein sie selbst sei.“ 69 Damit werden Analogien zur Ideenschau greifbar: Wie das noetische Treffen der Idee auf dianoetisch-diskursiver Grundlage das rezeptive Aufnehmen von etwas Wirklichem ist, das schon vor dem Treffen verwirklicht war (vgl. Ferber 2 1989, insbes. S. 59), so ist auch das glückende Interpretieren literarischer Texte als das rezeptive Aufnehmen der einen des Dichters zu verstehen, die schon vor der Interpretation existiert und – als gefundenes Ziel – der Interpretation ihren Halt zu geben vermag. 70 Die Vermittlungsleistung, die Sokrates von dem idealen Rhapsoden verlangt, ist vor dem Hintergrund der in der griechischen Antike grundsätzlich rezeptionsästhetisch geprägten Literaturauffassung zu sehen, die „seit Homer entscheidend von der Rücksicht auf die Wirkung und (eng damit verknüpft) auf die Wahrheit der Literatur bestimmt gewesen“ ist (Kannicht 1980, S. 7, vgl. auch Barner 1977). In prägnanter Weise spricht Richard
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
71
dankens des Dichters, zum
,71 werden. Entsprechend muß auch die Interpretation des literarischen Werkes, die der Rhapsode den Zuhörern gleichsam als öffentlicher Interpret vorstellt, selbst im Bereich des Verstehbaren und Auslegbaren statt haben. Von der Interpretation ist gefordert, daß sie sich gerade nicht als ein privates kongeniales Mysterium zwischen Dichter und Rezipient vollzieht, sondern ihren Ort prinzipiell im Rahmen von Öffentlichkeit, von Sprache, von Verstehbarkeit und von Nachprüfbarkeit hat. Setzt man eine kompetente kritische Zuhörerschaft voraus, dann kann das Gelingen der Mitteilung als ein rückwirkendes Kriterium und als Korrektiv für das Gelingen der Interpretation selbst fungieren: Ist die Interpretation den Zuhörern nicht verstehbar, scheitert die Auslegung vor dem kritischen Forum des Publikums, dann kann auch schon mit der Interpretation etwas nicht in Ordnung sein. Indem Sokrates die Vermittlung zur Leistung des idealen Interpreten rechnet, verbietet er „Privatinterpretationen“, die jenseits aller intersubjektiven Nachprüfbarkeit Geltung beanspruchen könnten. Der Rhapsode darf den Anspruch, die intentio auctoris erarbeitet zu haben, nur dann erheben, wenn ihm auch die Vermittlung der intentio auctoris gelingt. Die Erkenntnis der poetischen
und die Vermittlung der poetischen
stehen somit in einem Wechselverhältnis: Der Interpret kann die
des Dichters seinen Zuhörern nur mitteilen, wenn er sie zuvor erkannt hat. Aber die Sicherheit, die
des Dichters wirklich erkannt zu haben, besitzt der Interpret erst, wenn ihm die Vermittlung geglückt ist.72 Dabei muß der Kannicht von dem „Ansatz (...), daß Literatur sozusagen nur stattfindet, sofern und indem die (wie genial auch immer) produzierten Werke von Hörern, Zuschauern oder Lesern verstehend aufgenommen, ‚rezipiert‘ werden, daß also ‚die Werke (nur) leben soweit sie wirken‘ (K. Kosik). (...) die griechische Literaturauffassung von Homer an in der Tat zutiefst von der Erfahrung des Wirkungspotentials der Texte bestimmt (...)“ (Kannicht 1980, S. 7 f.; vgl. auch S. 32). 71 Ion 530 c 3 f. – Die richtige Wertung dieser Aussage liefert Wilamowitz-Moellendorff 1919 b, S. 41: Der „Dichter ist nur ein Dolmetsch der Götter.“ (Hervorhebung im Zitat von H. W.) 72 Zum Charakter einer kritischen Selbstvergewisserung von öffentlichen Präsentationen und insbesondere von elenktischen Gesprächen vgl. Szaif 1996, S. 288: „Erst in diesem Verfahren der kritischen Prüfung kann der Betreffende sich selbst seiner Einsicht vergewissern gegenüber der Möglichkeit, nur erst scheinbar Klarheit über die fragliche Sache gewonnen zu haben, weshalb Erkenntnis dieser kritisch-argumentativen Prüfung auch nicht vorausgeht, sondern nur durch sie hindurch sich vollziehen kann.“ – Den Gedanken, daß Erkenntnis, um zurecht als Erkenntnis zu gelten, vermittelbar sein muß, läßt auch Thukydides seinen Perikles äußern. Zu dem Erkennen des Notwendigen muß die Fähigkeit kommen, dies Erkannte auch auszudrücken (vgl. II 60, 5: (...) (...)). „Wer nämlich die Einsicht hat und sich nicht klar
72
2. Die Theorie der Interpretation
Rhapsoden die eigene Rezeptions- und Interpretationsleistung umsetzen in eine adäquate Produktions- und Vermittlungsleistung. Der des Dichters gegenüber ist der Rhapsode der Rezipierende, seinem Auditorium gegenüber der Produzierende. Im Ion verlangt Sokrates von dem idealen Interpreten die Vermittlung der poetischen , ohne jedoch genauere Auskünfte über die Art der Vermittlung und den Charakter des Auditoriums zu geben. Auf welche Weise der Rhapsode seiner öffentlichen Vermittlungsaufgabe gerecht wird, können wir jedoch aus der Konzeption einer idealen Rhetorik erfahren, die im Menon angedeutet und im Phaidros systematisch ausgeführt wird. Wie die Rezeptionshaltung eines idealen kritischen Auditoriums disponiert sein müßte, zeigt die Theorie einer philosophischen Gesprächsführung, wie sie von Sokrates im Gorgias vorgestellt wird. Der im Ion angelegte Idealbegriff der Interpretation gewinnt merklich an Plastizität, wenn er im Rahmen gesprächstheoretischer Überlegungen kontextualisiert wird und zu seiner Deutung auch die sokratischen Idealbegriffe von Rhetorik und Dialektik, im Sinne von Gesprächsführung, herangezogen werden.
2.1.7 Die Kompetenz des Interpreten Im Menon73 entwickelt Sokrates seine Vorstellung einer philosophischen Gesprächsführung vor dem Gegenbild des Streitgesprächs, wie es von Sophisten, Eristikern und Antilogikern geführt wird. Im Streitgespräch geht es jedem Kombattanten ausschließlich um den eigenen Sieg. Die anderen Kolloquenten sind keine Gesprächspartner, sondern Gegner, die – mit welchen streitkünstlerischen Mitteln auch immer – überwunden werden müssen. Dagegen hat das „Gespräch unter Freunden“74 als Ort der geteilten Wahrheitsvergewisserung die wechselseitige Belehrung der Gesprächspartner zum Ziel. Hier sucht man verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre;“ (II 60, 6: ) (Der griechische Text stammt aus der Edition von Hude 2 1913, die deutsche Übersetzung von Georg Peter Landmann, in Landmann 1993, Bd. 1, S. 267) 73 Men. 75 c 8 – d 7. – Vgl. auch im Theaitetos (154 d 8 – e 5) die Gegenüberstellung des Gesprächs, wie es von „gewaltigen Weisen“ (das meint: von Sophisten) geführt wird, und dem Gespräch, wie es wahrheitssuchende, rein an der Sache interessierte „Laien“ führen. 74 Das „Gespräch unter Freunden“ ist m. E. terminologisch zu verstehen. Bezeichnet wird ein gesprächstheoretisch explizierbarer Idealtypus, der sich dezidiert von sophistischen Gesprächsformen unterscheidet. Zum synergistischen Gesprächsideal, wie es von Sokrates proklamiert wird, vgl. Wieland 1982, insbes. S. 75-83.
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
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in einer gemeinsamen Denkanstrengung nach dem, was allen Gesprächspartnern nach kritischer Prüfung als der am besten gegründete, als der „schrittfesteste“ 75 erscheint. Ihre disparaten Ziele, Methoden und Gesprächsrollen machen das „Gespräch unter Freunden“ und das sophistische Streitgespräch zu inkommensurablen gesprächstheoretischen Idealtypen.76 Gemessen an dem Streitgespräch ist das „Gespräch unter Freunden“ die „dialektischere“ Form des Sichunterredens. Was unter dem „Dialektischeren“ genau zu verstehen ist, macht Sokrates mit wenigen Worten klar: Das „Dialektischere“ ist es, auf Fragen nicht nur das Wahre zu antworten, sondern auch so, daß der Gesprächspartner die Antwort verstehen kann.77 Von dem Dialektiker ist damit ein zugleich sach- und adressatengerechtes Sprechen78 gefordert, welches das Wahre nicht nur weiß, sondern auch mitzuteilen versteht. Schon im Menon wird deutlich, daß Sokrates in seinen gesprächstheoretischen Überlegungen Sprechen stets als adressiertes Sprechen versteht. Die Wahrheit über eine Sache sagt man nicht einfach aus, man sagt sie vielmehr immer zu jemandem.79 In gleicher Weise gilt für argumentatives Sprechen, daß Argumentationen nicht schon „für sich“ gut oder schlecht sind. Zu berücksichtigen ist stets der situative Gesprächs- und Argumentationskontext in seinen pragmatischen Bezügen: Wird hier und jetzt gut oder schlecht argumentiert? Ist das Argument gegenüber diesem Gesprächspartner angebracht oder nicht?
75 Vgl. Tim. 29 b 3 – c 2, Rep. VII 534 b 8 – d 1, Phd. 85 b 10 – d 9, 90 b 4 – c 6, Cri. 46 b 1 – c 6. – Zur Funktion des „besten“ resp. „stärksten Logos“ im Rahmen der platonischen Dialektik, insbes. im Rahmen des sog. -Verfahrens, vgl. Marten 1968. 76 Von dieser (sicherlich verkürzten) Darstellung einiger gesprächstheoretischer Aussagen des platonischen Sokrates ist Platons eigene literarische Technik der Dialoggestaltung zu unterscheiden. Die Gespräche, die Platon in Szene setzt, sind keineswegs so einfach unter die von Sokrates entworfenen Idealtypen zu subsumieren. In den Gesprächshandlungen sind häufig sowohl Züge einer eristischen Gesprächspraxis (nicht nur der vorgeführten Sophisten, sondern auch des Sokrates) als auch das ernste Bestreben aufweisbar, eine nicht schon vor dem Gespräch gewußte Wahrheit durch die im Gespräch freizusetzenden Denkleistungen zu gewinnen. Damit sprengt die von Platon künstlerisch entworfene Gesprächspraxis die rigiden, idealtypischen Vorgaben, die in den gesprächstheoretischen Überlegungen des Sokrates zur Sprache kommen. 77 Men. 75 d 5-7: ! " # $ % &! ' ( )* + , & 78 Mit der Sachgerechtigkeit der Rede versucht Sokrates ein allgemein formulierbares Kriterium anzugeben, das zwischen ad-hominem-Argumenten und der von ihm gewünschten rezipienten-adäquaten Argumentationsweise zu unterscheiden erlaubt. Problematisch wird dieses Kriterium jedoch durch die Tatsache, daß auch die Sachgerechtigkeit einer Rede im Einzelfall nicht rezipienten-unabhängig zu bestimmen ist. 79 Vgl. Heitsch 1992 d, S. 108 „Platon also betrachtet die Möglichkeiten, die dem Menschen gegeben sind, aus der Perspektive des Hörers, des Lesers, des Rezipienten.“
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2. Die Theorie der Interpretation
Die Forderung nach sachgerechter und zugleich höreradäquater Rede greift Sokrates im Phaidros wieder auf, um sie zu dem Konzept der idealen und d. h. -gemäßen Rhetorik auszuarbeiten. Erneut fungiert das -lose Treiben der Sophisten als Gegenentwurf: Sokrates konzipiert die ideal erdachte Rhetorik in polemischer Abgrenzung zur konventionellen Rhetorik, wie sie von den Sophisten gelehrt und ausgeübt wird.80 So beschränkt sich die ideale Rhetorik im Sinne des Sokrates auch nicht darauf, eine bloße Vortragskunst zu sein, die auf öffentliche Reden politischer und juridischer Art eingegrenzt ist. Die ideale Rhetorik, die , bestimmt Sokrates vielmehr als „eine Art Seelenführung mit Hilfe von Reden“ ( ), die das Private ebenso wie das Öffentliche tangiert, mithin über einen universellen Anwendungsbereich verfügt. Also, ist nicht die Rhetorik insgesamt eine Art Seelenführung mit Hilfe von Reden, und zwar nicht bloß vor Gericht und was es sonst für öffentliche Zusammenkünfte gibt, sondern auch im privaten Bereich, ebenso bei kleinen wie bei großen Anlässen? Und verdient sie nicht, sieht man es richtig, gleiche Achtung, ob sie sich nun zentraler oder unwichtiger Themen annimmt?81
Durch die Universalität der Rhetorik ist gesichert, daß Sokrates unter dem -gemäßen Rhetoriker auch den Interpreten, den Experten in der Vermittlung poetischer versteht. Die unabdingbare Voraussetzung der idealen
80 Die konventionelle Rhetorik ist in den Augen des Sokrates genau keine , sondern ein -loses Verfahren, eine (Phdr. 260 e 2-5). Zwischen Sokrates’ Auseinandersetzung mit der Rhetorik im Gorgias und seinen Ausführungen im Phaidros besteht m. E. keinerlei Spannung: Im Gorgias richten sich die Angriffe des Sokrates auf die sophistische Rhetorik, die sich nicht als zu etablieren vermag, sondern als bloße Übung und Routine, als und , abgewertet und als eine Form der Schmeichelei bloßgestellt wird. Der Phaidros stellt nun alles andere als die Relegitimierung der konventionellen Rhetorik dar: Sokrates’ Entwurf einer idealen Rhetorik ist gerade ein Entwurf gegen die konventionelle, d. i. sophistisch geprägte Rhetorik. Hat Sokrates im Gorgias der Rhetorik immerhin noch ihren Namen gelassen, so raubt die qua Emphatikon und Vereinnahmung operierende Argumentation im Phaidros ihr sogar noch diesen: Die „eigentliche“ Rhetorik ist eben genau nicht in der konventionellen sophistischen Rhetorik, sondern allein in der Dialektik und das heißt: in der Philosophie zu finden. Zum Unterschied zwischen einer „routinemäßigen“ und einer „technegemäßen“, d. i. über die Methoden der und der verfügenden Rhetorik vgl. auch Baumhauer 1986, insbes. S. 88. 81 Phdr. 261 a 7 – b 2: ! " #$ % & ' ( )* ) # #+ ) , * - ( #+ . * ! $ # / #+ 0 * #+ ) ) 1 2 + 3 4 + 56 )7 4 / 8 6 -# # 7 (Die Zitate aus dem Phaidros in deutscher Übersetzung sind Heitsch 1993 entnommen.)
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Rhetorik sieht Sokrates in der Sachkompetenz: Nur derjenige kann gut über eine Sache sprechen, der auch das Wissen über die betreffende Sache besitzt.82 Für den Interpreten ist die Orientierung an der des Dichters das Kriterium, was die Sachgerechtigkeit der Rede bestimmt. Neben der Sachgerechtigkeit -gemäßer Rede betont Sokrates im Phaidros noch stärker als im Menon die Gebundenheit der Rede an den Rezipienten. Wer seine Rede nach den Vorgaben der idealen Rhetorik gestalten will, hat nach Sokrates deshalb gleich vier wichtige Bedingungen zu erfüllen: 1.
Der ideale Rhetoriker muß ein guter „Psychologe“ sein: Nur wenn er ein Wissen um die seiner Zuhörer hat, kann der Rhetoriker die für diese Adressaten geeigneten Reden auswählen: „Da es zutrifft, daß die Bedeutung der Rede in der Seelenführung liegt, muß der angehende rhetorische Experte wissen, wie viele Typen der Seele es gibt.“83
2.
Der ideale Rhetoriker muß nicht nur „Psychologe“, sondern auch „Logiker“ sein, der Typologie der entspricht eine Typologie der : „Sind die Typen der Seele nun so unterschieden, dann gibt es ferner so und so viele Typen der Reden, jeweils von bestimmter Beschaffenheit. Bestimmte Menschen nun sind von bestimmten Reden mit einer bestimmten Begründung zu bestimmten Dingen leicht zu überreden, bestimmte Menschen aber sind mit dieser Begründung nur schwer zu überreden.“84
3.
Der ideale Rhetoriker muß die Fähigkeit besitzen, beide Typologien miteinander in die richtige Beziehung zu setzen. Nur so kann er die Wirkun-
82 Sokrates’ Begründung für die These, daß rhetorische Kompetenz notwendig an sachliche Kompetenz geknüpft ist, nimmt bemerkenswerterweise Bezug zu dem sophistischen Verständnis der Rhetorik als Technik der willkürlichen Beeinflussung und Täuschung der Hörer (vgl. insbes. Phdr. 259 e 1 – 262 c 4): Wer die Hörer hinters Licht führen will, muß die Sachen einander ähnlich machen und seine eigene Position in kleinen, kaum zu bemerkenden Schritten abändern können. Diese Technik aber beherrscht derjenige am besten, der die tatsächlichen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten kennt. Kurz: Der beste Betrüger ist der Wissende. Auf die Problematik dieser Argumentation für eine sokratische These auf sophistischer Basis geht Ernst Heitsch ausführlich ein, ohne allerdings zu einer letztlich befriedigenden Lösung zu kommen: „Meiner Meinung nach bleibt daher für den Anstoß nur eine Erklärung: Der Autor war unaufmerksam, hat einen Augenblick nicht aufgepaßt.“ (Heitsch 1992 e, S. 126) 83 Phdr. 271 c 10 – d 2: ! "# $ % & ' "( 84 Phdr. 271 d 3-7: ) * + ,! - " ' . ( /0 * 1 2 2 3 4 % 5 3 6#7 0 * 3 #7/
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2. Die Theorie der Interpretation
gen einschätzen, die ein bestimmter Typ von auf eine bestimmte Art von ausübt: „Und drittens, wenn er (sc. der ideale Rhetoriker) die Typen der Rede und der Seele und deren Zustände klassifiziert hat, wird er alle Gründe durchgehen, indem er bestimmte Redetypen bestimmten Seelentypen zuordnet und darüber unterrichtet, welche Seele von welchen Reden aus welchem Grund notwendig überzeugt wird und welche nicht.“85 4.
Der ideale Rhetoriker muß über eine Art situativer Anwendungskompetenz86 verfügen: Dem Techniten in Sachen Rhetorik eignet die Kompetenz, in einer konkreten Redesituation klar zu erkennen, mit welchem Typ von Zuhörer bzw. Gesprächspartner er es hier und jetzt zu tun hat: „Wenn er aber hinreichend fähig ist zu sagen, welcher Mensch von welchen Reden überzeugt wird, und wenn er in der Lage ist, jemanden, den er vor sich hat, von anderen zu unterscheiden und dann sich selbst darauf hinzuweisen, daß dies der Mann ist und dies der Charakter, über den damals im Unterricht gesprochen ist, jetzt konkret vor ihm, und ihm gegenüber seien, um eine bestimmte Überzeugung zu erzielen, bestimmte Argumente in bestimmter Weise anzuwenden; wenn er dann, im Besitz schon all dieser Fähigkeiten, noch die Situationen kennt, in denen er reden und in denen er schweigen muß, und wenn er schließlich auch noch den passenden und den unpassenden Zeitpunkt für ein kurzes, ein pathetisches, ein verschärfendes Wort und für all die anderen Redeweisen, die er gelernt hat, zu unterscheiden versteht: Dann und nicht eher hat er die Kunst in sich vollkommen ausgebildet.“87 Ja noch grundlegen-
! ! "# ! $! % !& ! ' (! )*+ ' + , " - . / # / . 01 Zwischen der situativen Anwendungskompetenz, die Sokrates als Eigenschaft des idealen Rhetorikers bestimmt, und der aristotelischen *! (vgl. insbes. NE VI) besteht
85 Phdr. 271 b 1-5:
86
m. E. eine enge Verwandtschaft: In beiden Fällen geht es darum, eine allgemeine Kenntnis, was zu tun oder zu sagen ist, in konkreten Handlungs- und Gesprächskontexten zu situieren. Auch die Problematik ist dieselbe: In beiden Fällen wird die bedenkliche Voraussetzung gemacht, daß dieses Vermögen ausschließlich für die Durchführung guter Handlungen in Anspruch genommen werden könne. 87 Phdr. 271 e 2 – 272 a 8: 2 "0 34 56 ' )*+ ' # 7
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2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
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der: Zu der situativen Anwendungskompetenz gehört nicht nur das Wissen, welche Art von Rede nun einzusetzen ist, sondern auch das Wissen, ob überhaupt eine Situation für die Rede vorliegt, ob die Zeit oder die Unzeit, die oder die des herrscht. Hier wird deutlich, daß die Rhetoriktheorie des Sokrates nahtlos in eine allgemeine Handlungstheorie übergeht. Ob hier und jetzt der
der Rede oder der
des Schweigens gegeben ist, ist eine Frage, die auf eine bestimmte situationsadäquate Handlung zielt. Wie die vier Forderungen zeigen, ist es nicht gerade wenig, was Sokrates von einem Techniten in Sachen Rhetorik verlangt. Ganz zu Recht äußert daher Ernst Heitsch Bedenken, „ob diese Allzuständigkeit (sc. der idealen Rhetorik) mit der These, rhetorische Kompetenz habe Sachkompetenz zur Voraussetzung, überhaupt verträglich ist. Steht jetzt der zukünftige Redner nicht letzten Endes vor der Forderung, allwissend zu sein?“88 In diesem Zusammenhang scheint es mir hilfreich, den „ontologischen Status“ des -gemäßen Rhetorikers in den Blick zu nehmen. Platon läßt Sokrates das Konzept einer idealen Rhetorik in der fiktiven Gesprächskonstellation des Dialogs denkkünstlerisch entwerfen, das aber heißt: er läßt Sokrates den idealen Rhetoriker erdenken. Für ein solches Konstrukt stellt die Forderung nach Allwissenheit – solange man den Begriff „Allwissenheit“ nicht schon in sich als inkonsistent aufzuweisen versucht – kein Problem dar: Sokrates erdenkt den Rhetoriker eben schlicht als allwissend. Die von Heitsch angesprochene Problematik wird allerdings dann brisant, wenn man den -gemäßen Rhetoriker in seiner Allwissenheit nicht nur begrifflich fassen, sondern auch in seiner rhetorischen Praxis darstellen will. Wer den Allwissenden in der konkreten Ausübung seiner Allwissenheit vorzuführen unternimmt, verfängt sich wohl selbst in dem Anspruch der Allwissenheit. Könnte er sonst garantieren, daß die Aussagen, die er dem Allwissenden zuschreibt, in der Tat auf Wissen beruhen und folglich wahr sind? So einfach es zu sein scheint, den idealen Rhetoriker in seiner begrifflichen Gestalt zu entwerfen, so schwer ist es, den idealen Rhetoriker in seiner Praxis zu denken, noch schwieriger: ihn in seiner Praxis und damit in der Konkretion bestimmter Redesituationen literarisch zu gestalten. Platon kann den idealen Rhetoriker zwar im Konzept des Sokrates gedanklich ! " #$ 88 Heitsch 1992 e, S. 122, Anm. 13. – Vgl. auch Buchheim 1986, S. 114: „Eine Techne, die vorgibt alles zu können, hat, zumal wenn sie in der Gestalt der Rhetorik auftritt, das Problem, auch alles wissen zu müssen.“
78
2. Die Theorie der Interpretation
Form gewinnen lassen, eine literarische Darstellung des idealen Rhetorikers in seiner Praxis übersteigt jedoch die Möglichkeiten des Schriftstellers: Wie kann man auf überzeugende Weise einen Rhetoriker darstellen, der nicht nur jeden Gesprächsgegenstand genau kennt, sondern auch über eine allumfassende Menschenkenntnis und eine stets treffende Situationsbeurteilung verfügt? Der ideale Rhetoriker, wie ihn Sokrates erdenkt, existiert allein in seinem Begriff bzw. in der theoretischen Explikation seines Begriffs und damit im Bereich des Allgemeinen. Die Praxis des idealen Rhetorikers läßt sich in ihrer Konkretion nicht denken oder literarisch gestalten. Was bedeutet dies nun aber für die Auslegung von Sokrates’ Idealbegriff des Interpreten? Da der Interpret seinen Zuhörern die intentio auctoris zu vermitteln hat, muß der ideale Interpret zugleich der ideale Rhetoriker für den Bereich poetischer sein. Entscheidend ist hier die Frage, ob für Sokrates die Einschränkung der rhetorischen Kompetenz auf den Bereich poetischer überhaupt denkbar ist. Ist der ideale Rhetoriker nicht gerade durch die Universalität seines Gegenstandsbereiches ausgezeichnet? Stellt damit eine rhetorische Kompetenz, die auf einen bestimmten Sachbereich eingegrenzt ist, nicht einen Widerspruch in sich dar? Hinzu kommt, daß Sokrates im Ion immer wieder betont, daß die Dichter über alle möglichen Gegenstandsbereiche Aussagen treffen, so daß die poetischen keinen Gegenstandsbereich neben anderen Gegenstandsbereichen erschließen, sondern in ähnlicher Weise einen Universalitätsanspruch erheben wie die Rhetorik. Damit aber steht auch die Möglichkeit einer konkreten Darstellung idealer Interpretationspraxis vor dem Problem, daß die vom Rhapsoden geforderte Allwissenheit in literarisch präsentierten Gesprächshandlungen nicht einzulösen ist: Der Rhapsode kann zwar von Sokrates als Idealfigur konzipiert und denkkünstlerisch entfaltet werden, die literarische Darstellung der konkreten Interpretationspraxis des idealen Interpreten jedoch erscheint unmöglich. Als Hypothese kann daher schon jetzt formuliert werden: Wenn Platon in seinen Dialogen die Interpretationspraxis des Sokrates inszeniert, dann kann diese Interpretationspraxis nicht die Interpretationspraxis des idealen Rhetorikers sein, da sich diese prinzipiell jeder Konkretion in der literarischen Darstellung entzieht.
2.1.8 Die Kompetenz des Publikums Von dem idealen Interpreten fordert Sokrates, daß er sich die des Dichters erarbeiten und sie seinem Auditorium vermitteln soll. Dabei hat auch
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das Auditorium eine wichtige Funktion zu erfüllen: Denn nur wenn die Vermittlung gelingt, kann sich der Interpret vergewissern, daß ihm die Erarbeitung der des Dichters in der Tat geglückt ist. Kurz: Die Öffentlichkeit des Publikums wirkt als Prüfinstanz und Korrektiv.89 Doch nicht jedes beliebige Publikum, so muß man annehmen, kann als Prüfinstanz von Interpretationen fungieren. Im Ion finden wir das Negativbild einer kritischen Öffentlichkeit angesprochen: Ions Zuhörer, die sich ohne Widerstand von dem Rhapsoden korrumpieren lassen und dafür ihre Zeit und ihr Geld verschwenden. Der einzige, der im Ion eine kritische Öffentlichkeit zu repräsentieren vermag, ist Sokrates, der sich hier zwar nicht mit den konkreten Homer-Interpretationen Ions, wohl aber mit der theoretischen Legitimierbarkeit seiner Interpretationsmethode auf dialektisch-prüfende Weise befaßt. Um einen Hinweis auf die Kompetenz zu gewinnen, die ein kritikfähiges Auditorium auszeichnen soll, ist es hilfreich, Sokrates’ gesprächstheoretische Ausführungen im Gorgias genauer in Augenschein zu nehmen. Dort nennt Sokrates drei Gesprächstugenden, die ein Kolloquent, wenn er die Lebensführung eines Gesprächspartners im Gespräch auf zureichende Weise prüfen ( )90 will, unbedingt benötigt: Einsicht ( ), Wohlwollen () und Freimütigkeit ( ).91 Allen Gesprächspartnern, sagt Sokrates, mit denen er bislang zu tun hatte, fehlte mindestens eine der drei Gesprächstugenden, so daß ihm die gesprächsweise, die dialektische Prüfung seiner eigenen Lebensführung noch nicht möglich war. In dem aktuellen Mitunterredner Kallikles habe er nun endlich den idealen Gesprächspartner gefunden, der gleichermaßen über wie über und verfügt. Der Gesprächskontext läßt keinen Zweifel daran, daß dieses überschwengliche Lob des Kallikles, der ganz als skrupelloser Machtpraktiker gezeichnet ist, von Sokrates zutiefst ironisch gemeint ist. Kallikles fehlt es gerade an , und . Er ist keineswegs der Kolloquent, der über alle drei Gesprächstugenden verfügt, sondern vielmehr genau derjenige, der über keine einzige der drei Gesprächstugenden verfügt. Wenn Sokrates die des Kallikles besonders betont (Gorg. 487 a 3 – d 7), so 89 Wird bestimmten Zuhörern eine kritische Urteilsfähigkeit zugeschrieben, dann heißt dies nicht, daß bereits ein Wissen i. S. einer spezifischen Fachkompetenz für den gerade behandelten Gegenstand vorausgesetzt werden müßte (vgl. von Perger 1997, S. 47). 90 Vgl. Marten 1965, S. 37, Fn.26: „ , ‚prüfen‘ usw., s. Philebos 21. ( ) hat vielfach den Sinn, durch Folter die Wahrheit einer Rede zu prüfen usw., da zu der Zeit das (Kreuz-)Verhör unbekannt war. An die schmerzhafte Weise der Wahrheitsfindung erinnert Platon auch bei der Rede vom Prüfstein eines dialektisch verhandelten Sachverhalts (Philebos 23 a).“ Vgl. auch Lach. 187 e 6 – 188 c 3. 91 Vgl. Gorg. 486 e 5 – 487 a 3.
80
2. Die Theorie der Interpretation
ist damit im Grunde doch nur seine Schamlosigkeit gemeint (vgl. etwa Gorg. 492 d 1-3). Kallikles ist nicht offen und freimütig, er ist rücksichtslos und beleidigend. Die reichlich krude und holzschnittartige Naturrechtstheorie, die Kallikles in diesem Gespräch vertritt, zeugt nicht gerade von einer herausragenden , und die aggressive Art und Weise, wie er diese Theorie vertritt, läßt kaum ahnen, daß er Sokrates gegenüber empfindet. Dennoch verhält sich Sokrates so, als wäre Kallikles der ideale Gesprächspartner in einem Gespräch, dem es um die gemeinsame Wahrheitssuche in Sachen gelingender Lebensführung geht. Damit gestaltet Sokrates – gleichsam als Fiktion in der Fiktion – die Figur eines idealen Gesprächspartners, der als Prüfstein dialektischer Wahrheitssuche fungieren kann. In dem von den Kombattanten weitgehend eristisch geführten Streitgespräch, das Sokrates in der Auseinandersetzung mit sophistisch geschulten Gegnern zeigt, wird hinter der ironischen Brechung der gesprächstheoretische Entwurf einer gesprächsweisen Wahrheitsvergewisserung erkennbar. Die von Platon im Gorgias inszenierte Streitgesprächshandlung steht in aussagekräftigem Kontrast zu der Konzeption einer dialektischen Wahrheitsvergewisserung in einem „Gespräch unter Freunden“, die in dem Streitgespräch thematisiert, aber in dem Kommunikationsgeschehen nicht selbst vollzogen wird. Versteht man die folgenden Worte des Sokrates als allein an Kallikles gerichtet, sind sie nicht weiter ernst zu nehmen. Versteht man sie dagegen als an den von Sokrates fingierten idealen Gesprächspartner adressiert, sind sie nicht weniger als der Versuch, einen gesprächspragmatisch verankerten Wahrheitsbegriff zu konturieren: Daher verhält es sich hiermit jetzt offenbar so, wenn du (sc. Kallikles / sc. der ideale Gesprächspartner) mit mir über etwas in unserem Reden übereinkommst, das wird alsdann hinlänglich erprobt sein durch mich und dich, und es wird nicht nötig sein, es noch auf eine andere Probe ( ) zu bringen. Denn du würdest es ja sonst nicht eingeräumt haben, weder aus Mangel an Weisheit noch aus Überfluß an Scham; noch auch, um mich zu betrügen, würdest du es einräumen. Denn du bist ja mein Freund, wie du auch selbst sagst. Gewiß also wird, was ich und du eingestehen, das höchste Ziel der Richtigkeit haben.92
92 Gorg. 487 d 7 – e 7:
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-. 4) 5 1 6 5' 7 ) 6% - ' 8 0, "9 # / 1 " :% ; + -. 1<2 = > 8 ? " + ? !" ( ) @A 0)B 2 (Die deutschen Zitate aus
dem Gorgias stammen von F. Schleiermacher, in Eigler 1970-1983)
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
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Setzt man die Konstellation eines „Gesprächs unter Freunden“ voraus, die sich der unbedingten Wahrheitssuche93 verschrieben haben und neben der auch über und verfügen, dann kann in der gemeinsam betriebenen dialektischen Wahrheitssuche eine sachlich gegründete Einigung, eine , erzielt werden, die über einen bloß faktischen Konsens hinausreicht und an das Ziel der Richtigkeit und Wahrheit ( ) gelangt. Der Wahrheitsbegriff, der hier Verwendung findet, ist der einer Aussagen- bzw. Urteilswahrheit. Was in der dialektischen Wahrheitsvergewisserung als wahr befunden wird, sind , die von den Kolloquenten geteilt werden und zueinander im Verhältnis der Konsistenz und Kohärenz stehen. Denn jeder , der von den Kolloquenten als wahr gesetzt wird, „steht in Übereinstimmung mit einem gesetzten Logos, der bereits bei vorhergehendem Diskussionsstand als ein für den Augenblick bester gemeinsam in Ansatz gebracht und angenommen worden war.“94 Damit gilt für diese Aussagen, daß sie zum einen von allen durch die Gesprächstugenden ausgezeichneten Kolloquenten als wahr anerkannt werden und zum anderen auch miteinander harmonieren. Im Sinne einer klassischen wahrheitskonditionalen Semantik ist die Wahrheit einer Aussage von der Anerkennung der Wahrheit dieser Aussage durch eine bestimmte Person logisch unabhängig. Ob die Aussage p wahr ist, hängt nicht davon ab, ob eine Person X die Aussage p auch als wahr anerkennt. Dagegen betont Sokrates die enge Verbindung zwischen der Wahrheit eines und der Frage, ob dieser so beschaffen ist, daß er in einer Gesprächskonstellation, die durch wahrheitssuchende und die genannten 93 Gorg. 505 e 4 – 506 a 5: „(...) so denke ich, wir müssen auch alle aus allen Kräften uns bemühen zu erfahren, was wahr ist an der Sache, wovon wir sprachen, und was falsch; denn es ist für alle insgeheim gut, daß dies ans Licht komme. Ich also will es durchgehen, wie ich glaube, daß es sich verhält. Wenn aber einen von euch dünkt, ich stimmte mir selbst bei, wo ich nicht sollte, so müßt ihr dazwischentreten und widerlegen. Denn nicht als wüßte ich es, sage ich, was ich sage, sondern ich suche es gemeinschaftlich mit euch; so daß, wenn mir derjenige etwas zu sagen scheint, der mir widerstreitet, ich es zuerst einräumen werde.“ ((...) ! "# $% & ' & () * !" +% %" , -. # / 0 - $1 2 3 4 ) $* 56 * 7 6 89 $: 0; ! < %" & $ . ,# 1 + ; !* = 6 4 "> 56 ; ?% ; 3 8 !%< 6 $; $1 6 %:@%.) Die Betonung, ganz auf Wahrheit aus zu sein, läßt eine eigene Emphase entstehen. Auf den Vorwurf des Kallikles, er sei rechthaberisch (- ) entgegnet Sokrates (Gorg. 515 b 6 f.): „Keineswegs aus Rechthaberei frage ich, sondern in Wahrheit um zu erfahren, wie (...)“ (AB> , C $ 6; !> 2 ! "6 <:- (...)) 94 Marten 2000, S. 397.
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2. Die Theorie der Interpretation
Gesprächstugenden aufweisenden Kolloquenten bestimmt ist, auch homologiefähig ist. Ein gilt genau dann als wahr, wenn er in einer konkreten Gesprächssituation Gegenstand einer ist, deren Validität wiederum an die Vorhandenheit der Gesprächstugenden gebunden bleibt.
, so muß man vermuten, sind selten. Der einzige , der im Gorgias der Prüfung letztlich standhält, ist der berühmte gegen die herrschenden Meinungen stehende, d. i. paradoxe95 Satz, daß man das Unrechttun mehr scheuen müsse als das Unrechtleiden und daß ein Mann vor allem anderen danach streben müsse, nicht daß er scheine, gut zu sein, sondern daß er es sei in seinem privaten Leben wie in dem öffentlichen.96
Damit eine und damit Wahrheit im Sinne wahrer Aussagen im Gespräch überhaupt erreichbar wird, ist noch eine weitere Voraussetzung zu erfüllen: Die einzelnen Gesprächspartner dürfen nicht schon für sich in einer
des Verstehens befangen, sondern müssen mit sich selbst einig sein.97 Erst wenn das Denken des Einzelnen, das Gespräch der Seele mit sich selbst, zu einer intrasubjektiven Übereinstimmung geführt hat, ist der Weg für eine intersubjektive Verständigung, die gegebenenfalls zur führt, frei. Gelingt die sachlich gegründete Einigung, die , so ist garantiert, daß jetzt – in der aktuellen Gesprächssituation, im Kreis der gerade anwesenden Kolloquenten – nichts Anderes, d. i. nichts Besseres, über die zu verhandelnde Sache gesagt werden kann. Wahrheit ist gewonnen, allerdings: eine Wahrheit auf Zeit, die in der situativen Bedingtheit steht, wie sie der menschlichen Verständigung im Gespräch notwendig zugehört, aber in nichts negativ konnotiert ist. Die erreichte Wahrheit ist eine Wahrheit unter endlichen Bedingungen, die 95 Vgl. Jacobi 1988, S. 5: „Naheliegend ist es, vom Sinn auszugehen, den ‚ ‘ im Griechischen hat. ‚ ‘ bedeutet ‚Ansicht‘, ‚Meinung‘; ‚para-dox‘ ist ein Satz, der in Konflikt mit dem steht, was man für richtig oder wahr hält. Die Formulierung ‚was man für richtig hält‘ muß so vage bleiben; jede Präzisierung wäre irreführend. Der als paradox bezeichnete Satz nämlich wird nicht als mit einer einzelnen Meinung in Konflikt stehend beurteilt, sondern als mit einem ganzen Komplex oder System von untereinander zusammenhängenden Meinungen unverträglich. Und weiter konstatiert der, der eine These ‚paradox‘ nennt, nicht etwa, daß diese These nicht zu den ganz persönlichen Ansichten des Sprechers paßt; vielmehr sieht der Sprecher sich mit seinen Ansichten als Vertreter der allgemeinen Meinung.“ 96 Gorg. 527 b 4-6: (...)
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97 Vgl. Gorg. 495 a 7-9: „Aber Kallikles, du verdirbst die ersten Reden und kannst nicht mehr gehörig mit mir das Wahre erforschen, wenn du anderes redest als du es selbst meinst.“ ('( $ ) *$ + ,- !- . / 0 1 23 " 4 5 6 " " 1 -7 &)
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
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für den Augenblick als verbindlich gesetzt wird, doch dies unter dem Vorbehalt einer grundsätzlichen Revidierbarkeit.98 Den , die sich in bestimmten Gesprächssituationen bewährt haben, kommt das Prädikat „wahr“ in der Weise zu, daß die Gesprächsbedingungen stets mitzubedenken sind, unter denen die erzielt wurde. Ändern sich die Gesprächsbedingungen, kommt etwa ein weiterer Kolloquent hinzu, so kann der zuvor, zum Zeitpunkt t1 , von allen als wahr anerkannte
wieder strittig werden:99 Zum Zeitpunkt t2 ist der nicht mehr Gegenstand einer , entsprechend entfällt die Berechtigung, ihn als wahren zu begreifen.100 Genauer: Es entfällt die Berechtigung, ihn als
zu begreifen, der zum Zeitpunkt t2 wahr ist. Daß der zum Zeitpunkt t1 Gegenstand einer und insofern ein wahrer war, hat sich damit ja nicht geändert. Wahrheit – als Folge einer geglückten – ist notwendig Wahrheit unter ganz bestimmten, situativen und damit auch zeitlichen Konditionen. Kurz: Was zum Zeitpunkt t1 wahr gewesen ist, muß zum 98 Vgl. die Rede des Sokrates (Gorg. 509 a 4-7): „Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, daß ich zwar nicht weiß, wie sich dies verhält, daß aber von denen, die ich angetroffen, wie auch jetzt, keiner imstande gewesen ist, etwas anderes zu behaupten, ohne dadurch lächerlich zu werden.“ ( ! " # $ % &' ! () * +# # " ,) 99 Wird die Wahrheit eines ) in Abhängigkeit von einer bestimmten Gesprächskonstellation gedacht, so legt es sich nahe zu fragen, ob nicht auch die Bedeutungsidentität eines ) von der Gesprächssituation abhängt. Kann sich die Wahrheit eines ) ändern, wenn sich die Gesprächskonstellation ändert, was garantiert dann, daß es sich noch um denselben ) bzw. um einen ) mit gleicher Bedeutung handelt, der zuvor für wahr, jetzt aber für falsch erklärt wird? Dessenungeachtet scheint Sokrates hier, wohl um die Möglichkeit einer Widerlegung von ) im Gespräch aufrechtzuerhalten, die keineswegs unproblematische Annahme vorauszusetzen, daß es gleichsam kontextunabhängige Bedeutungsträger, eben die ), gibt: Auf ), die zu einem bestimmten Zeitpunkt geäußert wurden, kann zu einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs z. B. in kritischer Absicht wieder eingegangen werden. (Vgl. Gorg. 488 a 6 – b 1: „Und wenn du findest, daß ich dir jetzt zwar beistimme, in der Folge aber dasjenige nicht tue, worin ich dir beigestimmt, so halte mich nur ganz für einen Taugenichts (-./) und ermahne mich niemals wieder nachher, wie einen, der nichts wert ist.“) Das Verhältnis zwischen einem ausgesagten ) und der Person, die diesen ) äußert, wird in der vorliegenden Arbeit nochmals thematisiert (vgl. unten S. 89). In dem dortigen Zusammenhang wird auch deutlich, daß Sokrates die Annahme von kontextunabhängigen Bedeutungsträgern selbst in Frage stellt, ohne deshalb auf die Möglichkeit elenktischer Gespräche verzichten zu müssen. 100 Vgl. Marten 2000, S. 397: „Das als wahr Gesagte und Anerkannte rechtfertigt sich als solches allein dadurch, daß der Eine gegenwärtig nichts Besseres zu sagen hat und die Anderen nichts dagegen einzuwenden haben. (...) Wahrheit hat hier die Bedeutung: das Beste, was Einer gegenwärtig zur Sache zu sagen hat und was als beste Setzung auch von anderen an der Sache Interessierten anerkannt wird.“
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2. Die Theorie der Interpretation
Zeitpunkt t2 nicht mehr wahr sein. Die Wahrheit eines liegt nicht einfach vor, sondern verdankt sich jeweils der im Gespräch gelingenden . Gegen die prinzipielle Möglichkeit, daß derselbe zum Zeitpunkt t1 Gegenstand einer und zum Zeitpunkt t2 nicht mehr Gegenstand einer ist, kann der folgende Einwand erhoben werden: Jeder macht notwendigerweise von Begriffen Gebrauch. Nun ändern sich im Rahmen der von Platon fingierten Gespräche diese Begriffe101 während der Unterredung und durch die Unterredung in ihrem Bedeutungsgehalt. Damit wird es streng genommen unmöglich, im Gespräch auf exakt denselben zurückzukommen. Denn wenn der zum Zeitpunkt t1 und der zum Zeitpunkt t2 artikulierte auch dieselben sprachlichen Ausdrücke verwenden mögen, so folgt aus dieser Ausdrucksgleichheit ja noch keine Gleichheit der Explikation. So berechtigt der skizzierte Einwand vor dem Hintergrund der von Platon literarisch vorgeführten Begriffsverwendung und -thematisierung ist, es bleibt doch festzuhalten, daß der platonische Sokrates in seinen wahrheits- und gesprächstheoretischen Überlegungen eine Fiktion propagiert, die der These von der gesprächsweise erfolgenden Modifizierung der Begriffe genau entgegenläuft: Bei fortgeschrittenem Stand der Diskussion erinnert Sokrates seine Gesprächspartner immer wieder an , die sich zu einem früheren Zeitpunkt der Unterredung als konsensfähig erwiesen haben, und suggeriert dabei, die Bedeutung der in diesen verwendeten Begriffe habe sich zwischenzeitlich in keiner Weise geändert. Damit stehen wir vor der Situation, daß sich einerseits in den von Platon präsentierten Gesprächen der Wandel von Begriffen aufgrund ihrer Verwendung und Thematisierung besonders plastisch beobachten läßt. Daß aber andererseits gerade die Dialogfigur, die sich vor allen anderen „durch die Fähigkeit , mit Begriffen (...) auf eine ganz spezifische Weise umzugehen“ 102 , eben diesen Wandel gerne leugnet. Schlagen wir die Brücke zu Sokrates’ Konzept der idealen Rhapsodenkunst: Hat ein Interpret das Glück, seine Auslegung einem Auditorium vorstellen zu dürfen, das sich durch die angesprochenen Gesprächstugenden auszeichnet, so steht ihm eine Instanz zur Verfügung, die – im Gegensatz zu Ions gewöhnlichem Publikum – als Prüfstein, als , von Interpretationen taugt. Eine Interpretation, die von diesem kritischen Publikum als richtige Interpretation in dem Sinne anerkannt wird, daß sie eine geglückte Erarbeitung und Vermittlung der des Dichters leistet, hat sich bewährt: hier und 101 Vgl. oben Fn. 61 auf S. 67. 102 Wieland 1997, S. 382.
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jetzt, in genau dieser Vortragssituation. Deutet man Sokrates’ Entwurf einer rhapsodischen im gesprächstheoretischen Kontext, den der Gorgias, der Menon und der Phaidros bilden, zieht man zum Verständnis der rhapsodischen Verständnis- und Vermittlungsaufgabe auch Sokrates’ Idealbegriff einer Rhetorik und dialektischen Gesprächsführung heran, dann distanziert man sich mehr und mehr von der Monologizität, wie sie einer konventionellen Rhapsodenvorstellung eignet.103 Statt dessen herrscht die Dialogizität philosophischer Dialektik: Der Interpret muß sich offensichtlich, wenn er die -Funktion seiner Zuhörer nicht ungenutzt lassen will, Fragen zu seiner Deutung gefallen lassen, er muß Gründe für seine Auslegung anführen und sie rechtfertigen ( ), er muß seiner Interpretation bei Angriffen zu Hilfe kommen können.104 Eben diese Möglichkeit argumentativer Ausweisbarkeit des Behaupteten zeichnet nach Sokrates die philosophische Art der Gesprächsführung aus. Sokrates’ Entwurf einer idealen Auslegungskunst führt, berücksichtigt man auch die gesprächstheoretischen Überlegungen anderer Dialoge, letztlich zur Philosophie, besser: zum Philosophieren. Die von Ion praktizierte, konventionelle Dichterauslegung ist eine Form der Gesprächsführung unter anderen. Eine Form, die charakterisiert ist durch eine von Monologizität bestimmte makrologische Redesituation, die eben genau einen Sprecher und sonst nur Zuhörer kennen. Dagegen kann man in der rhapsodischen , deren Grundzüge Sokrates im Ion skizziert, das in brachylogischem Stil geführte philosophische Gespräch bereits angelegt sehen. Kritisch gesprochen handelt es sich dabei also um eine implizite Vereinnahmung des Rhapsodentums, welche die konventionelle Dichterauslegung abwertet, um die „eigentliche“ Interpretationskunst allein in der Philosophie zu entdecken: Insofern die Interpretationskunst eine ist, ist sie auch Philosophie. Insofern sie nicht philosophisch ist, ist sie auch keine .
103 Im Rahmen der sog. Schriftkritik im Phaidros übt Sokrates scharfe Kritik an der Monologizität medial schriftlicher Texte, die in diesem Punkt vergleichbar sind mit der „Art von Texten, die von Rhapsoden zitiert zu werden pflegen ohne die Möglichkeit von Gegenrede ( ) und Erläuterung () nur zur Überredung ()“ (Phdr. 277 e 5-9). Die entscheidende Schwäche eines medial schriftlichen Textes und einer medial mündlichen , wie sie von konventionellen Rhapsoden praktiziert wird, liegt demnach in dem Mangel an Dialogizität, die als notwendige Bedingung des , der argumentativen Rechenschaftsgabe, zu verstehen ist. Vgl. unten Kap. 4.1 und 4.3. 104 Zur „Hilfe für den “ vgl. unten insbes. S. 288.
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2.1.9 Die praktische Unmöglichkeit der -gemäßen Interpretation Sokrates verlangt viel von dem rhapsodischen Techniten: Die des Dichters zu erkennen und zu vermitteln, stellt eine Aufgabe dar, deren praktische Realisierbarkeit zumindest fragwürdig ist. Welche Schwierigkeiten die Vermittlung der poetischen aufwirft, ist schon angesprochen worden: Der -gemäße Interpret müßte zugleich -gemäßer Rhetoriker sein und damit der Bedingung der Allwissenheit genügen. Doch die Problematik beginnt früher: Bereits die Möglichkeit, die des Dichters zu erkennen und die als notwendig aufgezeigte interpretative Erarbeitung zu leisten, wird – wie die folgende Analyse der Anfangsszene des Hippias Minor zeigen soll – von Sokrates wegen der mangelnden Dialogizität in Rezeptionssituationen ausgeschlossen. Das Gespräch zwischen Sokrates, Hippias und Eudikos, das Platon im Hippias Minor in rein dramatischer Form gestaltet hat, wird durch den Dialog nicht vollständig präsentiert. Der Dialog setzt erst mit der Frage des Eudikos ein, warum Sokrates nach der Homer-Auslegung, der , die Hippias soeben zum besten gegeben hat, schweigt, warum er sich sowohl mit Lob wie auch mit Tadel ganz zurückhält.105 Hippias’ wird im Dialog selbst nicht vorgeführt, doch der Leser erfährt – gleichsam in der Rolle eines Zuhörers, der zu einem Gespräch hinzukommt, das bereits vor einiger Zeit begonnen hat –, daß der im Dialog unmittelbar dargestellten Gesprächshandlung eine des Hippias vorangegangen ist. Wer bereits den Hippias Maior gelesen hat, weiß, daß Hippias in dem dort inszenierten Gespräch, dessen fiktive Handlungszeit zwei Tage vor der des Hippias Minor anzusetzen ist, mit einem Homervortrag geprahlt hat, einer gar herrlichen Rede ( ), die er mit großem Erfolg vorgetragen habe und bereits übermorgen in der Schule des Pheidostratos auf die Bitte des Eudikos hin erneut vortragen ( ) werde.106 Auf seine Homer-Auslegung ist Hippias so stolz, daß er Sokrates aufgefordert hat, selbst der angekündigten beizuwohnen und weitere Zuhörer mitzubringen, die in der Lage wären, das von Hippias Gesagte kritisch zu beurteilen und zu würdigen. Im Hippias Maior erfährt der Leser also, daß eine des Hippias bald stattfinden wird, im Hippias Minor erfährt er, daß sie gerade stattgefunden hat. Doch selbst vorgeführt wird ihm die nirgendwo. Hier zeigt sich also eine interessante Parallele zum Ion, wo Sokrates das Angebot des Ion, ihm eine seiner 105 Hipp. mi. 363 a 1-5. 106 Hipp. ma. 286 a 3 – c 2.
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Vortragskunst zu liefern, ja wiederholt ablehnt. Offensichtlich will Platon im Hippias Maior und im Hippias Minor wie im Ion kein Probestück der konventionellen Homer-Auslegung präsentieren, sondern darstellen, wie Sokrates eine argumentative Rechtfertigung dieser Auslegungsmethode einfordert. Der Aufforderung des Eudikos, nicht zu schweigen, sondern lobend oder tadelnd gegenüber Hippias’ Homervortrag Stellung zu beziehen, begegnet Sokrates nicht, indem er in der Tat ein Lob oder einen Tadel ausspricht, sondern indem er seine Bereitschaft anzeigt, durch Nachfragen allererst verstehen zu lernen, was Hippias über Homer zu sagen hat ( ).107 Damit übt Sokrates implizit Kritik an Eudikos’ Voreiligkeit, der sich nicht auf den des kritischen versteht: Ehe die Zeit zu loben oder zu tadeln kommt, muß die zu bewertende Sache zunächst verstanden werden. Außerdem wird klar, daß Sokrates das, was Hippias über Homer zu sagen hat, seiner allein offenbar nicht entnehmen konnte. Um die Ausführung des Homer-Interpreten verstehen zu können, ist es notwendig, seiner ein auf Dialogizität basierendes Frage-Antwort-Gespräch nachfolgen zu lassen. Auf Eudikos’ Drängen108 hin ist Hippias auch bereit, sich den Fragen des Sokrates zu stellen. Hippias ist sich seiner Sache gewiß, schließlich ist er nicht nur in der Dichterauslegung109 geübt, sondern auch darin, in öffentlichen Festversammlungen auf alle möglichen Fragen antworten und über jedes beliebige 107 Das , das Sokrates hier dem Hippias als Tätigkeit zuschreibt, ist der Begriff, durch den im Ion das Geschäft des Rhapsoden Ion signifikant bezeichnet wird. Mit dem steht die sophistische, pseudo-technische und empeiristische Dichterauslegung im Blick. Vgl. unten S. 121 und Kap. 3.2.1. 108 Hipp. mi. 363 c 4-6. 109 Das Geschäft des Rhapsoden, das , ist szs. nur ein Teilbereich von Hippias’ allumfassender sophistischer Tätigkeit. Hippias ist seinem Selbstverständnis und seiner Selbstinszenierung nach ein Tausendsassa und „Alleskönner“ . Er ist nicht nur ein Diplomat und Weisheitslehrer, der für seine Vorträge die höchsten Honorare kassieren kann (vgl. insbes. Hipp. ma. 281 a 1 – 283 b 3). Er gefällt sich auch darin, selbstgearbeitete Ringe, selbstgewobene Mäntel und Unterkleider und einen selbstgeflochtenen Gürtel zu tragen. Nicht nur die Gedichte, auch das Ölfläschchen und selbst der Badekratzer, den Hippias bei sich führt, sind selbstgemacht (vgl. Hipp. mi. 368 b 2 – 369 a 2). Doch in den Augen des Sokrates ist Hippias zwar ein Poly-Empeirist, vielleicht gar ein Pan-Empeirist, aber mit Sicherheit kein Technit. Hippias kann irgendwie alles – doch nichts richtig. – Nebenbei bemerkt: Sokrates’ Spott über den selbsternannten „Alleskönner“ Hippias bildet die Vorlage für die gehässigen Bemerkungen, die der Musikkritiker und „Privatphilosoph“ (Bernhard 3 1985, S. 20) Reger in Thomas Bernhards Alte Meister zu Martin Heidegger anbringt: „denn alles an Heidegger ist mir immer widerwärtig gewesen, nicht nur die Schlafhaube auf dem Kopf und die selbstgewebte Winterunterhose über seinem von ihm selbst eingeheizten Ofen in Todtnauberg, nicht nur sein selbstgeschnitzter Schwarzwaldstock, eben seine selbstgeschnitzte Schwarzwaldphilosophie (...)“ (S. 92) „(...) auf diesen Photographien (...) schneidet er sich ein
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2. Die Theorie der Interpretation
Thema aus dem Stegreif heraus „gut reden“ ( ) zu können.110 Durch die Zustimmung des Hippias wird der Übergang ermöglicht von der konventionellen, durch Monologizität geprägten Dichterauslegung, der , die Platon offensichtlich nicht einmal für darstellungswürdig erachtet, hin zur philosophischen, von Dialogizität bestimmten Dichterauslegung, die sich im brachylogischen einer Interpretationsgemeinschaft etabliert. Die nun beginnende Auslegung gilt den homerischen Figuren Achilles, Odysseus und Nestor, deren Charakterisierung der philosophischen Auseinandersetzung über Wahr- und Falschheit zuarbeiten soll.111 Wie diese Charaktere von Hippias und Sokrates ganz unterschiedlich gedeutet werden, soll uns für den Moment weniger interessieren. Wichtig ist jetzt zum einen, daß die Auslegung zu keiner führt; und zum anderen, mit welcher Behauptung Sokrates das Scheitern der interpretativen Bemühung erklärt, um die Homer-Interpretation zum Abschluß zu bringen und direkt zur diskursiven Erörterung des Sachproblems überzugehen. Das Scheitern des Gesprächs begründet Sokrates bemerkenswerterweise nämlich weder durch die mangelnde rhetorische Qualität des Hippias noch durch die unzureichenden Gesprächstugenden der Interpretationsgemeinschaft. Beide Erklärungen wären möglich: Hippias mag zwar ein erstklassiger Sophist sein, ein rhetorischer Technit im Sinne des Phaidros ist er sicherlich nicht. Auch kann man von dem vorgeführten Gespräch nicht behaupten, daß es durch die , und seiner Teilnehmer charakterisiert wäre. Doch Sokrates verzichtet auf diese Erklärungsmöglichkeiten und führt statt dessen einen Grund an, der nicht erst bei der Vermittlung, sondern bereits bei der interpretativen Erarbeitung der dichterischen ansetzt:
Stück (selbstgebackenes) Brot ab, schlägt er ein (selbstgeschriebenes) Buch auf, macht er ein (selbstgeschriebenes) Buch zu (...)“ (S. 93). Auch der Bezug zur Sophistenkritik des Sokrates im Gorgias (vgl. Gorg. 462 b 3 – 466 a 3 und oben Kap. 2.1.2) ist deutlich angezeigt: „Zu Heidegger pilgerten vor allem jene, die Philosophie mit der Kochkunst verwechseln (...)“ (S. 94). 110 Vgl. Hipp. mi. 363 c 7 – d 4. – Erneut zeigt sich eine Parallele zum Ion: Wie Ion ist auch Hippias in öffentlichen Agonen erfahren. Er ist sieggewohnt und siegessicher. Wie Ion stellt er sich dem sokratischen , um erfahren zu müssen, daß diese Auseinandersetzung nur mit seiner Niederlage enden kann. 111 Welchen unterschiedlichen gesprächspragmatischen Zwecken der Umgang mit Dichtung konkret dienen kann, wird im späteren Verlauf der vorliegenden Arbeit detaillierter ausgeführt. Dabei spielt der philosophische Gebrauch von Dichtung, der eine bestimmte Sachdiskussion befruchten und weiterführen soll, eine wichtige Rolle (vgl. unten insbes. Kap. 3.2.2 – 3.2.3).
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So wollen wir den Homer jetzt lassen, da es ohnehin unmöglich ist, ihn zu befragen, was er sich wohl dachte, als er diese Verse dichtete.112
Das Ziel, das Sokrates der Dichterauslegung vorgibt, ist uns aus dem Ion gut bekannt: das Denken, die , des Dichters. Neu dagegen ist, daß Sokrates es gar nicht für möglich erachtet, die des Dichters aus dem poetischen Werk zu erschließen. Das aber heißt: Der Halt, den die Interpretation zu ihrer philosophischen Legitimierung unbedingt benötigt, kann nicht erreicht werden. Ist es im zweiten Alkibiades113 die Rätselhaftigkeit der poetischen Sprache, die Sokrates zu der Aussage bewegt, es sei „nahezu“ unmöglich herauszufinden, worauf ein Dichter mit seinen Worten eigentlich hinaus will, so macht der Hippias Minor noch einen weiteren Grund geltend: Der Dichter selbst kann nicht nach seiner Intention befragt werden. Dieser Grund ist der entscheidende. Ohne die Anwesenheit des Dichters, des Urhebers des zu interpretierenden , ist die Dialogizität nicht gegeben, die ein argumentativ gegründetes Verstehen allererst möglich macht. Daher ist es nur konsequent, wenn Sokrates seinen Gesprächspartner Hippias auffordert, den von ihm für wahr gehaltenen als eigenen anzuerkennen und selbst zu verteidigen, d. h. argumentativ für seine Wahrheit zu plädieren.114 Hippias’ Zuschreibung des von ihm selbst akzeptierten an Homer ist – aus prinzipiellen Erwägungen heraus – nicht auszuweisen. Selbst gesetzt den Fall, dieser wäre in der Tat eine eigene Behauptung Homers, so wäre sie als eine Behauptung Homers, die sich isoliert sieht von ihrer aussagenden Instanz, weder adäquat zu verstehen noch hinreichend zu verteidigen. Nach Sokrates kann ein also nur dann richtig verstanden werden, wenn derjenige greifbar ist, der diesen hervorgebracht hat. Mit Blick auf Sokrates’ Entwurf einer idealen Rhetorik im Phaidros kann daher festgehalten werden: Was gesagt wird, wird nicht nur stets zu jemandem gesagt. Es wird auch stets von jemandem gesagt. Zum Verständnis eines ist es nach Sokrates unbedingt notwendig, daß der von seinem Urheber expliziert, in größeren Zusammenhängen situiert und gegen konkrete Mißverständnisse und Angriffe verteidigt werden kann. Systematisch ist hier von einer großen Skepsis gegenüber der Annahme einer isolierbaren, rein für sich verstehbaren Satzbedeutung zu sprechen. Was ein bestimmter behauptet, läßt sich nach Sokrates nur erkennen, wenn man den Prozeß seiner argu112 Hipp. mi. 365 c 8 – d 1: " # $ % & ' 113 Vgl. Alcib. II 147 b 5 – d 8 und oben S. 68. 114 Vgl. Hipp. mi. 365 d 2-4.
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2. Die Theorie der Interpretation
mentativen Absicherung in konkreten Diskussionszusammenhängen berücksichtigt. Dabei ist der nicht als unabhängige, im leeren Raum stehende Behauptung, sondern als Produkt einer ganz bestimmten aussagenden Instanz zu begreifen. Kurz: Es geht weniger um das, was ein bedeutet, sondern eher um das, was der Urheber eines meint bzw. was der Urheber eines mit seinem behaupten will. Ein wird genau dann richtig verstanden, wenn man den Urheber des versteht. Den Urheber des versteht man aber nicht, wenn man nur einen kennt. Den Urheber des versteht man nur, wenn er auch bereit und in der Lage ist, im kritischen Prüfgespräch Rede und Antwort zu stehen, d. h. seinen argumentativ auszuweisen und zu rechtfertigen. Diese Einstellung des Sokrates zu Gesprächstheorie und Semantik macht sich auch bemerkbar in den von Platon inszenierten Gesprächshandlungen. Als Beispiel soll das unterschiedliche Gesprächsverhalten von Laches und Nikias im Laches dienen: Die Dialogfigur Nikias stellt die These auf, Tapferkeit ( ) sei eine Art von Wissen ( ). Allerdings hat Nikias diese These nicht selbst entwickelt, sondern einmal von Sokrates gehört und übernommen.115 Nikias glaubt, daß Sokrates einem , den er ja selbst einmal behauptet hat, nur zustimmen kann. Weit gefehlt: Sokrates greift die These an.116 Offensichtlich genügt es Sokrates nicht, auf eine Frage eine nur „nominell“ richtige Antwort zu vernehmen: Der Antwortende wird vielmehr genötigt, sein Verständnis des Gesagten durch weitere kritische Nachfragen überprüfen zu lassen. Im konkreten Fall des Nikias zeigt sich dabei, daß er bei der Verteidigung dieser sokratischen These mit Argumentationsmitteln operiert, die gerade sophistischer Natur sind. Dagegen vertritt die Dialogfigur Laches ihre inhaltlich gerade nicht von Sokrates übernommenen Überzeugungen auf eine Art und Weise, die dem sokratischen Gesprächs- und Argumentationsideal nahekommt. Dies zeigt sich übrigens auch in Laches’ recht differenziertem Umgang mit einem Homer-Zitat, das ihm von Sokrates präsentiert wird:117 Laches unterwirft sich nicht einfach der Autorität des Dichters, sondern prüft das Gesagte und schränkt – durch die Unterscheidung verschie115 Vgl. insbes. Lach. 194 c 7 – d 2. 116 Vgl. Dieterle 1966, S. 101, Anm. 2: „In der Form entspricht das (sc. die Distanzierung des Sokrates von der eigenen, jedoch durch Nikias vorgebrachten These) genau der Art, wie später platonische Grundanschauungen distanziert dargeboten werden, z. B. Phaidon 72 e: Kebes erwähnt den von der Anamnesis: . Noch stärker ist 76 d 8: , gesagt von der ‚unerhörten‘ Neuerung der Ideenlehre. Vgl. auch die Einführung des im ‚Staat‘: 504 e 8, 505 a 3.“ 117 Vgl. Lach. 191 a 8 – b 7.
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
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dener Formen tapferen Verhaltens im Krieg – die Reichweite von Homers Aussage nach sachlichen Gesichtspunkten ein. Nikias dagegen muß sich vorhalten lassen, die früher gehörte These des Sokrates nicht richtig, d. h. nicht in ihrem Begründungszusammenhang verstanden zu haben: Sonst würde er nicht auf den Einfall kommen, sie mit sophistischen Argumenten stützen zu wollen, die nach Sokrates in hohem Maße angreifbar sind. Platons literarische Darstellung dieses Gesprächs- und Argumentationsverhaltens macht deutlich, wie berechtigt Sokrates’ Mißtrauen gegenüber allen Lehrsätzen ist: Was jemand wirklich meint, was er wirklich behaupten will, wenn er einen äußert, läßt sich nur herausfinden in der Diskursivität und Dialogizität eines Gesprächs. Das Argument, mit dem Sokrates die Unmöglichkeit der Interpretation begründet, findet sich in besser ausgearbeiteter Form in der Schriftkritik des Phaidros wieder. Ein Buch, so heißt es dort, hat Ähnlichkeit mit den Bildern der Maler, die auf den ersten Blick zwar lebendig zu sein scheinen. Fragst du sie (sc. die Bilder) aber etwas, so schweigen sie in aller Majestät. Und genauso ist es mit den geschriebenen Texten. Du könntest meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, weil du es verstehen willst, so erzählt ein Text immer nur ein und dasselbe.118
Die , die einer sprachlichen Äußerung, sei sie medial mündlich oder medial schriftlich, zugrundeliegt, ist nur zu erschließen, wenn die Person weiter befragt werden kann.119 Bei Texten, die medial schriftlich vorliegen, ist dies aber nur in seltenen Ausnahmefällen möglich, nämlich dann, wenn der
118 Vgl. Phdr. 275 d 4-9: !" #$ %&" '( )*+,- . . /+ " 01 (2 !" )& /. # 3 1( &" 14- 5 2 6 $78 79" (2 : ;" " 5 <" $ /. 3 & $( * =$7( " (% 0 1 (+ (7 5 #+119 Vgl. die folgende Bemerkung des Augustinus in den Confessiones (XI 3, 5): „Laß mich vernehmen und verstehen wie Du ‚im Anfang Himmel und Erde geschaffen hast‘. Geschrieben hat das Moses, geschrieben und ist dahingegangen, hinübergegangen von hinnen, von Dir zu Dir, und ist jetzt nicht vor mir. Wäre er da, ich hielte ihn fest, ich bäte ihn, flehte ihn an, beschwüre ihn bei Dir, daß er mir das alles enthülle. Und ich hinge leiblich hörend an den Worten, die seinem Mund entströmten; und spräche er hebräisch, so klopfte er vergebens an die Pforte meines Sinnes, und nichts davon erreichte meinen Geist; aber spräche er lateinisch, so wüßte ich, was er sagt. Allein woher sollte ich dann wissen, ob wahr ist, was er sagt? Und wüßte ich auch das, wüßte ich’s etwa von ihm?“ (dt. Übers. von Joseph Bernhart, in der Ausgabe von Bernhart 1987, S. 608 f.)
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2. Die Theorie der Interpretation
Autor gerade anwesend ist.120 Auch bei der Dichterauslegung, die nicht medial festgelegt ist, wird vorausgesetzt, daß die eines Dichters nur dann interpretativ zu erarbeiten ist, wenn der Dichter anwesend ist und über seine befragt werden kann. Dies ist aber in der Regel weder bei der Lektüre poetischer Texte, die medial schriftlich vorliegen, noch bei der Rezitation poetischer Werke durch die vermittelnden Rhapsoden der Fall. Die Unmöglichkeit, die des Dichters interpretativ zu erarbeiten, ist nach Sokrates in der Abwesenheit des Dichters zum Zeitpunkt der Interpretation begründet, was die für das Verständnis notwendige Dialogizität nicht zuläßt. Den Standardfall der Dichterrezeption sieht Sokrates dadurch gekennzeichnet, daß der Dichter in der konkreten Rezeptionssituation nicht anwesend ist, um seine erläutern und verteidigen zu können. Betrachten wir kurz die Ausnahme: Der Dichter ist in der konkreten Rezeptionssituation präsent. In diesem Fall hängt es nicht nur von der Bereitschaft, sondern vor allem auch von den argumentativen, den philosophischen Qualitäten121 des Dichters ab, inwieweit es ihm gelingt, die eigene – als Behauptung zu begreifende – im Gespräch verständlich und plausibel zu machen. Die Erfahrungen, die Sokrates selbst mit den Selbstinterpretationen der Dichter gemacht hat, sind nicht sehr glücklich: Fast alle beim Gespräch anwesenden Personen haben besser über ihre Dichtung gesprochen als die Dichter selbst (vgl. Apol. 22 a 8 – c 8). Wenn einem Dichter die philosophische Kompetenz mangelt, wenn er zu keiner Selbsterkenntnis in der Lage ist und gar nicht um seine eigene weiß, dann fehlt ihm auch jede Möglichkeit, diese rational zu rechtfertigen. Ein enthusiastischer Dichter etwa, dem der Gott den Verstand geraubt hat, besitzt überhaupt keine eigene
120 Demgegenüber traut der Rhetor Isokrates denjenigen Texten, die hinreichend deutlich geschrieben sind, durchaus zu, daß der verständige Interpret sich allein durch ihre Lektüre die des Autors zu erschließen vermag. Was einen nach Isokrates verstehbar werden läßt, ist seine eigene Klarheit ( ) und nicht etwa seine logische Eingebundenheit in Kontexte oder seine pragmatische Rückgebundenheit an die ihn aussagende Instanz. Vgl. hierzu Michael Erlers Darstellung von Isokrates’ Panathenaikos und Platons Phaidros als „Testimonien des ersten hermeneutischen Disputes in der Antike“ (Erler 1992, S. 125). 121 Das genaue, auf Gründe zurückführbare und argumentativ ausweisbare Wissen um die eigene ist nach Sokrates eine Spezialität des Philosophen: Im Phaidros (278 c 4 – d 6) beschreibt Sokrates einen Autor, der (1) die Wahrheit um das weiß, was er in seiner Schrift behandelt hat, (2) den in der Schrift aufgestellten Behauptungen im Rahmen elenktischer Gespräche zu Hilfe kommen kann und (3) diese Behauptungen zugleich als etwas gegenüber seinen mündlichen „Schlechteres“ aufzuweisen versteht. Allein ein solcher Autor verdient nach Sokrates den Titel „Philosoph“.
2.1 Das Idealbild: Sokrates’ Skizze einer
93
, sondern fungiert nur als Medium der göttlichen , über die er dann selbstverständlich auch kein privilegiertes Wissen hat.122 Ähnliches gilt nach Sokrates für die Situation, daß ein Schriftsteller bei der Rezeption seiner Schrift präsent ist:123 Die Anwesenheit des Autors stellt eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung zum Verständnis und zur argumentativen Stärkung seiner dar. Zuzustimmen ist der Behauptung Michael Erlers, „daß die Anwesenheit des Autors alleine noch nicht eine zum Verständnis hilfreiche Erklärung garantiert. Der Autor muß in der Lage sein, mit einem Wissen sein Werk verteidigen oder erklären zu können.“124 Kurz: Gefordert ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, das in der Schrift Behauptete (die ) im elenktischen Gespräch argumentativ auszuweisen ( ).125 Kommen wir zurück zu dem Standardfall der Rezeption, die von der Abwesenheit des Dichters bzw. des Autors ausgeht. Hier steht eines fest: Aus dem poetischen bzw. dem literarischen Werk allein läßt sich die intentio auctoris jedenfalls nicht gewinnen. Obgleich Sokrates sehr wohl einen Idealbegriff der Interpretation kennt – die des Dichters diskursiv zu erarbeiten und zu vermitteln –, schließt er eine gelingende Interpretationspraxis aus, falls der Dichter nicht gerade einmal selbst anwesend und darüber hinaus zur philosophischen Erkenntnis der eigenen fähig ist. Der normative Charakter der sokratischen Interpretationstheorie wird nun in aller Härte spürbar: Sokrates skizziert eine Interpretationstheorie, die zugleich eine äußerst rigide 122 Vgl. unten insbes. Kap. 2.3.1 – 2.3.4. 123 Wolfgang Wieland (1982, S. 17) und Rafael Ferber haben vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit zu Recht betont, daß es sich bei der Schriftkritik des Phaidros „weniger um eine Kritik der Schrift als solcher als vielmehr genauer um eine Kritik schriftlicher Publikation für weitere Kreise.“ (...) Von der Kritik nicht berührt ist damit eine Publikation für engere Kreise im Sinne der Vorlesung eines geschriebenen logos unter Anwesenheit des Autors (...)“ (Vgl. Ferber 1992, S. 147) 124 Erler 1987, S. 27; vgl. auch S. 24: „In Platons Augen ist also bei der Interpretation die Anwesenheit des Verfassers des Werkes, welches gedeutet werden soll, unabdingbar notwendig. Er muß für sein Werk Rede und Antwort stehen und es gegebenenfalls verteidigen können.“ 125 Ein schönes Beispiel dafür, wie es in einer Auslegungssituation trotz der Anwesenheit des Autors nicht zu einer rechtfertigbaren Interpretation seiner kommt, ist im Panathenaikos des Isokrates zu finden. In dieser Schrift inszeniert Isokrates in dialogischer Form die Auslegung einer eigenen Rede durch einen Spartafreund, bei der er (als Dialogfigur) selbst präsent ist, ohne aber zu der vorgelegten Exegese Stellung zu beziehen (vgl. insbes. Panathenaikos §§ 264 f.): „Isokrates, der in der ersten Dialogszene so entschieden die seiner Rede verteidigt hatte, hört sich ruhig die Deutung an, die der Spartanerfreund entwickelt – und hält sein Urteil darüber zurück (...) Obwohl anwesend, stellt der Autor sich der Befragung nicht: er schweigt wie ein Buch.“ (Schäublin 1982, S. 175 f.; vgl. auch Kröner 1969, S. 113)
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2. Die Theorie der Interpretation
Interpretationsethik darstellt. Wenn eine konkrete Interpretation allein durch die Erarbeitung und Vermittlung der poetischen philosophisch legitimiert ist, doch schon die interpretative Erarbeitung der poetischen gerade in ihrer Unmöglichkeit aufgezeigt wird, dann handelt es sich um eine Interpretationsethik, die nicht nur streng, sondern schlicht zu streng ist. Sokrates setzt die Kriterien für eine philosophisch legitime Interpretation so hoch an, daß jede Praxis der Interpretation als unzureichend diffamiert wird. Auch als Orientierungshilfe für konkrete Auslegungen scheint die sokratische Interpretationstheorie, die ja gerade ein grundsätzliches und damit nivellierendes Verdikt über jede Form der Interpretationspraxis ausspricht, nicht dienen zu können. Wäre es nach diesem Verständnis nicht das Beste, die Werke der Dichter gar nicht zu interpretieren? Allerdings ist, wie Sokrates gegenüber Polemarchos und Alkibiades gezeigt hat, ein anderer, ein nicht interpretierender Zugang zu den Werken der Dichter auch nicht zu gewinnen. Sokrates behauptet zugleich die Notwendigkeit wie die Unmöglichkeit der Interpretation: Literarische Werke müssen zu ihrem Verständnis interpretiert werden. Philosophisch zu verantworten ist die Interpretation nur dann, wenn sie sich die des Dichtes in zureichender Weise erarbeitet hat. Die des Dichters aber entzieht sich dem Interpreten.126 Wer ein Gespräch führen will, das philosophisch verantwortet ist, darf sich vor dem Hintergrund dieser Interpretationsethik, die jede einzelne Interpretation mit dem Stigma behaftet, argumentativ nicht ausweisbar zu sein, nicht mit Dichterauslegung befassen. Nun hat Platon aber bekanntlich seine Dialogfiguren nicht nur über Interpretation disputieren, sondern im Rahmen der vorgeführten Gespräche Interpretation auch praktizieren lassen. Nicht nur die Sophisten, auch der platonische Sokrates befaßt sich durchaus mit den Werken der Dichter – trotz des eigenen Diktums, daß sich die zu erarbeitende der Dichter gar nicht erarbeiten läßt. Neben den sehr zahlreichen kurzen Dichterzitaten findet sich im Protagoras auch eine ausführliche Interpretation des Simonides, an der Sokrates als Interpret kräftig mitwirkt. Verbietet die sokratische Interpretationsethik aber nicht gerade jede Betätigung auf diesem Feld? Warum also läßt Platon Sokrates überhaupt die Werke der Dichter interpretieren? Oder anders gewendet: Warum läßt er Sokrates eine Interpretationsethik konzipieren, die
126 Damit konfrontiert Sokrates seine Gesprächspartner mit einem Problem, das dem interpretationstheoretischen Grunddilemma, daß ein Text nie als Text, sondern stets nur als interpretierter Text zu haben ist, vergleichbar ist: Wer sich in seiner Interpretation auf die des Dichters beruft, nimmt für sich eine Rechtfertigungsinstanz in Anspruch, die offensichtlich nicht so leicht greifbar ist.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
95
jede mögliche und damit auch seine eigene Interpretationspraxis so scharf angreift? Diese Fragen sollen zunächst unbeantwortet bleiben. Erst im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit ist zu erörtern, in welchem Verhältnis die von Sokrates proklamierte Interpretationstheorie und die von Sokrates praktizierte Interpretationspraxis stehen. Zunächst bleiben wir im Feld theoretischer Aussagen platonischer Dialogfiguren über Interpretation. Sokrates’ Entwurf der idealen Auslegungskunst zielt auf die Etablierung einer philosophischen Theorie und Ethik der Interpretation, deren ‚Clou‘ darin liegt, jede legitime Auslegungspraxis gerade auszuschließen. Zugleich stellt die Interpretationstheorie, wie sie von Sokrates erdacht wird, aber auch die radikale Abgrenzung gegenüber den konventionellen Formen der Rhapsodenkunst dar. Indem sich Sokrates entschieden gegen die herrschenden interpretationstheoretischen Konzeptionen und gegen die konventionellen Auslegungspraktiken wendet, gewinnt die neu erdachte Auslegungskunst vor dem Hintergrund der bekämpften Anschauungen ihr klares Profil. Im folgenden ist nun genauer zu untersuchen, mit welchen herrschenden Interpretationstheorien sich die ideale Rhapsodenkunst des Sokrates auseinandersetzt. Der Blick auf Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation und der Blick auf die später zu betrachtende Interpretationspraxis werden geschärft, wenn wir auch die Interpretationstheorien von Sokrates’ Gegnern kennenlernen.
2.2
Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
Daß die platonischen Dialoge stets durch stark polemische Züge gekennzeichnet sind, hat bereits Goethe – in einem Aufsatz mit dem ironisch zu verstehenden Titel „Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung“ – treffend zur Sprache gebracht: „Durch jede philosophische Schrift geht, und wenn es auch noch so wenig sichtbar würde, ein gewisser polemischer Faden; wer philosophiert, ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins, und so sind die Gespräche des Plato oft nicht allein auf etwas, sondern auch gegen etwas gerichtet.“127 Im Falle des Ion ist die Polemik nach dem Geschmack Goethes allerdings etwas zu heftig ausgefallen, so daß ein positiver Gehalt des Dialogs nicht mehr erkennbar ist: Der Ion ist in den Augen Goethes „nichts als eine Persiflage“.128 Doch gegen wen zielt die polemische Ausrichtung des
127 „Hamburger Ausgabe“ Bd. 12 10 1982, S. 245. 128 a.a.O. S. 244.
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2. Die Theorie der Interpretation
Dialogs?129 Goethe kann keine Gegner von Format entdecken, er sieht das Ziel der Schrift nur in der karikierenden Vorführung des armen Ion: „Der berühmte, bewunderte, gekrönte, bezahlte Jon sollte in seiner ganzen Blöße dargestellt werden, und der Titel müßte heißen: Jon oder der beschämte Rhapsode; denn mit der Poesie hat das ganze Gespräch nichts zu thun.“130 Hier ist zu fragen: Steht Ion nur als ein individueller Rhapsode mit seinen rein persönlichen Charakterfehlern und Schwächen im Zielfeld der sokratischen Kritik? Oder steht Ion nicht vielmehr stellvertretend für die konventionellen und d. h. nicht-philosophischen Formen der Dichterauslegung? Im fiktiven Zusammenhang der Dialoghandlung wird Ion als eine bestimmte literarische Person in Szene gesetzt; insofern tritt er auf als ein konkretes Individuum. Doch ist nicht zu übersehen, daß viele Individuen, die Platon literarisch gestaltet, repräsentativ für eine ganz bestimmte Art von Gesprächs-, Argumentations- und Lebensführung stehen. So bringt Platon im Laches mit Nikias zwar einen Strategen auf die Bühne, der als historische Persönlichkeit bestens bekannt ist: Die persönlichen Stärken und Schwächen gerade dieses Feldherrn, der für den Verlust der athenischen Expedition nach Syrakus im Jahre 413 v. Chr. verantwortlich zeichnet, mußten die Bürger Athens schließlich am eigenen Leibe erfahren. Und doch verblassen im Gespräch mit Sokrates die individuellen Züge des Nikias – etwa sein unerschütterlicher und fataler Glaube an die Mantik – vor der Bedeutsamkeit, die Nikias als Idealtypus des Strategen für das Gesprächsthema der Tapferkeit besitzt. Auch Ion ist trotz seiner überragenden Erfolge in den musischen Agonen alles andere als eine Ausnahmegestalt unter den Rhapsoden. Pointiert gesagt: Ion ist nicht bloß ein Rhapsode, Ion ist der Rhapsode. Von einem historischen Rhapsoden namens Ion, der als Grundlage für die fiktive Person des Dialogs dienen könnte, haben wir keine Kenntnis. Die Vermutung liegt nahe, daß es Platon ganz bewußt vermeidet, einen bekannten Rhapsoden in dem Gespräch zu Wort kommen zu lassen. Indem er die Person des Ion in seiner literarischen Gestaltung frei komponiert, gelingt es Platon, sie von störenden individuellen Besonderheiten freizuhalten. Wenn Ion auf den ersten Blick doch ganz eigene individuelle Züge zu haben scheint, etwa seine blasierte Eitelkeit, so ist auch dies weniger als persönliche Charaktereigenschaft, sondern als ein Kennzeichen zu verstehen, das dem Rhapsoden als Rhapsoden eignet.131 Steht Ion idealtypisch für 129 Diogenes Laertios zählt den Ion dagegen nicht unter die widerlegenden ( ), sondern unter die ausprobierenden Dialoge ( ). Vgl. Diogenes Laertios III 60. 130 „Hamburger Ausgabe“ Bd. 12 10 1982, S. 246 f. 131 Vgl. die Schilderung des Kitharoden in Symp. 179 d 2-7.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
97
den Rhapsoden, so wie Sokrates den Dialektiker darstellt, dann geht es in dem Dialog grundsätzlich um die polemische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Rhapsodenkunst. Der exemplarische Charakter Ions erlaubt dem Interpreten des Dialogs damit Rückschlüsse auf die Frage, in welchem Theorieumfeld und angesichts welcher praktischen Formen der Interpretation Sokrates seine ideale Rhapsodenkunst entwirft.
2.2.1
vs.
Als Gegenspieler des Sokrates steht Ion zunächst in einem allgemeinen Sinne für die Rhapsodenkunst, wie sie konventionell und d. h. auf nicht-philosophische Art betrieben wird. Die nicht-philosophische Art dieser Dichterauslegung erweist sich dabei genauer als die sophistische Methode der Interpretation. Um einem naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen, ist zu betonen, daß Ion, obgleich er im Verlauf des Gesprächs von Sokrates genötigt wird, sich selbst als Enthusiasten zu bezeichnen, alles andere als ein Enthusiast ist. Es ist kein Zufall, daß die Konzeption, die den Rhapsoden als Enthusiasten deutet, nicht von Ion, sondern von Sokrates ins Gespräch eingebracht wird: Als Ion seinen Anspruch, eine rhapsodische zu besitzen, die sich allein auf die Epen Homers bezieht, im nicht aufrechterhalten kann, wendet er sich mit der Frage an Sokrates, aus welchem Grund er denn dann „am schönsten von allen Menschen über Homer sprechen kann“.132 Erst in der Antwort des Sokrates kommt die Rede auf den enthusiastischen Rhapsoden: Ions Vermögen, gut über Homer zu reden, sei keine , sondern eine göttliche Kraft ergreife und bewege den Rhapsoden.133 Ion selbst möchte sich jedoch keineswegs als Enthusiasten verstanden sehen, sondern als Techniten.134 An einer Stelle des Gesprächs weigert sich Ion explizit, zu den vom Gott „Ergriffenen“ gerechnet zu werden: „Du spricht gut, Sokrates. Doch wür-
132 Vgl. Ion 533 c 5-8. 133 Vgl. Ion 533 d 1-3. 134 Wie insbesondere Platons Darstellung des Protagoras im gleichnamigen Dialog deutlich macht (vgl. Marten 1965, S. 64), gehört es zum Selbstverständnis und zum Anspruch der Sophisten, über eine zu verfügen. Demgegenüber spricht Sokrates seinen sophistischen Gesprächspartnern dieses Vermögen, das seines Erachtens Privileg des dialektischen Philosophen ist, entschieden ab. Wie unbegründet der sophistische Anspruch auf eine rational ausweisbare ist, legt Platon dabei durch den inszenierten Gang der Gesprächshandlung offen, die den Sophisten in seinem Unvermögen zur argumentativen Rechenschaftsgabe im Prüfgespräch präsentiert.
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2. Die Theorie der Interpretation
de es mich wundern, wenn Du so gut reden kannst ( ),135 daß du mich überzeugst, ich würde den Homer im Zustand der Ergriffenheit und Raserei ( ) verherrlichen.“136 Allerdings sind in dem Dialog durchaus Passagen zu finden, die den Interpreten verleiten können, Ion enthusiastische Züge zuzusprechen:137 So ist Sokrates, nachdem er Ion zu Beginn der Gesprächs ohne vorgängige diskursive Prüfung eine zugeschrieben hat, später ganz offensichtlich bemüht, Ion zu dem Zugeständnis zu zwingen, er verkörpere selbst den – von Sokrates in die Unterredung eingebrachten – Typus des enthusiastischen Rhapsoden. Aber ist damit schon gesagt, daß Ion in der Tat ein Enthusiast ist? Auf die drängenden Fragen des Sokrates gibt Ion zu, daß er bei seinen Vorführungen Tränen in den Augen hat, wenn er etwas Rührendes vorträgt, und daß alle Anzeichen des Schreckens an ihm zu bemerken sind, wenn von etwas Furchtbarem die Rede ist. Sokrates stellt ihm darauf die suggestive Frage, ob denn ein Mann bei Besinnung sein kann, der – obwohl er prächtig geschmückt ist, sich in festlicher Umgebung befindet und nur von wohlwollenden Menschen umringt wird – weint und sich verschreckt zeigt. Ion verneint: Ein solcher Mann kann wohl nicht bei Besinnung sein, er muß sich daher – so der schnelle Schluß des Sokrates – im Zustand des befinden.138 Wer nur wenige Zeilen weiterliest, erfährt jedoch, daß Ion – während er die Zeichen von Rührung oder Schrecken zur Schau stellt – sehr wohl in der Lage 135 Hierbei handelt es sich m. E. um einen verdeckten Sophismusvorwurf, da das als ein Indiz für sophistische Praktiken der Gesprächsführung verstanden werden kann. 136 Ion 536 d 4-6. – Daß Ion nach seinem eigenen Selbstverständnis weder Enthusiast ist noch Enthusiast sein möchte, hat Heinz Schlaffer gut herausgestellt: „Dieses von Sokrates eingeräumte Privileg, aus Inspiration und Wahnsinn zu sprechen, scheint Ion bedenklich genug. Ihm wäre wohler, wenn er seine Talente als Teil der allgemeinen Vernunft ansehen dürfte.“ (Schlaffer 1982, S. 12) 137 Paul Friedländer etwa will an dem Rhapsoden zugleich sophistische und enthusiastische Züge beobachten und spricht in diesem Kontext von einer „Zwitternatur in Ion“ (Friedländer 3 1964 b, S. 119). Egil Wyller übernimmt Friedländers Begriff der „Zwitternatur“, um zu zeigen, daß Ion „in einer Person und in einer Techne zwei getrennte Fachgebiete – das sophistisch-technische Dichterkommentieren und die dichterisch-gotterfüllte Aussagekunst“ vereinigt (1958, S. 34). Dagegen ist m. E. einzuwenden, daß Sokrates den vernunftberaubten sicherlich nicht als Teil einer argumentativ ausweisbaren begreifen würde (vgl. unten insbes. Kap. 2.3.1). Auch ist Wyllers scharfe Trennung zwischen der enthusiastischen Rezitation und der sophistischen Interpretation im Text so nicht aufzufinden: Ions Tätigkeit wird nicht in sich gegliedert, sondern erscheint als ganze in sophistischer Prägung. Gegen Ende seines Aufsatzes rechnet Wyller den Ion sogar ganz „unter die Dichter, zum summenden Bienenstock“ (S. 38) der Enthusiasten. 138 Ion 535 b 1 – d 5.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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ist, die Reaktionen der Zuschauer genau zu beobachten und an die zu erwartenden finanziellen Einnahmen zu denken.139 Während Sokrates den Verlust des eigenen Denkens, die Suspendierung des ausdrücklich als Vorbedingung jeder echten Form des konstatiert140 , läßt der ganz eigene Ions anscheinend Überlegungen psychologischer und ökonomischer Art nicht nur zu, er fordert sie gerade zum Gelingen des eigenen Geschäfts.141 Der pragmatisch ausgerichtete Ion weiß, wie wichtig es für einen Rhapsoden ist, auch bei dem unmittelbaren Aufführungsakt die Reaktionen der Zuschauer zu beachten und sofort für den weiteren Ablauf der Inszenierung zu berücksichtigen. Die beobachtende und berechnende Distanz zu den Zuschauern und zu dem im eigenen Spiel Dargestellten ist für Ion die unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche Auftritte in rhapsodischen Agonen. Es ist schon ein recht merkwürdiger : Ion verliert keinen Moment den Wettkampfcharakter seiner Vorführung aus den Augen. Daß „alles“, d. h. Profit und Ansehen, von der richtigen Wirkung auf die Zuschauer abhängen, bleibt ihm stets bewußt. Hat Ion während den Vorführungen Tränen in den Augen, so muß dies eben keineswegs bedeuten, daß er das Bewußtsein verloren hat und vom Gott ergriffen wurde. Nach Diderot fließen nur die Tränen des fühlenden Menschen und des schlechten Schauspielers aus dem Herzen (d’âme), die des guten Schauspielers aber aus dem Kopf (de réflexion).142 Im Sinne Diderots wäre Ion ohne jeden Zweifel ein guter Schauspieler.143
139 Ion 535 e 1-6. – Vgl. Pöhlmann 1976, S. 203. 140 Ion 534 b 3-7, 534 c 7 – d 4. 141 In seinem Vortrag über „Dichtung und Philosophie in Platons Ion“ (gehalten in Freiburg am 2.12.1998) hat Carl Werner Müller die Unterscheidung zwischen der und den bestimmten Einzel- in der Politeia (insbes. I 341 c 4-7) für den Nachweis fruchtbar gemacht, daß aus Ions Gelderwerbsfähigkeiten keineswegs eine eigene der Homer-Interpretation abzuleiten ist. Während ich mit Carl Werner Müller zwar einerseits darin übereinstimme, daß Ion kein Technit ist, muß ich andererseits doch bestreiten, daß Ion Enthusiast ist: Ion ist in meinen Augen ein sophistischer PseudoTechnit, der weder im Zustand des noch -gemäß agiert. 142 Vgl. Diderots Paradox über den Schauspieler (in der Ausgabe von Rellstab 1981 insbes. S. 20). 143 Vgl. auch in den Nomoi (VI 764 c 5 – 765 d 3) die Einsetzung verschiedener Preisrichter für die unterschiedlichen musischen Agone: Während bei gymnischen und hippischen Agonen ein- und dieselben Archonten urteilen dürfen, ist im Bereich der musischen Agone für jeden einzelnen Wettbewerb ein eigener Schiedsrichter einzusetzen. Wer die Kompetenz besitzt, über einen Rhapsodenvortrag gut zu urteilen, hat damit offenbar nicht die Kompetenz, einen guten von einem weniger guten Kitharoden zu unterscheiden – und umgekehrt.
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2. Die Theorie der Interpretation
Die äußeren Anzeichen von Emotion, von „innerer Bewegung“, rühren genau nicht daher, daß Ion in der Tat von authentischen Gefühlen oder gar von einer göttlichen Kraft ergriffen wird. Ions Tränen zeigen lediglich, daß der Rhapsode nicht allein mit seinen Worten, sondern mit der Ausdruckskraft seiner ganzen Person auf die Zuschauer zu wirken vermag. Jede eigene innere Bewegung oder „Ergriffenheit“ schließt die Routine, die Ions rhapsodische Praxis ausmacht, gerade aus. So paradox es klingt: Je weniger Ion Enthusiast ist, desto besser gelingt ihm sein enthusiasmierendes Geschäft. Ion ist zu sehr ein Schauspieler Diderotscher Manier, als daß er sich während den erfolgsund erwerbsorientierten Wettkämpfen in einer „echten“ Freude oder in einer „echten“ Furcht befinden könnte. Seine Leistung, der er seine Erfolge in der Öffentlichkeit verdankt, liegt in der bewußten und „nüchternen“ Inszenierung des Vortrags. Daher erscheint auch die Korrespondenz, die Sokrates zwischen dem enthusiastischen Zustand des Rhapsoden und dem enthusiastischen Zustand des Zuschauers ansetzt144 , in einem anderen Licht: Zwar ist es denkbar, daß sich der eines Rhapsoden auf das Publikum überträgt, nur muß es sich dann auch um einen enthusiastischen Rhapsoden handeln. In Bezug auf den kühl kalkulierenden Ion können die Worte des Sokrates dagegen nur ironisch zu verstehen sein. Daß Ions Homer-Vorträge schauspielhaften Charakter haben, betont Sokrates explizit, wenn er Ion mit „ihr Rhapsoden und Schauspieler“ anredet.145 Im Ion deutet Sokrates den konventionellen Rhapsoden durchgehend als Schauspieler und noch im zweiten Buch der Politeia nennt er Rhapsoden, Schauspieler und Tänzer in einem Atemzug (II 373 b 7), doch im dritten Buch der Politeia (395 a 1 – b 1), das sehr viel stärker als der Ion zwischen verschiedenen Arten und Bereichen der Darstellung ( ) differenziert, unterscheidet Sokrates den Schauspieler vom Rhapsoden, da beide eben so wenig dieselbe Art der praktizieren wie Tragödien- und Komödiendichter. Daß sich damit unter der Hand auch der Begriff der grundlegend ändert, wird später noch genauer ausgeführt.146 Da Ion den Zuschauer immer dann am besten zum Enthusiasten werden läßt, wenn er selbst ganz „un-enthusiastisch“ bleibt, ist sein Geschäft von einem krassen Mißverhältnis zwischen der eigenen Stimmung und der Stim-
144 Ion 535 d 8 f. 145 Ion 532 d 7:
146 Vgl. unten Fn. 185 auf S. 113.
. Vgl. auch 535 e 9 – 536 a 1:
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
101
mung der Zuschauer geprägt.147 Der Rhapsode versetzt sein Publikum in einen Zustand, in dem er selbst eben nicht ist. Auf dieses grundsätzliche, für seinen Erfolg strukturnotwendige Mißverhältnis weist Ion übrigens auch mit seinen eigenen Worten hin: Falls die Zuschauer weinen, ist dem Rhapsoden zum Lachen, weil er kräftige Einnahmen erhoffen darf. Kommen dagegen die Zuschauer ins Lachen, so ist es an dem Rhapsoden zu weinen: seine Kasse wird heute wohl leer bleiben.148 Demgegenüber geht Aristoteles in seiner Rhetorik davon aus, daß wie im Falle enthusiastischer Dichter auch zwischen einem enthusiastischen Redner und seinem enthusiasmierten Publikum eine Art sympathetisches Entsprechungsverhältnis bestehe, das dem Redner sonst unangebrachte stilistische Eigenheiten erlaube.149 Die größte Wirkung entfalten nach Aristoteles gerade nicht die Schauspieler, die selbst bei klarem Kopf bleiben und gezielt auf ihr Publikum Einfluß nehmen. „Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen (sc. Schauspieler), die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am besten dar. Daher ist die Dichtkunst Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen; die einen sind wandlungsfähig, die anderen stark erregbar.“150 Die enthusiasmierende und illusionserzeugende Kraft von Ions rhapsodischer Praxis erfährt durch Sokrates, wie später genauer darzulegen ist, eine vernichtende Kritik, da sie nicht nur selbst als ein verantwortungsloses Geschäft aufzufassen ist, sondern zudem die Menschen, auf die sie einwirkt, 147 Vgl. Diderot (in der dt. Übers. von Felix Rellstab in Rellstab 1981, S. 20): „Der Schauspieler ist müde, aber Sie (sc. der Zuschauer) sind traurig. Das kommt daher, daß er sich angestrengt hat, ohne irgend etwas zu fühlen, und Sie gefühlt haben, ohne sich anzustrengen. Wenn es anders wäre, wären die Berufsbedingungen des Schauspielers die allererbärmlichsten. Aber er ist nicht die Figur, er spielt sie, und er spielt sie so gut, daß Sie ihn dafür halten. Nur Sie haben die Illusion. Er weiß, daß er die Figur nicht ist.“ Dagegen geht Eisenberger (1993, S. 85) davon aus, daß „Ion, wenn er Homer rezitiert, (...) von seinem Text – wie ein guter Schauspieler von seiner Rolle – durchdrungen ist und die wechselnden Emotionen, die der Dichter im Rezipienten erzeugen und die Ion in seinem Publikum hervorrufen will, zuerst ganz stark in sich selbst erfährt.“ 148 Ion 535 e 4-6. 149 Vgl. Rhet. III 7 1408 b 11-20: „Double words and frequent epithets and especially unfamiliar words suit one speaking passionately; for it is excusable that an angry person calls a wrong ‚heaven-high‘or ‚monstrous‘. And [this can be done] when a speaker holds the audience in his control and causes them to be stirred either by praise or blame or hate or love (...). Those who are empassioned mouth such utterances, and audiences clearly accept them because they are in a similar mood. That is why [this emotional style] is suited to poetry, too, for poetry is inspired. It should be used as described – or in mockery, as Gorgias did and as in the Phaedrus.“ (Übers. von Kennedy 1991, S. 236 f.) 150 Poetik 1455 a 30-34.
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2. Die Theorie der Interpretation
ihrer Vernunft beraubt und zu ebenso verantwortungslosen Gesellen werden läßt. Demgegenüber könnte sich Ion allerdings auf die durchaus brauchbaren poetologischen Überlegungen des Gorgias berufen, die den Illusionseffekt ( ) von musischen Darbietungen wie Rhapsodenvorführung, Tragödie usw. nicht zu verdammen, sondern zu würdigen versuchen:151 In voller Blüte jedoch stand die Tragödie (in Athen) und war in aller Munde; sie geriet zum wunderbaren Hör- und Schauspiel für die Menschen damals und bot durch ihre Mythen und Leidenschaften eine Täuschung, bei der, wie Gorgias sagt, derjenige, der täuscht, mehr Recht hat als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits mehr versteht als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr Recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: denn schön läßt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.152 151 Eine frühe Kritik an den Schauspielern, die etwas anderes reden als sie denken und etwas anderes sind als sie zu sein scheinen, findet sich in der ca. 400 v. Chr. entstandenen hippokratischen Schrift Über die Regelung der Lebensweise:
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in der Edition von Joly 1984, S. 142 Z. 1-5) („Die Kunst des Schauspielers betrügt uns mit unserem Wissen; sie reden anders als sie denken. Dieselben und doch nicht dieselben gehen auf der Bühne ein und aus; ein und derselbe Mensch darf dieses sagen und jenes tun, demselben ist es möglich, nicht derselbe zu sein, und einmal diese und dann wieder jene Meinung zu haben. So haben alle Betätigungen Verwandtschaft mit der menschlichen Natur.“ Nach der Übersetzung von Hans Diller, in Diller 1994, S. 293) – Es ist im übrigen nicht ohne Reiz, daß Gorgias’ Begriff der künstlerisch erzeugten Illusion (#5$,) auch zur Beschreibung der Gesprächshandlungen, wie sie in den platonischen Dialogen inszeniert werden, sehr viel besser geeignet ist als der aufgrund „ontologischer Vorbelastung“ viel zu eng geführte ' ',-Begriff der Politeia. 152 Gorgias, Fragment 23: 6$, 7 8 & 9:$, $'* #'
$' ; 7 #$%/ ', < ) '3$ ) 5$ #5, = > , ? @ 7 #$: < ' #: A #,$ % < ' #,$! A '( B #$: @ <$7 ' , A 7 #,$ % 5/ B 7 8C / * ' # $,! (Zitiert nach der Ausgabe von Buchheim 1989, S. 92 f.) – Zum Begriff der #5$, bei Gorgias vgl. Buchheim 1989, S. XIX: „DE5$, meint nämlich nicht die Verstellung einer im Hintergrund bleibenden Wahrheit durch unrichtige Vermittlung, sondern #5$, ›bringt ab
vom bisherigen Weg‹ und entführt in eine dem Kunstinteresse gemäß gestaltete Welt.“ „Der Zusammenhang hier (sc. in Fragment 23) gibt einen Hinweis auf Bedeutung und Bewertung des Wortes #5$, bei Gorgias. Gemeint ist Illusion, Vorspiegelung; es handelt sich um Entführung in eine in ihren jeweiligen Zügen ausgeprägtere und deshalb deutlichere Welt (wie die des Theaters eben ist), nicht aber um eine Verstellung der >wahren< Welt. In der Tat trifft ›Entführung‹ dabei den Wortsinn genau: #F5/ heißt eigentlich ›vom Wege abbringen‹, ›abirren lassen‹. Auch sonst, vor allem in der Helena
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
103
Auf diesen Gedanken des Gorgias aufbauend wäre es Ion wohl möglich, eine rezeptionstheoretisch begründete Rechtfertigung seines eigenen Geschäfts anzustrengen, doch ist bezeichnend, daß Platon Ion – trotz der naheliegenden Möglichkeit – den Begriff der nicht zur Klärung und Verteidigung des eigenen Geschäfts heranführen läßt. Ähnliches gilt für den Begriff des Angemessenen ( ), dem im Rahmen der poetologischen, rhetorischen und ethischen Überlegungen153 des Gorgias und in der Rhetorik des Sophisten Prodikos154 gleichfalls eine große Rolle zukommt: Platon gestattet es Ion zwar, diesen Begriff ins Spiel bringen155 , doch eine sinnvolle Verteidigung gegen die mitunter eher plumpen Angriffe des Sokrates läßt er ihn auf der Basis dieses Begriffs nicht mehr führen.156 (Fragm. 11), ist dieser Sinn herrschend: Die Rede hat die Macht, jemanden abzubringen von ... und hinzuwenden zu ...; damit gerät auch in die Nähe zu dem, was heißt.“ (Buchheim 1989, S. 198) 153 Vgl. etwa Gorgias, Fragment 6. 154 Prodikos hat – nach Aussage des platonischen Sokrates – behauptet, als einziger herausgefunden zu haben, „auf welche Reden es ankomme: gefragt seien weder lange noch kurze, sondern angemessene.“ (Phdr. 267 b 3-5: (...)
! " #$ ! % & ' & ( #" ) *"+, Im Kratylos (384 b 2 – c 2) bezeichnet sich Sokrates scherzhaft als
Schüler des Prodikos, doch kann diese Bemerkung in einer Hinsicht durchaus ernst genommen werden: Zwar blockt Sokrates im Ion den Versuch des Rhapsoden, eine eigene poetische Kompetenz mit Hilfe des -Begriffs gegen seine Angriffe zu verteidigen, recht rüde und mit bösem Spott ab (vgl. insbes. Ion 540 b 3 – e 3), doch in seinem Idealentwurf der Rhetorik im Phaidros wird Sokrates Prodikos’ und Gorgias’ Kategorie des Angemessenen ( / ) aufnehmen und weiter ausdifferenzieren, indem er das Rezipientenangemessene begrifflich vom Sachangemessenen unterscheidet und vom idealen Rhetor fordert, beides zugleich zu leisten. Auch im Rahmen der eigenen kunsttheoretischen Überlegungen des Sokrates wird dem -Begriff schließlich eine wichtige Rolle zugedacht (vgl. Gorg. 503 d 6 – 504 a 4), und die sog. Schriftkritik im Phaidros steht unter der leitenden Frage, den angemessenen und den nicht angemessenen Umgang mit der medialen Schriftlichkeit herauszukristallieren, es geht um die bzw. - (vgl. Phdr. 274 b 6 f.). Zum Begriff des vgl. auch Pöhlmann 1976, S. 197-201 und S. 208, Flashar 1958, S. 63 f., Eisenberger 1993, S. 95 sowie Schadewaldt 1973, S. 23. 155 Vgl. Ion 540 b 3-5. 156 Zu einer möglichen Verteidigungsstrategie, die durch den Begriff des eine eigene poetische Kompetenz herausstellen könnte, vgl. die folgende Bemerkung Goethes: „Hätte Jon nur einen Schimmer Kenntniß der Poesie gehabt, so würde er auf die alberne Frage des Sokrates: wer den Homer, wenn er von Wagenlenken spricht besser verstehe, der Wagenführer oder der Rhapsode? keck geantwortet haben: gewiß der Rhapsode: denn der Wagenlenker weiß nur, ob Homer richtig spricht; der einsichtsvolle Rhapsode weiß, ob er gehörig spricht, ob er als Dichter, nicht als Beschreiber eines Wettlaufs seine Pflicht erfüllt.“ („Hamburger Ausgabe“ Bd. 12 10 1982, S. 247) Vgl. auch Mehmel 1954, S. 20 (vgl. auch S. 37): „Pindar regt sich nicht weiter auf über die ‚Unwahrheiten‘, ‚Lügen‘ Homers: denn das ‚Göttliche‘, ‚Bleibende‘, ‚Ewige‘ liegt nicht im Was, im Inhalt,
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Daß Ion ein Schauspieler ist, der mit berechnenden Mitteln sein Publikum in die zu versetzen versteht, und damit eben keineswegs einen Enthusiasten verkörpert, bleibt dem platonischen Sokrates natürlich nicht verborgen. Es zeugt von seinem Spott und seiner Ironie, daß er ausgerechnet einen so distanziert taktierenden und raffiniert manipulierenden Rhapsoden wie Ion durch seine Gesprächskunst dazu verführt, sich als Enthusiasten auszugeben. Anscheinend kann Sokrates – entgegen der Erwartung Ions – doch „so gut reden“ ( ),157 daß er den Ion davon überzeugt, er lobe den Homer
.158 Allerdings bleibt fraglich, ob Ion von Sokrates wirklich davon überzeugt wird, ein enthusiastischer Rhapsode zu sein. Es ist wohl eher so, daß Sokrates den Ion schlicht überredet, ihn überwindet: in dem Sinn, daß Ion durch jedes weitere Widersprechen in noch größere Unannehmlichkeiten geraten muß. Wenn Ion am Ende des Gesprächs159 schließlich dem Drängen des Sokrates nachgibt und einräumt, ein „göttlicher Mann“ ( ) zu sein, der durch eine göttliche Gabe ( ) in die Lage versetzt wird, gut über Homer zu reden, und besessen ( ) ist, dann darf nicht übersehen werden, daß diese Selbstcharakterisierung eine ganz und gar erzwungene ist. Sokrates stellt Ion vor die Alternative, entweder als „ungerechter Mann“ ( ) zu gelten, der für sein Geschäft illegitimerweise den Rang einer behauptet, oder eben als ein „göttlicher Mann“ ( ), der von dem Gott als Werkzeug in Gebrauch genommen ist. In seiner Eitelkeit greift Ion nach dem Notanker der „Göttlichkeit“, obwohl er seinem Auftreten und auch seinem Selbstverständnis nach nichts weniger als ein Enthusiast ist. Auf die Konzeption des enthusiastischen Rhapsoden, wie Sokrates sie im Gespräch skizziert, wird im folgenden Kapitel ausführlich eingegangen. Dann sondern im Wie – im ‚Schön-sagen‘ (Singen), in den ‚göttlichen Versen‘, im ‚FeierlichHeiligen‘, das auf den ‚Lügen‘ ruht – d. h. nicht im Inhalt sondern in der Form.“ – Eine implizite Kritik an den Argumenten, mit denen Sokrates Ion zusetzt, findet sich bereits in der Poetik (1460 b 13-32), wo Aristoteles eine kurze Reflexion über verschiedene Arten von vorstellt und auf den Unterschied aufmerksam macht, der zwischen der Richtigkeit ( ) im Bereich der und der im Bereich etwa der besteht. 157 Der Sophismusvorwurf, der im angedeutet ist, besteht m. E. zurecht. Sokrates „verhilft“ dem Ion zu einem Selbstverständnis, das in keiner Weise sachlich gegründet ist. Ion ist „Empeirist“ und kein Enthusiast (vgl. Flashar 1958, S. 70). 158 Vgl. Ion 536 d 4-6: ! " # $% & '% ( )" * +, ) -. – Der griechische Begriff der hat ein breites Bedeutungsspektrum. Was im Deutschen in „Überredung“ und „Überzeugung“ geschieden ist, kann im Griechischen gleichermaßen als bezeichnet werden. 159 Ion 542 a 2 – b 4.
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wird auch klar, daß Ions Wahl, nun doch lieber als ein „göttlicher Mann“ zu gelten, nicht gerade glücklich ist. Die Alternative zwischen dem „ungerechten“ und dem „göttlichen Mann“ ist ein klassisches Dilemma, da beide Möglichkeiten, so unterschiedlich sie sein mögen, dem philosophisch-kritischen Blick des Sokrates nicht genügen. Ion verfällt auch hier seiner Vorliebe für äußeren Schmuck: Da es bedeutend besser klingt, ein „göttlicher Mann“ zu sein, entscheidet sich Ion für diesen Titel – ohne zu bemerken, daß ein „göttlicher Mann“ in den Augen des Sokrates keine eigene Kompetenz besitzt und philosophisch diskreditiert wird. Daß sich Ion nur dann als Enthusiast bezeichnet, wenn er von dem des Sokrates dazu verleitet wird, erhellt nicht nur den Charakter dieses Rhapsoden, sondern wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Eigenheiten sokratischer Gesprächskunst. Im hilft Sokrates dem Ion zwar einerseits, sein falsches Selbstverständnis aufzugeben: Ion ist, wie er zu Recht eingestehen muß und wie der zeigt, kein Technit. Andererseits trifft das alternative Selbstverständnis, das Sokrates Ion ja nicht nur anbietet, sondern geradezu aufzwingt, keineswegs den Charakter dieses Rhapsoden: Ion ist auch kein Enthusiast. Verstünde sich Ion so, wie Sokrates es ihm recht gewaltsam nahelegt, dann verstünde er sich zwar anders als zu Beginn des Gesprächs, jedoch ebenso falsch.160 Die sokratische Gesprächstaktik, wie sie Platon literarisch inszeniert, gestattet es zwar den Rezipienten platonischer Dialoge, die Gesprächspartner des Sokrates zu durchschauen und damit das, wofür diese fiktiven Personen stellvertretend stehen, in seinem Wert oder Unwert zu erkennen. Problematisch erscheint diese Gesprächstaktik aber dann, wenn man sie allein im Rahmen des fiktionalen Zusammenhangs, d. h. ohne Bezugnahme auf die Rezipienten der literarischen Werke, zu erklären und zu rechtfertigen versucht: Das des Sokrates, das im Ion sichtbar wird, führt eben keineswegs zu der in der philosophischen Gesprächskonzeption geforderten „Selbsterkenntnis“ des Gesprächspartners. Ja noch schlimmer: Man gewinnt den Eindruck, daß es Sokrates auf eine „Besserung“ des Gesprächspartners
160 Gegen meine Deutung steht die Interpretation von Skiadas 1971, der Ion nicht nur ein „Wissen vom eigenen Nichtwissen“ (S. 82) bescheinigt. Im „sokratischen Elenchos (...), der die Form der Belehrung zeigt,“ werde Ion schließlich von Sokrates auch über seinen enthusiastischen Charakter unterrichtet. Vgl. Eisenberger 1993, der zwar die m. E. unzutreffende These vertritt, Sokrates habe Ion zu neuer Einsicht verholfen (S. 75), dafür aber den Tatbestand, daß Ion in der Sicht des Sokrates weder Technit noch Enthusiast ist, ebenso gut herausarbeitet (S. 89, S. 97 f.) wie den Widerstand, den Ion gegen Sokrates’ Zuschreibung leistet, er rede nur im Zustand des gut über Homer (S. 90).
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auch gar nicht abgesehen hat.161 Was gewinnt denn Ion – dialogintern – durch sein Gespräch mit Sokrates? Um das des Sokrates verstehen und gegebenenfalls begrüßen zu können, ist es m. E. unumgänglich, rezeptionstheoretische Überlegungen mit ins Spiel zu bringen. Die sokratische Ironie entlarvt zwar den Charakter des Ion, dies jedoch nicht so, daß Ion selbst davon profitieren und zu einem besseren Selbstverständnis gelangen könnte. Platon gestaltet literarisch ein Gespräch, das einem der Gesprächspartner keinerlei Nutzen bringt, für den Leser des Dialogs aber sehr erhellend sein kann. Wenn Goethe das Ziel des Dialogs nur in der Beschämung des armen Ion sieht, ist er nicht ganz im Unrecht. „Wäre der Ion die Nachschrift eines wirklichen Gesprächs, so wäre schnell Einigkeit darüber erzielt, daß hier ein Künstler der Argumentation auf den Beifall der Zuhörer zielt, indem er seinen Gesprächspartner der Lächerlichkeit preisgibt.“162 Doch Goethes Urteil über den Ion reicht weiter: „So wenig der Maske des Sokrates Ernst ist, den Jon zu bekehren, so wenig ist es des Verfassers Absicht, den Leser zu belehren.“163 Nur dem ersten Teil der Behauptung ist zuzustimmen: Im fiktionalen Kontext des Gesprächs will Sokrates den Ion in der Tat nicht „bekehren“. Doch welche Gründe hat Goethe, auch dem Verfasser Platon jede den Leser belehrende Absicht abzustreiten? Platons Wille, den Leser zu einer tieferen Einsicht – etwa in den Charakter sophistischer Dichterauslegung oder in die philosophische Kritik am – zu führen, ist doch nicht an Sokrates’ Willen, den Gesprächspartner aufzuklären, geknüpft. Gerade durch das Scheitern des fiktiven Gesprächs kann der Autor die Aufmerksamkeit des Leser ausrichten auf 161 So urteilt Ernst Heitsch, der auch in der Deutung anderer Dialoge die eristischen Züge der sokratischen Gesprächspraxis nicht verschweigt, über den Ion: „Die rhetorische Kompetenz, die der Autor seinem Sokrates hier verleiht, dient einzig dazu, den Partner immer neu mattzusetzen, nicht aber dient sie der Gewinnung von Erkenntnis.“ (Heitsch 1992 c, S. 99) Vgl. dagegen die offensichtliche Apologie Gadamers, für den Sokrates’ „Fangschlüsse (...) lediglich Versuche <sind>, den Weg der Widerlegung abzukürzen, der sich auch in strenger Weise durchführen ließe“ (Gadamer 1968, S. 45). Wie wenig Gadamer hier den fiktiven Charakter der von Platon inszenierten Gespräche berücksichtigt, zeigt seine Bemerkung, „<j>edes lebendige sachliche Gespräch <sei> – auch heute – voll von dieser Ungeduld der Unlogik.“ (Gadamer 1968, S. 46) Zu wohlwollend über die Gesprächskunst des Sokrates äußert sich m. E. auch Wieland 1982, S. 78: „Denn Sokrates kommt es in seinen widerlegenden Reden gar nicht darauf an, die Runde eines Diskussionsspiels zu gewinnen. Das ist eher ein Nebenergebnis. Die Widerlegung des Partners ist kein Selbstzweck. Denn der Partner soll bei dieser Gelegenheit eine Erfahrung über sich selbst und über den Gewißheitsgrad seines vermeintlichen Wissens machen.“ 162 Heitsch 1992 c, S. 89. 163 „Hamburger Ausgabe“ Bd. 12 10 1982, S. 246.
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die Gründe dieses Scheiterns, auf die Vorbedingungen eines philosophischen Gesprächs usf. Kurz: Zwischen einer gelingenden Kommunikation innerhalb des fiktiven Gesprächs und einer gelingenden Kommunikation zwischen Autor und Leser besteht keinerlei Ableitungsverhältnis. Darum ist gegen Goethe daran festzuhalten, daß die Unterredung zwischen Sokrates und Ion sehr wohl über einen philosophischen Sinn verfügt, obgleich es diesen erst durch seine literarische Inszenierung gewinnt. Indem Platon die Mündlichkeit sokratischer Gespräche in der Schriftlichkeit seiner Dialoge literarisch gestaltet, werden die Aussagen des Sokrates mehrfach adressiert: Was Sokrates sagt, ist nie allein zu Ion gesagt, der ihn ohnehin kaum verstehen kann, sondern immer auch zu dem Leser des Dialogs, der den Worten des Sokrates einen anderen Sinn zu geben vermag als Ion. Ion ist kein enthusiastischer Rhapsode, sondern ein durch und durch sophistischer Pseudo-Technit.164 Schon ganz zu Beginn des Dialogs macht Platon
164 Hans Diller übersieht die sophistische Natur Ions, da er von einem zu engen Begriff des Rhapsoden ausgeht und allein den Rezitator homerischer Epen angesprochen sieht. Während sonst weitgehend Einigkeit darüber besteht, daß Ion Rezitator und Interpret ist (vgl. etwa Wyller 1958, S. 28, Müller 1967, S. 89-106, Heitsch 1992 c, S. 88 und Schlaffer 1990, S. 11; anders Eisenberger 1993, S. 73-75), kommt Diller zu dem recht merkwürdigen Befund, daß sich der Rhapsode Ion hinsichtlich seiner rhapsodischen Kompetenz mit Rhapsoden vergleicht, die in Dillers Augen gar keine sind (1971, S. 206). Auf die Frage, warum im Ion nicht ein Sophist, sondern ein Rhapsode als Gesprächspartner gewählt wurde, macht Diller interessanterweise zwar noch selbst aufmerksam (S. 207), ohne dann jedoch in dem Rhapsoden Ion den Sophisten erkennen zu können. Gegen Diller betont Hellmut Flashar (1958, S. 26) zu Recht, daß sich – gerade auch in der Person Ions – Sophist und Rhapsode „nahekommen“: „die Sophisten beschäftigen sich mit der Dichtererklärung, die Rhapsoden bedienen sich der sophistischen Auslegung.“ Flashars Position schließt sich Pöhlmann (1976, S. 201) an: „Vielmehr scheint sich Platon vermittels der Figur des Ion mit sophistischer Homerinterpretation (...) auseinanderzusetzen.“ Mit Ion will Platon eine Person auf die Bühne bringen, die exemplarisch nicht nur für den Spezialfall der Rezitation, sondern für Dichterauslegung allgemein steht. Es ist festzustellen, daß der Begriff „Rhapsode“ dadurch zwar einen erstaunlich weiten Umfang gewinnt, doch hat Harald Patzer in seiner etymologischen Untersuchung nachgewiesen, daß mit der Tätigkeit des alles andere als ein bloßes Rezitieren angesprochen ist. Vgl. Patzer 1952, S. 319: Der „ ist der ‚Lieder-Ersinner‘, der sich auf seine Kunst versteht. zielt also gerade nicht auf den minderen Flickpoeten oder Verknüpfer, sondern auf den schöpferischen Dichter. Die Rhapsoden selbst also, nicht ihr Publikum nannten sich so, im Handwerkerstolz mit einer übertragenen Handwerksbezeichnung ( ) (...).“ und S. 321: „Der ist also nicht nur der , sondern zugleich der , der in der Weise des ‚singt‘ (‚singen‘ dabei in der bekannten weiteren Auffassung der Griechen verstanden, die auch rezitativen Vortrag einschließt, und zugleich in der frühen Zeit auch = ‚dichten‘.“ Zum Verhältnis von homerischem Sänger und Rhapsode (im engen Sinn des Begriffs) vgl. auch Flashar 1958, S. 22 f., Latacz 2 1989, S. 88 und Barmeyer 1968, S. 69-90.
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mit Hilfe indirekter literarischer Mitteilung auf die sophistischen Züge dieses Rhapsoden aufmerksam.165 Ion kommt gerade von dem Asklepiosfest in Epidauros, wo er den Sieg im Rhapsodenagon erringen konnte. In Athen hält er sich nur kurz auf, um an dem Wettkampf auf dem großen Panathenäenfest teilzunehmen: Ion der Weltreisende.166 Demgegenüber Sokrates, der Athen nur verläßt, um gegen die Feinde seiner Polis in den Krieg zu ziehen oder um philosophische Gespräche unter Platanen zu führen.167 Weltreisen: das ist nicht die Sache des Sokrates, sondern die Sache der Sophisten. Gorgias, Protagoras, Hippias usw., fast alle Sophisten, die in den platonischen Dialogen vorgeführt werden, haben in Athen nur einen Gastauftritt. Immer sind sie bereits auf dem Sprung in die nächste Polis, wo sie ihre „Weisheit“ für Geld an den Mann bringen.168 Damit sind wir auch schon bei dem zweiten Punkt, der Ion mit den Sophisten verbindet: Ion nimmt Geld für seinen Homervortrag und ist in seinem Geschäft orientiert an dem Geschmack der großen Menge. Daß Ion während seinen rhapsodischen Vorführungen wach genug ist, sein Publikum scharf im Auge zu behalten und an den Reaktionen der Zuschauer den Gewinn abzulesen, den ihm seine „Kunst“ dieses Mal wieder einbringen wird, zeigt eben nicht nur deutlich, wie wenig er Enthusiast, sondern auch, wie sehr er profitsuchender Sophist ist. Ion inszeniert öffentliche Homer-Vorträge, gleichsam „Ein-Mann-Stücke“, die ihm Geld und Ansehen einbringen. Sein Handeln ist daher – mit einem Wort – erfolgsorientiertes Schauspiel. Ob Ions Vorführungen Gefallen finden oder nicht, hängt ab von dem Urteil der „Vielen“, der . Sokrates betont nachdrücklich die numerische Größe von Ions Publikum:169 Der Rhapsode tritt vor mehr als 20.000 Menschen auf, er 165 Ion 530 a 1 – b 4. 166 Das Wanderleben teilt der Rhapsode mit dem Schauspieler (vgl. Blume 3 1991, insbes. S. 80) und dem Dichter, die nach Platon weitere Erscheinungsformen des Sophisten darstellen. Vgl. Dalfen 1974, S. 15: „Der wandernde Dichter war eine häufige Erscheinung des geistigen Lebens Griechenlands, ebenso wie die Verbindung der Dichtung mit der Politik.“ Der Berufsstand der Rhapsoden wird von Latacz 2 1989, S. 39 treffend beschrieben: „Vortragskünstler, vergleichbar unseren Konzertsängern, die damals wie heute ›auf Tournee‹ gingen (...)“ 167 Vgl. insbes. Cri. 52 b 1 – c 3, Phdr. 227 a 1 – 230 e 5. 168 Vgl. Flashar 1958, S. 18: „Oft wird gerade das sophistische Wesen des Gesprächspartners durch die Unstetigkeit des Auftretens charakterisiert.“ 169 Ion 535 d 1-9. – Sokrates’ Entwurf einer idealen Rhapsodenkunst erfolgt also vor dem Hintergrund der (zeitgenössischen) institutionellen Präsentations- und Rezeptionsbedingungen von Dichterauslegung, die durch die Figur des Ion deutlich hervorgehoben werden. Dabei fällt auf, daß die herrschenden Interpretationspraktiken sowohl in ihren produktions- wie in ihren rezeptionsästhetischen Aspekten fast durchweg negativ konnotiert sind. Vgl. auch Sokrates’ Kritik an dem Publikum musischer Agone in der Politeia (vgl. insbes. Rep. V 475 d 1 – e 2, VI 492 b – c) und in den Nomoi, wo die (so-
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wirkt auf die große Menge ( ). Wer sich in musischen Agonen auszeichnen will, hat sich nach dem Geschmack der zu richten.170 Dies betrifft nicht allein die Rhapsoden: Im Symposion läßt Platon keinen Zweifel daran, daß auch ein siegreicher Tragödiendichter wie Agathon dem Urteil der unterworfen ist. Schon die literarische Inszenierung der Gesprächszeit ist in diesem Kontext aussagekräftig: Sokrates selbst meidet die große Menge und bleibt deshalb der offiziellen Siegesfeier des Tragikers
phistisch geprägten) Dichter schließlich selbst für den Zustand ihrer Rezipienten verantwortlich gemacht werden. Denn die Dichter, die „zwar von Natur dichterisch begabt waren, aber vom Recht und Gesetz der Muse nichts verstanden“ und „in bakchantischem Taumel und über Gebühr von der Lust beherrscht“ waren, haben für eine Stilvermischung mit verheerenden Folgen gesorgt und die Lüge verbreitet, „daß die Musik nicht die geringste Richtigkeit in sich habe, sondern am richtigsten nach der Lust dessen, der sich daran freut, beurteilt werde, mag dies nun ein besserer oder ein schlechterer Mensch sein. Indem sie nun solche Werke schufen und entsprechende Ansichten dazu äußerten, flößten sie den meisten Menschen eine Gesetzesverachtung gegenüber der Musik und eine Dreistigkeit ein, als ob sie darüber zu urteilen fähig wären. Infolgedessen wurden aus stummen Theatern lärmende, als verständen sie, was in der Musenkunst schön sei und was nicht, und statt einer Herrschaft der Besten entstand in ihr eine üble Herrschaft des Publikums.“ (Legg. III 700 d 3 – 701 a 3) (nach der dt. Übers. von Klaus Schöpsdau, in Schöpsdau 1994) 170 Zu der Siegerermittlung in musischen Agonen vgl. Dalfen 1974, S. 268: „Das Urteil lag zwar nominell bei einem Richterkollegium, die Entscheidungen wurden aber offensichtlich in hohem Maß durch die Reaktionen des Publikums, seinen Beifall bzw. seine Mißfallenskundgebungen, beeinflußt. (...) Dichtungsvortrag und Theateraufführung waren aber Teile des öffentlichen und staatlichen Lebens. Das Urteil, das über eine Dichtung gefällt wurde, hatte keinen privaten, sondern öffentlich-politischen Charakter.“ Die Schiedsrichter stellten „kein Gremium von Sachverständigen“ (Blume 3 1991, S. 40) dar, es war ihnen „unmöglich gemacht, sich über Geschmack und Fassungskraft der Mehrzahl hinwegzusetzen und sich allzu selbstherrlich zu deren Lehrmeister aufzuwerfen“ (S. 41, vgl. auch S. 58). Nicht nur bei der Siegerermittlung bei den Agonen, schon bei der Frage, welche Bewerber überhaupt an den Agonen teilnehmen dürfen, was die Menge der entscheidende Faktor: „Der Beifall des Publikums war ein zu eindeutiges Phänomen, als daß der Archon sich hätte darüber hinwegsetzen können. So darf man behaupten, daß neben künstlerisch-ästhetischen Kategorien bei der Auswahl (sc. der sich für die Aufführungen bewerbenden Dichter) auch politisch-weltanschauliche eine Rolle spielten; denn wo es nicht zuletzt von der Zustimmung einer Mehrheit und von staatlichen Instanzen abhängt, ob jemand als Dichter auftreten darf oder nicht, ist die Annahme, er könne sich von politischen Tendenzen und Auseinandersetzungen generell fernhalten, wohl zu verneinen.“ (Blume 3 1991, S. 31) Zu dem Thema „musische Agone“ vgl. auch Schadewaldt 1973, S. 16, Herington 1985, Latacz 1990, insbes. S. 240 und Kannicht 1989, insbes. S. 40 f. – Wegen des Orts der Austragung zählten die Rhapsodenagone – wie alle nicht-dramatischen Darbietungen und im Gegensatz zu den Wettkämpfen der Tragiker – nicht zu den , sondern zu den (vgl. Blume 3 1991, S. 73, Anm. 216). Zu den Agonen, wie sie nicht unter Dichtern, sondern unter Schauspielern ausgetragen wurden, vgl. Blume 3 1991, S. 79.
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fern.171 Das Symposion spielt daher erst am Tag nach dem großen Fest. Sokrates zieht es offenbar vor, mit Agathon in einem kleinen Kreis von Freunden zusammen zu sein. Als im Gespräch die Rede auf die Weisheit des Sokrates und die Weisheit Agathons kommt, gibt sich der Dialektiker bescheiden: Während seine eigene Weisheit doch nur etwas Schlechtes und Unsicheres, ja wie ein Traum sei, offenbare sich die Weisheit Agathons herrlich strahlend in der großen Öffentlichkeit: vor mehr als 30.000 Zeugen.172 Wieder nennt Sokrates – scheinbar voller Bewunderung – die große Zahl der Zuschauer. Daß die „Vielen“ einem Philosophen wie Sokrates schon allein deshalb verdächtig sind, weil sie die „Vielen“ sind (und damit nicht zu den Philosophen zählen, die ja prinzipiell als „selten“ gedacht werden), hat Ion in seinem Stolz auf das große Auditorium nicht bemerkt.173 Doch Agathon kennt Sokrates besser, er sieht den Spott, der in Sokrates’ Worten liegt: Als Schiedsrichter in Sachen Weisheit taugt nicht die große Menge; der Gott Dionysos selbst, so fordert der Tragiker, müsse hier das Urteil fällen!174 Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommt Sokrates noch ein zweites Mal auf das Publikum musischer Agone zu sprechen. Agathon habe Mannhaftigkeit ( ) und Hochgesinntheit (
) bewiesen, als er am Tag des Wettkampfs mit den Schauspielern die Bühne bestiegen und auf den großen Zuschauerraum hinuntergesehen habe. Da werde er sich doch jetzt nicht von einer so kleinen Zahl von Zuhörern in Verwirrung bringen lassen.175 Agathon ist kein Ion, in seiner Entgegnung entlarvt er erneut den spöttischen Unterton des Sokrates: Du glaubst doch nicht, die Bühne habe mir den Kopf so eingenommen, daß ich nicht wüßte, wie den Verständigen wenige Einsichtsvolle bänger machen als noch so viele Unwissende.176
171 Symp. 174 a 6 f.: 172 Vgl. Symp. 175 c 6 – e 6. 173 Anders als der platonische Sokrates hält Aristoteles die öffentliche Institution musischer Agone für einen brauchbaren Prüfstein, um gute „tragische“ Tragödien, d. h. mimetische Werke, deren Wirkung auf die Rezipienten dem spezifischen der Tragödie nahekommen, von schlechten Tragödien zu unterscheiden (Poetik 1453 a 28-31). Damit legt Aristoteles eine vergleichsweise große Wertschätzung des Publikums und der Preisrichter an den Tag, während er die Schauspieler und Rezitatoren ähnlich kritisch betrachtet wie der platonische Sokrates (vgl. unten Fn. 214 auf S. 121). 174 Vgl. Symp. 175 e 7-9. 175 Symp. 194 a 8 – b 5. 176 Symp. 194 b 6-8: ! "# $ %&'( ' ) * + (
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Während sich der begrenzte Horizont Ions gerade auch in seiner Haltung dem Publikum gegenüber manifestiert, betrachtet Agathon seine Anhänger sehr viel skeptischer, fast verächtlich. Ion ist eine Art „naiver Sophist“: Er schmeichelt der Menge und hat damit Erfolg.177 Über die schmeichlerische Abhängigkeit seines eigenen Treibens bleibt er jedoch ganz im Unklaren. Agathons Reflexionsleistung geht demgegenüber einen Schritt weiter: Er weiß, daß jeder Erfolg in musischen Agonen nur eines sein kann: Ausdruck und Resultat gelungener Schmeichelei.178 Und doch: Obwohl er Sokrates’ Diffamierung der kennt und ihr auch ausdrücklich zustimmt, meidet Agathon nicht wie Sokrates die Menge. Er sucht sie vielmehr, um eben die Menschen zu manipulieren, von denen er im Grunde genau so wenig hält wie der Philosoph. Agathon ist klüger als Ion und wird deshalb auch schuldiger: Ion weiß gar nicht so recht, wie sophistisch sein schmeichlerisches Handeln ist. Agathon weiß es und tut es trotzdem. Agathon schmeichelt der Menge nicht nur, er manipuliert sie – ganz bewußt. Wer genau hinsieht, wird in den betreffenden Passagen des Symposion Agathons Scham bemerken.179 Agathon fühlt sich von Sokrates durchschaut: Wer seinen Erfolg allein den verdankt und dabei weiß, was es mit der Urteilskraft der auf sich hat, kann vor dem scharfen Blick des Sokrates nur erröten. Durch ihr ambivalentes Verhältnis zu der Menge – Abhängigkeit und Manipulation180 – geraten Rhapsode und Tragödiendichter in die Nähe der Politi-
177 Vgl. Flashar 1958, S. 54. 178 Daß die Dichter dem Volk schmeicheln, kritisiert Sokrates auch in der Politeia: Wer sich die Menge zum Herren macht, sieht sich genötigt, all das zu loben, was die Vielen loben. Daß „aber dieses in Wahrheit gut und schön sei, hast Du schon jemals einen von ihnen hierüber Rechenschaft geben hören, die nicht ganz lächerlich gewesen wäre?“ (Rep. VI 493 d 7-9: !) (Die deutschen Zitate aus der Politeia stammen von F. Schleiermacher, in Eigler 1970-1983) – Je nach der herrschenden Verfassung im Staat ziehen es die Dichter auch vor, zu Lobrednern von Tyrannen zu werden (vgl. Rep. VIII 568 a 8 – d 2; zum Adel als intendiertem Adressatenkreis der homerischen Epen vgl. Latacz 2 1989, S. 43-73). Sie schmeicheln nun nicht mehr der Menge, sondern nur noch dem Einen, aber sie bleiben Schmeichler. Noch in den Nomoi werden die Dichter als die „Sprößlinge schmeichelnder Musen“ tituliert; vgl. Legg. VII 817 d 4: (...) " # $ % & (...). 179 Zur „Scham“ auch als Leitmotiv des Gorgias vgl. Kobusch 1978 und McKim 1988. 180 Die List ist bereits im Begriff des Rhapsoden angelegt. Vgl. Patzer 1952, S. 321: „Der belegte Übertragungsgebrauch von '( zeigt eine eigentümliche Festlegung des Verbums auf List, Intrige und Betrug. Offenbar ist hier nicht schlechthin ein kunstreiches Ersinnen gemeint, denn das hat auch andere Objekte, sondern ein der List und dem Betrug eigentümliches.“
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ker.181 Zwischen den Zuschauern der musischen Agone und den Teilnehmern politischer Versammlungen besteht kein nennenswerter Unterschied. Dieselben Männer, die in Athen das Recht haben, auf den Volksversammlungen ihre Stimme abzugeben, sind auch bei den offiziell ausgerichteten Festen und den musischen Agonen anzutreffen. Rhapsodentum, tragische Dichtung und Politik sind für Sokrates nur unterschiedliche Betätigungsfelder desselben sophistischen Geschäfts. Der Erfolg in der Politik hängt wie der Erfolg in den rhapsodischen und tragischen Wettkämpfen von der Gunst der großen Menge ab: Wer den Geschmack der erkennt und der Menge am besten schmeichelt, gewinnt.182 Sophistisch ist damit auch das Verhältnis des Ion zu den anderen Rhapsoden. Ion mißt sich mit seinen Kollegen in öffentlichen Wettkämpfen; auch im Gespräch mit Sokrates betont er immer wieder, daß er der beste Rhapsode sei, besser als alle, die jetzt leben und je gelebt haben.183 Der Kollege bedeutet dem Rhapsoden eben vor allem eines: Konkurrent. Ist der Rede-Agon, wie Thomas Buchheim formuliert, „die Spielwiese sophistischer Agitation, Basis ihres Dranges nach Einfluß und überhaupt der berufliche Ort des Sophisten“184 , so gilt Entsprechendes für den Rhapsoden, der sich zwar nicht 181 Vgl. auch Zimmermann 1998, S. 23: „Doch nicht nur die politische und philosophische Diskussion am Ende des 5. und am Beginn des 4. Jahrhunderts war durch die Sophistik bestimmt, auch Dichtung und Musik gerieten unter ihren Einfluß. (...) Die Kritiker der Sophisten wie Aristophanes und Platon weisen in aller Schärfe darauf hin, daß die Sophisten in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, eben auch in der Dichtung, die Normen ins Wanken brachten und daß man die Änderungen in Politik und Dichtung nicht getrennt voneinander betrachten dürfe, sondern sie als Ausdruck – je nach dem Blickwinkel, unter dem man sie betrachtet – entweder der geistig-moralischen Krise oder der intellektuellen Revolution jener Jahre ansehen müsse.“ 182 Nach der Auffassung Christian Stetters sehen sich die platonischen Dialoge – als philosophischer Gegenentwurf zur sophistischen Schmeichelkunst – mit dem Dilemma konfrontiert, die , die als ja am besten schmeichlerisch zu überreden sind, durch im Gespräch präsentierte Argumentation und das sich darin dokumentierende kommunikative Ethos überzeugen zu wollen. Platon befinde sich daher in der „argumentativen Not (...), in der sein Autor sich gegenüber einem Publikum befindet, das er als die ‚Vielen‘(polloi), als Masse abqualifiziert und zugleich doch gewinnen will bzw. vom Resultat seines Denkens her zu gewinnen versuchen muß (...)“ (Stetter 1997, S. 140) So aufschlußreich diese Feststellung für die Frage nach der Konkurrenz zwischen dem praktischen Wirkungsinteresse philosophischer und sophistischer Provenienz zunächst scheinen mag, so steht sie doch unter der m. E. leicht angreifbaren produktionsästhetischen Voraussetzung, daß sich Platon mit den Dialogen an ein Lesepublikum wende, das nach seinem eigenen literarischen Selbstverständnis aus eben den bestehe, die er durch seinen Sokrates diskreditieren lasse. 183 Ion 530 c 7 – d 3, 533 c 4-8. 184 Buchheim 1986, S. 12.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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in Vorträgen politischer oder juridischer Art, wohl aber in den öffentlich ausgerichteten musischen Agonen gegen seine Rivalen durchzusetzen hat – vor Schiedsrichtern, die wie das Auditorium politischer und juridischer Reden in den Augen des Sokrates eben nur zu den zu rechnen sind. Das agonale Denken, die daraus resultierende Sicht des Kollegen als Konkurrenten und das zur Schmeichelei nötigende Angewiesensein auf die Gunst der großen Menge erweist den Typ des Rhapsoden, den Ion exemplarisch darstellt, als eine spezifische Erscheinungsform des Sophisten.185 Auf welch subtile Weise Platon den Ion auch mit Hilfe indirekter literarischer Mitteilung als Sophisten zu charakterisieren versteht, zeigen zwei bemerkenswerte Details, die eng zusammengehören: der Vergleich Ions mit Proteus und die Kritik am Verbergen ( ) von Wissen. Gegen Ende des Gesprächs wirft Sokrates dem Ion vor, er nehme wie Proteus unterschiedliche Gestalten an, um sich den prüfenden Fragen zu entziehen und die – das meint hier: die theoretische Legitimierung – der Rhapsodenkunst nicht liefern zu müssen.186 Der Vergleich mit Proteus stiftet eine intertextuelle Verbindung zu den Epen Homers, dem angeblichen Fachgebiet des Ion. In dem Meeresgott Proteus, der im vierten Gesang der Odyssee187 eine wichtige Rolle spielt, findet Sokrates eine Art „Protosophist“, den er nur kurz zu erwähnen braucht, um einen Gesprächspartner auf signifikante Weise als Sophisten zu stigmatisieren. Auf Proteus kommt Sokrates noch im Euthydemos (288 b 3 – d 4), im Euthyphron (15 c 11 – e 2) und in der Politeia (II 381 d 11 – e 6) zu sprechen. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch die Charakterisierung des Sophisten als nicht leicht zu fangendes trickreiches Tier im Sophistes (226 a 6 f.). Die Partie aus der Politeia verdient deshalb besondere Beachtung, weil Sokrates hier den Proteus als Beispiel für eine Gottesvorstellung anführt, die in der idealen Polis so genau nicht vermittelt werden darf: „Du räumst also ein, sprach ich, daß dies die zweite Vorschrift ist, nach der von den Göttern muß geredet und gedichtet werden, daß sie weder selbst als Zauberer sich verwan-
185 Der agonale Charakter der Rhapsodenvorführungen wird auch in den Nomoi (vgl. insbes. VI 764 c 5 – 765 e 3, VIII 834 d 8 – 835 b 4) betont. Allerdings wird dort der Versuch unternommen, den schmeichlerischen Charakter dieser Wettbewerbe durch die Einsetzung neutraler und sachkompetenter Richter (Archonten) abzuschütteln, auf deren Zuständigkeit, Auswahl und spezifische Fähigkeiten viel Wert gelegt wird. Gegenüber dem Ion ist dabei die schwerwiegende Differenz zu verzeichnen, daß Sachkompetenz im Bereich rhapsodischer Darstellung nun anscheinend für möglich gehalten wird. 186 Ion 541 e 6 – 542 a 1. 187 Od. IV 347 ff.
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2. Die Theorie der Interpretation
deln, noch auch uns durch Täuschungen verleiten in Wort und Tat.“188 Es ist bezeichnend, daß der Gorgias-Schüler Menon (vgl. Men. 79 e 7 – 80 b 7) Sokrates mit einem Zauberer ( ) vergleicht, der die Menschen, die mit ihm zu tun bekommen, „bespricht“ und in Verwirrung stürzt. Die verunsichernde gestaltwandlerische Kraft ist – wie das Verbergen von Wissen – ein Standardvorwurf, den Sokrates gegen die Sophisten erhebt, obgleich derselbe Vorwurf mit guten Gründen gegen sein eigenes Gesprächsverhalten und seine eigene Argumentationstechnik erhoben werden kann.189 Werfen wir zunächst einen Blick auf die Odyssee, um herauszufinden, was denn das Sophistische an dem Sophisten Proteus ist: Menelaos wird von den Göttern bereits seit zwanzig Tagen in Ägypten zurückgehalten, die Vorräte drohen den Griechen auszugehen. Da erfährt Menelaos, daß der Meeresgott Proteus weiß, warum den Schiffen der richtige Wind versagt wird, und daß er den Griechen den rettenden Rat geben kann.190 Proteus gehört zu den Göttern, die alles wissen.191 Noch nie hat er sich geirrt.192 Freiwillig ist Proteus jedoch nicht bereit, sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Menelaos muß dem Meeresgott eine Falle stellen, ihn im Ringkampf besiegen und ihn festhalten, um an sein Wissen zu gelangen. Das „Ergreifen“ des Gottes gestaltet sich
! "# $% & ' ( ")* +% "# ,"- ./ * &0 1 02. Zur Figur des Proteus und zum Begriff des & vgl. Burkert 1962, S. 42 f.
188 Rep. II 383 a 2-5:
189 190 Während es sich im Falle von Menelaos um ein Wissen handelt, dessen Vermittlung lebenspraktisch unbedingt gebraucht wird, gestaltet Euripides in der Exposition seiner Medeia (vgl. v. 67-81) eine gegenteilige Konstellation: Hier darf Gewußtes aus menschenfreundlichen Motiven gerade nicht mitgeteilt werden. Das 3/ von Wissen wird nicht kritisiert, sondern ausdrücklich gefordert, da Wissen in dieser Situation nicht lebensrettend, sondern lebenszerstörend wirken würde. Es gibt einen & des Wissens und einen & des Nicht-Wissens (vgl. v. 80 f.). Dieser Gedanke ist auch dem platonischen Sokrates nicht fremd. Im Idealentwurf der Rhetorik im Phaidros stellt er klar heraus, daß es wie eine Zeit so auch eine Unzeit der (wahrheitsvermittelnden) Rede gibt (vgl. Phdr. 271 e 2 – 272 b 4). Eine entscheidende Schwäche des medial schriftlichen & liegt nach Sokrates eben darin, daß er die Unzeit der Rede nicht zu erkennen vermag (vgl. Phdr. 275 d 4 – e 5). In der Politeia schließlich erlaubt Sokrates – mit gewissen Skrupeln – den Philosophen nicht nur das 3/ von Wissen, sondern sogar die Lüge „zum Besten des Belogenen“ (vgl. Marten 2000, S. 301-314). Nur diejenigen sind mit der Wahrheit vertraut zu machen, die eine hierfür erforderliche Reife aufweisen. Für die übrigen tritt an die Stelle von & und & & der " (vgl. insbes. IV 414 c 4 – 415 d 5, VI 497 d 8 – 498 c 4, s. aber auch als Kontrast VI 485 c 3 f.). 191 Od. IV 468. 192 Od. IV 349, vgl. 385 f.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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jedoch als äußerst schwierig und verlangt von Menelaos beträchtliche Beharrlichkeit. Proteus kennt viele Tücken ( )193 , er verfügt über eine regelrechte „Kunstfertigkeit der List“, eine 194 , die es ihm gestattet, seine Erscheinungsformen immer wieder zu ändern. So nimmt er, um sich vor Menelaos zu retten, nicht nur die Gestalt von Tieren wie Löwe und Schlange an, er kann sich sogar in die Elemente flüchten und selbst zu Wasser werden. Nur mit äußerster Mühe gelingt es daher Menelaos und seinen Helfern, den Gott zu überwinden und mit Gewalt zur Herausgabe seines Wissens zu zwingen. Nachdem er ergriffen ist, kann sich Proteus nicht mehr weiter in die Lüge flüchten. Der erfolgte Zugriff ist von der Art, daß jedes weitere „Sichwinden“ und „Verdrehen“ sicher ausgeschlossen werden kann. Die Lüge ist, so scheint es, kein Zweites, was noch zu dem „Gestaltwechsel“ des Proteus hinzukommen könnte, sondern ist im Gestaltwechsel selbst bereits signifikant mitgedacht. Wer wie Menelaos durch seinen entschlossenen und beharrlichen Zugriff dem Gestaltwechsel des Proteus ein Ende gesetzt hat, der hat damit auch schon die Lüge als eine Form desselben überwunden. Interessant ist, daß Proteus, ehe er dem Menelaos schließlich die geforderten Informationen übergibt, noch gegen seine Gefangennahme protestiert: Nur durch eine List, sagt der Listenreiche, sei er bezwungen worden. Mit dieser Szene aus der Odyssee steht Platon eine Vorlage zur Verfügung, die in der Tat sehr gut dazu geeignet ist, das Eigentümliche des Gesprächs, wie es der Dialektiker mit dem Sophisten zu führen hat, herauszustellen. Doch wie zieht Sokrates die Analogie genau? Im Euthydemos195 führt Sokrates aus, daß sich zeitgenössische Sophisten wie Euthydemos und Dionysodoros den „ägyptischen Sophisten“ Proteus als Vorbild nehmen und ihn nachahmen. Sich selbst sieht Sokrates dagegen in der Nachfolge des Menelaos, der nicht ablassen will, bis er den Ernst seines Gegenüber ans Licht gebracht hat. Versuchen wir also, das Gespräch zwischen dem Dialektiker und dem Sophisten, wie es von Sokrates hier durch den Rückbezug auf Homer konzipiert wird, begrifflich auf den Punkt zu bringen: Dem Sophisten wird erstens ein Wissen zugeschrieben und zweitens der Vorwurf gemacht, er wolle dieses Wissen nicht denjenigen mitteilen, die dieses Wissen brauchen. Entsprechend ist der Dialektiker derjenige Gesprächspartner, der selbst nicht über das Wissen verfügt, aber alles daran setzt, dem Gesprächspartner das Wissen abzuringen. Ein Gespräch zwischen einem Wissenden, der eifersüchtig sein Privileg bewacht, 193 Od. IV 410, 460. 194 Od. IV 455. 195 Euthd. 288 b 2 – d 4.
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2. Die Theorie der Interpretation
und einem Suchenden, der nicht von seinem Vorhaben ablassen kann, kann nicht ohne jede Gewalt ablaufen: Gelingt es dem Wissenden, sich durch die Anwendung seiner „Kunst der List“ dem Zugriff des Fragenden zu entziehen, so ist der Suchende um das betrogen, was er nötig hat, was er braucht. Gelingt es dagegen dem Suchenden, den Wissenden im Gespräch „festzuhalten“, dann ist es der Wissende, der „in die Falle“ gegangen ist. Wiederum hat eine „List“ gesiegt, dieses Mal die „List“ des Suchenden. Der Wissende steht unter einem Zwang, er muß sein Wissen preisgeben. Platon konzipiert das Gespräch des Dialektikers mit dem Sophisten ganz bewußt mit Hinblick auf den Ringkampf zwischen Menelaos und Proteus: Egal wer Sieger wird, es handelt sich um einen Kampf, der entschieden wird durch Stärke, Entschlossenheit und Beharrlichkeit, aber auch durch Tricks, Kniffe, Finten usf. Daß der Suchende gegebenenfalls ein Recht auf das Wissen hat, etwa weil er es wie Menelaos lebenspraktisch unbedingt benötigt, ändert nichts an der Tatsache, daß ein Kampf stattfindet, der durch seinen polemischen Charakter zwar eine Ähnlichkeit hat mit den rein eristischen Auseinandersetzungen unter Sophisten, aber weit entfernt ist von der gemeinsamen Wahrheitsbemühung, die von Dialektikern gepflegt wird, wenn sie unter sich sind. Da Sokrates im Menon196 noch eine strikte Distinktion ansetzt zwischen dem Streitgespräch, das allein den Sieg über den Gesprächsgegner zum Ziel hat, auf der einen Seite und der gemeinsamen Wahrheitsbemühung und wechselseitigen Förderung im Gespräch „unter Freuden“ auf der anderen Seite, bereichern die gesprächstheoretischen Überlegungen in Hinblick auf die Proteus-Episode das Spektrum der erfaßten Gesprächskonzeptionen beträchtlich. Der Menon kennt lediglich das „sophistische“ Gespräch, wie es zwischen Eristikern und Antilogikern ausgetragen wird, und das „philosophische“ Gespräch, das nur unter Dialektikern statt haben kann. Sokrates’ Überlegungen hinsichtlich der Proteus-Episode thematisieren dagegen auch die Möglichkeit eines Gesprächs, an dem sowohl ein Dialektiker als auch ein Sophist teilnimmt. Daß Platon in seinem Frühwerk zahlreiche Gespräche gerade dieser Art inszeniert hat, läßt darauf schließen, daß er solche Gespräche in bestimmter Hinsicht für besonders ergiebig hält. Manches, so darf man vermuten, läßt sich literarisch besser mitteilen, wenn eine bezeichnende Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern herrscht. Ein „rein sophistisches“ Streitgespräch mag zwar recht gut zur Unterhaltung dienen – man denke etwa an bestimmte Passagen des Euthydemos, bei denen sich Sokrates zurückhält und den eristischen Kunststückchen der beiden Sophisten nur zusieht –, philosophisch 196 Men. 75 c 8 – d 7.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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Bedeutsames jedoch kann so kaum gezeigt werden. Doch auch Gespräche „unter Dialektikern“ sind in ihrer Ausdruckskraft begrenzt. Wie besonders die späteren Werke Platons zeigen, tritt die Dialogizität des Gesprächs – und damit die Bedeutung des fiktiven Realkontextes und die Möglichkeit indirekter literarischer Mitteilung – immer dann merklich in den Hintergrund, wenn sich lediglich Dialektiker zur Unterredung einfinden. Von einer gemeinsamen Suche nach Wahrheit ist auch in diesem „Idealfall“ nur wenig zu spüren, es herrschen eher Kurzreferate vor, in denen schon gefundene Wahrheiten präsentiert werden.197 Um die Möglichkeiten, welche mit der literarischen Gattung des Dialogs gegeben sind, voll entfalten zu können, braucht es anscheinend gerade auch die „Asymmetrie“ der Gesprächspartner. Während in den dialogizitätsarmen Spätdialogen in der Hauptsache philosophische Thesen direkt, d. h. in den expliziten Aussagen der Dialogfiguren, zur Sprache gebracht werden, sind die asymmetrischen Gespräche, wie sie im frühen und mittleren Werk zu finden sind, weit besser geeignet, das Wie der Philosophie, also nicht die Philosophie als doktrinäre Lehre, sondern das Philosophieren als Vollzug, als Prozeß zur Darstellung zu bringen. Für den Ion etwa heißt dies, daß Unterschiede in philosophisch relevanten Anschauungen nicht nur in den Aussagen der Dialogfiguren akzentuiert, sondern im Verhalten und im Handeln dieser Personen, das hier selbstverständlich zum Großteil aus Sprechakten besteht, auch gleich exemplifiziert und zur konkreten Anschauung gebracht werden können. Da Sokrates den Vergleich mit Proteus verwendet, um das sophistische Verhalten von Gesprächspartnern zu entlarven, die sich auf gar keinen Fall „fassen“ lassen wollen, ist ein weiterer Beleg für den sophistischen Charakter des Ion gegeben. Dieser Befund wird erhärtet durch die Tatsache, daß Sokrates den Ion auch explizit dazu auffordert, sein Wissen nicht zurückzuhalten, sondern Auskunft über das Gefragte zu geben.198 Diese Kritik am bewußten und willentlichen Verbergen ( ) von Wissen steht wie der Proteus-Vergleich in Kontrast zu den „Redetugenden“, wie sie im Gorgias199 gefordert sind: Wer sein Wissen dem Gesprächspartner vorenthält, vergeht
197 Thomas Alexander Szlezák spricht in diesem Zusammenhang von dem „paradoxen Befund, daß Platon entweder Gespräch bietet, dann aber die ausgewogene Gegenseitigkeit der Dialogbeziehungen vermissen läßt, oder Partner zeigt, die zu dialogischer Gegenseitigkeit wohl fähig wären – aber diese pflegen gerade nicht das philosophische Gespräch.“ (Szlezák 1987, S. 367 f.) Zum „Ungleichgewicht zwischen den Partnern der Platonischen Dialoge“ vgl. auch Schildknecht 1990, S. 37 f. 198 Ion 535 b 1 f., 541 e 1 – 542 a 1. 199 Vgl. Gorg. 486 e 5 – 487 e 7 und oben Kap. 2.1.8.
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2. Die Theorie der Interpretation
sich an der , die zum Gelingen der gemeinsamen praktischen Wahrheitssuche unerläßlich ist. Im Sinne des Sokrates stellt das konzeptionell das sophistisch-eristische Gegenstück zur philosophischer Dialektik dar. So kritikwürdig das auch sein mag, in gewisser Hinsicht bleibt es doch eine Leistung: Schließlich ist nicht jeder – schon gar nicht jeder Sophist – zu einem glückenden in der Lage: Nur derjenige kann sein Wissen verbergen, der auch in der Tat über ein Wissen verfügt. Im Ion ist Sokrates’ Vorwurf damit offensichtlich unberechtigt: Von einem Wissen, das er dem Gesprächspartner vorenthalten könnte, ist der tumbe Rhapsode Ion weit entfernt.200 Auch über die „Kunstfertigkeit der List“, die Proteus so geschickt anzuwenden versteht, verfügt Ion in keiner Weise. Um einen Gesprächspartner wie Sokrates in der Tat täuschen zu können, müßte Ion nicht nur wacher und cleverer, sondern auch weniger eitel sein. In diesem Gespräch besitzt nur einer ein Wissen, das im Verborgenen bleiben kann: Sokrates. „Sokratisch ist: sich unwissend stellen. Modern: unwissend sein.“201 Daß sich Sokrates in seiner Gesprächspraxis nicht allzu streng nach den konzeptionellen Vorgaben philosophischer Gesprächsführung richtet, zeigt also nicht nur der recht böse Spott, den er über den ratlosen Rhapsoden ergießt, sondern auch seine eigene Vorliebe, dem Gesprächspartner die Gedanken und Absichten gerade nicht aufzudecken, sondern ihn zu verwirren. Es 200 Im Euthyphron spricht Sokrates spricht gegen Ende des Gesprächs zu dem ratlosen Euthyphron: „Aber behandle mich nicht so geringschätzig, sondern nimm deinen Verstand recht zusammen und sage mir endlich die Wahrheit. Denn wissen mußt du es, wenn irgendein Mensch, und man muß dich, wie den Proteus, nicht loslassen, bis du es sagst.“ (Euphr. 15 d 1-4:
! " # $% & '& () * + ,%- . " /) Die Situation gleicht der des
Ion. Auch hier handelt es sich um eine recht boshafte Form sokratischer Ironie. Euthyphron weiß wirklich nicht, wie es sich mit der in Frage stehenden Frömmigkeit verhält. Ein Wissen, das versteckt gehalten werden kann, eignet allein dem platonischen Sokrates, der sich selbst hinter seine angebliche Unwissenheit zurückzieht. Vgl. Erler 1987, S. 3: „In Wirklichkeit, so könnte der Verdacht aufkommen, verhält sich Sokrates so wie Kratylos, Dionysodor oder Hippias, die ebenfalls mit ihrem Wissen hinter dem Berg zu halten scheinen, sich aber in Wirklichkeit nur zieren, um gebeten zu werden.“ Allerdings ist hier der Unterschied zu beachten, daß Sokrates aus der Sicht Platons ein wirkliches, die angesprochenen Sophisten dagegen nur ein Schein-Wissen zurückhalten. 201 Musil 1958, S. 558. – Vgl. auch Ferber 2 1989, S. 52: „Stapeln die Sophisten hoch, so stapelt Sokrates tief. Seine Naivität ist nicht naiv, sondern eine zweite Naivität, eine Blüte der Reflexion. Seine intellektuelle Demut ist nicht nur demütig, sondern auch die Maske seiner intellektuellen Arroganz, die sich vor dem Gegner verbeugt, um nachher nur umso besser über ihn zu triumphieren.“
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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ist also nicht von ungefähr, daß Sokrates wegen seiner verwirrungsstiftenden Kraft von seinen Gesprächspartnern mit einem „Silen“202 , einem „Zitterrochen“ und einem „Zauberer“203 verglichen wird. Der von Alkibiades angestellte Vergleich des Sokrates mit einem Silen steht übrigens in enger Verbindung mit dem Topos des . „Das Gespräch kreist dort (sc. in der angegeben Passage des Symposion) immer wieder um den Gegensatz zwischen Innen und Außen, zwischen Sein und Schein. Sokrates selbst sei wie eine der (damals offenbar allgemein bekannten, hölzernen?) flötenspielenden Silensfiguren, in deren Innerem man ein Götterbild fand, wenn man sie öffnete (Symp. 215 b). Das wahre Philosophieren erkennt die Scheinhaftigkeit von Äußerlichem und führt zur Erkenntnis des wirklich Seienden.“204 Auf diejenigen jedoch, die selbst nicht über diese Erkenntnis verfügen, muß ein Philosoph wie Sokrates den sophistischen, den gestaltwandlerischen Eindruck des Proteus machen.205 Der Vorwurf des ist geradezu ein Standardvorwurf, den Sokrates sophistischen Gesprächspartnern macht. Allerdings darf die sokratische Ironie nicht unbemerkt bleiben: Berechtigt wäre der Vorwurf nur, wenn ihn Sokrates an sich selbst richten würde. Die Sophisten dagegen zeigen sich zum meist gar nicht fähig. Zwar haben die Sophisten durchaus die Absicht, den Gesprächspartner zu täuschen und ihr Wissen versteckt zu halten. Im Gespräch mit dem Dialektiker ist es ihnen jedoch nicht möglich, ihre Absicht auch zu verwirklichen. Wenn das Geschäft der Sophisten im Lügen, Täuschen und dem eifersüchtigen Zurückhalten von Wissen besteht, so müssen sie sich von Sokrates sagen lassen, daß sie nicht einmal zur richtigen Ausübung dieser ehrenwerten Aktivitäten in der Lage sind. So wird im Hippias Minor deutlich, daß die Fähigkeit zum Lügen nur dem zukommt, der auch die Wahrheit über die betreffende Sache kennt. Und im Phaidros206 zeigt Sokrates, daß zur Täuschung der Gesprächspartner die Sachkompetenz unerläßlich ist. Der Einzige, der „richtig“ lügen und „richtig“ täuschen kann, der Einzige, der über ein zu verbergendes Wissen verfügt, ist: der Wissende.207 An Brisanz gewinnt die Angelegenheit vor allem durch die Tatsache, daß der Dialektiker Sokrates zum nicht nur fähig ist, sondern sich auch 202 203 204 205 206 207
Symp. 221 c 2 – 222 a 6. Men. 79 e 7 – 80 b 7. Zanker 1995, S. 45. Vgl. Soph. 216 c 2 – 217 a 2. Phdr. 261 d 10 – 262 c 3. Vgl. Szlezák 1985, S. 141: „Ebenso wie das ‚Herumziehen‘ charakterisiert das ‚Verbergen‘ als Vorwurf im Mund des Ironikers Sokrates nur sein eigenes planvolles Verfahren.“
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2. Die Theorie der Interpretation
in seiner eigenen Gesprächspraxis keineswegs verpflichtet fühlt, allen alles mitzuteilen.208 Inwiefern kann sich die sokratische Weise des von der sophistischen unterscheiden? Zeigt sich damit nicht gerade der Dialektiker als ein Wissender, der sein Wissen nicht preisgeben will und damit die gesprächstheoretisch geforderte in seiner Gesprächspraxis mißachtet? Ist Sokrates als ein Erzsophist enttarnt, der seinen unwissenden Gesprächspartner vorwirft, ihr Wissen zu verbergen, obgleich gerade er derjenige ist, der ein Wissen besitzt und eifersüchtig zurückhält? Begnügen wir uns für den Augenblick mit dem Nachweis, daß auch in den kritischen Anmerkungen des Sokrates zu der Gesprächspraxis des Rhapsoden die sophistischen Züge des Ion betont werden. Auf das Problem, das die mitunter selbst sophistisch wirkende Gesprächsführung des Sokrates darstellt, werden wir noch zu sprechen kommen, wenn im zweiten Hauptteil der Arbeit die Interpretationspraxis des Sokrates problematisiert wird. Nachdem die Rolle, die Ion im Dialog spielt, als die eines Sophisten herausgestellt werden konnte, ist nun zu prüfen, wie der Sophist seine Art der Dichterauslegung versteht. Betrachten wir also die Aussagen, die Ion über seine eigene Interpretationsmethode trifft.
208 Dieses für den platonischen Sokrates typische Gesprächsverhalten bringt Ernst Heitsch (1992 a, S. 29) gut auf den Begriff: „Bei Platon sagt Sokrates durchaus nicht immer, was er meint, und er meint nicht immer, was er sagt.“ Den Gesprächspartnern des Sokrates bleibt dies keineswegs verborgen. Vgl. etwa Agathons Worte zu Eryximachos im Symposion (214 c – d): „Und dann, läßt du dir denn vom Sokrates das einreden, was er vorhin sagte? Oder weißt du, daß es sich ganz entgegengesetzt, als er sagte, verhält?“ oder Sokrates’ eigene Warnung im Kratylos: „Hüte mich nur, daß ich dich nicht übervorteile.“ (393 c 8 f.: ) In der Politeia schließlich wird Sokrates’ Argumentationstechnik mit der Kunst eines Brettspielers verglichen, der seine Gegner in die Enge treibt: „Und wie die im Brettspiel Ungeübten von den Starken am Ende eingeschlossen werden und nicht wissen, wie sie ziehen sollen, so glauben auch sie (sc. die Gesprächspartner des Sokrates) am Ende eingeschlossen zu sein und nicht zu wissen, was sie sagen sollen in diesem anderen Spiel, nicht mit Steinen, sondern mit Reden, aber in Wahrheit verhalte es sich deswegen doch nicht eher so.“ (Rep. VI 487 b 7 – c 3) Diese Charakterisierung des Gesprächsverhaltens von Sokrates weist übrigens eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Formulierung auf, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik verwendet, um die Erfahrung mit Sophismen zu beschreiben: „Denn das Denken findet sich alsdann gebunden, weil es sich einerseits bei der mißlichen Folgerung nicht beruhigen, und doch auch wieder, unvermögend den vorgebrachten Grund zu entkräften, nicht von der Stelle kommen kann.“ (EN VII 3 1146 a 24-27:
! " # $ %& ') (Das griechische Zitat stammt aus
der Edition von Bywater 1894, die deutsche Übers. von Eugen Rolfes in der Ausgabe von Bien 1972)
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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2.2.2 Die Lobreden der Rhapsoden und die Autorität der Dichter Der Idealentwurf der Rhapsodenkunst, den Sokrates zu Beginn des Gesprächs vorstellt, wird von Ion zwar mit großer Zustimmung aufgenommen;209 der Rhapsode fühlt sich geschmeichelt und zeigt sich mit Sokrates ganz und gar einverstanden. Doch schon in seiner selbstverliebten Einwilligung wird deutlich, wie wenig Ion die Rede des Sokrates verstanden hat: Die eine des Dichters, die es nach Sokrates zu verstehen und zu vermitteln gilt, erwähnt Ion mit keinem Wort. Ion ist vielmehr darauf stolz, am schönsten von allen Menschen über Homer zu reden. Unter den Lebenden und den Toten gebe es keinen Rhapsoden, der so viele schöne Gedanken über den Homer vortragen könne wie er. Ja, er verdiene es, von den Homeriden mit einem goldenen Kranz geehrt zu werden, so schön habe er Homer ausgeschmückt! Aus der einen des Dichters, die Sokrates im Blick hat, sind die vielen des Rhapsoden geworden, die für das denkende Erforschen der intentio auctoris kontraproduktiv sind: Die vielen Worte des Rhapsoden führen den Hörer von dem „Eigenen“ des Dichters gerade weg, die ohnehin versteckte und schwer zu ergründende des Dichters wird durch die vielen des Rhapsoden nur noch weiter verdunkelt.210 Das rhapsodische „Reden über Homer“ ( ) gewinnt im Dialog eine fast terminologische Bedeutung:211 Sokrates nimmt Ions selbstentlarvende Formulierung auf, er prüft Ions „Vermögen über Homer“ ( )212 , um schließlich am Ende des Gesprächs festzustellen, daß die vielen schönen „Reden über Homer“ keinem „Wissen über Homer“ ( )213 entspringen.214 209 Ion 530 c 7 – d 3. 210 Hans Diller (1971, S. 204) konstatiert zu Recht eine „Verschiebung von Sokrates’ Worten über die notwendige Einsicht in die des Dichters, den Sinn der vorgetragenen homerischen Gedichte, zu Ions , Gedanken über Homer“. 211 Ion 530 c 9, 530 d 3, 531 a 3, 533 c 5, 533 d 2, 534 c 1, 536 d, 541 e 3 f., 542 b 4. 212 Ion 531 a 1 f., 531 c 1. 213 Ion 542 a 1. 214 Daß Ion seinen (ihm von Sokrates aufgedrängten) Wissensanspruch im kritischen Prüfgespräch nicht aufrechterhalten kann, darf nicht zu dem Schluß verleiten, ihn deshalb schon als Enthusiasten zu deuten. Ion ist ein Unwissender, aber nicht als Enthusiast, sondern als Pseudo-Technit, der über keine , sondern nur über die des Schauspielers verfügt. In diesem Zusammenhang verdienen auch die Anmerkungen Beachtung, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (VII 5 1147 a 21-24.) zum Nicht-Wissen des Schauspielers anbringt:
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+/ (Nach der Übersetzung von Franz Dirlmeier in Dirlmeier 5 1969: „Und
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2. Die Theorie der Interpretation
Wenn Ion zu Beginn des Gesprächs Sokrates’ Forderung, der Rhapsode müsse seinen Hörern die eine des Dichters zu verstehen geben, bejaht, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ion in seiner rhapsodischen Praxis dem Auditorium die des Dichters vorenthält, um mit seinen eigenen brillieren zu können. Platons Darstellung der vermeintlichen Übereinstimmung Ions mit Sokrates strotzt geradezu vor Ironie, stehen sich Sokrates’ Idealentwurf der Rhapsodenkunst und Ions Skizzierung der eigenen Praxis doch diametral gegenüber. Sokrates’ Beschreibung des idealen Rhapsoden charakterisiert keineswegs Ion, der sich von den Worten des Sokrates ganz zu Unrecht selbst beschrieben und geschmeichelt fühlt; sie zeigt vielmehr gerade gegen Ions pseudo-technisches Geschäft an, wie sich der Rhapsode verhalten soll, wenn er sich philosophisch legitimieren und den Rang eines Techniten erreichen will. Verräterisch ist, daß Ion ausgerechnet das „Ausschmücken“ ( ) Homers zu seinen besonderen Verdiensten rechnet.215 Da Sokrates betont, welch großen Wert die Rhapsoden auch auf die Pflege ihrer eigenen äußeren Erscheinung legen,216 weist die „kosmetische“ Behandlung des Homer zunächst darauf hin, daß die Rhapsoden den großen Dichter zu einem der Ihren machen,
wer eben begonnen hat, etwas zu lernen, der reiht die Lehrsätze zwar aneinander, aber er hat noch kein Wissen. Vielmehr muß der Gegenstand erst ganz mit dem Menschen verwachsen und das braucht Zeit. Was also ein Mensch im Zustand der Unbeherrschtheit spricht, braucht nicht anders aufgefaßt zu werden als die Rede eines Schauspielers.“) In der Poetik (vgl. insbes. 1461 b 26 – 1462 b 13) macht Aristoteles den zeitgenössischen Schauspielern Vorwürfe, die wir in ähnlicher Form vom platonischen Sokrates kennen: Schmeichelei, implizite Geringschätzung des Publikums und Übertreibung in den Ausdrucksmitteln. Was oftmals gegen die Dichter eingewendet werde, kritisiere – so Aristoteles – im Grunde nicht die Dichter, sondern nur ihre Interpreten, die Schauspieler. Aristoteles geht gar so weit, die Funktion der Schauspieler aus rezeptionstheoretischen Überlegungen heraus zu marginalisieren: Die Wirkung von Tragödie und Epik könne auch ohne den Akt der Inszenierung erreicht werden, bloße Lektüre reiche dazu vollkommen aus, die schauspielerische Darstellung brauche es also gar nicht (vgl. auch 1450 b 16-21). In der Rhetorik (1403 b 18-35) schließlich bringt Aristoteles seine Beobachtung, daß die Schauspieler heutzutage ein höheres Ansehen als die Dichter genössen, mit einer zweiten Beobachtung in Zusammenhang: Wegen des desolaten Zustands der Polis verfügten die Schauspieler auch in politischen Angelegenheiten über großen Einfluß (vgl. Blume 3 1991, S. 105). Damit ist festzuhalten, daß Aristoteles der Tatsache, daß die Schauspieler „sich mit der Rolle eines Sprachrohrs dichterischer Intentionen nicht mehr begnügten“ (Blume 3 1991, S. 16), daß sie – um mit Sokrates zu sprechen – die eine des Dichters mit vielen eigenen ausschmückten und damit gerade verdeckten, ablehnend gegenübersteht. 215 Ion 530 d 6 f.: (...) . 216 Ion 530 b 6 f.: (...) (...)
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
123
ihn sich selbst anähneln wollen. Damit vermeidet der Rhapsode eben die Bewegung hin zum Dichter, die eine Suche nach der intentio auctoris erfordern würde. Richtlinie des rhapsodischen Geschäfts, wie Ion es versteht, ist genau nicht die poetische , sondern die eigene oberflächliche „Schmückkunst“ ( ). Ions Bestimmung des eigenen Geschäfts als „Schmückkunst“ läßt – schon vor dem – wichtige Rückschlüsse auf die Frage zu, welchen Status die konventionelle Rhapsodenkunst innehat, ob sie zu Recht als gilt oder nicht. Im Laches verwendet die gleichnamige Dialogfigur den Begriff , um das Gesprächsverhalten des Mitunterredners Nikias als ein sophistisches zu diskreditieren:217 Nikias hat im Gespräch mit Sokrates, seine These, daß Tapferkeit eine Art von Wissen sei, nicht plausibel machen können, weigert sich aber bislang hartnäckig, diese These aufzugeben.218 Nach dem Urteil von Laches hat Nikias nichts Richtiges zu sagen, doch windet er sich hin und her, um seine Verlegenheit zu verbergen.219 Ein solches Gesprächsverhalten sei zwar verständlich im Falle öffentlicher Streitigkeiten, wie sie vor Gericht ausgetragen werden, doch angesichts des privaten Rahmens, der die aktuelle gemeinsame Wahrheitssuche im Gespräch auszeichne, sei ein solches Verhalten ganz und gar unangebracht. Der Vorwurf gipfelt in den Worten, warum sich jemand bei einem solchen privaten Zusammensein denn nur mit leeren Worten schmücken () wolle.220 217 In der Politeia erscheint der äußere Schmuck als Zeichen des „Schweinestaats“ und der Fehlform der Demokratie (vgl. insbes. Rep. VIII 560 d 8 – 561 a 1). Mitunter verwendet Platon den Begriff allerdings auch in Bedeutung von ordnen / in Ordnung bringen. So ist etwa in der Politeia (Rep. VII 540 a 4 – c 2) davon die Rede, daß sich die Philosophen die Idee des Guten als Urbild ( ) nehmen, um nicht nur in der eigenen Seele, sondern auch in den Seelen der anderen Bürger und in der gesamten Polis Ordnung zu schaffen ( ). Zur Ordnung, zum , der Ideenwelt vgl. auch Rep. VI 500 b 1 – e 4 (vgl. Wehrli 1957, S. 44). Zum des Ion vgl. Flashar 1958, S. 28 f. 218 Zum Gesprächsverhalten des Nikias vgl. oben S. 90. 219 Der Vorwurf, ein Gesprächspartner winde sich hin und her, um die Rechenschaftsgabe für das Gesagte nicht leisten zu müssen, und der Verdacht, hier werde die eigene Scham (oder auch ein mögliches Wissen) verborgen und zurückgehalten, sind typische Momente der sokratischen Kritik an sophistischen Gesprächs- und Argumentationspraktiken. Vgl. die Ausführungen zum Proteus-Vergleich und zum (oben S. 113). 220 Vgl. Lach. 196 a 7 – b 7: !
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2. Die Theorie der Interpretation
Präzise Ausführungen über die gibt uns Sokrates in der oben bereits dargestellten Partie des Gorgias221 , wo er diesen Begriff nicht nur wie im Laches verwendet, sondern selbst thematisch werden läßt: Neben der Rhetorik, der Sophistik und der Kochkunst zählt die Schmückkunst zu den vier Arten der Schmeichelei. Damit ist die „Schmückkunst“, auf die sich Ion so viel einbildet, wie die Rhetorik, auf die Gorgias und Polos stolz sind, nichts als „Übung und Routine“, und . Zu einer argumentativen Rechenschaftsgabe aber, zu einem , wie es Sokrates seinen Gesprächspartner im abverlangt, ist kein Empeirist in der Lage. So wird zu Beginn des Ion mit der Charakterisierung der konventionellen, d. i. nicht-philosophischen Rhapsodenkunst als „Schmückkunst“ das Ergebnis des bereits vor seinem Beginn angedeutet: Die Rhapsodenkunst ist keine . Dieser Exkurs zum Gorgias macht ferner darauf aufmerksam, daß Sokrates’ mit Polemik und Vereinnahmung qua Emphatikon operierende Argumentationsweise, wie wir sie für den Ion in Bezug auf die „Rhapsodenkunst“ konstatieren können, geradezu typisch ist: Setzt sich Sokrates im Ion mit der konventionellen Rhapsodenkunst auseinander, um die eigentliche Rhapsodenkunst in der Philosophie zu finden, so führt im Gorgias die Polemik gegen die konventionelle Rhetorik, wie sie von den Sophisten gepflegt wird, zu dem Ziel, die eigentliche Rhetorik allein in der Philosophie zu erkennen. Ions „kosmetische“ Reden über Homer motivieren Sokrates, den Rhapsoden als einen „Lobredner Homers“ ( ) zu bezeichnen.222 Ion wehrt sich nicht gegen diese Beschreibung, im Gegenteil: er nennt auch selbst sein Geschäft ein „Loben des Homer“.223 Für den platonischen Sokrates ist der Begriff keine zufällige Benennung; so ist es auch nicht von ungefähr, daß Platon das Gespräch gerade mit den Worten enden läßt.224 ist m. E. als ein feststehender Titel zu begreifen, von dem Sokrates in seiner Typologie gerne Gebrauch macht. Eine Explizierung, was unter einem genau zu verstehen ist, gewinnen wir aus dem zehnten Buch der Politeia:225 Die „Lobredner Homers“, so erfahren wir dort, vertreten die Behauptung, Homer habe Griechenland zu 221 Gorg. 462 b 3 – 466 a 3. – Vgl. oben Kap. 2.1.2. 222 Ion 536 d 2 f.: „(...) “; Ion 542 b 4: „ “. Sokrates’ zweite Formulierung macht schon durch die grammatikalische Konstruktion ( mit Gen.) auf den engen sachlichen Zusammenhang mit Ions „ “ aufmerksam. 223 Ion 536 d 6: (...) ! ". 224 Ion 542 b 4: (...) . 225 Rep. X 606 e 1 – 607 a 5.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
125
seiner „Bildung“ ( ) verholfen. Deshalb kann und soll man in allen menschlichen Angelegenheiten von Homer lernen, ja man hat das ganze eigene Leben gemäß diesem Dichter einzurichten und zu führen. Homer ist nicht bloß eine Autorität unter anderen, er ist die Autorität schlechthin. Der Geltungsbereich seines Wissens umfaßt nicht weniger als alles, was im menschlichen Leben von Bedeutung ist. Homer gilt eben nicht nur als der Experte in Fragen der militärischen Strategie, des Wagenlenkens und anderer Einzel , nein: die gesamte Praxis der richtigen Lebensführung läßt sich von ihm lernen. Von seinen „Lobrednern“ wird Homer als der universale Lehrer verstanden, der um alles weiß und sich in keinem Fall geirrt hat, so daß eine kritische Überprüfung einzelner Behauptungen überflüssig erscheinen muß. Wenn Ion den Anspruch erhebt, eine rhapsodische Kompetenz „nur“ in Bezug auf Homer zu besitzen,226 dann darf dies also keineswegs als Ausdruck einer echten Selbstbeschränkung oder gar als Zeichen von Bescheidenheit gedeutet werden. Wie so viele ist Ion der Auffassung, man könne von Homer schlicht alles lernen. Allein Experte für Homer zu sein, erscheint dem Ion auch „genug“, d. h. ein „zureichendes Vermögen“ (
) zu sein.227 In dem Verhältnis der „Lobredner“ zu Homer wird die Struktur des Arguments aus der Autorität deutlich: Was Homer sagt, ist wahr genau deshalb, weil Homer es ist, der er es sagt. Da er die Autorität Homers und seine universale Kompetenz vorbehaltlos anerkennt, ist es für den „Lobredner“ nur folgerichtig, diesen unerschöpflichen Fundus an theoretischem und praktischem Wissen für das eigene Leben fruchtbar zu machen. Ja, es wäre eine unerhörte Dummheit, wenn man aus diesem Potential keinen Nutzen ziehen wollte. Indem er sich auf die Autorität Homers stützt, gewinnt der „Lobredner“ seine eigene Autorität: Das allumfassende und lebenspraktisch höchst bedeutsame Wissen, über das Homer verfügt, wird zu dem Wissen des lernenden Lobredners, der seine eigenen Behauptungen nun nicht mehr als bloß eigene, sondern als die Behauptungen Homers deklarieren kann.228 Durch die Autorität seines Meisters Homer kann der „Lobredner“ auch seinen eigenen Aussagen einen Autoritätsgestus verleihen, der in sich jede Toleranz ausschließt: Da Homer um alles weiß, wird sich auch der Lobredner, der Homers Wissen „übernommen“ hat, nicht irren. Gegenüber Gesprächspartnern, die anders denken, kann
226 Vgl. 531 a 3 f., 532 b 8 – c 4, 533 c 5-8 u. ö. 227 Vgl. 531 a 3 f. 228 Vgl. Mehmel 1954, S. 30: „Ebenso wendete sich auch Platon nicht nur gegen Homer an und für sich, sondern gegen den Homer bestimmter Leute seiner Zeit, die seine Autorität auf eine nicht mehr erträgliche Art festzuhalten versuchten.“
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2. Die Theorie der Interpretation
der „Lobredner“ daher nur dogmatisch verfahren: Wer nicht die Behauptungen des „Lobredners“ teilt, verfehlt das Wissen Homers, er irrt sich notwendig! Eine kritische Untersuchung der Wahrheit einzelner Behauptungen ist obsolet: Wer recht hat und wer nicht, wird entschieden durch die Frage, wer mit Homer übereinstimmt und wer nicht.229 Kurz: Der Lobredner profitiert nicht allein von dem Wissen Homers, sondern vor allem auch von der Autorität des homerischen Wissens, die ihm gesellschaftliche Akzeptanz und Stärke garantiert. Mit den „Lobrednern Homers“ hat Sokrates also Menschen im Blick, die Autoritätsargumente nicht nur billigen, sondern aus dieser Argumentationsweise auch in hohem Maße Gewinn ziehen. Wenn ein Rhapsode wie Ion mit der Spezialität, die des Dichters durch die vielen eigenen zu ersetzen, zu den „Lobrednern“ gerechnet wird, ist zudem deutlich angezeigt, daß die Behauptungen, die von den Lobrednern als die Behauptungen Homers verkauft werden, ihren Ursprung in den Lobrednern selbst haben. Der „Lobredner“ übernimmt nicht, wie er vorgibt, das Wissen, d. h. inhaltliche Aussagen Homers, er benutzt lediglich die Autorität Homers, um die eigenen Behauptungen zu sanktionieren. Die Homers kennen seine „Lobredner“ nicht, sie kennen bloß die Mittel, wie sie die eigenen als die Homers maskieren und dadurch aufwerten können. Damit fragt sich auch, inwieweit der „Lobredner“, der sich doch vor allem selbst zu loben scheint, noch der Lobredner Homers ist. Während die „Lobredner“ in Homer den nützlichen „universalen Fachmann“ sehen, der auch seine selbsternannten Schüler zu respektgebietenden universalen Fachleuten aufsteigen läßt, kann Sokrates den nur als einen Pseudo-Techniten und Empeiristen in Bezug auf die Eristik, und d. h. in Bezug auf eine bloße und
geringachten. Wie klar sich Sokrates in seiner eigenen argumentationstheoretischen Konzeption230 gegen jede Form von Autoritätsargumenten und damit gegen die 229 Brisant wird die Situation natürlich dann, wenn sich zwei „Lobredner Homers“ gegenüberstehen, die sich beide gleichermaßen auf die Autorität Homers berufen, aber inhaltlich gerade entgegengesetzte Auffassungen vertreten (vgl. hierzu die Präsentation sich widersprechender poetischer Autoritäten im Lysis (213 d 6 – 216 b 9), siehe unten Kap. 3.2.2). 230 Sokrates’ Verurteilung von Autoritätsargumenten ist konzeptioneller Art, d. h.: Sokrates zeigt die Struktur dieser Argumentationsweise in ihrer methodologischen Angreifbarkeit auf. Daß Sokrates in seiner eigenen Gesprächs- und Argumentationspraxis durchaus von Argumenten dieser theoretisch verworfenen Art Gebrauch macht, ist nicht zu leugnen.. Vgl. Wieland 1982, S. 80: „Das im Sinne eines gemeinsamen Dienstes an der Wahrheit geführte synergistische Gespräch bleibt ein Idealbild. Es mag zur Orientierung unent-
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
127
Argumentationsweise der „Lobredner Homers“ entscheidet,231 demonstriert am schönsten der Phaidros:232 Sokrates beginnt dort seine schriftkritische Erörterung mit einem Mythos, der die Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theuth und die Beurteilung dieser Erfindung durch den Gottkönig Thamus erzählt.233 Doch soll jetzt weniger der Inhalt dieses Mythos interessieren, wichtiger ist, wie sich Sokrates und Phaidros zu dem Mythos verhalten.234 Phaidros scheint ein aufgeklärter Kritiker des traditionellen Mythos zu sein. Seine Skepsis ist wohl auf seinen Umgang mit namhaften Sophisten235 zurückzuführen, deren aufklärerische Verdienste Platon an dieser Stelle nicht wegreden, sondern als gewinnbringend und gefährlich zugleich darzustellen sucht. Auf die Erzählung des Sokrates reagiert Phaidros recht unwirsch: „Leicht erdichtest du Geschichten aus Ägypten und woher sonst du
231
232 233 234 235
behrlich sein, doch es wird in Wirklichkeit niemals erreicht. Es gibt keinen Dialogtext Platons, den man als Paradigma eines reinen Falles von synergistischer Dialogführung vorzeigen könnte.“ Hier ist allerdings hinzuzufügen, daß Sokrates im Gespräch auf eine Weise auftritt, daß man gar nicht den Eindruck erhält, er wolle das von ihm selbst proklamierte Gesprächsideal erreichen. Daher kann ich Wielands Aussage, daß „Sokrates (...) sein Gesprächsverhalten am Leitbild des synergistischen Dialogs “ (1982, S. 80), nicht zustimmen. Zwischen der Gesprächstheorie bzw. dem Gesprächsideal, das Platon Sokrates artikulieren, und der Gesprächsführung, die Platon Sokrates praktizieren läßt, bestehen unübersehbare Spannungen. Zu loben ist nach Sokrates keine mutmaßliche Autorität wie Homer oder Hesiod, sondern allein das, was sich der Sache nach als philosophische Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe auszeichnet (vgl. insbes. Rep. II 361 e 1-3, 367 c 5 – d 5, 383 a 7 – c 7 (!), III 401 e 1 – 402 a 4, IV 424 b 3 – c 6, VI 491 b 7-10, IX 582 d 15 – e 2). Vgl. Dalfen 1974, S. 246 f.: „Vom Lobenden fordert Platon Wissen vom Objekt des Lobes. (...) Indem Platon die Haltung des Philosophen gegenüber dem beschreibt, zeichnet er zugleich die Verfasser und die Adressaten von Lobschriften. Daß er an literarische Formen des Enkomions denkt, macht er durch Anspielungen auf die Topik des Enkomions klar. Lob dieser Art, der Preis von Herrschern, Adligen und Reichen, entspringt der apaideusia, der kurzsichtigen, für die richtigen Dimensionen blinden und deshalb falschen Einschätzung des Menschen und seiner Stellung in Welt und Geschichte. (...) Der Enkomiast bescheinigt den Mächtigen und Reichen, wie mächtig, edel und wie glücklich er deshalb ist, und dieser bestätigt jenem, wie sehr er ihn braucht, um seines Glückes und ewigen Ruhms gewiß zu werden. Diesem in sich geschlossenen Kreis steht Platons Philosoph allerdings fremd und verständnislos gegenüber.“ Weitere Belegstellen für die sokratische Polemik gegen das Argument aus der Autorität sind rasch zu finden, vgl. etwa Charm. 161 c 5 f., Phd. 91 b 8 – c 6, Lach. 188 e 5 – 189 b 7, Gorg. 471 e 2 – 472 b 3, 481 c 5 – 482 a 2. Phdr. 274 c 5 – 275 b 2. Phdr. 275 b 3 – c 4. In seiner Replik auf Phaidros’ Äußerung macht Sokrates recht deutlich auf die sophistische Prägung dieser „neuen“ Einstellung aufmerksam. Phdr. 275 b 7: (...) (...)
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2. Die Theorie der Interpretation
willst.“236 Der Sophistenschüler Phaidros nimmt den Inhalt des Mythos allein deshalb schon nicht ernst, weil er eben Inhalt eines Mythos ist. Gilt der Mythos den Traditionalisten unter den Athenern noch als Garant der Wahrheit, so dem Sophisten als Garant der Unwahrheit. Sokrates übt scharfe Kritik an dieser Sicht des Mythos: Phaidros solle rein auf die Wahrheit einer Aussage blicken. Wer der Redende ist und woher er kommt, das dürfe keinen Unterschied ausmachen. Sokrates’ Hinweis, daß die „Alten“ ( ) sogar auf die Reden von Bäumen – nämlich der Eichen im Zeus-Heiligtum von Dodona – gehört haben,237 will in keiner Weise die alte Autorität der Orakelsprüche rehabilitieren, die durch die Sophistik obsolet geworden ist. Entscheidend ist für Sokrates schließlich, warum die auf die Reden der Eichen gehört haben: nicht weil es die Eichen des Zeus gewesen sind, die geredet haben, sondern weil sie wahr geredet haben.238 Ob Sokrates hier die Gründe der „Alten“, den Eichen Glauben zu schenken, richtig wiedergibt, ist natürlich fraglich. Warum unterstellt Sokrates den „Alten“ ein Verhältnis zu den Orakelsprüchen, das sie in dieser Art wohl nie gehabt haben? Nun, Sokrates will durch den Bezug auf die Motivation der „Alten“ Phaidros’ sophistischem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis einen deutlichen Gegenentwurf vorhalten: In den Augen des Phaidros haben die an die Wahrheit des Mythos geglaubt und sich seiner Autorität unkritisch unterworfen, während sich die „modernen“ Sophisten in ihrer Intellektualität von dem Joch dieser traditionellen Autorität befreien konnten. Sokrates dreht den Spieß gerade um: Da die Sophisten alle Aussagen des Mythos für falsch halten, begehen sie selbst den Fehler, den sie den Traditionalisten vorwerfen. Nach den Worten des Sokrates sind es die – ideal erdachten – , die sich nicht an der aussagenden Instanz orientiert, sondern allein die Wahrheit einer Aussage geprüft haben. In der Kritik und dem Gegenentwurf des Sokrates wird deutlich, daß Phaidros aus der Sicht des Philosophen die grundsätzlich gleiche Fehlhaltung gegenüber dem Mythos einnimmt wie Traditionalisten aus der Sicht des Sophisten: Was den Traditionalisten höchste Autorität ist, ist für Phaidros eine zu verlachende Antiautorität. Charakteristisch für beide Positionen ist das Relevanzkriterium für den Wahrheitswert eines Satzes: Ob eine Behauptung wahr oder falsch ist, wird entschieden nur in Hinblick auf die aussagende Instanz.
236 Phdr. 275 b 3 f.:
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237 Vgl. Phdr. 275 b 5 – c 2. 238 Phdr. 275 b 8 – c 1: (...)
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2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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Für die Traditionalisten besitzen die Aussagen des Mythos den Rang eines argument from authority, für Phaidros dagegen den eines argument against the man. Die spezifische Leistung der sophistischen Aufklärung liegt für Sokrates in der Demaskierung einer falschen, d. i. philosophisch unverantwortlichen Autorität. Ihre Gefahr besteht nun aber darin, gerade in das gegenteilige Extrem zu verfallen und alle Aussagen einer bestimmten Instanz zu verwerfen, ohne die einzelnen Sätze auf ihren jeweiligen Gehalt und Wahrheitswert hin zu untersuchen. Das allein angemessen Verhalten gegenüber dem fragwürdig gewordenen Mythos propagiert der platonische Sokrates, wenn er als Kritiker aller Argumente aus der Autorität, sei es nun in positivem oder negativem Sinne, auftritt. Es ist signifikant, daß sich Sokrates, auch wenn er an anderen Stellen auf die „Lobredner“ Homers zu sprechen kommt, mit ihrer spezifischen Argumentationsweise auseinandersetzt. Werfen wir einen Blick auf das zweite Buch der Politeia,239 in dem Sokrates die Grundzüge seiner Theologie festlegt: Gott ist einfach und wahrhaftig, er kennt keine Verwandlung und keinen Trug. Diesen Grundzug ( ) seiner Theologie will Sokrates in dem erdachten Idealstaat als Gesetz () wirksam werden lassen, vor allem in Hinblick auf die bedeutsame Erziehung der Wächter. Doch besteht das Problem, daß sich wohl nicht alle Menschen mit dieser theologischen Aussage einverstanden erklären können. Widerstand ist insbesondere von den „Lobrednern“ Homers zu erwarten. Wenn Homer in der Ilias240 beschreibt, wie Zeus dem Agamemnon einen Traum sendet, der ihm fälschlich den Sieg in der bevorstehenden Schlacht verheißt, dann liegt dieser Schilderung implizit die Behauptung Homers zugrunde, Zeus sei zu betrügerischem Verhalten in der Lage, er sei der Wahrhaftigkeit nicht unbedingt verpflichtet.241 Sokrates versteht Homer an dieser Stelle offensichtlich als einen konkurrierenden Theologen, der Behauptungen über die Götter aufstellt, die seinen eigenen theologischen Grundzügen widersprechen. Homer wird von Sokrates „ernst“ genommen, d. h. nicht als „bloßer Dichter“ gedeutet, dem man ein freies Fabulieren und Phantasieren über göttliche Gestalten durchgehen lassen kann, da man seine Dichtungen ohnehin nur als „Spielerei“ ohne wirkliche Aussageabsicht auffaßt. Sowohl Sokrates als auch die „Lobredner“ schreiben Homer also einen Wissens- und Lehranspruch zu, der sich in zahlreichen Behauptungen inhaltlicher Art manifestiert. Doch während die „Lobredner“ diesen Wissens239 Vgl. insbes. Rep. II 382 e 8 – 383 c 7. 240 Ilias II, 1-34. 241 Vgl. hierzu auch den trügerischen Traum, den Zeus Agamemnon sendet (unten Fn. 400 auf S. 193).
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2. Die Theorie der Interpretation
und Lehranspruch bejahen, ihn sogar zur Basis ihrer gesamten Lebensführung machen wollen, bestreitet Sokrates, daß dieser Anspruch zu Recht besteht. Wenn Homer nach der Interpretation des Sokrates die Wahrhaftigkeit des Zeus leugnet, dann muß der Philosoph gegen diese theologische Behauptung streiten, er muß ihre Falschheit argumentativ nachweisen. Sokrates beschuldigt Homer jedoch keineswegs, ausschließlich falsche Behauptungen aufgestellt zu haben. Vielmehr ist Sokrates gerne bereit, wie er ausdrücklich zugibt, auch vieles an Homer zu loben – aber eben nicht alles. Kurz: Es kommt auf den Inhalt und die Richtigkeit der konkreten Behauptung an, ob Sokrates „lobt“ oder nicht, ob er zustimmt oder seine Einwilligung versagt. Das „Loben“ des Sokrates hat damit einen gänzlich anderen Charakter als das Loben der „Lobredner“ . Tritt bei den „Lobrednern“ Inhalt und Wahrheitswert der einzelnen Aussage ganz hinter die Autorität der aussagenden Instanz zurück, so proklamiert Sokrates gerade den Primat der konkreten Behauptung: Die „Lobredner“ Homers loben eine Aussage, weil sie die Aussage Homers ist. Sokrates lobt Homer dagegen nur, weil eine bestimmte Aussage, die er getroffen hat, wahr ist. Weit entfernt, Homer eine universale Autorität und eine Wahrheitsgarantie zuzuschreiben, prüft Sokrates jede einzelne Aussage, die er den homerischen Epen interpretierend entnimmt. Homer kann also im Sinne des Sokrates durchaus wahre Aussagen treffen, die zu loben sind, dies jedoch nicht, weil Homer es ist, vom dem sie stammen, sondern: weil sie wahr sind. Homer ist also nicht der Vorwurf zu machen, er hätte in seinen Werken ausschließlich falsche Aussagen getroffen; diese Kritik wäre weit überzogen, da sie Homer als eine „Antiautorität“ begreifen und damit wieder die aussagende Instanz zur Maßstab der Wahrheit der Aussage machen würde. Wer Homer nur falsche Behauptungen zuschreibt, begeht in den Augen des Sokrates den gleichen Grundfehler, der den „Lobrednern“ vorzuwerfen ist: Er blickt nicht auf den Gehalt und den Wahrheitswert der konkreten Behauptung, er fragt nicht nach dem Behaupteten, sondern allein nach dem Behauptenden. Indem Sokrates viele Behauptungen Homers zu loben bereit ist und sie in vielen Gesprächssituationen ja auch in der Tat lobt, macht er – in methodischer Hinsicht – den „Lobrednern“ gegenüber keinerlei Zugeständnisse, sondern verdeutlicht lediglich, daß er nicht demselben Fehler aufsitzt, der den sophistischen Neuerern im Phaidros nachgewiesen werden konnte. Im Symposion242 macht Sokrates unmißverständlich klar, daß das „Loben“ einer Behauptung und – dadurch vermittelt – das Loben der aussagenden Instanz stets der Wahrheit verpflichtet bleiben muß. Die Wahrheit als das Spe242 Symp. 198 c 5 – 199 b 5.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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zifikum der philosophisch geforderten Lobrede ( ) betont Sokrates, indem er sie gegenüber den konventionellen Lobreden auszeichnet: Während die übrigen Redner des Symposions, insbesondere Agathon, dem Eros so viel Schönes wie möglich angedichtet und dabei gern die Unwahrheit in Kauf genommen haben, sieht Sokrates die Aufgabe des wahren Lobredners darin, die Wahrheit über das zu Preisende in schöner Ordnung darzustellen. Dies hat zur Folge, daß „wirkliche“ Lobreden selten werden: Wer eine Sache zu loben unternimmt und nur die Wahrheit über sie sagen darf, muß damit rechnen, daß sein Lob in einen scharfen Tadel umschlägt. Zu loben ist nur noch das, was nach philosophischer Sachanalyse des Lobes würdig erscheint. Können sich die konventionellen Lobredner noch jedes Themas annehmen, so sind dem philosophischen Lobredner durch die zu lobende Sache seine Grenzen vorgegeben. So treffend Sokrates’ Kritik an den Autoritätsargumenten ist, die in dieser Kritik gründende und im Symposion vollzogene Reduktion der konventionellen „Lobreden“ auf das prosaische „die Wahrheit über eine Sache sagen“, mag dagegen bedenklich erscheinen: Eignen der „Lobrede“, die Agathon in seiner dichterischen Freiheit auf den Eros verfaßt, nicht Qualitäten, die jeder „philosophischen“ Lobrede in ihrer Wahrheitsgebundenheit notwendig fehlen müssen? Daß man von Homer alles lernen kann, ist in dem Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts eine weit verbreitete Anschauung, die allerdings auch gerne verspottet wird.243 „Lobredner Homers“, so darf man schließen, gibt es viele. Daß Platon im Ion die Auseinandersetzung der Philosophie mit der Bildungsmacht Homer literarisch gerade in einem Gespräch zwischen Sokrates und einem Rhapsoden gestaltet, ist gut verständlich: Die Rhapsoden sind zwar bei weitem nicht die einzigen, die sich der Autorität Homers unterwerfen und seine allumfassende Weisheit preisen, aber sie sind die einzigen, die aus dem Lob Homers ein Geschäft und einen Beruf machen.
2.2.3 Die praktische und die theoretische Rechtfertigung Um das Gegenbild der sophistischen Dichterauslegung besser nachzeichnen zu können, scheint es hilfreich, nicht nur die expliziten Aussagen Ions über seine Interpretationsmethodik, sondern auch seine konkreten Homer-Auslegungen zu beachten. Doch wer nach Beispielen für Ions rhapsodische Exege243 Vgl. etwa Xenophanes B 24; Heraklit B 57; Herodot II 53; Aristophanes, Frösche 1033 f.; Xenophon, Symp. IV 6.
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2. Die Theorie der Interpretation
se sucht, wird enttäuscht. Zwar drängt es Ion gleich an zwei Stellen, Proben seiner Kunst zum Besten zu geben. Allein: Sokrates weiß Ions Vorführungen beide Male rechtzeitig zu unterbinden.244 Die rhapsodische Praxis, wie sie Ion inszeniert, scheint nicht nach dem Geschmack des Dialektikers zu sein, der bezeichnenderweise die theoretische Reflexion über die Rhapsodenkunst ihrer praktischen Ausübung voranstellt: Zunächst gilt es doch, philosophisch zu prüfen, was es mit der Rhapsodenkunst auf sich hat. Erst nach ihrer Bewährung im wäre ihre praktische Ausübung gerechtfertigt. Aussagekräftig ist, auf welch unterschiedliche Weise Ion und Sokrates in diesem Zusammenhang den Begriff des „Probestücks“ ( ) gebrauchen: Während Ion dem Sokrates eine Probe seiner rhapsodischen Praxis245 geben will, verlangt Sokrates nach einer ganz anderer, nämlich theoretischer Art.246 Was unter einer zu verstehen ist, hängt ab von den Adressaten der Rede, d. i. von dem Forum, das über eine zu entscheiden, sie zu bewerten hat. Da Ions gewöhnliches Publikum aus den besteht, ist er auch in der Unterredung mit Sokrates an den Wünschen der orientiert, entsprechend verhält es sich mit der zu leistenden . Es ist bezeichnend, daß der Begriff der ganz am Anfang und ganz am Ende des Dialogs vorkommt, dem Gespräch mithin einen gewissen Rahmen verleiht.247 Wenn Sokrates das Prüfgespräch mit den Worten einleitet, Ion werde ihm sicher die seiner Kunst nicht vorenthalten, dann ist damit die philosophische Untersuchung der Rhapsodenkunst angezeigt, die von Ion die 244 Ion 530 d 9 – 531 a 2, 536 d 8 – e 2. 245 Zur sophistischen als eine dem philosophischen und dem gegenübergestellte kommunikative „Fehlform“ vgl. Dalfen 1998, insbes S. 43 f. 246 Vgl. Buchheim 1986, S. 109: „Während sich Sokrates in der Unterhaltung über sophistische Techne ihrer rationalen Berechtigung versichern will, betrachten seine sophistischen Partner fatalerweise auch dieses Gespräch als Anwendungsfall ihrer Techne, haben also keinen theoretischen Blick auf sie, sondern üben sie aus.“ – Erstaunen läßt der scheinbar selbstverständliche Primat, ja der Unbedingtheitsanspruch der theoretischen Reflexion über die spezifische Praxis (vgl. Müller 1967, insbes. S. 365): Ob einem Mensch wie Ion, der sein Leben auf die Rhapsodenkunst hin entworfen hat, sein Leben glückt, kann in keiner Weise entschieden werden durch die Berufung auf den öffentlichen Erfolg, der Ion ja nicht abgesprochen, wohl aber im Sinne eines Erfolgs bei den
entwertet wird, oder auf das eigene Gefühl von Zufriedenheit, das bei Ion sogar in höchstem Grade vorhanden ist. Das einzige Kriterium für die Frage nach gelingendem Leben ist, so suggerieren die sokratischen Gespräche, die Möglichkeit einer theoretischen Rechtfertigung. Der einzige Experte für die Frage nach gelingendem Leben ist der Spezialist für den , der Philosoph. Die Einzigartigkeit des Fachmanns führt zur Einzigartigkeit dessen, was unter seinem kritischen Blick Bestand hat: Im Sinne des Philosophen kann nur eine Lebensform zu einem „wirklichem“ Gelingen führen: die des Philosophen. 247 Ion 530 d 4 f., 541 e 1 – 542 a 3.
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theoretische Legitimierung seines Geschäfts als verlangt. Daß Ion dem Sokrates nun aber eine Vorführung rhapsodischer Praxis geben will, verdeutlicht, wie wenig Ion den Dialektiker versteht, ihn nicht von den zu unterscheiden vermag. Sokrates’ Ablehnung der angebotenen rhapsodischer Praxis entspringt seinem Interesse, das allein auf die Prüfung der theoretischen der Rhapsodenkunst gerichtet ist.248 Das gesamte Gespräch zwischen Sokrates und Ion kann gelesen werden als der vergebliche Versuch Ions, seinem Geschäft zu einer zu verhelfen und damit die Rhapsodenkunst als eine auszuweisen. Am Ende des Gesprächs stellt Sokrates als Fazit fest, daß sich Ion wie der gestaltwandlerische Meeresgott Proteus dem prüfenden Zugriff immer wieder entzogen hat, um die , die sein „Wissen über Homer“ dokumentieren soll, nicht ablegen zu müssen. In den abschließenden Worten des Sokrates wird der enge Zusammenhang zwischen der sophistischen Natur des Ion, die sich u. a. in dem ProteusVergleich und im Vorwurf des zeigt, der Unmöglichkeit einer zureichenden im und dem illegitimen Anspruch der nichtphilosophischen Rhapsodenkunst auf den Rang einer deutlich hervorgehoben: Freilich, Ion, wenn diese Behauptung wahr ist, du seist kraft Fach- und Sachwissen befähigt, Homer zu verherrlichen, dann tust du Unrecht, da du mir versprochen hast, du wüßtest vieles Schöne über Homer, und mir versichertest, du wolltest mir ein Probestück davon geben, und mich nun täuschst und weit entfernt bist, mir ein Probestück zu geben, indem du nicht einmal sagen willst, was das alles ist, worin deine Stärke liegt, obwohl ich schon lange beharrlich darauf bestehe. Vielmehr nimmst du geradezu wie Proteus vielfältige Gestalten an (...), nur damit du mir kein Probestück davon ablegen brauchst, wie stark du im Wissen über Homer bist.249
Daß wir im Ion keine Beispiele rhapsodischer Praxis finden, erscheint nun fast zwingend: Die der Rhapsodenkunst, wie Sokrates sie fordert, soll eben nicht einzelne Kostproben rhapsodischer Praxis geben, sondern die
für die Rhapsodenkunst selbst, d. i. für ihre theoretische Legitimierung sein. Über Ions rhapsodische Praxis erfahren wir vorläufig daher nur so viel, daß sie dem Dialektiker solange suspekt erscheinen muß, bis sie im legitimiert, d. h. genauer: als eine argumentativ ausgewiesen ist. 248 Vgl. Schlaffer 1982, S. 15: „Über Dichtung nachzudenken, erfordert einen räumlichen und zeitlichen Abstand von ihr, ein Davor oder Danach, aber kein Dabei.“ 249 Ion 541 e 1 – 542 a 1
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2. Die Theorie der Interpretation
Platon läßt uns über Ions rhapsodische Praxis, auch wenn er keine Proben zur Aufführung bringt, nicht völlig im Ungewissen. Um herauszufinden, was unter Ions rhapsodischer Praxis genau zu verstehen ist, hilft ein Blick auf die drei Kollegen und Konkurrenten Ions, die im Dialog namhaft gemacht werden.250 Wie verhält sich Ions rhapsodische Kunst zu der des Metrodor, des Stesimbrotos und des Glaukon? In gewisser Weise grenzt sich Ion von seinen Kollegen ab: Ion ist, wie er sich selbst versteht, natürlich ein weitaus kompetenterer Ausleger Homers. Von einer anderen Art der Auslegung aber ist keine Rede. Ion ist seinen Kollegen auf demselben Gebiet überlegen, er praktiziert dieselbe Methode der Auslegung – nur besser. Seine Siege in den Rhapsodenagonen erringt Ion nicht, weil er ganz andere Interpretationsstrategien verfolgt als seine Kollegen, sondern weil er die etablierten am besten beherrscht. Das Publikum, das der Rhapsoden mit seinem Vortrag zu begeistern und für sich einzunehmen hat, stellt das Gegenbild zu der kritischen Interpretationsgemeinschaft dar, die dem philosophischen Exegeten bei der Bewährung seiner Interpretation verhelfen soll. Wer wie Ion den Sieg in öffentlichen Rhapsodenagonen erringen will, sieht sich genötigt, der Menge – den – zu gefallen, so daß sich seine Kunst erneut als eine Form der Schmeichelei entpuppen muß. Die Auslegungspraxis von Ions Kollegen kann uns daher helfen, Rückschlüsse auf Ions eigene pseudo-technische Hermeneutik zu gewinnen. Wie oft in den Dialogen kommt auch hier das literarische Mittel der indirekten Mitteilung zum Tragen: Platon erwähnt die drei historisch bekannten Rhapsoden, um Ions Interpretationspraxis auf recht dezente Weise zu charakterisieren. Sehen wir uns also die drei genannten Kollegen etwas genauer an.
2.2.4 Die allegorische Homer-Auslegung: Metrodor von Lampsakos Der Anaxagoras-Schüler Metrodor251 darf als ein besonders bemerkenswerter Vertreter der allegorischen Homer-Deutung gelten. Die Heroen des Epos werden von Metrodor im Sinne physikalischer Begriffe, die Götter als Organe des menschlichen Körpers erklärt. Den unverzichtbaren Ausgangspunkt für seine allegorischen Interpretationen sucht und findet Metrodor in einzelnen Vergleichen, die in den Epen selbst angelegt sind: Wenn Homer etwa Achilles 250 Ion 530 c 7 – d 3. 251 Zu den Fragmenten Metrodors s. Diels / Kranz (9 1960), 61, 1-6 (II 49, 6 – 50, 6). Vgl. insbes. Tate 1929, Nestle 1948, Müller 1967, insbes. S. 101-106, und Gatzemeier 1985.
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im 19. Gesang der Ilias252 mit dem strahlenden Hyperion vergleicht, so sieht Metrodor hier ein deutliches Signal für die , die tiefere, die „eigentliche“ Bedeutung des Heroen: Achilles ist nicht nur wie die Sonne, Achilles ist die Sonne. Sein trojanischer Gegenspieler Hektor, „der vor dem Glanz der ‚aufgehenden Sonne‘ erbleicht und entschwindet“253 , wird mit dem Mond identifiziert. Metrodor behält die Relationen, in denen Achilles seiner Oberflächenbedeutung nach steht – der überlegene Antipode Hektors zu sein – bei, überträgt diese Relation auf seine Tiefenbedeutung – die Sonne – und entdeckt nun in dem unterlegenen Antipoden der Sonne die Tiefenbedeutung Hektors: den Mond. Jeglichen Rückbezug auf die Ilias kann man Metrodor daher nicht abstreiten. Um seine Methode anwenden zu können, benötigt der allegorische Hermeneut aus dem Text immerhin den Hinweis, was unter der „tieferen Bedeutung“ Achilles’ zu verstehen ist; zudem muß er die Verhältnisse, in denen Achilles steht, aus dem Text gewinnen. Kurz: Metrodor ersetzt alle Relata (Achilles durch die Sonne, Hektor durch den Mond), bewahrt aber die Relation (Antipode sein). Sobald die eines Zeichens und die Relationen dieses Zeichens bekannt sind, kann Metrodor das gesamte System, das die vor Troja kämpfenden Heroen bilden, dem „physikalischen“ System analog setzen. Dann erscheint es auch nur noch als konsequent, daß Agamemnon nichts anderes ist als der Äther: In der Ilias wird Agamemnon gerne als der „weithin Herrschende“ ( ) und als der Hirte der Völker ( ) bezeichnet, der das griechische Heer mit seiner Befehlsgewalt durchdringt und die verschiedenen Kriegshaufen ordnet. Agamemnon ist nicht so sehr selbst Akteur im Kriegsgeschehen – seine Taten im Kampf treten weit hinter die des Achilles, des Aias und des Diomedes zurück, seine Taten im Rat reichen nicht an die des Nestor und des Odysseus heran – sondern eher die Kraft hinter allen Aktionen. Damit spielt Agamemnon vor Troja eben die Rolle, die im „physikalischen System“ einiger ionischer Naturphilosophen dem Äther zukommt: das Allesdurchdringende, das Allesgebietende, das Allesordnende zu sein.254
252 Ilias XIX 396 f.: „ | ! " #$ %& '“ — „(...) und hinter ihm stieg auf, gerüstet, Achilleus, | In Waffen hell leuchtend wie der strahlende Hyperion.“ Die deutschen Zitate aus der Ilias stammen aus der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt (in Schadewaldt 4 1997). Die griechischen Zitate sind der von Viktor Stegeman und Hansjörg Höhne bearbeiteten Textfassung entnommen (in Rupé 1994). 253 Nestle 1948, S. 167 254 Vgl. Empedokles B 135, B 134, 4 f und Anaxagoras B 1, B 2; Bereits bei Hesiod kann man die alles durchdringende und gebietende Macht des Äthers angedeutet sehen, wenn Zeus gerade in einem Akt der Gesetzgebung (gemeint ist die Einrichtung der „höheren“
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2. Die Theorie der Interpretation
Wie konsequent Metrodor in der Analogisierung von Analogien verfährt und so die korrespondierende funktionelle Binnenstruktur zweier Systeme darlegt, zeigt auch seine physiologische Allegorese, die den „Tiefensinn“, die ,255 der Götter des olympischen Pantheons in den Organen des menschlichem Körper aufzuspüren weiß. Gilt Apollon in der Ilias als derjenige Gott, der die Pestpfeile in das Lager der Griechen schickt256 , so nimmt Metrodor diese Funktion des Gottes auf, um ihn mit der Galle zu identifizieren, die in der Schule des Anaxagoras als die Ursache akuter Krankheiten gilt. Wieder werden die Relationen und Funktionen der Oberflächenbedeutung Apollons erhalten, während die Relationsstelle selbst ausgetauscht wird: Wenn Homer von Apollon als dem Bringer der Pest spricht, dann meint er „eigentlich“ die Galle, die, wie wir ja wissen, in Wirklichkeit die Pest bringt. Das letzte Beispiel veranschaulicht, mit welcher Motivation Metrodor seine Homer-Allegorese betreibt. Auf die Frage, wer für die Pest verantwortlich ist, haben Homer und die Naturphilosophie der Anaxagoras-Schule zunächst zwei disparate Antworten: Nach dem Dichter gilt Apollon, im Sinne der Naturphilosophen die Galle als die Ursache der Pest. Indem Metrodor die von „Apollon“ in der Galle sieht, geht die Konkurrenz, die zwischen beiden Antworten herrscht, verloren. Metrodors Strategie ist äußerst simpel und erscheint gerade deshalb so erfolgversprechend: Man muß nur lange genug nach dem „Tiefensinn“ der homerischen Epen suchen, dann erkennt man schon, daß Homer genau das meint, was auch die Position der zeitgenössischen Naturphilosophie257 ist. Der „Tiefensinn“ der homerischen Epen ist Metrodor daher bekannt, noch ehe er in den Text gesehen hat. Homer sagt im Grunde nur das, was auch die Naturphilosophen behaupten. In den homerischen Epen geht Metrodor auf Spurensuche, um brauchbare Anhaltspunkte für eine Allegorese zu finden, die auf die Diskrepanzen zwischen der Naturphilosophie und der „Oberflächenbedeutung“ der Epen harmonisierend wirkt. In diesem Zusammenhang spricht Wilhelm Nestle daher zu Recht zum Agon anstachelnden Eris unter den Menschen) als der benannt wird, dessen Heimat der Äther ist (Hesiod, Werke und Tage 17-20). 255 Zum Verhältnis der , die in allegorischen und sophistischen Auslegungen eine zentrale Rolle spielt, und der , deren interpretative Erarbeitung Sokrates in seinem Idealentwurf einer Auslegungskunst fordert, vgl. Flashar 1958, S. 31: „Wenn Platon statt für die gleiche Sache das Wort wählt, bedeutet dies, daß die der angebliche Gehalt ist, den die Sophisten suchen, während durch der eine, wirkliche, authentische Gehalt des dichterischen Wortes ausgedrückt ist.“ 256 Ilias I 10, 43 ff, 61; vgl. Thukydides II 54, 4. 257 Neben den naturphilosophischen Allegoresen sind auch die pythagoreischen Mythenauslegungen zu erwähnen, in denen etwa bestimmte Götter als bestimmte Zahlen gedeutet werden.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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von einer „doppelte apologetische Tendenz“:258 Metrodor nimmt einerseits die Autorität Homers vor den naturphilosophischen Angriffen259 in Schutz und zeigt andererseits, daß die Naturphilosophie von traditionalistischer Seite nicht als Gefahr betrachtet und bekämpft werden muß. Ganz in diesem Sinne urteilt auch Matthias Gatzemeier: „Die Intention dieser Allegorese ist nicht nur die ‚Rettung Homers‘, sondern auch und (vor allem) die ‚Rettung‘ der Philosophie; beide Anliegen versucht Metrodor dadurch zu verwirklichen, daß er die Epen Homers in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Naturphilosophie bringt.“260 Es bleibt jedoch die Frage, inwieweit Metrodors doppelte Apologie gelingt: In den internen Auseinandersetzungen der Anaxagoras-Schule mag Metrodors Versuch, die konkurrierenden Positionen zu versöhnen, Erfolg gehabt haben. Der platonische Sokrates dagegen kann sich mit der Dichter-Apologie
258 Nestle 1948, S. 165. Gegen eine Reduzierung der Allegorese auf ihre apologetische Funktion wendet sich Tate, indem er ihren heuristischen Wert für die philosophische Wahrheitssuche hervorhebt: „Thus allegory was originally positive, not negative, in its aim; its purpose was not so much to defend the poetic traditions against charges of immorality as to make fully explicit the wealth of doctrine which ex hypothesi the myths contained.“ (Tate 1929, S. 142). 259 Als Begründer einer Homer-Kritik, die wissenschaftstheoretisch motiviert ist, darf Hekataios von Milet (ca. 560 / 50 – 480 v. Chr.) gelten. Während Xenophanes’ (vgl. insbes. die Fragmente B 10, B 11, B 12) und Heraklits (vgl. insbes. die Fragmente A 23, B 40, B 42, B 57) Angriffe gegen die Dichtung Homers und Hesiods vorrangig auf moralische, pädagogische, ethische und theologische Fragen zielten (vgl. Mehmel 1954, S. 21-23), unterzog Hekataios die vorgefundenen Mythen und die allegorische Homer-Auslegung des Theagenes von Rhegion einer methodologischen Kritik, die den Wahrheitsanspruch von Aussagen an strenge Rechtfertigungspflicht binden wollte. 260 Gatzemeier 1985, S. 39. – Die apologetische Intention der allegorischen Dichterauslegung sieht Heinz Schlaffer auch bei der attischen Tragödie und im Rahmen der Poetik am Werk. Vgl. Schlaffer 1990, S. 68: Die „allegorische Homerdeutung (...) hinter dem anstößigen Wortlaut der Göttergeschichten einen tieferen, mit dem neuen philosophischen Wissen verträglichen Sinn zu begreifen (...). Was Anaxagoras in den homerischen Epen sehen wollte: Bilder der Tugend und Gerechtigkeit, das hat erst die dramatische Behandlung des Mythos verwirklicht. (...) Das Epos erzählt Mythen, die Tragödie interpretiert Mythen. Dem Vorwurf, daß die Dichter lügen, können die Tragiker entgegnen, daß sie das Lügnerische an den Mythen wohl kennen, es aber als bloße Einkleidung für solche Wahrheiten nehmen, die auch ein ernstes Thema der Philosophie sind. Das Wesentliche der Tragödie stünde demnach jenseits der Fiktionen, denen sich ihre äußere Gestalt anbequemt hat.“ Schlaffer 1982, S. 82: „Poetik ist immer Entschuldigung. Sie verteidigt Poesie gegen die ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorwürfe, daß sie philosophisch unzulänglich, moralisch bedenklich und kulturell anachronistisch sei. (...) Den Gegnern gilt das Fiktive an ihr als sicherstes Indiz des Falschen; die Apologeten müssen daher die Fiktion zur harmlosen Einkleidung des Wahren, Guten und Ewigen umdeuten.“
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2. Die Theorie der Interpretation
der Allegoriker nicht begnügen, wie im zweiten Buch der Politeia261 klar akzentuiert wird: Sokrates verbietet dort alle Mythen, die Streitigkeiten der Götter beschreiben. Daß Götter mit Göttern Krieg führen, ist für Sokrates nicht nur eine unwahre theologische Behauptung. Bedeutsam sind vor allem die politischen Konsequenzen, die sich aus solchen Darstellungen ergeben: Wenn Streitigkeiten innerhalb der Bürgerschaft der Polis unbedingt zu vermeiden sind, dann ist es nicht ratsam, die Götter, deren Vorbildcharakter Sokrates stets mitbedenkt, als untereinander zerstritten zu popularisieren. Politisch brisant werden diese Darstellungen wegen ihrer großen Verbreitung: Zwar sind die Dichter und Maler die Hauptschuldigen an der Propagierung von falschen und schädlichen Gottesvorstellungen. Aber auch die in der Kindererziehung so wichtigen Großeltern und Ammen erzählen gerne von Gigantenschlachten u. ä. Da die schädlichen Wirkungen, die von diesen Dichtungen ausgehen, vor allem die jungen Menschen bedrohen, hält Sokrates als Gesetz fest: Diese sind nicht zuzulassen in unserer Polis, mag nun ein verborgener Sinn ( ) darunterstecken oder auch keiner. Denn der Jüngling ist nicht imstande zu unterscheiden, was dieser verborgene Sinn ist und was nicht; aber was er in diesen Jahren in seine Vorstellung aufnimmt, das pflegt schwer auszuwaschen und umzuändern zu sein.262
Ob hinter der Oberflächenbedeutung der Dichtungen noch ein verborgener „Tiefensinn“ liegt oder nicht, ist Sokrates recht gleichgültig. Die gefährliche Wirkung der Dichtung entfaltet sich nämlich selbst dann, wenn es eine gibt, deren Inhalt philosophisch legitim ist: Die zu entdecken und den Text auf eine „ungefährliche“ Weise zu rezipieren, verlangt eine eigene Interpretationsleistung, zu der nicht alle Leser in der Lage sind, so daß eine Bedrohung gerade der unerfahrenen Leser durch den Text nicht ausgeschlossen werden kann.263 Wenn Sokrates in seinen Angriffen auf die Dichter hier vor allem die Wirkung der Dichtung auf die Rezipienten im Blick hat, dann genügt der Hinweis allegorischer Homer-Ausleger auf die nur schwer zu entdeckende Tiefenbedeutung nicht. Auch wenn Homer etwas ganz anderes mit seinen Epen gemeint und gewollt haben sollte: die Gefahr, die von der 261 Zu Platons Kritik an der allegorischen Homer-Auslegung vgl. auch Tate 1929, Mehmel 1954 (insbes. S. 31-33), Tulli 1987, Erler 1992 und Büttner 2000 (insbes. S. 147 f.). 262 Rep. II 378 d 5 – e 1. 263 Vgl. Tate 1929, S. 146: „For the young judgment cannot distinguish the allegorical sense from the meaning which lies on the surface so as to accept the former and reject the latter. ‚The young cannot discriminate between what is allegory and what is not.‘ (...) It does not matter whether or not the ‚undersenses’ exist, or wheter they are or are not true; the child cannot grasp them (...)“
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Oberflächenbedeutung ausgeht, bleibt. Mit der Entdeckung der Tiefen- ist die Oberflächenbedeutung ja keineswegs verschwunden, die Möglichkeit des Rezipienten, sich nur auf diese zu beschränken, ist nach wie vor da. Das Gefahrenpotential der Dichtung wird nicht entschärft, weil man die Dichtung auch „zum Guten“ verwenden, d. i. allegorisch deuten und „philosophisch korrekt“ werden lassen kann. Die Gefahr, daß die nicht berücksichtigt und der Text „zum Schlechten“ ausgelegt wird, bleibt bestehen. Sokrates muß daher in der Auseinandersetzung mit den Allegorikern gar nicht die Existenz einer des Textes bestreiten, er kann Apologeten wie Metrodor gerne zugestehen, daß Homer etwa mit dem Kampf zwischen den Göttern „eigentlich“ das agonale Verhältnis der Elemente zum Ausdruck will. Doch entscheidend ist für Sokrates, daß wohl kaum ein Rezipient diese erkennen wird – es sei denn, der Rezipient weiß, wie Metrodor, schon vor der Lektüre, was er im Text aufzufinden hat.264 Weil auch eine tatsächlich vorhandene nicht zu garantieren vermag, daß der Text keine philosophisch und d. h. hier vor allem politisch nachteiligen Folgen hat, erscheint in den Augen des Sokrates das radikale Verbot von „jugendgefährdenden Schriften“ wie Hesiods Theogonie oder Homers Ilias ganz konsequent. Prüfen wir nun, wie die allegorische Methode der Interpretation vor dem Hintergrund der ideal erdachten Rhapsodenkunst des Sokrates aussehen muß. Der Allegoriker tritt mit dem erklärten Anspruch auf, die des Textes zu kennen und zu vermitteln. Zwischen einer Textintention (intentio operis) und einer Autorintention (intentio auctoris) wird hierbei nicht geschieden: Seinem eigenen Selbstverständnis nach besitzt der Allegoriker ein privilegiertes Wissen darum, was der Text „eigentlich“ besagt, und damit zugleich ein Wissen um das, was der Autor „eigentlich“ intendiert. Der ideale Rhapsode des Sokrates und der Allegoriker sind also scheinbar der gleichen Instanz verpflichtet: der des Dichters. Allein: Während der sokratische Hermeneut die poetische in mühsamer Interpretationsarbeit aus dem Text erschließen und seine Interpretation vor dem kritischen Publikum bewähren muß, legt der Allegoriker die Grundzüge der poetischen schon vor jeder Lektüre fest: Der Dichter darf nur das intendieren, was sich mit den Behauptungen der Naturphilosophie verträglich zeigt. Durch sein harmonisierendes Auslegungsinteresse sind dem Allegoriker in seinen Deutungen klare Grenzen gesteckt. Grenzen, die jedoch nicht durch den Text, sondern allein 264 Das kritische Verhältnis Platons zur allegorischen Homer-Auslegung kann auch durch die Etymologien des Kratylos (vgl. insbes. 391 a 4 – 396 d 1) belegt werden, die auf karikierende Weise die allegorische Interpretationsmethode imitieren und dabei deren Willkür deutlich werden lassen.
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2. Die Theorie der Interpretation
durch „außertextuelle“ Vorentscheidungen bestimmt sind. Damit wird klar, daß der Allegoriker in Wirklichkeit gerade nicht nach der des Dichters bzw. nach der des Textes sucht. Was der Dichter meint und der Text besagt, schreibt der Allegoriker dem Dichter und dem Text vor. Die vom Allegoriker in Anspruch genommene des Textes entlarvt sich somit als die eigene des Allegorikers. Terminologisch gefaßt: Obgleich sich der Allegoriker auf die intentio auctoris beruft, die es hier mit der intentio operis zusammenzudenken gilt, praktiziert er in seiner Methodik die Absolutsetzung seiner intentio lectoris. Der Text wird von dem Allegoriker damit nicht nur „überinterpretiert“, in dem Sinn, daß ihm ein „Zuviel“ an unterstellt wird. Die , die der Allegoriker zur Schau stellt, ist dem Text auch „fremd“, sie wird ihm vom Interpreten gewaltsam aufgezwungen.265 Wenn Ion sich mit Metrodor vergleicht, so liegt zunächst die Vermutung nahe, daß Platon mit diesem indirekten literarischen Hinweis Ions HomerVorführungen als allegorische Exegesen zu verstehen geben will. Interessanterweise sind die beiden anderen Kollegen Ions, wie nun zu zeigen ist, allerdings keine Allegoriker.
2.2.5 Die reine Rezitation: Stesimbrotos von Thasos In Xenophons Symposion vertreiben sich die Symposiasten ihre Zeit mit diversen intellektuellen Unterhaltungsspielen. So soll etwa jeder Teilnehmer an-
265 Die kritische Haltung gegenüber der allegorischen Interpretationsmethode teilt der platonische Sokrates mit dem Rhetor Isokrates, der in seinem Panathenaikos eine eigene Rede (zur Übersetzung von Isokrates’ Ausdruck „ “ mit „Rede“ vgl. Kröner 1969, S. 105 f.) durch die literarische Figur eines Spartafreundes auf allegorische Weise auslegen läßt (vgl. Panathenaikos §§ 235-263). Der „Spartafreund <überträgt> also auf die Prosa, was die Herdensophisten bei der Dichtung vorführen: eine Interpretation, die mit Hilfe von huponoia auf den Sinn (dianoia) des Textes abzielt (...) Isokrates kann eine solche Interpretationsweise nicht gutheißen (...)“ (Erler 1992, S. 128; vgl. auch Schäublin 1982, insbes. S. 176 f. und Kröner 1969, insbes. S. 118) Die Einigkeit von Sokrates und Isokrates hinsichtlich der Ablehnung der Allegorese darf nicht die grundsätzlichen Differenzen zwischen ihren hermeneutischen Positionen überspielen: Besteht Sokrates auf der Notwendigkeit der Interpretation, so favorisiert Isokrates den Gedanken, daß „eine Rede, wie sie sein soll, doch gar nicht interpretiert zu werden “ (Schäublin 1982, S. 173). Laufen Sokrates’ Überlegungen zu Dichter- und Schriftauslegung letztlich auf die Unmöglichkeit einer legitimen Interpretation von Dichtung / Schrift im Falle der Abwesenheit von Dichter / Autor hinaus, so besteht Isokrates auf der prinzipiellen Autarkie und Verständlichkeit schriftlicher , denn „bei sorgfältiger Lektüre erschließt sich der Sinn aus dem Text selbst.“ (Erler 1992, S. 129)
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geben, auf welche Eigenschaft er besonders stolz ist.266 Der junge Nikeratos hält viel von seinen früh erworbenen Homer-Kenntnissen: Sein Vater, der aus ihm einen „rechten Mann“ machen wollte, ließ ihn sämtliche Verse Homers auswendig lernen, so daß er auch als Erwachsener noch die gesamte Ilias und Odyssee frei vortragen kann. Der Vater des Nikeratos scheint damit zu den Menschen zu gehören, die Sokrates als die „Lobredner Homers“ bezeichnet, teilt er doch die Auffassung, daß man von Homer schlicht alles lernen und auf diese Weise zu der richtigen Lebensführung gelangen könne. Der skeptische Antisthenes scheint dagegen von Nikeratos’ Vermögen nicht sehr beeindruckt: Schließlich sind ja auch die Rhapsoden in der Lage, die Verse Homers zu beherrschen,267 und ein einfältigeres Volk als die Rhapsoden ist keinem der Gesprächsteilnehmer bekannt. Sokrates nimmt Antisthenes’ Kritik an den Rhapsoden zustimmend auf und bringt sie auf den Begriff: Die Rhapsoden kennen den tieferen Sinn, die der Verse nicht!268 Die Fähigkeit der Rhapsoden ist damit charakterisiert als eine bloß mnemotechnische: von einer „tieferen Einsicht“ in den Text keine Spur.269 Nikeratos, der seine HomerKenntnisse mühsam von den Rhapsoden gelernt und dafür auch noch viel Geld bezahlt hat, muß sich daher den Spott des Sokrates gefallen lassen, ein Vermögen für „Kostbarkeiten“ ausgegeben zu haben, die in den Augen des Philosophen gar keine sind. Einer der bekannten Rhapsodenmeister, bei denen Nikeratos in die Schule ging, ist Stesimbrotos. Das Bild, das Xenophon im Symposion von ihm zeichnet, wird von der Ansicht des platonischen Sokrates nicht weit entfernt sein. Aus dem Konsens der Symposiasten, die aus recht unterschiedlichen Teilen der Athener Gesellschaft kommen, geht jedenfalls hervor, daß die Geringschätzung der Rhapsoden weit verbreitet war. Nach der öffentlichen Meinung können Rhapsoden wie Stesimbrotos zwar ihren Homer auswendig, aber sie verstehen ihn nicht, haben keinen Einblick in die des Textes. Obgleich sich weder Metrodor noch Stesimbrotos auf die von Sokrates geforderte 266 Zum folgenden vgl. insbes. Symp. III 5-6. – Zum Verhältnis von Xenophons Symposion und Platons Ion vgl. Flashar 1958, S. 24 f. 267 Symp. III 6: (...) . (Hervorhebung im Zitat von H. W.) (Die griechischen Zitate aus Xenophons Symposion sind der Edition von Marchant 2 1921 entnommen. Eine deutsche Übersetzung bietet Stärk 1986.) 268 Symp. III 6: (...) . (Hervorhebung im Zitat von H. W.) Xenophon verwendet hier, wie der Vergleich mit dem obigen Zitat zeigt, einen Chiasmus, um das kleine Vermögen und das große Unvermögen der Rhapsoden treffend zu kennzeichnen: Die Rhapsoden kennen die Verse, den Sinn kennen sie nicht. 269 Xenophons Kritik, daß die Rhapsoden alle Dichtungen auswendig können und sie doch nicht verstehen, findet sich auch in den Memorabilien (IV 2, 8-10).
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2. Die Theorie der Interpretation
Suche nach der intentio auctoris begeben, unterscheiden sich ihre rhapsodischen Praktiken in allen anderen Punkten doch sehr: Während sich Metrodor einer Form der „Überinterpretation“ der Texte schuldig macht, d. h. die eigene intentio dem Text zu Unrecht als unterstellt, kümmert sich Stesimbrotos erst gar nicht um eine mögliche des Textes, ihm genügt die äußere Form, der bloße Wortlaut. Kurz: Muß man bei Metrodor ein „Zuviel“ an diagnostizieren, so bei Stesimbrotos ein „Zuwenig“. Metrodor interpretiert die Epen Homers zu frei, Stesimbrotos gar nicht. Gewagte allegorische Deutungen sind von Stesimbrotos nicht zu erwarten, sein Geschäft gilt, wie es scheint, allein der Rezitation der Texte. Daß damit schon eine erste Form der Interpretation geleistet ist, wird bei Xenophon nicht bedacht, kommt es ihm doch vorrangig auf die Gegenüberstellung von äußerer Form und tieferem Sinn der Texte an. Unter der Voraussetzung, daß sich Sokrates’ und Xenophons Stellung zu Rhapsoden wie Stesimbrotos weitgehend entsprechen, ist daher festzuhalten, daß Platon Ion mit zwei recht unterschiedlichen Vertretern der Rhapsodenkunst in Verbindung bringt, die sich nur in ihrer je spezifischen Mißachtung der intentio auctoris einig sind. Warum rechnet Platon Ion nicht einfach ganz den Allegorikern oder ganz den Rezitatoren zu?
2.2.6 Eine rhapsodische Theorie der Rhapsodenkunst: Glaukon Im dritten Buch seiner Rhetorik behandelt Aristoteles die , die sprachliche Form der Rede, „denn es genügt zu wissen, was man sagen muß, sondern es ist auch notwendig zu wissen, wie man dies sagen muß.“270 Anweisungen für den richtigen, d. h. überzeugenden mündlichen Vortrag sind, so führt Aristoteles aus, erst spät in die tragische und rhapsodische Vortragskunst hineingekommen. Den Grund für diese späte Theoretisierung und Pädagogisierung der Vortragskunst sieht Aristoteles in dem Umstand, daß die Dichter ihre Werke anfangs selbst zur Aufführung gebracht haben. Die frühen Dichter hatten anscheinend für die theoretische Reflexion ihrer Vortragsweise wenig Interesse. Vielleicht ist Aristoteles hier auch so zu verstehen, daß die Dichter, wenn sie ihre eigenen Werke darstellen konnten,271 ohnehin „überzeugend“ 270 Aristoteles, Rhetorik III 1 1403 b 15 f.: (...) 271 Vgl. Blume 3 1991, S. 36: „Seit alters her haben in Athen die Dichter ihre Stücke persönlich einstudiert, so wie diese ursprünglich auch die Funktionen des Choregen selbst versehen hatten. Bei den Tragikern gibt es unseres Wissens keine Ausnahme von der Regel, der zufolge ein Dichter immer zugleich ein Mann der Theaterpraxis war.“ Vgl. auch die
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zu wirken vermochten, so daß sie eine Reflexion über die , die und die der Rede gar nicht nötig hatten. In unserem Zusammenhang ist nun wichtig, daß Aristoteles einen einzigen Theoretiker nennt, der sich schon vor ihm mit der tragischen und rhapsodischen Vortragskunst befaßt und damit einen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich erschlossen hat, der – aristotelisch gedacht – sowohl der Rhetorik als auch der Poetik zuzurechnen ist. Dieser Theoretiker ist Glaukon aus Teos, den Platon als den dritten Kollegen Ions anführt.272 In seiner Poetik diskutiert Aristoteles verschiedene Strategien zur Lösung hermeneutischer Probleme.273 So muß man etwa, wenn ein Begriff prima facie Widersinniges auszudrücken scheint, genau prüfen, wie viele Bedeutungen der Begriff in diesem Kontext haben kann, um so den Widersinn aufzulösen. Völlig verfehlt wäre dagegen eine andere, den Widersinn selbst erzeugende Interpretationsstrategie, nämlich von einer unsinnigen Voraussetzung auszugehen, d. i. eine völlig unplausible Begriffsverwendung anzunehmen, aus dieser Voraussetzung Schlüsse zu ziehen und den Dichtern wegen „ihren“ Meinungen Vorwürfe zu machen. Aristoteles unterzieht hier eine bestimmte hermeneutische Methode, die offenbar bei dichtungsfeindlichen Interpreten in Gebrauch war, einer strengen Kritik. Neu ist die aristotelische Kritik allerdings nicht: Aristoteles begibt sich hier, wie er selbst hervorhebt, in die Nachfolge Glaukons, der die Dichter mit dieser Argumentation vor ihren böswilligen Interpreten in Schutz zu nehmen versucht hat. Aristoteles referiert Glaukons Verteidigung und stimmt ihr zu. Das apologetische Interesse, das Glaukon verfolgt, kennen wir bereits von Metrodor: Es gilt der Autorität der Dichter, die durch die zahlreichen Stimmen der Dichterkritik gefährdet ist. Die Wege, auf denen die Rettung versucht wird, sind allerdings verschieden: Während Metrodor Homer auf eine Weise interpretiert, die das Konfliktpotential, das zwischen naturphilosophischen und mythischen Gedanken besteht, entschärfen will, strebt Glaukon nicht nach Vermittlung, sondern nach Konfrontation. Die Kritiker nehmen, so lautet sein Vorwurf, die Dichter nicht in ihrer Stärke. Sie unterstellen den Dichtern angreifbare Positionen. Positionen, deren Ursprung aber nicht im Dichter, sondern allein in dem fehldeutenden Interpreten zu suchen ist. kritische Sicht des Aristoteles auf die zeitgenössischen Schauspieler und Aufführungspraxis (oben Fn. 214 auf S. 121). „Im 6. Jh. waren Dichter und Schauspieler identisch; erst seit Aischylos muß es Leute gegeben haben, die nur Schauspieler waren.“ (Blume 3 1991, S. 78) 272 Vgl. Rhetorik III 1 1403 b 24-26. 273 Aristoteles, Poetik 1461 a 33 – b 9.
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2. Die Theorie der Interpretation
Zwar ist nicht sicher, ob der Glaukon, von dem Aristoteles in der Poetik spricht, mit dem in der Rhetorik vorgestellten Glaukon von Teos identisch ist, doch liegt eine entsprechende Annahme nahe. Jedenfalls haben wir es in beiden Fällen mit einem Theoretiker zu tun, dem Aristoteles mit einer gewissen Hochachtung gegenübersteht. Dieser Theoretiker hat sich als Fachmann für die mündliche Vortragskunst von Epen und Tragödien einen Namen gemacht, er steht in einem wohlwollenden Verhältnis zu den Dichtern, deren schwindendem Einfluß er mit einer offensiven Apologie begegnet. Um sein Ziel zu erreichen, hat er methodologische Regeln für die Interpretationen von Dichtung aufgestellt, die zumindest die Falsifizierung von Fehlinterpretationen ermöglichen sollen. Glaukon ist ein Theoretiker der Rhapsodenkunst, dessen Reflexionsfähigkeit die seiner „Mitrhapsoden“ Metrodor und Stesimbrotos bei weitem übersteigt. So kann aus den vorliegenden Quellen bezeichnenderweise auch kein Hinweis gewonnen werden, ob sich Glaukon neben seiner theoretisch-reflektierenden Tätigkeit auch noch mit konkreter Dichterexegese allegorischer oder rezitatorischer Art befaßt hat. Das Problem, warum Platon Ion nicht einer bestimmten rhapsodischen Richtung zuordnet, hat sich verschärft: Vorausgesetzt, daß Ion in der Tat auf den Glaukon anspielt, den wir in der aristotelischen Poetik und Rhetorik erwähnt finden, dann sind neben die Allegoriker und die Rezitatoren mit den Theoretikern eine weitere Rhapsodengruppe getreten. Warum vergleicht sich Ion mit drei Kollegen, die ihr Fach auf so disparate Weise ausüben, daß fragwürdig wirkt, ob sie überhaupt dasselbe Fach ausüben? Daß Ion alle drei Methoden praktiziert, ist nicht möglich; man kann nicht zugleich bloßer Rezitator und Allegoriker sein. Wir haben allerdings auch keine Anhaltspunkte, Ion klar einer der drei Gruppen zuzuordnen. Ist seine Praxis vielleicht doch von einer ganz anderen Art? Ich denke, das ist sie nicht. Mit den drei Kollegen Ions will Platon das ganze Spektrum der zeitgenössischen Rhapsodenkunst ansprechen: Von der allegorischen Homer-Auslegung über die reine Rezitation der Texte bis hin zur systematisch-reflektierenden Theorie ist alles vertreten. Wenn Platon Ion auf drei so unterschiedliche Vertreter der Rhapsodenkunst Bezug nehmen läßt, dann wird klar, daß hier die Rhapsodenkunst als ganze im Blick steht. Platon läßt Sokrates die Auseinandersetzung nicht allein mit den Allegorikern führen, sondern auch mit den Rezitatoren und den Theoretikern.274 Da die internen Unterschiede, die im Bereich der Rhapsodenkunst vorhanden sind, durch die Anspielung auf verschiedene Rhapsodentypen zwar 274 Zum Versuch, die Reichweite der Kritik auf die allegorische Auslegung einzuschränken, vgl. etwa Müller 1967, insbes. S. 101.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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angedeutet, aber in den theoretischen Ausführungen des außer acht gelassen werden, ist erneut die Grundsätzlichkeit der Thematik betont: Ion steht für alle möglichen „Spielarten“ der sophistisch indizierten Rhapsodenkunst, Sokrates dagegen für die eine philosophische Dialektik.275 Kurz: Was uns Platon im Ion vorführt, ist nichts anderes als der Schaukampf zwischen der von Sokrates vertretenen Philosophie und der schon in sich zerrissen erscheinenden Rhapsodenkunst. Zwar gibt es ein Gemeinsames, das Rezitatoren, Allegoriker und Theoretiker als Vertreter derselben erscheinen läßt: das völlige Desinteresse der Rhapsoden an der des Dichters. Es ist jedoch signifikant, daß dies gemeinsame Kennzeichen aller Rhapsoden als das klare Unterscheidungsmerkmal gegenüber der philosophisch geforderten Auslegungskunst fungiert und damit rein negativ konnotiert ist. Gewinnt die von Sokrates skizzierte philosophische Auslegungskunst in der des Dichters ihren Halt, so ist es eben dieser Halt, der den vielfältigen Formen der konventionellen Rhapsodenkunst fehlt. So sehr sich Allegoriker, Rezitatoren und Theoretiker auch voneinander unterscheiden mögen, geeint sind die doch durch den Mangel an dem, was die von Sokrates proklamierte Interpretationskunst auszeichnet und sie erst zur werden läßt. In der Konfrontation von philosophischem Interpret und sophistischem Rhapsode treffen zwei grundlegend divergente Methoden der Textauslegung aufeinander: die Orientierung an der intentio auctoris und die Absolutsetzung der intentio lectoris, die sich zwar auf die intentio auctoris berufen mag, sie aber realiter völlig mißachtet.
2.2.7 Die theoretische Unzulänglichkeit der nicht -gemäßen Interpretation Der sophistische Rhapsode beruft sich nicht wie der Enthusiast, den wir gleich betrachten werden, auf eine göttliche Kraft, sondern auf ein eigenes menschliches Vermögen, auf eine . Obgleich Sokrates das Gespräch mit Ion auch dazu nutzt, das Konzept des enthusiastischen Rhapsoden in seiner Problematik aufzuzeigen, konzentriert sich der im Dialog inszenierte 275 Egert Pöhlmann (1976, S. 197) hält die „Aufzählung des Ion“ für „so unspezifisch, daß sie für die Ausrichtung der Homer-Interpretation des Rhapsoden Ion nichts beweist. Ion beansprucht hier lediglich (530 c).“ M. E. gilt es jedoch, darüber hinaus nach der Intention Platons zu fragen: Warum spezifiziert Platon die Interpretationsmethode Ions nicht genauer? Weil dann eben nur ein Teil der zeitgenössischen Homer-Auslegung im Blickfeld der sokratischen Kritik stünde. Die Absicht Platons aber ist es, alle Arten konventioneller Dichterinterpretation in ihrer Angreifbarkeit vorzuführen.
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2. Die Theorie der Interpretation
doch auf Ions Behauptung, eine rhapsodische zu besitzen. Der
prüft, ob eine sophistische Auslegungskunst, für die Ion exemplarisch steht, wenigstens prinzipiell die Möglichkeit hat, sich theoretisch zu legitimieren und entsprechend als gelten zu dürfen. Von Ion ist daher verlangt, daß er im Gespräch keine konventioneller Homer-Auslegung vorführt, sondern eine argumentative Rechtfertigung für die konventionelle Dichterinterpretation leistet. Der Gang des Gesprächs macht deutlich, daß Ion diese Aufgabe nicht zu erfüllen vermag. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses, daß alle Einzel- durch spezifische Gegenstandsbereiche separieren will und kein Interesse für Differenzen hinsichtlich des Formalobjekts zeigt, gelingt es Ion nicht, eine eigene rhapsodische zu etablieren, die sich in Inhalt und Umfang von den anderen unterscheiden könnte. Sokrates weist Ion immer wieder neu nach, daß er Aussagen über Gegenstände / Sachverhalte trifft, die in das Sachgebiet von Experten fallen, die eine allgemein anerkannte vertreten.276 Zugleich kommt Ion, der sich als kompetenter Ausleger des Homer, nicht aber der übrigen Dichter begreift, in Konflikt mit der (im Ion nicht problematisierten) Voraussetzung, jede stelle ein unteilbar Ganzes dar: Als Technit müßte Ion sein gesamtes Fach beherrschen. Da er aber offensichtlich nicht sein gesamtes Fach beherrscht, kann er auch kein Technit sein.277 Stärker als diese inhaltlichen Argumente, die Sokrates gegen den Anspruch Ions auf eine rhapsodische ins Feld führen kann, wirkt der hilflose Eindruck, den Ion fast während des gesamten Gesprächs über macht: Zu einer argumentativen Auseinandersetzung, auf die Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation zielt, zeigt sich der eitle Rhapsode nicht einmal annähernd in der Lage.278 Damit stehen wir vor einem merkwürdigen Ergebnis: Auf der einen Seite finden wir Sokrates’ Idealbegriff der Dichterauslegung, der jede gemäße Interpretation in praxi für unmöglich erklärt. Auf der anderen Seite
276 Vgl. insbes. Ion 538 a 1 – 539 e 5, 541 a 1 – b 1. 277 Vgl. insbes. Ion 532 c 5-9. 278 Vor dem Hintergrund der im Ion zu findenden Kritik an dem konventionellen Rhapsodentum sophistischer Manier ist es nur konsequent, daß Sokrates die Rhapsoden im Idealstaatsentwurf der Politeia (vgl. insbes. Rep. II 372 e 2 – 373 c 7) zu denjenigen rechnen wird, die in der wahrhaften und gesunden Polis ( / ) gar nicht gebraucht und zu nichts nütze sind, da sie sich nicht um das Notwendige kümmern. Erst in die üppige und aufgeschwemmte Stadt ( / ) halten die Rhapsoden Einzug – gemeinsam mit anderem Volk, das nicht wegen des Notwendigen in die Stadt kommt: z. B. Schauspieler, Tänzer, Dichter, Schweinehirten u. v. m.
2.2 Das erste Gegenbild: Der empeiristische Sophist
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sehen wir einen sophistischen Begriff der Dichterauslegung, der zwar Interpretation in praxi für möglich erachtet, allerdings mit der Konsequenz, daß diese Praxis nicht als argumentativ ausweisbar ist. Zu der praktischen Unmöglichkeit der -gemäßen Interpretation hat sich die theoretische Unzulänglichkeit der nicht -gemäßen Interpretation gesellt. Allerdings hat diese theoretische Unzulänglichkeit auch praktische Konsequenzen, nämlich für all diejenigen, die sich selbst mit dieser nicht gemäßen, dieser sophistischen Weise der Dichterauslegung befassen. Die Prüfung des Ion darf, wie wir gesehen haben, nicht in dem Sinn verstanden werden, daß allein die Fähigkeit eines individuellen Rhapsoden zur Debatte steht. Mit Ion bringt Platon den Idealtypus des sophistischen Rhapsoden auf die Bühne. Wenn die antiken Editoren der platonischen Dialoge den im Ion herrschenden Argumentationsstil recht treffend als charakterisieren, muß nachgefragt werden, wer oder was hier von Sokrates „auf die Probe gestellt“ wird: Nur der theoretische Anspruch des Ion, eine zu vertreten? Oder nicht eher Ion als ganze Person, die Art seiner (exemplarisch zu verstehenden) Lebensführung? Das Thema des ist m. E. mehr als „bloß theoretisch“. Wer sich wie Ion als rhapsodischer Technit versteht und lebenspraktisch darzustellen versucht, obgleich er diesen Anspruch nicht argumentativ einlösen kann, gestaltet sein Leben auf sophistische Weise. Verschärft und ins Praktische gewendet wird der Gegenstand der kritischen Prüfung durch die Tatsache, daß die sophistische Art der Dichterauslegung, die als verantwortungsloses Lobreden, als schmeichlerische Heuchelei und als willkürlicher Gebrauch von Autoritätsargumenten gezeichnet wird, von manchen Menschen als Beruf ausgeübt wird und so zu einer Lebensform avanciert. Sokrates prüft daher nicht nur, ob sich die sophistischen Formen der Auslegungskunst theoretisch rechtfertigen lassen, sondern auch, ob sich die professionelle praktische Ausübung dieser Auslegungskunst als gelingende Lebensführung verstehen darf. So harmlos das Gespräch zwischen Sokrates und Ion prima facie aussieht, hinter der Unterredung stehen prüfende Fragen, die durch ihre Radikalität und durch die Gnadenlosigkeit ihrer Konsequenz das Gespräch, wenn man die Fiktion für einen Augenblick „ernst“ nimmt, für den zu Prüfenden zu einer Zumutung machen. Dies auch dann, wenn der Prüfling – wie Ion – bis zum Ende kaum bemerkt, wie ihm geschieht. Die argumentativ nicht ausweisbare des Rhapsoden Ion ist nur die eine Negativfolie, vor der sich Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation abhebt. Ein zweites Gegenbild präsentiert Sokrates in seinen Ausführungen über den enthusiastischen Rhapsoden. Im nun folgenden Kapitel soll hiervon ausgehend die -Debatte im Werk Platons nachverfolgt werden,
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2. Die Theorie der Interpretation
um dadurch weiteren Aufschluß über die zentrale Funktion zu gewinnen, die das im Rahmen der interpretations- und gesprächstheoretischen Überlegungen spielt.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode 2.3.1 vs. Nachdem er Ions Anspruch auf eine zum Scheitern gebracht hat, nimmt Sokrates auf den Bezug, um eine alternative Erklärung für das rhapsodische Vermögen Ions anzubieten: Keine , sondern eine göttliche Kraft, eine , sei es, die den Rhapsoden bewege.279 Rhapsodisches und dichterisches Schaffen als Formen des zu verstehen, hat nach Sokrates den großen Vorteil, daß so eine Erklärung gegeben ist für die eingeschränkte Kompetenz der Rhapsoden und Dichter,280 die offensichtlich nicht das Ganze eines Gegenstandsbereichs beherrschen:
279 Ion 533 d 1-3: !" # $ % & (...) – An dieser Stelle möchte ich mich, um der eigenen Position besseres Profil zu geben, kritisch gegen die folgende Aussage Dillers (1971, S. 207) wenden: „Im Ion wird der Anspruch des Rhapsoden, rationale Aussagen über den Dichter machen zu können, aus der Erfahrung widerlegt, die ihm mit dem Dichter gemeinsam ist: auf diese Erfahrung des Enthusiasmos kommt es hier also offenbar (...) wesentlich an.“ Der Anspruch Ions, -gemäß über Homer reden zu können, wird m. E. gerade nicht aus der Erfahrung des ' !($ widerlegt. Entscheidend ist vielmehr, daß Ion im kritischen Prüfgespräch mit Sokrates seinen Anspruch rational nicht ausweisen kann. Ihm mangelt das dialektische Vermögen zum ( ( . Der ' !($ kommt erst dann ins Spiel, wenn es darum geht, dieses Unvermögen zu erklären (vgl. bereits Hermann 1839, S. 436). Im konkreten Fall des Ion aber ist die gegebene Erklärung die falsche: Ion ist nicht als Enthusiast, sondern als Empeirist zum ( ( unfähig. 280 Vgl. Flashar 1958, S. 27, der gegen Hermann Gunderts These, der Ion richte sich nur kritisch gegen die sophistischen Dichterausleger, nicht aber gegen den „Dichter selber“, den „wirklichen Homer“ (vgl. Gundert 1949, insbes. S. 29 f.), ganz zu Recht feststellt, daß durch die Einführung eines Rhapsoden als Dialogfigur „ein Doppeltes erreicht ist: einmal kann die Frage nach dem Wissen des Dichterinterpreten und nach der Verbindlichkeit der Dichterauslegung zum Gegenstand der Untersuchung werden, zum anderen aber kann durch den Gedanken des Enthusiasmus, von dem Platon den Rhapsoden ergriffen sein läßt, über den Rhapsoden hinaus auch der Dichter in den Blick kommen, und zwar prinzipiell der Dichter überhaupt, während durch eine unmittelbare Konfrontation eines einzelnen Dichters mit Sokrates die Stellung Platons zur Dichtung in ihrem Doppelaspekt ‚Dichterwissen‘ und ‚Dichterauslegung‘ nicht so grundsätzlich hätte zur Sprache kommen können.“ Vgl. S. 47: „Platons Kritik im Ion richtet sich also gegen alle
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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Da sie (sc. die Dichter) also nicht kraft eines Fachwissens ( ) schaffen und vieles Schönes über die Dinge sagen, wie du über Homer, sondern kraft einer göttlichen Gabe, ist jeder einzelne nur das in der Lage schön zu dichten, wozu ihn die Muse angeregt hat: der eine Dithyramben, ein anderer Lobgesänge, ein anderer Tanzlieder, ein anderer Epen, wieder ein anderer Jamben. Zu dem anderen aber ist jeder einzelne von ihnen untüchtig.281
Das Ganze eines Gegenstandsbereiches zu beherrschen, bleibt die eigene Leistung eines Techniten: Denn nicht kraft einer reden sie (sc. die Dichter), sondern durch eine göttliche Kraft. Verstünden sie nämlich kraft einer in einem schön zu reden, so müßte dies auch in allem anderen der Fall sein.282
Einen wichtigen Hinweis, durch welche Merkmale – gegenüber den im Ion angesprochenen enthusiastischen Dichtern – eine -gemäße Literaturproduktion ausgezeichnet ist, gibt uns Platon am Ende des Symposion: Über die Einzelheiten des Gesprächs, das Sokrates nach durchzechter Nacht am frühen Morgen mit dem Tragödiendichter Agathon und dem Komödiendichter Aristophanes geführt habe, weiß der Erzähler Aristodemos zwar nicht mehr viel zu sagen. Die Hauptsache aber wäre gewesen, daß Sokrates sie (sc. die Gesprächspartner Agathon und Aristophanes) nötigen wollte einzugestehen, es gehöre sich für einen und denselben, Komödien und Tragödien dichten zu können, und der -gemäße Tragödiendichter sei auch der Komödiendichter. Dies wäre ihnen abgenötigt worden, sie wären aber nicht recht gefolgt und schläfrig geworden.283
Die genaue Argumentation, mit der Sokrates die Gesprächspartner zwingt, seiner These zuzustimmen, präsentiert das Symposion – angeblich wegen der Schläfrigkeit der Gesprächspartner und der Vergeßlichkeit des Erzählers Aristodemos – nicht. Aber vor dem Hintergrund der Ausführungen des Sokrates, wie sie uns im Ion begegnen, ist es möglich zu formulieren, wie diese Dichter, Rhapsoden und Schauspieler, die sich als ausgeben oder in diesem Sinne ausgelegt werden.“ Die Kritik richtet sich aber auch, wie ich im folgenden zeigen will, gegen alle enthusiastischen Formen des Dichterauslegung. 281 Ion 534 b 7 – c 5: !"#$ % & ' ' ( )( * + ,- . / 0 1 2 3 4&$5$ 2 43 ,6 2 43 7# 2 4- 8 2 4- 95$: 4- ; * ( , < 282 Ion 534 c 5-7: $ % & ' 4$ , 9 =1 > ? ; @ : 283 Symp. 223 d 2-6: 1 8 A 1 B 2C + %41 D E4 E4 , & + 1 E41 F !G E41 D<
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2. Die Theorie der Interpretation
Argumentation in etwa hätte aussehen können: Das Gegenstandsgebiet, mit dem sich der Tragödiendichter, und das Gegenstandsgebiet, mit dem sich der Komödiendichter befassen, ist ein und dasselbe, besteht Dichtung doch „irgendwie als Ganzes ( )“.284 Wer sich als Technit mit der Dichtung befaßt, hat sich nicht nur mit einzelnen Teilen, sondern mit dem Ganzen der Dichtung auszukennen. Zum Ganzen der Dichtung aber gehört die Komödie nicht weniger als die Tragödie. Darum muß derjenige, der -gemäß Tragödien schreibt, auch Komödien schreiben können – und umgekehrt. Der Differenz zwischen der vom Bereich her eingeschränkten enthusiastischen Dichtung und der auf das der ausgerichteten Dichtung des Techniten entspricht eine analoge Differenz bei den Rhapsoden: Konventionelle Rhapsoden sehen sich auch selbst nicht für das Ganze eines Gegenstandsbereiches zuständig und befähigt. Ion zum Beispiel kann nach eigener Aussage nur über Homer, nicht aber über Hesiod „gut reden“.285 Für Sokrates bereits Grund genug, ihm die -gemäße Ausübung der Dichterauslegung abzustreiten: Vielmehr ist jedem klar, daß du aufgrund einer und über Homer zu reden unfähig bist. Denn wenn du aufgrund einer dazu in der Lage wärest, müßtest du auch über alle anderen Dichter zu sprechen in der Lage sein.286
Wie der -gemäße Dichter in Bezug auf das Ganze der Dichtung kompetent sein muß, so der -gemäße Rhapsode in Bezug auf die Auslegung aller Dichter. Wer nur Homer auszulegen versteht, ist nicht als ein Interpret zu begreifen, der eine partielle Kompetenz, gleichsam eine halbe , besitzt, sondern als ein Interpret, der überhaupt keine -gemäße Kompetenz besitzt. Wer sein Geschäft -gemäß ausübt, beherrscht es ganz. Beherrscht jemand sein Geschäft nicht ganz, dann übt er es auch nicht -gemäß aus. Teilen läßt sich eine nach dem von Sokrates im Ion artikulierten Verständnis nicht, sie ist nicht nur ein , sondern auch ein . Sokrates’ Versuch, Bereiche wie das Rhapsodentum oder die Dichtung als zu deuten, die in sich jeweils ein Ganzes und ein Unteilbares bilden,
284 Ion 532 c 8 f.: 285 Vgl. insbes. Ion 531 a 3 f.. Wenn über einen anderen Dichter als Homer gesprochen wird, kann Ion weder konzentriert zuhören noch selber mitreden. Er droht sogar einzuschlafen (vgl. Ion 532 b 8 – c 4). 286 Ion 532 c 5-7: ! " #$ % &'" ( )* + ,- + . - &'" / 0 ( )$
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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steht vor dem offenen Problem, auf welche Weise die Grenzen der einzelnen denn sinnvollerweise bestimmt werden können. Daß Platon dieses Problem sehr wohl gesehen hat, zeigt sich m. E. darin, daß er Sokrates die oben angeführte These des Symposion, daß Komödiendichtung und Tragödiendichtung derselben angehören, in der Politeia selbst widerrufen läßt: Dort führt Sokrates aus, daß es Komödiendichter und Tragödiendichter nicht mit dem gleichen Betätigungsfeld, sondern mit zwei unterschiedlichen Arten der Darstellung ( ) zu tun haben, die sich allerdings sehr ähneln.287 Damit legt Sokrates nicht nur, ohne daß er dafür gute Gründe angeben könnte, andere Grenzen der fest. Auch die grundsätzliche Überlegung, daß jede als ein Ganzes ( ) und ein Unteilbares ( ) zu verstehen ist, wird problematisch, wenn unterschiedliche Arten der Darstellung benannt werden: Sind sich die beiden Tragödien- und Komödiendichtung, wie Sokrates sagt, einander sehr ähnlich, so scheint dies darauf hinzuweisen, daß beiden etwas gemeinsam ist, nämlich die Eigenschaft, Darstellung () zu sein. Damit wäre die Darstellung als übergeordnete , als Gattung ( ), Komödien- und Tragödiendichtung aber als untergeordnete , als Arten (), zu verstehen. Die These von der Unteilbarkeit der müßte entsprechend aufgegeben werden.
287 Vgl. Rep. III 395 a 1-6. – Der Annahme aus dem Ion (532 c 8 f.), Dichtung bestehe doch „irgendwie als Ganzes“ ( ), wird also klar widersprochen. Im Hintergrund von Sokrates’ Ausführungen in der Politeia steht die These, daß sich jeder einzelne nur auf einem, auf seinem Gebiet mit Erfolg betätigen kann. Diese These soll nach Sokrates auch für die unterschiedlichen Formen der Darstellung ( ) gelten. (Rep. III 394 e 8 f.:
! "# $% Kann nach Aussage des Symposion ein Komödiendichter nur dann den Anspruch erheben, er übe sein Geschäft &'-gemäß aus, wenn er sich zugleich auf das Dichten von Tragödien versteht (vgl. Diller 1971, S. 213), so gilt für die Politeia, daß sich der verständige Komödiendichter auf sein eigenes Gebiet, das nun nicht mehr die Tragödie mitumfaßt, beschränken und nicht in fremden Fächern dilettieren solle. Der ökonomische Grundsatz, der hier Anwendung findet, ist der des „Eines-für-Eines“ (! (), der maßgeblich ist für die gesamte Gerechtigkeitskonzeption der Politeia und von dem auch Aristoteles in der Politik (1252 b 1-5) Gebrauch macht: „Denn die Natur macht nichts in jener sparsamen Weise wie die Schmiede das delphische Messer, sondern immer je eines für eines (! (); erhält doch jedes Werkzeug seine größte Vollendung dann, wenn es nicht zu vielerlei Verrichtungen dient, sondern nur zu einer.“ (Deutsche Zitate aus der Politik sind der Übersetzung von Eugen Rolfes (in Bien 1981) entnommen, griechische Zitate der Edition von Ross 1957).
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2. Die Theorie der Interpretation
2.3.2 Die Kraft des und der Verlust des Berühmt geworden ist das Bild vom Magnetstein und den Eisenringen, das Sokrates im Ion zur Veranschaulichung der göttlichen Kraft verwendet, welche die Enthusiasten ergreift:288 Der Magnetstein hat nicht nur selbst die
, Eisenringe anzuziehen, er legt diese auch in die an ihm hängenden Eisenringe, so daß diese – wie der Magnetstein selbst – andere Eisenringe anzuziehen vermögen ( ).289 Daher kann es vorkommen, daß sich eine lange Kette ( ) von aneinander gehefteten Eisenringen bildet. All diesen Ringen kommt ihre nicht von ihnen selbst her zu, sie haftet ihnen bloß von dem Magnetstein her an.290 Analoges gilt nach Sokrates für die Art und Weise, wie die Muse göttliche Ergriffenheit bewirkt ( ), wie sie Menschen zu göttlich Ergriffenen ( ) werden läßt: Entweder nämlich bewirkt sie die Ergriffenheit direkt und unmittelbar oder aber durch andere Enthusiasten hindurch, so daß sich auch hier eine Art „Kette“ aneinander hängender Enthusiasten bilden kann, die ihre Kraft allesamt der enthusiasmierenden Fähigkeit der Muse verdanken. Ein Enthusiast kann nur deshalb andere enthusiasmieren, weil es die Kraft der Muse gibt, die bereits ihn enthusiasmiert hat und nun durch ihn, nicht aber wegen ihm, andere Menschen, die mit ihm in Berührung geraten, enthusiasmiert. Die , andere Menschen in Begeisterung zu versetzen, 288 Vgl. Ion 533 d 1 – e 5. 289 Nebenbei bemerkt: Das Bild von der magnetischen Kraft des wirkt weiter bis in die Inspirationsvorstellungen des Surrealismus. Vgl. Barmeyer 1968, S. 24 f.: „Der Surrealist, der sich von einer Kraft inspirieren läßt, die ihm als Ursache all seiner geistigen und sinnlichen Fähigkeiten gilt, nimmt die Inspiration so in seine Dichtung auf, daß er selbst wieder andere Menschen zu inspirieren vermag.“ 290 Vgl. Sokrates’ Unterscheidung im Lysis (217 b 4 – 218 a 2) zwischen dem, was eine Sache (wirklich) ist, und dem, was ihr (gleichsam äußerlich) bloß anhaftet, ihr – aristotelisch formuliert – nicht von ihr selbst her zukommt: Wenn etwa jemand blonde Haare weiß färbt, dann sind die Haare, so Sokrates, nicht wirklich weiß geworden. Sie sind blond geblieben, doch haben nun die „Anheftung“ ( ), weiß zu sein. Zwischen dem, was etwas ist, und dem, was ihm anhaftet, besteht grundsätzlich eine logische Unabhängigkeit (Lysis 217 c 3 f.): „Ich behaupte nämlich, daß zwar einiges selbst so beschaffen ist, wie das, was ihm anhaftet, anderes aber nicht.“ Die weiß gefärbten, in Wirklichkeit aber blonden Haare sind ein Beispiel dafür, daß etwas anders ist als seine „Anheftung“. Sollte nun der Mensch mit weiß gefärbten blonden Haaren altern und wirklich weiße Haare bekommen, dann ist dies ein Beispiel für die gegenteilige Konstellation: Das, was etwas ist, und das, was ihm anhaftet, entsprechen sich. Allerdings stellt sich dann das Problem, ob nach dem Wegfall der inhaltlichen Differenz und Unterscheidungsmöglichkeit überhaupt noch zwischen dem, was etwas ist, und dem, was ihm anhaftet, sinnvoll unterschieden werden kann. Jedenfalls gibt es kein Kriterium zu entscheiden, ob diese weißen Haare nun wirklich weiß oder nur weiß gefärbt sind.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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ist also – wie der Vergleich mit dem Magnetstein zeigt – kein Vermögen, das einem Enthusiasten aus ihm selbst her zukommt, sondern eine göttliche Gabe, eine .291 Im folgenden kommt Sokrates auf eine ganze Reihe von Enthusiasten zu sprechen. Zunächst wendet er sich denjenigen zu, die gleichsam in direktem Kontakt mit der Muse stehen und damit, um im Bild zu bleiben, den ersten Ring an dem Magnetstein bilden: den guten Epen- ( ) und Liederdichtern ( ). Ihre schönen Dichtungen haben die Dichter, behauptet Sokrates, nicht aufgrund einer , sondern als göttlich Begeisterte ( ) und Ergriffene ( ) geschaffen. In diesem Zustand seien die Dichter den Korybantentänzern ( ) vergleichbar: Wie die nicht bei Verstand ( )292 sind, wenn sie tanzen, so sind auch die Dichter nicht bei Verstand, wenn sie dichten. Nicht nur im Ion, noch in vier weiteren Dialogen läßt Platon seinen Sokrates in zwar unterschiedlicher, doch stets aufschlußreicher Weise auf die Korybanten Bezug nehmen: Im Euthydemos versucht Sokrates den jungen Kleinias, der im Gespräch von den eristischen Kunststückchen der Sophisten Euthydemos und Dionysodoros zusehends verwirrt wird, mit dem Hinweis zu trösten, daß die beiden Sophisten – genau wie die in die Mysterien eingeweihten Korybanten – im Grunde doch nur scherzen: Denn Du merkst vielleicht nicht, was eigentlich die Fremden mit dir vornehmen, dasselbe nämlich, was bei der Weihung der Korybanten geschieht, wenn sie die Einthronung mit demjenigen vornehmen, den sie einweihen wollen. Denn auch dabei ist doch ein Tanz und Scherz ( ), wenn du anders schon eingeweiht bist. So auch diese beiden jetzt tun nichts, als daß sie den Chor um dich herumführen und gleichsam im Scherz dich umtanzen, bis sie dich hernach einweihen. Jetzt also denke dir, daß du nur den ersten Anfang der sophistischen Heiligtümer hörst.293
Sokrates spricht damit das Phänomen der Pseudo-Enthusiasten an, die ihre ekstatischen Zustände nur vortäuschen und insofern Ion vergleichbar sind, der selbst sophistischer Empeirist ist und doch im Rahmen seiner Vorführungen den Enthusiasten spielt. Argumentationstheoretisch von Interesse sind die Schlußworte des Sokrates im Kriton (54 d 3-8): Sokrates benennt dort ein bestimmtes fundamentalistisches Gesprächsverhalten: Wer sich gegen die Worte anderer Menschen, die seine eigenen Überzeugungen angreifen könnten, 291 Vgl. insbes. Ion 534 c 6, 535 a 4. 292 Daß ein Mensch im Zustand der göttlichen Ergriffenheit nicht bei Verstand ( ) ist, gar nicht bei Verstand sein kann, wiederholt Sokrates allein in der kurzen Passage Ion 534 a 1-6 nicht weniger als dreimal. 293 Euthyd. 277 d 5 – e 3.
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2. Die Theorie der Interpretation
verschließt, ähnelt den Korybantentänzern, die in begeistertem Zustand eine Flöte zu hören glauben und dafür anderes schlicht nicht mehr wahrnehmen können. Über die starken körperlichen Erregungszustände, die mit dem Korybantentanz verbunden sind, äußert sich Alkibiades im Symposion (215 e 1-4), natürlich nicht ohne hervorzuheben, daß dies alles doch weit hinter der Wirkung zurückbleibe, die Sokrates’ philosophische Reden auf ihn ausübten. Die enge Verwandtschaft zwischen den Korybanten und den Bakchen, die gleichermaßen durch das Merkmal des gezeichnet sind und ja auch im Ion (533 e 8 – 534 a 7) direkt im Anschluß an die Korybanten genannt werden, betonen die Nomoi (VII 790 c 5 – e 4).294 Welche Gründe hat Sokrates nun im Ion, den Korybantentänzer als Exempel für einen Enthusiasten anzuführen? Daß Korybanten nicht bei Verstand sind, wenn sie tanzen, ist ein Allgemeinplatz.295 Daß Dichter nicht bei Sinnen sind, wenn sie dichten, ist dagegen kein Allgemeinplatz. Sicher: Der Vorstellung vom enthusiastischen Dichter gemäß empfangen die Dichter die Gaben der Götter, aber müssen sie deshalb auch schon ihren Verstand verlieren? Läßt sich der besondere enthusiastische Zustand, wie er vielleicht nicht den Korybanten, dafür aber den Dichter auszeichnet, denn nur durch den Verlust des erkaufen? Die Selbstaussagen der antiken Dichter jedenfalls behaupten ganz anderes. Doch Sokrates entwickelt die Vorstellung vom enthusiastischen Dichter, der vom Gott seiner Vernunft beraubt wird,296 um in den Gärten der Musen seine Lieder pflücken zu können, nicht als ein bloß denkmögliches Konzept, wie die Dichter gegebenenfalls verstanden werden könnten. Auch die Dichter selbst, behauptet Sokrates, propagieren diese die Wirklichkeit des Dichters korrekt wiedergebende Vorstellung. Sokrates vertritt also die doppelte These, daß (1) der vorgeführte Typus eines enthusiastischen, vernunftlosen
294 Zum krankhaften Charakter des Korybantenwahnsinnes, dessen Heilung eine Art Katharsis bedeutet, vgl. bereits Finsler 1900, insbes. S. 107-109. 295 Vgl. etwa die Worte, mit denen der Sklave Xanthias in den Wespen des Aristophanes (v. 8) seinen Mit-Sklaven Sosias anfährt, der gegen die Müdigkeit kämpfend den Kopf schlaftrunken bald sinken läßt, bald wieder hastig nach oben wirft: „Bist du von Sinnen oder korybantisch?“ ( ) (nach der Edition von Geldart / Hall 1900 und in der dt. Übers. von Ludwig Seeger (in Weinreich 1952)) 296 Zu den Begriffen, mit denen Sokrates das mit dem Verlust des einhergehende Ereignis des beschreibt, vgl. Barmeyer 1968, S. 104: „Die von Platon zur Charakterisierung des Inspirationsaktes verwendeten Verben (z. B. ‚ ‘ – treiben, Ion 534 c oder ‚ ‘ – erregen, Phaidros 245 a) ähneln dem bei Homer und Pindar auftretenden Verb ‚ ! ‘, heben aber oft noch stärker die Gewaltsamkeit des Ereignisses hervor, wie das Verb ‚"# ‘ (Phaidros 245 a), das die musische Inspiration der bakchantischen Verrückung gleichsetzt.“
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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Dichters, wie ihre eigenen Aussagen belegen, das Selbstverständnis der Dichter trifft,297 und daß (2) die Dichter mit ihrem Selbstverständnis als vernunftlose Enthusiasten durchaus richtig liegen.298 Die Dichter halten sich nicht nur für vernunftlose Enthusiasten, sie sind es wirklich. Vergegenwärtigt man sich, daß Sokrates den dichterischen mit der der Bakchen vergleichen und im Sinne einer bedrohlichen Besessenheit gebrauchen wird, dann muß diese Bezugnahme auf das Selbstverständnis der Dichter außerordentlich problematisch erscheinen. Sicher berufen sich Dichter wie Homer und Hesiod auf göttliche Gaben, auf die Geschenke der Musen, und pflegen zu Beginn ihrer Gesänge den ritualisierten Musenanruf. Dichter, so weit ist Sokrates recht zu geben, verstehen sich als Enthusiasten. Nur daß der Begriff „Enthusiast“ etwas ganz anderes meint als der von Sokrates etablierte, der den Verlust des wesentlich voraussetzt. Wenn man etwa betrachtet, wie sich Homer und Hesiod in ihren ritualisierten Musenanrufen in ihrem poetischen Verhältnis zu den Menschen präsentieren oder wie die Dichter Phemios299 und Demodokos300 in der Odyssee dargestellt werden, dann gewinnt man kaum den Eindruck, man hätte es mit Schwärmern zu tun, denen jeder Verstand abhanden gekommen ist.301 Hesiod spricht sogar ausdrücklich davon, daß die Musen den Dichter gedankenreich machen.302 297 Ion 534 a 7: „Denn es sagen ja doch zu uns die Dichter, daß sie (...)“ (
(...).) 298 Ion 534 b 3: „Und wahr sprechen sie.“ ( .) 299 Vgl. insbes. Od. I 153 ff und 337 ff.; Od. XVII 261 ff.; Od. XXII 330 ff. 300 Vgl. dazu die Darstellung des Demodokos in Gesang VIII und XIII der Odyssee. 301 In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, daß in der Ilias zwar der Unterschied zwischen einem spontanen Handeln, wie es dem eigenen Antrieb des Menschen entspringt, und einem Handeln aus göttlicher Veranlassung kenntlich gemacht wird (vgl. insbes. VI 438 f., IX 702 f.). Doch bedeutet dies keineswegs, daß ein Handeln aus göttlicher Veranlassung als ein gänzlich fremdbestimmtes stigmatisiert würde. Die göttlichen Kräfte ermuntern den Menschen, sie ermahnen ihn, sie machen ihn geneigt, aber sie zwingen ihn nicht. Die Tätigkeit der eigenen Vernunft wird in der Ilias auch dem Menschen, der aus göttlicher Veranlassung heraus handelt, also keineswegs abgesprochen. In den wichtigen Entscheidungssituationen, die in der Ilias präsentiert werden, erscheinen die Götter als Ausdruck innerer Kräfte des Menschen. Wenn etwa im ersten Gesang (I 194-221) Achilleus – von Agamemnon tödlich beleidigt – zum Schwert greift, um es nach einer sofortigen Ermahnung Athenas wieder in Scheide zu stecken, steht Athena für die zur Mäßigung ratende Vernunft des Helden. Zu dieser Szene bemerkt Latacz 2 1989, S. 125: „Der kurz Augenblick der Entscheidungsfindung, den das alte Epos vor Homer wohl nur benannt hätte, ist hier gefüllt mit innerer Handlung, zutage gebracht in der Form des Göttereingriffs.“ Geradezu paradigmatisch für eine menschliche Entscheidungssituation ist die Szene, in der Achilleus am Strand zwischen einem ruhmvollen kurzen Leben auf der einen Seite oder einem ruhmlosen langen Leben auf der anderen Seite zu wählen hat (vgl. IX 411-415). 302 Vgl. Hesiod Fragment 197.
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2. Die Theorie der Interpretation
Das Dichterbild, das Homer in der Ilias zeichnet, kommt den Aussagen, die Sokrates als Selbstverständnis der Dichter ausgibt, immerhin soweit entgegen, als der zweite Gesang303 das eigene Nicht-Wissen des Dichters hervorhebt, doch dies mit gegenüber Sokrates deutlich anderer Akzentuierung: Sagt mir nun, Musen!, die ihr die olympischen Häuser habt – Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts –: Welches die Führer der Danaer und die Gebieter waren. Die Menge freilich könnte ich nicht künden und nicht benennen, Auch nicht, wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären Und die Stimme unbrechbar, und mir ein ehernes Herz im Innern wäre, Wenn nicht die olympischen Musen, des Zeus, des Aigishalters, Töchter mir ins Gedächtnis riefen, wie viele nach Ilios gekommen. Die Führer aber der Schiffe will ich nennen und die Schiffe allesamt.304
Das Wissen oder Nicht-Wissen, von dem bei Homer die Rede ist, steht offenbar in enger Verbindung mit dem Autopsie-Gedanken.305 Wer etwas selbst 303 Die folgende Passage entstammt dem Musenanruf, der den sog. Schiffskatalog einleitet. Neben der Darstellung der Dichter in den Epen bilden die Musenanruf die beste Quelle, um Aussagen über das dichterische Selbstverständnis zu gewinnen (vgl. die quellenkritischen Überlegungen zu einem rezeptionsästhetischen Zugang zur antiken Literatur bei Barner 1977, S. 508-513). Zur indirekten Selbstdarstellung Homers durch die Hofsänger Demodokos und Phemios vgl. Latacz 2 1989, insbes. S. 40-42. 304 Ilias II 484-494:
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305 Vgl. Schlaffer 1990, S. 59: „Wenn die Philosophen den Dichtern vorhalten, daß ihre Erzählungen nicht wahr seien, so haben sie von vornherein recht; denn die Sänger hatten unter >wahr< etwas anderes verstanden als ihre Kritiker. Wahrheit ist in den homerischen Epen ein Element des Erzählens selbst, nämlich eine genaue, lückenlose Wiedergabe des Geschehenen. Was die Muse dem Seher verleiht, ist eine imaginäre Augenzeugenschaft: als wäre er dabei gewesen.“ Vgl. auch Kannicht 1980, S. 17: „Aber das Wissen der Überlieferung hat seinen Grund im Augenzeugenwissen der Musen als der theologischen Interpretation des Wunders dieser Überlieferung – und sofern das Wissen des Sängers als Wissen der Überlieferung letztlich Musenwissen ist, ist es trotz aller Vermitteltheit authentisches Wissen: vermitteltes Augenzeugenwissen darüber, ‚wie es wirklich gewesen‘ – und in diesem Sinne versteht sich das Epos gewissermaßen als Historie.“ Deutet Eric A. Havelock die Musen vor dem Hintergrund einer poeta-doctusVorstellung als „symbol of the bard’s command of professional secrets, not of his dependence on divine guidance“ (Havelock 1963, S. 155), so übersieht er die in der poetischen Selbstverständigung artikulierte Abhängigkeit von einer Autopsie, die für den Dichter eben nur eine – als authentisch – vermittelte sein kann. Als bestes Zeugnis für die-
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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gesehen und erfahren hat, besitzt ein Wissen von dem, was er gesehen und erfahren hat. Während der Dichter die Ereignisse vor Troja nicht selbst sehen und erfahren hat, besitzen die Musen durch ihre Omnipräsenz die Autopsie und damit das Wissen von allen Geschehnissen, so auch von den Kriegshandlungen vor Troja. Nur durch das Geschenk der als „Gewährsgottheiten“306 fungierenden Musen, die ihr eigenes durch Autopsie erworbenes Wissen dem Dichter mitteilen, sieht sich dieser in der Lage, seinem Auditorium Wahres über die Fürsten und die Kriegsscharen des griechischen Heeres zu berichten.307 Die Musen führen also genau nicht, wie Sokrates unterstellt, dazu, daß der Dichter sein Denken und seine Gedanken verlieren muß. Vielmehr schenken die Musen dem Dichter allererst das Vermögen, viele wahre Gedanken über das Geschehen vor Troja zu besitzen und zu vermitteln. Mit der Genese dieses Vermögens bleibt allerdings – auch nach dem Selbstverständnis der Dichter, wie es in den Epen zum Ausdruck kommt, – das Unvermögen verknüpft, diese wahren Aussagen als wahre Aussagen argumentativ ausweisen zu können. Der Dichter kann nur auf die Musen als die Quelle seines Gesangs verweisen. Ob die Musen ihm in der Tat wahre Aussagen oder „täuschend echte Lügen“308 mitgeteilt haben, vermag der Dichter zwar – als Dichter – ses poetisches Wahrheitsverständnis (vgl. auch Latte 1946, S. 162 und Barmeyer 1968, S. 57 f., S. 67, S. 98) dienen die folgenden Worte, die Odysseus an Demodokos richtet (Od. VIII 487-491): „Demodokos! Über die Maßen preise ich dich unter allen Sterblichen: ob dich nun die Muse, die Tochter des Zeus gelehrt hat oder auch Apollon. Ganz nach der Ordnung nämlich singst du das Unheil der Achaier: wieviel sie getan und gelitten haben und wieviel sie ausgestanden, die Achaier, so als wärst du selber dabeigewesen oder hättest es gehört von einem anderen.“ (Deutsche Zitate aus der Odyssee sind der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt (in Schadewaldt 1958) entnommen. Die griechischen Zitate gehen auf die von A. Weiher modifizierte Textausgabe von P. von der Mühll (Basel 1946) zurück (in Weiher 1994).) Den Gedanken eines Wissens qua Autopsie nimmt Thukydides (vgl. insbes. I 20, 3-22, 4; I 73, 2) für sich in Anspruch, um sich gerade von den Dichtern abzugrenzen, die bloß Gehörtes wiedergeben. Eine über Dritte vermittelte Augenzeugenschaft ist in der Sicht des Historikers nur dann zu bejahen, wenn die Vermittler vertrauenswürdig sind. Auf die Musen trifft dies nach Thukydides offenbar nicht zu. 306 Koller 1963, S. 43. 307 Der Vollständigkeit der Aufzählung wird dabei, wie etwa Od. VIII 493 zeigt, besonderes Gewicht beigemessen. Unter Wahrheit begreift Homer stets die „ganze“ Wahrheit. Die Authentizität des Erzählten und die Genauigkeit des Erzählten stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis (vgl. Kannicht 1980, S. 18, und Marten 2000, insbes. S. 235-242). 308 Vgl. Od. XIX 203 und die berühmte (möglicherweise gegen andere Musensöhne wie Homer) ausgerichtete Selbstcharakterisierung der Musen in Hesiods Theogonie (Theog. 27 f.): „ | “ „Täuschend echte Lügen wissen wir viele zu sagen, | Wahres jedoch, wenn wir wollen, wissen wir gleichfalls zu künden“ (Zitate aus der Theogonie in
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2. Die Theorie der Interpretation
nicht mehr zu beurteilen,309 entscheidend aber ist, daß die Dichter nach ihrem eigenen Selbstverständnis ihr poetisches Vermögen, das durchaus als „enthusiastisches“ bezeichnet werden kann und muß,310 also keineswegs durch den Verlust des erkaufen müssen. Nicht nur die Selbstverständigung von Dichtern wie Homer und Hesiod, auch die Rezeption und die Darstellung der Dichter zur Zeit des historischen Sokrates unterscheiden sich merklich von den Urteilen, die Platon seine Dialogfigur Sokrates über die Dichter treffen läßt. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang Paul Zankers Interpretation einer Statue des Anakreon, der deutscher Übersetzung sind der Übertragung von Albert von Schirnding (in Schirnding 1991) entnommen; dem zitierten griechischen Text liegt die Edition von A. Rzach in der Bibliotheca Teubneriana zugrunde (ebenfalls in Schirnding 1991). Vgl. Diller 1946, S. 141: „Auf die Musen berief sich jeder epische Dichter, gewiß in der Absicht, seine Aussagen als wahr zu legitimieren. Aber nirgends bei Homer birgt diese Berufung, wie hier bei Hesiod, eine Spitze gegen die Unwahrheit anderer Berichte.“ Zum Vermögen der Musen, gleichermaßen Wahres wie Unwahres zu künden, das dem Wahren täuschend ähnlich ist, vgl. auch Kannicht 1980, S. 15 f., Latte 1946, S. 159. Zur „Wahrheitsähnlichkeit“ auch des homerischen Begriffs der Lüge vgl. Marten 2000, S. 237. 309 Man kann also sagen, daß der Dichter die ihn zu wahren Aussagen über die Kriegshandlungen vor Troja befähigenden Gedanken von den Musen geschenkt bekommt, daß er diese Gedanken „hat“ und weiter vermitteln kann. Doch über die Wahrheit dieser Aussagen kann nur derjenige urteilen, der aus eigener Autopsie heraus Wissen besitzt. Nur wer die Ereignisse vor Troja selbst gesehen und erfahren hat, ist in der Lage, über die „Richtigkeit“, die , des im Gesang Behaupteten zu entscheiden (vgl. hierzu insbes. Od. VIII 496-498). „Der Dichter muß immer damit rechnen, daß, wenn sein Verhältnis zu den Musen gestört ist, die Göttinnen ihm statt der Wahrheit nur Trugbilder vermitteln, denn es liegt ganz in ihrer Macht, (...) den Blick des Menschen zu erleuchten, zu trüben oder wirklich blind zu machen.“ (Barmeyer 1986, S. 106) – Daß den Dichter kein Wissen eignet, das selbst rational ausweisbar wäre, sondern bloße Meinung, betont auch Gorgias in der Lobrede der Helena (vgl. insbes. Fragment 11, 2). Der griechische Ausdruck „ “ ist dabei in zwei Weisen ausdeutbar: Zum einen kann er den Glauben derer bezeichnen, die auf die Dichter hören, zum anderen den Glauben der Dichter, die selbst nach dem Hören (auf die Musen) urteilen (vgl. den Kommentar von Buchheim 1989, S. 161). Buchheims Präferenz für die zweite Lesart schließe ich mich an. Helena wird demnach diffamiert von Menschen, die über sie urteilen, obwohl sie nur sehr zweifelhafte Berichte über sie vernommen werden. Den Dichtern wirft Gorgias vor, ohne zureichende Begründung Urteile über Menschen zu fällen und zu propagieren. 310 Daß poetisches Schaffen ohne die enthusiasmierende göttliche Kraft nach Homer grundsätzlich auszuschließen ist, verdeutlicht die Gestalt des Sängers Thamyris im zweiten Gesang der Ilias (594-600), der wegen seiner Hybris von den Musen geblendet und der Kunst des Gesangs und des Zitherspiels beraubt wird. Vgl. Barmeyer 1968, S. 82 (vgl. auch S. 105 f.): „Die eigenschöpferische Aktion – oder besser: der Wille dazu – wäre als Frevel verstanden worden. Thamyris verneinte das Prinzip der Inspiration, indem er sich brüstete, die Musen im Gesang besiegen zu können, worauf ihm von den erzürnten Göttinnen die Sangesfähigkeit und das Augenlicht genommen wurden.“
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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im „schema eines trunkenen Sängers“311 dargestellt wird. Als Quelle dient die römische Kopie einer Bronzestatue, die um 440 v. Chr., also zur Regierungszeit des Perikles, wahrscheinlich im Umkreis des Phidias entstanden ist. Die Statue vermittelt keineswegs den Eindruck, Anakreon befinde sich in rauschhafter Ekstase, im Gegenteil: Der Dichter und Sänger versteht es anscheinend vorzüglich, seinen Verstand auch im Rahmen dionysischer Symposien zu bewahren. „Enthusiasmus und Trunkenheit sind nur dezent angedeutet (...) Der Sänger verliert selbst beim fröhlichen Gelage nicht die Kontrolle über sich selbst, erweist sich auch hierbei als vorbildlicher Bürger entsprechend den von Perikles vorgelebten Verhaltensnormen der hochstilisierten attischen Gesellschaft seiner Zeit.“312 Die souveräne Selbstbeherrschung, die durch keine noch so große Menge Alkohol zu erschüttern ist, verbindet den Sänger, wie er in politischer Absicht als Verkörperung eines gesellschaftlichen Ideals dargestellt und propagiert wird, mit Sokrates, von dem ja bekannt ist, daß ihn noch keiner in betrunkenem Zustand erleben konnte.313 Sokrates überträgt in höchst suggestiver Argumentationsweise das Merkmal des , das einen Korybantentänzer gemäß der herrschenden Meinung auszeichnet, auf einen anderen Enthusiasten, den Dichter, um schließlich jede Form des von dem vorgängigen Verlust des abhängig zu machen. Dagegen sehen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die es sich zur Aufgabe machen, dem Wesen des nachzuspüren und sich dabei direkt auf Platon berufen, trotz der von ihnen anerkannten Tatsache, daß der Enthusiast zur „Beute des Gottes“ wird und damit das „Selbstopfer der menschlichen Freiheit“ vollzieht, keine Unvereinbarkeit zwischen dem „Geist der Philosophie“ und dem , der nicht als vernunftlos verstanden werden dürfe.314 Dabei übersehen sie, daß es doch ganz offenbar in der 311 312 313 314
Zanker 1995, S. 29. Zanker 1995, S. 33 f. Vgl. etwa Symp. 220 a 4 f., 223 c 6 – d 12. Vgl. Fink 1947, S. 14: „Das flache Vorurteil, die enthusiastische Begeisterung sei mit dem wissenschaftlichen Geiste der Philosophie nicht vereinbar, ist ebenso sehr eine Verkennung der Natur der Begeisterung wie derjenigen der Philosophie; Begeisterung ist nicht ein vernunftloses Gefühl, eine Tollheit und ein Wirbelsinn; eine solche Meinung gehört zu den Requisiten jener vulgären Psychologie, die unter ‚Trunkenheit‘ bestenfalls eine Art von Betrunkenheit sich vorzustellen vermag.“ S. 26: „(...) im Enthusiasmus geschieht das Sichselbstüberschwingen der menschlichen Existenz als das Sichergreifenlassen vom Gott. (...) loslassen muß der Mensch das Endliche, um die Beute der Götter werden zu können: der Enthusiasmus ist zuvor das Selbstopfer der menschlichen Freiheit.“ Daß Eugen Fink die Spannung zwischen dem „wissenschaftlichen Geist der Philosophie“ und dem „Selbstopfer der menschlichen Freiheit“ gar nicht zu bemerken scheint, läßt ahnen, welcher philosophische Geist hier gemeint sein könnte. – Finks Plädoyer für
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2. Die Theorie der Interpretation
Absicht des platonischen Sokrates liegt, den Zustand des mit der Besinnungslosigkeit notwendig zu verknüpfen: Ohne Verlust des kein .315 Daß zwischen dem des Korybanten den steht m. E. in der Nachfolge von Martin Heideggers Dialog Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden“(Heidegger 10 1993). Über diesen Text schreibt Heidegger, er sei 1953 / 54 entstanden, „veranlaßt durch einen Besuch von Prof. Tezuka von der Kaiserlichen Universität Tokio“ (Heidegger 10 1993, S. 269). Blickt man genauer auf das Gesprächsverhalten der beiden Kolloquenten, so fällt auf, daß die Dialogfigur, die als „ein Fragender“ bezeichnet wird, recht selten Fragen stellt, sich vielmehr lehrhaft und die oft schülerhaft wirkenden Fragen des Japaners beantwortend zeigt. Daß sich Heidegger in der Figur des „Fragenden“ selbst zur Darstellung bringen wollte, wird spätestens durch den diskreten Hinweis des „Fragenden“ deutlich, er sei Assistent bei Husserl gewesen (S. 90), dem er ein Buch mit dem Titel Sein und Zeit gewidmet habe. Vom Japaner nach dem Begriff des „Hermeneutischen“ gefragt, gibt der „Fragende“ in dozierendem Ton die folgende Antwort: „Der Ausdruck ‚hermeneutisch‘ leitet sich vom griechischen Zeitwort her. Dies bezieht sich auf das Hauptwort , das man mit dem Namen des Gottes zusammenbringen kann in einem Spiel des Denkens, das verbindlicher ist als die Strenge der Wissenschaft. Hermes ist der Götterbote. Er bringt die Botschaft des Geschickes; ist jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vermag. Solches Darlegen wird zum Auslegen dessen, was schon durch die Dichter gesagt ist, die selber nach dem Wort des Sokrates in Platons Gespräch ION (534 e) ‚Botschafter sind der Götter‘.“ (S. 121 f.) In dieses Lob enthusiastischer Hermeneuten stimmt der anscheinend schwärmerisch veranlagte Japaner mit ein, der es bei dieser Gelegenheit nicht versäumt, seine eigene Belesenheit zu dokumentieren: „Ich liebe den von ihnen genannten kleinen Dialog Platons. An der Stelle, die sie meinen, führt Sokrates die Bezüge noch weiter, indem er die Rhapsoden als diejenigen vermutet, die vom Wort der Dichter Kunde bringen (...) Aus all dem wird deutlich, daß das Hermeneutische nicht erst das Auslegen, sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde bedeutet.“ (S. 122) Über die Vernunft- und Verantwortungslosigkeit, mit der nach Sokrates enthusiastische Zustände erkauft werden müssen, verlieren Heideggers Dialogfiguren, die anscheinend auch übersehen, daß das Prädikat „göttlich“ im Ion negativ konnotiert ist, kein einziges Wort. Rhapsoden und Dichter verstehen sie als göttlich autorisierte Vermittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Mit dieser Vorstellung eines ehrenvollen Botschafteramtes ist die Absenz des natürlich nicht gut verträglich, ein hinreichendes Motiv also, sie lieber ganz zu verschweigen. Vgl. Marten 1989, S. 31, Fn.76: „Gerade Platons Ion ist, entgegen der üblichen Lesart (so auch Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 122) als Dichterkritik zu lesen.“ 315 Daß der Verlust des die unabdingbare Voraussetzung des darstellt, wird von Sokrates so energisch betont, daß Interpreten, denen – sympathischerweise und durchaus in der Nachfolge Homers (nicht aber in der Nachfolge Platons) – an einer „Mitanwesenheit“ der Vernunft liegt, nur die Flucht in die appellative Behauptung bleibt, „das Fehlen von “ bedeute „keineswegs ein absolutes Fehlen von Vernunft“ (Skiadas 1971, S. 89). Im gesamten Ion kann ich keine Stelle finden, die eine Unterscheidung zwischen Verstand () und Vernunft (Skiadas nennt bezeichnenderweise auch keinen griechischen Begriff) nahelegt, so daß das eine abwesend, das andere aber anwesend sein könnte. Auch Stefan Büttners Versuch, – vor dem Hintergrund der im Li-
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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und dem des Dichters womöglich gerade in Hinblick auf die Tätigkeit des gewaltige Unterschiede bestehen, verschweigt Sokrates ganz bewußt. Die Argumentation, durch die Sokrates das Stigma des vom Korybanten auf den Dichter überträgt, läßt sich als Analogieschluß darstellen: (P1 ) Die Dichter geraten beim Dichten in den Zustand des . (P2 ) Die Korybanten geraten beim Tanz in den Zustand des . (P3 ) Die Korybanten sind, wenn sie in den Zustand des geraten, nicht bei Verstand. (K) Also sind auch die Dichter, wenn sie in den Zustand des geraten, nicht bei Verstand. Grundsätzlich ist also die Tendenz festzustellen, daß Sokrates den Begriff des in einer ausgesprochen radikalen Weise denkt: Gemäßigte Formen des , die nicht zu einem völligen Ausschluß des Verstandes, sondern zu einer Art von Mitanwesenheit eigener menschlicher Denkvermögen führen, werden entschieden abgelehnt, obgleich die Selbstverständigung der Dichter an solch gemäßigte Formen denken läßt.316 Die Radikalisierung des -Begriffs geschieht nicht zufällig. Dahinter steht vielmehr eine polemische Absicht:317 Platon läßt Sokrates eine entschiedene Abwertung der enthusiastischen Dichter und Dichterausleger betreiben, die als vernunftlose Gesellen stigmatisiert werden. Damit ist Sokrates vorzuwerfen, daß er seine Gegner nicht in ihrer Stärke nimmt: Die Auseinandersetzung mit gemäßigten Formen des , die nicht in einem Ausschließungsverhältnis zum stehen, wäre einerseits schwieriger, andererseits aber auch lohnender gewesen. „In seinem Bestreben, die Nichtigkeit des dichterischen Eigenwillens zu betonen, entwarf Platon das Musterniengleichnis der Politeia vorgenommenen Differenzierung zwischen und – dem Enthusiasten nur die Ratio ( ), nicht aber den (der Ratio übergeordneten) Intellekt ( ) abzusprechen, kann m. E. nicht überzeugen. Im Ion wird ja ausdrücklich auf dem Fehlen des von Büttner mit „Intellekt“ übersetzten insistiert (vgl. Büttner 2000, S. 11 f.). 316 Vgl. Gundert 1949, S. 29: „Diese beiden Motive, göttliche Offenbarung und Wissen, die in der alten Dichtung vereint sind, treten in Platons Deutung so auseinander, dass sie einander ausschließen.“ Die Behauptung, daß die Dichter eine ganz besondere „im Enthusiasmus vorliegende Erkenntnishaltung“ (Büttner 2000, S. 130) einnehmen, ist Platon – im Unterschied zu Homer und Hesiod – also sicherlich nicht zuzuschreiben. 317 Heinz Schlaffer spricht in diesem Zusammenhang ganz zu Recht von „Platons diffamierender Annäherung von Poesie, Enthusiasmus und Besessenheit“ (Schlaffer 1982, S. 31).
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2. Die Theorie der Interpretation
bild eines inspirierten Dichters, an dem oft ekstatische Züge hervortreten (...), obwohl im traditionellen Dichterbild ekstatische Merkmale nur am Rande erscheinen.“318 Immerhin dient Platon die radikale Fassung des Begriffs qua Abgrenzung zur Etablierung der eigenen Position, und auch in unserem konkreten Fall gewinnt die von Sokrates als philosophisch erdachte Auslegungskunst vor der Folie der enthusiastischen Auslegung an Profil. Die Korybanten sind nicht die einzigen Kollegen, die Sokrates dem enthusiastischen Dichter in polemischer Absicht zur Seite stellt. Treten die Dichter ein in den Strom von Harmonie ( ) und Rhythmus ( ), dann – so Sokrates – schwärmen sie ().319 Wie die von dem Gott Dionysos begeisterten Bakchen () nur dann Milch und Honig aus den Flüssen schöpfen können, wenn sie im Zustand der Ergriffenheit und nicht bei Verstand sind, kommen auch die Dichter nur zu ihren schönen Werken: Denn ein leichtes Ding ist der Dichter, beschwingt und heilig, und nicht eher in der Lage zu dichten, bevor er in göttliche Begeisterung geraten und von Sinnen ist und der Verstand nicht mehr in ihm wohnt. Solange er aber diesen Besitz noch festhält, ist unfähig jeder Mensch zu dichten und Orakel zu künden.320
Erneut betont Sokrates durch einen Analogieschluß, der das Merkmal des diesmal von den Bakchen auf die Dichter überträgt, daß sich dichterisches Treiben notwendig unter Ausschluß des vollzieht, und er weitet den Kreis der Enthusiasten, die besinnungslos an der Muse hängen, immer weiter aus: Nicht nur Dichter, Korybanten und Bakchen, auch Seher und Orakelsänger können ihr enthusiastisches Geschäft erst dann ausüben, wenn der sie bereits verlassen hat.
2.3.3 Die Unberechenbarkeit des Sokrates vermeidet jeden Hinweis darauf, daß zwischen dem der Dichter und Rhapsoden auf der einen Seite und dem der Bakchen auf der anderen Seite eventuell ein Unterschied hinsichtlich des
318 Barmeyer 1986, S. 101, vgl. auch S. 112 f., S. 167. 319 Vgl. Ion 534 a 2-4. 320 Ion 534 b 3-6:
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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bestehen könnte. Dichter und Bakchen sind nach seiner Darstellung zwei Fälle desselben Typus, zwei Exemplare des vernunftberaubten Enthusiasten. Bislang wurde in der Forschung nur wenig berücksichtigt, mit welchen Konnotationen Platon bei seinen zeitgenössischen Lesern rechnen konnte, wenn er Sokrates die Dichter und Rhapsoden so eng mit den Bakchen zusammenbringen läßt. In welchem Ruf die Bakchen bei Platons Zeitgenossen standen, läßt sich m. E. am besten durch einen Blick auf die attische Tragödie321 erschließen, die den Bakchen schon früh ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Bakchen einen festen Ort in der Biographie des Gottes Dionysos besitzen, welche wiederum eine bedeutsame Rolle in der Themenwahl der attischen Tragödie spielt. Besondere Beachtung verdienen dabei – zum einen wegen des nachweisbaren intertextuellen Bezugs zum Ion und zum anderen wegen der literarischen Bedeutung und Wirkungsmächtigkeit des Werkes – die Bakchen322 des Euripides. Im folgenden möchte ich zeigen, daß Platon durch die Anführung der Bakchen seine zeitgenössischen Leser mittels einer indirekten literarischen Mitteilung auf die Gefahr und die Unberechenbarkeit aufmerksam machen wollte, die von der vernunftraubenden göttlichen Begeisterung ausgehen. Die Gefahr, die von Enthusiasten ausgehen kann, klingt im übrigen bereits bei den von Sokrates erwähnten Korybanten an, die gewöhnlich mit den sog. Kureten identifiziert werden, dem bewaffneten und den Waffentanz pflegenden Gefolge der Göttin Rhea. 321 Allgemein kann man zum komplexen Verhältnis zwischen platonischem Dialog und attischer Tragödie die rezeptionstheoretische Annahme formulieren, daß der Dialogautor Platon in seiner literarischen Gestaltung sokratischer Gespräche ein geschultes zeitgenössisches Lesepublikum voraussetzen konnte, das insbesondere durch die anspruchsvolle Rezeption der attischen Tragödie an die Lektüre schwieriger Texte gewöhnt war. 322 mit „Bacchantinnen“ zu übersetzen, scheint mir unglücklich, da durch diese Übersetzung verharmlosende Konnotationen hervorgerufen werden können. sind alles andere als scherzende, weinausschenkende und freundlich lächelnde BacchusGespielinnen. Vgl. Latacz 1993, S. 293: „‚Bakche‘ () ist eine (offenbar uralte) Bezeichnung für eine Anhängerin des Gottes Bakchos ( ; heute noch weiterlebend in der lateinischen Transkription Bacchus); Bakchos war ein anderer Name des Gottes Dionysos. Das Stück ‚Bakchen‘ ist also, wie noch drei weitere der erhaltenen Stücke (‚Hiketiden‘, ‚Troerinnen‘, ‚Phoinissen‘ nach dem (aus Frauen bestehenden) Chor benannt.“ Der durch den Mythos vorgegebene Stoff, mit dem sich Euripides in den Bakchen auseinandersetzt, ist rasch darzulegen und war dem zeitgenössischen Publikum bestens vertraut. Vgl. Latacz 1993, S. 295: „Aristophanes von Byzanz hat den Inhalt (sc. der Bakchen) in einen einzigen Satz komprimiert: ‚Der vergöttlichte Dionysos versetzt, als Pentheus seinen Kult nicht akzeptieren will, die Schwestern seiner Mutter in Wahnsinn und bringt sie so dazu, Pentheus zu zerreißen.‘ Schon die Möglichkeit einer derart kurzen Zusammenfassung zeigt, daß die Geschichte als solche zum uralten Erzählbestand der Dionysoslegende gehörte und für die Zuschauer insoweit nichts Sensationelles darstellte.“
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2. Die Theorie der Interpretation
Sokrates’ Aussage, daß die Bakchen im Zustand des aus den Flüssen Milch und Honig schöpfen,323 steht in einem fast wortwörtlichen Bezug zu dem Botenbericht im 3. Epeisodion der euripideischen Bakchen,324 in dem es über die von Dionysos in Ekstase versetzten, im Kithairon-Gebirge schwärmenden thebanischen Frauen heißt: Wer nach dem weißen Tranke durstig war, Der schürfte mit den Nägeln sich ein Loch, Fand Milch die Fülle. Von den Thyrsen troff Des süßen Honigs überreicher Strom.
In eben demselben Botenbericht werden aber nicht nur die göttlichen Gaben herausgestellt, die den manischen Bakchen zuteil werden, sondern auch die schreckliche Bedrohung, die von diesen Enthusiastinnen ausgeht: Mit furchteinflößender animalischer Gewalt, berichtet der Bote, haben die Bakchen eine ganze Rinderherde mit bloßen Händen zerrissen: Da sah man manche Milchkuh mit Gebrüll Verenden in dem gnadenlosen Arm, Dort wurden Kälber gleicherweis zerstückt Und manche Rippe, manch gespaltner Huf Flog durch die Luft, verfing sich im Geäst Der Tannen, träufelte den blutgen Tau.325
Auch Menschen werden nicht verschont: Die Bakchen plündern und verwüsten Dörfer, verschleppen Kinder und schlagen – von Dionysos selbst unverwundbar gemacht – die bewaffneten Männer, die sich ihnen entgegenstellen, in die Flucht: Nun stürmten sie wie Vögel übers Feld Zum Ufer des Asopos, wo der Strom Dem Volk von Theben seine Ernte reift. Hysa, Erýthra an Kithairons Fluß Ward wie vom schlimmsten Feinde heimgesucht Und alle Habe auf den Kopf gestellt. Die Kinder schleppten sie den Bauern fort Und was die Schultern trugen, hielt von selbst Und nichts fiel auf den Boden, war es auch
! (...) Vgl. Flashar 1958, S. 60 f.
323 Ion 534 a 4-6: (...)
324 Vgl. Bakchen 708-711. Der gesamte Bericht umfaßt die Verse 660-774. (Die deutschen Zitate aus den Bakchen sind der Übersetzung von Ernst Buschor (in Zimmermann 1996) entnommen.) 325 Bakchen 737-742.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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Von Erz, von Eisen. Auf den Locken saß Ein Feuer, das nicht brannte. Voller Wut Zog man mit Waffen gegen sie ins Feld. Da aber trifft das größte Wunder ein Die Lanzen schlagen keine Wunden, um so mehr die Thyrsen, ja die Frauenschar Vertreibt die Männer, weil ein Gott ihr hilft.326
Offensichtlich ist den Bakchen mit militärischen Mitteln, die gegen Menschen gedacht und wirksam sind, nicht beizukommen: Der Einfluß des Gottes hat die thebanischen Frauen, wie ihre bestialische Kraft und Gewalt zeigt, in fast unvorstellbarer Weise gestärkt und damit zugleich entmenschlicht. Die Bakchen sind keine Menschen mehr, sie sind aber auch nicht einfach zu Tieren geworden – Tiere und Menschen sind ja gleichermaßen durch Verletzbarkeit ausgezeichnet – , sondern schlimmer noch zu Untieren, die selbst unverwundbar alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Die enthusiasmierende Kraft des Dionysos, der für die Expansion seines Kultes sorgen und das widerspenstige Theben seine Macht und Gewalt spüren lassen will, ruft weitere Wirkungen hervor. Es bleibt nicht bei dem Wahn der thebanischen Frauen, die als Bakchen das Land verwüsten und die Einwohner töten: Zu dem Wahn der Bakchen gesellt sich der Wahn des sonst so vernunftorientierten Königs Pentheus, der von Dionysos zu dem Plan verleitet wird, sich als Frau zu maskieren, um das Treiben der Bakchen beobachten und in militärischer Absicht auskundschaften zu können. „Im 4. Epeisodion vollendet der Fremde (sc. der unerkannt bleibende Gott Dionysos) eigenhändig Pentheus’ Frauenmaskierung und -kostümierung und wiegt ihn in dem Wahn, zu einer großen Heldentat auszuziehen. Pentheus ist nicht mehr Herr seiner selbst (er ist durch die Maskierung aus seiner normalen Identität ‚herausgetreten‘: Ek-stasis (...)). Er ist in der Hand des Gottes.“327 Pentheus’ Tat, die vordergründig gegen den der Bakchen gerichtet ist, entpuppt sich damit selbst als enthusiastische. Denn wäre der König bei Vernunft, würde er sich nicht auf diese Handlung, die ihm den sicheren Tod verspricht, einlassen: Dionýsos, auf, ans Werk! Du bist ja nah. Er soll es büßen. Stör ihm den Verstand Mit lockrem Wahn; denn ist er bei Vernunft, wird er nie in die Frauenkleider gehen, Er tut es nur, wenn er von Sinnen ist.328 326 Bakchen 748-764. 327 Latacz 1993, S. 297. 328 Bakchen 849-853.
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2. Die Theorie der Interpretation
Pentheus wähnt sich dank seiner Verkleidung in Sicherheit, er geht ins Gebirge, um die Bakchen zu beobachten, und versteckt sich auf einem Baum. Die ankommenden Bakchen jedoch entdecken den König sofort und zerreißen ihn bei lebendigen Leibe. Unter den besessenen thebanischen Frauen befinden sich Pentheus’ Tanten und seine Mutter Agaue, die den abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes für ein Löwenhaupt hält, im Triumph auf einen Thyrsosstab pflanzt und vor dem in die Stadt einziehenden Siegeszug der Bakchen herträgt. Im Zustand des sind die Menschen, wie die Tragödie eindrücklich demonstriert, bloße Werkzeuge der Götter, die sie in Gebrauch nehmen können für Zwecke, die keineswegs den eigenen Zwecken der Menschen entsprechen müssen. So werden die Verwandten des Pentheus zu Mordwaffen des Gottes Dionysos, der selbst ein Interesse an dem Tod des Pentheus hat, weil sich dieser hartnäckig gegen die Einführung des Dionysos-Kultes in Theben sträubt. Damit verdeutlichen die euripideischen Bakchen, auf die Sokrates mit seiner Rede vom „Milch und Honig aus Flüssen schöpfen“ anspielt, daß die den Enthusiasten durch den Gott zuteil werdenden göttlichen Gaben eben nur die eine Seite der Medaille bilden. Zu beachten ist auch die andere Seite: die Gefahr, die von den Enthusiasten ausgeht. Oder genauer: die Gefahr, die von gekränkten Göttern ausgeht, die durch Enthusiasten handeln. Gefahr droht dabei sowohl den Menschen, die es zu tun bekommen mit Gottbegeisterten, die nicht bei Verstand sind, als auch den vernunftberaubten Enthusiasten selbst, die sich wie Pentheus, ohne es zu ahnen, in tödliche Gefahr begeben. Euripides war nicht der einzige Tragiker, der ein Stück mit dem Titel geschrieben hat: „Noch wir wissen, daß an den Dionysien des Jahres 415 der Tragiker Xenokles (von dem wir keine Stückfragmente besitzen) mit einer Tetralogie den ersten Preis errang, die aus den Stücken ‚Oidipus‘, ‚Lykaon‘, ‚Bakchen‘ und ‚Athamas‘ bestand. In der überlieferten Inhaltsangabe der Euripideischen ‚Bakchen‘, die aus der Feder des Aristophanes von Byzanz stammt, heißt es am Ende: ‚Die Geschichte liegt (auch) bei Aischylos im ‚Pentheus‘ vor. (...) bereits für Thespis ist der Titel ‚Pentheus’ überliefert (...)“329 Aufgrund des in der attischen Tragödie häufig verwendeten Stoffes des Pentheus-Mythos hatten Platons zeitgenössische Leser also ausgiebig Gelegenheit, Zeuge des dramatisch dargestellten enthusiastischen Treibens der Bakchen zu werden. Daher scheint es mir plausibel, daß – erstens – die Vorstellung, die sich Platons zeitgenössische Leser von den Bakchen gemacht
329 Latacz 1993, S. 294.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
167
haben, stark von der Art und Weise geprägt ist, wie die Bakchen in den Tragödien dargestellt wurden, und daß – zweitens – Platon diese herkömmliche Vorstellung gezielt genutzt hat, um ein besonderes Licht auf die Dichter und Rhapsoden, die Kollegen der Bakchen in Sachen , zu werfen.330
2.3.4 Der Enthusiast als Unser empeiristischer Rhapsode Ion, der den Enthusiasten bloß spielt, darf sich immerhin anrechnen, daß er in seinen Homer-Vorträgen eine eigene Leistung vollbringt. Mag diese Leistung in den Augen des Sokrates auch keine -gemäße Leistung sein, sondern ein verantwortungsloses sophistisches Geschäft, das philosophisch betrachtet als Fehlleistung zu brandmarken ist, so bleibt sie doch anrechenbare Handlung. Denn der Empeirist ist, wie uns Ions kühl kalkulierender Blick auf die Zuschauer gezeigt hat, bei klarem Verstand. Als sophistischer Empeirist ist Ion verantwortungslos in dem Sinn, daß er keine Rechtfertigung, kein , zu leisten vermag. Dies befreit ihn aber keineswegs von seiner grundsätzlichen Verantwortlichkeit: Ion ist und bleibt zu belangen für sein Tun als einem bewußten Handeln, das er zwar zu verantworten hat, das er jedoch nicht verantworten, d. h. nicht als ein gelingendes Handeln rechtfertigen kann. Dagegen sind dem Enthusiasten, der im Gegensatz zu Ion „wirklich“ Enthusiast und damit im Sinne des Sokrates nicht bei Verstand ist, sowohl Verantwortung als auch Verantwortlichkeit abzusprechen. Sokrates läßt keinen Zweifel daran, daß der „wirkliche“ Enthusiast, dem ein Gott den geraubt hat, keinerlei eigene Leistung vollbringt und selbst nicht mehr Subjekt von Handlungen ist.331 Das von Sokrates in diesem Zusammenhang angeführte Beispiel ist zur Veranschaulichung dieser These gut gewählt: Der Dichter Tynnichos aus Chalkis hat – mit einer entscheidenden Ausnahme – kein Gedicht verfaßt, das irgendwie bemerkenswert wäre. Doch kann ein einziges seiner Gedichte, ein 330 In der Politeia (vgl. insbes. Rep. VIII 561 a 6 – b 5, IX 573 a 4 – b 4) verwendet Sokrates den Begriff der bakchischen Begeisterung in eindeutig negativ konnotierter Weise, sie ist dasjenige, was der philosophischen Besonnenheit diametral gegenübersteht. 331 Vgl. dagegen die Interpretation von Stefan Büttner: „Folgendes ist meines Erachtens dennoch relativ klar geworden: Wenn Platon den Schriftstellern Enthusiasmus zuspricht, so meint er dies weder ironisch noch zitiert er lediglich ihre eigenen Worte, um sie zu verspotten. Platon erkennt vielmehr den Enthusiasmus des Schriftstellers sowie der anderen Enthusiasten als echte Leistung an.“ (Büttner 2000, S. 361)
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2. Die Theorie der Interpretation
von vielen gesungener Päan, den Anspruch erheben, das schönste aller Lieder zu sein: ein wahrer „Fund der Musen“ ( ).332 Denn eben an ihm (sc. dem Päan des Tynnichos aus Chalkis) zeigt der Gott am stärksten auf, daß nicht menschlich diese schönen Gedichte sind und nicht von Menschen, sondern göttlich und von Göttern, daß aber die Dichter nichts sind als die Mittler der Götter, Besessene dessen, von dem jeder einzelne gerade besessen ist. Um dies aufzuzeigen, hat der Gott absichtlich durch den unbedeutendsten Dichter das schönste Lied ertönen lassen.333
Kein Dichter, kein Mensch, sondern der Gott ist es also, der die Gedichte verfaßt.334 Die Werke der Dichter sind eigentlich gar nicht die Werke der Dichter, sondern die Werke des Gottes, der die Dichter als Sprachrohr gebraucht. Wer überhaupt als Dichter in Frage kommt, hängt in keiner Weise mit der Person des Dichters, mit seinen individuellen Fähigkeiten und Mängeln, zusammen: Als Dichter muß und kann man sich nicht qualifizieren, da vom Dichter überhaupt keine besonderen Aufgaben zu erfüllen sind.335 Der Gott tut alles. Vom Dichter ist nicht wie vom idealen Rhapsoden, den Sokrates begrifflich bestimmt hat, eine Vermittlungsleistung gefragt, die eine eigene rhetorische, logische und psychologische Kompetenz voraussetzt. Der Dichter wird zum – doch ohne jedes eigene Zutun. Verantwortlich für das, was die Dichtungen bei den Rezipienten bewirken, ist damit nur einer: der Gott. Der Dichter dagegen ist – als Werkzeug des Gottes – zu Verantwortung wie zu Verantwortlichkeit ebenso wenig in der Lage wie die Schreibfeder,
332 Ion 534 e 1. 333 Ion 534 e 1 – 535 a 1:
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334 Zum Problem der Autorschaft im Rahmen inspirationstheoretischer Ansätze vgl. Barmeyer 1968, insbes. S. 35 f. 335 Dies gilt für den Begriff des , 3, den Sokrates gebraucht, jedoch keineswegs für das Selbstverständnis enthusiastischer Dichter wie Homer. Vgl. Wehrli 1957, S. 48: „(...) nach antiker Enthusiasmoslehre <sind> nur große Naturen dazu fähig (...), sich von der Gottheit ergreifen zu lassen und ihre Ergriffenheit anderen mitzuteilen.“ S. 48, Fn.47: „Schon für Homer stellen Inspiration durch die Gottheit und eigene Leistung keinen Gegensatz dar, cf. Odyssee XXII 347 ", - 1 6 8 ( ; $ 68,7“ Vgl. Latte 1946, S. 154: „Jede geistige Spontaneität stellt sich dieser Zeit (sc. Homers) unter einem doppelten Aspekt dar; sie entspringt dem eigenen Inneren, aber sie ist gleichzeitig auch die Wirkung einer göttlichen Macht, die sie dem Menschen eingibt.“ Vgl. auch Flashar 1958, S. 57 f. und Barmeyer 1968, insbes. S. 70 und S. 95.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
169
die er selbst benutzt. Ob ein bestimmter Mensch in den Zustand des gerät, hängt nach der Darstellung des Sokrates also ausschließlich vom Willen des Gottes und in nichts vom Einverständnis des Menschen ab, der enthusiasmiert wird: Der Mensch, dem der Verstand geraubt wird, kann den Gott weder dazu nötigen, ihn zu enthusiasmieren, noch ihn davon abhalten. Der Mensch ist ganz Opfer, der Gott ganz Täter. Der Gott hat Gewalt über die Vernunft des Menschen, nicht umgekehrt: Der Gott entscheidet, ob und wann er dem Menschen seine Vernunft raubt. Dagegen ist es der Vernunft nicht möglich zu entscheiden, ob und wann der Gott den Menschen als Werkzeug in Gebrauch nimmt. Angewendet auf den Fall eines Rhapsoden, der sich in konkreten Wettkampfsituationen mit seinen Kollegen und Konkurrenten zu messen hat, muß das Konzept des vernunft- und willenlosen Enthusiasten problematisch wirken: Ein Rhapsoden-Agon findet an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde statt. Nun verfügt der enthusiastische Rhapsode nach Sokrates über keine eigene Fähigkeit, die er genau zur geforderten Zeit aktualisieren könnte. Gewinnen kann der Rhapsode den Wettkampf nicht durch seine eigene Leistung, sondern nur durch eine Leistung, die der Gott durch ihn erbringt. Doch den Gott zu dieser Leistung zu zwingen und den gleichsam in Auftrag zu geben, ist dem Rhapsoden unmöglich, er kann nur hoffen, daß es dem Gott gefällt, den des jedesmal wieder neu wahrzunehmen.336 Zwischen dem enthusiastischen Charakter, den Sokrates dem Rhapsoden zuschreibt, und den konkreten Anforderungen, wie sie sich durch die zeitgenössische Aufführungs- und Wettkampfpraxis der Rhapsoden ergeben, herrscht eine nicht zu unterschätzende Spannung. Ein professioneller Rhapsode, der aus dem einen Beruf macht, ist nur schwer vorstellbar. Über den Charakter poetischen und rhapsodischen Schaffens, das streng genommen gar kein Schaffen, keine Handlung, sondern rein passives Gebrauchtwerden ist, möchte der Gott auch das Publikum des Dichters, so Sokrates, nicht im Unklaren lassen. Es liegt vielmehr in der Absicht des Gottes, die Zuhörer darüber aufzuklären, daß alle Enthusiasten im Grunde keine eige-
336 Dieser Situation entspricht Ions Antwort auf Sokrates’ Aufforderung, auch den Rhapsodenwettkampf des Panathenäenfestes zu gewinnen: „Nun denn! Das wird geschehen, so Gott will.“ (Ion 530 b 4: ) – Zur Situation des Enthusiasten, dem sein enthusiastischer Zustand nicht frei verfügbar ist, vgl. auch Barmeyer 1968, insbes. S. 92-96.
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2. Die Theorie der Interpretation
ne Leistungen vollbringen,337 sondern lediglich als göttliche Werkzeuge fungieren: Der Gott raubt den Dichtern, den Orakelkündern und den göttlichen Sehern den , damit wir, die wir zuhören, wissen, daß nicht sie es sind, die so wertvolle Dinge sagen, denen doch der nicht mehr innewohnt, sondern der Gott selbst es ist, der spricht, durch sie hindurch aber seine Stimme zu uns dringt.338
Offenbar ist das über den aufgeklärte Auditorium, von dem hier die Rede ist, gerade kein weiteres Glied in der Kette der Enthusiasten, sondern gewinnt aus einer distanzierten Beobachterposition heraus Einsicht in den Charakter des . Wer den in seiner Vernunftund Verantwortungslosigkeit erkennen und beurteilen will, darf selbst gerade kein Enthusiast sein.339 Doch mit Sokrates’ Bild vom Magnetstein ist diese Annahme eines kritischen Interpreten, der am Ende der Vermittlungskette den der Enthusiasten als solchen erkennt, kaum zu vereinbaren: Auch der letzte Ring der Enthusiastenkette, besser: des Enthusiastengeflechts, kann, sofern man dem Bild folgen mag, nur eines sein: enthusiastisch: Weißt du denn, daß so ein Zuschauer der letzte von den Ringen ist, die, wie ich sagte, durch den Herakleischen Stein von einander ihre Kraft empfangen?340 337 Vgl. Fink 1947, S. 31: „Und daher haben die enthusiastisch Ergriffenen kein Anrecht auf den Ruhm, den Nachhall geschichtlicher Tat. Und ein Volk soll die großen Gedanken mehr ehren als den Denker, die Kunstwerke mehr als den Künstler, die heiligen Worte mehr als den Künder. Der Lorbeer des Ruhmes ziert die Stirn der Heroen.“ Eugen Fink ist sich mit Sokrates darin einig, daß dem Enthusiasten keine zurechenbare Handlungen und damit weder Lob noch Tadel zuzuschreiben sind, doch darf diese Gemeinsamkeit den zentralen Unterschied nicht überspielen: Während Sokrates dem , wie er ihn in seiner radikalen Form vorführt, außerordentlich kritisch gegenüber steht, bejaht Fink den samt dem damit verbundenen „Selbstopfer der menschlichen Freiheit“ (Fink 1947 S. 26). 338 Ion 534 c 7 – d 4: ! " ! ! # ! $ % & '! ( ) * + , - .$ * ( /0 1 // 2 % & 3 # % )//4 - /0 % 500 '67 339 Man kann hier von der notwendigen Unaufgeklärtheit des Enthusiasten über sich selbst sprechen, da der , wie Sokrates ihn versteht, selbst die Abwesenheit des , die Aufklärung über den dagegen die Anwesenheit des erforderlich macht. Dagegen plädiert Eugen Fink für rein enthusiastische Reden über den : „Die würdige Rede ist allein eine solche, die selbst enthusiastisch vom Enthusiasmus redet. Gegenüber der Selbstaussage der enthusiastischen Existenz bleibt jeder Versuch, gleichsam von außen über den Enthusiasmus zu reden, eine klägliche Angelegenheit.“ (Fink 1947, S. 9) 340 Ion 535 e 7-9: 89 : , . 3 + /$ ; % < 0= ;/0 >? / @ /$ )4 )//A/ 3 / B# C
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
171
Das Bild des Magnetsteins wirft damit Probleme auf, die das gesamte Vermittlungsmodell fragwürdig werden lassen: Wenn das letzte Glied der Kette selbst ein Enthusiast ist, zu wem wird dann gesprochen? Die Enthusiasten sind allesamt , so daß sie zwar als Vermittlungsglieder, nicht aber als verständige Adressaten göttlicher Rede in Frage kommen. Um das Vermittlungsmodell aufrecht halten zu können, müßte, da die Enthusiasten stets nur vermitteln, ohne selbst zu verstehen, am Ende der Kette ein Rezipient stehen, der selbst nicht wieder vermittelt, sondern das Gesagte und Vermittelte versteht. Ist der Zuschauer als der letzte in der Kette aber selbst Enthusiast, dann spricht der Gott ins Leere! Die göttliche Rede muß ungehört verhallen, da sie zwar über zahlreiche Vermittlungsglieder, aber über keinen verfügt, dem etwas vermittelt wird. Wo auch immer Platon seine Dialogfiguren über Rede reflektieren läßt, spielt die Adressatengerichtetheit der Rede eine zentrale Rolle: Etwas wird stets zu jemandem gesagt. „Vermitteln“ ist als ein (mindestens) zweistelliges Prädikat zu verstehen: Etwas wird immer jemandem vermittelt. Doch im speziellen Fall der göttlichen Rede, wie sie Enthusiasten zur Vermittlung in Dienst nimmt, fehlt ein nicht vernunftberaubter Adressat, zu dem etwas gesprochen und dem etwas vermittelt werden könnte. Dies hat zur Konsequenz, daß auch der Status des Dichters als problematisch werden muß: Ist niemand da, dem etwas vermittelt werden könnte, welchen Sinn hat es dann, vom Vermittler einer Botschaft zu sprechen?341 Die angesprochene Problematik läßt sich m. E. nur dadurch lösen, daß die durch das Bild vom Magneten angezeigte hermetische Enthusiastenkette aufgesprengt wird: Nicht jeder, der mit Enthusiasten in Berührung kommt, wird damit selbst enthusiasmiert. Anscheinend rechnet Sokrates ja selbst mit Rezipienten, die immun sind gegen die vernunftraubende Kraft des : Wie könnte sonst der Gott die Rezipienten des Dichters darüber aufklären, daß nicht der Dichter selbst, sondern der Gott durch den Dichter spricht? Für die Dichterinterpretation heißt dies, daß Sokrates – anders als das Bild vom Magnetstein im Grunde verlangt – die Möglichkeit einer nicht-enthusiastischen Auslegung enthusiastischer Dichter mitnichten ausschließt. Wenn der Enthusiast, wie Sokrates ihn faßt, nicht bei Verstand und ganz zum vernunft- und willenlosen Werkzeug () des Gottes geworden ist, dann erinnert diese Charakterisierung an Aristoteles’ Ausführungen über die 341 Auch die Annahme, der Gott spreche trotz des Mangels an verständigen Rezipienten nicht ins Leere, sondern zu sich selbst, bietet hier m. E. keine Entschärfung der Problems: Ist der Gott zugleich Sender wie Empfänger der Botschaft, dann stellt sich die Frage, warum es der ganzen „Vermittlung“ überhaupt bedarf.
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2. Die Theorie der Interpretation
Sklaven in der Politik:342 Der Sklave wird dort bestimmt als ein beseeltes und belebtes Werkzeug ( ), im Unterschied zu einem unbeseelten und unbelebten Werkzeug ( ) wie dem Steuerruder eines Schiffes. Da auch freie Menschen, die – wie etwa ein Hilfssteuermann – untergeordnete Tätigkeiten verrichten, nach Aristoteles als beseelte Werkzeuge zu verstehen sind, ist der Sklave genauer nicht nur als beseeltes Werkzeug, sondern sogar als eine Art beseeltes Besitzstück ( )343 zu fassen. Der Sklave von Natur (), um den es hier gegenüber dem Sklaven gemäß dem herrschenden Recht geht,344 ist zwar ein Mensch. Aber er ist kein Mensch, der sich selbst gehört, er ist der Mensch eines anderen. Ist der Sklave stets der Sklave eines Herrn, so ist zwar auch der Herr stets der Herr eines Sklaven. Doch als reziprok ist dieses Verhältnis nicht zu denken, da der Herr zwar Herr des Sklaven, selbst aber nicht des Sklaven ist, während der Sklave nicht bloß Sklave seines Herrn, sondern schlechthin seines Herrn ist. Hieraus erhellt denn, welches die Natur und welches die Bedeutung eines Sklaven ist: Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein Sklave von Natur. Eines andern aber ist ein Mensch, der, wenn auch Mensch,
342 Zum folgenden vgl. insbes. Politik, I 3-7. 343 Politik I 4 1253 b 32. – Als „Besitzstück“ ( ) unterscheidet sich der Sklave von den Werkzeugen im gewöhnlichen Sinne ( ) auch dadurch, daß die Werkzeuge dem Ziel ( ) dienen, ein Produkt ( ) hervorzubringen, das losgelöst von dem Produktionsvorgang weiterbestehen kann, während ein nicht auf die Hervorbringung ( von Produkten, sondern auf den Vollzug von Handlungen ( ) ausgerichtet ist, die ihr in ihrem Vollzug selbst haben. Kurz: Die sind , das ist ein
(vgl. insbes. Politik I 4 1254 a 1-2). 344 Aristoteles unterscheidet im 6. Kapitel des 1. Buches der Politik zwischen dem Sklaven von Natur ( ) auf der einen Seite und dem Sklaven gemäß dem herrschenden Recht ( ) auf der anderen Seite. Ein Mensch, der von Natur kein Sklave, sondern ein Freier ist, kann durch unglückliche Umstände – etwa Kriegsgefangenschaft – zum Sklaven gemacht werden. Doch ändert sich durch seine Versklavung nicht seine , der Versklavte bleibt von Natur ein Freier, doch ist er nun dem herrschenden Recht gemäß ein Sklave und zwar gegen seine eigene Natur ( ). Auch die gegenteilige Konstellation ist möglich: Ein Mensch, der von Natur Sklave ist, kann durch glückliche Umstände gemäß dem herrschenden Recht zum Freien werden – auch dies gegen die eigene Natur. Entsprechen sich und nicht, dann muß nach Aristoteles Gewalt () im Spiel sein. Dem Sklaventum , sofern es zugleich ist, steht Aristoteles daher ablehnend, dem Sklaventum zustimmend gegenüber: Diejenigen und nur diejenigen Menschen sollen – nützlicher- und gerechterweise (!) – Sklaven sein, die von Natur Sklaven sind, da es nicht nur ihren Herren, sondern auch ihnen selbst zuträglich ist, wenn sie ihrer gemäß als Sklave leben.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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ein Besitzstück ist. Ein Besitzstück aber ist ein tätiges und getrennt für sich bestehendes Werkzeug.345
Ist der Sklave auch Besitzstück und Mensch eines anderen, so ist er doch Mensch und muß daher im Grunde – gemäß der aristotelischen Bestimmung des Menschen als – Vernunft besitzen. Doch hier macht Aristoteles Abstriche: Der Sklave „hat“ selbst keine Vernunft ( ), er „hat bloß Anteil“ an der Vernunft, die ein anderer selbsthaft hat: Nur der ist von Natur ein Sklave, der eines andern sein kann – weshalb er auch eines anderen ist – und der an der Vernunft nur insoweit teil hat, daß er sie in anderen vernimmt, sie aber nicht selbst hat.346
Der Sklave ist also nicht völlig vernunftlos, er steht in einem gewissen Bezug zur Vernunft, doch ist die Vernunft nicht das eigene tätige Vermögen des Sklaven, sondern das des Herrn, auf das der Sklave rein rezeptiv ausgerichtet ist. Vor dem Hintergrund der skizzierten aristotelischen Überlegungen lassen sich insgesamt vier Arten der Instrumentalisierung voneinander unterscheiden, die zur genaueren Beschreibung der Art und Weise, wie der Gott nach Sokrates den Enthusiasten als Werkzeug in Gebrauch nimmt, hilfreich sein können. Zunächst ist die Instrumentalisierung eines unbeseelten Werkzeugs von der eines beseelten abzuheben. Als Beispiel für ein unbeseeltes Werkzeug kann das Steuerruder angeführt werden. Die beseelten Werkzeuge sind weiter zu differenzieren in diejenigen, die keinerlei Bezug zum haben – wie der Ochse, den der Bauer auf dem Acker als Werkzeug verwendet347 –, und diejenigen, die einen eigenen Bezug zum besitzen. Diese müssen wiederum unterteilt werden aufgrund der genaueren Art des Bezugs zum : Die einen haben – wie der Untersteuermann, der von Natur kein Sklave, sondern ein freier Mensch ist – selbst Vernunft, die anderen haben wie der 345 Politik I 4 1254 a 11-16: ! " # $ % $ ! & '( ) * % + +,(! - . % + +,(! - & /(' ( 0!( . 346 Politik I 5 1254 b 20-23: '( % 1 + 2 3 + 4 !5 ' 6 ,1 , ) 0. – Damit scheint die Menschlichkeit, die Aristoteles auch dem Sklaven von Natur ja durchaus zugestehen möchte, unter der Hand in Frage gestellt: Gehört streng aristotelisch gedacht denn nicht das eigene „Haben“ (0) der Vernunft (') notwendig zum Menschsein? Genügt eine Teilhabe an, bzw. eine vermittelte Gemeinschaft (!) mit der Vernunft, um als Mensch gelten zu können? 347 Vgl. Politik I 2 1252 b 9-15.
174
2. Die Theorie der Interpretation
Sklave von Natur, der als bestimmt wird, nur Anteil an der Vernunft, die ein anderer hat.348 Übersicht über die vier Arten der Instrumentalisierung:
kein
Beispiel: Steuerruder
kein
Beispiel: Ochse
Teilhabe am ()
Beispiel: Sklave
Besitz des ( )
Beispiel: Hilfssteuermann
ohne Bezug zum
mit Bezug zum
Wie ist nun – vor dem Hintergrund der durch Aristoteles gewonnenen Differenzierung – die besondere Art und Weise zu verstehen, durch die der Gott den Enthusiasten als Werkzeug in Gebrauch nimmt? Der Gott instrumentalisiert den Enthusiasten nicht in der Weise, wie nach Aristoteles der Steuermann den Hilfssteuermann gebraucht, sondern so, wie der Steuermann das Ruder349 oder der Bauer den Ochsen in Gebrauch nimmt: als ein , das selbst 348 Aristoteles diskutiert auch im Zusammenhang seiner Seelenteilungslehre die Anteilhabe ( ) des Unvernünftigen am Vernünftigen (vgl. etwa NE I 6 1098 a 3-5; I 13 1102 b 18 – 1103 a 4). Dort wird das Hören und Gehorchen des Unvernünftigen damit verglichen, wie man sich als Unerfahrener in praktischen Dingen nach dem Rat des Vaters und dem der Freunde richtet. (Daß die Auswahl der Freunde, die hier als „signifikante Dritte“ zu verstehen sind, selbst schon ein Akt der Vernunft ist oder zumindest sein sollte, wird von Aristoteles nicht angesprochen.) Demnach ist der vernunftbegabte Teil der Seele zweifach: Der eine Teil hat Vernunft in sich selbst, der andere hat sie auf die Weise, wie ein Kind auf den Vater hört, d. h. er hat nicht selbsthaft Vernunft, sondern bloß an ihr Anteil. 349 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß nicht nur der enthusiastische Dichter, sondern auch ein Musikinstrument mit demselben Begriff „Sänger“ ( ) bezeichnet werden kann. Vgl. Barmeyer 1968, S. 81: „Im Hermeshymnos (Vers 25) wird geschildert, wie der Gott Hermes das Saiteninstrument erfand: ‚Hermes machte die Schildkröte als erster zu einem Sänger‘ ( ), d. h. er benutzte den bauchigen Schildkrötenpanzer als Schallkörper. Ein vom Gott erfundenes Musikinstrument wird als ‚Sänger‘ bezeichnet. In diesem Beispiel läßt sich wiederum die Gottgebundenheit musischer Äußerung erkennen. Aufschlußreich ist die Gleichsetzung Instrument = Sänger. In dem Mythos verbirgt sich die antike Vorstellung von der Eigenart des göttlichen Aoidos. Er wird
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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keinen , keinen hat, ja noch nicht einmal – wie der Sklave von Natur – an der Vernunft teilhat. Wird ein Mensch, der von Natur aus kein Sklave ist, versklavt, dann wird er nach Aristoteles zwar zum Sklaven , seine jedoch wird davon nicht in Mitleidenschaft gezogen: er bleibt ein freier Mensch. Sein Zustand, Sklave und zugleich freier Mensch zu sein, ist ein Zustand, der selbst
ist. Entsprechendes muß für den Enthusiasten gelten, den der Gott in Besitz nimmt: Gehört die Vernunft wesenhaft zum Menschen,350 dann ist der Raub der Vernunft, der sich im Eintritt des vollzieht, ein Akt, der zu einem Zustand führt. Ist selbst der Sklave „von Natur“ bei Aristoteles auch als Werkzeug ein Mensch geblieben, der an der Vernunft immerhin noch Anteil hat, so muß der Enthusiast das verlieren, was gerade – sowohl im Sinne Platons als auch im Sinne Aristoteles’ – das Menschliche an ihm ausmacht: die eigene Weise zu denken und zu handeln und die Handlungen in freier dialektischer Selbstverantwortung zu vertreten.351 Die Enthusiasten sind für ihren und für ihre Taten in diesem Zustand nicht verantwortlich,352 da sie ohne ihr eigenes Zutun vom Gott ergriffen als ein Instrument, ein Organon, als Werkzeug der Gottheit angesehen. Kraft göttlicher Eingebung erhält das Instrument die Fähigkeit zu singen.“ 350 Daß die Vernunft den Menschen als Menschen auszeichnet, ist alles andere als eine Spezialität der aristotelischen Philosophie. Die Bestimmung des Menschen als hat ihren Vorläufer in der platonischen Anthropologie, die das „Eigentliche“ des Menschen in der Seele und das „Eigentliche“ der Seele in dem Denkvermögen, dem
, ansetzt. 351 Vgl. Barmeyer 1968, S. 13 f.: „Die These von der Inspiration wirkt unglaubwürdig, wo sie auf ein Menschenbild stößt, in dem die Ratio einen existenziellen Vorrang behauptet vor allen ihr vorgelagerten Impulsen. (...) Wird die menschliche Selbstverwirklichung vor allem der rationalisierten Vernunft abverlangt, so erscheint die Hinwendung zu einer prälogischen Realität als Rückschritt.“ 352 Im Lobpreis der Helena verteidigt Gorgias Helena gegen alle Anschuldigungen, indem er ihre Handlungen auf mögliche Ursachen zurückführt, denen gemeinsam ist, daß sie Helenas Handlungen als nicht zurechenbare ausweisen sollen: „Entweder nämlich nach dem Willen des Geschicks, den Ratschlüssen der Götter und der Abstimmung der Notwendigkeit tat sie, was sie tat, oder aber mit Gewalt geraubt oder mit Reden bekehrt . Wenn aber aufgrund des ersten, dann verdient beschuldigt zu werden, der eine Anschuldigung vorbringt: denn eines Gottes Vorsatz kann menschliche Vernunft unmöglich hindern. Von Natur aus gilt nämlich, daß nicht das Stärkere vom Schwächeren gehindert, sondern das Schwächere vom Stärkeren beherrscht und geleitet wird, und also das Stärkere führt, das Schwächere aber folgt. Doch ist ein Gott stärker als ein Mensch an Gewalt sowohl wie an Weisheit und allem sonst. Wenn also dem Geschick und dem Gott die Schuld anzulasten ist, so ist Helena gewiß von der Verleumdung zu befreien.“ (Übersetzung nach Buchheim 1989, S. 7; zur Frage, ob Helena oder die Götter die Schuld am Ausbruch des Krieges tragen, vgl. Ilias III 164, zum Verhältnis des Stärkeren zum Schwächeren vgl. Thukydides I 77, 3) Diese Ausführungen des
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2. Die Theorie der Interpretation
werden und die Taten dann auch keine eigenen Handlungen der Enthusiasten, sondern nur mehr Handlungen des Gottes sind.353 Stolz können sie darauf aus dem gleichen Grund nicht sein.354 Sie handeln, sie wirken nicht mehr selbst, allein das Göttliche handelt – durch sie. Dichter und Rhapsode sind gewiß „göttliche Männer“, doch ist das Göttliche hier in einzigartiger Weise negativ konnotiert.355 Denn erkauft wird die Göttlichkeit durch eine Art der Totalinstrumentalisierung, die im Grunde nichts anderes ist als die völlige Entmenschlichung des Menschen, der nicht mehr Subjekt „seiner“ Handlungen sein kann.356 Eben deshalb ist der Enthusiast zwar „göttlich“, aber kei-
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Gorgias stehen Sokrates’ Verständnis des Enthusiasten offensichtlich sehr nahe. Gleiches gilt für den Begriff der , der bei Gorgias ebenso negativ konnotiert ist wie bei Sokrates (vgl. Lobpreis der Helena 17, Buchheim S. 14 f.). – Vgl. auch im Römerbrief den Gedanken einer nicht „von außen“, sondern gleichsam „von innen“ verursachten Fremdbestimmtheit des Menschen, der im Falle schlechter und nicht-gewollter Handlungen ganz unter dem Diktat von „Fleisch“ und „Sünde“ steht: „Wir wissen, daß das Gesetz selbst vom Geist bestimmt ist; ich aber bin Fleisch, d. h. verkauft an die Sünde. Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, daß das Gesetz gut ist. Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die ihn mir wohnende Sünde. Ich weiß, daß in mir, daß heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde.“ (Röm. 7, 14-20) Wird die Sünde dergestalt vom „Selbst“ und vom Willen des Menschen unterschieden, wird die Zurechenbarkeit von Handlungen zu keinem kleinen Problem. Da der Gott nicht durch den Enthusiasten zu beeinflussen ist, muß diesem auch die Möglichkeit einer vernünftigen Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung abgesprochen werden. Vgl. dagegen etwa Ottomar Wichmann, der Ion berechtigten „Künstlerstolz“ und „Genialität“ zuschreibt: Ion stelle „den erfolgreichen Künstler dar, der es nicht nötig hat (...), über das Wesen der Kunst zu theoretisieren (...), dem die graue Theorie an sich ziemlich gleichgültig sein kann und ist.“ (Wichmann 1917, S. 90) Dagegen sieht Eike Barmeyer mit der „Göttlichkeit“ der Dichter und Rhapsoden eine „Würdigung (...) der Dichter und überhaupt der Musiké“ angezeigt: „Im Ion wird dem Dichter (und seinem Vermittler) ebenfalls alles Wissen abgesprochen. Diese Tatsache bietet dort aber keinen Grund zur Ablehnung der Dichter, sondern beweist vielmehr in Sokrates’ Augen, daß die Dichter und ihre Vermittler von den Göttern geleitet werden, daß sie selbst göttlich sind.“ (Barmeyer 1968, S. 169; vgl. auch S. 150 f.) Vgl. hierzu die von meiner Deutung grundlegend abweichende Interpretation von Stefan Büttner, der nicht nur den philosophischen , sondern alle im Phaidros aufgeführten Formen des als eigene intellektuelle Höchstleistungen der Enthusiasten begreift: „Der Enthusiasmus hat seinen Namen daher, daß sich der Schriftsteller dabei seines göttlichsten Vermögens, des Intellektes, besonders bedient.“ (Büttner 2000, S. 373). Nicht der Dichter bedient sich des Intellekts, der Gott bedient sich des Dichters, der sich eben deshalb keines Intellektes mehr bedienen kann.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
177
neswegs „gottgeliebt“ ( ).357 Angesichts der Instrumentalisierung, Entmenschlichung und Vergegenständlichung, die der Enthusiast durch den Verlust des zu erleiden hat, ist es m. E. kein Zufall, daß Sokrates vom enthusiastischen Dichter als von einer Sache ( )358 spricht. Damit unterscheidet sich die Göttlichkeit der enthusiastischen Dichter, Rhapsoden und Bakchen fundamental von der ganz anderen Göttlichkeit, wie sie nach Platon den dialektischen Philosophen auszeichnet: Während jene durch den von außen kommenden Gott ihres Verstandes beraubt werden, gelingt es diesem, das göttliche Vermögen in ihm, d. i. den eigenen, ihn als Menschen ausmachenden Verstand, in ausgezeichneter Weise zu realisieren. Die vom Philosophen zu praktizierende „Verähnlichung“ mit dem Göttlichen359 geschieht also nicht dadurch, daß der Gott einbricht und den Verstand raubt, sondern durch die eigene Denk- und Verstandestätigkeit. Gilt das, was bislang über die Instrumentalisierung des Menschen durch den ausgeführt wurde, auch für den spezifischen Fall des enthusiastischen Rhapsoden? In einer anderen Hinsicht jedenfalls unterscheidet sich der des Rhapsoden im Sinne des Sokrates merklich von dem der Dichter, der Korybanten, der Bakchen und der Orakelsänger: Der Unterschied liegt jedoch gerade nicht darin, daß einzig der enthusiastische Rhapsode bei Verstand bleiben könnte, auch der Rhapsode muß, wie Sokrates hervorhebt, im Zustande des seinen verlieren, sondern vielmehr darin, daß der Rhapsode in keinem direkten Kontakt mit der göttlichen Kraft steht, die ihn in Besitz nimmt und als Werkzeug gebraucht. Nicht unmittelbar von der Muse, sondern bloß vermittelt über den Dichter wird der Rhapsode enthusiasmiert. Bildet der besinnungslose Dichter den ersten Ring der Enthusiastenkette, so der gleichermaßen besinnungslose Rhapsode den zweiten. Wird der Dichter immerhin noch von der Muse selbst seines Verstandes beraubt, kann der Rhapsode dagegen nicht einmal mehr auf einen direkten Kontakt mit der Muse verweisen, er ist gleichsam tertiär. Wie im 10. Buch der Politeia die Werke der Dichter und Maler als bloße Abbilder von Abbildern bestimmt werden, kann der Rhapsode nur als Enthusiasmierter eines Enthusiasmierten gelten. Weit entfernt von der , die den Ursprung des poetischen darstellt, ist der Rhapsode
357 Vgl. Rep. II 382 e 3: „Aber sagte er (sc. Adeimantos), kein Unvernünftiger und Wahnsinniger ist je von Gott geliebt.“
358 Ion 534 b 4. 359 !, vgl. Tht. 176 b 1.
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2. Die Theorie der Interpretation
.360 Wie der Dichter ist ohne eigenes Zutun, so ist der Rhapsode ohne eigenes Zutun.
Einen scherzhaften, doch keineswegs uninteressanten Gegenentwurf zu den vernunftberaubten enthusiastischen Vermittlern göttlicher Botschaften, wie sie der Ion vorführt, präsentiert im Phaidros361 der von Sokrates erzählte Zikaden-Mythos, in dem die Philosophie als Dienst an den Musen Kalliope und Urania gedeutet wird: In einer Zeit, als es die Musen noch nicht gab, waren die jetzigen Zikaden Menschen. Als die Musen geboren wurden, waren diese Menschen so bezaubert, daß sie über dem Singen Essen und Trinken vergaßen und starben, ohne es auch nur zu bemerken. Von denen stammt dann in der Folgezeit das Geschlecht der Zikaden, die von den Musen betraut sind mit der Gabe, keinerlei Nahrung zu bedürfen von Geburt an, sondern alsbald zu singen ohne Speise und Trank bis an ihr Ende und danach zu den Musen zu kommen und ihnen zu melden, wer von hienieden wem von ihnen huldigt. (...) Der ältesten aber, Kalliope, und der zweiten nach ihr, Urania, nennen sie die, die ihr Leben der Philosophie widmen und die der Kunst dieser beiden huldigen; sind es doch unter den Musen gerade diese beiden, die am meisten sich mit dem Universum befassen und mit Reden über Götter und Menschen und die daher den schönsten Gesang vernehmen lassen.362
360 Vgl. Rep. X 599 d 2. 361 Vgl. Phdr. 258 e 6 – 259 d 8. 362 Phdr. 259 c 2 – d 7:
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losophie hier – unter Rückgriff auf ausschließlich inhaltliche und zudem reichlich vage bleibende Momente wie „Reden über Himmel, Götter und Menschen“ – als die vortrefflichste Form der 1 bestimmt wird (vgl. Phd. 60 d 8 – 61 b 7), darf nicht dazu führen, daß methodische Momente, die andere Formen der 1 betreffen, nun auf die Philosophie zurückübertragen werden: Die Philosophie stellt insofern eine 1 in einzigartiger Weise dar, als allein sie zur argumentativen Rechenschaftsgabe für die ausgesagten ! in der Lage ist (vgl. zu diesem Punkt auch die Deutung der Philosophie als Form der im Phaidros (unten Kap. 2.3.8)). Diesen methodischen Vorzug philosophischer Rede übersieht Gadamer, wenn er zwar noch zu Recht festhält, daß nach Platon das „Dichten göttlicher Wahnsinn und Besessenheit, jedenfalls (...) kein Wissen, kein Können , das über sich selbst und seine Wahrheit Rechenschaft zu geben vermöchte“, dann aber dieser nicht argumentativ verfahrenden Rede nicht das dialektische Verfahren des Philosophen, sondern das Nichtwissen des Sokrates gegenüberstellt: „Ob die ‚göttlichen Männer‘ die Wahrheit sagen, (...) das will Sokrates wirklich nicht entscheiden.“ (Gadamer 1934, S. 8)
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
179
Als göttliche Sänger und Spione in Personalunion sind die Zikaden zwar Helfer, aber sicherlich keine vernunftberaubten Werkzeuge der Götter. Waren sie zu Menschenzeiten noch besinnungslose Enthusiasten, die derart vom Göttlichen ergriffen waren, daß sie nicht einmal ihren eigenen Hungertod bemerkten,363 sind sie in ihrem zweiten Leben aufmerksame und kritische Beobachter geworden, denen zudem eine enthusiasmierende Kraft innewohnt, ohne daß die Träger dieser Kraft selbst enthusiasmiert sein müßten. Diese Möglichkeit widerspricht dem Bild des Magnetsteins im Ion, demzufolge nur derjenige Mensch enthusiasmieren kann, der selbst bereits enthusiasmiert wurde. Dagegen hat schon die Person des Ion gezeigt, daß auch ein nüchterner Schauspieler, der selbst sehr wohl bei Verstand ist und kühl seine Mittel einzusetzen vermag, bei seinem Publikum eine enthusiasmierende Wirkung entfalten kann. Bemerkenswerterweise ist der Gesang der Zikaden nichts, was dem Philosophieren, auf das die Zikaden ja vor allem zu achten haben, zuarbeitet. Im Gegenteil: Sokrates und Phaidros müssen aufpassen, daß sie nicht von dem Gesang der Zikaden bezaubert, eingeschläfert und damit vom Philosophieren abgehalten werden. Obgleich sie selbst hellwache Beobachter sind und die Wachheit philosophischer Gespräche zu schätzen wissen, lullen die Zikaden diejenigen ein, deren Lebenswandel sie zu beurteilen haben, wobei ihnen die Trägheit des menschlichen Geistes zu Hilfe kommt. Wer einschläft und auf diese Weise seiner Vernunft verlustig geht, wird von den Zikaden, wie Sokrates sagt, zurecht verlacht und für ungebildet gehalten.364 Sehen sie jedoch, wie wir uns unterhalten und uns nicht ablenken lassen durch ihren sirenenhaften Gesang, dann möchten sie Respekt gewinnen und uns vielleicht jene Gabe zuteil werden lassen, die die Götter ihnen für die Menschen gegeben haben.365
Die göttlichen Sänger und Spione würdigen also eben die Menschen, die ihre Vernunft – trotz des Gesangs – zu bewahren und im philosophischen Gespräch 363 Der scherzhafte Ton des Mythos sollte nicht verdecken, daß Sokrates hier deutlich auf die Gefahr hinweist, die vom für die von ihm überwältigten Menschen ausgeht. Die Zikaden sind in ihrem früheren Leben Opfer des geworden, und in ihrem neuen Leben stellen sie selbst durch die Kraft ihres enthusiasmierenden Gesanges eine Bedrohung dar. 364 Das Einschlafen der Menschen, die von der enthusiasmierenden Kraft der Zikaden überwältigt werden, ist ein schöner Hinweis darauf, daß Enthusiasten keine Subjekte von Handlungen, auch nicht von eigenen Sprachhandlungen, sein können. 365 Phdr. 259 a 6 – b 2: !" # $% & " %' (
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180
2. Die Theorie der Interpretation
zu bewähren wissen. Damit erscheint die enthusiasmierende und vernunftraubende Kraft, wie sie dem Zikadengesang eigen ist, gleichermaßen als Gefahr wie als Prüfstein. Wer sich nicht einlullen läßt, von dem berichten die Zikaden den Musen, gerade weil er ihrer enthusiasmierenden Kraft widerstanden hat, nur Gutes. Den Gesang der Zikaden bezeichnet Sokrates als sirenenhaft. Gehen wir diesem aufschlußreichen Vergleich nach: Im 12. Gesang der Odyssee warnt Kirke Odysseus vor den zahlreichen Gefahren der anstehenden Reise und gibt ihm wertvolle Ratschläge. Selbst erfahren in der Zauberei macht Kirke Odysseus insbesondere auf die Gefahr aufmerksam, die von dem einerseits wunderschönen, andererseits verderbenbringenden Gesang der Sirenen ausgeht: Zuerst wirst du zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande ihnen nähert und den Laut der Sirenen hört, dem treten nicht Frau und unmündige Kinder entgegen, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es schrumpfen rings an ihnen die Häute. Du aber steuere vorbei und streiche über die Ohren der Gefährten Wachs, honigsüßes, nachdem du es geknetet, daß keiner von den anderen höre; selbst aber magst du hören, wenn du willst. Doch sollen sie dich in dem schnellen Schiff mit Händen und Füßen aufrecht an den Mastschuh binden – und es seien die Taue an ihm selber angebunden –, damit du mit Ergötzen die Stimme der beiden Sirenen hörst. Doch wenn du die Gefährten anflehst und verlangst, daß sie dich lösen, so sollen sie dich alsdann mit noch mehr Banden binden!366
Indem er Sokrates den Gesang der Zikaden als sirenenhaft bezeichnen läßt, weist Platon seine zeitgenössischen Leser, denen die eben zitierten HomerVerse ja durchaus präsent waren, auf die Ambivalenz von größter Schönheit und größter Gefahr367 hin, wie sie nicht nur mit dem Gesang der Sirenen, sondern auch mit dem Gesang der Musen und Zikaden verwoben ist: Wer seine 366 Od. XII 39-54. 367 Durch die Schönheit des Sirenengesangs, die allein Odysseus ungefährdet genießen kann, ist zugleich auch auf das eigene Potential des verwiesen, das allerdings nur von dem zum Guten genutzt werden kann, der nicht zu bezaubern ist (vgl. auch unten Kap. 2.3.7). Zur Deutung der Sirenen im Schlußmythos der Politeia und zum Todesgesang der durch den „sophistischen“ Gott Hades selbst bezauberten Sirenen in der Unterwelt (vgl. Crat. 403 d 7 – e 6) vgl. Thomas 1938, S. 23 f. Auf die enge Verwandtschaft zwischen Sirenen und Musen hat Hermann Koller aufmerksam gemacht.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
181
Vernunft nicht zu bewahren vermag, sondern durch den musischen Zauber überwältigt wird, dem droht der Zauber gerade wegen seiner bezwingenden Schönheit zum Schaden zu gereichen. Wer dagegen – wie Odysseus in der Odyssee und Sokrates im Phaidros – nicht „eingesungen“ wird, dem ist eine göttliche Gabe versprochen, die dezidiert nicht darin besteht, als Enthusiast die eigene Vernunft zu verlieren und zum göttlichen zu geraten. Im Falle des Phaidros kann man vielmehr sagen, daß die angesprochene Belohnung für die dem Zikadengesang gegenüber unempfindlich bleibende Bewahrung der Vernunft im Vollzug des philosophierenden Gesprächs selbst liegt. Kein Wunder, daß Phaidros der Aufforderung des Sokrates, jetzt nur nicht einzuschlafen, sondern munter philosophische Gespräche zu führen, gerne nachkommt.
2.3.5 Der Politiker als Enthusiast im Menon Man könnte vermuten, daß Sokrates’ These im Ion, jede Form des
setze den Verlust des notwendig voraus, in Spannung zum Menon steht, wo Sokrates bemerkenswerterweise die Politiker als Enthusiasten bezeichnet. Diese Spannung läßt sich jedoch m. E. leicht durch einen Blick auf die Gründe entschärfen, die Sokrates allererst dazu motivieren, auch den Politiker in für heutige Leser sicherlich kontraintuitiver Weise368 als Enthusiasten zu deuten. In der betreffenden Passage des Menon369 unterscheidet Sokrates zunächst zwei Möglichkeiten, wie etwas nicht durch Zufall (), sondern durch menschliche Handlung und Leitung zum Guten geraten kann: Und richtig leiten könnten nur diese zwei allein, die wahre Vorstellung ( ) und die Erkenntnis ( ), und der Mensch, der diese besitzt, leite richtig. Denn was durch Zufall () wird, wird nicht durch menschliche Leitung; Vgl. Koller 1963, S. 48: „Die Pieriden und die Sirenen sind Nymphengruppen wie die Musen und hatten ähnliche Aufgaben. Wie die Musen widmeten sie sich dem kitharodischen Lied und Tanz (...)“ 368 Vgl. Barmeyer 1968, S. 48 (vgl. auch S. 141 f.): „Die musisch-inspirative Erfahrung betrifft nicht nur den Dichter-Sänger, wenn sie an ihm auch exemplarisch erlebt wird, sie zeigt sich außerdem wirksam in philosophischen, rhetorisch-politischen und pädagogischen Prozessen, d. h.: sie hält in ihrem Einflußbereich Realitätsbezirke zusammen, die heute nicht als wesensverwandt angesehen werden. (...) Die Würdigung der musischen Inspiration scheint stellvertretend zu stehen für eine prinzipielle Würdigung vorrationaler Erfahrungen.“ Diese Aussage Barmeyers kann im speziellen Falle Platons in ihrer Reichweite beibehalten werden, doch gilt nun das Gesagte nicht für die Würdigung, sondern für die Abwertung der musischen Inspiration. 369 Zum folgenden vgl. Men. 99 a 1 – d 5.
182
2. Die Theorie der Interpretation
wodurch aber der Mensch Führer ist zum Rechten, das seien nur diese beiden, die wahre Vorstellung und die Erkenntnis?370
Den zu Handlung und Entscheidung befähigten Politikern spricht Sokrates die entschieden ab: Ohne Fähigkeit, Rechenschaft abzulegen (
) über das, was sie durch ihre Reden bewirken, kann den Politikern allenfalls die das Wahre treffende Meinung oder Vorstellung, die , zuerkannt werden.371 In Hinblick auf ihre Unfähigkeit zum
und die daraus resultierende Folge, den Status der niemals zu Recht beanspruchen zu können, sind die Politiker den uns aus dem Ion bekannten Enthusiasten vergleichbar. Während im Ion der vorgängige Verlust des zur Unfähigkeit zum
führt, wird den Enthusiasten im Menon zwar immerhin eine zugebilligt, doch was das Unvermögen zum
angeht, sind sie ihren Kollegen im Ion ebenbürtig: Also wenn nicht Erkenntnis, so ist richtige Vorstellung das Übrigbleibende, vermittelst dessen die staatskundigen Männer die Staaten verwalten, ohne, was wahre Einsicht betrifft, besser daran zu sein als die Orakelsprecher und Wahrsager. Denn auch diese sagen viel Wahres, wissen aber nichts von dem, was sie sagen.372
Sokrates rechnet also nicht deswegen Politiker und Dichter gleichermaßen zu den Enthusiasten, weil er die Absicht hat, den Dichtern wie den Politikern zuzuschreiben, sondern um den Politikern wie den Dichtern die Fähigkeit zum
abzusprechen. Die entscheidende Differenz zwischen und liegt nicht darin, was gesagt oder was getan wird, sondern in den Gründen, die man für seine Aussagen oder seine Handlungen anführen kann. Äußern sowohl der Wissende als auch der Meinende denselben , so sind sie dennoch nicht in gleicher Weise in der 370 Men. 99 a 1-5:
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(Die deutschen Zitate aus dem Menon sind der Übersetzung von F. Schleiermacher entnommen, in Eigler 1970-1983) 371 Vgl. Barmeyer 1968, S. 152. Das argumentativ nicht ausweisbare Treffen des Richtigen, wie es nach Sokrates bei Enthusiasten mitunter anzutreffen ist, hat bereits Tate (mit Verweis auf die wichtige Stelle in Rep. VI 506 c 1-9) in pointierter Weise charakterisiert: „Poets, prophets, and statesmen, benighted as they are, are sometimes right. They are like lucky blind men who by the help of Providence escape the ditch.“ (Tate 1929, S. 148) 372 Men. 99 b 11 – c 5: + 4 2 ! "- +,. 2 * !* , 5 6 7 2
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
183
Lage, diesen argumentativ zu stützen, d. h. neue ins Spiel zu bringen, die den zu verteidigenden stärken, ihm zu Hilfe kommen können.373 Denn im Unterschied zum Wissenden verfügt derjenige, der nur zufällig das Richtige meint, „noch nicht über die Gründe, welche diese Meinung gegenüber anderen Ursachen widerstandsfest machen.“374 Dies heißt nun insbesondere, daß der Meinende – als Meinender – auch nie um den genauen Charakter seiner wissen kann: Ob die , die er eben hat, nun eine oder eine ist, kann nicht aus der Perspektive des Meinenden, sondern nur aus der des Wissenden heraus entschieden werden. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, daß sich die selbst als und damit mißversteht.375 In diesem Fall müßte also – unabhängig von der Frage, ob der Meinende in Bezug auf den Sachverhalt, über den er eine Meinung hat, nun richtig oder falsch liegt – mit Blick auf den Status der von einer falschen Meinung gesprochen werden. Allerdings irren sich die Meinenden nicht zwangsläufig über den Status ihrer , es ist auch möglich, daß man nicht nur über eine verfügt, sondern zudem zu erkennen vermag, daß diese nicht , sondern eben nur ist. Diese Erkenntnis über den Status der als kann man offensichtlich nicht als Meinender, sondern nur als Wissender vollziehen: In diesem Fall ist einerseits von einer (mit Bezug auf einen Sachverhalt), andererseits aber auch von einer (mit Bezug auf den Status der ) zu sprechen. Insofern eine Person eine Meinung über etwas hat, ist ihr , insofern sie aber auch Einsicht in den Charakter dieser hat, ist ihr zuzuschreiben. Einen dritten Fall bildet der Meinende, der (mit Bezug auf einen Sachverhalt) eine und (mit Bezug auf den Status dieser ) weder eine Erkenntnis noch eine falsche Meinung, sondern eine richtige Meinung besitzt. Während sich ein Meinender demnach über den Status seiner Meinung auch irren und sie für Wissen halten kann, ist es prinzipiell auszuschließen, daß sich auch der Wissende mit Blick auf den Status seines Wissens irren und es etwa für bloße Meinung halten könnte. Dem Wissen inhäriert notwendig 373 Damit läßt sich die Möglichkeit einer Homologie denken, an der einerseits ein Wissender, andererseits ein Meinender partizipieren: Der geteilte ist zwar derselbe, doch ist nur der Wissende in der Lage, diesen , den auch der Meinende für wahr hält, argumentativ auszuweisen, d. h. ihn nicht nur als wahren hinzustellen, sondern zu begründen. 374 Vgl. Ferber 1998, S. 427. 375 Vgl. auch die Ansicht des Aristoteles zum Selbstmißverständnis der Während die Nicht-Wissenden bloß meinen, im Zustand des Wissens zu sein, sind es die Wissenden auch: ! " (...) (An. post. I 71 b 13-15)
184
2. Die Theorie der Interpretation
ein selbstreflexiver Zug: Wer um etwas weiß, der weiß auch, daß er darum weiß. Da sich der Wissende allein wissend, nicht aber bloß meinend zu seinem Wissen verhalten kann, lassen sich systematisch nur die folgenden vier Fälle unterscheiden: (1)
Wissen in Bezug auf einen Sachverhalt: Wissen in Bezug auf den Status dieses Wissens: ( p)
(2)
Meinung in Bezug auf einen Sachverhalt: Wissen in Bezug auf den Status dieser Meinung: ( p)
p
(3)
Meinung in Bezug auf einen Sachverhalt: Wahre Meinung in Bezug auf diese Meinung:
( p)
p
(4)
Meinung in Bezug auf einen Sachverhalt: Falsche Meinung in Bezug auf diese Meinung: ( p)
p
p
Mit dieser Feststellung ist allerdings das systematische Problem verbunden, wie sich denn der Wissende als Wissender erkennen kann, wenn sich doch auch der Meinende als Wissender und damit falsch verstehen kann: Das Selbstverständnis, über etwas nicht nur , sondern zu haben, ist allein offenbar kein Garant für die Korrektheit dieses Selbstverständnisses. Der Weg, wie sich der Anspruch auf erhärten läßt, führt notwendig über die argumentative Auseinandersetzung im Gespräch. Nur wenn das gelingt, kann dieser Anspruch berechtigterweise aufrechterhalten werden. Obgleich die Politiker in jedem Falle über , mitunter sogar über die
verfügen und in diesem Falle Bedeutendes bewirken, schreibt ihnen Sokrates zwar – wie Ion in dem Schlußwort des gleichnamigen Dialogs – das ambivalent wirkende Prädikat zu, das Prädikat dagegen ab: Ist es nun nicht recht, Menon, diese Männer göttlich zu nennen, welche ohne die Vernunft zu gebrauchen, vielerlei Großes richtig vollbringen von dem, was sie reden und tun?376
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376 Men. 99 c 7-9:
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
185
Daß Sokrates unter nicht wie Aristoteles die artbildende gemeinsame Eigenschaft aller Menschen, sondern vielmehr ein Merkmal versteht, das spezifisch die göttlichen Philosophen auszeichnet, kann einer Bemerkung im Timaios entnommen werden. Dort grenzt Sokrates und zwar durch eine ganze Reihe von Kriterien gegeneinander ab,377 doch liegt der entscheidende Punkt m. E. auch hier im , das wohl mit dem , nicht aber mit der verknüpft ist: Aber jene beiden (sc. und ) sind als zwei zu bezeichnen, da sie gesondert entstanden und von unähnlicher Beschaffenheit sind. Denn das eine (sc. der ) entsteht in uns durch Belehrung (
), das andere (sc. die
) durch Überredung (); das eine ist stets mit wahrer Begründung verbunden, das andere ist unbegründet; das eine ist durch Überredung nicht zu bewegen, das andere ist umzustimmen; des einen ist, muß man sagen, jedermann teilhaftig, der Vernunft aber die Götter und von den Menschen nur eine kleine Gruppe.378
Im Menon ist die Präsenz der für Sokrates offensichtlich kein hinreichender Grund, den Politikern ein zuzugestehen, dagegen scheint ihre Unfähigkeit zum sowohl der Grund für die Aberkennung der wie für die des zu sein. heißt hier also nicht, daß man überhaupt nicht denkt, eine kann ja durchaus präsent sein, sondern nur, daß man für das, was man behauptet oder handelnd vollzieht, argumentativ nicht einstehen kann: Mit Recht also würden wir sowohl die göttlich nennen, deren wir eben erwähnten, die Orakelsprecher und Wahrsager, als auch alle Dichtenden: Und auch den Staatsmännern könnten wir nicht am unverdientesten unter diesen dasselbe beilegen, daß sie göttlich sind und begeistert, angehaucht und bewohnt von dem Gotte,
377 Während Aristoteles, insbesondere im 6. Buch der Nikomachischen Ethik scharf zwischen und als zwei unterschiedlichen Formen des differenziert, behandelt Sokrates die Begriffe und in der engen Verbindung mit der Fähigkeit zum und der gemeinsamen Abgrenzung gegenüber der weitgehend synonym. 378 Tim. 51 e 1 – 52 a 6: ! " # $ % &' %
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$ $ 2 " – Vgl. Diller 1971, S. 214: „Die Einsicht der 3 ist nicht verfügbar; sie fällt dem Menschen ohne sein Zutun, eben 4 4 zu, so daß er nur zufällig, wenn auch ‚immer wieder‘, das Richtige ‚treffen‘ kann (Men. 97C). Einsicht, die nicht verfügbar ist, kann auch nicht gelehrt werden (...)“
186
2. Die Theorie der Interpretation
wenn sie durch Reden viele Geschäfte glücklich vollbringen, ohne etwas eigentlich zu wissen von dem, worüber sie reden.379
Im Ion bedeutet die für den notwendig vorausgesetzte Absenz des zwar auch die Unfähigkeit zum , zugleich aber mehr: nämlich das Faktum, daß der Mensch als Beute und Werkzeug des Gottes gänzlich seiner Vernunft und seines Willens verlustig geht. Demgegenüber ist im Menon eine gewisse Modifikation zu verzeichnen: Der Enthusiast ist nicht – wie im Ion – durch seinen -Charakter, sondern vorrangig durch eine epistemologisch gefaßte methodische Unzulänglichkeit stigmatisiert: Ihm mangelt das Vermögen, die eigenen Aussagen und Handlungen als gerechtfertigte aufweisen zu können. Trotz dieses Unvermögens hat der Politiker des Menon durch den etwas gewonnen: eine eigene , gegebenenfalls sogar eine , die er allerdings nicht selbsthaft verantworten kann. Im Unterschied zu den enthusiastischen Dichtern und Bakchen des Ion, die durch den rein gar nichts gewinnen, sondern zu Werkzeugen des vernunftraubenden Gottes geraten, sind seine Handlungen die seinen geblieben, auch wenn sie als solche nicht argumentativ ausweisbar sind. Zusammenfassend läßt sich über das Motiv, aus dem heraus Sokrates die Politiker als Enthusiasten bezeichnet, also folgendes sagen. Die Politiker sind durch vier signifikante, eng miteinander zusammenhängende Eigenschaften ausgezeichnet: (1)
Die Politiker können wahre Aussagen treffen und richtig handeln.
(2)
Die Politiker sind im Besitz der .
(3)
Die Politiker sind nicht im Besitz der .
(4)
Die Politiker sind nicht zum in der Lage.
Sokrates’ Motiv, den Politiker als Fall des Enthusiasten zu deuten, trägt namentlich der vierten angeführten Eigenschaft Rechnung, so daß im Falle des Menon das zentrale Stigma des nicht wie im Ion im Charakter der Enthusiasten, sondern in ihrer Unfähigkeit zum anzusetzen ist. 379 Men. 99 c 11 – d 5:
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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Eine Alternative zu der von mir vorgelegten Deutung bildet Hermann Gunderts Interpretation, der den , wie er im Menon debattiert wird, wegen der „Mittelstellung“ der in der Nähe der Philosophie angesiedelt sieht: „(...) in Wahrheit geht Platon im Menon (96 e ff.) über die reine Paradoxie des Enthusiasmos, wie sie uns im Ion begegnete, bereits hinaus, indem er das gute Treffen aus göttlicher Begeisterung gleichzeitig als richtiges Meinen, als , und damit nun doch zugleich als ein menschliches Vermögen deutet, das im platonischen System der Erkenntnis seine Stelle in der Mitte zwischen dem radikalen Nichtwissen und dem erfüllten Wissen innehat – eben die Stelle, die ja auch das Philosophieren einnimmt (Symp. 202 a, 204 a).“380 Hier ist m. E. kritisch anzumerken, daß – erstens – keineswegs garantiert ist, daß ein Enthusiast in der Tat über eine wahre Meinung verfügt, und daß – zweitens – die , sei sie nun wahr oder falsch, gerade durch ihr erkenntnistheoretisch signifikantes Unvermögen zum charakterisiert ist. Dieses Unvermögen aber eignet im Sinne Platons genau nicht der dialektischen Gesprächs- und Argumentationskunst des Philosophen, der im elenktischen Gespräch seine Fähigkeit zur argumentativen Rechenschaftsgabe unter Beweis zu stellen versteht. In einer früheren Passage des Menon war Sokrates – im Umkreis der Erörterung der Unvergänglichkeit der Seele – auf Priester und Priesterinnen zu sprechen gekommen, die ein stolzes (und keineswegs selbstverständliches)381 Projekt in Angriff nehmen, nämlich den mit der Fähigkeit zum
zu verbinden: Die es sagen (sc. die Unvergänglichkeit der Seele behaupten), sind Priester und Priesterinnen, denen daran gelegen ist, von dem, was sie verwalten, Rechenschaft geben zu können. Es sagt es auch Pindaros und viele andere Dichter, welche göttlicher Art sind. Und was sie sagen, ist folgendes, erwäge aber wohl, ob dich dünkt, daß sie wahr reden. Sie sagen nämlich, die Seele des Menschen sei unsterblich, so
380 Gundert 1969, S. 183. 381 Burkert 3 1994, S. 60: „Sokrates führt dort (sc. im Menon) die Lehre der Seelenwanderung ein, indem er behauptet, er habe dies gelernt von ‚Männern und Frauen, die in göttlichen Dingen weise sind‘, ‚Priesterinnen und Priester, denen daran liegt, daß sie über das, was sie praktizieren, Rechenschaft (logos) geben können‘. Andere Priesterinnen und Priester, ist zu schließen, gaben sich diese Mühe nicht, sondern begnügten sich mit den traditionellen Hantierungen, ohne sich um Erklärungen viel zu bekümmern. Auch so funktioniert religiöses Ritual (...)“ – Vgl. auch die nahezu synonyme Verwendung der Begriffe „Priester“ ( ) und „Tempeldiener“ ( ) in den Nomoi (unten Fn. 424 auf S. 204).
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2. Die Theorie der Interpretation
daß sie jetzt zwar ende, was man sterben nennt, und jetzt wieder werde, untergehe aber niemals. Und deshalb müsse man aufs heiligste sein Leben verbringen.382
Ob den Priestern und Priesterinnen, denen Sokrates augenscheinlich – und nicht zum eigenen Nachteil – mit großem Respekt begegnet,383 dieses Vorhaben überhaupt gelingen kann, ist allerdings offen geblieben; klar ist nur, daß auf keinen Fall die eigene kritische Prüfung des von den Enthusiasten Vernommenen durch die Rezipienten entfallen darf. Schließlich muß die Frage, ob die Priester und Priesterinnen wahr reden, von den Hörern selbst untersucht und entschieden werden: ! Legt man den -Begriff des Ion zugrunde, so ist das angekündigte Vorhaben der Priester und Priesterinnen ohnehin zum Scheitern verurteilt: Ohne keine Möglichkeit zum . Und auch der modifizierte -Begriff, wie wir ihn nun aus späteren Stellen des Menon entwickelt haben, läßt keine Hoffnung, daß irgendein Enthusiast – als Enthusiast – zur argumentativen Rechenschaftsgabe befähigt sein könnte: Selbst die Politiker, die durch den zur gelangen, befinden sich eben deshalb in einem Zustand, der sich dezidiert durch das Unvermögen zum von der unterscheidet. Den einzigen Weg, wie der mit der Fähigkeit argumentativer Rechenschaftsgabe verbunden werden kann, wird die Deutung der Philosophie als die erotische Form der im Phaidros aufzeigen – allerdings mit der Konsequenz, daß diese spezielle Form eines philosophischen so speziell ist, daß es fraglich wird, ob es denn überhaupt noch sinnvoll ist, sie als zu bezeichnen.
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382 Men. 81 a 10 – b 3:
383 Nicht nur wegen der vertretenen These von der Unvergänglichkeit der Seele, die ja auch Sokrates selbst immer wieder zu beweisen unternimmt, auch wegen der proklamierten Methode, für diese Thesen begründend und argumentierend einstehen zu wollen, avancieren die angesprochenen Priester und Priesterinnen zu Autoritäten, wie der Philosoph sie sich wünscht – und auch sogleich argumentativ einzusetzen versteht: Wird den Priestern und Priesterinnen aufgrund ihres Bestrebens, eigene Aussagen zu rechtfertigen, eine besondere Autorität zugeschrieben, so wird diese Autorität von Sokrates auch selbst in Gebrauch genommen, um die eigene These von der Unvergänglichkeit der Seele durch eben diese Autorität zu untermauern. Wir haben damit den Fall eines Autoritätsarguments vor uns, das nicht einfach auf eine vorgefundene Autorität rekurriert, sondern die Autorität, auf die es sich dann berufen will, allererst etabliert.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
2.3.6
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Die ungleiche Kooperation von und im Timaios
Eignet den Politikern, wie Sokrates sie im Menon denkt, keine , sondern – und auch dies nur im besten Fall – die , dann kommt ihnen neben der Möglichkeit einer wahren Meinung notwendig auch die Möglichkeit einer falschen Meinung zu und ebenso notwendig die prinzipielle Unsicherheit, ob eine konkrete nun eine oder eine ist. Gleichwohl sind bedeutende Resultate von Aussagen und Handlungen zu verzeichnen, die auf die zurückgehen.384 Die enthusiastischen Politiker vollbringen „vielerlei Großes“ ( ).385 Denn was die Wahrheit der Aussagen und die Effektivität der Handlungen angeht, muß die keineswegs hinter der zurückbleiben.386 Trotz der scharfen Kritik, die Sokrates im Ion an dem vernunftraubenden übt, findet er in diesem und auch in anderen Gesprächen für die Werke der Enthusiasten lobende Worte: Viel Wertvolles ( ) werde von den Dichtern, den Orakelsängern und Sehern verkündet,387 den enthusiastischen Dichtern seien schöne Gedichte ( ) zu verdanken,388 und es sind gerade die guten Ependichter und die guten Liederdichter, von denen Sokrates behauptet, daß sie in göttlicher Begeisterung und Ergriffenheit ihre schönen Dichtungen singen.389 Von nicht-begeisterten Dichtern können dagegen keine schönen Dichtungen erwartet werden: Im Phaidros behauptet Sokrates sogar, daß jeder, der ohne musischen Wahnsinn ( !) an die Pforten der Poesie kommt und überzeugt ist, er werde allein schon mit "# zum rechten Dichter werden, selbst ungeweiht ()390 bleiben 384 Hellmut Flashar (1958, S. 91) spricht von der „Paradoxie, daß im ohne festes Wissen etwas Großes und Schönes hervorgebracht wird.“ 385 Vgl. Men. 99 d 4. 386 Vgl. Horn 1997, S. 310: „Wissen und Meinen bleiben für Platon auch hier (sc. im Menon) prinzipiell verschiedene epistemische Leistungen, auch wenn sie im Resultat identisch sein mögen; dasselbe zeigt der Theaitetos, in dem eine Identifizierung von Wissen und richtiger Meinung ausdrücklich abgelehnt wird.“ Vgl. auch Flashar 1958, insbes. S. 118. 387 Ion 534 c 7 – d 4. 388 Ion 534 e 3. 389 Vgl. Ion 533 e 5-8: ! " # $%& '((()
390 Sokrates gebraucht im Phaidros – allerdings nicht in der gleichen Intensität wie im Symposion – Begriffe wie ", die auch in der Mysterienterminologie Verwendung finden. Vgl. Riedweg 1987, S. 37: „Ohne die Verknüpfung mit der * würde man " vielleicht im wörtlichen Sinne verstehen. Doch klingt hier (sc. in Phdr. 245 a 5) aufgrund des ganzen Zusammenhangs die mysterienterminologische Bedeutung ‚unein-
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2. Die Theorie der Interpretation
muß, während seine Dichtung als ein Werk nüchterner Besonnenheit vor der Poesie des Inspirierten verschwindet.391 Die Hochschätzung, die Sokrates im Ion anders als etwa im zweiten, dritten und zehnten Buch der Politeia gegenüber den Werken der Dichter an den Tag zu legen scheint, ist wohl – neben der später noch genauer zu betrachtenden Thematisierung des im Phaidros – der Grund, warum eine stark vertretene Forschungsmeinung im Ion einen positiven392 oder zumindest einen wertneutralen393 Begriff des verwendet sieht. Da diese geweiht‘ zumindest mit.“ Vgl. auch Thomas 1938, insbes. S. 35-37, und Schildknecht 1990, S. 52, Anm. 67, die Platons Gebrauch der Mysterienterminologie vor dem Hintergrunde einer „Nicht-Propositionalität von Philosophie“ deutet und eine interessante Parallele bei Lichtenberg aufzeigt. 391 Vgl. Phdr. 245 a 5-8. 392 Die sokratische Polemik gegen den , die bereits Mehmel 1954, S. 33 gut herausgestellt hat, wird völlig übersehen von Egil Wyller, der den sogar noch über die stellt. Vgl. Wyller 1958, S. 36: „Zweitens wird das Verhältnis zwischen beiden Formen (sc. und ) bewertet. Der Enthousiasmos ist die höchste und erhabenste. Er hat denselben Platz innerhalb des Werks inne, wie die Sonne im Höhlengleichnis.“ Es fällt auf, daß Wyller, wenn er seine Sympathie mit dem mitteilt, sich nicht nur vager, Argumente ersetzender Assoziationen, sondern auch einer orakelhaften Ausdrucksweise bedient, die ihm sonst fremd ist: „Die Frage des Lesers wird: Wie liessen sich die beiden Seiten der Interpretation, die der Techne und die des Enthusiasmos, einmal tatsächlich vereinigen – in der geheimnisvollen Gestalt des Sokrates? Diese Frage besagt dasselbe wie: Was ist die ?“ (Wyller 1958, S. 38) Wyllers Einschätzung des wird geteilt von Hellmut Flashar: „So ergeben sich für den Dichter drei Prädikate: leicht, beflügelt und heilig. Wenn in diesen drei Prädikaten, wie es durch Form und Inhalt der Argumentation im Ion nahegelegt zu sein scheint, Platons Stellung zu den Dichtern ihren echten Ausdruck findet, wird man nicht leichthin die ganze Lehre vom für ironisch halten können, sondern sich fragen müssen, ob nicht Platon den Ursprung und das Wesen der Dichtung tiefer gesehen hat, als man ihm aufgrund der ‚Dichterkritik‘ in der Politeia zuzugestehen geneigt ist. Zunächst aber wird man sagen müssen, daß die hier gegebene Charakterisierung der Dichter keinerlei abwertendes Urteil enthält.“ (Flashar 1958, S. 63, vgl. auch S. 91, Fn.2; ähnlich bereits Stählin 1900, S. 17 f., und jüngst Büttner 2000, vgl. insbes. S. 361-365) Selbst Eike Barmeyer spricht – trotz seiner sonst ausgezeichneten Ausführungen über antike Inspirationstheorie – von Platons „Anerkennung des Enthusiasmus“ und kommt zu dem Fazit: „Platon schließt den Enthusiasmus an sich von jeder Kritik aus, er differenziert nur verschiedene Ergebnisse, die der Mensch z. B. als Dichter oder als Philosoph aus der enthusiastischen Erfahrung gewinnen kann.“ (Barmeyer 1968, S. 166) Barmeyers Deutung beruht m. E. auf einem (auch sonst öfters anzutreffenden) Mißverständnis des philosophischen , der von dem des Dichters – gerade in Hinblick auf die Möglichkeit argumentativer Rechenschaftsgabe – grundverschieden ist (vgl. unten Kap. 2.3.8). 393 Vgl. etwa Pöhlmann 1976, S. 205: Die „negativ formulierten Aussagen über den dichterischen Schaffensprozeß (sc. wie „ “) implizieren aber noch kein Werturteil über Dichtung, sondern sollen diese lediglich gegen und abgrenzen.“
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Forschungsmeinung meiner These, daß Sokrates im Ion gegen den polemisiert, indem er den enthusiastischen Rhapsoden als eine Negativfolie gegenüber dem ideal erdachten rhapsodischen Techniten verwendet, entgegensteht, möchte ich kurz auf sie eingehen. Betrachten wir zunächst Manfred Fuhrmanns Ausführung über und : „Platon arbeitet auch hier (sc. im Ion) mit der Antithese von rationaler Planmäßigkeit ( ) und unbewußter Eingebung; er setzt indes kein Wertverhältnis, keine Rangfolge fest, jedenfalls nicht ausdrücklich; es geht ihm lediglich um die Verschiedenheit der beiden Tätigkeitsweisen. Daher konnte sich der Platonismus – sicherlich nicht ganz im Sinne Platons – gerade auf den Ion berufen, wenn es galt, die Würde begnadeten künstlerischen Schaffens zu erweisen; die von Gott ausgehende, sich über den Dichter und den Rhapsoden mitteilende Begeisterung (...) wird derart wirkungsvoll geschildert, daß man annehmen möchte, dem Verfasser sei das Phänomen der dichterischen Ekstase durchaus nicht fremd gewesen.“394 Dagegen ist m. E. der Einwand vorzubringen, daß der nicht eine andere Handlungsweise gegenüber der , sondern selbst gerade gar keine Handlungsweise ist. Denn die Möglichkeit einer Handlung setzt stets voraus, daß sich ein Akteur im Besitz des befindet und die Option hat, etwas zu tun oder etwas zu lassen. Der ist keine eigene Aktion des Dichters oder des Rhapsoden, er ist etwas, das den Dichter und Rhapsoden als rein passives und zu Widerstand unfähiges Objekt ergreift, ihn in Besitz nimmt, ihn vergegenständlicht und dies so, daß der Enthusiast – solange er bleibt – kein Subjekt von Handlungen mehr sein kann. Die These, daß Platon womöglich selbst in dichterischer Ekstase geschrieben habe, scheint mir angesichts der komplexen Argumentationszusammenhänge, die wir in den Dialogen vorfinden, nicht glaubwürdig: Setzt der nach Sokrates den Verlust des Verstandes voraus, dann ist es zwar grundsätzlich möglich,395 m. E. aber wohl eher unangebracht, den Verfasser der platonischen Dialoge in diesem Zustand zu denken. Etwas anderes ist es freilich, 394 Fuhrmann 2 1992, S. 78-79. 395 Ein Vertreter der -Konzeption kann schließlich das Argument präsentieren, daß aus der „rationalen“ Struktur eines Werks nicht geschlossen werden muß, daß der menschliche Autor während der Verfassung der Schrift bei Verstand war. Das letztendlich entstandene Werk sagt nichts über den Zustand des menschlichen Verfassers aus, wenn man den Begriff des Verfassers vor dem Hintergrund der Konzeption betrachtet. Faßt man den -Gedanken nämlich so radikal und konsequent, wie er von Sokrates vorgeführt wird, dann kann aus der „rationalen Struktur“ des Werkes höchstens gefolgert werden, daß der „wahre“ Verfasser der Schrift, d. i. der Gott, nicht aber der als Werkzeug benutzte Enthusiast bei Verstand war.
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2. Die Theorie der Interpretation
den im Phaidros geschilderten Begriff des spezifisch philosophischen auf Platon anzuwenden. Doch ist dieser Begriff des von dem, den Sokrates im Ion gebraucht, weit entfernt: Die philosophische Ekstase nämlich meint genau nicht den Verlust, sondern den höchsten Gewinn der Vernunft.396 Auch Hellmut Flashar behauptet – im Nachwort zu seiner Übersetzung des Ion397 –, daß „der Begriff Enthusiasmus als solcher in seiner Anwendung auf den Dichter nichts ironisch Abwertendes an sich“ hat. Dem ist entgegen zu halten, daß der Begriff im Ion eben nicht allein auf den Dichter, sondern auch auf Korybanten und Bakchen angewendet wird. Genauer: Der zunächst, v. a. vor dem Hintergrund des poetischen Selbstverständnisses, keineswegs vernunftlos erscheinende des Dichters und des Rhapsoden wird von dem vernunftlosen der Korybanten und Bakchen her gedeutet, die gemäß der herrschenden Vorstellung als gefährliche Bedrohung anzusehen sind. Nicht einmal die wertvollen Werke, die der hervorzubringen vermag, bieten die Möglichkeit, den von Sokrates diskreditierten zu relegitimieren. Zwar übt Sokrates im Ion keine Kritik an den Produkten der Dichter, doch genügt bereits die Kritik an der Produktionsweise, um das ganze Geschäft der Enthusiasten als zwielichtig erscheinen zu lassen. Auch wenn der des Dichters viel Schönes hervorbringt, darf sich der Dichter keine besondere Leistung zurechnen: sein Werk ist schließlich nicht sein Werk, sondern allein das Werk des Göttlichen, das sich des Dichters nur als Sprachrohr bedient.398 Entscheidend 396 Vgl. unten Kap. 2.3.9. 397 Flashar 1988, S. 61. 398 Wie Sokrates lobt auch Montaigne – nach der Lektüre der Phaidros – auf der einen Seite die poetischen Werke, die dem zu verdanken sind: „Ich habe neulich einen zweiteiligen, erstaunlich buntscheckigen Dialog Platons (sc. den Phaidros) überflogen; der Anfang handelt von der Liebe, der ganze Rest von der Redekunst. Die Alten scheuen vor solchen Wechselspielen keineswegs zurück, sondern lassen sich auf diese Weise mit wundervoller Anmut im Winde treiben – selbst wenn es nur so scheint. (...) Nach Platon sitzt der Dichter auf dem Dreifuß der Musen und sprudelt im Furor der Entrückung wie eine Fontäne alles aus sich heraus, was in ihm aufsteigt, ohne hierüber nachzudenken und es zu wägen; daher entströmen ihm in stoßartigen Schwällen Dinge von unterschiedlicher Färbung und oft widersprüchlicher Substanz. Er selbst ist ganz Dichtung – und Dichtung ist auch die alte Theologie, sagen die Gelehrten, und die erste Philosophie ebenso. Dichtung ist die Ursprache der Götter.“ (im Essais III 9 Über die Eitelkeit; in der deutschen Übersetzung von Stillet 1998, S. 502) Auf der anderen Seite aber kann Montaigne – auch hier in der Nachfolge des Sokrates – den bewußtlosen und unbeherrschten Zustand von Menschen nur aufs Schärfste verurteilen: „Der schlimmste Zustand des Menschen ist, wenn er Bewußtsein und Beherrschung seiner selbst verliert.“ (im Essais II 2 Über die Trunksucht; Stillet 1998, S. 168)
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ist dabei, daß sich der Makel der Produktionsweise unter der Hand auch zu einem Makel dessen entwickelt, was sich dieser Produktionsweise verdankt: Da im Grunde nicht die Dichter, sondern die Götter durch die Dichter sprechen, kann ein Dichter nicht wissen, ob Wahres oder ob Falsches durch ihn hindurch gesagt wird. Dem Enthusiasten mangelt prinzipiell die Fähigkeit, über das durch ihn Gesagte Rechenschaft geben zu können.399 Ohne dieses Vermögen zum aber muß Sokrates’ wohlmeinendes Zugeständnis, daß die Werke der Enthusiasten durchaus wertvoll seien, in höchstem Maße fragwürdig bleiben. Gibt etwa der Gott Apollon durch den Mund eines enthusiastischen Sehers Auskunft über die Zukunft, dann ist diese Voraussage für die Menschen nur dann von Wert, wenn sie wahr, d. i. wenn sie verläßlich ist. Ob sie wahr und verläßlich ist, kann der Seher nicht darlegen, da ihm, dem vernunftlosen Enthusiasten, jede Möglichkeit fehlt, die Aussage, die der Gott getroffen und durch ihn artikuliert hat, argumentativ zu begründen. Man kann aber auch nicht schlicht voraussetzen, daß die Aussage des Sehers notwendig wahr sein muß, weil sie ja die Aussage eines Gottes ist. Denn: Woher kann man wissen, daß die Aussage, die da durch den Mund des Sehers gesprochen wird, wirklich die eines Gottes ist? Und selbst wenn dies der Fall wäre, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der Gott, der sich des Sehers als Medium bedient, bewußt die Unwahrheit sagt. Die Götter des griechischen Pantheons verfügen über das Vermögen zu lügen. So verheißt in der Ilias der Göttervater Zeus dem griechischen Heer vor Troja, um den Krieg wieder neu zu entfachen, den Sieg an dem kommenden Kampftag, obschon er genau weiß, daß er den Griechen an diesem Tag – zur Befriedigung des tödlich beleidigten Achilles – nur eines geben wird: eine empfindliche Niederlage.400 Auch untereinander sind die 399 Vgl. Heitsch 1993, S. 91: „Selbst zur poetischen Begabung hat Platon ein durchaus ambivalentes Verhältnis: Ist sie einerseits, wie hier, die conditio sine qua non für vollkommene Poesie, so fehlt ihr doch andererseits das, was Platon von jeder Tätigkeit verlangt, die rationale Fähigkeit, über sich selbst und ihre Erzeugnisse Rechenschaft zu geben.“ Vgl. auch Nussbaum 1982, insbes. S. 84, sowie die konzise Formulierung von Paul Woodruff: „If poets were overwhelmingly inspired, there would, as Plato says, be no credit for knowledge to them in poetry. Even if their poetry were true, they would not believe it; even if it were well made, they would not have known how to make it.“ (Woodruff 1982, S. 147) 400 Vgl. im zweiten Gesang der Ilias den tückischen und ins Verderben führenden Traum ( ), den Zeus dem Agamemnon sendet, um die Gefechte vor Troja neu beginnen zu lassen. Ilias II 1-5: „Da schliefen die anderen Götter und die pferdegerüsteten Männer | Die ganze Nacht. Aber den Zeus hielt nicht der süße Schlaf, | Sondern er überlegte in seinem Sinn, wie er den Achilleus | Ehren und viele der Achaier verderben sollte bei den Schiffen. | Und dieses schien ihm in seinem Mute der beste Rat, |
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2. Die Theorie der Interpretation
Götter nicht zur Ehrlichkeit verpflichtet: Lügen und Betrügen ist auch unter olympischen Göttern üblich.401 Hier könnte man einwenden, daß die Möglichkeit göttlicher Lügen im Rahmen der Theologie, die Platon seinen Sokrates in der Politeia konzipieren läßt, doch gerade programmatisch ausgeschlossen wird:402 Warum also sollte man die von Sokrates vorgeführte -Konzeption mit einem Problem konfrontieren, das nur aufgrund ganz bestimmter, von Sokrates so nicht geteilter Gottesvorstellungen entsteht? Gegen diesen Einwand sprechen m. E. zwei Punkte. Erstens: Selbst wenn man die Götter zu Wohlwollen und Wahrhaftigkeit verpflichtet, bleibt das zentrale Problem ungelöst, daß sich der Enthusiast als Enthusiast nicht des Ursprungs seines vergewissern kann. Denn mit der Möglichkeit, daß kein Gott, sondern eine Krankheit zu ekstatischen Zuständen führt, ist – gerade auch nach den Worten des Sokrates – immer zu rechnen.403 Zweitens: Sokrates’ Thematisierung des ist den tradierten Gottesvorstellungen seiner Zeit sehr viel stärker verhaftet als dem theologischen (Gegen-)Entwurf, den die Politeia bietet. Sokrates entwickelt dort einen philosophischen Gottesbegriff, nach dem Gott als selbsthaft gut, sowie als Ursache des Guten, nicht aber als Ursache
Dem Atreus-Sohn Agamemnon einen Unheilstraum zu senden.“ Im folgenden wird der Traum, der Bote der göttlichen Lüge, anthropomorphisiert: Der Traum nimmt die Gestalt von Neleus an, einem Sohn des Nestor. Durch den Mund eines Menschen also, der in Wirklichkeit gar kein Mensch, sondern rein das Medium des Gottes ist, wird das trügerische Wort der Gottheit verkündet. Agamemnon vertraut dem Wort des Gottes – zum Unglück vieler Griechen, die im darauffolgenden Tag in der Schlacht fallen werden. Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung, die Homer für Platons Zeitgenossen hatte, so wird verständlich, daß Platon mit Lesern rechnen konnte, auf die die Vorstellung einer göttlichen Lüge keineswegs absurd wirken mußte. Zu Gottesvorstellungen, die göttliche Lügen zulassen, äußert sich Sokrates explizit im Rahmen der theologischen Überlegungen der Politeia (380 d – 383 c), wo er auch direkt auf den Fall des oben geschilderten Trugtraumes zu sprechen kommt (383 a). Die von Sokrates propagierte Theologie kann mit lügenden Göttern, wie der Mythos sie kennt, nichts anfangen. Dichtungen von Göttern, die lügen und betrügen, sind im Staatsentwurf der Politeia daher strikt untersagt. 401 Vgl. etwa im 14. Gesang der Ilias den Anschlag, den Hera auf Zeus verübt (XIV 153353): Um den Griechen gegen den Befehl ihres Gemahls tatkräftig helfen zu können, verführt sie Zeus und schläfert ihn ein. 402 Vgl. Rep. II 382 e 8-11: „Offenbar also ist Gott einfach und wahr in Wort und Tat und verwandelt sich weder selbst, noch hintergeht er andere, weder in Erscheinungen noch in Reden noch indem er ihnen Zeichen sendet, weder im Wachen noch im Schlaf.“ (
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403 Vgl. Tim. 71 d 5 – 72 b 5.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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des (gleichwohl existenten) Übels zu begreifen ist.404 Gott wird zu einem philosophischen Prinzip, das sich nur noch mit Mühe als personal und als handelnd denken läßt. Göttliche Handlungen – wie die Enthusiasmierung eines Menschen zur Vermittlung eigener Botschaften – sind Göttern, wie Homer und Hesiod sie poetisch zur Darstellung bringen, sehr viel eher zuzutrauen als dem Philosophen-Gott der Politeia. Als Problem können wir daher zunächst festhalten: Sokrates’ Zuversicht, daß in den Worten der Enthusiasten etwas von großem Wert zu gewinnen sei, wird konfrontiert mit der Tatsache, daß die vernunftlosen Enthusiasten prinzipiell keine Rechenschaft geben können für die , die aus ihrem Mund zu vernehmen sind.405 Diese dürfen aber nicht ohne jede Prüfung als wahr anerkannt werden, da keineswegs sicher ist, ob – erstens – wirklich ein Gott durch den Enthusiasten spricht und nicht etwa andere Ursachen wie etwa eine Krankheit hinter dem vernunftlosen Treiben steht, und ob – zweitens – die zu vernehmende Rede, vorausgesetzt es sei die eines Gottes, wahr und verläßlich ist. Dieses Problem wird im Ion und im Menon – wegen der Spannung zwischen der Kritik an dem vernunftlosen einerseits und den wertvollen Werken, die aus dem entstehen, andererseits – zwar schon spürbar, doch gibt Platon seinen Lesern in diesen Frühdialogen keinerlei Hinweis, wie dem Problem eventuell beizukommen wäre. Angesichts der Ungelöstheit dieses Problems muß daher für den frühen Platon konstatiert werden, daß der insgesamt nur sehr schlecht abschneiden kann, da der Enthusiast den möglichen Wert seiner Werke nicht aufzuzeigen vermag. Anders sieht die Situation dagegen in dem Spätdialog Timaios aus, der das enthusiastische Geschäft der Seher zwar nicht als solches relegitimiert, wohl aber durch ein arbeitsteiliges Konzept die kritische Beurteilung und Würdigung enthusiastischer Rede durch Interpreten vorsieht, die im Gegensatz zu den enthusiastischen Sehern bei Vernunft sind.406 Den Sitz der Weissagung ( ) lokalisiert Sokrates nicht im vernunftbegabten, d. i. dem besseren, Teil der menschlichen Seele, sondern im Bereich der menschlichen Unver-
404 Vgl. insbes. Rep. II 379 a 5 – c 7. 405 Vgl. Marten 1989, S. 31: „Für Platon ist der pädagogische Nihilismus nicht zuletzt sophistisch-dichterisch präsent. Dem Epos von den Göttern fehle jede vernünftige Legitimation, und dies vor allem dann, wenn die Dichter nicht eigentlich selber reden, sondern vielmehr aus ihnen die Götter.“ 406 Zum folgenden vgl. insbes. Tim. 71 d 5 – 72 b 5.
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2. Die Theorie der Interpretation
nunft, die als das Minderwertigere ( )407 gegenüber dem vernunftbegabten Seelenteil zu verstehen ist. Während der vernunftbegabte Seelenteil nämlich durch eigene Kraft und Leistung zur Wahrheit gelangt, hat der unvernünftige Seelenteil lediglich einen gewissen Anteil an der Wahrheit und auch dies nur deshalb, weil die für die „Einrichtung“ des Menschen zuständigen Götter gehalten waren, den Menschen so gut wie irgend möglich zu gestalten: Denn unsere Erzeuger waren eingedenk des Auftrags ihres Vaters, den er ihnen erteilt hatte, als er ihnen befahl, das sterbliche Geschlecht nach Kräften möglichst gut zu machen, und so brachten sie sogar das Minderwertige an uns in Ordnung und richteten in ihm, damit es irgendwie mit der Wahrheit in Berührung komme, die Stätte der Weissagung ein.408
Kurz: Das ist eine Art Notnagel des vernunftlosen Seelenteils, um trotz des Mangels an eigener Vernunft doch noch an die Wahrheit heranzukommen.409 Sokrates liefert auch sogleich – mit einem uns aus dem Ion gut vertrauten Gedanken – ein Argument, warum sich der Ort der Weissagung nur im Bereich des vernunftlosen Seelenteils und nicht etwa im Bereich des vernunftbegabten befinden kann: Daß nämlich ein Gott dem menschlichen Unverstand die Seherkraft ( ) verlieh, dafür gibt es einen ausreichenden Beleg; denn niemand erlangt gottbegeisterte und wahrhafte Seherkraft, wenn er im Besitze seines Verstandes ( ) ist, sondern entweder wenn er im Schlaf in der Kraft ( ) der Vernunft ( ) 407 Den Begriff verwendet Platon gerne komparativisch. Dies gilt für die Bestimmung des medial schriftlichen , der dem medial mündlichen gegenüber ist (vgl. Szlezák 1985, S. 18 f.), ebenso wie für die Bestimmung des vernunftlosen Seelenteils, der dem vernunftbegabten Seelenteil gegenüber ist. 408 Tim. 71 d 5 – e 2:
! " # $ % &' ( ! ) * + ,!- . / 0 %1 (Die deutsche Zitate aus dem Timaios sind der von Klaus
Widdra bearbeiteten Übersetzung von Hieronymus Müller entnommen (in Eigler 19701983).) 409 Aristoteles übernimmt die Zweiteilung der Seele in einen vernunftbegabten und in einen nicht vernunftbegabten Teil. Auch den Gedanken, daß das Vernunftlose der Seele doch einen Anteil an der Vernunft hat, greift Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (I 13 1102 b 18-21; vgl. auch I 6 1098 a 3-5) auf und macht ihn zur Binnendifferenzierung des vernunftlosen Seelenteils fruchtbar: Während der vegetative, pflanzenartige Seelenteil ( ) rein gar keine Gemeinsamkeit ('-) mit der Vernunft ( ) hat, kann das sinnlich begehrende (! ) und strebende (2) Vermögen der Seele insofern an der Vernunft einen gewissen Anteil haben ( 3 ' ), als es zu hören und zu gehorchen versteht. Vgl. dazu auch die aristotelische Differenzierung der 4-Funktion (oben Kap. 2.3.4).
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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behindert ist oder auf Grund einer Krankheit oder einer göttlichen Besessenheit ( ) von Sinnen ist.410
Wie im Ion hält Sokrates also auch im Timaios daran fest, daß der Verlust des eine zwar notwendige, nicht aber eine hinreichende Vorbedingung für den ist. Zwar ist der nur ohne zu haben, doch ohne zu sein, heißt noch nicht, im Zustand des zu sein, vielleicht hat ja gar kein Gott, sondern der Schlaf oder eine Krankheit den geraubt.411 Sicher ist jedenfalls: Weissagungen sind nicht Sache des Verständigen, sondern allein Sache dessen, der seiner Vernunft beraubt zum Sprachrohr des Gottes geworden ist. Neu gegenüber dem Ion ist nun der Gedanke des Sokrates, den Verständigen nicht nur einfach von dem Enthusiasten zu unterscheiden, sondern ihm eine spezifische Aufgabe zuzuschreiben, die ihn zu einer Art Kooperation mit dem Enthusiasten auffordert: Vielmehr kommt es dem Verständigen zu, die Aussagen, welche die Sehergabe ( ) und die göttliche Besessenheit ( ) im Schlafe oder im Wachen gemacht hat, sich in das Gedächtnis zurückzurufen und zu deuten und alle Erscheinungen, die gesehen wurden, durch nüchterne Überlegung zu unterscheiden, in welcher Weise und wem sie bevorstehendes oder vergangenes oder gegenwärtiges Gutes oder Übles anzeigen.412
Die Aussagen, die durch den Mund der Seher und Orakelsänger zu vernehmen sind, sind wie die Aussagen ihrer enthusiastischen Kollegen, der Dichter, in hohem Maße interpretationsbedürftig. Insbesondere macht die chronische Vagheit enthusiastischer Rede eine Konkretisierung notwendig: Wird ein Gut oder ein Übel vorausgesagt, dann ist nicht nur nach der Art des Guts oder des 410 Tim. 71 e 2-6:
! "# $% & ' ( # )*+ )), - , . ( # - % + - ' ))'/0 411 Wenn man bedenkt, daß im Rahmen der griechischen Mythologie der Schlaf (.),
der – wie oben erwähnt – selbst den Göttervater Zeus zu bezwingen und in diesem Sinn um den Verstand zu bringen vermag, personalisiert wird und auch Krankheiten – man denke etwa an die Pestpfeile des Apollon – als göttliche Waffen gedeutet werden, dann wird deutlich, daß der Unterschied zwischen den drei möglichen Ursachen für den Verlust der menschlichen Vernunft Platons Zeitgenossen vielleicht gar nicht so groß erschienen ist: Stets ist es etwas Göttliches, was dem Menschen die eigene Vernunft raubt und ihn sich selbst untertan macht. 412 Tim. 71 e 6 – 72 a 2: ))% ( & ' 1 2 - . 3 ( ( # ( + # 4 5 ' 67+ ' )$ 8 ) 4 # 4 9 )) - ) - * - $*!
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2. Die Theorie der Interpretation
Übels, sondern v. a. auch danach zu fragen, für wen denn dies Gut gut oder dies Übel übel sein wird. Es liegt hier nahe, an Kroisos, den letzten König der Lyder, zu denken, der die Orakelstätten von Delphi und Didyma sowie den Seher Amphiaraos maßgeblich gefördert und – wie uns Herodot in seinen Historien413 ausführlich berichtet – zu seinem eigenen Unglück auch vor wichtigen Entscheidungen selbst konsultiert haben soll: Auf Kroisos’ Frage nämlich, ob er nach zahlreichen Siegen auch gegen die Perser in den Krieg ziehen solle, antworteten ihm sowohl das Orakel von Delphi wie Amphiaraos übereinstimmend, daß Kroisos, wenn er gegen die Perser zu Felde zöge, ein großes Reich vernichten werde.414 Doch vergißt Kroisos nachzufragen, ob das durch die Seher vorausgesagte Übel wirklich, wie Kroisos ganz selbstverständlich annimmt, ein Übel für den Perserkönig Kyros oder aber ein Übel für ihn selbst sei. Nach der Niederlage gegen Kyros bittet Kroisos den Sieger, Ketten nach Delphi schicken zu dürfen, um Apollon, der ihn durch den Orakelspruch zu dem Kriegszug ermutigt habe, symbolisch in Fesseln zu legen.415 Der Fall des Kroisos belegt eindrucksvoll Sokrates’ These, daß ohne kritische Erinnerung, Auslegung und Beurteilung dessen, was durch die Seher gesagt wurde, Unverständnis und gefährliche Fehlreaktionen drohen. Wertvoll werden die von dem vernunftlosen Enthusiasten zu vernehmenden Worte also allererst durch die Interpretation des Verständigen, der nicht nur zu einer kritischen Würdigung des Gesagten aufgefordert ist, sondern das Vernommene im Grunde auch erst zu etwas klar Verstehbarem werden läßt. Was zuvor nur dunkles Geraune ist, gewinnt durch die Auslegungsarbeit des verständigen Exegeten seine Aussagekraft und seinen Wert. Diese Leistung aber setzt grundsätzlich voraus, daß der Interpret gegenüber der enthusiastischen Kraft der Rede immun bleibt und selbst nicht enthusiasmiert wird, sondern seine Vernunft zu bewahren und einsetzen versteht. Der hermetischen Geschlossenheit der Enthusiastenkette, wie sie der Magnetvergleich im Ion suggeriert, ist also eine klare Absage erteilt. Deutet man das „Nicht-enthusiasmiert-werden“ als eigene Leistung des Interpreten, der sich erfolgreich gegen die vernunftraubende Kraft des Göttlichen stemmt, dann muß gegenüber dem Ion eine 413 Vgl. insbes. Historien I 26-94. – (Die deutschen Herodot-Zitate sind der Übersetzung von A. Hornefer entnommen (in Haussig 1955).) 414 Vgl. insbes. Historien I 52-54. 415 Herodot läßt Kroisos sagen (Historien I 90): „Herr, am meisten würde ich dir danken, wenn du mir erlaubtest, dem hellenischen Gott, den ich von allen Göttern am höchsten verehrt habe, diese Fesseln hier zu schicken und anzufragen, ob es Brauch bei ihm ist, seine Freunde zu betrügen.“
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wichtige Modifizierung des -Begriffs verzeichnet werden, da dort der durch die eigene Willensentscheidung des Menschen weder herbeigeführt noch verhindert werden kann. Es ist also nur folgerichtig, daß Sokrates gerade diese Aufgabe der Erinnerung, Deutung und kritischen Würdigung nicht wie die der Weissagung dem vernunftlosen, sondern dem besseren, dem vernunftbegabten, Seelenteil zuschreibt. Sokrates läßt keinen Zweifel daran, daß der vernunftlose Seher selbst – als Seher – zu der Auslegung der durch ihn vermittelten Worte nicht in der Lage ist. Mit den Selbstinterpretationen von Enthusiasten hat Sokrates ja auch im Falle der Dichter nur schlechte Erfahrungen sammeln können.416 Wie ein Mensch, der bei Vernunft ist, nicht zum Sprachrohr des Gottes werden kann, vermag ein Mensch, der nicht bei Vernunft ist, nicht zum Interpreten und Kritiker dessen zu werden, was durch den Mund des Enthusiasten zu vernehmen ist: Dem aber, der von Sinnen war und noch in diesem Zustand verharrt, kommt nicht die Aufgabe zu, über seine Gesichte und eigenen Aussprüche zu urteilen, sondern mit Recht und von jeher behauptet man, es komme allein dem Vernünftigen zu, das ihm Obliegende zu tun und sich selbst zu erkennen.417
Der vernunftlose Seher, das Sprachrohr des Gottes, und der Verständige, der kraft seiner Vernunft das durch den Seher zu Vernehmende in Erinnerung ruft, deutet und kritisch würdigt, machen sich ihre Aufgabenfelder nicht streitig, sie sind vielmehr notwendig wechselseitig aufeinander angewiesen. Die Unfähigkeit des Enthusiasten, der als Enthusiast ohne Vernunft und daher zu keinem
in der Lage ist, wird kompensiert durch die Fähigkeit des Verständigen zum
. Umgekehrt wird die Unmöglichkeit, daß der Verständige als Besitzer eigener Vernunft zum Sprachrohr Gottes wird, kompensiert durch die Möglichkeit, daß der Vernunftlose zum göttlichen Werkzeug wird. Damit die Verkündigung, die ihren Ursprung in einem Gott hat, für die Menschen wertvoll werden kann, sind offensichtlich beide – vernunftloser Enthusiast und verständiger Interpret – gleichermaßen gebraucht. Doch erbringen auch beide gleichermaßen eine handlungstheoretisch faßbare Leistung? Zunächst sind sowohl im Falle des vernunftlosen Enthusiasten als auch im Falle des vernunftbegabten Interpreten je eine Möglichkeit und je eine Unmöglichkeit festzustellen: 416 Vgl. Apol. 22 a 8 – c 8. 417 Tim. 72 a 2-6: !"" # $%" " & $% ' % & () * $(+ ,
200
2. Die Theorie der Interpretation
(1)
Es ist möglich, daß der vernunftlose Enthusiast zum Sprachrohr des Gottes wird.
(2)
Es ist nicht möglich, daß der vernunftlose Enthusiast das, was durch ihn gesagt wird, selbst auslegen und für diese Auslegung Rechenschaft leisten kann.
(3)
Es ist möglich, daß der Vernünftige das, was mittels des Enthusiasten zu vernehmen ist, kritisch auslegt und für seine Auslegung Rechenschaft gibt.
(4)
Es ist nicht möglich, daß der Vernünftige, solange die Vernunft in ihm ist, zum Sprachrohr des Gottes wird.
Betrachtet man diese vier Möglichkeitsaussagen etwas genauer,418 dann wird allerdings deutlich, daß die Möglichkeiten des Enthusiasten und die des Verständigen nicht in gleicher Weise Möglichkeiten sind: Der Verständige kann die Worte des Enthusiasten kritisch auslegen und über seine Auslegung Rechenschaft geben. Es ist ihm möglich, diese Interpretationsarbeit durchzuführen. Im Falle der Möglichkeit, die dem Verständigen zukommt, ist also die Rede von einem Vermögen, einer persönlichen Fähigkeit, die, wenn sie vom Verständigen aktualisiert wird, als eigene anrechenbare Leistung des Verständigen gelten kann. Dagegen ist die Möglichkeit, von der im Falle des vernunftlosen Enthusiasten die Rede ist, genau keine persönliche Fähigkeit des Enthusiasten: Streng genommen ist die Formulierung, daß der vernunftlose Enthusiast zum Sprachrohr des Gottes werden kann, irreführend. Der Enthusiast kann rein gar nichts. Ihm ist nichts möglich. Präziser muß daher formuliert werden: Es ist möglich, daß der Enthusiast zum Werkzeug des Gottes wird. Es kann sein, daß durch den Enthusiasten die Worte des Gottes verkündet werden. Sollte diese Möglichkeit aktualisiert werden, dann hat der Enthusiast nichts getan, was er sich als Leistung zuschreiben kann. Im Grunde hat er gar nichts getan, es ist etwas mit ihm, durch ihn hindurch getan worden. Handlungstheoretisch wäre allenfalls von einer Handlung des Gottes zu sprechen, 418 Im folgenden mache ich Gebrauch von der Unterscheidung zweier modallogischer Aussageschemata, die Klaus Jacobi entwickelt hat (vgl. Jacobi 1997). Zu unterscheiden sind demnach: (A) die persönliche Aussageform: „für a ist es möglich zu — “ oder „a kann —“. An die Leerstelle kann ein Infinitiv im Aktiv oder Passiv treten. (B) die unpersönliche Aussageform: „es ist möglich, daß —“ oder „es kann sein, daß —“. Der Komplex aus der Konjunktion „daß“ und der folgenden Leerstelle steht nicht für eine Aussage, sondern für einen aussagbaren Gehalt.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
201
der sich eines Materials bedient, das er selbst zum Material gemacht hat, indem er ihm seine Vernunft und sein Menschsein geraubt hat. In Bezug auf die oben angeführten Möglichkeitsaussagen heißt dies, daß Aussage (1) zu Recht in der unpersönlichen Aussageform dargestellt ist, während Aussage (3) besser in die persönliche Aussageform umzuformulieren wäre: (1)
Es ist möglich, daß der vernunftlose Enthusiast zum Sprachrohr des Gottes wird.
(3*) Dem Vernünftigen ist es möglich, das, was mittels des Enthusiasten zu vernehmen ist, kritisch auszulegen und für seine Auslegung Rechenschaft zu geben. Nach diesen Überlegungen muß auch die Kooperation zwischen dem vernunftlosen Enthusiasten und dem verständigen Interpreten in einem neuen Licht erscheinen: Zwar braucht es, damit die von dem Gott ausgehende Botschaft einen Wert für den Menschen gewinnen kann, den Enthusiasten, doch braucht es ihn nicht als selbst aktiven und tätigen Mitarbeiter, sondern lediglich als Werkzeug. Statt von einer Kooperation zwischen dem vernunftlosen Seher und dem verständigen Interpreten sollte man also eher von einer Kooperation zwischen dem Gott und dem Exegeten sprechen, da dem Enthusiasten in diesem Zusammenhang nur die Bedeutung eines Mediums zukommt, das ohne eigenes Zutun in Gebrauch genommen wird.419 Es stellt sich die Frage, durch welche spezifische Kompetenz der verständige Ausleger in der Lage ist, die dunklen Worte des Sehers, die offensichtlich nicht für jedermann verstehbar sind, zu verstehen.420 Sokrates äußert sich nicht genauer zu dieser Kompetenz, doch eines wird deutlich: Ist die Absicht, die , des Gottes, nicht für jedermann zugänglich, dann braucht es einen Spezialisten in Sachen Interpretation, schließlich ist die Auslegung enthusiastischer Rede keine kleine Aufgabe. Sokrates kommt in diesem Zusammenhang auf die zeitgenössische Institution der Propheten zu sprechen, die als professionelle Interpreten der Seher zu begreifen sind:
419 Vgl. Barmeyer 1986, S. 102. 420 „Verstehbar sein“ muß – genau wie „evident sein“ – grundsätzlich als (mindestens) zweistelliges Prädikat begriffen werden: Etwas ist stets für jemanden verstehbar. Dagegen suggerieren in philosophischen Diskussionen ja nicht selten zu hörende Sätze wie „Das verstehe ich nicht“ oder „Das kann ich nicht verstehen“ meist, daß das Gehörte grundsätzlich, d. h. von niemandem, verstanden werden kann, daß es also schlechthin unverständlich sei.
202
2. Die Theorie der Interpretation
Darum ist es auch Brauch, die Gilde der Verkünder zu Richtern über die gottbegeisterten Weissagungen zu bestellen, und sie selber werden Wahrsager von einigen genannt, denen es ganz unbekannt blieb, daß sie Dolmetscher der rätselhaften Stimme und Erscheinung, nicht aber Seher sind und mit dem größten Recht wohl Verkünder von Wahrsagenden genannt werden dürften.421
Sokrates beharrt gegenüber dem laxen konventionellen Sprachgebrauch, der einen Propheten ( ) schon einmal als Seher ( ) bezeichnet, auf der scharfen Trennung von Propheten und Sehern: Die Propheten, die im Vollbesitz der Kraft der Vernunft damit beauftragt sind, die Sprüche der vernunftlosen Seher auszulegen und kritisch zu begutachten, dürfen keineswegs mit den Sehern verwechselt werden. Hier zeigt sich Sokrates’ Skepsis gegenüber Selbstinterpretationen von Enthusiasten, die zu keiner Selbsterkenntnis befähigt sind: Was der Gott durch den Enthusiasten eigentlich zu verstehen gibt, sagt nicht der Enthusiast, sondern der als Richter fungierende vernünftige Interpret. Zu beurteilen ist das, was der Gott durch den raunenden Mund des Enthusiasten hindurch zu verstehen gibt. Interpretationstheoretisch führt dies zu folgender Analogie: Dem Gott, der durch den Seher auf eine Weise spricht, die das deutende Urteil des Propheten notwendig werden läßt, korrespondiert der Dichter, der mit Hilfe seiner Schreibwerkzeuge auf eine Weise schreibt, die gleichfalls das deutende Urteil des Interpreten erfordert. Gott : Seher : Prophet
Dichter : Schreibwerkzeug : Interpret
Allerdings kann diese Analogie vor dem Hintergrund des Gedankens, daß der Dichter als Enthusiast selbst Werkzeug des Gottes ist, nicht in strengem Sinne aufrechterhalten werden, da der enthusiastische Dichter nicht wie der Gott als auktoriale Instanz, sondern auf der gleichen Stufe wie der Seher anzusetzen ist. Insistiert Sokrates auf der strikten Trennung zwischen dem enthusiastischen Seher und dem verständigen Propheten, so steht m. E. nicht die Scheidung von Personen, sondern die von bestimmten Vermögen im Zentrum der Überlegungen. Zwar wurde im Rahmen des historischen Phänomens der Inspirationsmystik, wie sie in Griechenland und Kleinasien praktiziert wurde, in der Tat getrennt zwischen den Personen, die als , und denen, die 421 Tim. 72 a 6 – b 5:
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
203
als bzw. als fungierten, doch scheinen mir Sokrates’ Ausführungen eine Art Personalunion von Seher und Prophet zuzulassen, da die Differenz, um die es ihm hier geht, eher eine intrapersonale denn eine interpersonale ist. Die klare Aufgabenteilung bezieht sich v. a. auf die Seelenteile: Was Aufgabe des vernunftbegabten Seelenteils ist, kann nicht vom vernunftlosen übernommen werden – und umgekehrt. Doch ist es durchaus möglich, daß dieselbe Person im Zustand des dem Gott als Werkzeug und den Menschen als Seher dienen und später, wenn sie wieder bei Vernunft ist, als kritischer Interpret an der Auslegung teilnehmen kann. Für diese Möglichkeit spricht, daß Sokrates auch die Erinnerung an die Worte des Sehers zu den Aufgaben des Propheten zählt.422 Die Rollen des und des sind demnach nicht zeitgleich wahrzunehmen, sondern stehen in einem zeitlichen Nacheinander. Der Mensch, der Seher war, kann zum Propheten werden, doch dies eben nicht als Seher, wie auch der Prophet als Prophet zu keiner Weissagung in der Lage ist. 2.3.7 Die in den Nomoi Eine interessante, auch Momente des Ion aufgreifende Fortführung des von Sokrates im Timaios artikulierten Gedankens professioneller Interpreten, die selbst bei klarem Verstand den vernunftlosen anderer fruchtbar zu machen verstehen, findet sich in dem Alterswerk Nomoi. Denn nicht nur die Sprüche der enthusiastischen Seher müssen, um für die Menschen wertvoll werden zu können, von verständigen Interpreten ausgelegt werden. Auch die Gesetze ( ) der Polis, die sich vor dem Hintergrund der Nomoi dem Orakel in Delphi verdanken und damit göttlichen Ursprungs sind, zeichnen sich durch ihre Interpretationsbedürftigkeit aus. Im Rahmen der sakralen Ämterordnung, welche die Kolloquenten der Nomoi, der Athener und Kleinias, in der Polis eingerichtet sehen will,423 nimmt 422 Vgl. Tim. 71 e 6 – 72 a 2. 423 Zum Selbstverständnis des in den Nomoi dargelegten Polis-Entwurfs: „Wir aber behaupten, daß eine Untersuchung über Gesetze, wenn man sie richtig durchführt, so vor sich geht, wie wir sie jetzt begonnen haben. Und die Art, wie du die Erklärung der Gesetze in Angriff genommen hast, billige ich durchaus; denn von der Tugend auszugehen, indem man behauptet, daß der Gesetzgeber ihretwegen seine Gesetze gegeben hat, das ist richtig.“ (Legg. I 630 e 7 – 631 a 4:
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! -+ . +/ 01 0 * -(" 2 3+
4 ' )" 5 $ , 2 6" .) (Die deutschen Zitate aus
204
2. Die Theorie der Interpretation
der neben dem Priester ( ) und Tempeldiener ( ) einen zentralen Platz ein.424 Über die Aufgabe der sei zunächst nur so viel gesagt, daß sie in der Auslegung und der situierenden Anwendung der göttlichen Gesetze über das Religionswesen besteht.425 Der Frage, auf welche Weise die künftigen Inhaber der einzelnen Ämter zu ermitteln sind, widmet der Athener ausführliche und bis in die Details führende Überlegungen. Grundsätzlich sind zwei Möglichkeiten der Entscheidungsfindung zu unterscheiden: Wer ein sakrales Amt bekleiden darf, soll entweder (1) durch eine Wahl ( ) oder (2) durch das Los ( ) bestimmt werden.426 Dahinter steht die Annahme, daß sich in dem Modus der Wahl der Wille der Menschen, in dem Modus des Loses aber der Wille des Gottes ausdrückt.427 Im Falle des Priesteramtes liegt es aus diesem Grund nahe, alles dem Los anzuvertrauen: Was die Priester betrifft, so soll man die Gottheit selber dafür sorgen lassen, daß das geschieht, was ihr gefällt, und deshalb das Losverfahren anwenden und so die Entscheidung der göttlichen Fügung überlassen.428
Allerdings müssen die Personen, die durch das Los für das Priesteramt bestimmt werden, noch eine strenge Prüfung () über sich ergehen lassen. Anscheinend bedarf der Wille des Gottes, wie er sich durch das Los manifestiert, durchaus der menschlichen Kontrolle. Dann aber soll man den jeweils durch das Los Bestimmten daraufhin überprüfen, daß er erstens körperlich unversehrt und von rechtmäßiger Geburt ist, sodann daß er aus einem möglichst unbefleckten Hause stammt und daß er selbst und ebenso
424 425
426 427
428
den Nomoi sind der Übersetzung von Klaus Schöpsdau (in Eigler 1970-1983) entnommen.) Die Begriffe und verwendet der Athener nahezu synonym: Die Priester fungieren als Tempeldiener, d. h. sie sind dafür zuständig, daß die rituelle Praxis dem Gott wohlgefällig ist (vgl. insbes. Legg. VI 759 a 1 – 760 c 6). Vgl. insbes. Legg. VI 759 c 6 – d 1. – Damit wird die analoge Grundstruktur bereits deutlich: Wie die Propheten im Timaios die durch die Seher zu vernehmenden Worte des Gottes zu deuten und situativ fruchtbar zu machen haben, so sind die der Nomoi gehalten, die interpretierende und situierende Anwendung der göttlichen Gesetze zu leisten. Vgl. auch Legg. VII 816 c 1 – d 2. Vgl. insbes. Legg. VI 759 a 1 – d 1. Welcher Modus der Entscheidungsfindung in welcher Situation angebracht ist, ist selbst nicht wiederum Gegenstand einer Wahl oder einer Auslosung, sondern wird von den Gesprächspartnern nach expertokratischem Selbstverständnis, mitunter auch schlicht dezisionistisch entschieden. Legg. VI 759 b 7-8: ! ! " # $ % & ' ( )) (...), vgl. VI 757 d 5 – 758 a 2.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
205
sein Vater und seine Mutter rein von Mord und von allen ähnlichen Freveln gegen die Götter gelebt haben.429
Sehr viel schwieriger und strenger als Auslosung und Prüfung der Priesterkandidaten gestaltet sich die Suche nach geeigneten .430 Denn im Fall der werden die Prozeduren (1) und (2) miteinander kombiniert und zudem durch die unvermeidliche ergänzt: In einem ersten Schritt, der den Charakter der trägt, gilt es, hoffnungsfrohe Kandidaten für das -Amt zu eruieren: Je vier Phylen sollen dreimal je vier Bürger vorschlagen, so daß man drei Gruppen von je 16 Personen erhält. Von jeder Gruppe werden wiederum je drei Kandidaten durch Abstimmung ausgewählt. In einem zweiten Schritt, der nun den Charakter der trägt, werden die -Kandidaten – wie die angehenden Priester – daraufhin geprüft, ob sie körperlich unversehrt sind, sich auf eine rechtmäßige Geburt berufen können, die erforderliche Altersgrenze von mindestens 60 Jahren erreicht haben usw. In einem dritten Schritt, der schließlich den Charakter des trägt, schickt man die neun ausgewählten Kandidaten nach Delphi, wo durch das Orakel aus jeder Dreiergruppe ein Kandidat
429 Legg. VI 759 c 2-6: !"" #$ % " & $ ' ( # ' !) & * $ + * * ' +' ,,$430 Zum folgenden vgl. Legg. VI 759 c 6 – 760 a 5. – Die Nomoi werden beherrscht von der Grundidee, daß Gesetze nur wirksam eingesetzt werden können, wenn die Bürger der Polis ein eigenes Interesse an der Einhaltung der Gesetze haben. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die Gesetze mit Überzeugungskraft zu versehen. Dies geschieht z. B. mit Hilfe von Proömien, die den einzelnen Gesetzen vorangestellt werden und das Ziel verfolgen, den Bürgern der Polis die Angemessenheit des jeweiligen Gesetzes einsichtig zu machen, um auf diese Weise das latente Motivationsproblem in den Griff zu bekommen. In diesem Zusammenhang sind die Gesetze über das Religionswesen deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie – erstens – die Einhaltung der Gesetze selbst thematisieren, und – zweitens – ihre eigene Befolgung oder Nichtbefolgung entscheidende Konsequenzen für die Befolgung oder Nichtbefolgung aller übrigen Gesetze nach sich ziehen. V. a. im 10. Buch der Nomoi versucht der Athener deutlich zu machen, daß der Zusammenhang von Polis und Religion nicht bloß äußerlich ist, sondern die Religion als konstitutiv für die gute Polis anzusehen ist. Das für den Erhalt der Polis geforderte Einhalten der Gesetze kann zwar selbst nicht wiederum Inhalt eines Gesetzes sein, doch propagieren die Religionsgesetze ein Gottesverständnis, nach dem die Götter auch von dem verborgenen Treiben der Menschen wissen und die heimlichen Verbrecher und Frevler bestrafen (vgl. auch das Fragment B 25 von Kritias, unten Fn. 443 auf S. 211). Im spezifischen Fall der Religionsgesetze hat man es daher mit Bestimmungen zu tun, deren Einhaltung Auswirkung auf die Einhaltung aller anderen Gesetze hat.
206
2. Die Theorie der Interpretation
ausgelost wird.431 Den drei übriggebliebenen, durch Mensch wie Gott gleichermaßen erlesenen Kandidaten, die als einzige den Dreischritt von Wahl, Prüfung und Los überstehen konnten, wird anders als im Falle der Priester, bei denen das Prinzip der Annuität gilt, ihr Amt auf Lebenszeit ( ) zuerkannt. Dieser Umstand läßt zusammen mit dem diffizilen Auswahlverfahren, das die zureichende Qualifizierung der garantieren soll, auf die angezielte Professionalität der schließen, neben denen das gleichfalls institutionalisierte Priesteramt fast laienhaft erscheinen muß. Kurz: Die sind die Experten in Sachen Interpretation.432 Betrachten wir nun das Aufgabenfeld der : Die Gesetzgeber ( ) können, auch wenn sie alle Sorgfalt walten lassen, ihre Vorschriften () nur im Allgemeinen angeben. Damit die dergestalt formulierten Gesetze anwendbar und für die konkrete Lebenspraxis fruchtbar werden können, ist eine gesonderte Kompetenz der Konkretisierung und Situierung erforderlich, schließlich kann kein Gesetz seine Anwendungsbedingungen selbst vollständig beinhalten. Besonders augenfällig wird dieser Umstand im Rahmen der Ausführungen des Atheners über der Einrichtung der religiösen Feste der Polis: Zwar werden vom Orakel in Delphi eingeholt, die die kultischen Angelegenheiten ordnen sollen, doch sind diese Gesetze so allgemein gehalten, daß aus ihnen nur hervorgeht, welchen Göttern zu opfern ist und welcher Art die Opfer sein sollen. Bereits die Angaben über den Zeitpunkt und die Anzahl der Festlichkeiten müssen durch andere Vorschriften geregelt werden, die nicht eigens aus Delphi eingeholt, sondern eher nach menschlich pragmatischen Gesichtspunkten verfaßt werden. Die genaue Anordnung schließlich, wann welcher Priester welchem Gott welche Opfer zu erbringen hat, ist nicht mehr Aufgabe der , sondern vorrangig der : Zu diesem Zweck sollen die Ausleger ( ), die Priester und Priesterinnen und die Seher mit den Gesetzeswächtern zusammenkommen und das regeln, was der Gesetzgeber zwangsläufig übergehen mußte. Und eben das, was übergangen worden ist, zu erkennen ist denn auch die Aufgabe dieser selben Leute.433 431 Die Exegeten werden aus diesem Grund auch explizit als vom Gott erwählt bezeichnet. Vgl. etwa Legg. IX 865 c 2 – d 1. 432 Die expertokratischen Überzeugungen, die in den platonischen Dialogen ja nicht selten zur Sprache kommen, stehen in scharfem Kontrast zu der Mißachtung des Spezialistentums in der zeitgenössischen Gesellschaft Athens (vgl. Meier, 1988, S. 23 f., S. 26, S. 45 und S. 229 (!)). 433 Legg. VIII 828 b 3-7: !! " # $% & ' ( )& ! * !! ( + '(,
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
207
Die Situierung und Konkretisierung der Gesetze erfordert von den nicht zuletzt eine kommunikative Kompetenz, die auch pädagogischen Charakter trägt: Den Personen, die in die konkreten Handlungssituationen involviert sind, muß verständlich gemacht werden, warum sie nach Vorgabe der herrschenden Gesetze hier und jetzt so handeln sollen, wie es ihnen die Exegeten vorschreiben.434 Im Rahmen des Polis-Entwurfs haben die Teil am Wächteramt, das neben den kommunikativen und pädagogischen Kompetenzen auch ein zentrales, durch die Konkurrenz zu Dichtern und Sophisten forciertes ethischpolitisches Moment umfaßt: Sollen sich denn nun auf diesem Gebiet (sc. der ) nicht die Ausleger (
), die Lehrer und die Gesetzgeber, die Wächter der anderen, dadurch vor den übrigen auszeichnen, daß sie jedem, der dies zu erkennen und zu wissen begehrt, oder jedem, der wegen eines Verbrechens bestraft und zurechtgewiesen werden muß, darüber Belehrung und vollständige Aufklärung geben können, welche Wirkung die Schlechtigkeit und die Tugend besitzen? Soll etwa da irgend so ein Dichter, der in unseren Staat kommt, oder einer, der sich als Erzieher der Jugend ausgibt, besser erscheinen als der, der in jeder Tugend den Sieg davongetragen hat? Und bei einem solchen Staat, in dem es keine in Wort und Tat tüchtigen Wächter gibt, die über die Tugend genau Bescheid wissen, – soll man sich da noch wundern, wenn dieser Staat, unbewacht wie er ist, dasselbe Schicksal erleidet wie die meisten der heutigen Staaten?435
Daß die in der Hauptsache aber für die Anwendung der Gesetze zu sorgen und damit eine Konkretisierungs- und Situierungsaufgabe wahrzunehmen haben, zeigen auch die Ausführungen über die Bestrafung von Mördern. Daß das (sc. die Bestrafung von Mördern) aber unter gewissen Gebeten zu geschehen hat und unter Opfern für diejenigen Götter, die dafür sorgen, daß keine Mordtaten im Staat vorkommen, das nachzuweisen ist für den Gesetzgeber ein leichtes; welches aber diese Götter sind und welches Verfahren bei der Einleitung solcher Prozesse am richtigsten im Sinne der Gottheit einzuschlagen ist, das sollen die Gesetzeswächter unter Hinzuziehung von Auslegern und Sehern und mit Hilfe des Gottes gesetzlich festlegen und demgemäß diese Prozesse einleiten.436
Wird im Timaios die Zusammenarbeit von und angesprochen, so in den Nomoi die Kooperation von und , der die 434 Vgl. etwa Legg. VII 821 d 5-10, XII 964 b 8 – d 1, XII 969 a 1-4. 435 Legg. XII 964 b 8 – d 1. 436 Legg. IX 871 c 3 – d 2.
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2. Die Theorie der Interpretation
Auslegungsarbeit des verständigen übernimmt und gleichsam perfektioniert. Dabei wird die Konkretisierungsleistung der allerdings grundsätzlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die situierende Auslegung der , sobald sie als Vorschrift formuliert wird, zu wieder neuen führt, die selbst hinsichtlich ihrer eigenen konkreten Anwendung interpretationsbedürftig sind. Auf diese Schwierigkeit macht die Formulierung von den der aufmerksam, die durch die Interpretation der göttlichen hervorgebracht werden: Wird aber jemand der Schädigung durch irgendwelche Gifte überführt, so soll er zusätzlich zur Geldbuße die Quellen und den Wasserbehälter in der Weise reinigen, wie sie die Satzungen der Ausleger ( ) für die Reinigung im jeweiligen Fall und für die jeweils Betroffenen vorschreiben.437
Das Problem läßt sich etwa folgendermaßen beschreiben: Die Aufgabe des liegt darin, allgemeine normative Vorgaben auf einzelne, konkrete und individuell einmalige Situationen ( ) anwendbar zu machen. Die Art der Anwendung kann aber nicht die eigene Handlungspraxis der sein, etwa daß man hier und jetzt der normativen Vorgabe entsprechend agiert, sondern muß selbst in einer normativen Formulierung bestehen, die anderen Personen Handlungsanweisungen zur Verfügung stellen soll. Diese normative Formulierung weist dann zwar einen entsprechend geringeren Grad an Allgemeinheit auf, doch das Entscheidende ist, daß sie den Charakter der Allgemeinheit und damit auch den der Interpretations-, genauer: der Situierungsbedürftigkeit, nicht verliert. Eng mit der Professionalität der verbunden ist die Annahme eines besonderen Privilegs: Den eignet in einzigartiger Weise ein Wissen um den Willen des Gottes, dem die göttlichen Gesetze zu verdanken sind. Insbesondere in Fragen des Kultes, der Opfer, Reinigungs- und Sühnerituale438 wird den ein Wissen um den göttlichen Willen zuerkannt, 437 Legg. VIII 845 e 5-9: ! " # $ $ % &' ( ) * + & ' # , # - - . – Vgl. auch Legg. XI 916 c 8 – d 1: (...) $ (...). 438 Vgl. Legg. VI 774 e 9 – 775 a 3: „Was die Opfer vor der Hochzeit oder sonst eine diesbezügliche Zeremonie angeht, die vor, während oder nach der Hochzeit zu vollziehen ist, so soll jeder darüber die Ausleger befragen und überzeugt sein, daß er alles angemessen ausführt, wenn er ihnen folgt.“ Legg. IX 865 c 6 – d 1: „(...) ferner soll er <der Mörder eines Sklaven> sich gründlicheren und zahlreicheren Reinigungen unterziehen als diejenigen, die bei den Wettkämpfen eine Tötung begangen haben; darüber haben
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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dessen Herkunft aber ebenso fragwürdig bleiben muß wie die Möglichkeit einer Rechenschaftsgabe. Entscheidend ist schließlich die politische Funktion der : Sie sollen in der neu zu gründenden Polis die Rolle derjenigen übernehmen, die nicht nur die göttlichen Gesetze in der erforderlichen Weise zur Anwendung bringen, sondern auch, um diese Aufgabe meistern zu können, ein Wissen um den Willen der Götter benötigen. Ob die in der Tat dieses Wissen besitzen, ist dabei im Grunde recht gleichgültig, da der Wille der Götter im Rahmen des Staatsmodells der Nomoi keineswegs autonom ist, sondern sich vielmehr an das zu halten hat, was den menschlichen Gesetzgebern als das Beste erscheint. Darum gilt es auch weniger, die Begründetheit des angeblichen Wissens der um den göttlichen Willen aufzuweisen, als die Gefahr abzuwehren, daß die so sorgfältig ausgesuchten und zentrale Aufgaben verrichtenden und mit Wissensprivilegien ausgestatteten gegenüber den Gesetzgebern zu mächtig werden. Was die Freiheit ihrer konkretisierenden Gesetzesauslegungen angeht, ist den deshalb eine Instanz vorgegeben, die uns aus dem Idealentwurf der Rhapsodenkunst im Ion gut vertraut ist: Wie der ideal erdachte Rhapsode den Halt und Einhalt seiner Interpretation in der des Dichters findet, so hat sich der der Nomoi an der Absicht des Gesetzgeber ( ) auszurichten, dem das zu Interpretierende im Grunde zu verdanken ist. Die Frage nach dem Rechtfertigungsgrund der von den zu leistenden Interpretationen wird im 7. Buch der Nomoi angesprochen,439 als im Gespräch die Frage aufkommt, welche Werke der alten musischen Kunst in die neu zu gründende Polis in unveränderter oder verbesserter Form übernommen und welche verworfen werden sollen. Für die Auswahl der Werke sind qualifizierte Gutachter zu bestimmen, deren Urteil entscheidet, was zuzulassen und was als unbrauchbar anzusehen ist. Werke, die in den Augen der Gutachter zwar nicht uneingeschränkt gutzuheißen, wohl aber als verbesserungsfähig und -würdig anzusehen sind, sollen durch dichterisch und musisch begabte Männer verbessert werden. Der Gedanke, daß man sich deren schöpferische Fähigkeiten zunutze machen könne, ohne jedoch ihren Neigungen die Ausleger zu bestimmen, die der Gott erwählt hat.“ Legg. IX 873 d 1-4: „Was hier (sc. bei Suiziden) im übrigen, hinsichtlich der Reinigung ( ) und der Bestattung für Bräuche zu beobachten sind, das weiß die Gottheit, und die nächsten Anverwandten sollen hierüber die Ausleger befragen und entsprechend den ihnen gegebenen Anweisungen verfahren.“ Legg. XII 958 d 3-6: „Was also die Verstorbenen (...) angeht, so sollen die Ausleger befugt sein, über all die religiösen Gebräuche Auskunft zu geben, die zu Ehren der unterirdischen Götter und der Götter hier oben zu vollziehen sind.“ 439 Vgl. insbes. VII 802 a 1 – d 6
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2. Die Theorie der Interpretation
und Wünschen nachzugeben, erinnert an die im Timaios propagierte Indienstnahme von Enthusiasten, die nicht selbst zum in der Lage und daher auf eine Art paternalistische Fürsorge angewiesen sind. Auf diese Weise werden die Enthusiasten als Werkzeuge der Gottheit unter der Hand zu Werkzeugen der philosophischen Politiker. Entscheidend ist nun aber, anhand welcher Kriterien sich die Auswahlarbeit der Gutachter vollzieht: Sie sollen die Absichten des Gesetzgebers auslegen ( ) und so den Tanz, den Gesang und den gesamten Chorreigen möglichst im Sinne dieser Absichten gestalten.440 Wieder ist es die auktoriale , die der Interpretation ihren Rechtfertigungsgrund geben soll. Doch bemerkenswerterweise ist es nicht die des Gottes, der durch das Orakel von Delphi seinen Willen verkündet, sondern die der menschlichen Gesetzgeber, die Gesandtschaften mit der Bitte um Gesetze nach Delphi senden. Daß die der menschlichen Gesetzgeber die entscheidende Orientierung ist, an der sich die Interpretationen der auszurichten haben, verdeutlicht auch der erwähnte Umgang mit der überlieferten musischen Kunst.441 Aufgrund der politisch-pädagogischen Relevanz der gewinnt ihre Auslegung durch die eine praktische Dimension, die von jeder Suche nach der des Dichters bzw. Komponisten absehen läßt, um sich rein dem vorgegebenen Sinne des Gesetzgebers dienstbar zu machen. Damit sind die keine potentiellen Rivalen der Gesetzgeber mehr, sondern intellektuelle Dienstleister, die eben die Auslegung erbringen, von denen die Gesetzgeber wissen und verlangen, daß sie in ihrem Sinne ist. Dies ist für die Rolle, die das Orakel und der Gott von Delphi im Rahmen der Nomoi spielen, bezeichnend. Lapidar formuliert: Der Gott verrichtet Auftragsarbeit,442 er ist eine Art Angestellter der philosophischen Gesetzgeber. Wenn man für irgend etwas Gesetze braucht, das Orakel in Delphi liefert sie. Was die inhaltliche Ausrichtung der Gesetze angeht, brauchen die Gesetzgeber keine Überraschungen zu fürchten. Aus Delphi kommen eben die allgemeinen Vorschriften, die den menschlichen Gesetzgebern als die besten erscheinen. Mitgeliefert wird die göttliche Autorität. Damit fungiert der Gott als eine Art instrumentalisierte regulative Idee, die sich zum ersten Mal 440 Legg. VII 802 c 2-4: (...)
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441 Vgl. insbes. Legg. VII 802 a 1 – d 6. 442 Damit ist der Gott den im Idealstaat der Politeia allein zugelassenen Dichtern vergleichbar, die ebenfalls nur das dichterisch ausgestalten dürfen (und sollen), was ihnen die philosophischen Herrscher an Inhalten programmatisch vorgeben.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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beim Sophisten Kritias dokumentieren läßt.443 Anders als im Fall des Enthusiasten nimmt hier nicht der Gott den Menschen, sondern der Mensch den Gott als Werkzeug in Gebrauch. Brauchen die , um ihrer Vermittlungsaufgabe gerecht werden zu können, ein privilegiertes Wissen um den Willen der Gottheit, so genügt es demnach im Rahmen der Polis-Konzeption, wie sie in den Nomoi entfaltet wird, zu wissen, was die menschlichen Gesetzgeber dem Gott von Delphi zu wollen vorschreiben. Die ungleiche Kooperation von vernunftberaubten Enthusiasten und vernünftigen Exegeten, wie sie im Timaios und in den Nomoi angesprochen wird, hat allerdings nicht zur Folge, daß im Spätwerk Platons eine Änderung an der grundsätzlichen These zu verzeichnen wäre, nach der die Enthusiasten, speziell die enthusiastischen Dichter, durch Unberechenbarkeit, Gefährlichkeit und Unzurechenbarkeit gekennzeichnet sind. Im 6. Buch der Nomoi kommt der Athener auf den enthusiastischen Charakter der Dichtung zu sprechen, und zwar bemerkenswerterweise im Rahmen einer Rede, die den Dichtern selbst in den Mund gelegt wird. Der Athener fingiert ein Gespräch von Dichtern und
443 Vgl. Kritias DK B 25: „Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar, ähnlich dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. Damals wurden die Guten nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Und da scheinen mir die Menschen sich Gesetze als Zuchtmeister gegeben zu haben, auf daß das Recht in gleicher Weise über alle herrsche und den Frevel niederhalte. Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, daß man offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder dächten. – Er führte daher den Gottesglauben ein: Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht hat; der hat eine göttliche Natur und achtet auf dies alles. Der hört alles, was unter Menschen gesprochen wird, und alles, was sie tun, kann er sehen. Und wenn du schweigend etwas Schlimmes sinnst, so bleibt es doch den Göttern nicht verborgen. Denn sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis. – Mit solchen Reden führte er die schlauste aller Lehren ein, indem er die Wahrheit mit trügerischem Wort verhüllte. Die Götter, sagte er, sie wohnen dort, wo es die Menschen am meisten erschrecken mußte, von wo, wie er wußte, die Angst zu den Menschen herniederkommt wie auch der Segen für ihr armseliges Leben: aus der Höhe da droben, wo er die Blitze zucken sah und des Donners grauses Krachen hörte, da, wo des Himmels gestirntes Gewölbe ist, das herrliche Kunstwerk der Zeit, der klugen Künstlerin, von wo der strahlende Ball des Tagesgestirns seinen Weg nimmt und feuchtes Naß zur Erde herniederströmt. Mit Ängsten solcher Art schreckte er die Menschen und wies so passend und wohlbedacht der Gottheit an geziemender Stätte ihren Wohnsitz an und tilgte den ungesetzlichen Sinn durch die Gesetze. – Und kurz darauf setzte er noch hinzu: So hat jemand, glaube ich, zuerst die Menschen glauben gemacht, daß es ein Geschlecht von Göttern gibt.“ (zitiert nach der dt. Übers. von Wilhelm Capelle (in Capelle 1963, S. 378).)
212
2. Die Theorie der Interpretation
Gesetzgeber, in dem die Dichter nicht nur an die zuvor gehörten444 Worte des Gesetzgebers erinnern, man dürfe den Dichtern nicht das zu dichten gestatten, was ihnen beliebe, da die Dichter gar nicht wissen, welch großen Schaden sie der Polis zufügen können, wenn sie mit ihren Worten gegen die Gesetze verstoßen.445 Die Dichter stimmen auch selbst dieser Kritik zu,446 geben sie gar als allgemeinen Konsens aus und erklären schließlich ihre Unverantwortlichkeit durch den vernunftberaubten, enthusiastischen Charakter der Dichtung: Es ist eine alte Sage ( ), Gesetzgeber, die von uns (sc. den Dichtern) selbst immer wieder angeführt und auch von allen anderen stets anerkannt wird, daß der Dichter, wenn er auf dem Dreifuß der Muse sitzt, nicht bei Sinnen ( ) ist, sondern gleich einer Quelle das, was über ihn kommt, willig ausströmen läßt.447
Und eben in diesem Zustand des liegt der Grund, warum sich der Dichter in Selbstwidersprüche verwickeln und das von ihm mimetisch Dargestellte Inkonsistenzen aufweisen muß. Ohne eigenes Wissen um die Wahrheit nämlich besitzt der Dichter weder die Möglichkeit, bei einem Paar kontradiktorischer Aussagen zu entscheiden, welche die wahre ist, noch die Fähigkeit zu einem eigenverantworteten
: Und da seine (sc. des Dichters) Kunst () eine Nachahmung () ist, so muß er, wenn er Menschen mit einander widersprechenden Gesinnungen darstellt, zwangsläufig sich selbst oft widersprechen und weiß dabei nicht, ob die eine oder die andere Aussage die Wahrheit ist. Der Gesetzgeber dagegen darf in seinem Gesetz nicht so verfahren, nämlich über einen Gegenstand zwei, sondern darf über einen Gegenstand immer nur eine Ansicht äußern.448 444 Vgl. Legg. II 656 c 1-7. 445 Legg. IV 719 b 4-7. 446 Genau genommen ist es der Athener, der die von ihm in Szene gesetzten Dichter dieser Behauptung zustimmen läßt. Damit wiederholt sich auf der Ebene des Textes eben die Struktur, die das Verhältnis von Autor und Dialogfigur ausmacht. Wie Platon den Athener im Rahmen der fingierten Gesprächshandlung Behauptungen aufstellen läßt, läßt auch der Athener – Fiktion in der Fiktion – die von ihm dargestellten Dichter Behauptungen aufstellen. Es gehört zu den bewährten Mitteln der Polemik, die Position, die man angreifen möchte, selbst zu Wort kommen und sich selbst präsentieren zu lassen – und dies in einer Weise, die gerade keine gute Verteidigung gegen Kritik, sondern besten Anlaß zur Kritik bietet. 447 Legg. IV 719 c 1-5: !
" # ! $ % & '(( " ) * + # , ( - . / 0 # 1 (2 * # 3$ 4 #5 (...) 448 Legg. IV 719 c 5 – d 3: (...) ! - 6 * " 70 # * 8 ' ( ' # " , 7
9( (2 6: ; 6: ; 7 - " < , (2 =
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
213
Während der Gesetzgeber immer nur eines über eines zu sagen hat, nämlich wahre Aussagen über bestehende (wirkliche) Sachverhalte, so sind von dem Dichter kontradiktorische Aussagen über dasselbe zu erwarten. Daraus aber folgt trivialerweise, daß der Dichter nicht nur Wahres, genauso aber, daß er nicht nur Falsches sagt. Treffen Dichter einmal wahre Aussagen, so darf der Philosoph aus der Autorität, die den Dichtern traditionell zugeschrieben wird, seinen eigenen Nutzen ziehen. Im dritten Buch der Nomoi etwa präsentiert der Athener, um die dritte zu debattierende Staatsverfassung besser erläutern zu können, ein Homer-Zitat, das er inhaltlich für zustimmungswürdig erachtet.449 Ehe er sich weiter mit dem Thema der dritten Staatsverfassung auseinandersetzt, fügt der Athener eine kurze methodologische Zwischenbemerkung ein, so als müsse er eigens rechtfertigen, warum er hier überhaupt von einem Dichterzitat Gebrauch macht: Diese Verse nämlich, und jene, die er (sc. Homer) von den Kyklopen gedichtet hat,450 sind irgendwie aus göttlicher Eingebung heraus und ganz der Natur der Sache gemäß verfaßt ( ); denn da auch die Dichter ein göttliches Geschlecht sind, das bei seinem Singen von einem Gott besessen ist, so treffen sie jeweils mit Hilfe irgendwelcher Chariten oder Musen vielfach den wahren Verlauf der Dinge.451
Dichter können manchmal die Wahrheit treffen, sie treffen sie nicht immer. Treffen sie die Wahrheit, dann nicht aus eigener Kraft, sondern wegen der göttlichen Hilfe. Der Athener macht also zur Rechtfertigung seiner Redehandlung, die ein Dichter-Zitat einbringt, geltend, daß die Dichter sehr wohl etwas Wahres sagen können: etwas, was der Natur der Sache gemäß ( ) ist. Simple Argumente contra hominem sind deshalb abzulehnen. Es wäre zu einfach und auch sachlich irreführend, den Dichter als verläßliche Anti-Autorität zu deuten, die garantiert nur Falsches behauptet. Entscheidend ist, daß aus dem Munde des Dichter Gegensätzliches, d. h. sowohl Wahres
!"" # $ ! "% ! &' 449 Dem Homer-Zitat kann inhaltlich nur wenig entnommen werden, der Athener muß also sehr frei deuten, um zu den gewünschten Aussagen zu gelangen. 450 Die Verse von den Zyklopen hat der Athener bereits in Legg. III 680 b 5 – c 1 zitiert. 451 Legg. III 682 a 1-5: "% % ( ) * +, "-
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214
2. Die Theorie der Interpretation
als auch Falsches, vernommen wird, daß der Dichter selbst aber die Wahrheit oder Falschheit einer bestimmten Aussage nicht wissen und argumentativ nicht unter Beweis stellen kann.452 Bereits die erste zu debattierende Staatsform, die , konnte der nicht ohne interpretatorisches Geschick agierende Athener bei Homer ausfindig machen: „Mir scheint, daß alle die Verfassung in dieser Zeit als eine Patriarchalherrschaft ( ) bezeichnen, die auch heute noch vielerorts unter Hellenen wie unter Barbaren besteht. Auch Homer erwähnt irgendwo ihr Vorhandensein im Zusammenhang mit der Lebensweise der Kyklopen, wenn er sagt: Ratsversammlungen kennen sie nicht, auch keine Gesetze, sondern sie alle bewohnen die Häupter der hohen Gebirge in gewölbeten Höhlen; und jeder herrscht selber als Richter über Kinder und Frauen, und kümmern sich nicht umeinander.453
Der Gesprächspartner Kleinias, ein Kreter, lobt nach diesen Worten des Atheners Homer als einen anmutigen Dichter, schränkt aber ein, nicht viel von Homer zu wissen, da man sich auf Kreta nur wenig mit ausländischer Dichtung befasse.454 Dagegen gibt der Lakedaimonier Megillos zu verstehen, daß man in Sparta, wo die Auseinandersetzung mit der ausländischen Dichtung sehr gründlich betrieben werde, Homer als einen Dichter achte, der alle anderen seiner Art übertreffe. Allerdings, merkt Megillos kritisch an, habe Homer meist die (als verweichlicht geltende) ionische, nicht aber die dorische Lebensführung zur Darstellung gebracht. Doch sei das Zitat des Atheners gut 452 Unterscheidet Christopher Janaway zwischen dem knowledgeably speaking des Techniten und dem finely speaking des Enthusiasten (vgl. Janaway 1995, S. 29), so ist diese Differenzierung – gegen die wohlwollende Deutung, die Janaway der enthusiastischen Rede gibt, – also dahingehend zu explizieren, daß der Technit begründend zu sprechen vermag, während von Enthusiasten nur möglicherweise Wahres zu vernehmen ist. Der Nachweis, daß die im Menon zitierten Aussagen Pindars „dasselbe über die Seelenwanderung sagen wie Platon in seinen Mythen“ (Büttner 2000, S. 266), kann folglich nicht zu einer Rehabilitierung der methodischen bzw. argumentativen Schwäche enthusiastischer Rede beitragen. – Für die Frage nach dem allgemeinen Verhältnis von Mythos und Logos bei Platon läßt sich vor diesem Hintergrund festhalten, daß der Mythos zwar durchaus wahre Aussagen treffen kann, daß er jedoch als Mythos diese Aussagen nicht mehr zu rechtfertigen vermag. Kurz: Der Mythos hat stets den Charakter der . Um zu zeigen, daß eine bestimmte Aussage des Mythos wahr ist, braucht es den Logos. Der Mythos ist also in der Lage, wahre Aussagen zu präsentieren, die durch den Logos begründet werden können, doch kann er sie nicht begründend präsentieren. 453 Legg. III 680 b 1 – c 1. 454 Vgl. Legg. I 629 b 6 – d 5: Auch von dem Dichter Tyrtaios hat man in Kreta eine gewisse Kenntnis, bezeichnenderweise vermittelt über Sparta.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
215
gewählt, da Homer jetzt als guter Zeuge für die vorige Behauptung des Atheners erscheine, schließlich habe er in der Tat die Staatsform der präsentiert und „ihre altertümliche Lebensweise in seiner dichterischen Darstellung auf ihre Roheit zurückführt.“455 Der Athener freut sich über die Zustimmung des Spartaners, der das Motiv für seinen Rückgriff auf den Dichter richtig verstanden hat: Homer liefert ein Zeugnis ( ) und dient dabei selbst als ein Gewährsmann ( ) für bestimmte Aussagen, im konkreten Falle für die Behauptung, daß die zu debattierenden Staatsverfassungen wie die irgendwann einmal entstehen bzw. entstanden sind.456 Als Fazit ist also festzuhalten, daß der Athener den Dichtern – wie Sokrates den enthusiastischen Politikern im Menon – zwar die Möglichkeit einer zuerkennt. Doch den Anspruch auf eine dürfen die Dichter nicht erheben, da sie dem entscheidenden Kriterium, der Forderung nach dem , nicht genügen. 2.3.8 Die Philosophie als im Phaidros Gegen die oben ausgeführte These, daß Sokrates den durch die Unfähigkeit zum stigmatisiert, scheint auf den ersten Blick die Thematisierung des im Phaidros zu sprechen, wo überraschenderweise die Philosophie, die nach Sokrates ja gerade durch ihre argumentative Kompetenz ausgezeichnet ist, neben der apollinischen Mantik, der dionysischen Telestik und der musischen Poietik als eine vierte, als die „erotische“ Form des aufgeführt wird. Dies hat nicht selten zu einer grundlegenden Fehleinschätzung des im Rahmen der platonischen Philosophie geführt. Im folgenden möchte ich durch eine Analyse der betreffenden Partie des Phaidros nachweisen, daß Sokrates auch in diesem Dialog seine kritische Sicht des keineswegs suspendiert. Der Phaidros führt vielmehr – unter Verwendung der bewährten sokratischen Argumentationstechnik, die Polemik und Vereinnahmung qua Emphatikon kombiniert – einen Angriff gegen die konventionellen Formen des , um den eigentlichen in der Philosophie zu entdecken. 455 Legg. III 680 d 1-3: !" # $% & ' 456 Legg. III 680 d 4 f.: () * *+,- . $ $ ' – Vgl. Mehmel 1954, S. 18: „Diese Feststellung: so etwas ist noch nie dagewesen, ist gleichbedeutend mit: so etwas gibt es nicht bei Homer.“
216
2. Die Theorie der Interpretation
Kurz zur Einordnung der betreffenden Passage in den Gesamtzusammenhang des Dialogs: Die Ausführungen über den (bzw. die haben ihren Ort im Rahmen der zweiten längeren Rede des Sokrates, die den erklärten Zweck verfolgt, sowohl die Lysias-Rede als auch die mit dieser inhaltlich übereinstimmende erste Rede des Sokrates zu widerlegen. Um diesen Zweck zu erfüllen, betreibt Sokrates eine Art Relegitimierung der in Lysias’ Rede attackierten :457 Und lauten soll sie (sc. die These, die Sokrates nun in seiner zweiten Rede vertreten will) so: Nicht wahr ist die Rede, die da behauptet, man solle trotz eines vorhandenen Liebhabers dem Nichtverliebten eher entgegenkommen, weil eben der Eine von Sinnen, der andere aber besonnen sei. Wäre nämlich der Wahnsinn grundsätzlich etwas Schlechtes, so wäre die Behauptung richtig; nun werden uns aber die bedeutendsten Güter durch Wahnsinn ( ) zuteil, sofern er als göttliche Gabe kommt.458
Der hier artikulierte Gedanke, daß die größten Güter ( ) dem entspringen, ist uns schon aus dem Ion und dem Menon vertraut, wo die Rede davon ist, daß dem viel Wertvolles ()459 bzw. viel Bedeutendes ( )460 zu verdanken ist. Vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade auch in diesen beiden Dialogen über die Unfähigkeit der Enthusiasten zum erfahren haben, muß allerdings die knappe Einschränkung, die Sokrates in der eben zitierten Phaidros-Passage anbringt, aufhorchen lassen: Nur wenn die als gött-
457 Vgl. Heitsch 1993, S. 90: „Zwar sei die Liebe, wie Lysias richtig annimmt, ein Wahnsinn, doch nicht jeder Wahnsinn sei, wie Lysias fälschlich annimmt, etwas Schlechtes. Damit ist die Aufgabe, in gewisser Weise aber auch die Gliederung der folgenden Ausführungen vorgezeichnet: Gezeigt werden soll, (a) daß es Formen eines positiv zu bewertenden Wahnsinns gibt und (b) daß zu ihnen die Liebe gehört.“ – Zwar führt Sokrates vordergründig vier Formen des positiv zu bewertenden an, doch verdient nur eine, nämlich die vierte und letzte Form auch in den Augen des Sokrates Lob: die philosophische . Den anderen drei Formen der göttlichen eignet zwar große öffentliche Anerkennung, doch macht Sokrates immer wieder durch kurze Hinweise darauf aufmerksam, daß sich die Sache so einfach nicht verhält. 458 Phdr. 244 a 3-8:
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8 - (Alle deutschen Zitate aus dem Phaidros sind, wie bereits erwähnt, der
Übersetzung von Ernst Heitsch (in Heitsch 1993) entnommen.) 459 Ion 534 d 3. 460 Vgl. Men. 99 d 4 und oben Kap. 2.3.7.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
217
liche Gabe kommt,461 kann Großes erwartet werden. Doch kann die Frage, ob die in der Tat einen göttlichen und nicht vielleicht nur einen krankhaften Ursprung462 hat, nicht von dem entschieden werden, der sich selbst im Zustand der befindet.463 Damit begegnet uns erneut das oben angesprochene Problem in einer nur leicht modifizierten Form: Daß den Werken der göttlichen ein großer Wert zugeschrieben werden kann, muß fragwürdig bleiben, solange nicht geklärt werden kann, ob eine bestimmte wirklich göttlichen Ursprungs ist. Als Beleg für die Behauptung, der seien die bedeutendsten Güter zu verdanken, führt Sokrates die Orakel von Delphi und Dodona an, nicht ohne den uns ebenfalls schon bekannten Gedanken zu betonen, daß kein Mensch, der bei Vernunft ist, dem Enthusiasten seine göttliche Gabe streitig machen kann: 461 Daß der angenommene Wert der in Abhängigkeit von ihrem göttlichen Ursprung steht, dessen sich der Enthusiast nicht als solchen zu vergewissern vermag, wird von Sokrates im Rahmen dieser Passage noch drei weitere Mal hervorgehoben: (1) Phdr. 244 c 2-4: (2) Phdr. 244 e 4: (...) ! " # (...) (3) ! % " %& Phdr. 245 b 1 f.: $ ' ( – Vgl. Heitsch 1993, S. 92: „Und ohnehin stellt Sokrates, fast beiläufig, seinen Preis des Wahnsinns unter eine in Wahrheit vom Menschen nicht nachprüfbare Bedingung: ‚sofern er als göttliche Gabe kommt‘ (244 a 7) oder ‚sofern man in der rechten Weise außer sich und besessen ist‘ (244 e 4).“ Oder Gundert 1949, S. 27: „Wahnsinn ist nicht schlechthin ein Übel, vielmehr wird größtes Heil durch ihn gestiftet, dann nämlich, wenn er durch göttliche Schickung ( ) geschenkt wird.“ 462 Daß der )* + nicht nur göttlichen Ursprungs, sondern auch durch menschliche Krankheiten verursacht sein kann, betont Sokrates, wenn er den vier Arten des göttlichen )* + den krankhaften )* + gegenüberstellt (Phdr. 265 a 911): „Und vom Wahnsinn gebe es zwei Arten, die eine verursacht durch menschliche Krankheiten, die andere durch göttliche Entrückung aus den gewohnten Normen.“ (, - .- -/ 0 1%& 2 % 0 -3 1%& )45 6+ () Auf die Schwierigkeit, aus einer Beobachterposition heraus die konkreten Erscheinungsformen des göttlichen )*7 + von denen des krankhaften zu unterscheiden, macht schon Sokrates’ Beschreibung des vom Eros Ergriffenen (Phdr. 251 c 5 – 252 c 2) aufmerksam. Vgl. dazu Fleischer 1976, S. 116: „Hier scheint es, als beginne der Unterschied sich zu verwischen zwischen dem Wahnsinn dieses Liebenden und dem krankhaften Wahnsinn, der als ein Übel mit dem Eros nichts zu tun hat.“ 463 Genau genommen ist der göttliche Ursprung der nur eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für den Wert dessen, was durch die entsteht: Ist der für die verantwortliche Gott übelgesinnt, wie etwa Zeus dem träumenden Agamemnon (vgl. oben Fn. 400 auf S. 193), dann wäre trotz des göttlichen Ursprungs eher von einer Ungnade als von einer Gnade zu sprechen. Auf den drohenden Zorn der Götter, wie er ganze Geschlechter verfolgt, kommt Sokrates auch im Rahmen unserer Phaidros-Passage sogleich zu sprechen (vgl. Phdr. 244 d 5 – 245 a 1).
218
2. Die Theorie der Interpretation
Denn tatsächlich haben die Prophetin in Delphi und die Priesterinnen in Dodona, wenn vom Wahnsinn heimgesucht, vieles Gute für Hellas getan sowohl in privaten Angelegenheiten als auch in öffentlichen, waren sie dagegen bei Sinnen, wenig oder nichts.464
Doch welch geringen Wert die göttlichen Orakel haben und welche Gefahr von ihnen ausgehen kann, wenn nur die Enthusiasten und keine verständigen Ausleger zur Verfügung stehen, haben uns die Auslegung des Timaios und der Fall des Lyderkönigs Kroisos deutlich gezeigt.465 Sokrates referiert, wenn er scheinbar unkritisch wie im Phaidros auf den Wert der Orakelworte zu sprechen kommt, einen Allgemeinplatz, und er macht eigens darauf aufmerksam, daß er einen Allgemeinplatz referiert: Und wollten wir von der Sibylle sprechen und all den anderen, die in prophetischer Inspiration vielen in vielen Fällen durch ihre Voraussagen den richtigen Weg gewiesen haben in die Zukunft, so würden wir uns verbreiten über Dinge, die jedem bekannt sind.466
Sokrates bemüht auch die als Autorität eigener Art fungierenden „Alten“, die ,467 um einen weiteren Beleg für die vorgegebene These, der seien die bedeutendsten Güter zu verdanken, ins Feld führen zu können: Das jedoch verdient als Zeugnis Erwähnung, daß auch die Menschen der Vorzeit, die die Bezeichnungen eingeführt haben, den Wahnsinn nicht für etwas Schimpfliches und auch nicht für tadelnswert hielten; denn sonst hätten sie nicht die herrlichste Kunst ( ), durch die die Zukunft beurteilt wird, mit eben diesem Wort verbunden und ‚Enthusiastik‘ genannt. Nun aber haben sie, überzeugt, er sei etwas Schönes, wenn er als Gabe der Götter kommt, in diesem Sinne den Namen gegeben.468
464 Phdr. 244 a 8 – b 3:
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465 Vgl. oben S. 126. 466 Phdr. 244 b 3-5: ! .+/'
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467 Wie Sokrates im Phaidros (Phdr. 275 b 5 – c 2) die Autorität der als Ideal entworfenen „Alten“ () als Gegenentwurf zur sophistischen Mythoskritik verwendet, wurde bereits ausgeführt (vgl. S. 128). 468 Phdr. 244 b 6 – c 4: : ! 0; !73( 1 " < <
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
219
Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Differenzierung zwischen und müßte doch gerade der herrlichsten eines mit Sicherheit zuzutrauen sein: die Fähigkeit argumentativer Rechenschaftsgabe, wie sie jeder grundsätzlich mangelt. Ich verstehe es daher als einen Fall sokratischer Ironie, wenn der Rang der ausgerechnet der Mantik zugebilligt wird. Soll gerade dasjenige enthusiastische Geschäft, das höchst problematische Aussagen, nämlich Aussagen über kontingente Zukunftsereignisse, trifft, in ausgezeichneter Weise zum befähigt sein? Wie könnte ein Enthusiast, der sich ja noch nicht einmal vergewissern kann, ob wirklich ein Gott und nicht etwa eine Krankheit durch ihn die zu vernehmenden spricht, diesen zu Hilfe kommen, wenn zudem gar in Frage steht, ob es sich bei diesen um etwas handelt, was wahr oder falsch ist, kurz: ob es sich bei diesen überhaupt um handelt? Offensichtlich steht die von Sokrates dargelegte Auffassung der , die Mantik sei die , in deutlicher Spannung zu dem sokratischen -Begriff. Daß Sokrates die Auffassung der referiert, ohne sie an dieser Stelle explizit anzugreifen, darf nicht dazu führen, ihm – oder gar dem Autor Platon – eben diese Auffassung als eigene zu unterstellen. Vielmehr ist anzunehmen, daß Platon mit Lesern rechnet, die den von Sokrates favorisierten -Begriff (und vielleicht auch seinen
-Begriff) bereits durch die Lektüre früherer Dialoge kennen und daher zu recht stutzig werden, wenn gerade das unverantwortlichste enthusiastische Treiben als vornehmste bezeichnet wird. Nachdem er den Umgang der mit dem
scheinbar lobend angesprochen hat, wendet sich Sokrates scharf gegen seine sophistisch beeinflußten Zeitgenossen, die Heutigen ( : Die Heutigen aber in ihrer Geschmacklosigkeit haben das T eingeschoben und sprechen von ‚Mantik‘ (sc. statt von ). Haben sie doch auch die Erforschung der Zukunft, wie die Nichtinspirierten sie betreiben mit Hilfe von Vögeln und anderen Zeichen, weil so der menschlichen Vermutung auf rationale Weise Einsicht und Information verschafft werde, ‚Oionoistik‘ genannt, was die Jüngeren ‚Vogelschau‘ nennen, wobei sie das Wort erhabener machen durch Längung des O.469
Ich vermute, Sokrates spielt hier auf eine sophistische Kritik am
an, die diesen – wie den Mythos470 – fälschlich als eine (verläßliche) Anti469 Phdr. 244 c 4 – d 1:
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&+ , ! ,- ! . , / 0 $ 1
470 Vgl. oben S. 126.
220
2. Die Theorie der Interpretation
Autorität versteht, ihn daher gänzlich verwirft und die bislang ausschließlich Enthusiasten vorbehaltenen Arbeitsfelder – wie die Erforschung der Zukunft – auch für Nicht-Enthusiasten öffnet. Dagegen plädiert Sokrates dafür – in diesem Punkt durchaus in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Timaios und der Nomoi –, dem Enthusiasten zu geben, was des Enthusiasten und nur des Enthusiasten ist: Und inwieweit also die (sc. von Enthusiasten betriebene) Mantik vollkommener ist und angesehener als die (sc. von Nicht-Enthusiasten betriebene) Vogelschau ( ), und zwar sowohl in der Bezeichnung als auch in der Sache, insoweit bezeugen die Alten, daß Wahnsinn etwas Schöneres sei als nüchterner Verstand, da der eine göttlichen, der andere menschlichen Ursprungs ist.471
Nach diesen Bemerkungen zu der ersten Form der nicht menschlichen, sondern göttlichen , die später als die dem Gott Apollon zuzurechnende Mantik bestimmt wird, geht Sokrates auf eine zweite Form ein, nämlich auf die dionysische Telestik:472 Und ferner, für die schwersten Krankheiten und Plagen, für jene also, die aus uraltem Götterzorn auf einigen Geschlechtern lasten, hat der Wahnsinn, wenn er sich einstellt und denen, die es nötig haben, das Verborgene enthüllt, dadurch Heilung gefunden, daß er Zuflucht nahm zu Gebeten und Handlungen im Dienste der Götter; und so führte er rituelle Reinigungen und Zeremonien ein und machte den, der an ihm teilhat, sicher vor Bedrohung für die Gegenwart und für die Zukunft, indem er dem, der in der rechten Weise außer sich und besessen ist, Befreiung bietet vom gegenwärtigen Unglück.473 471 Phdr. 244 d 2-5:
! " ! # $ % & '( ) $ *)$ +(, 472 Die terminologischen Bezeichnungen der vier Arten der göttlichen %, wie sie zunächst insgesamt von der krankhaften menschlichen % zu unterscheiden und dann spezifischen Göttern zuzuordnen sind, führt Sokrates in seiner resümierenden Zusammenfassung (zur Problematik von Sokrates’ „Rückschau“ auf seine beiden Reden und seine Ausführungen über den ) ! vgl. Heitsch 1993, S. 141 ff.) der betreffenden Passage auf (vgl. Phdr. 265 b 2 – c 3): (1) die apollinische % (Mantik), (2) die dionysische % (Telestik), (3) die musische % (Poietik) und (4) die erotische bzw. aphroditische %, die als Philosophie zu deuten ist. Zur Verbindung von Eros und Philosophie vgl. insbes. Phdr. 257 b 2-6: „(...) bring ihn (sc. Lysias) ab von Reden dieser Art und wende ihn hin zur Philosophie, wie sein Bruder Polemarchos sich ihr zugewandt hat, damit auch dieser sein Verehrer hier nicht mehr schwankt wie jetzt, sondern ohne Vorbehalt auf Eros hin sein Leben richte in philosophischen Gesprächen.“ 473 Phdr. 244 d 5 – 245 a 1: *- $ . % / $.
(" $ )0 . . 1 % +( $ &(' 2 *$ (3 &! $4 ). 56" %
) ). . !6 7"( $ %( 4 [8!] 6 $ 4 $ 4 $ 6 ' 9 ). + 6 + . $ . : +(,
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
221
Beachtung verdient, daß es Sokrates, wenn er hier scheinbar kritiklos weit verbreitete Auffassungen über die dionysische Telestik referiert, nicht versäumt, ganz nebenbei auf den Götterzorn und damit implizit auch auf die Gefahr hinzuweisen, die von Enthusiasten ausgeht, die nicht von wohl-, sondern von übelgesonnenen Göttern instrumentalisiert werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die zunächst harmlos wirkende Einschränkung „wer in der rechten Weise außer sich und besessen ist“ eine andere Dimension: Ob ein bestimmter Enthusiast durch einen wohlmeinenden oder durch einen zürnenden Gott oder gar durch eine Krankheit seines Verstandes beraubt wird, ist einerseits nur schwer zu beantworten und hat andererseits, wie die Bakchen des Euripides demonstrieren, gravierende Folgen für den Enthusiasten selbst wie für die, die mit ihm zu tun bekommen. Nach Mantik und Telestik spricht Sokrates die musische an: Eine dritte Form aber der Besessenheit und des Wahnsinns kommt von den Musen. Wenn sie auf eine empfindsame und unberührte Seele trifft, diese erweckt und bakchantisch begeistert zu Liedern und anderer Dichtung, so verherrlicht sie die unzähligen Taten der Vorfahren und bildet so die nachfolgenden Geschlechter.474
Daß die Dichter eine Tradierungs- und eine Bildungsleistung erbringen, ist zwar eine in der Athener Öffentlichkeit weitverbreitete, auf das Selbstverständnis der Dichter rekurrierende Meinung. Doch teilt auch der platonische Sokrates diese Auffassung? In der Politeia jedenfalls läßt ihn Platon derart vehement gegen die Autorität der Dichter zu Felde ziehen, daß man kaum vermuten würde, Sokrates preise in einem Dialog, der in der gleichen Schaffensperiode wie die Politeia anzusetzen ist, die tradierende und pädagogische Kraft der Dichtung. Schließlich sind die Dichter die gefürchtetsten Konkurrenten des Philosophen in so zentralen Bereichen wie Bildung, Politik und Theologie. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß Sokrates’ Preis der Mantik, der Telestik und der Poietik475 v. a. eine Wiedergabe dessen darstellt, 474 Phdr. 245 a 1-5: ! " # $%& % ' ' (! )& '!'!* & '"'+ 475 Vgl. Heitsch 1993, S. 92: „Doch wer hier (im Referat der drei Formen göttlichen Wahnsinns) spricht, ist in Wahrheit nicht Platon, sondern der Gesprächspartner Sokrates. Ihn läßt Platon solche landläufigen Meinungen vertreten, die im Rahmen eines bestimmten Gedankenganges helfen können, ein erstrebtes Beweisziel zu erreichen. Der Schluß, auch Platon selbst würde Ausführungen dieser Art als Argument akzeptieren, ist wie an vielen anderen Stellen seiner Dialoge so auch hier verfehlt. Immerhin läßt er es nicht daran fehlen, den Leser auf eine gewisse Distanz zu dem einzustimmen, was Sokrates hier gerade so beredt entwickelt. Denn wenn Sokrates hier nicht nur die Bezeichnungen,
222
2. Die Theorie der Interpretation
was in großen Teilen der zeitgenössischen Athener Bevölkerung anerkannt, mitunter sogar Allgemeinplatz war. Doch kommt zweierlei hinzu: (1) Sokrates gibt eine Reihe versteckter Hinweise, um Leser, die sich nicht zum ersten Mal mit einem platonischen Dialog auseinandersetzen, darauf aufmerksam zu machen, daß vor dem Hintergrund einer philosophischen Wertschätzung argumentativer Rechenschaftsfähigkeit schwerwiegende Einwände gegen dieses allzu leichtfertige Lob der vorzubringen sind. (2) Sokrates gibt aber auch Auskunft über sein eigenes -Verständnis. Dazu gehört insbesondere, daß der ein gewaltiges Potential darstellt, das einerseits dem Vernünftigen nicht als Potential verfügbar ist,476 aber andererseits gerade des Vernünftigen bedarf, damit seine Aktualisierung zum Guten und nicht zum Schlechten gereicht. Zum Abschluß seiner Überlegungen über die ersten drei Arten des göttlichen spricht Sokrates explizit die grundsätzlich denkbare Möglichkeit an, daß enthusiastische Zustände auch von übelmeinenden Göttern hervorgerufen werden können. Diese Möglichkeit bietet einen Ansatzpunkt für die Diffamierung der , wie sie Lysias in seiner Rede betrieben hat. Dagegen ist sich Sokrates, der nun die Rede über den in fast unmerklicher, doch m. E. höchst bedeutsamer Weise einschränkt auf die Rede über den erotischen , in einem Punkt gewiß: Niemand kann nachweisen, daß der erotische von übelmeinenden Göttern ausgehe und den Menschen Schaden zufüge: So viele und noch mehr Leistungen kann ich nennen als Produkte eines Wahnsinns, der von den Göttern kommt. Daher sollten wir gegen die Sache selbst jedenfalls keine Bedenken haben, und keine Behauptung soll uns erschrecken, die mit denen die Alten einst Mantik und Vogelschau versehen haben, etymologisch erklären kann, sondern aus diesen Bezeichnungen auch gleich noch die unterschiedlichen Wertschätzungen herausliest, so soll der Leser schwerlich glauben, der Autor halte, was er seinen Sokrates sagen läßt, selbst auch für richtig.“ Dem möchte ich mich anschließen und ergänzen: Der Leser soll auch schwerlich glauben, Sokrates halte das, was Platon ihn sagen läßt, selbst für richtig. Platon läßt seinen Sokrates nicht einfach etwas behaupten, er läßt es ihn vielmehr so behaupten, daß auch die kritische Sicht des Sokrates auf das Behauptete deutlich wird. 476 Man vgl. etwa den schon oben zitierten Satz, der den Wert des betont: „Wer dagegen ohne den Wahnsinn der Musen an Pforten kommt der Poesie, überzeugt, er werde allein schon mit handwerklichen Fertigkeiten zum rechten Dichter werden, der bleibt selbst unvollkommen, und seine Dichtung, da das Werk nüchterner Besonnenheit, verschwindet vor der Poesie des Inspirierten.“ (Phdr. 245 a 5-8: !" #$ % &% ' ( )$ * !+ ( , +, -.)
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
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damit droht, daß der Vernünftige dem Leidenschaftlichen als Freund vorzuziehen sei; triumphieren soll sie vielmehr erst dann, wenn sie außerdem hat zeigen können, daß die Liebe von den Göttern nicht zu einem guten Zweck verhängt wird über den Verliebten und den Geliebten. Wir aber unsererseits haben das Gegenteil zu beweisen, daß nämlich ein Wahnsinn dieser Art als größtes Glück von den Göttern verliehen wird. Und unser Beweis wird sicherlich zwar unter den gelehrten Leuten keinen Glauben finden, wohl aber unter den Gebildeten.477
Dem erotischen , der in dem auf unsere Passage folgenden berühmten Gleichnis von der Seele als Wagengespann als der spezifisch philosophische ausgeführt wird, gesteht Sokrates nicht nur großen Wert, sondern auch eine ganz einzigartige Möglichkeit der Rechenschaftsgabe zu. Denn offenbar soll der erotische vor den Gefahren gefeit sein, denen sich die anderen Formen des ausgesetzt sehen: der Verwechslung mit dem krankhaften menschlichen und der Ungewißheit, ob der enthusiastische Zustand nun durch einen gut- oder durch einen übelmeinenden Gott hervorgerufen wurde. Wie aber vermag der erotische zu dieser anscheinend notwendigen Selbstaufgeklärtheit zu gelangen? Der Gefährdung, die allen anderen Formen des prinzipiell droht, kann er nur dadurch entgehen, daß er in signifikanter Weise nicht mit dem Verlust der Vernunft erkauft wird, sondern ganz im Gegenteil: daß er den Enthusiasten zu einer dem vernunftlosen Treiben von Bakchen und Mantikern entgegenstehenden Selbsterkenntnis führt.478 Im Rahmen des Gleichnisses von der Seele als Wagengespann begegnet uns die aus dem Ion bekannte Formulierung von den Bakchen, die aus Flüssen Milch und Honig schöpfen, wieder – allerdings in einer auf die philoso-
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477 Phdr. 245 b 1 – c 2:
478 Vgl. Marten 1975 b, S. 37 f.: „Drei ‚natürliche‘ Arten göttlicher Manie (musisch, apollinisch, dionysisch) erlauben dem Wahnsinnigen keine Klarheit, kein Wissen und dann Erinnerung des manisch Erfahrbaren. Darum ist die vierte, die erotische als die philosophische, die beste Art von Manie (265 b 5; vgl. 249 e 1). Inwiefern ist aber diejenige Manie, die über ihre Erfahrungen Rechenschaft ablegen kann, als beste auch die reinste? Insofern derjenige, der an ihr teilhat, in ihr und für sie wach bleiben kann und nicht außerhalb ihrer Vergessenheit zu finden und Aufklärung zu suchen hat. In der Manie des Philosophen ist kein Mißverhältnis zur Vernunft gegeben. Seine ‚reine‘ Manie wird durch die Besonnenheit (...) und Erinnerungskraft (...), die ihr eigen ist, nicht verunreinigt.“
224
2. Die Theorie der Interpretation
phischen Enthusiasten maßgeschneiderten und damit entscheidend geänderten Version: Der Versuch aber, mit eigenen Mitteln die Natur ihres Gottes herauszufinden, wird ihnen (sc. den Seelen, die dem Zeus zugehören und von Natur aus philosophisch und zum Herrschen geeignet sind) dadurch erleichtert, daß sie gezwungen sind, intensiv den Blick auf ihren Gott zu heften, und während sie ihn in der Erinnerung erreichen, werden sie von ihm erfüllt und übernehmen von ihm Charakter und Lebensweise, so weit es dem Menschen möglich ist, an einem Gott Anteil zu gewinnen. Und da sie nun die Ursache in ihrem Geliebten sehen, lieben sie ihn noch mehr; und sofern sie die Wasser ihrer Begeisterung aus Zeus schöpfen, füllen sie sie, nach Art der Bakchen, um in die Seele des Geliebten und machen ihn dadurch ihrem Gott so ähnlich wie möglich.479
Während im Ion die Bakchen ihren verlieren müssen und nur aus Flüssen Milch und Honig schöpfen, so daß im Grunde von einer Handlung des Gottes mit Hilfe der Bakchen und nicht von einer eigenen Handlung der Bakchen zu sprechen ist, kommen den im Phaidros angesprochenen philosophischen Enthusiasten gleich zwei eigene Tätigkeiten zu: (1) Sie streben nach Gotteserkenntnis, um damit auch zur Selbsterkenntnis zu gelangen und dem Gott so ähnlich wie menschenmöglich zu werden. (2) Sie wirken auf den Geliebten ein, um auch ihn dem Gott so ähnlich wie menschenmöglich zu machen.480 Wer sich im Zustand der erotischen und damit der philosophischen befindet, sieht sich zwar mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei . Daß dieser ganz spezielle, daß dieser philosophische Enthusiast aber wirklich ist, behauptet Sokrates nicht: Das also ist es, worauf unsere ganze Erörterung der vierten (sc. der erotischen resp. philosophischen) Art des Wahnsinns hinausläuft, die, wenn jemand, durch den Anblick der Schönheit hier auf Erden an die wahre erinnert, dadurch Flügel erhält und beschwingt den Wunsch hat, emporzufliegen, es aber nicht kann und nun, wie ein Vogel mit dem Blick nach oben, ohne sich um die Dinge unten zu kümmern, sich den Vorwurf zuzieht, er sei nicht bei Sinnen – daß also von allen 479 Phdr. 252 e 7 – 253 b 1:
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480 Vgl. Phdr. 252 e 1-5: 8 (> ? 6 2 @ A. 9 B B ' 0(3 ?
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2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
225
Verzückungen diese als die beste sich erweist und aus bestem Anlaß sowohl für den, der sie in sich hat, als auch für den, der nur an ihr teilhat, und daß, wer das Schöne begehrt, wenn er von diesem Wahnsinn erfaßt, Liebender genannt wird.481
Die philosophische als die beste Form des zeichnet sich gegenüber allen anderen Formen dezidiert dadurch aus, daß der Enthusiast seinen Verstand genau nicht verliert, sondern ihn in seinen höchsten Möglichkeiten zur Anwendung bringt.482 Der Vorwurf, konventionelle Enthusiasten wie Mantiker seien , wird vom Philosophen erhoben. Der Vorwurf, philosophische Enthusiasten seien , wird dagegen nicht vom Philosophen, sondern gerade von den Gegnern der Philosophie erhoben.483 Die Rede des Sokrates von den vier Formen des göttlichen suggeriert, der ließe sich dergestalt nach Gattung-Art-Verhältnissen gliedern, daß zunächst der menschlich-krankhafte vom göttlichen unterschieden werden muß, ehe dieser weiter in die vier Arten Mantik, Telestik, Poietik und Erotik (Philosophie) zu differenzieren ist:484
menschlicher
göttlicher Mantik
Telestik
Poietik
Erotik
Doch dieses Einteilungsschema entdeckt sich bei genauerem Hinsehen als außerordentlich problematisch: Haftet allen konventionellen Enthusiasten – und
481 Phdr. 249 d 4 – e 4:
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spricht nicht eine göttliche Stimme durch die menschliche Rede hindurch wie durch ein fremdes Organ, sondern der Logos selbst ist es, in dem das Göttliche begegnet (...)“ 483 Man kann hier durchaus an das sog. Höhlengleichnis in der Politeia (VII 514 a - 518 b) und an die Gefährdung dessen denken, der wissend in die Höhle zurückkehrt (vgl. insbes. 517 a). 484 Diese den Ausführungen des Sokrates sicherlich zunächst entsprechende, bei genauerem Hinsehen aber in Schwierigkeiten führende Einteilung präsentiert Fleischer 1976, S. 104 (vgl auch S. 120).
226
2. Die Theorie der Interpretation
zwar als Enthusiasten – das Stigma des an, den philosophischen Enthusiasten aber nicht, dann läßt sich kein gemeinsames Gattungsmerkmal angeben, was allen vier angeführten Arten des göttlichen in gleicher Weise zukäme. Genau besehen ist die Ekstase des Philosophen grundverschieden von der Ekstase des apollinischen Mantikers, des dionysischen Telestikers und des musischen Poietikers: Ist der Philosoph „außer sich“, so ist er im Grunde erst „ganz bei sich“: bei seinem Verstand, bei seiner Denkseele, die das Eigentliche der Seele ausmacht, welche wiederum den eigentlichen Menschen auszeichnet.485 Verliert der konventionelle Enthusiast im Zustand des sein eigenes Menschsein, um ganz zum göttlichen zu geraten, so verwirklicht der philosophische Enthusiast im Zustand des eben die Möglichkeiten, die ihn nach Platon als Menschen auszeichnen. Kritisch besehen sind Mantik, Telestik, Poietik und Erotik also keineswegs verschiedene Arten der Gattung , entsprechend entfällt die Berechtigung, den philosophischen als eine Art des göttlichen neben anderen zu verstehen. Ein anderes Schema legt sich daher nahe, das sich zunächst an der als Kriterium fungierenden Frage orientiert, ob der zu dem Verlust der Vernunft führt oder nicht. Erst dann wäre auf der Seite des vernunftberaubten mit Blick auf die Ursache des Raubs genauer in göttliche und menschliche Arten zu untergliedern, während auf der Seite des nicht-vernunftberaubten einzig die erotische, die philosophische anzusiedeln wäre:
vernunftberaubt menschlich Krankheit
nicht vernunftberaubt
göttlich Mantik
Telestik
Poietik
Erotik (Philosophie)
Es bleibt allerdings fraglich, ob es dann überhaupt noch sinnvoll ist, den vernunftberaubten und den philosophischen in gleicher Weise als zu verstehen. Die Philosophie, wie sie hier in einzigartiger Weise als bestimmt wird, unterscheidet sich hinsichtlich des so grundlegend von allen konventionellen (göttlichen und menschlichen) Formen des , daß man eher geneigt ist, sie als das ganz
485 Vgl. Szlezák 1997, S. 221 f.
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
227
Andere des zu verstehen. Doch Sokrates’ emphatische Wendung, gerade die Philosophie mache die edelste, die eigentliche Form des aus, degradiert die konventionellen Formen zu Fehlformen. Der eigentliche ist die Philosophie,486 die anderen Formen des sind eigentlich keine Formen des . Lapidar formuliert: Sokrates’ mit den Mitteln der Polemik, der Emphase und der Vereinnahmung operierende Argumentationsweise raubt dem Gegner sogar den Namen.487 Der ist nicht mehr der Gegner der zur Rechenschaftsgabe befähigten Philosophie, weil der – recht (d. h. emphatisch) verstanden – gar nichts anderes als die Philosophie selbst ist. Die konventionellen Formen des sind nicht nur nicht Philosophie, sie sind „eigentlich“ auch gar nicht .488 486 Daß die Philosophie eine Form des ist oder im gründet, ist keine Behauptung, die eine Spezialität der platonischen Philosophie darstellt; sie wird vielmehr auch im 20. Jahrhundert – und in diesem Fall sogar ohne jede Spur von Ironie – vertreten: „(...) die Möglichkeit des Menschen zu philosophieren gründet im Enthusiasmus. Philosophieren ist eine Weise enthusiastischer Existenz. Jede wahrhafte Auslegung des Philosophseins bewegt sich notwendig in der Optik des Enthusiasmus: die extreme Möglichkeit des Menschen, die sich im Philosophieren realisiert, kann nur verstanden werden im Lichte der unüberbietbar äußersten Daseinsweise.“ (Fink 1947, S. 15) Interessant scheint mir hier die Wendung, daß nun nicht – wie bei Sokrates – jeder „wahre“ philosophisch ist, sondern daß jetzt jede „wahre“ Philosophie enthusiastisch ist. 487 Eine ähnliche Vereinnahmung läßt sich im übrigen bei dem Begriff der Musenkunst beobachten. Vgl. Barmeyer 1968, S. 148: „Die Muse, vielmehr ‚die wahre Muse‘ (vgl. ) – die zwar ihren Ursprung nicht verleugnet, aber in den Augen des kritischen Philosophen eine neue Bedeutung annimmt – ‚hat es mit Reden (also der Sprache) und der Philosophie zu tun ( )‘. (Politeia 548 b – c)“ und Dalfen 1974, S. 294: „Platon deutet in der Auseinandersetzung mit der Musenkunst der Dichter den Begriff musiké neu und erklärt den Philosophen zum eigentlichen musikós, die Philosophie zur neuen Musenkunst. Die Dichter und ihre Musen werden dabei, um sie von den Philosophen zu unterscheiden und ihre Inferiorität zu betonen, mit abwertenden Beiwörtern belegt.“ Dalfen 1974, S. 300: „Die Übertragung des Namens Dichter auf den Philosophen ist vorbereitet durch die früh einsetzende Bezeichnung der Philosophie als wahre Musenkunst. Im Spätwerk Platons tritt der Philosoph immer mehr als der Dichter hervor, der den Dichter alter Prägung ablöst. Auch dieser neue Dichter hat sein Publikum, sein theatron, aber dies ist nicht mehr die Menge, die sich unterhalten oder rühren lassen will, sondern ein Kreis nach Erkenntnis strebender Menschen.“ Zur Philosophie als der „wahren“ Dichtung, die der konventionellen Dichtung diametral gegenübersteht vgl. auch Rep. VI 500 d 10 – e 4 und Legg. VII 817 a 2 – e 3 sowie Kuhn 1941. 488 Sokrates’ Ausführungen über den sind nach meinem Dafürhalten also durchaus konsistent. Vgl. dagegen Barmeyer 1968, S. 170 f.: „Wenn er (sc. Platon) schließlich auch den philosophischen Akt von den Musen, die ihre ursprüngliche Rolle als Göttinnen des dichterischen Enthusiasmus nie ganz verleugnen können, beeinflußt
228
2. Die Theorie der Interpretation
Sokrates präsentiert im Phaidros die Ausführung über den nicht nur, er reflektiert im Rahmen seines kurzen Resümees auch über den Charakter dieser Ausführung: (...) und indem wir – ich weiß nicht wie – von der erotischen Leidenschaft ein Bild entworfen und dabei vielleicht etwas Richtiges getroffen, vielleicht uns aber auch vergaloppiert haben, haben wir eine nicht völlig unglaubwürdige Rede gemischt und so auf spielerische Weise eine Art mythischen Hymnos in angemessener und feierlicher Sprache vorgetragen auf deinen und meinen Gebieter, auf Eros, den Hüter schöner Knaben.489
Sokrates beansprucht dezidiert kein Wissen über den . Wenn Sokrates sagt, er habe von der erotischen nur ein Bild, ein Modell entworfen ( ), von dem er nicht weiß, ob es wirklich das Wahre trifft, dann erhebt er dezidiert keinen Anspruch auf Wissen, sondern nur auf eine nicht ganz unplausible . Zudem macht Sokrates durch seine Worte deutlich, daß er um den Charakter seiner weiß, daß er seine nicht selbst als mißversteht. Sokrates nimmt während der Ausführungen über den Zuflucht zu mythischer Redeweise.490 Er kann nicht sieht, so zeigt er damit ebenfalls den einen Pol seiner ambivalenten Einstellung. (...) Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des musischen Enthusiasmus scheint auch Platon noch einen Offenbarungsanspruch der musischen Dichtung gelten zu lassen.“ – Distanzieren möchte ich mich auch von der Deutung Margot Fleischers, die zwar von der Philosophie als dem besonnenen Wahnsinn spricht, dabei aber nicht an die klare Dominanz der Vernunft, sondern an eine Art Synthese von Wahnsinn und Besonnenheit denkt. Vgl. Fleischer 1976, S. 135 f.: „Sie (sc. Philosophie) ist besonnener Wahnsinn in einem engeren Sinne überall dort, wo sie (wie in Mythos und Gleichnis) enthusiastisch denkt und sich doch darin ein Moment der Besonnenheit bewahrt (...) Und sie ist besonnener Wahnsinn in einem weiteren Sinne, wann immer sie ‚besonnene‘ Denkvollzüge (Dihairesis, Beweis) mit mehr oder weniger ‚wahnsinnigen‘ in der Einheit eines Gedankenganges vereinigen und durchdringen.“ 489 Phdr. 265 b 6 – c 3:
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490 Die mythische Redeweise betrifft natürlich vorrangig das Gleichnis von der Seele als Pferdewagen (vgl. Phdr. 246 a-256 e), sekundär aber auch die übrigen Überlegungen zum (", die von diesem Gleichnis ja nicht unabhängig sind. – In diesem Zusammenhang erscheint die mythische Redeweise nicht als Konkurrent und Gegner philosophischer Argumentationsführung, sondern als ein Mittel, das der Philosoph gezielt und überlegt einsetzen kann und – klugerweise – auch einsetzen soll: Dringt das philosophische Gespräch nämlich in Bereiche vor, in denen eine streng diskursive Beweisführung schwierig oder gar unmöglich wird, die Überlegungen aber wegen der Bedeutsamkeit des Themas trotzdem weitergeführt werden sollen, dann wird eine Darstellungsform erforderlich, die der prinzipiellen Unsicherheit des Ausgesagten ebenso
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
229
argumentativ begründen, daß seine Ausführungen über den wahr sind, und er weiß, daß er dies nicht begründen kann, daß gleichzeitig aber einiges dafür spricht, diese Ausführungen für nicht ganz falsch zu halten. Mit anderen Worten: Sokrates hat Gründe für die vorgeführte Position, aber diese Gründe sind nicht so stark, daß sie die vorgeführte Position zum Ausdruck einer machen könnten. Was Sokrates über den aussagt, ist zwar kein , der sich einer verdankt, aber auch kein . Durch Sokrates’ Charakterisierung der eigenen Rede als sieht man sich erinnert an seine Bemerkung über den Wagnischarakter mythischer Rede im Phaidon: Sokrates will sich nicht dafür stark machen, daß es sich mit der Seele und der Unterwelt genau so verhält, wie er eben im Mythos ausgeführt hat, da es sich für einen vernünftigen Mann ( ) nicht zieme, so etwas zu behaupten. Daß es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unsern Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis ( ), und man muß mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung.491
2.3.9 Abschließende Bemerkung zur enthusiastischen Dichterauslegung Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die enthusiastische Dichterauslegung durch dasselbe Stigma gekennzeichnet ist wie die sophistische: durch die Unfähigkeit nämlich, die eigenen Aussagen argumentativ zu rechtfertigen. Unterschiedlich sind jedoch die jeweiligen Gründe für diese Unfähigkeit: Während im Rahmen der sophistischen Dichterauslegung die eine des Dichters ganz hinter die vielen des sophistischen Interpreten zurücktritt, fehlt dem vernunftberaubten Enthusiasten jede eigene . Nach Maßgabe des Rechnung trägt wie der Not, diese Aussagen zu treffen. Die Philosophie bringt hier die Dichtung als eigenes Medium hervor, ohne daß ein „Raub der Vernunft“ zu verzeichnen wäre. Zwar ist der mythischen Redeweise das Vermögen zum versagt, doch immerhin weiß der Philosoph, wenn er sich dieser Redeweise bedient, daß es ihr versagt ist. 491 Phd. 114 d 1-8:
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230
2. Die Theorie der Interpretation
von Sokrates proklamierten Idealbegriffs der Dichterauslegung muß der Interpret in der Lage sein, die des Dichters interpretativ zu erarbeiten und seine Interpretation im kritischen zu vermitteln und zu begründen. Der Sophist scheitert an dieser Forderung, weil er sich in seinem eigenen Denken gar nicht erst um die des Dichters bemüht. Dem Sophisten geht es ja im Grunde nur darum, den eigenen durch die – entweder selbst positiv in Anspruch genommene oder aber siegreich bekämpfte – Autorität des Dichters zusätzliches Gewicht zu verleihen. Dagegen scheitert der Enthusiast an dieser Forderung, weil die , die aus seinem Munde zu vernehmen sind, eben nicht seine eigenen , sondern die des Gottes ausdrücken. Der Enthusiast kann seine eigene Interpretation also deswegen nicht rechtfertigen, weil er keine eigene Interpretation hat. Versteht man unter „Interpretation“ wie Sokrates eine Denkarbeit, die der des auszulegenden Dichters nachgeht, dann ist allerdings streng genommen auch dem Sophisten der Besitz einer Interpretation abzusprechen. Doch verfügt der Sophist im Gegensatz zum Enthusiasten, dem des Gottes, immerhin noch über eigene , mögen diese auch den Anspruch, Interpretation zu sein, zu Unrecht erheben. Verkürzt kann man also sagen: Der Enthusiast hat keine eigenen , der Sophist hat nur eigene . Von der argumentativ auszuweisenden des Dichters aber sind beide weit entfernt. Von dem „konventionellen“ Enthusiasten, der – nach Sokrates – seine Vernunft und damit die Möglichkeit zum notwendig verlieren muß, ist – wie die Auslegung des Phaidros soeben gezeigt hat – der spezifisch philosophische zu unterscheiden, der sich durch die Fähigkeit auszeichnet, eigene Behauptungen auch begründen zu können. Damit ist der philosophische nach Konzeption der vorliegenden Arbeit nicht mehr dem interpretationstheoretischen Gegenbild einer enthusiastischen Dichterauslegung, sondern vielmehr dem philosophischen Idealentwurf der Interpretation zuzurechnen. Der Kreis der interpretationstheoretischen Überlegungen hat sich geschlossen, das Gegenbild der enthusiastischen Dichterauslegung hat uns wieder zurückgeführt zu Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation. Diesen Idealbegriff hat Sokrates, wie wir oben gesehen haben, an so strenge Kriterien gebunden hat, daß eine philosophisch verantwortbare Interpretation in praxi prinzipiell ausgeschlossen werden muß. Wenn wir uns nun – nach der Untersuchung der interpretationstheoretischen Ausführungen der platonischen Dialogfiguren – der in den Dialogen literarisch gestalteten Interpretationspraxis zuwenden, dann stellt sich daher auch die Frage nach dem problematischen Verhältnis zwischen der Interpretationstheorie und der Interpretati-
2.3 Das zweite Gegenbild: Der enthusiastische Rhapsode
231
onspraxis: Was motiviert Sokrates, trotz seines Verdikts über die Dichterauslegung Dichter auszulegen? Oder auf den Autor Platon gewendet: Warum läßt Platon seinen Sokrates auf der einen Seite interpretationstheoretische Überlegungen anstellen, die jede mögliche Dichterauslegung in praxi als philosophisch nicht zu verantwortendes Gerede diskreditieren, wenn er ihn doch auf der anderen Seite selbst Dichterauslegung praktizieren läßt?
3. Die Praxis der Interpretation 3.1
Die Simonides-Auslegung im Protagoras
Die umfangreichste und auch der Sache nach aussagekräftigste Dichterauslegung läßt Platon seine Dialogfiguren im Protagoras vorführen, in dem Sokrates und mehrere bedeutende Sophisten ein Skolion des Dichters Simonides gleichsam um die Wette interpretieren. Der Dichterauslegung voran geht eine kurze Debatte um die richtige Art der Gesprächsführung. Dies ist bezeichnend für den Zusammenhang, in dem die von Platon in den Dialogen inszenierte Dichterauslegung grundsätzlich zu betrachten ist: Die Dichterauslegung, wie sie von den Dialogfiguren im Gespräch praktiziert wird, ist eine mögliche Form der Gesprächs- und Argumentationsführung neben anderen.
3.1.1 Der gesprächstheoretische Kontext: Die - -Debatte Platon hat den Protagoras in einer aus dramatischen und narrativen Elementen gemischten Dialogkomposition verfaßt. In einem dramatisch dargestellten Rahmengespräch erzählt Sokrates einem Freund von der Unterredung, die er mit Protagoras im Haus des Kallias geführt hat. Dem Leser wird dieses Gespräch also im Stile eines Redeberichts aus der Perspektive des Erzählers Sokrates geboten, der es nicht versäumt, seine sophistischen Gesprächspartner, insbesondere Protagoras, Prodikos und Hippias, sowie die besondere Atmosphäre im Haus des Sophistenmäzens Kallias in einer oft ironisch gebrochenen Weise zu charakterisieren. Nach einer längeren Ausführung des Protagoras über „den schillernden und vielgestaltigen Charakter des Guten“, so berichtet Sokrates, haben die anderen Gesprächsteilnehmer geklatscht und laut Beifall gegeben.1 Allein Sokrates übt Kritik an Protagoras’ Gesprächsund Argumentationsführung. In diesem gesprächstheoretischen Intermezzo kommt der im bisherigen Gespräch latent gebliebene „Konflikt zwischen den 1 Vgl. Prot. 334 c 7 f.
234
3. Die Praxis der Interpretation
Argumentations- und Untersuchungsmethoden“2 an die Oberfläche und wird thematisch. Sokrates kritisiert die Länge von Protagoras’ Darlegung und verweist ironisch3 auf seine eigene Vergeßlichkeit: Mein Protagoras, ich bin nun einmal ein ganz vergeßlicher Mensch, und wenn mir jemand zu lange redet, vergesse ich, wovon gerade die Rede ist; (...) da du ja an einen Vergeßlichen geraten bist, beschneide für mich die Antworten und mach sie kürzer, wenn ich dir folgen soll.4
Hinter Sokrates’ Kritik an Protagoras’ Gesprächsstil steht die These, daß sich die richtige Länge eines an der Aufnahmefähigkeit desjenigen bemißt, zu dem gesprochen wird. Kurz: Ein hat genau dann die richtige Länge, wenn er dem Rezipienten gegenüber angemessen ist. Protagoras aber, so lautet Sokrates’ Vorwurf, spreche auf eine Weise, die ihm als einem zur Vergeßlichkeit neigenden Hörer inadäquat sei. Allerdings weiß sich Protagoras – übrigens gerade unter Verwendung der von Sokrates bevorzugten „kurzschrittigen“ Frage-und-Antwort-Technik – geschickt zu verteidigen. Zunächst stellt er Sokrates die Frage, ob er etwa kürzer antworten solle, als erforderlich sei. Sokrates verneint. Also dann wohl so viel, wie erforderlich sei? Diese Frage bejaht Sokrates, um sofort mit einer weiteren konfrontiert zu werden, die ihn nur in größte Schwierigkeiten führen kann: „Soll ich also so viel, wie mir erforderlich zu sein scheint, antworten oder so wie Dir?“5 Sokrates sitzt in der Falle: Wählt er die erste Alternative, dann hat Protagoras das Recht, so lange zu sprechen, wie es ihm, Protagoras, selbst angemessen zu sein scheint. Wählt Sokrates dagegen die zweite Alternative, so muß er, der sich doch so gerne als „Nicht-Wissender“ gibt, die Frage beantworten, warum denn ausgerechnet sein Urteil über die Angemessenheit einer Rede entscheidend sein soll. Hinter den Fragen, mit denen Protagoras seinen Kontrahenten in die Enge zu treiben versucht, steht die These, daß sich die richtige Länge eines allein an ihrem Sachbezug zu orientieren hat. 2 Krautz 1987, S. 191. 3 Daß Sokrates hier ironisch spricht, da er keineswegs ein vergeßlicher Mensch ist, macht Alkibiades wenig später im Gespräch deutlich: „Denn Sokrates wenigstens – dafür bürge ich – wird es (sc. worauf sich die Fragen der Diskussion beziehen) nicht vergessen, wenn er auch scherzt und behauptet, vergeßlich zu sein.“ (Prot. 336 d 2-4: ! ") 4 Prot. 334 c 8 – d 1: #$ % & ' ( ) ' ' * + , - . / 0 & '" 23 23 4 5 4 6 7 (Die deutschen Zitate aus dem Protagoras sind der Über-
5 Prot. 334 e 2 f.: %& 1
setzung von Hans-Wolfgang Krautz (in Krautz 1987) entnommen.)
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
235
Kurz: Ein hat genau dann die richtige Länge, wenn er dem zu besprechenden Sachverhalt angemessen ist.6 Sowohl Sokrates als auch Protagoras machen also von dem Gedanken der Angemessenheit, des , Gebrauch. Doch während Sokrates die Adressaten- bzw. Rezipientenangemessenheit von im Blick hat, spielt Protagoras gegen die Rezipienten- die Sachangemessenheit von Rede aus. Das Wissen um einen Sachverhalt und um die richtige Länge eines über diesen Sachverhalt kann sich Protagoras – im Gegensatz zu dem „nicht-wissenden Sokrates“ – selbst zuschreiben, ohne deshalb mit dem Selbstverständnis des Sophisten als Weisheitslehrer in Konflikt zu kommen. Sokrates ist also gut beraten, die Frage des Protagoras, ob er auf Fragen so lange antworten soll, wie es Sokrates für erforderlich halte, oder aber so lange, wie es ihm selbst erforderlich scheine, gar nicht zu beantworten, sondern von neuem anzusetzen und – psychologisch geschickt – den Stolz des Kontrahenten zu reizen: Protagoras gelte doch nicht nur als Großmeister der Langredeform, der , sondern ebenso sehr als Großmeister der Kurzredeform, der . Da Protagoras beide Gesprächsformen, er selbst aber nur die beherrsche, solle sich Protagoras im aktuellen Gespräch doch bitte der Kurzredeform bedienen.7 Die nun folgende Entgegnung des Sophisten auf Sokrates’ erneut den Gedanken der Adressatenangemessenheit artikulierende Bitte ist überraschend ehrlich. So ehrlich, daß fast der Verdacht aufkommen könnte, der Erzähler Sokrates berichte hier nicht das, was Protagoras gesagt, sondern was er – nach Annahme des Sokrates – wohl gedacht hat: Sokrates, sagte er, ich habe mich schon mit vielen Menschen auf einen Redewettkampf eingelassen, und wenn ich dabei das täte, wozu du mich aufforderst, daß ich so diskutierte, wie mein Gegenredner mich aufforderte zu diskutieren, sähe ich nicht besser aus als irgend jemand, und Protagoras hätte keinen Namen unter den Griechen.8 6 In diesem Punkt ist sich Protagoras übrigens mit seinem Sophisten-Kollegen Gorgias einig, der in dem nach ihm benannten Dialog die Auffassung vertritt, daß sich manche Fragen ausschließlich mit langen Reden sachadäquat beantworten lassen (vgl. Gorg. 449 b 9 – c 3). Von Sokrates jedoch genötigt, so kurz wie irgend möglich zu sprechen, antwortet Gorgias auf dessen Fragen nur noch mit einem knappen „ja“, was Sokrates wiederum ironisch quittiert, da eine solche Kürze ja weder dem Gesprächsgegenstand noch dem Gesprächspartner gegenüber angemessen sein kann (vgl. Gorg. 449 c 4 – d 7). Gorgias’ „Antworten sind zu kurz, wie die des Polos zuvor zu lang gewesen waren. Sie bieten Sokrates keinen Angriffspunkt.“ (Stetter 1997, S. 149) 7 Vgl. Prot. 334 e 4 – 335 a 3. 8 Prot. 335 a 4-8: ! " # $% & '( ) * + , , %,
236
3. Die Praxis der Interpretation
Protagoras, wie ihn Sokrates wiedergibt oder besser: wie ihn Platon durch den erzählenden Sokrates darstellen läßt, sieht das Gespräch offensichtlich nicht als eine gemeinsame Bemühung, mehr Klarheit über ein bestimmtes Thema, hier: die Lehrbarkeit und Einheit der , zu gewinnen, sondern als einen Agon, den es mit den hierzu am besten geeigneten Strategien zu gewinnen gilt. Dabei scheint die dem Sophisten verständlicherweise kein geeignetes Mittel, um sich gegen Sokrates, den wahren Meister des Rechenschaft fordernden Frage-und-Antwort-Gesprächs, durchzusetzen. Protagoras liegt mit der Beschreibung des aktuellen Gesprächs als Agon durchaus richtig. Die gleiche Struktur findet sich bei dem gesprächstheoretischen Zwischenspiel: Auch hier messen die Kontrahenten ihre Kräfte, um festzulegen, wie im weiteren thematischen Verlauf des Gesprächs das Kräftemessen genauer auszusehen hat. Nach der Ablehnung seiner Bitte droht Sokrates recht unverhohlen mit dem Gesprächsabbruch, nicht ohne Protagoras die Schuld an dem Scheitern des Gesprächs zuzuschreiben: Aber wirklich, sagte ich, Protagoras, ich bin keineswegs darauf erpicht, daß das Gespräch zwischen uns gegen deine Überzeugungen verläuft, sondern nur dann, wenn du so diskutieren willst, wie ich folgen kann, werde ich mit dir diskutieren. Denn du, wie man von dir sagt – du behauptest es ja sogar selbst –, bist sowohl in der Langredeform als auch in der Kurzredeform fähig, Gespräche zu führen, du bist ja intelligent –, ich aber bin zu solchen langen Reden unfähig, obwohl ich lieber dazu fähig sein wollte. Aber du hättest uns nachgeben müssen, der du beides kannst, damit das Gespräch zustande käme. Jetzt aber, da du nicht bereit bist und ich Eile habe und vielleicht nicht mehr in der Lage bin, noch bei dir zu bleiben, wenn du Reden in die Länge ziehst – denn ich muß woandershin gehen –, werde ich gehen; obgleich ich sogar sie vielleicht nicht ungern von dir hörte. Und indem ich dies sprach, erhob ich mich, als ob ich wegginge.9
Die in den spezifischen Mitteilungsmöglichkeiten liegenden Vorteile der „gemischten“ Dialogkomposition, die hier Sokrates die Doppelrolle von Ge !"# 9 Prot. 335 b 3 – c 8: $%& ' ( ) *+ ', *- . /0 1 2 3 * - 4 56 7 + 5 8* 9# 4 : & 7 *. 0
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3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
237
sprächsteilnehmer und Erzähler zuteilt, werden deutlich: Als Teilnehmer des erzählten Gesprächs droht Sokrates mit dem Gesprächsabbruch, als Erzähler aber läßt Sokrates in seiner Schilderung der Gesprächssituation durchblicken, daß diese Drohung rein taktischer Natur war.10 Sokrates möchte das Gespräch nicht wirklich abbrechen, die Chance, den Obersophisten Protagoras öffentlich bloßzustellen, kann und will er sich nicht entgehen lassen.11 Deshalb hat er auch keine Scheu, die Drohung des Gesprächsabbruchs als gezieltes Mittel einzusetzen, um das Gespräch auf genau die Weise fortführen zu können, die ihm den Erfolg verspricht. Das Mittel ist klug gewählt, Sokrates hat die Situation richtig eingeschätzt: Kaum erhebt sich Sokrates, faßt der Gastgeber Kallias seine Hand, um ihn ja nicht gehen zu lassen,12 und auch die anderen Anwesenden intervenieren, um die Fortsetzung des Gesprächs zu erreichen. In der Sache steht der Sophistenfreund Kallias allerdings auf Seiten des Protagoras, dem doch freistehen müsse, so zu diskutieren, wie er möchte.13 Dagegen gibt sich der junge Alkibiades in seinem den agonalen und öffentlichen Charakter des Gesprächs hervorhebenden Plädoyer14 deutlich als 10 Vgl. auch Prot. 335 d 6: „Und ich sprach – ich hatte mich aber bereits erhoben, als ob ich (...)“) hinausginge –: (...)“ („ 11 Auch Sokrates’ Gesprächsführung trägt – gerade bei Unterredungen mit Sophisten – agonale Züge. Nicht nur Protagoras will Sokrates, auch Sokrates will Protagoras im Gespräch niederringen. Dabei macht Sokrates selbst, wie ihm Protagoras an einer Stelle (Prot. 350 c 6 – d 2) sofort nachweisen kann, von Fangschlüssen Gebrauch. Gibt sich Sokrates im Gespräch mitunter auch recht unfair, so bleibt gleichwohl ein starkes Sachinteresse jederzeit spürbar. Auch wenn Sokrates mit unsauberen Mitteln operiert, gewinnt der Leser dank Platons geschickter Dialogregie nicht den Eindruck, Sokrates praktiziere ein von jedem Sachinteresse losgelöstes, rein auf den eigenen Sieg ausgerichtetes Streitgesprächsverhalten, wie es uns etwa im Euthydemos durch Euthydemos und Dionysodoros vorgeführt wird. Daß Platon die literarische Gattung des Dialogs nutzt, um durch die kontrastierende Gestaltung performativer Formen gerade die Verschiedenheit dialektischer und eristischer Gesprächsführung hervorzuheben, hat Michael Erler aufgezeigt: „Ein Grund, den ‚Euthydemos‘ zu verfassen, ist sicher in seinem (sc. Platons) Bestreben zu sehen, einer offenbar ungläubigen Öffentlichkeit den Unterschied zwischen der Eristik und der in der Akademie praktizierten Dialektik zu verdeutlichen.“ (Erler 1986, S. 73) Grundsätzlich ist zu sagen, daß Platon seinen Sokrates ein Gesprächsverhalten an den Tag legen läßt, das sich zwar einerseits nicht streng an die eigenen gesprächstheoretischen Vorgaben hält, sondern durchaus auch eristische Argumentationen einzusetzen versteht, das aber andererseits auch den ernsten Zweck verfolgt, im Gespräch über die nicht immer fair verlaufende Auseinandersetzung mit dem Gesprächspartner zur Klärung von Sachproblemen wie von methodischen und kommunikativen Problemen beizutragen. 12 Das bei Platon prominente Motiv des Festhaltens bzw. „Nichtloslassens“ des Philosophen kann – wie Szlezák demonstriert hat – sogar als basale Argumentationsstrukturen aufdeckende Leitlinie einer Politeia-Auslegung verwendet werden (vgl. Szlezák 1985, S. 271-326). 13 Vgl. Prot. 336 b 4-6. 14 Vgl. Prot. 336 b 7 – d 5.
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3. Die Praxis der Interpretation
Anhänger des Sokrates zu erkennen: Zwar lasse Sokrates dem Protagoras den Vorrang in Sachen . Zum Diskutieren aber fähig zu sein und sich darauf zu verstehen, Rechenschaft zu geben und zu verlangen, da sollte es mich wundern, wenn er irgendeinem Menschen den Vorrang läßt.15
Auch Alkibiades reizt den Stolz des Sophisten: Protagoras solle doch offen zugeben, daß er dem Sokrates zwar in Sachen über-, in Sachen aber unterlegen sei. Wenn er es aber bestreitet (sc. dem Sokrates in Sachen unterlegen zu sein), so soll er diskutieren, indem er fragt und antwortet, aber nicht so, daß er auf jede Frage eine lange Rede dehnt, die Antworten hintertreibt und nicht bereit ist, Rechenschaft zu geben, sondern es in die Länge zieht, bis die Mehrzahl der Zuhörer vergessen hat, worauf sich die Frage bezog.16
Alkibiades ist sich sehr wohl bewußt, daß der Sophist auf keinem einzigen Gebiet seine Unterlegenheit eingestehen möchte, zudem wird bemerkbar, daß Protagoras damit im Grunde die gesamte Auseinandersetzung verloren geben müßte. Denn Alkibiades etabliert – nicht ohne Geschick – eine Wertung zwischen und , indem er einfließen läßt, daß nur Unterredner, die im Stil der Kurzredeform verfahren, überhaupt erst die Möglichkeit zu einer argumentativen Rechenschaftsforderung und Rechenschaftsgabe, zum und zum bzw. gewinnen. Lang und ausufernd zu sprechen, ist keine große Leistung. Worauf es ankommt, ist vielmehr, im Gespräch Begründungen einzufordern und selbst begründet zu sprechen. Der Spezialist für diesen Stil einer argumentativen Gesprächsführung ist in den Augen des Alkibiades kein anderer als Sokrates. Nach den klaren Parteinahmen von Kallias und Alkibiades schaltet sich kurz Kritias ein und ermahnt alle Anwesenden zur Mäßigung und zur Neutralität.17 Dies nimmt nun wiederum der Sophist Prodikos zum Anlaß, um eine Kostprobe seiner eigenen Synonymik zu liefern,18 die auch im Rahmen der gleich folgenden Simonides-Auslegung eine wichtige Rolle spielen 15 Prot. 336 b 9 – c 2:
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16 Prot. 336 c 4 – d 2: ( " & ) $ $ * " )
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17 Vgl. Prot. 336 d 7 – e 4. 18 Vgl. Prot. 337 a 1 – c 6.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
239
wird. Durch die von Prodikos eingebrachten diffizilen Begriffsunterscheidungen wird der herrschende Konflikt zwischen den gesprächstheoretischen Gegenpositionen zwar keineswegs bereinigt, doch immerhin verbessert sich aufgrund von Prodikos’ Intervention mit ihren willkürlich erscheinenden und erheiternd wirkenden Begriffsdifferenzierungen die Gesprächsatmosphäre. Nachdem Prodikos seine Kunst zur Schau stellen konnte, will auch Hippias nicht zurückstehen: Ehe er die Wahl eines Schiedsrichters vorschlägt, der als Aufseher und Wärter auf die angemessene Länge aller Redebeiträge zu achten habe, präsentiert er noch rasch seinen eigenen Beitrag zur -Debatte.19 Sokrates lehnt den Vorschlag des Hippias, der wohl selbst eine gewisse Hoffnung auf das Amt des Schiedsrichters hegt, trotz des Beifalls aller Umstehenden entschieden ab, und zwar mit Hilfe der folgenden Argumentation: Unehrenhaft ist es, einen Schiedsrichter für die Erörterungen im Gespräch zu wählen. (a) Entweder nämlich ist der gewählte Schiedsrichter schlechter als die Unterredner. Dann beaufsichtigt der Schlechtere die Besseren, was widersinnig ist. (b) Oder der Schiedsrichter ist den Unterrednern ähnlich. Dann verfährt er auch im Gespräch ähnlich wie die Unterredner, was ihn überflüssig macht. (c) Oder der Schiedsrichter ist besser als die Unterredner. Im konkreten Fall ist dies gar nicht möglich, da Protagoras einer der Unterredner ist und es einen Besseren als Protagoras ja gar nicht gibt.20 Daß diese Argumentation leicht angreifbar und Sokrates’ Lob für Protagoras wohl nicht allzu ernst zu nehmen ist, ändert nichts an der Tatsache, daß die besondere Art der Gesprächsführung, die der platonische Sokrates praktiziert, mit einer Unterredung, die unter der Aufsicht eines Schiedsrichters abzulaufen hat, kaum verträglich ist. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, daß Platon die Rolle des Schiedsrichters zwar von den Dialogfiguren im Protagoras und auch im Laches21 debattieren läßt, daß er aber in keinem ein-
19 Vgl. Prot. 337 c 6 – 338 b 1. 20 Vgl. Prot. 338 b 4 – c 6. 21 Auch im Laches (vgl. 184 c 9 – d 4) macht ein Gesprächspartner des Sokrates, in diesem Fall ist es Lysimachos, den Vorschlag, das Gespräch unter die Leitung eines Schiedsrichters zu stellen. Da die Frage nach dem Nutzen der Hoplomachie von den zwei konsultierten Experten, den Feldherren Laches und Nikias, nicht in übereinstimmender Weise beantwortet wurde, scheint es Lysimachos ratsam, einen Dritten heranzuziehen, dessen Stimme nun entscheidend sein soll. Der Schiedsrichter soll offensichtlich als Mehrheitsbeschaffer fungieren. Dagegen hält Sokrates an seinem expertokratischen Modell fest: Wenn etwas gut entschieden werden soll, ist es notwendig, daß der Fachmann, der Technit, und nicht etwa die numerische Mehrheit der unverständigen Laien den Ausschlag gibt. Denn „nicht die Zahl, sondern allein das Wissen soll entscheiden“ (Dieterle 1966, S. 37).
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3. Die Praxis der Interpretation
zigen Dialog die gesprächsfunktionale Rolle eines Schiedsrichters literarisch gestaltet hat.22 Gegen Hippias’ Vorschlag stellt Sokrates einen eigenen: Wenn Protagoras nicht antworten will, so soll er fragen, ich werde antworten und zugleich versuchen, ihm zu zeigen, wie ich behaupte, daß der Antwortende zu antworten habe. Wenn ich aber geantwortet habe, wonach immer er fragen will, so soll er wiederum mir in gleicher Weise Rede stehen.23
Sokrates’ Vorschlag wird allgemein angenommen, Protagoras muß sich fügen. Damit hat Sokrates sein Anliegen, das Gespräch in brachylogischem Stil fortzuführen, gegen Protagoras durchgesetzt. Zwar ist jetzt nicht mehr Protagoras, sondern Sokrates derjenige, der zunächst zu antworten und Rechenschaft zu geben hat, aber entscheidend ist, daß sich dieses Fragen und Antworten im Rahmen eines Gesprächs vollzieht, das brachylogischen Charakter besitzt. Protagoras hat den ersten, auf der gesprächstheoretischen Ebene verlaufenden Agon also bereits verloren. Nun versucht er, auf der thematischen Ebene mit größerem Erfolg zu agieren, indem er zwar wie verlangt brachylogisch verfährt – doch dies im Rahmen einer Dichterauslegung, wie sie als genuiner Bestandteil der sophistischen Redepraxis erscheint. Damit erzielt Protagoras trotz der Niederlage immerhin noch einen doppelten Punktgewinn: (1) Sokrates spielt (zunächst) nicht mehr die Rolle des Fragenden, sondern die des 22 Der platonische Sokrates kennt viele Möglichkeiten, sich im Gespräch zu verhalten: maieutisch und protreptisch, oft ironisch, zuweilen auch polemisch und eristisch. Aber so unterschiedlich die Züge auch sind, die seine Gesprächsführung prägen, sie alle gehören zu einem Gespräch, das keinen Schiedsrichter braucht und keinen brauchen kann. Es gibt daher nicht nur keinen platonischen Dialog, der nicht von einem Gesprächsführer bestimmt wird, es gibt auch keinen platonischen Dialog, in dem einer der Gesprächspartner als Schiedsrichter auftritt. Die platonischen Gespräche sind signifikant Gespräche ohne Schiedsrichter. Dies gilt selbst für den Euthydemos, in dem Platon die keineswegs chaotisch, sondern durchaus geregelt wirkenden Runden eines Streitgesprächs wie die eines Boxkampfes vorführt. In seiner vergleichenden Untersuchung zu Streitgesang und Streitgespräch bei Theokrit und Platon hat Michael Erler einen bedeutsamen Unterschied hinsichtlich der Entscheidungsfindung und der Personenkonstellation herausgestellt: Während der von Theokrit gestaltete Streitgesang zwischen dem Ziegenhirten Komatas und dem Schafhirten Lakon seinen Abschluß in dem expliziten Urteil des Schiedsrichters Morson findet, werden die von Platon im Euthydemos präsentierten Streitgesprächsrunden durch keinen Schiedsrichter beendet: Hier hat offensichtlich der verloren, der zuerst verstummen muß, da er den Worten des Gegners nichts mehr entgegenzusetzen hat (vgl. Erler 1986, insbes. S. 78 und 82). Die Rolle eines Schiedsrichters wäre schlicht überflüssig. 23 Prot. 338 c 7 – d 5: ! " # $ %& ' ( )* + , - . / 01 2 * 3 ! 4+5 06
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
241
Gefragten. (2) Das Gesprächsthema, die Lehrbarkeit und Einheit der , wird nun im Rahmen einer Dichterauslegung besprochen. Im Zusammenhang der gesprächstheoretischen Überlegungen des Protagoras gehört die Dichterauslegung ganz offensichtlich zur Domäne der Sophisten: In diesem Bereich fühlt sich Protagoras sicher, hier meint er, auch in einem brachylogisch geführten Agon gegen Sokrates bestehen zu können.24 Die besondere Wertschätzung, die Protagoras der Dichterauslegung als einer Form der Gesprächs- und Argumentationsführung entgegenbringt, kommt deutlich in den Worten zum Ausdruck, mit denen er das gesprächstheoretische Intermezzo zum Abschluß bringt und wieder zur thematischen Ebene übergeht: „Ich meine, sagte er (sc. Protagoras), Sokrates, für einen Mann sei der Bildung ( ) gewichtigster Teil, in Gedichten stark zu sein. Es bedeutet dies, fähig zu sein, das von den Dichtern Gesagte zu verstehen, was richtig gedichtet ist und was nicht, und sich darin auszukennen, es zu zerlegen und, wenn man gefragt wird, Rechenschaft zu geben ( ). Und so wird auch jetzt die Fragestellung zwar auf dasselbe bezogen sein, worüber ich und du jetzt diskutieren, auf die Tüchtigkeit ( ), aber übertragen in Dichtung ( ): nur soweit wird sie sich unterscheiden.“25 Wenn Protagoras glaubt, dieses Lob der von ihm als agonal26 verstandenen Dichterauslegung an den Beginn der Simonides-Auslegung stellen zu müssen, dann wird zunächst einmal deutlich, daß die Wertschätzung der Dichterauslegung anscheinend keineswegs selbstverständlich ist. Am Ende der Simonides-Interpretation27 wird Sokrates seine Stellung zur Dichterauslegung präsentieren: eine Position, die Protagoras’ Lobgesang – trotz der Übereinstimmung hinsichtlich der Forderungen, die an eine Interpretation zu stellen sind – diametral gegenübersteht.
24 Vgl. Friedländer 3 1964 b, S. 18: „Formal hat sich das sokratische Sprechprinzip durchgesetzt. Aber der Inhalt ist unsokratisch, sophistisch: Schönrednerei – oder diesmal Streit – über ein im voraus festgelegtes Wortgebilde, nicht dialektisches Durchforschen eines Problems, dessen Sachgehalt allein die Rede lenkt.“ 25 Prot. 338 e 6 – 339 a 6:
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26 Daß Protagoras auch die Interpretation als Wettkampf auffaßt, wird deutlich in seiner Formulierung „in Gedichten stark“ sein. Mit der ' ist eine rhetorische Kompetenz angesprochen, die sich in Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Dichterauslegungen zu bewähren und als die stärkere zu erweisen hat. 27 Prot. 347 c 5 – 348 a 6.
242
3. Die Praxis der Interpretation
Offen bleibt zunächst die Frage, welche Position vor dem Hintergrund der vorgeführten Interpretationspraxis, um die beide Stellungnahmen einen Rahmen bilden, als die stärkere erscheint. Protagoras stellt die These auf, daß die Dichterauslegung den wichtigsten Bestandteil der ausmacht.28 Um diese Behauptung auch dem Sokrates plausibel machen zu können, muß Protagoras allerdings genauer darlegen, was er unter Interpretation versteht, und die Forderungen artikulieren, denen eine gute Interpretation zu genügen hat. Die erste von Protagoras angeführte Forderung entspricht Sokrates’ begrifflicher Skizzierung einer rhapsodischen im Ion: Der Interpret muß verstehen, was der Dichter meint, er muß sich – in der Sprache des Sokrates – die
des Dichters erarbeiten. Die in den Augen des Sokrates notwendige Mitteilbarkeit dieser
und der konkrete Vollzug der Mitteilung im kritischen werden dagegen von Protagoras nicht angesprochen. Statt dessen bezieht sich seine zweite Forderung auf die sachliche Prüfung der
: Ist das, was der Dichter behauptet, denn auch wahr? Es scheint für Protagoras ganz außer Zweifel zu stehen, daß die
des Dichters Aussage- und Behauptungsstruktur aufweist. Auch in diesem Punkt ist er sich mit Sokrates weitgehend einig: Dichter werden je nach dem von ihnen behandelten Thema als konkurrierende Theologen, Kosmologen usw. aufgefaßt. Die Werke der Dichter zu interpretieren bedeutet also, ihre Behauptungen erstens in ihrem Gehalt zu verstehen und zweitens auf ihren Wahrheitswert hin zu überprüfen. Vom Interpreten ist damit nach Protagoras ebenso Fachwissen wie methodische Kompetenz verlangt: Der Interpret muß sich in den Themenbereichen auskennen, von denen die Dichtung als komplexe Behauptung handelt, und er muß die Fähigkeit besitzen, die komplexen Behauptungen zu analysieren, sie in ihre Bestandteile zu zergliedern, damit sich keine einzelne Behauptung der sachlichen Prüfung entziehen kann. Für Protagoras’ Position, Werke der 28 Protagoras ist nicht der einzige, der einen engen Zusammenhang zwischen und Interpretation postuliert. Als Verbündeten könnte er etwa den ps.-platonischen Sokrates des Hipparchos (vgl. 228 b 4 – 230 e 5) benennen. In seiner Lobrede auf den Peisistraden Hipparchos, unter dessen Regentschaft die Athener sehr gut gelebt hätten, führt der ps.-platonische Sokrates aus, Hipparchos sei bestrebt gewesen, allen Bürger des Landes, sowohl denen in der Stadt als auch denen auf dem Land, zu einer besseren Bildung ( ) zu verhelfen, weil er über möglichst gute Menschen herrschen wollte. Um dieses Ziel zu erreichen, habe Hipparchos nicht nur die Dichtungen des Homer nach Athen gebracht und im Rahmen der Panathenaien von Rhapsoden vortragen lassen, sondern auch namhafte Dichter wie Anakreon und Simonides nach Athen geholt. Als Beweise und Denkmale seiner eigenen Weisheit habe er auch selbst Dichtung verfaßt. Die Auseinandersetzung mit Dichtung ist in den Augen des ps.-platonischen Sokrates damit nicht nur Ausdruck erlangter , sondern zugleich Mittel, die allererst zu erreichen.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
243
Dichtung grundsätzlich als komplexe Behauptungen und damit gleichsam als Theorien zu begreifen, ist der Begriff der Richtigkeit ( ) der Dichtung zentral. Minimalbedingung für die Richtigkeit der Behauptungen des Dichters ist, daß sie in sich konsistent sind: logische Folgerichtigkeit wird zur notwendigen Bedingung für gute, d. h. hier: für sachlich richtige Behauptungen aufstellende Dichtung.29 Bislang ist eine erstaunlich weitreichende Übereinstimmung zwischen Protagoras’ Auffassung von einer guten Interpretation und Sokrates’ Skizze einer rhapsodischen festzustellen. Die entscheidende Differenz kommt erst dann ins Spiel, wenn Protagoras die These formuliert, daß im Rahmen der Dichterauslegung die argumentative Rechenschaftsgabe, das , nicht nur verlangt, sondern auch möglich ist. Sokrates würde nur dem ersten Teil dieser These zustimmen: Wer für sich in Anspruch nimmt, die
eines Dichters verstanden und sachlich geprüft zu haben, muß bereit sein, sich kritisch befragen zu lassen, und: er muß seinen Anspruch argumentativ begründen können. Doch während Protagoras es für prinzipiell möglich erachtet, daß ein Interpret diese Forderung auch erfüllt, hält Sokrates eben dies für ausgeschlossen. Mit Sokrates ist sich Protagoras also darin einig, daß in thematisch bestimmten Gesprächen, worunter auch Dichterauslegungen zu zählen sind, argumentiert und zureichend begründet werden muß. Strittig ist dagegen die Frage, ob im speziellen Fall einer Dichterauslegung ein überhaupt geleistet werden kann. 29 Widerspruchsfreiheit stellt eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die eines Gedichts dar. Daß die innere Konsistenz von Überlegungen keine Wahrheit garantiert, war Platon sehr wohl bewußt. Nach Jan Szaif begegnet Platon in seinen eigenen ideentheoretischen Überlegungen dem Problem, daß die Kohärenz einer systematischen Theorie über die Wirklichkeit noch kein Garant für die Wahrheit dieser Theorie ist, durch die Sicherung eines absolut verläßlichen Anfanges und Ausgangspunktes (vgl. Szaif 1996, S. 242 ff.), den er in der ontologisch und gnoseologisch alles fundierenden Idee des Guten (vgl. insbes. S. 279) finde. Das bei Szaif ungelöst bleibende Nachfolgeproblem, wie diese Grundannahme einer als signifikant voraussetzungslos gedachten , auf der nach Szaifs Platonauslegung das gesamte Wissensgebäude basieren soll, rational ausgewiesen werden kann, ist m. E. im Rahmen eines konkreten Vollzugs des zu klären, wie es Platon zum einen in den fiktional gestalteten Gesprächshandlungen inszeniert und zum anderen in den wahrheitstheoretischen Überlegungen des Gorgias thematisiert. – Die eines Gedichts setzt, wie Sokrates im zehnten Buch der Politeia betont, das Wissen des Dichters voraus: „Denn notwendig müsse der gute Dichter, wenn er, worüber er dichtet, gut dichten soll, als ein Kundiger dichten, oder er werde nicht imstande sein zu dichten.“ (Rep. X 598 e 3-5:
! " # $ % & ' #() Das aber heißt: Beansprucht ein Dichter gut, d. h. „richtig“, gedichtet zu haben, dann darf er diesen Anspruch nur aufrechterhalten, wenn er sich zum in der Lage zeigt.
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3. Die Praxis der Interpretation
3.1.2 Die erste Runde der Simonides-Auslegung: Protagoras vs. Prodikos Nachdem er die Dichterauslegung als wichtigsten Teil der gelobt hat, macht sich Protagoras daran, seine eigene interpretatorische Fähigkeit im Gespräch – und damit seine eigene herausragende – unter Beweis zu stellen. Protagoras’ kurzen interpretationstheoretischen Bemerkungen folgen einige Kostproben sophistischer Interpretationspraxis. Die erste liefert der Großmeister Protagoras selbst, der die thematische Auseinandersetzung über die im Rahmen einer Simonides-Auslegung fortsetzt.30 Dabei macht Protagoras sogleich ernst mit der Annahme, daß die eines Dichters Behauptungsstruktur hat.31 Das von ihm vorgelegte Simonides-Zitat 30 Daß Protagoras gerade ein Gedicht des Simonides heranzieht, kann in Verbindung gebracht werden mit dem Ruf des Simonides. Manchen gilt Simonides, der wie Prodikos von der Insel Keos stammt, als ein durch die Verbindung von „Weisheit und Habgier“ (vgl. Christ 1941, insbes. S. 65) ausgezeichneter Vorläufer oder gar als ein verkappter Vertreter der Sophistik. Vgl. Friedländer 3 1964 b, S. 18: „Denn ‚ungleich den früheren Dichtern läßt sich Simonides, lebhaft, kritisch und streitbar, auf bewegliche Diskussionen ein‘ (H. Fränkel), so daß zwischen ihm und den debattierenden Sophisten eine ferne Verwandtschaft besteht.“ Gegen Friedländer kann allerdings eingewendet werden, daß sich diese „Verwandtschaft“ durchaus bestreiten läßt. So sieht gerade Fränkel, der in dem obigen Zitat von Friedländer vereinnahmend zitiert wird, in Simonides eher einen Vorläufer kritischer, auf das bedachter Philosophie. Vgl. Fränkel 2 1962, 369: „Er (sc. Simonides) prüft, billigt, oder lehnt ab; er gibt der Frage eine neue Wendung; er sucht und findet. (...) die Kräfte des Gemüts und des Verstandes <müssen> umsichtig und klug, ehrlich und genau eingesetzt werden, damit der Mensch sein Ziel zu Gesicht bekommt und richtig leben lernt. Auf diese Weise wird die archaische Hilflosigkeit und Preisgegebenheit überwunden. Zugleich ist auch die nachtwandlerische Sicherheit intuitiven Glaubens und Handelns aufgegeben. Man ergreift nicht mehr was sich bietet, sondern entscheidet und wählt; und man begründet die Wahl.“ So gut Fränkels Ansicht auch in seiner Auslegung der überlieferten Simonides-Fragmente belegt sein mag: Eine Sache ist es, dem historischen Simonides nachzuspüren, eine andere, Platons Rezeption (und künstlerische Verarbeitung) des Simonides zu betrachten. Für den Protagoras jedenfalls ist m. E. zu sagen, daß Platon Simonides – wegen des agonalen und polemischen Charakters seiner mit Pittakos geführten Auseinandersetzung – zumindest in die Nähe der Sophisten setzt. Methodisch differenziert kann also folgendes festgehalten werden: Daß Simonides in der Tat ein Vorläufer der Sophisten war oder im 5. und 4. Jahrhundert als Vorläufer der Sophisten gesehen wurde, läßt sich – nach Fränkel – mit guten Gründen bestreiten. Daß Simonides aber, wie Sokrates im Protagoras von ihm spricht, durchaus sophistische Züge aufweist, scheint mir dagegen unstrittig. – Durch den „sophistischen“ Zug, der den Dichter Simonides in den Augen des Sokrates auszeichnet, wird im übrigen eine weitere Verbindung zwischen Sophisten- und Rhapsodentum hergestellt: Hipparchos, der Sohn des Tyrannen Peisistratos, soll nicht nur die homerischen Dichtungen und die Rhapsoden, sondern auch die Dichter Simonides von Keos und Anakreon aus Teos nach Athen geholt haben (vgl. Hipparchos 228 b 4 – 230 e 5). 31 Vgl. Schlaffer 1982, S. 65: „In Platons Protagoras (339) werden Verse des Simonides (...) diskutiert, als handle es sich um eine philosophische These. Da der Autor dieser
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
245
Ein guter Mann schon wahrhaft zu werden ist schwer, an Händen und Füßen vierkantig, ohne Tadel gebildet.32
versteht er als ein Urteil, das entweder wahr oder aber falsch ist. Was genau der Dichter hier behauptet, versteht sich nach Protagoras gleichsam „von selbst“. Jedenfalls verschwendet er zunächst keine eigenen Worte, um dieses Zitat auszulegen, sondern stellt sofort Sokrates die Frage, ob Simonides dies „schön“ ( ) und „richtig“ () gedichtet habe.33 „Schön und richtig dichten“ heißt hier offensichtlich so viel wie „richtig behaupten“, „über etwas die Wahrheit sagen“.34 Sokrates antwortet, er halte Simonides’ Gedicht für Lebensweisheit keine Unfehlbarkeit behauptet, läßt selbst der Nachweis eines Irrtums den Spruch als Kundgabe einer Meinung bestehen. Lyrischer Vers und philosophische Prosa können nebeneinander bestehen, in verschiedenen Formen sprechen sie dennoch von derselben Welt.“ 32 Prot. 339 b 1-3: |
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33 Vgl. Prot. 339 b 7 f. – Vgl. Taylor 1976, S. 141: „In view of Protagoras’ general educational programme, and in view of his comments of the poem, it seems likely that he saw the importance if literary criticism rather in developing the critical faculty and the exact use of language than in promoting the understanding and appreciation of poetry as an end in itself.“ 34 Nur ein einziges Mal werden von Sokrates im späteren Verlauf der SimonidesInterpretation auch ästhetische Qualitäten angeführt, um für die " # des Gedichts zu plädieren. Prot. 344 a 7 – b 3: „Denn vieles kann man auch an jedem einzelnen in dem Lied Gesagten aufzeigen, daß es gut gedichtet ist – denn es ist sehr reizvoll und sorgfältig angelegt –, doch wäre es zu weitläufig, es so durchzugehen.“ (
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– Daß die sachliche „Richtigkeit“ des Erzählten das entscheidende Kriterium darstellt für die „Güte“ des epischen Gedichts, ist ein Gedanke, der bereits in Homers Odyssee von Odysseus artikuliert wird (VIII 496-498): „Wenn Du (sc. Demodokos) mir auch dieses (sc. die Eroberung Trojas) nach Gebühr berichtest, so will ich alsbald allen Menschen verkünden, wie freundlich gesonnen dir der Gott den göttlichen Gesang verliehen.“ Mit „Richtigkeit“ der poetischen Erzählung ist hier allerdings nicht – wie bei Protagoras’ Simonides-Interpretation – ein Urteil gemeint, das im Bereich der Ethik zu Hause ist, sondern historische Zuverlässigkeit. Latacz spricht in diesem Zusammenhang von einer „höheren Authentizität des Erzählten“, vgl. Latacz 2 1989, S. 95: „(...) denn die Geschichte galt grundsätzlich als wahr, d. h. als tatsächlich geschehen.“ Allerdings ist die „Richtigkeit“ des in der Erzählung Behaupteten nicht das einzige, was der Sänger, wie Homer ihn präsentiert, zu beachten hat. Das „Richtige“ soll auch auf eine Weise erzählt werden, die den Hörer erfreut (vgl. Barner 1977, S. 506, S. 510). Zwischen dieser Funktion des Erfreuens () und der „Richtigkeit“ des Erzählten können offenbar leicht Spannungen entstehen. Den adligen Rezipienten eines Hofsängers werden nur ganz bestimmte, nämlich mit dem Adelsideal übereinstimmende und den Adligen in seinem Selbstverständnis bestärkende Inhalte erfreuen. (Vgl. Ilias I 575 f.: „Und gar keine Freude mehr wird sein an dem guten Mahl, wenn das Gemeinere obsiegt.“) „Authentizität in diesem Bereich bedeutete also nicht Treffsicherheit im Hinblick auf eine unveränderliche dokumentarische
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3. Die Praxis der Interpretation
richtig,35 womit er sich bereits zum Advokaten des Simonides erklärt hat: Im folgenden wird er das gegen die Angriffe des Protagoras verteidigen müssen, was Simonides als wahr hinstellt. Natürlich weiß Sokrates,36 daß bislang noch gar nicht geklärt ist (und seiner Auffassung nach auch niemals geklärt werden kann), was Simonides wirklich gemeint und behauptet hat,37 doch offensichtlich erachtet er es nicht als ratsam, Protagoras darauf hinzuweisen, daß der methodisch zuerst geforderte Schritt – die Erarbeitung der des Dichters – übersprungen wurde und daher nun zur Unzeit geprüft wird, ob das Gedichtete „richtig“ gedichtet ist. Erst in Sokrates’ Verteidigung der des Gedichts gegen die Vorwürfe des Protagoras schlägt die Prüfung, ob das von Simonides Behauptete der Wahrheit entspricht, um in die Prüfung dessen, was Simonides denn in Wahrheit behauptet hat. Bei der Verteidigung der des Gedichts kann es sich Sokrates gut zunutze machen, daß die Frage, was Simonides denn eigentlich behauptet, bislang noch gar nicht beantwortet wurde. Daß Sokrates mit der Verteidigung der des Gedichts keine kleine Aufgabe übernommen hat, wird deutlich, als ihm Protagoras – nach der Erinnerung, daß ein sich selbst widersprechendes Gedicht doch auf keinen Fall „richtig“ sein könne – ein zweites Simonides-Zitat präsentiert, das mit dem ersten in Spannung zu stehen scheint: Nicht einmal vor mir als stimmig gilt der Pittakos-Spruch, obgleich von einem weisen Mann gesprochen: „Schwer ist es“, behauptete er, „edel zu sein.“38
Die Falle schnappt zu: Protagoras präsentiert Sokrates eine weitere Behauptung, die als Teil des Gedichts und daher als Teil der komplexen Behauptung verstanden wird. Nach Protagoras hat sich Sokrates also zum Advokaten einer
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Wahrheit (die das Publikum ohnehin nicht kannte), sondern Treffsicherheit im Hinblick auf eine bestimmte (je zeitgemäße) Publikumsvorstellung von >Stimmigkeit<.“ (Latacz 2 1989, S. 111) Vgl. Prot. 339 b 8. Vgl. das Argument für die Notwendigkeit der Dichterauslegung, das der platonische Sokrates im ersten Buch der Politeia präsentiert (Rep. I 331 e 5 – 332 c 8, siehe auch oben Kap. 2.1.5). Insbesondere ist die Komplexität der von Simonides aufgestellten poetischen Behauptung noch nicht berücksichtigt. Bislang wurde nur eine einzelne Behauptung überhaupt benannt. Protagoras stellt Sokrates die Frage nach der Richtigkeit der komplexen Behauptung (des Gedichts), ehe er alle einzelnen, darin inbegriffenen Behauptungen explizit gemacht hat: eine klare Falle. Prot. 339 c 3-5: |
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3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
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Theorie machen lassen, die gegensätzliche Behauptungen aufstellt. Protagoras übernimmt den Part des logisch zwingend operierenden Angreifers: Simonides’ Gedicht sei – entgegen der Auffassung des Sokrates – nicht „richtig“, da nicht widerspruchsfrei39 gedichtet: Im ersten Zitat habe Simonides die These vertreten, es sei schwer, in Wahrheit ein tüchtiger Mann zu werden, im zweiten Zitat dagegen kritisiere er die Behauptung des Pittakos, wonach es schwer sei, edel zu sein. Tadle Simonides denjenigen, der doch nur dasselbe sage wie er selbst, dann tadle er damit auch sich selbst. Entweder also sei das falsch, was Simonides zuerst behauptet oder aber das, was er später – als Kritik an der ersten Behauptung – behauptet habe. Die ist dem Gedicht, das hier als eine komplexe inkonsistente Behauptung verstanden wird, in beiden Fällen abzusprechen.40 Die Zuhörer, berichtet Sokrates, hätten Protagoras’ Angriff mit Beifall begrüßt und laut bejubelt. Ihm selbst aber sei schwarz vor Augen geworden und schwindlig – so als habe er den Hieb eines guten Faustkämpfers hinnehmen müssen.41 Durch die Kampfmetaphorik, von der Sokrates als Erzähler auch weiterhin Gebrauch macht, wird der Charakter des Gesprächs als öffentlich ausgetragener Agon deutlich hervorgehoben. 39 Protagoras’ Aufassung, wonach die interne Widerspruchsfreiheit eines Gedichts eine notwendige Bedingung für seine eigene Richtigkeit darstellt, ist der Position des Spartafreunds verwandt, den Isokrates in seinem Panathenaikos (§§ 235-263) als Interpreten agieren läßt: Der Spartafreund will einer Rede die nur dann zuzuerkennen, wenn die in ihr artikulierten Aussagen miteinander und zudem auch mit den übrigen Behauptungen des Autors in Einklang stehen (vgl. Schäublin 1982, S. 170 sowie S. 174-176). 40 Vgl. Prot. 339 c 9 – d 9. – Der Inkonsistenzvorwurf, den Protagoras hier gegen Simonides erhebt, hat bei Aristoteles, der den Protagoras mit Sicherheit kannte, dazu geführt, daß Simonides zum Paradebeispiel eines Menschen wird, der sich selbst widerspricht. Vgl. die folgenden Passage aus der Metaphysik (N 4 1091 a 5-9), in der m. E. auch eine Anspielung auf die Makrologie-Brachylogie-Debatte des Protagoras zu finden ist:
! " # $ % & $ " % '( " ) *+ , - .- /+( 0 (In der Übers. von Bassenge 1990, S. 364:
„Alle diese Lehren sind widersinnig; sie stehen miteinander und mit allem im Widerspruch, was wahrscheinlich ist. Sie hören sich an wie das ‚lange Gerede‘ des Simonides. Ein langes Gerede – wie dort das Geschwätz der Sklaven – entsteht aber dann, wenn Menschen nichts Gesundes zu sagen wissen.“) – Protagoras’ Kritik, die das Gedicht des Simonides als eine inkonsistente komplexe Behauptung versteht, weist prima facie große Ähnlichkeit mit Sokrates’ Theognis-Interpretation im Menon (95 c 8 – 96 a 5) auf (vgl. unten Kap. 3.2.3). 41 Vgl. Prot. 339 d 10 – e 3. – Vgl. Manuwald 1999, S. 317: „Das von Platon auch sonst gebrauchte Bild des Boxhiebes für (wenigstens auf den ersten Blick) wirksame Argumente (vgl. Euthd. 303 a 4 f.; Phlb. 22 e 5 f.; vgl. auch Ep. VII 347 d 5) paßt besonders gut im Zusammenhang mit Protagoras, dem Verfasser der als 12 (sc. ), Niederwerfende Reden, bezeichneten 345 (VS 80 B 1);“ den Ausdruck 2 hat Protagoras bezeichnenderweise der Ringersprache entlehnt.
248
3. Die Praxis der Interpretation
Ein Wettkampf aber lebt gerade auch von der Taktik der Kombattanten: Um Zeit zu gewinnen und darüber nachdenken zu können, was der Dichter Simonides denn eigentlich behaupte,42 so erzählt Sokrates, habe er sich an Prodikos gewandt und ihn aufgefordert, seinem Landsmann Simonides mit Hilfe der eigenen Synonymik43 gegen den Angriff des Protagoras zu Hilfe zu kommen.44 Sokrates provoziert auf diese Weise eine Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Formen sophistischer Dichterauslegung: Auf der einen Seite der selbsterklärte Interpretationsexperte Protagoras, auf der anderen Seite Sokrates, der hier gerade nicht als Philosoph oder Dialektiker, sondern als Sophist, genauer: als „Schüler des Prodikos“45 agiert. Mit Hilfe einer subtilen Begriffsunterscheidung, wie sie Prodikos’ Synonymik bereitstellt, strebt Sokrates den Nachweis an, daß Simonides im zweiten Zitat keineswegs die These bestreite, die er im ersten behauptet habe, sondern eine ganz andere: Simonides halte nur für wahr, daß es schwer sei, ein tüchtiger Mann zu werden ( ), dagegen halte er die von Pittakos vertretene These, daß es schwer sei, ein tüchtiger Mann zu sein ( ), für falsch. Da zwischen „werden“ und „sein“, wie ihm Prodikos gerne zugibt, ein gewaltiger Unterschied bestehe, könne man Simonides jedenfalls keinen Selbstwiderspruch vorwerfen, und plausibel werde die inhaltliche Position des Simonides durch
42 Hier nutzt Platon die spezifischen Mitteilungsmöglichkeiten der „gemischten“ Dialogkomposition: Den Wunsch, nach der Attacke des Protagoras etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, kann Sokrates als Erzähler im Rahmengespräch zugeben, als Unterredner im erzählten Gespräch aber verschweigt Sokrates diesen Wunsch verständlicherweise. Ganz nebenbei macht Sokrates auch darauf aufmerksam, daß noch längst nicht klar ist, was der Dichter sagt: Die Zeit zum Nachdenken benötigt Sokrates, weil eben noch offen ist, worin die Behauptung des Dichters denn eigentlich besteht. 43 Prodikos’ Synonymik kann als ein ambitioniertes Programm begriffen werden, bedeutungsverwandte Begriffe mit Hilfe subtiler Differenzierungen gegeneinander abzugrenzen. Vgl. auch Gentinetta 1961, S. 39-44. 44 Vgl. Prot. 339 e 3 – 340 b 2. 45 Wenn sich Sokrates hier (Prot. 341 a 4) als „Schüler des Prodikos“ bezeichnet, meint dies zunächst nur, daß er sich in der aktuellen Gesprächssituation einer Methode der Begriffsunterscheidung bedient, die man gegen gute Bezahlung bei Prodikos erlernen kann. Man kann nun vermuten, daß Sokrates Prodikos aber auch deshalb als seinen Lehrer anführt (vgl. auch Crat. 384 a 8 – c 1), weil Sokrates’ eigene dialektische Kunst der Begriffsunterscheidung der Synonymik des Prodikos viel verdankt. Dem ist allerdings entgegen zu halten, daß Sokrates die Methode des Prodikos ausschließlich in karikierender Weise vorführt: Es wirkt lächerlich, wenn sich Sokrates dieser Methode befleißigt, und fast noch lächerlicher, wenn der Meister sie selbst zur Anwendung bringt (vgl. Prot. 337 a 1 – c 4). Zur Synonymik des Prodikos vgl. auch Lach. 197 d 1-5, Men. 75 c 8 – e 5, Euthd. 277 e 3 f., Charm. 163 d 1 – e 2, Apol. 19 d 8 – 20 a 2 und die Wolken des Aristophanes (v. 361 ff.).
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
249
die Auslegung zweier Hesiod-Zitate: Zwar haben die Götter vor die Tüchtigkeit ( ) den Schweiß gesetzt, doch einmal tüchtig geworden, sei es dann ein Leichtes, tüchtig zu sein und auch zu bleiben.46 Nach Protagoras war in beiden Simonides-Zitaten nur von einer These die Rede: (A) Es ist schwer, tüchtig zu werden ( ). Diese These, so Protagoras, behaupte Simonides im ersten Zitat, im zweiten bestreite er sie. Nach Sokrates ist These (A) jedoch zu unterscheiden von: (B) Es ist schwer, tüchtig zu sein ( / ). Im ersten Zitat, so Sokrates, behaupte Simonides These (A), im zweiten Zitat bestreite er die von Pittakos für wahr gehaltene These (B). Da aus der Wahrheit von These (A) nicht mit Notwendigkeit die Wahrheit von These (B) folgt, ist Simonides’ Position nach dieser Lesart widerspruchsfrei.47 Prodikos ist mit der Leistung seines „Schülers“ Sokrates außerordentlich zufrieden, da sie ja die Überlegenheit seiner eigenen Argumentations- und Interpretationsmethode zu dokumentieren scheint.48 Doch Protagoras greift die des Gedichts erneut an, ohne allerdings die von Sokrates eingebrachte und in diesem Kontext ja keineswegs selbstverständliche Differenzierung zwischen den Begriffen „ “ und „“ in Zweifel zu ziehen: „Deine Richtigstellung, mein Sokrates, enthält einen größeren Fehler als das, was du richtigstellst.“49 In seinem nun folgenden Angriff gibt Protagoras den Inkonsistenzvorwurf auf und wendet sich statt dessen gegen die Möglichkeit, These 46 Vgl. Prot. 340 b 2 – d 5. 47 Vgl. Donlan 1969, S. 75: „Protagoras’ purpose was to show that Protagoras was an imperfect composer; his explanation of the contradictory statements was that Simonides ‚forgot‘ what he had written a few lines before and went to disagree what Pittacus who had said just the same thing (339 D). Socrates’ defense of Simonides, for all its playfulness and subtle twitting of the Sophistic methodology, is basically sound. He says that there is, in fact, no contradiction, because Simonides had said it is difficult to become good, and Pittacus had said it was difficult to be (i. e. to remain) good.“ 48 Auf den sophistischen Charakter der von Sokrates vorgestellten Interpretation hat bereits Wilamowitz-Moellendorff (1918 / 19 b, S. 149) hingewiesen: „Wenn er (sc. Sokrates) dem Protagoras in der Dichterauslegung überlegen ist, so bedient er sich so grober Mißdeutungen, daß sie Platon unmöglich entgangen sind; er will ja auch nur zeigen, daß dies ein nutzloses Spiel ist (...)“ Vgl. auch Friedländer 3 1964 b, S. 19: „Dieser (sc. Sokrates) benutzt zuerst die Wortunterscheidungskunst (oder auch die Silbenstecherei) des Prodikos, und zwar mit Erfolg, indem er durch das Bekenntnis zu dessen Technik ihren Patron gewinnt und dann, auch sophistisch überlegen, gleichsam mit der Waffe des einen Sophisten auf den anderen losprügelt.“ 49 Prot. 340 d 7:
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3. Die Praxis der Interpretation
(B) vernünftigerweise für falsch zu halten. Bestreite der Dichter Simonides – nach Sokrates’ Auslegung – wirklich diese Behauptung, dann müsse man ihm große Beschränktheit zuschreiben. Schließlich wissen doch alle Menschen, daß Tüchtig-sein und Tüchtig-bleiben keineswegs ein Leichtes, sondern vielmehr das Allerschwierigste sei.50 Die zwischen These (A) und These (B) differenzierende Richtigstellung ( )51 des Sokrates konnte in der Sicht des Protagoras zwar Simonides’ Position als widerspruchsfrei nachweisen – doch dies um den Preis, daß kein vernünftiger Mensch mehr die derart auf Konsistenz getrimmte Position einnehmen würde. Denn was hilft Konsistenz, wenn es sich nur um konsistenten Unsinn handelt? Folgt aus Sokrates’ Interpretation, daß Simonides etwas bestreite, was doch kein vernünftiger Mensch bestreiten würde, dann kann wohl an der Interpretation etwas nicht stimmen. Offensichtlich macht Protagoras hier Gebrauch von einem Autoritätsargument, als Autorität fungiert der gesunde Menschenverstand. Für sich selbst nimmt Protagoras dabei in Anspruch, genau zu wissen, welche Behauptungen mit dem gesunden Menschenverstand verträglich sind und welche nicht. Protagoras’ Argument ist nicht sonderlich stark: Sokrates könnte seine Position leicht dadurch verteidigen, daß er die von Protagoras genutzte Autorität – wie ja sonst gerne – als die irregeleitete der
diffamiert. Ebenso gut könnte er auch eigene Autoritäten ins Feld führen,52 denen der gesunde Menschenverstand nicht abzusprechen ist, obgleich sie die von Simonides in Frage gezogene These (B) ebenfalls bestreiten. Doch bemerkenswerterweise entscheidet sich Sokrates dafür, von einer anderen Taktik Gebrauch zu machen. Sokrates gebärdet sich nämlich weiterhin als „Schüler des Prodikos“, obgleich er nun, ohne daß es Prodikos bemerken und dagegen einschreiten würde, die typische Vorgehensweise der Synonymik auf den Kopf stellt. Besteht die besondere „Leistung“ der Synonymik sonst darin, nahezu bedeutungsgleiche Begriffe durch willkürliche Setzung trennscharf voneinander zu unterscheiden, so werden jetzt – mit derselben Willkür – zwei Begriffe synonym gesetzt, die alles andere als bedeutungsverwandt sind: „schwierig“ ( ) und „schlimm“ (). Im Dialekt von Keos (woher ja sowohl Simonides als auch Prodikos stammen), vermutet Sokrates, bedeute „schwierig“ ( ) so viel wie „schlimm“ (). Der unvorsichtige Prodikos bestätigt – qua Autorität als native speaker – diese Vermutung. Natürlich ist 50 Vgl. Prot. 340 e 5-7. 51 Zum Begriff vgl. auch Tht. 183 a 2-4. 52 Sokrates könnte insbesondere an die zuvor ja bereits zitierten Hesiod-Stellen erinnern.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
251
sich Prodikos darüber klar, daß auch im Dialekt der Keer die Ausdrücke „ “ und „ “ keineswegs synonym sind. Doch ist Prodikos an der Richtigkeit dieser Bedeutungsgleichheit ebenso wenig interessiert wie zuvor an der Richtigkeit der angeführten Bedeutungsdifferenz. Prodikos’ Interesse scheint einzig und allein dem Sieg im Agon zu gelten: Dem „Schüler“ Sokrates wird gegen den konkurrierenden Interpreten Protagoras alles zugestanden, was Erfolg verspricht. 53 Dadurch erfährt das grundsätzlich ja durchaus sinnvolle Vorgehen, den Dialekt eines Dichters bei der Auslegung zu berücksichtigen, eine konkrete Anwendung, die völlig unglaubwürdig wirken muß. Konnte man der Differenzierung zwischen „werden“ und „sein“ noch eine gewisse Plausibilität zuerkennen, so muß spätestens hier deutlich werden, daß Sokrates mit Prodikos’ Methode spielt, sie auf karikierende Weise einsetzt. Denn Sokrates verteidigt Simonides’ Position („Die These (B) ist falsch.“) gegen den schwachen Angriff des Protagoras („Jeder vernünftige Mensch muß These (B) für wahr halten.“) auf eine Art, die – sich vor allem selbst diskreditierend – zu einem kaum wünschenswerten Interpretationsergebnis führt. Die von Simonides attackierte Pittakos-These lautet nämlich nun: (C) Schlimm ist es, tüchtig zu sein ( / ). Wenn nach Protagoras schon These (B) von keinem Menschen vernünftigerweise für falsch gehalten werden kann, wieviel unvernünftiger, oder jedenfalls: wieviel kontraintuitiver wäre es dann wohl, These (C) für wahr zu halten. Sokrates, so kann man annehmen, präsentiert Protagoras hier eine Behauptung, die in Gegensatz zu These (B) wirklich absurd erscheinen muß. Allerdings ist These (C) so vage, daß sie auch Interpretationen erlaubt, die zu plausiblen Positionen führen. So könnte man These (C) dahingehend auslegen, daß es tüchtigen, im Sinne von moralisch rechtschaffenen Menschen in einer Welt, die von Egoismus und dem Recht des Stärkeren geprägt ist, an Leib und Leben schlecht ergehen muß. Worauf es mir in diesem Zusammenhang jedoch ankommt, ist, daß These (C) im unmittelbaren Vergleich mit These (B) deutlich befremdlicher wirken muß.
53 Vgl. Prot. 340 e 8 – 341 c 2. – Dabei übersieht Prodikos, daß die Tauglichkeit seiner eigenen Methodik durch diese Weise der Anwendung notwendig desavouiert wird: Selbst wenn Sokrates mit einer Interpretation im Stile des Prodikos die Simonides-Auslegung des Protagoras überwinden könnte, wäre durch die Art der Präsentation schon alles verloren.
252
3. Die Praxis der Interpretation
Nun könnte man einwenden, Sokrates strebe eventuell doch mit Hilfe der Synonymik und der Beachtung dialektaler Eigenarten eine ernstzunehmende Verteidigung des Gedichts an: Schließlich tritt Simonides in Sokrates’ Interpretation ja als Kritiker und nicht als Vertreter der These (C) auf. Nicht dem zu verteidigenden Simonides, sondern dem anzugreifenden Pittakos (genauer: Pittakos, wie ihn Simonides nach Sokrates’ Deutung darstellt) wäre diese Torheit zuzuschreiben. Doch handelt es sich dabei um eine Interpretation zweiter Stufe,54 deren Schwäche auf den Interpreten erster Stufe zurückwirkt: Hatte Protagoras zuvor gemahnt, Sokrates unterstelle dem Simonides eine Absurdität (nämlich These (B) zu bestreiten), so wäre jetzt der Vorwurf angebracht, Sokrates interpretiere den Simonides so, als ob dieser dem Pittakos eine Absurdität (nämlich These (C) zu behaupten) unterstelle. Der mehrschichtige agonale Charakter des Gesprächs hat zur Folge, daß Sokrates als Verteidiger des Simonides und (daraus abgeleitet) als Ankläger des Pittakos, Protagoras dagegen als Ankläger des Simonides und (daraus abgeleitet) als Verteidiger des Pittakos fungiert. Daß Sokrates durch Protagoras gezwungen wird, die Position eines Dichters stark zu machen, der in seinen eigenen Augen als sophistisch gilt, ist nicht ohne Reiz. Schließlich wird Sokrates Simonides auf eine Art verteidigen, die keine Spannung zwischen Mittel und Zweck kennt: Dem Sophisten wird auf sophistische Weise geholfen. Protagoras zeigt sich verständlicherweise von Sokrates’ und Prodikos’ Methodik unbeeindruckt und bemerkt trocken: „Weit gefehlt, daß es sich so (sc. mit den Begriffen „ “ und „“) verhält, Prodikos. Vielmehr weiß ich genau, daß auch Simonides mit dem Schwierigen dasselbe meinte wie wir andern, nicht das Schlimme, sondern das, was nicht leicht ist, aber über viele Hindernisse hinweg zustande kommt.“55 Sokrates gibt Protagoras hier sofort recht, er unternimmt gar nicht erst den Versuch, an seiner Auslegung festzuhalten, weiß er doch nur zu gut, daß sich die zuvor geäußerte Annahme, Simonides wende sich gegen die von Pittakos verfochtene These (C), unmöglich in den Kontext des Gedichts integrieren läßt. Die Unvereinbarkeit dieser Auslegungsthese mit dem weiteren Textzusammenhang weist Sokrates auch umgehend selbst nach.56 Die Interpretation im Stil des Prodikos hat Sokrates offenbar zu keinem Zeitpunkt ernst gemeint – er schätzt weder ihre methodische Brauchbarkeit 54 Sokrates interpretiert Simonides’ Pittakos-Interpretation. 55 Prot. 341 d 2-5: ! "#$ % „ &%“ & '# ( ) * %
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56 Vgl. Prot. 341 d 6 – e 7.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
253
noch ihren inhaltlichen Ertrag. Warum aber hat er sie dann überhaupt vorgeführt? Sokrates gibt eine Erklärung: Allerdings glaube auch ich, mein Protagoras, sprach ich, daß Simonides dies meint (sc. daß die Begriffe „ “ und „“ keineswegs synonym sind) und unser Prodikos hier es ja weiß, aber scherzt und dich anscheinend auf die Probe stellt, ob du fähig sein wirst, deinem eigenen Argument aufzuhelfen.57
Nicht Prodikos, sondern allein Sokrates hat Protagoras auf die Probe gestellt, genauer: seine Fähigkeit, den eigenen Behauptungen, d. i. hier der eigenen Simonides-Auslegung, zu Hilfe zu kommen.58 Doch als Instrument der Prüfung kam ein sophistisches Mittel zum Einsatz, das dabei selbst seine Untauglichkeit herausstellen mußte: die Synonymik des Prodikos. Es ging Sokrates also nur zum einen um die Prüfung, ob Protagoras zu einer argumentativen Rechenschaftsgabe für seine Auslegung in der Lage ist, zum anderen aber eben auch um die Karikatur von Prodikos’ Methode in praxi. Seinem „Lehrer“ Prodikos hat Sokrates dabei einen schlechten Dienst erwiesen: Dem Sophisten, der – voll Stolz auf die eigene Synonymik – Simonides’ Gedicht auf den Zuruf des Sokrates hin nur zu gerne zu Hilfe kam, wird kein Dank zuteil. Im Gegenteil: Sokrates hat ihn und seine Synonymik öffentlich lächerlich gemacht. Prodikos’ Denk- und Interpretationsmethode ist für Sokrates bloße Spielerei,59 von der er unbekümmert Gebrauch machen kann, um die argumentativen Fähigkeiten des Protagoras auszutesten. Eine eigene Möglichkeit zum aber kommt der willkürlich erscheinenden Dichterauslegung, wie Prodikos sie selbst praktiziert und von seinen Schülern praktizieren läßt, mit Sicherheit nicht zu. Denn die des Dichters, die – nach Sokrates’ Idealbegriff – allein der Interpretation Halt zu gewähren vermag, beschäftigt eine Deutung à la Prodikos nicht einmal am Rande: Die den Sophisten interessierende Frage ist nicht, ob die angeführten Begriffsdifferenzierungen oder -identifizierungen so auch vom Dichter intendiert sind, sondern ob mit ihrer Hilfe im Geplänkel des Streitgesprächs ein Vorteil gegen konkurrierende Interpretationen gewonnen werden kann.
57 Prot. 341 d 6-9:
!" " " #" $ !% & "' $ (&) # *+ , & - &. / 0)'1 58 Zur argumentationstheoretischen Rolle des Ausdrucks „dem + zu Hilfe kommen“ vgl. unten insbes. S. 288. 59 Vgl. unten Fn. 128 auf S. 282 und Kap. 4.3.
254
3. Die Praxis der Interpretation
3.1.3 Die zweite Runde der Simonides-Auslegung: die des Sokrates Nachdem Sokrates den spielerischen Charakter seiner bisherigen Verteidigung des Simonides-Gedichts offen zugestanden hat, erklärt er sich bereit, nun eine „eigene“ Auslegung vorzustellen: Doch was Simonides zu beabsichtigen scheint in diesem Lied, bin ich bereit, dir zu sagen, wenn du eine Probe von mir bekommen willst, wie es um mich steht, wie du das nennst, in Gedichten.60
Man könnte meinen, daß es Sokrates jetzt ernst ist:61 Als Ziel der Auslegung wird jedenfalls eben das benannt, was nach der Skizze einer rhapsodischen im Ion und auch nach der interpretationstheoretischen Bemerkung des Protagoras das Ziel zu sein hat: die , die , des Dichters.62 Führt Sokrates, nachdem er bislang nur die sophistische Interpretationsmethode des Protagoras mit der ebenfalls sophistischen Interpretationsmethode des Prodikos konfrontiert hat, nun seinen eigenen philosophisch-dialektischen Auslegungsstil vor?63 Läßt ihn Platon in praxi vorführen, was es heißt, die 60 Prot. 341 e 7 – 342 a 2:
! " #$ % & ' ( !) * + – Erinnert Sokrates zu Beginn seiner „eigenen“ Simonides-Auslegung an Protagoras’ Formulierung von der „ , !) * “ (vgl. Prot. 338 e 6 – 339 a 3), dann
ist m. E. der Verdacht naheliegend, daß Sokrates im folgenden kein praktisches Exempel philosophisch-dialektischer Interpretationskunst, sondern die Gewalt sophistischer Rede demonstrieren will, wie sie auch dem Philosophen als Mittel des Streites zur Verfügung steht. Sokrates’ Dichterauslegung wird dabei – im Rahmen des Agon – unter Beweis stellen, daß er den Sophisten auch in eristisch geführten Streitgesprächen zu schlagen vermag, daß er ihm sogar im genuin sophistischen Metier der Dichterauslegung überlegen ist. Kurz: Der Dialektiker beherrscht die Waffen der Sophisten besser als die Sophisten selbst. Vgl. Frede 1985 / 86, S. 736: „Socrates gets the opportunity to demonstrate that he is quite capable oft the sophists’ celebrated art of interpreting poetry and why he, nevertheless, considers it as worthless.“ 61 Vgl. Frede 1985 / 86, S. 740: „I would call this section ‚Socrates’ serious interpretation‘ not to rule out that the text contains comic elements, nor to imply that Socrates really thinks that he is rendering Simonides’ own intentions. Rather he imposes, consciously and forcefully, his own tenets of the poem.“ 62 Auf das Ziel der Interpretation, auf die - des Dichters, kommt Sokrates auch ganz am Ende seiner Auslegung zu sprechen. Vgl. Prot. 347 a 3-5: „Das scheint mir, Prodikos und Protagoras, sprach ich, Simonides damit zu beabsichtigen, daß er dieses Lied gedichtet hat.“ ( (- . /!, ) /! ',! 0 '1
( 2 3 4) 63 Bernd Manuwald (1999, S. 316) scheint in seinem Kommentar zum Protagoras diese Frage zu bejahen: „Wenn Sokrates im Unterschied zur Widerspruchsjägerei des Protagoras nach seiner ‚Verteidigung‘ des Gedichts eine Gesamtinterpretation geben will, mit dem
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
255
eines Dichters interpretativ zu erarbeiten und zu vermitteln? Wer die Worte, mit denen Sokrates seine „eigene“ Auslegung einleitet, genauer betrachtet, muß skeptisch werden: Gerade vor dem Hintergrund der diskutierten gesprächstheoretischen Streitfrage wirkt es merkwürdig, daß Sokrates eine lange Rede ankündigt und seine Zuhörer um Geduld bittet, und in der Tat wird seine Auslegung deutlich länger ausfallen als die von Sokrates zu Beginn der gesprächstheoretischen Intermezzo als makrologisch angefeindete Rede des Protagoras.64 Eine dialektische Dichterauslegung müßte, wie Sokrates’ gesprächs- und interpretationstheoretische Überlegungen vermuten lassen, notwendig brachylogischen Charakter haben. Im gesprächstheoretischen Agon hat Sokrates – als entschiedener Verfechter der – gegen den energischen Widerstand des Protagoras durchgesetzt, daß im weiteren Verlauf des Gesprächs brachylogisch verfahren werden soll. Warum also wechselt er ohne Not den Stil, warum bietet er seinen Mitunterrednern eine Dichterauslegung an, die den monologisch-makrologischen Charakter einer trägt?65 Beachtung verdient auch die vorsichtige Formulierung, die Sokrates wählt, um die Zuhörer auf die anstehende einzustimmen: So werde ich denn, sprach ich, was zumindest mir richtig scheint für dieses Lied, versuchen, euch vorzutragen.66 Ziel herauszuarbeiten, was Simonides eigentlich ausdrücken wollte (...), so läßt er einen methodisch grundsätzlich anderen Ansatz im Umgang mit Dichtung erkennen (...)“ Diese Aussage Manuwalds ist m. E. jedoch dahingehend zu präzisieren, daß Sokrates zwar proklamiert, die des Simonides herausarbeiten zu wollen, daß er in der konkreten Durchführung der Auslegung aber, ohne sich sonderlich um die des Simonides zu sorgen, nur die eigenen artikuliert. Der „andere Ansatz“ wird erkennbar in der Theorie, nicht aber in der Praxis der Interpretation. 64 Sokrates’ „eigene“ Simonides-Auslegung umfaßt nach der Stephanus-Paginierung die Passage Prot. 342 a 6 – 347 a 5 (!), Protagoras’ Rede dagegen nur die Passage Prot. 334 a 3 – c 6. Die Simonides-Auslegung des Sokrates ist eines also mit Sicherheit nicht: ein Exempel für die von Sokrates grundsätzlich geforderte dialektische . Vgl. Wilamowitz-Moellendorff 1918 / 19 b, S. 149. 65 Die Spannung zwischen der von Sokrates geforderten Kurzrede- und der praktizierten Langredeform ist spätestens dann nicht mehr zu übersehen, wenn Sokrates in seiner nochmals auf die Vorzüge der zu sprechen kommt (vgl. Prot. 342 d 4 – 343 b 5). Allerdings ist einzuschränken, daß zwischen der sokratischen Kurzredeform und der in Sparta ausgeübten Kurzredeform ( ), von der in Sokrates’ die Rede ist, eine entscheidende Differenz besteht: Nur der sokratischen ist Dialogizität zuzugestehen. Wer dagegen gemäß der verfährt, äußert einen einzigen kurzen Ausspruch, durch den er „wie ein schrecklicher Speerwerfer“ (Prot. 342 e 3) seinen (Gesprächs-)Gegner niederstreckt. 66 Prot. 342 a 6 f.: ! " # $ % &'" ( '" )"# *#+
256
3. Die Praxis der Interpretation
Sokrates erhebt dezidiert nicht den Anspruch, in seiner folgenden SimonidesAuslegung ein Wissen, eine , zur Schau zu stellen. Allen , die im Rahmen der Interpretation geäußert werden, ist nur der Status einer
zuzuschreiben. Ob es sich im konkreten Fall um eine wahre oder um eine falsche Meinung handelt, kann Sokrates, der hier jeden Wissensanspruch ablehnt, als bloß Meinender konsequenterweise nicht wissen. Daß Sokrates den -Charakter der Dichter-Auslegung betont, steht m. E. sowohl mit der von Sokrates an dieser Stelle ausnahmsweise praktizierten epideiktischen Vortragsweise als auch mit den Eigenschaften in Zusammenhang, die prinzipiell jeder Dichterauslegung eignen. Würde Sokrates im Fall seiner SimonidesAuslegung Anspruch auf eine erheben, dann käme er rasch in Konflikt mit seinen eigenen gesprächs-, erkenntnis- und argumentationstheoretischen Überzeugungen: Ein Wissensanspruch muß nach sokratischem Selbstverständnis im kritischen Prüfgespräch argumentativ ausgewiesen werden. Dies setzt die Möglichkeit zum und damit den brachylogischen Charakter des Prüfgesprächs notwendig voraus. In den Frühdialogen läßt Platon Sokrates nur in wenigen Ausnahmefällen eine zum Vortrag bringen, Sokrates spricht in der Regel zwar viel, aber immer nur sehr kurz. Verzichtet Sokrates gerade im Rahmen einer Dichterauslegung auf den üblicherweise praktizierten brachylogischen Gesprächsstil, so liegt die Vermutung nahe, Platon habe mit dieser besonderen Inszenierung der Redehandlung einen indirekten literarischer Hinweis geben wollen: Sokrates bietet den Gesprächspartnern deshalb keine argumentative Ausweisung seiner Interpretation, sondern eine , eine Schau- und Prunkrede sophistischer Natur, weil er weiß, daß es von der eines Dichters prinzipiell keine geben kann und die Möglichkeit des im Rahmen einer Dichterauslegung grundsätzlich ausgeschlossen werden muß. Betrachten wir nun, zu welchen Ergebnissen die von Sokrates proklamierte Suche nach der des Dichters kommt. Zu unterscheiden sind dabei (1) die Aussagen über den Zweck bzw. die Absicht des Gedichts von (2) den Aussagen über den Inhalt bzw. den Behauptungsgehalt des Gedichts. Zu (1): Simonides verfolgt nach Sokrates in seinem Gedicht vor allem den Zweck, einen berühmten Ausspruch des großen Pittakos – „Schwer ist es, edel zu sein“67 – zu Fall zu bringen:
67 Prot. 343 b 7:
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
257
Simonides jedenfalls, ehrgeizig nach dem Ruhm der Weisheit, erkannte, wenn er diesen Ausspruch umwerfe wie einen berühmten Wettkämpfer und überwältige, werde er selbst berühmt sein unter den Menschen.68
Sokrates spricht hier nicht nur über den agonalen Charakter, der Simonides’ Pittakos-Auslegung bestimmt, sondern weist auch entlarvend auf die signifikanten Merkmale der eben vorexerzierten Auslegungspraxis des Protagoras hin, ohne sie explizit zum Thema zu machen. Die aufmerksameren unter den Zuhörern werden ohnehin bemerken, daß sich die von Protagoras betriebene sophistische Dichterauslegung in ihren Motiven kaum von der unterscheidet, die Sokrates dem Simonides zuschreibt. In beiden Fällen handelt es sich um von Ruhmsucht initiierte Spielarten des Agon. Die häufige Verwendung von Metaphern, die dem Kampfsport entstammen, ist daher nicht von ungefähr. Der Dichter wird von sophistischen Interpreten wie Simonides und Protagoras als eine Autorität begriffen, die es – mit welchen eristischen Mitteln auch immer – zu überwinden gilt. Interpretation, wie sie von Protagoras und Simonides betrieben wird, bedeutet Kampf. Dichter und Interpret stehen sich als Kontrahenten gegenüber. Gelingt es dem Sophisten, in diesem ungleichen Duell von Interpret und Interpretiertem69 den Sieg davonzutragen, so stellt er damit seine eigene sophistisch-streitkünstlerische Überlegenheit, nach Protagoras’ Verständnis sogar seine eigene überlegene , unter Beweis. Die des Dichters interessiert den sophistischen Interpreten offensichtlich kaum: Zwar wird sie als Bezugsgröße in Anspruch genommen – der Sophist mißt sich an der des Dichters, deren er zu bestreiten versucht –, doch ob ihre tatsächliche interpretative Erarbeitung überhaupt gelungen ist, bleibt sekundär. Worauf es dem Sophisten vorrangig ankommt, ist, daß das ! " # $% &' ( " ) * '! (" (# ( + , ) '- . – Vgl. auch Prot. 344 b 4 f., wo Sokrates
68 Prot. 343 b 6 – c 3:
erneut hervorhebt, daß die Absicht des Dichters vor allem in der Widerlegung des Pittakeischen Ausspruches bestehe und durch das ganze Lied hindurch verfolgt werden könne. ((...) * /0 # 1 2 " 3 4 $+
5 # " 6 .) 69 Friedländer (1964 b, S. 19) spricht hier vom Sophisten, der „seinen Witz an den Worten des wehrlosen Dichters <übt>.“ Ungleich ist dieser Zweikampf im Sinne des platonischen Sokrates deshalb, weil der Dichter in der Regel nicht anwesend ist, um seinem gegen die Angriffe des sophistischen Interpreten und Kritikers zu Hilfe kommen zu können (vgl. auch unten S. 288). Im konkreten Fall von Protagoras’ Simonides-Auslegung hat Simonides’ Text immerhin das Glück, daß zwar nicht sein „Vater“ Simonides, wohl aber der anwesende Sokrates die Rolle des helfenden Advokaten übernimmt. Allerdings ist doch mehr als fraglich, ob die 7, deren 8' Sokrates zu verteidigen gedenkt, in der Tat die 7 des Simonides ist.
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3. Die Praxis der Interpretation
eigene Publikum – in der Öffentlichkeit des Agons – den Eindruck gewinnt, die des Dichters sei durch die des Interpreten bezwungen worden. Was zählt, ist der Sieg über eine gegnerische Behauptung. Ob die Behauptung auch wirklich die des interpretierten Dichters ist, erscheint dagegen marginal. Der Dichter wird nur gebraucht, um durch seinen gesellschaftlichen Rang der angegriffenen und bezwungenen Behauptung Gewicht und der angreifenden und bezwingenden Behauptung ein noch größeres Gewicht zu verleihen. Zu (2): Die inhaltliche Position, die Sokrates – in seiner proklamierten Erarbeitung der poetischen – Simonides zuschreibt, trägt die Züge der sokratischen Wissensethik: Denn so ungebildet war Simonides nicht, daß er behaupten könnte, er lobe den, der freiwillig nichts Schlechtes tut, als gäbe es manche, die freiwillig Schlechtes tun. Denn ich glaube beinahe dies: kein kluger Mann meint, irgendein Mensch verfehle sich freiwillig und verübe Schändliches und Schlechtes freiwillig, sondern sie wissen genau, daß alle, die das Schändliche und Schlechte tun, es unfreiwillig tun; weshalb denn auch Simonides nicht dessen, der nichts Schlechtes freiwillig tut, Lobredner zu sein behauptet, sondern über sich selbst sagt er dieses ‚freiwillig‘.70
Ausgerechnet den „para-doxen“, den gegen die herrschenden Meinungen gerichteten Grundsatz der eigenen Wissensethik – „Niemand begeht freiwillig Unrecht“ –, stellt Sokrates hier als eine allgemein anerkannte dar.71 Auf diese Weise karikiert Sokrates die zuvor präsentierte Interpretationsmethode des Protagoras, die mit dem gesunden Menschenverstand operiert und dem Dichter vorschreibt, was er vernünftigerweise nur hat meinen bzw. behaupten können. Wie zuvor der Sophist, so nimmt jetzt Sokrates ein Wissen um den gesunden Menschenverstand in Anspruch. Dem Leser des Dialogs aber 70 Prot. 345 d 6 – e 6:
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1964 b, S. 20: „Das Ganze (...) ist ein kurzer Abriß dessen, was man die sokratische Wissensethik nennt, und kein aufmerksamer Leser kann sich dem Eindruck entziehen, daß er hier – wenn auch unter der Verhüllung sophistischer Methode und willkürlich fälschender Interpretation – durch Sokrates hingezogen wird zu einer Lehre, die in sich etwas Wesentliches bedeutet.“ 71 Vgl. Manuwald 1999, S. 349 und Taylor 1976, S. 147: „Socrates’ claim that this thesis is universally accepted by the wise is ironically, as it was generally regarded as outrageously implausible (e. g. Gorg. 475 e, Ar. EN VII.2, 1145 b 25-8).“
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
259
wird klar, daß Sokrates’ Wissensethik weder die herrschende Meinung noch die Auffassung des Simonides ist. Um einen nicht ganz unbedenklichen Ausdruck zu verwenden: Platon läßt Sokrates seine eigene Wissensethik in das Gedicht „hineinlesen“.72 Sokrates ironisiert die sophistische Manier, mit Gedichten zu verfahren, indem er ganz augenscheinlich eigenes Gedankengut in dem Gedicht „entdeckt“, wobei es ihm – trotz der selbst artikulierten Vorgabe, nach der des Dichter suchen zu wollen – ganz gleichgültig scheint, was Simonides nun „wirklich“ gedacht und behauptet hat. Eine mit Blick auf die agonale Struktur des Gesprächs bemerkenswerte Folge der eigenwilligen Simonides-Auslegung ist, daß Sokrates, der durch Protagoras in die Rolle des Advokaten gezwungen wurde, nun im Grunde nicht mehr die Position des ihm als sophistisch geltenden Simonides, sondern die eigene verteidigt. Die Tatsache, daß Protagoras die des Simonides in ihrer attackierte, ehe geklärt war, worin diese denn eigentlich besteht, konnte sich Sokrates in seiner Verteidigung offenbar gut zu nutze machen. Was Sokrates’ Interpretation von der des Protagoras und der des Hippias unterscheidet, ist also nicht, daß sich Sokrates in der Tat um die des Simonides bemühen würde, sondern daß er – im Wissen, daß sich Dichterauslegung wegen der Unzugänglichkeit der poetischen prinzipiell nicht zureichend betreiben läßt, – die sophistische Interpretationsmethode durch ihre übertriebene Anwendung bloßstellt:73 Was den sophistischen Interpreten interessiert, ist stets, wie die Werke der Dichter für die eigene Absicht genutzt werden können. Während Sokrates in seiner interpretationstheoretischen Skizze im Ion der Interpretation die intentio auctoris als Ziel vorgibt,
72 Vgl. Taylor 1976, S. 145 f.: „Socrates’ interpretation of these lines in terms of his own thesis that goodness consists in knowledge is clearly anachronistic and whimsical. (...) Socrates’ assimilation oft the Poet’s thought to one of its own theses involves a blatant perversion of the plain sense of the poem.“ Vgl. Friedländer 3 1964 b, S. 20: „Bei alledem kommt nun die sokratische Gedichterklärung der des Sophisten an Willkür gleich, übertrifft sie nur noch durch die Folgerichtigkeit, mit der der Redner alles in seinem eigenen Sinne mißdeutet.“ Was Sokrates in der Interpretation des Skolions als des Simonides „entdeckt“, ist nichts anderes als die eigene . Hans-Wolfgang Krautz spricht treffend vom „sokratisch stilisierte Simonides“ (Krautz 1987, S. 203) Vgl. auch Frede 1985 / 86, S. 745 f., Nestle 8 1978, S. 56 und Wilamowitz-Moellendorff 1918 / 19 b, S. 151. 73 Vgl. Taylor 1976, S. 148: „In representing Socrates as wrenching the poem from this historical context in order to interpret it in the light of his own, quite different, interests, Plato presumably intends to point out a fault in the methods of interpretation which he judged characteristic of the sophists.“ Diese Aussage Taylors ist m. E. durch den Hinweis zu radikalisieren, daß nach Platon alle Formen der Interpretationspraxis, auch die des Sokrates (vgl. Frede 1985 / 86, S. 746), als sophistisch stigmatisiert sind, da es ihnen unmöglich ist, der des Dichters auf die Spur zu kommen.
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3. Die Praxis der Interpretation
versucht der Sophist – entgegen der eigenen Verlautbarung, gleichfalls die intentio auctoris erarbeiten zu wollen – die eigene intentio lectoris durchzusetzen. In seinem interpretatorischen Geschäft erkennt der Sophist keine durch die intentio auctoris gezogenen Grenzen an. Selbst der traditionelle Ethiker Aischylos kann, wie Sokrates in der Politeia74 zeigt, sophistisch vereinnahmt werden: Aus Aischylos’ schlichter Forderung, der Gerechte müsse nicht nur gut scheinen, sondern auch in der Tat gut sein, wird durch einen sophistischen Kunstgriff das Lob der Ungerechtigkeit vor der Gerechtigkeit. Die schwierige, nach Sokrates notwendig vergebliche Suche nach der intentio auctoris wird von dem pragmatischen Sophisten, der nur seine eigene intentio lectoris durchsetzen will, erst gar nicht in Angriff genommen. Was der Text zu sagen hat, weiß der Sophist noch ehe er in den Text gesehen hat: Der Text sagt natürlich das, was der Sophist will, daß er sagt. Wie Sokrates’ Skizze eines philosophischen Idealbegriffs der Interpretation im Zusammenhang dialektischer Wahrheitsbemühung zu sehen ist, so die Interpretationspraxis der Sophisten im Kontext antilogischer Eristik: Dichterinterpretation bzw. -gebrauch ist dem Sophisten eine vorzügliche Möglichkeit, intellektuell zu polemisieren und die Autorität eines altehrwürdigen Dichters in konkreten Streitsituationen zur Stärkung der eigenen Position zu nutzen. Dabei wird das Dichterwort erst vom Sophisten mit der für die aktuelle Auseinandersetzung gerade geeigneten Bedeutung versehen und für die eigenen Zwecke funktionalisiert.
3.1.4 Sokrates’ Urteil über die Dichterauslegung als Form der Gesprächsführung Weder durch die ermüdende Länge noch durch die offensichtliche Willkür von Sokrates’ Simonides-Interpretation ist den im Gespräch anwesenden Sophisten die Lust an der Dichterauslegung zu nehmen. Kaum hat Sokrates seine beendet, bietet Hippias, der auf den ironischen Charakter von Sokrates’ Interpretation nicht aufmerksam geworden ist und nur lobende Worte für sie findet,75 eine eigene Auslegung epideiktischen Charakters an: 74 Vgl. Rep. II 360 e 1 – 362 c 8. – Vgl. dazu Pfister 1947, S. 185 ff. 75 Mit Prodikos und Hippias führt Platon zwei Gesprächsteilnehmer vor, die durch die sokratische Ironie aufs Glatteis geführt werden: So wenig Prodikos bemerkt, daß Sokrates seine Synonymik in karikierender Weise zur Anwendung bringt und dem Spott preis gibt, so wenig bemerkt Hippias die demonstrativ aufgezeigte Willkür der sokratischen , die nur vorgibt, sich um die des Dichters zu bemühen. Rezeptionstheoretisch gewendet: Mit Prodikos und Hippias präsentiert Platon zwei Interpretations-
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
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Und Hippias sagte: Gut, scheint mir, Sokrates, hast auch du über das Lied disputiert; es gibt allerdings, sprach er, auch von mir eine Erörterung darüber, die gut paßt, die ich euch zur Schau stellen will, wenn ihr wollt.76
Alkibiades jedoch möchte auf die Anhörung jeder weiteren gerne verzichten und entgegnet trocken: „Ja, mein Hippias, ein andermal bestimmt.“77 Wenn Alkibiades Hippias’ Angebot einer Dichterauslegung im Stile einer öffentlichen ausschlägt, befindet er sich in der Nachfolge des Sokrates, der im Ion – wie wir gesehen haben – rhapsodische Kostproben gleich mehrmals ablehnt.78 Im Unterschied zum dialektischen
, das gerade in einem „Schema des Gebens und Nehmens“79 situiert ist und dem perspektiven des inszenierten Gesprächs, die vom Leser so genau nicht eingenommen werden sollen. Platons Dialogregie führt dem Leser also nicht nur Sokrates im Gespräch, sondern auch gleich Reaktionen auf Sokrates’ Gesprächsführung vor, mit denen sich der Leser aber keineswegs identifizieren, von denen er sich vielmehr distanzieren soll. – Vgl. Frede 1985 / 86, S. 733: „Socrates’ interpretation of Simonides’ poem seems to win the approval of the audience; but he himself immediately brushes aside, almost rudely, the whole enterprise of interpreting poetry: it seems to him the business of ‚symposia of low types ... who have nothing of their own to say‘ (347 c).“ 76 Prot. 347 a 6 – b 2: 77
! " ##$% & #'( )! *+ , - &.+ / 01#%2 Prot. 347 b 3: 34#05 6 7 !% ( – Vgl. Manuwald
1999, S. 354: „Durch das Angebot des Hippias, ebenfalls einen Vortrag über das Gedicht des Simonides zu halten, droht einen Augenblick die Gefahr, daß sich das Gespräch in eine Serie von Reden auflöst – und gleichzeitig ins inhaltlich Beliebige abgleitet: (...) Aber ein Hinweis des Alkibiades (...) auf die früher (338 d – e) getroffene Vereinbarung genügt, diese Gefahr zu bannen. Der Sieg der dialogischen über die epideiktische Form ist damit endgültig.“ 78 Vgl. auch den oben (S. 86) herausgestellten literarischen Kunstgriff Platons, der den erdes Sophisten spielen läßt, sten Hippias vor und den zweiten Hippias nach einer selbst nicht zur szenischen Darstellung kommt. so daß die 79 R. Marten 1965, S. 28: „Vorläufig ist als Schema des Gebens und Nehmens festzuhalten: Das, was zu geben ist, wird gefordert. Das Fordern ist erforderlich auf Grund einer Differenz, auf Grund eines Anspruchs, auf Grund einer Angemessenheit. Das Geben gibt auf Grund einer Forderung. Das Geben ist bei allem Gefordertsein frei, insofern die Forderung der Sache nach angemessen, ihr Anspruch begründet und sie wegen der Differenz nötig ist. Wozu das Geben gefordert ist, ist sein eigenes Interesse an dem Verhältnis, in das es als Geben gehört. Das Geben gewinnt – der Erfordernis entsprechend – das ihm gehörige Verhältnis, insofern ein Nehmen erfolgt. Im Nehmen erfüllt sich das Geben als solches. Im Geben wird dem Fordern stattgegeben. Im Nehmen wird dem Geben stattgegeben. Im Nehmen ist das Verhältnis vollständig, ist es ein szs. geschlossenes: Das Verhältnis, das wie in der Differenz weggewesen ist, ist – durch das Geben eingelenkt – im Nehmen in sich selbst zurückgekehrt.“ Vgl. auch S. 35: „Die Platonische Dialektik gibt jedoch mit der Weise, wie sie im Dialog basiert, zu erkennen, daß und wie der Logos – philosophisch – sowohl gegeben als auch genommen wird. Das Geben des Logos ist oh-
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3. Die Praxis der Interpretation
„Fordern“ des eine zentrale Rolle zuschreibt, scheint das auf keine Forderung oder Bitte erfolgende, auf keine Frage antwortende und daher recht aufdringlich wirkende Angebot einer stets zur Unzeit zu erfolgen. Damit steht die in engem Bezug zum sophistischen , für den gerade das isolierte Geben bzw. das isolierte Nehmen kennzeichnend ist.80 Im Gesprächsverhalten von Sokrates und Alkibiades zeigt sich mehr als nur die persönliche Abneigung dieser Dialogfiguren gegen eine rhapsodischer bzw. sophistischer Manier: Wer wie Ion oder Hippias in krasser Fehleinschätzung der konkreten gesprächspragmatischen Situation eine geben will, die keiner der anwesenden Unterredner gefordert hat und auch keiner fordern will, kann nicht damit rechnen, daß seine angenommen und gewürdigt wird. Auch ein argumentativer muß, selbst wenn er die Wahrheit sagt, solange isoliert und als sophistisch stigmatisiert bleiben, wie er nicht einem Fordern entspricht und auf ein Nehmen vertrauen darf. Da ein in Abhängigkeit von den eben herrschenden Gesprächskonditionen an der Zeit sein oder nicht an der Zeit sein kann, ist dem Sprecher eine situative Anwendungskompetenz abverlangt, auf die Sokrates, wie oben gezeigt, im Rahmen des Entwurfs einer idealen Rhetorik im Phaidros ja auch explizit zu sprechen kommt. Nach einer kurzen Erinnerung des Alkibiades an die ausgehandelten gesprächstheoretischen Vereinbarungen, nach denen sich Sokrates so lange befragen lassen muß wie Protagoras ihn befragen möchte, dann aber wieder selbst die Rolle des Fragenden übernehmen darf,81 spricht Sokrates sein abschließendes Urteil über die Dichterauslegung, wobei erneut der gesprächstheoretische Kontext deutlich wird, innerhalb dessen die Dichterauslegung hier debattiert und praktiziert wird. Hatte Protagoras die Dichterauslegung als zentralen Teil der gepriesen, so vergleicht Sokrates diese besondere Form der Gesprächsführung provokativ mit den Symposien ungebildeter Menschen. Wer seine (Gesprächs-)Zeit mit Dichterauslegung verbringt, dokumentiere nicht – wie Protagoras meint – seine Bildung, sondern gerade seine Unbildung: Auch scheint mir ja das Diskutieren über Dichtung am ähnlichsten zu sein den Trinkgelagen gewöhnlicher und hergelaufener Leute. Denn auch sie pflegen, weil sie nicht in der Lage sind, sich miteinander aus sich selbst heraus zu unterhalten beim Umtrunk, auch nicht durch ihre eigene Stimme und ihre eigenen Gedanken, ne Nehmen desselben – auf das Ganze gesehen – ‚unlogisch‘, dialoglos. Das gilt ebenso, wenn anstatt vom ‚Logos‘ von ‚Vernunftgrund‘ oder ‚Rechenschaft‘ die Rede ist.“ 80 Vgl. Marten 1965, insbes. S. 62-85. 81 Vgl. Prot. 347 b 3-7.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
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aus Unbildung, die Flötenspielerinnen teuer zu machen, mieten für viel Geld die fremde Stimme der Flöten, und nur durch deren Stimme unterhalten sie einander.82
Sokrates’ Vergleich ist gut gewählt, schließlich fungiert die zeitgenössische „Institution ‚Symposion‘ “ als „Vorführ-Ort, Experimentier-Raum, Umschlagplatz und Transportmittel für die entstehende Literatur.“83 Wie Latacz ausführt, bildete „das Trinken nur den Hintergrund (...) für das entweder durch den Sängervortrag ( ) oder durch eigenes Geschichten-Erzählen und Geschichten-Anhören der Teilnehmer ( , , ) (...).“84 Während in Latacz’ Beschreibung „Sängervortrag“ und „eigene“ Beiträge der Symposiasten problemlos neben- und miteinander stehen, insistiert Sokrates auf einer scharfen Trennung zwischen der eigenen Stimme und den eigenen Gedanken der Symposiasten auf der einen Seite und der fremden Stimme und den fremden Gedanken des Dichters auf der anderen Seite. Als polemisches Mittel mag diese Trennung dienlich sein: Sokrates kann der Dichterauslegung vorwerfen, daß sie nur Ausdruck einer Mangelsituation sei, daß es von einem Defizit an eigenen Denkmitteln zeuge, wenn sich die Gesprächspartner die Stimme und die Gedanken eines Dichters ausborgen müssen. Doch genau besehen wird diese Art sokratischer Polemik in ihren inhaltlichen Aspekten der Dichterauslegung, wie sie der Dialog in praxi vorgeführt hat, nicht gerecht. Dies gilt insbesondere für die möglichen Angriffspunkte. Denn Interpretationen, wie sie Protagoras oder Sokrates nach Art des Prodikos praktizieren, sind genau nicht geprägt durch die fehlenden „eigenen“ Gedanken der Interpreten, sondern im Gegenteil: durch den fehlenden „fremden“ Gedanken des Dichters. Was der Interpretation mangelt, ist die rational ausweisbare Erarbeitung der des Dichters. Präziser läßt sich der Sachverhalt bestimmen, wenn man – anders als Sokrates – zwischen „Stimme“ und „Gedanken“ differenziert: Die sophistische Interpretation ist dadurch 82 Prot. 347 c 3 – d 2:
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83 Latacz 1990, S. 228; vgl. auch S. 236: „Dichtung war seit jeher durch mündlichen Vortrag vor versammeltem Publikum veröffentlicht und durch Zirkulation eher der Produzenten als der Produkte verbreitet worden.“ Vgl. Kannicht 1980, S. 10: „Hinzu kommt nun aber, daß diese Poesie (im Gegensatz zur esoterischen frühen Prosa) von Homer an mit tausend Fäden an Funktionen repräsentativer Öffentlichkeit geknüpft und daß die primäre Form ihrer Vermittlung bis tief in das 5. Jh. herab mündlicher Vortrag und aktuelle Aufführung in der Öffentlichkeit war.“ 84 Latacz 1990, S. 230.
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3. Die Praxis der Interpretation
gekennzeichnet, daß sie sich nicht den „fremden Gedanken“, wohl aber die fremde „Stimme“ des Dichters leiht, um gerade den „eigenen Gedanken“ wirkungsmächtig propagieren zu können – entweder durch die Affirmation des Dichters, so daß die eigene Position von der Autorität des Dichters profitiert, oder aber durch ihre Negation, so daß die eigene Position als eine erscheint, die noch stärker ist als die bislang als Autorität geachtete. Daher ist zu konstatieren, daß Sokrates’ Urteil über die sophistische Dichterauslegung zwar in seiner Tendenz durchaus ernstzunehmen ist – Sokrates betrachtet die sophistische Dichterauslegung in der Tat als philosophisch höchst unzureichende Art der Gesprächsführung –, daß aber zugleich die Begründung, die hier für dieses Urteil gegeben wird, problematisiert werden muß. Wie die Inszenierung sophistischer Praktiken der Dichterauslegung im Protagoras deutlich gemacht hat, ist es nicht das Fehlen der der Interpreten, sondern vielmehr das Fehlen der des Dichters, was die sophistische Interpretation aus der Sicht des am interessierten Philosophen zu einem verantwortungslosen Treiben, zu einer und werden läßt. Gegen die von Sophisten präferierte Dichterauslegung stellt Sokrates – das Bild vom Symposion beibehaltend – die von ihm selbst bevorzugte Kommunikationsform: Wo aber vorzügliche und tüchtige Trinkgenossen und gebildete sind, da sähst du wohl weder Flötenspielerinnen noch Tänzerinnen noch Harfenspielerinnen, sondern Leute, die fähig sind, sich mit sich selbst zu unterhalten, ohne diese Albernheiten und Kindereien, durch ihre eigene Stimme, die abwechselnd reden und einander gesittet zuhören, auch wenn sie sehr viel Wein getrunken haben.85
Die Art von Gesprächsführung, die Sokrates hier im Blick hat, wird zwar nur dezent angedeutet, aber gleichwohl wird klar, daß der von Selbstbeherrschung und guten Gesprächsmanieren geprägte, brachylogische im Hintergrund steht. Gebildete Menschen lassen – wie auch das platonische Symposion86 zeigt – keine Flötenspielerinnen auf ihren Festen und keine Dichter bei ihren philosophischen Gesprächen zu. Dialektische Naturen reden rein aus sich selbst miteinander, um die Wahrheit und sich selbst zu erforschen. Sie 85 Prot. 347 d 3 – e 1:
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86 Die Flötenspielerin wird von den Symposiasten, die es unternehmen, den Eros auf eigene Weise zu loben, weggeschickt und kehrt erst mit dem betrunkenen Alkibiades wieder zurück (vgl. Symp. 176 e 4-10, 212 c 6-8).
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
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bleiben ganz beim „Eigenen“, d. i. bei der eigenen Vernunft. Von einer philosophisch adäquaten Gesprächsführung ist – nach dieser Vorstellung – also prinzipiell der Ausschluß der Dichter und Rhapsoden zu fordern, um den Platz offen zu halten für die eigenen Gedanken und die eigene dialektische Wahrheitsbemühung. Vor dieser Folie eines ganz dem verpflichteten dialektischen Gesprächsideals bringt Sokrates nun einen weiteren, uns bereits vertrauten Kritikpunkt an der Dichterauslegung zur Sprache: So bedürfen auch solche Unterhaltungen wie diese hier, wenn sie solche Männer erfaßt, wie es die meisten von uns zu sein behaupten, überhaupt nicht der fremden Stimme, auch nicht der Dichter, die man nicht darüber ausfragen kann, worüber sie reden, weil die meisten sie als Zeugen anführen in ihren Gesprächen: die einen behaupten, dies meine der Dichter, die andern jenes, weil sie über eine Sache diskutieren, die sie außerstande sind durchzuprüfen. Vielmehr lassen sie derartige Unterhaltungen sein, unterhalten sich selbst mit und durch sich selbst, wobei sie mit ihren eigenen Gesprächen einander auf die Probe stellen und sie ablegen. Solche Leute, scheint mir, sollten ich und du eher nachahmen, die Dichter beiseite legen und aus uns selbst miteinander Gespräche führen, indem wir die Wahrheit und uns selbst auf die Probe stellen.87
Der Kritikpunkt, den Sokrates mit diesen Worten ausführt, ist der entscheidende: Es ist unmöglich, die Dichter über das zu befragen, was sie in ihren Gedichten behauptet haben. Ohne die Präsenz des Dichters zum Zeitpunkt der Rezeption ist die Dialogizität nicht gegeben, die zum Verständnis seiner vorausgesetzt werden muß. Der Streit zwischen den Interpreten, was der Dichter denn behauptet habe, d. h. welche Interpretation sich die des Dichters in der Tat zureichend erarbeitet hat, läßt sich nie zu Ende führen. Denn schlichten und entscheiden könnte hier nur, wer selbst den Anspruch, die des Dichters zu kennen, argumentativ ausweisen könne. Diese Fähigkeit aber wird durch Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation gerade ausgeschlossen. 87 Prot. 347 e 1 – 348 a 6:
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3. Die Praxis der Interpretation
Es ist wichtig zu sehen, daß die philosophisch attackierte methodische Unzulänglichkeit der Dichterauslegung in der Abwesenheit des Dichters zum Zeitpunkt der Rezeption begründet ist. Dabei ist die Frage, ob die Dichtung dem Rezipienten medial mündlich oder medial schriftlich präsentiert wird, zweitrangig. Denn die medial mündliche Homer-Rezitation durch einen Rhapsoden und die Lektüre der Ilias oder der Odyssee sind in dem Punkt geeint, daß ein Gespräch zwischen Rezipient und Dichter ausgeschlossen ist. Der Produzent, der „Vater“ des ,88 ist nicht selbst anwesend, seine
wird zwar vermittelt – über das Medium „Text“ oder über das Medium „Rhapsode“ – doch dies auf eine Art, die eine kritische Nachprüfbarkeit, ob das Vermittelte wirklich der des Dichters entspricht, gerade ausschließt. Wichtiger als die Medialität ist demnach die Dialogizität, ohne die der Zugang zur des Dichters nicht möglich ist. Kommen wir zum Fazit: Im Protagoras präsentiert Platon Sokrates als Interpreten. Doch die Art der Dichterauslegung, die Sokrates hier demonstriert, entspricht keineswegs seinem Idealbegriff der Interpretation. Der Grund, warum sich die von Sokrates im Protagoras praktizierte Interpretationsmethode nicht dezidiert von den Praktiken der Sophisten unterscheidet, liegt zum einen in dem angestrebten Nachweis, daß sich die Sophisten in keiner Weise um die des Dichters bemühen, zum anderen in der Unmöglichkeit, eine philosophisch-dialektische Dichterauslegung, wie Sokrates sie in seinem Entwurf einer normativen Interpretationstheorie konzipiert, zu praktizieren. Wirft Sokrates den Sophisten vor, daß sie nicht nach der des Dichter suchen, sondern die eigene in das Gedicht „hineinlesen“, dann ist dieser Vorwurf vor dem Hintergrund zu sehen, daß sich eine andere, dem Idealbegriff der Interpretation korrespondierende Methode der Dichterauslegung zwar „erdenken“, nicht aber konkret ausführen läßt. Die interpretative Erarbeitung der „fremden“ ist einerseits – vor dem Hintergrund es Idealbegriffs – verlangt, stellt aber andererseits – wegen der fehlenden Dialogizität in Rezeptionssituationen – ein aussichtsloses Unterfangen dar. Zwar ist es durchaus möglich, daß der Dichter in bestimmten Rezeptionssituationen selbst anwesend ist, doch selbst in diesen Ausnahmefällen bleiben zwei weitere Probleme bestehen: (1) Der Dichter muß nicht nur anwesend, sondern auch zum dialektischen bereit und befähigt sein. (2) Der Dichter kann sich der , die er im Gedicht vertreten hat, in Rezeptionssituationen, die zeitlich nach der Produktion liegen, nur als Interpret, nicht aber als Dichter (als Produzent) nähern. 88 Vgl. insbes. Phdr. 275 e 3-5 und unten Kap. 4.1.
3.1 Die Simonides-Auslegung im Protagoras
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Berücksichtigt man den größeren gesprächstheoretischen Kontext, innerhalb dessen die Dichterauslegung als Form der Gesprächsführung zu betrachten ist, dann zielt die Kritik des Sokrates v. a. darauf, daß die Sophisten in ihrer Interpretationspraxis mit dem prinzipiell nicht einzulösenden Anspruch auftreten, sie wüßten um die des Dichters. Sokrates kritisiert die sophistische Dichterauslegung als eine besondere, philosophisch angreifbare Art von Kommunikation. Es geht nicht darum, daß man die Dichter so auslegen soll, wie es der Idealbegriff der Interpretation fordert. Dieser Forderung nämlich kann in praxi unmöglich entsprochen werden. Vielmehr geht es darum, daß man Gespräche auf andere Weise führen soll als die Sophisten. Und dazu gehört der Verzicht auf sophistische Dichterauslegungen, die aus philosophischer Perspektive als unverantwortbares, mit Autoritätsargumenten operierendes Geschäft stigmatisiert sind. Für Sokrates besteht die also nicht in der in praxi durchzuführenden Methode der idealen Interpretation, sondern in einer anderen Form der Gesprächs- und Gedankenführung, in dem durch Dialogizität geprägten, das ermöglichenden . Zwar bewerten Sokrates und Protagoras in ihren Stellungnahmen die Dichterauslegung als Form der Gesprächsführung sehr unterschiedlich, doch sind sie sich einig in der Forderung, daß die des Dichters dasjenige darstellt, was es interpretativ zu erarbeiten gilt. Während Sokrates explizit behauptet, daß die des Dichters dem Interpreten gar nicht zugänglich ist, zeigt Protagoras in seiner Auslegungspraxis, daß er sich selbst an dieser – nach Sokrates unlösbaren – Aufgabe auch gar nicht versucht, sondern sich vorrangig um die Frage kümmert, wie sich eine bestimmte, einem Dichter mutwillig zugeschriebene Aussage – zum größeren Ruhm des Interpreten – widerlegen läßt. Die Unmöglichkeit einer philosophisch verantwortbaren, an der intentio auctoris orientierten Interpretationspraxis ist dem Sophisten kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil: Gerade weil das einzige, was der Interpretation im Sinne des Sokrates Halt gewähren und Einhalt gebieten könnte – die des Dichters – unerreichbar ist, eignet sich die Dichterauslegung in ihrer Virtualität für sophistische Zwecke. Sokrates und Protagoras proklamieren also beide, daß sich der Interpret an der des Dichters auszurichten habe, obgleich sie im Rahmen der eigenen praktischen Dichterauslegung gerade nicht der intentio auctoris nachspüren. Sokrates und Protagoras begreifen Dichtung als komplexe Behauptung, als Theorie. Sokrates scheint in diesem Punkt jedoch konsequenter. Seine soeben dargestellte gesprächstheoretische Stellungnahme gegen die Dichterauslegung plädiert letztlich dafür, die Frage nach einer des Dichters im Rahmen von Gesprächen, wie Gebildete sie führen, doch ganz beiseite zu las-
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3. Die Praxis der Interpretation
sen. Statt sich um das müßige Geschäft der Dichterauslegung zu kümmern, sollte man besser gleich die konkreten Behauptungen auf ihren Gehalt und ihren Wahrheitswert hin überprüfen. Protagoras dagegen kommt es nur vordergründig auf die inhaltliche Prüfung der Theorien an. Obwohl es dem Sophisten im Grunde ebenso gleichgültig ist wie Sokrates, ob eine bestimmte Theorie nun zu Recht einem bestimmten Dichter zugeschrieben werden kann, motivieren ihn gesprächspragmatische Gründe, daran festzuhalten, daß diese Theorie wirklich die Theorie eines großen Dichters ist: Kann der Sophist im Streitgespräch nämlich eine Theorie überwinden, die als eigene Theorie einer etablierten Autorität gilt, dann verspricht dieser Triumph einen ungleich höheren Prestigegewinn als der Sieg über eine namenlose Theorie. Der schon hier zu bemerkenden Differenz, die zwischen Sokrates’ Desinteresse an der intentio auctoris und dem sophistischen Desinteresse an der intentio auctoris – besteht, ist im nun folgenden Kapitel genauer nachzugehen. Wenn Sokrates Dichterinterpretation als eine philosophisch nicht zu verantwortende Art der Gesprächsführung begreift, dann ist zwar verständlich, warum er im von Platon inszenierten Gespräch mit Protagoras ein entlarvendes Zerrbild sophistischer Auslegungspraktiken demonstriert, unklar bleibt aber weiterhin, warum er auch in vielen anderen Gesprächssituationen immer wieder auf die Worte der Dichter zu sprechen kommt, warum er sie so häufig und nicht selten zustimmend zitiert.89 Wäre es nicht – gerade nach seinen eigenen Worten – konsequenter, im ernsthaften philosophischen Gespräch ganz auf die Anführung von Dichterworten zu verzichten? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, weitere Beispiele für Interpretationspraxis in den platonischen Dialogen im Detail zu untersuchen. Dabei soll zunächst durch die Auslegung einer Partie aus dem Hippias Maior gezeigt werden, wie und aus welchen Motiven heraus ein typischer Sophist mit Homer verfährt, ehe wir uns – unter Beachtung dieses zusätzlichen Vergleichspunktes – weiteren Fällen der Interpretationspraxis zuwenden, die Platon seinen Sokrates an den Tag legen läßt.
89 Vgl. Barmeyer 1968, S. 170: „(...) er (sc. Platon) selbst beruft sich manchmal auf die von ihm sonst so angefeindeten Dichter (z. B. auf Homer: Politeia 404 b – c / 441 b – c; auf Pindar: Menon 81 b / Nomoi 690 c).“
3.2 Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras
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3.2 Sophistische und sokratische Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras 3.2.1 Ein Beispiel für das sophistische im Hippias Maior Ein konkretes, allerdings nicht vollständig ausgeführtes Beispiel für die – im Ion als begrifflich gefaßte – sophistische Auslegungspraxis findet sich im Hippias Maior,90 wo Platon den eitlen Sophisten Hippias mit seinen zahllosen Fähigkeiten prahlen läßt. Als sich Sokrates von Hippias’ Mnemotechnik aber nicht sonderlich beeindruckt zeigt und seine Vielwisserei gar mit den zahlreichen Märchen vergleicht, die alte Ammen so anmutig erzählen können, trumpft Hippias mit einem weiteren Vermögen auf: Neulich habe er mit viel Erfolg in Sparta über die richtige Erziehung junger Menschen gesprochen. Eine gar herrliche Rede ( ),91 die ihm insbesondere sprachlich, aber natürlich auch in jeder anderen Hinsicht, ausgezeichnet gelungen sei, habe er über dieses Thema verfaßt. In gewohnter Weise vermeidet es Platons Dialogregie, den Leser mit der gesamten sophistischen zu behelligen. Doch erfahren wir immerhin einiges über die Einkleidung ( ) und den Anfang ( ) dieser Rede, die Hippias unter sehr freiem Rückgriff auf homerische Motive gestaltet hat. Hippias läßt Neoptolemos, den Sohn des Achilles, nach der Einnahme Trojas, die in der Ilias92 selbst gar nicht mehr dargestellt wird, den greisen Nestor fragen, welchen Beschäftigungen ein junger Mann nachgehen soll, um berühmt zu werden. Daraufhin, so Hippias, stelle er Nestor „redend“ dar93 und lasse ihn dem Neoptolemos mit viel gar Löblichem und gar Gutem ( ) Antwort geben. Welche guten Lebensregeln es genau sind, die Nestor dem Neoptolemos mit auf den Weg gibt, erfahren wir schon nicht mehr, jedenfalls sind es die richtigen und – natürlich – viele. Vor dem Hintergrund dieser Passage wird aber deutlich, daß das sophistische 90 Vgl. insbes. Hipp. ma. 286 a 3 – c 1. 91 Hipp. ma. 286 a 5. 92 Das Thema der Ilias ist bekanntlich nicht der gesamte Trojanische Krieg, sondern der Zorn ( ) des Achilles, der mit der öffentlichen Beleidigung durch Agamemnon beginnt und mit der Herausgabe der Leiche Hektors endet. Vgl. Voit 2 1961, S. 896-903. 93 Die Formulierung „ (...)“ (Hipp. ma. 286 b 2 f.) ist m. E. so zu verstehen, daß Hippias an dieser Stelle nicht mehr narrativ verfährt, sondern zur dramatischen Form wechselt und, nachdem er zunächst die Situation des Gesprächs und die Frage des Neoptolemos aus der Erzählperspektive dargestellt hat, nun Nestor als dramatis persona selbst zu Wort kommen läßt.
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nur einen recht losen Bezug zu den homerischen Epen knüpft. Neben der Szenerie stellen Homers Epen dem Hippias ein Personeninventar zur Verfügung, das für vielerlei Zwecke eingesetzt werden kann, z. B. den Greis, dessen Erfahrung und Lebensweisheit hochgeschätzt wird, und den jungen Mann, der voller Ehrgeiz ist und nicht hinter den großen Leistungen des Vaters zurückstehen will.94 Eine Figur wie Nestor, die Homer sehr vielschichtig gezeichnet hat, wird von Hippias offenbar nicht als ein durch besondere Eigenheiten bestimmtes Individuum begriffen, sondern eher als ein allgemeines Muster, gleichsam als im Sinn Theophrasts. Statt Nestor könnte Hippias in diesem Sinne also ebenso gut den wohlwollenden, lebensweisen Greis auftreten lassen. Doch gibt es – wie gleich zu zeigen ist – einen entscheidenden Grund, warum es der Sophist doch vorzieht, gerade eine Figur Homers zu bemühen. Die Gedanken zur rechten, zur ruhmreichen Lebensführung, die Hippias seinem Nestor in den Mund legt, entsprechen wohl kaum den Überzeugungen, die der Nestor der Ilias im Rat vertritt und in der eigenen Lebensführung dokumentiert. Statt dessen wird Hippias die Autorität dieser homerischen Figur, die wiederum durch die Autorität des Dichters Homer gesichert ist,95 nutzen, um die eigene sophistische Ethik zu propagieren. Aus den homerischen Epen lassen sich – nach Einschätzung des Sophisten – brauchbare Idealtypen gewinnen, die den zeitgenössischen Rezipienten wegen der kaum zu überschätzenden Wirkungsmacht Homers bestens vertraut sind. Würde Hippias eine eigene literarische Figur, eine allegorische Gestalt oder einen namenlosen Idealtypus kreieren und diesen zum Sprachrohr seiner Anschauungen machen, so ginge eben dieser Autoritätsbonus verloren. Durch die mutwillige Übernahme homerischer Figuren aber kann der Sophist an der Autorität Homers partizipieren. Damit stehen wir erneut vor dem Ergebnis, daß ein selbsternannter Lobredner Homers im Grunde nur sich selbst lobt, daß der Schüler Homers dessen Autorität gerade für eigenes Gedankengut in Anspruch nimmt, das sich so nicht auf Homer zurückführen läßt.96 94 In der Ilias wird Neoptolemos im übrigen nur zweimal kurz erwähnt (XIX 326, XXIV 467), zwar wird er eine zentrale Rolle bei der Zerstörung Trojas spielen, doch während der Ereignisse, von denen die Ilias berichtet, weilt er noch als Kind bei seiner Mutter. 95 Die Figur des Nestor kommt dem Hippias deshalb so gelegen, weil Homer, der als Dichter selbst die größte Autorität genießt, eben dieser Figur die größte Autorität im Rat der Männer zuspricht. 96 Vgl. oben Kap. 2.2.2. – In ähnlicher Weise macht sich auch der Sophist Kallikles im Gorgias (484 b 1 – 486 d 1) die großen Dichter zu nutze, wenn er Homer, Pindar (vgl. auch Legg. IV 714 e 6 – 715 a 2) und Euripides auf eigenwillige Weise auslegt, um seine
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Vor dem Hintergrund der oben dargestellten interpretationstheoretischen Überlegungen kann eines jedenfalls mit Sicherheit festgehalten werden: In seinem eigenen praktischen Umgang mit den Epen Homers verfolgt der Sophist Hippias nicht den Zweck, die Homers interpretativ zu erarbeiten und sie seinen Rezipienten mitzuteilen. Ihm geht es vielmehr darum, die eigenen wirkungsvoll in Szene zu setzen, dabei kommt ihm die große Autorität Homers gerade recht. Wenden wir uns nach der Betrachtung sophistischer Interpretationspraktiken nun der Frage zu, wie Platon seinen Sokrates in Dialogen, die nicht wie die behandelte Protagoras-Passage ganz durch die Form der Dichterauslegung bestimmt sind, mit Dichtung umgehen läßt.
3.2.2 Sokrates’ Interpretation von Homer und Hesiod im Lysis Der platonische Sokrates greift im Gespräch sehr häufig auf Worte unterschiedlicher Dichter97 zurück, ohne dabei allerdings längere Dichterauslegungen vorzuführen. Die Regel bilden kurze Zitate oder Paraphrasen, die von Sokrates sofort in die aktuellen Sachdiskussionen eingebunden werden. In seinen detaillierten Untersuchungen über Homerzitate bei Platon hat Gerhard Lohse gezeigt, daß sich Platon allein auf Homer an insgesamt 152 Stellen bezieht. „Davon enthalten die 80 grösseren Zitate von mindestens einem Hexameter insgesamt 32 geänderte Zitate mit zusammen 45 Änderungen. Das heisst, dass 40% der 80 grösseren Zitate von Platon umgeändert worden sind.“98 Lohse stellt resümierend fest, „dass Platon durchaus nicht buchstabengetreu aus seinem Homer zitierte, dass er vielmehr nicht nur in Paraphrasen, sondern auch in direkten Zitaten bewusst Eingriffe in den Wortlaut und sogar in das Sinngefüge der zitierten Homerverse vornahm.“99 Berücksichtigt man, daß die Homerzitate Platons stets in den Äußerungen seiner Dialogfiguren und vorrangig in denen des platonischen Sokrates zu finden sind, so läßt sich vor dem Hintergrund von Lohses Analysen konstatieren, daß sich Sokrates in seinen Homerzitaten ebenso wenig um die Homers schert wie er sich Attacke gegen Sokrates’ philosophische Lebensform auf anerkannte Autoritäten stützen zu können. 97 Neben Homer, den er außerordentlich häufig anführt, zitiert Sokrates auch gerne Hesiod (vgl. Symp. 178 b 5-7), Epicharm (vgl. Gorg. 499 b 9 – c 7 und Gorg. 505 e 1 f.), Pindar (vgl. Men. 81 b 8 – c 4), Aischylos (vgl. Euthd. 291 c 7 – d 3, Rep. II 383 b 2-9) und Euripides (vgl. Gorg. 492 e 10 f.). 98 Lohse 1967, S. 226 f.; vgl. auch Lohse 1964, S. 3. 99 Lohse 1967, S. 226, vgl. auch Lohse 1965, S. 251 und S. 281.
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im Rahmen der Simonidesauslegung im Protagoras um die des Simonides kümmert. Lohse spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer ‚Pietätlosigkeit‘, mit der Platon (in meinem Sinne: der von Platon präsentierte Sokrates) Homerverse seinen eigenen Wünschen anpasse.100 Es wäre ermüdend und für die Auslegung auch nicht sonderlich fruchtbar, hier – über Lohses Untersuchungen der Homerzitate hinaus – eine vollständige Auflistung und Aufarbeitung aller Dichterzitate des Sokrates anzustreben. Daher ziehe ich es vor, mich auf die ausführliche Darstellung zweier Dialogpartien zu beschränken, bei denen sich exemplarisch beobachten läßt, wie Sokrates im Gespräch mit Dichtung verfährt. Die erste Dialogpartie stammt aus dem Lysis, die zweite aus dem Menon. Im Lysis unterbreitet Sokrates – nachdem alle bisherigen Versuche, im Gespräch eine zureichende Antwort auf die Frage „Was ist Freundschaft ( )?“ zu finden, gescheitert sind – seinen Mitunterrednern den Vorschlag, die Sache nun „anhand der Dichter“101 zu untersuchen. Die Dichter werden als die „Väter und Führer in der Weisheit“102 bezeichnet; wer sich mit einem Thema wie „Freundschaft“ befaßt, kann sich – so Sokrates – auf die guten Ausführungen der Dichter verlassen.103 Während des bisherigen Gesprächs waren insbesondere das Verhältnis zwischen Freunden, das Verhältnis zwischen Feinden und die Frage nach der Reziprozität dieser Verhältnisse thematisiert worden. Im weiteren Gespräch wird es nun darum gehen, ob nur gute oder ob auch schlechte Menschen einander freund sein können. An den Beginn dieser neuen Gesprächsrunde stellt Sokrates ein Zitat aus der Odyssee,104 das besagt, daß ein Gott Ähnliches stets dem Ähnlichen zugeselle. Sokrates versteht das Homer-Zitat zunächst ganz im Sinne des allgemeinen Grundsatzes „Ähnliches zum Ähnlichen“ ( ). Da nicht nur Gutes dem Guten, sondern auch Böses dem Bösen ähnlich ist, behauptet Homer105 – nach dieser Auslegung des Sokrates – die beiden folgenden Thesen: 100 101 102 103
Vgl. Lohse 1964, S. 16, vgl. auch Lohse 1967, S. 224. Lysis 213 e 5 – 214 a 1: (...) [ ] Lysis 214 a 1 f.: Daß Sokrates die Dichter als Autoritäten einführt, ist natürlich nicht ernst gemeint. Die im Gespräch geleistete Sachuntersuchung zeigt, daß die Aussagen der Dichter angreifbar und in zentralen Punkten präzisierungsbedürftig sind. Auffällig ist weiter, daß Sokrates neben den Dichtern auch die „Schriften sehr weiser Männer“ ( !! ") als Autorität bemüht (vgl. Lysis 214 b 2 f.). Man muß nicht erst auf den Phaidros blicken, um die offensichtliche Ironie in Sokrates’ Lob der Dichter und der sophistischen Schriften zu bemerken. 104 Lysis 214 a 6 (nach Od. XVII 218): # $ % &# ' # $ 105 Daß das entsprechende Zitat aus der Odyssee keine Aussage aus der Erzählperspektive, sondern eine direkte Rede des Odysseus wiedergibt, scheint Sokrates nicht weiter zu
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(A) Das Gute ist dem Guten freund. (B) Das Böse ist dem Bösen freund. Nur der ersten Homer zugeschriebenen These stimmt Sokrates inhaltlich zu, die zweite bestreitet er:106 Schon allein wegen ihrer Neigung, andere Menschen (auch andere böse Menschen) zu beleidigen, ist es ausgeschlossen, daß böse Menschen einander freund sind. Die im Gespräch sofort akzeptierte inhaltliche Kritik an These (B) führt nun zu einem mutwilligen Rückschluß auf die Thesen, die nach Sokrates dem Dichter zuzuschreiben sind: Wer sagt, das Ähnliche sei dem Ähnlichen freund, wolle damit andeuten, daß nur das Gute dem Guten, nicht aber das Böse dem Bösen freund sei. In der ersten Auslegung hat Sokrates Homer die These (A) und die These (B) zugeschrieben, nach der erfolgreichen inhaltlichen Kritik an These (B) versteht er Homer nur noch als den Proponenten von These (A). Sokrates kümmert sich bei dieser Änderung seiner HomerAuslegung weder um den Wortlaut des Homer-Zitats noch um seinen unmittelbaren Kontext, aus dem hervorgeht, daß an der betreffenden Stelle gerade von dem Verhältnis zwischen üblen Menschen, zwischen , die Rede ist.107 Obgleich der Wortlaut des Zitats gleichermaßen an These (A) wie an These (B) denken läßt und sein unmittelbarer Kontext insbesondere These (B) nahelegt, schreibt Sokrates Homer nur mehr These (A) zu: ein schönes Beispiel für die willkürliche Unterstellung einer – in Wirklichkeit von der intentio lectoris bestimmten – poetischen . Warum aber modifiziert Sokrates überhaupt seine Homer-Auslegung? Daß Sokrates Homer von der Schwierigkeit, These (B) verteidigen zu müssen, erlöst und ihn nur mehr auf die These (A) festlegt, hat seinen Grund in der anstehenden argumentativen Auseinandersetzung, die nun – nach der erfolgten Kritik an These (B) – dazu übergeht, auch These (A) anzugreifen.108 Die Homer-Interpretation, die Sokrates zu einem bestimmten Zeitpunkt des stören. Was der Dichter Homer Odysseus behaupten läßt, versteht der Interpret Sokrates als eigene Behauptung Homers. 106 Vgl. Lysis 214 b 7 – d 1. 107 Od. XVII 217-218: | 108 Vgl. Lysis 214 e 2 – 215 c 2. – Sokrates’ Argumentation gegen These (A) interessiert in unserem Zusammenhang weniger, daher soll sie nur kurz wiedergegeben und auch nicht kritisiert werden: Das Gute ist autark. Was autark ist, bedarf keines anderen. Was keines anderen bedarf, wird auch keinem anderen anhängen. Was keinem anderen anhängt, wird auch kein anderes lieben. Was kein anderes liebt, wird auch keinem anderen freund sein. Also: Der Gute kann keinem anderen (auch keinem anderen Guten) freund sein.
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Gesprächs gerade favorisiert, ist offensichtlich nicht an der des Dichters, sondern am jeweiligen Stand der argumentativen Auseinandersetzung mit dem Sachproblem orientiert: Sokrates schreibt Homer genau die These zu, die er jetzt – aus sachlichen Überlegungen heraus – der Kritik unterziehen will. Ob diese These in der Tat der Homers entspricht, kümmert ihn dabei wenig. Homer dient Sokrates sozusagen als eine Art „PropositionenLieferant“, der termingerecht eben die Thesen herbeibringt, die im Rahmen der Sachuntersuchung benötigt werden. Damit stoßen wir auf eine bemerkenswerte Differenz zwischen der sokratischen und der sophistischen Weise, mit Dichtern im Gespräch zu verfahren: Ein Sophist würde sich freuen, wenn er – wie Sokrates in seiner ersten Auslegung – der großen Autorität Homer einen Fehler nachweisen könnte, da er damit die eigene These als die stärkere hätte aufzeigen können.109 Sokrates kommt es dagegen nicht auf die Widerlegung einer These des Homer, sondern schlicht auf die Widerlegung einer These an. Homer erfüllt hier im Grunde nur die Funktion, bestimmte Thesen als diskussions- und kritikwürdig in das aktuelle Prüfgespräch einzubringen. Diese Aufgabe, die Sokrates auch anderen Dichtern gerne überläßt, wird noch deutlicher bei einem Hesiod-Zitat, das von Sokrates kurze Zeit später präsentiert und ebenfalls ganz in den Dienst der zu erörternden Sachproblematik gestellt wird. Nach der Kritik an der These, daß das Ähnliche dem Ähnlichen freund sei, will sich Sokrates nun der ihr entgegenstehenden Behauptung zuwenden, die besagt, daß das Ähnliche dem Ähnlichen feind sei.110 Während die zunächst angeführte These dem allgemein vertrauten -Grundsatz entspricht, erscheint die zweite Behauptung – im Rahmen des griechischen Denkens – zunächst kontraintuitiv. Sokrates braucht also einen Gewährsmann, 109 Für den historischen Protagoras ist nachgewiesen, daß er als Interpret Homers seine eigene mit der Homers gemessen und in dieser Begegnung – jedenfalls nach eigenem Dafürhalten – triumphiert hat. Vgl. Manuwald 1999, S. 307: „Was wir sonst von Protagoras’ Bemühungen um die Dichtung hören, das vermutlich unter den Begriff fällt, schließt sich mit der Simonides-Interpretation durch den Aufweis von Fehlern in der Dichtung zusammen, wenn sie auch inhaltlich anderer Art sind als der für Simonides behauptete. Protagoras hat gleich in den ersten zwei Versen der Ilias zwei Fehler entdeckt: So habe der Dichter im Glauben, eine Bitte auszusprechen, der Göttin eine Anweisung (Imp. ) gegeben (VS 80 A 29), er verstieß also gegen einen korrekten Gebrauch der von Protagoras beobachteten Redeformen Bitte, Frage, Antwort, Auftrag (VS 80 A 1 p. 254, 13 f.). Der Dichter habe ferner als Femininum verwendet ( ), wo doch eigentlich maskuliner Gebrauch ( ) richtig wäre (VS 80 A 28) (...) Er hat also die von Protagoras festgestellte Einteilung in männlich, weiblich und sächlich (VS 80 A 27) nicht richtig beachtet.“ 110 Vgl. Lysis 215 c 3 – 216 b 9.
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dem soviel Autorität zukommt, daß man eine von ihm aufgestellte Behauptung nicht einfach als absurd beiseitestellen kann, sondern genötigt ist, zu prüfen, warum denn eine solche Autorität eine Behauptung aufstellt, der man prima facie keinerlei Plausibilität zugestehen mag. Die Autorität, die im konkreten Gespräch diese Funktion erfüllen kann, ist Hesiod. Schon eine kurze Bemerkung Hesiods zur Konkurrenz zwischen Menschen, die denselben Beruf ausüben,111 genügt Sokrates, um ihn zum Vertreter eben der These zu machen, die er in der anstehenden Sachuntersuchung gerne behandeln will. Daß sich Hesiod wohl nur zu dem eingeschränkten Bereich konkurrierender Berufsgenossen äußern und kaum die allgemeine These aufstellen wollte, daß alles Ähnliche allem Ähnlichen feind sei, hindert Sokrates also keineswegs, ihn zum Proponenten dieser These zu machen. Wieder sorgt sich Sokrates offenbar nicht sonderlich um die des Dichters, dafür aber um den am Problem orientierten, systematisch folgerichtigen Fortgang des Gesprächs. In einer bestimmten Hinsicht geht es allerdings auch Sokrates um die konkrete Konkurrenz, wie sie zwischen Berufsgenossen herrscht. Er versucht nämlich in seiner Auslegung, zwischen den Positionen, die er den beiden Dichtern Homer und Hesiod zuschreibt, eine inhaltliche Spannung entstehen zu lassen. Folgt man Sokrates, dann widersprechen sich die beiden größten Dichter-Autoritäten direkt: Hesiod übt Kritik an der – nach Sokrates’ erster Auslegung – von Homer vertretenen Behauptung, daß alles Ähnliche dem Ähnlichen freund sei; vielmehr sei gerade das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten freund.112 Indem Sokrates zeigt, daß sich die Autoritäten in diesem Punkt widersprechen, macht er deutlich, daß es in keinem Falle ausreicht, bestimmte Aussagen einfach deshalb für wahr zu halten, weil eine bestimmte Autorität sie als wahr hinstellt. Vielleicht behauptet eine andere Autorität ja genau das Gegenteil. Da Dichter wahre, aber auch falsche Aussagen treffen können, bleibt es notwendig, ihre konkreten Aussagen jeweils selbst zu prüfen. Daß die Hesiod zugeschriebene These in direktem Widerspruch zu der problematisierten These Homers steht, bedeutet im übrigen keineswegs, daß sie deshalb schon wahr wäre. Da die Thesen, die Sokrates Homer und Hesiod zugeschrieben hat, nämlich keinen kontradiktorischen, sondern einen konträren Gegensatz bilden, können beide zwar nicht gleichzeitig wahr, wohl aber beide gleichzeitig falsch sein. In der Tat wird es der Hesiod zugeschriebenen
111 Vgl. Lysis 215 c 8 – d 1. 112 Vgl. insbes. Lysis 215 c 4 – 216 a 4.
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allgemeinen These, wonach das Ähnliche dem Ähnlichen feind und das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzte freund ist, im kritischen Gespräch nicht besser ergehen als der zuvor angegriffenen These, wonach das Ähnliche dem Ähnlichen freund sei.113 Sokrates kann im nachweisen, daß beide Thesen falsch sind. Damit hat er nicht nur die Autorität der beiden großen Dichter unterminiert, die sich widersprechen und dabei beide im Unrecht sind, sondern auch in sachlicher Hinsicht gezeigt, daß im Fall des konkret zu behandelnden Themas universal bejahende Sätze nicht weiterhelfen: Weder ist alles Ähnliche allem Ähnlichen freund, noch ist alles Entgegengesetzte allem Entgegengesetzten freund.114 Durch die Weise, wie er Sokrates im Lysis mit den Zitaten von Homer und Hesiod verfahren läßt, macht Platon zum einen deutlich, wie leicht es für geschickte Interpreten ist, den Dichtern eine bestimmte, den eigenen Zwecken verpflichtete mutwillig zuzuschreiben, d. h. wie leicht sich eine intentio lectoris gegenüber der verdeckt bleibenden intentio auctoris durchsetzen kann. Zum anderen macht er auch aufmerksam auf eine dem sokratischen Idealbegriff der Interpretation zwar nicht entsprechende, aber gleichwohl sachlich ergiebige Praxis der Dichterauslegung: Obgleich sich Sokrates im Gespräch offensichtlich nicht um die interpretative Erarbeitung der des Dichters bemüht, ist sein Umgang mit Dichtung philosophisch fruchtbar.115 Denn mit Hilfe der mutwillig ausgelegten Dichter lassen sich genau die Thesen in die argumentative Auseinandersetzung einbringen, die man aus sachlichen Überlegungen heraus gerade benötigt.116 Dabei kann auch das113 Vgl. Lysis 216 a 4 – b 9. 114 Vgl. Lysis 216 b 8 f.:
115 Der Sokrates, den Xenophon in den Memorabilien auftreten läßt, scheint ähnlich wie der platonische Sokrates die Werke der Dichter ohne großes Interesse an der intentio auctoris, dafür aber mit stark sach- und problemorientiertem Engagement zu rezipieren. Es kommt ihm weniger darauf an, was der Dichter wirklich behauptet hat, als vielmehr darauf, ob das, was der Dichter vielleicht behauptet hat, etwas taugt: „Auch die Schätze der alten Weisen, welche diese in Büchern schriftlich aufgezeichnet und hinterlassen haben, rolle ich auf und gehe sie gemeinsam mit meinen Freunden durch, und wenn wir etwas Gutes finden, so greifen wir es heraus und halten es für einen guten Gewinn, wenn wir einander fördern können.“ (Xenophon, Memorabilien I 6, 14:
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116 Die Fragen, warum man die Thesen denn nicht einfach ohne die Anführung eines Proponenten formuliert und warum die sachlichen Überlegungen die Diskussion bestimmter Thesen nicht hinreichend motivieren, lassen sich am besten mit Blick auf die gesprächspragmatischen Konditionen beantworten: Im Gespräch erweist es sich als hilf-
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selbe Dichterwort – in Abhängigkeit von der jeweiligen Gesprächssituation – zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. So macht Sokrates etwa im Charmides und im Laches von demselben Vers der Odyssee Gebrauch,117 deutet diesen Vers aber auf zwei völlig unterschiedliche Weisen. Seine Interesse richtet sich nicht auf die Frage, was wohl Homer mit diesem Vers gemeint hat, sondern darauf, wie sich dieser Vers im aktuellen Sachgespräch fruchtbar machen läßt. Die Dichter fungieren als „Propositionen-Lieferanten“, die auch kontraintuitive Thesen diskutierbar werden lassen. Der von Sokrates praktizierte Umgang mit Dichtung führt dabei nicht dazu, alten Autoritätsargumenten zu verfallen. Daß eine These von einem Dichter behauptet wird, heißt nur, daß es wert ist, sie kritisch zu überprüfen, es heißt nicht, daß diese These damit auch schon wahr ist. Anders wäre der Widerspruch, in den sich nach Sokrates selbst die größten poetischen Autoritäten verwickeln, ja auch gar nicht erklärbar. Eine Aussage als Aussage eines bedeutenden Dichters ins Spiel zu bringen, verbürgt also nur, daß es sich um eine Behauptung handelt, die von einer geschätzten Autorität vertreten werden kann, die es also wert ist, genauer geprüft zu werden. Die Autorität des Dichters ist keine infallible Instanz, aber auch kein Popanz, sondern bildet eine ernst zu nehmende Position, die als poetische Behauptung kritisiert werden kann und auch kritisiert werden muß. Der philosophisch ergiebige Umgang mit Dichtung, den Sokrates im Gespräch pflegt, obgleich er nicht an der intentio auctoris ausgerichtet ist, begegnet uns wieder bei Sokrates’ Theognis-Interpretation im Menon, wo sich auch der Unterschied gegenüber sophistischen Praktiken, mit Dichtung zu verfahren, noch besser erkennen läßt.
3.2.3 Sokrates’ Theognis-Interpretation im Menon Im Menon118 wendet sich Sokrates kritisch gegen die Elegien des Theognis, da sie ihm einen Widerspruch zu bergen scheinen. Behaupte der Dichter an einer Stelle, die Tugend ( ) sei lehrbar, während er an anderer Stelle ihre Lehrbarkeit gerade bestreite, dann sage er Gegenteiliges über dasselbe aus. reich, bestimmte Thesen bestimmten Autoritäten zuzuschreiben, da manche Gesprächspartner eine These für so abwegig halten, daß es einer Autorität bedarf, um diese These überhaupt als diskussions- und kritikwürdig erscheinen zu lassen. 117 Vgl. Charm. 161 a 2-5 und Lach. 201 a 7 – b 5, wo Sokrates jeweils auf Od. XVII 347 bzw. 352 Bezug nimmt. 118 Zum folgenden vgl. Men. 95 c 8 – 96 a 5.
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An dieser Stelle ist eine kurze Randbemerkung zur Entwicklung der platonischen Prädikationstheorie anzubringen: Die Analyse der Aussage als „etwas-über-etwas-sagen“ ( ), die Jan Szaif in der Prädikationstheorie des Sophistes durchgeführt119 und bereits im Euthydemos – als eine „Reaktion des gesunden Menschenverstandes“120 auf sophistische Fangschlüsse – vorbereitet sieht, findet m. E. ein weiteres Vorspiel in Platons Formulierung der Widersprüche, in die sich Dichter – entweder innerhalb ihres eigenen (als komplexe Behauptung begriffenen) Gedichts oder in der Auseinandersetzung mit anderen Dichtern – verwickelt sehen. Dies gilt für die angeführte Menon-Passage ebenso wie für den Ion,121 in dem Sokrates ausführt, daß es zum einen etwas gibt, über das Homer und Hesiod dasselbe sagen, zum anderen aber auch etwas, über das Homer und Hesiod nicht dasselbe, sondern genau Gegenteiliges sagen. Hier wie dort wird zwischen dem Ausgesagten auf der einen Seite und dem Bezug des Ausgesagten auf der anderen Seite mit Hilfe einer Terminologie unterschieden, die die entsprechenden Ausführungen des Sophistes präludiert.122 Für unseren Zusammenhang ist nun bedeutsam, daß Sokrates den Elegien des Theognis – erstens – überhaupt einen Aussage- und Behauptungscharakter zuschreibt, und daß er die Elegien – zweitens – als eine inkonsistente Theorie begreift, die Gegenteiliges über dasselbe aussagt, d. i. widersprüchliche Behauptungen aufstellt. Damit scheint Sokrates’ Auffassung der Elegien nämlich weitgehend der Kritik zu entsprechen, die der Sophist Protagoras, wie wir oben gesehen haben, an dem Skolion des Simonides übt. In der Tat handelt es sich in beiden Fällen um den Versuch, ein bestimmtes Gedicht als eine komplexe Behauptung zu verstehen, die sich ad absurdum treiben läßt. Berücksichtigt man allerdings die jeweiligen pragmatischen Gesprächskontexte, dann unterscheiden sich die beiden Fälle merklich. 119 Szaif 1996, S. 343: „(...) Aussagen <werden> nicht mehr einfach als ein , sondern als ein betrachtet und das veritative Nichtseins des über etwas Ausgesagten <wird> als eine Relation zwischen Seienden konzipiert (...). Durch diese analytische Betrachtungsweise des Ausgesagten wird es ihm (sc. Platon) gelingen, den Gesichtspunkt des Bezogenseins der Aussage auf Seiendes von dem des veritativen Seins oder Nichtseins des Ausgesagten zu dissoziieren, indem er jenes ‚Etwas‘, worauf die Aussage bezogen ist, genauer als das Worüber der Aussage faßt und davon das Ausgesagte und dessen nur relationales veritatives Nichtsein im Falschheitsfalle unterscheidet.“ Vgl. auch Szaif 1996, S. 488. 120 Szaif 1996, S. 342. 121 Vgl. Ion 531 a 5 – b 3. 122 Vgl. insbes. Men. 96 a 3 f.:
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Denn anders als Protagoras im gleichnamigen Dialog geht es Sokrates im Menon gerade nicht darum, die eigene Autorität (bzw. die Autorität der eigenen Auffassung) dadurch zu stärken, daß er eine bereits etablierte Autorität überwindet. Der Widerspruch, in den sich Theognis verstrickt, ist nach Sokrates symptomatisch für die Schwierigkeit des im Gespräch zu erörternden Sachproblems:123 Sowohl die Sophisten, die sich selbst – jedenfalls zum Teil124 – als Tugendlehrer und als Fachleute in Sachen verstehen, als auch die wirklich tugendhaften Menschen, die im Rahmen der Praxis in der Tat als Fachleute begriffen werden können, äußern sich einmal so, einmal anders zu der Frage nach der Lehrbarkeit der . Die konstatierte Verwirrung der Fachleute führt Sokrates nicht dazu, eine eigene Behauptung zur Lehrbarkeit der über die „besiegte“ Auffassung der Experten zu stellen, sondern motiviert die weitere umsichtig fragende Untersuchung des Sachproblems: Da sich die Experten selbst uneinig sind, wie es sich mit der Lehrbarkeit der verhält, ist die eigene kritische Untersuchung dieser Frage angesagt. Damit entpuppen sich die prima facie gleich aussehenden Vorgehensweisen von Sokrates und Protagoras, die sich ja beide nicht um die des Dichters kümmern und poetische Werke als inkonsistente Theorien auffassen, wegen der Zwecke, die gesprächspragmatisch jeweils verfolgt werden, als höchst unterschiedlich. Während Protagoras einen Widerspruch in dem Gedicht des Simonides aufweisen will, nur um der eigenen Behauptung durch einen Triumph über die bisherige Autorität zu größerem Ansehen zu verhelfen, stellt Sokrates klar, daß es auf dem zu debattierenden Gebiet der gar keine Autorität gibt, auf deren Auskünfte man sich vertrauensvoll verlassen könnte. Sowohl Sokrates als auch Protagoras stürzen die alte Autorität der Dichter, doch im Unterschied zu Protagoras, der umgehend eine neue Autorität – nämlich sich selbst – zu etablieren sucht, verzichtet Sokrates auf die Einsetzung einer neuen Autorität, um dafür das eigene kritische Denken der Gesprächspartner einzufordern.125 Versucht Protagoras’ Vorgehen die Erörterung eines Sachproblems mit autoritärem Gestus abzuschließen, so will 123 Vgl. insbes. Men. 95 c 7-10 und 96 a 6 – b 8. 124 Während etwa Protagoras und Hippias den Anspruch vertreten, die lehren zu können, lehnt Gorgias, wie sein Schüler Menon stolz bemerkt, diesen übertriebenen Anspruch ab und beschränkt sich darauf, die „Gewalt der Reden“ („ “) zu lehren (Men. 95 c 1-4, vgl. auch Gorg. 449 a 2 – b 3 und Prot. 338 e 6 – 339 a 1). Hierbei ist allerdings fraglich, ob diese Einschränkung ernst gemeint ist: Den bei ihm zu lernenden nämlich traut Gorgias nicht weniger als alles zu. 125 Hier läßt sich freilich einwenden, daß Sokrates auf diese Weise doch einer neuen Autorität den Weg ebnet, die allerdings nicht – wie die bisherige – inhaltlicher, sondern methodischer Natur ist: Das Vertrauen gilt nicht mehr bestimmten Aussagen, die man
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3. Die Praxis der Interpretation
Sokrates’ Vorgehen die Erörterung eines Sachproblems durch die Überwindung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten neu eröffnen. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse sollen nun mit Hilfe der von Umberto Eco entlehnten terminologischen Unterscheidung zwischen Interpretation und Gebrauch von Dichtung präziser formuliert werden.126 Für die weiteren Ausführungen gilt dabei die folgende Sprachregelung: Von „Interpretation“ resp. „Dichterauslegung“ ist ab sofort nur noch dann die Rede, wenn die von Sokrates geforderte, auf die intentio auctoris gerichtete Auslegungskunst bezeichnet wird. Als allgemeiner und – hinsichtlich der Zielvorgabe der des Dichters – neutraler Begriff dient der Ausdruck „Umgang mit Dichtung“, der neben „Interpretation“ bzw. „Dichterauslegung“ auch „Gebrauch von Dichtung“ in sich begreift. Der Ausdruck „Gebrauch von Dichtung“ bildet den Gegenbegriff zu „Interpretation“ und bezeichnet einen Umgang mit Dichtung, der sich nicht an der intentio auctoris als Zielvorgabe orientiert, sondern den eigenen Zweck des Interpreten, die intentio lectoris, verfolgt. Das unten stehende Schema soll die Begriffsregelung veranschaulichen: Umgang mit Dichtung Interpretation / Dichterauslegung intentio auctoris
Gebrauch von Dichtung intentio lectoris
Wenn Sokrates im Protagoras auf das Skolion des Simonides, im Lysis auf Homer und Hesiod oder im Menon auf die Elegien des Theognis Bezug nimmt, sorgt er sich dabei nicht weiter um die des Dichters. In praxi ist Interpretation, wie sie von Sokrates in seiner Skizze einer idealen Auslegungskunst erdacht und gefordert wird, in der Tat unmöglich. Was Sokrates selbst im Rahmen seiner konkreten Dichterauslegungen treibt, ist keine Interpretation und streng genommen noch nicht einmal der Versuch einer Interpretation: Sokrates bemüht sich ja ebenso wenig wie die Sophisten, die intentio auctoris interpretativ zu erarbeiten. Damit muß sowohl Sokrates’ als auch sicher für wahr hält, sondern dem Vermögen der untersuchenden Vernunft, das einem sagt, was man von solchen Aussagen zu halten hat. 126 Ich übernehme von Umberto Eco (vgl. insbes. Eco 1987, S. 72-74 und Eco 1990, S. 47 f.; vgl. auch Richard Rortys Kritik an Ecos Unterscheidung: Rorty 1992, S. 103 f.) zwar die Ausdrücke „Gebrauch von Dichtung“ und „Interpretation von Dichtung“, nicht aber seine Definition dieser Ausdrücke. Da dieses Begriffspaar im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine interpretationstheoretische Systematik stützen, sondern vorrangig die Funktion erfüllen soll, die Platonauslegung sprachlich zu präzisieren, ziehe ich es vor, die Begriffe in einer eigenen, im Haupttext explizierten Sprachregelung einzusetzen.
3.2 Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras
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Hippias’ und Protagoras’ praktischer Umgang mit Dichtung aufgrund des offensichtlichen Desinteresses an der des Dichters jeweils als bloßer Gebrauch von Dichtung begriffen werden. Nimmt man den Idealbegriff der Interpretation als Kriterium, so sind der sophistische Umgang mit Dichtung und Sokrates’ Umgang mit Dichtung zunächst mit demselben Stigma behaftet: dem eklatanten Desinteresse an der intentio auctoris, die doch gerade das argumentativ auszuweisende Ziel der Interpretation darstellen soll. Kurz: Sophistischer und sokratischer Umgang mit Dichtung sind darin geeint, daß es sich jeweils um bloßen Gebrauch von Dichtung und nicht um Interpretation handelt. Sokrates und die Sophisten betreiben keine der intentio auctoris verpflichtete Dichterauslegung, sondern gehen auf freie Weise mit Dichtung um, d. h.: sie machen sich Dichtung für ihre eigenen gesprächspragmatisch verfolgten Zwecke, für ihre jeweilige intentio lectoris, nutzbar. Die Frage, welche Zwecke Sokrates und die Sophisten nun konkret verfolgen, wenn sie im Gespräch von Dichtung Gebrauch machen, führt uns einen wichtigen Schritt weiter. Genau an diesem Punkt zeigt sich nämlich die entscheidende Differenz zwischen dem Umgang mit Dichtung, den Sokrates pflegt, und dem Umgang mit Dichtung, den die Sophisten praktizieren. Zwar sind beide Umgangsweisen mit Dichtung als Gebrauch von Dichtung zu charakterisieren, doch unterscheidet sich das Wozu des Gebrauchs, den Sokrates von der Dichtung macht, signifikant von dem sophistischen: Verwenden Protagoras und Hippias Dichterzitate als (positive oder negative) Autoritätsargumente, um Streitfragen zum eigenen Sieg zu entscheiden und das eigene Renommee zu verbessern, so nutzt Sokrates die von ihm angeführten Dichterworte – wie wir gerade bei der Theognis-Passage im Menon sehen konnten – nicht zur Beendigung, sondern als Anstoß, als Bereicherung, als Weiterführung oder tiefergehende Problematisierung der am Sachproblem orientierten Auseinandersetzung.127 Allgemein gesprochen: Während der so127 Wie die Theognis-Passage im Menon gezeigt hat, unterscheidet sich eine philosophische intentio lectoris von einer sophistischen grob gesprochen dadurch, daß sie die Erörterung des Sachproblems nicht durch Autoritätsargumente erschwert, sondern durch die Aufdeckung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten befruchtet. Vor gewisse Probleme stellt uns allerdings Sokrates’ Simonides-Auslegung im Protagoras, da man dort den Eindruck gewinnen kann, daß Sokrates Dichtung nicht auf philosophische, sondern auf sophistische Weise gebraucht. Ehe man Sokrates einen sophistischen Umgang mit Dichtung zum Vorwurf macht, sollte man aber genauer auf die für den Gebrauch maßgebliche intentio achten. Sokrates kann nicht nur ironisch gemeinte Thesen behaupten, er kann auch ironisch gemeinte Gesprächsformen praktizieren: Seine intentio im Rahmen der Simonides-Auslegung läuft letztlich darauf hinaus, die sophistischen Gebrauchsweisen von Literatur durch übertriebene Anwendung zu karikieren und zu kritisieren. Insofern kann seine intentio auch im Protagoras durchaus als philosophische begriffen werden.
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3. Die Praxis der Interpretation
phistische Gebrauch von Dichtung allein sophistischen Zwecken dient, ist der sokratische Gebrauch von Dichtung vorrangig der eigenen philosophischdialektischen Zielsetzung verpflichtet. Das entscheidende Kriterium, das es erlaubt, zwischen sokratischem und sophistischem Gebrauch von Dichtung zu unterscheiden, liegt also in der – den jeweiligen Gebrauch motivierenden und orientierenden – intentio lectoris. Der Unterscheidung zwischen einer sophistischen und einer philosophischen intentio lectoris entsprechend ist das oben dargestellte Begriffsraster weiter auszudifferenzieren: Umgang mit Dichtung Interpretation / Dichterauslegung intentio auctoris
Gebrauch von Dichtung intentio lectoris Philosophische intentio lectoris
Sophistische intentio lectoris
Es muß jedoch davor gewarnt werden, die Bedeutung des philosophischen Gebrauchs von Dichtung im Rahmen gesprächstheoretischer Überlegungen zu überschätzen. Der Philosoph kann im Gespräch mit weniger philosophischen Gesprächspartnern gut beraten sein, zu den Worten der Dichter Zuflucht zu nehmen, etwa um auf Vorverständnisse seiner Gesprächspartner Rücksicht zu nehmen, um die argumentative Auseinandersetzung zu beleben, um Erinnerungen an bestimmte Thesen zu erleichtern, um kontraintuitive Thesen diskussionswürdig werden zu lassen usf. Die Spielarten eines philosophisch brauchbaren Umgangs mit Dichtung sind zahlreich. Festzuhalten aber ist, daß es sich um Spielarten handelt.128 Unter sich werden Dialektiker eine andere Art von Gespräch vorziehen, nämlich ein rein am Inhalt der zu prüfenden Behauptungen orientiertes Fachgespräch, dem es gleichgültig ist, wer die Behauptungen nun schon vertreten und wer sie bestritten hat. Die beiden terminologischen Unterscheidungen – Interpretation vs. Gebrauch, philosophischer Gebrauch vs. sophistischer Gebrauch – bieten die Grundlage zur Lösung des schon mehrfach angesprochenen Problems, warum Grundsätzlich aber ist zu sagen, daß Platon seinen Sokrates natürlich auch „sophistisch“ agieren, daß er ihn Gesprächshandlungen vollziehen lassen kann, die vor dem Hintergrund etablierter gesprächstheoretischer und -ethischer Überlegungen kritisierbar sind. Nur scheint mir dies weder im Menon noch im Protagoras der Fall zu sein. In beiden Dialogen zeigt uns Platon einen Sokrates, der auf philosophisch rechtfertigbare Weise mit Dichtung verfährt. 128 Vgl. die Schriftkritik des Phaidros, die die mediale Schriftlichkeit nur als eine Spielerei ( ) gelten läßt (Phdr. 276 b 1 – d 8, 277 e 5 – 278 b 4).
3.2 Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras
283
Platon seinen Sokrates – trotz des generellen Verdikts über jede Interpretation in praxi – im Gespräch auf Dichter Bezug nehmen läßt. 1.
Der sokratische Idealbegriff der Interpretation fordert eine Dichterauslegung, die sich die intentio auctoris in zureichender, d. h. in konkreten Vermittlungssituationen argumentativ ausweisbarer Weise erarbeitet.
2.
In praxi aber ist der Umgang mit Dichtung, den der sokratische Idealbegriff der Interpretation fordert, wegen der Unzugänglichkeit der des Dichters nicht möglich.
3.
In praxi möglich sind nur verschiedene Weisen des Gebrauchs von Dichtung.
4.
Philosophisch zu kritisieren ist eine bestimmte Gebrauchsweise von Dichtung genau dann, wenn sie eine sophistische intentio lectoris verfolgt.
5.
Philosophisch erlaubt ist eine bestimmte Gebrauchsweise von Dichtung genau dann, wenn sie eine philosophische intentio lectoris verfolgt.
Zusammenfassend kann man daher festhalten, daß Sokrates – trotz der interpretationstheoretisch nachgewiesenen Unmöglichkeit einer Interpretation in praxi – im Gespräch durchaus von Dichtung Gebrauch machen darf, solange die dabei verfolgten Zwecke im größeren Kontext gesprächstheoretischer Überlegungen opportun erscheinen. Die Interpretationstheorie schließt ja nur die Möglichkeit der Interpretation in praxi, nicht aber die Möglichkeit philosophisch auf eigene Weise zu rechtfertigender praktischer Gebrauchsweisen von Dichtung aus. Philosophisch erlaubt ist ein Umgang mit Dichtung allerdings nur dann, wenn er sich nicht als Interpretation selbst mißversteht, sondern als Gebrauch von Dichtung begreift, wenn er seinen Anspruch entsprechend artikuliert und von gesprächspragmatisch verfolgten Zwecken geleitet ist, die sich im Rahmen gesprächstheoretischer Überlegungen als philosophische rechtfertigen können. Doch die Lösung des genannten Problems erzeugt umgehend ein neues: Gelingt es Sokrates nämlich, in der praktischen Gesprächssituation einen Umgang mit Dichtung zu entwickeln, der sich als sachlich fruchtbar und philosophisch legitim verstehen kann, dann stellt sich die Frage, warum Sokrates überhaupt eine derart rigide Interpretationstheorie propagiert. Die Antwort auf diese Frage scheint mir zum einen (a) im Beitrag der Interpretationstheorie zur Klärung der Gesprächspraxis und zum anderen (b) im Argumentationszweck
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3. Die Praxis der Interpretation
einer philosophischen Selbstverständigung zu liegen, die sich der gezielten Absetzung gegenüber der Dichtung bedient. ad (a): Wer im konkreten Gespräch mit Dichtung umgeht, weiß aufgrund der interpretationstheoretischen Überlegungen, daß sein Umgang mit Dichtung niemals Interpretation, sondern stets nur Gebrauch sein kann. Ein Umgang mit Dichtung erscheint also gerade dann problematisch, wenn er mit dem prinzipiell nicht einzulösenden Anspruch auftritt, er könne sich die des Dichters in zureichender, d. h. in argumentativ ausweisbarer Weise erarbeiten. Der Anspruch, Interpretation zu sein, wirkt nicht nur selbstdiskreditierend auf die Gebrauchsweisen von Dichtung zurück, die mit diesem Anspruch auftreten, er wird im Rahmen gesprächstheoretischer Überlegungen auch uninteressant. Denn vor dem Hintergrund des sokratischen Idealbegriffs der Interpretation ist die Frage, wie man sich die des Dichters im konkreten Gespräch erarbeiten kann, schlicht sinnlos. An Gewicht gewinnt dagegen die Frage, wie sich Dichtung in sach- und problemorientierter Hinsicht am besten gebrauchen läßt. Grob gesagt: Die Frage, was der Dichter mit bestimmten denn eigentlich gemeint habe, wird von der Interpretationstheorie als unlösbar betrachtet und ersetzt durch die Frage, ob ein bestimmter , einmal vorausgesetzt der Dichter habe ihn gemeint, wahr oder falsch ist.129 ad (b): Zwar ist die Theorie der Dichterauslegung inhaltlicher Bestandteil einer Theorie über Dichtung. Doch der Zweck der von Platon präsentierten Argumentationen scheint nicht vorrangig der, Dichtung und Dichtungsauslegung besser zu verstehen. Aus dem, was Platon seine Dialogfiguren über diese Themen sagen läßt, soll der Leser vielmehr etwas über Philosophie und Philosophieren lernen. Gegenüber der Dichterauslegung als einer nicht argumentativ verfahrenden Gesprächsführung entdeckt sich die Philosophie in ihrem Vollzugscharakter als dasjenige , das einzigartig durch die Möglichkeit zum ausgezeichnet ist.130 An diesem Ideal einer begründungsfordernden und begründungsgebenden Rede wird die Dichtung, deren Auslegung keine argumentative Rechenschaft geben kann, gemessen und negativ bestimmt.131 129 Nicht nur Sokrates’ eigener praktischer Umgang mit Dichtung, auch seine gesprächstheoretische Stellungnahme nach Ende der Simonides-Interpretation im Protagoras (347 b 8 – 348 a 9) weist in diese Richtung. 130 Treffend ist hier der Titel der Monographie von Armin Müller: „Platons Philosophie als kritische Distanzierung von der Dichtung“. Vgl. Müller 1967, S. 368: „Die Fähigkeit aber, zwischen Gewißheit und Ungewißheit zu unterscheiden, ist nicht Merkmal unkritischer Dichtung, sondern nüchterner Vernunft.“ 131 Führt der platonische Sokrates eine Theorie der Interpretation v. a. zum Zweck einer indirekten philosophischen Selbstbestimmung vor, so ist ein Vorwurf berechtigt, der
3.2 Interpretationspraxis außerhalb des Protagoras
285
Der Blick auf Sokrates’ Gesprächsverhalten hat deutlich machen können, wie ein philosophisch sinnvoller Gebrauch von Dichtung – angesichts der Unmöglichkeit der Interpretation in praxi – konkret aussehen kann. Weitgehend offen geblieben ist allerdings die Frage, wie sich ein solcher Gebrauch von Dichtung theoretisch rechtfertigen läßt. Auf die intentio auctoris kann sich der philosophische Gebrauch von Dichtung jedenfalls eben so wenig berufen wie der sophistische. Soll sich der philosophische Gebrauch von Dichtung argumentativ ausweisen, dann muß seine Rechtfertigung in einer neuen Form des bestehen, die nicht – wie die Interpretation – auf die des Autors, sondern auf eine besonders ausgezeichnete des Rezipienten rekurriert. Der Frage nach den verschiedenen Formen des , die uns in Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation, in seiner Polemik gegen die sophistische und die enthusiastische Weise, mit Dichtung zu verfahren, und schließlich in seinem eigenen Gebrauch der Dichtung immer wieder begegnet sind, soll nun – im Schlußkapitel der vorliegenden Arbeit – genauer nachgegangen werden. In diesem Zusammenhang kann auch gezeigt werden, daß sich über den Begriff des eine – v. a. für die Frage nach der Privilegierung und Problematisierung der intentio auctoris – aufschlußreiche Verbindung herstellen läßt zwischen der Schriftkritik des Phaidros, die ganz auf die mediale Schriftlichkeit zielt, und der Dichterauslegung, die sich hinsichtlich der Medialität des auszulegenden neutral verhält.
den typischen Argumentationsstil insbesondere der platonischen Frühdialoge angreift und sich durch den Hinweis, Dichtung stelle doch stets einen außerordentlich reizvollen Gegenpart für philosophische Selbstverständigung dar, nur wenig abschwächen läßt: Was ist von einer Philosophie zu halten, die – was immer sie auch zu thematisieren vorgibt – im Grunde doch nur (zudem in stets benedizierender Weise) über die eigene Sache spricht, und über alles andere nur, um es von der eigenen Sache abzusetzen?
4. Abschließende Gedanken zum 4.1 Die intentio auctoris und das Wenden wir uns ein letztes Mal Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation und hier genauer der Schwierigkeit des Interpreten zu, in der eigenen praktischen Auslegung die des Dichters argumentativ auszuweisen: Welche Gründe hat Sokrates, der -gemäßen Interpretation gerade die Erarbeitung und Vermittlung der des Dichters als Ziel vorzugeben? Was motiviert die Privilegierung der intentio auctoris? Von selbst versteht sich diese Entscheidung keineswegs, schließlich kennt Platon, wie oben gezeigt wurde, auch einen Umgang mit Dichtung, der seinen Zweck gerade nicht in der Erarbeitung der intentio auctoris, sondern in der Durchsetzung der eigenen intentio lectoris sieht. Im Grunde müßte Sokrates daher für seine Entscheidung, der Interpretation die des Dichters als Ziel vorzugeben, argumentieren, doch finden wir im Ion keine Argumentation für diese Entscheidung: Daß sich der Interpret die des Dichters erarbeiten soll, wird als selbstverständlich gesetzt und nicht eigens begründet. Wer weiter nach Motiven für Sokrates’ Privilegierung der intentio auctoris sucht, wird fündig im Rahmen der Schriftkritik des Phaidros,1 wo Platon seinen Sokrates einige produktions-
1 Phdr. 274 b 6 – 279 c 8. – Erwähnenswert ist, daß sich die Schriftkritik auf alle Sprachäußerungen richtet, die der medialen Schriftlichkeit zuzurechnen sind. Schon der Mythos von Theuth und Thamus, der von der Erfindung der Schriftzeichen ( ) berichtet (vgl. Phdr. 274 c 5 – 275 b 2), macht deutlich, daß Sokrates keinen medial schriftlichen Text, mag er auch konzeptionell mündlich sein, von der Kritik ausnimmt. Es geht prinzipiell um die Schrift ( ) bzw. um alle Schriftstücke ( ). Thomas Alexander Szlezáks Kritik an der sog. Syngramma-Theorie (vgl. Szlezák 1985, insbes. S. 331-385), die in der Nachfolge Schleiermachers die platonischen Dialoge nicht von der Schriftkritik betroffen sieht, kann ich mich nur anschließen: Gegen die von der sog. SyngrammaTheorie vertretene These, daß sich manche Schriften, etwa die Dialoge Platons, so weit „der Mündlichkeit annähern“, daß sie nicht mehr unter das Verdikt der Schriftkritik fallen, ist m. E. einzuwenden, daß hier nicht sauber zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit / Schriftlichkeit unterschieden wird: Wenn sich ein Text „der Mündlichkeit annähert“, heißt dies eben nur, daß er konzeptionell mündlich ist, nicht aber, daß er einer Kritik entgehen könnte, die auf alle medial schriftlichen Sprachäußerungen zielt.
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4. Abschließende Gedanken zum
und rezeptionsästhetische Überlegungen vorstellen läßt, die seine Option für die intentio auctoris plausibel machen können. Zwar sind Dichterauslegung und Textauslegung nicht identisch, da die Dichterauslegung auch im Rahmen medial mündlicher Vortragssituationen erfolgen kann, während sich die Schriftkritik ausschließlich auf Sprachäußerungen richtet, die der medialen Schriftlichkeit zuzurechnen sind. Doch um die Frage nach der Privilegierung der intentio auctoris beantworten zu können, scheint es mir hilfreich, auch auf die Schriftkritik einzugehen. Dem angesprochenen Problem der jeweils im Blick stehenden Medialität wird in der Durchführung Rechnung getragen. Ein Schriftsteller schafft, wenn er einen Text verfaßt, ein Wirkungspotential,2 dessen Aktualisierungen in den konkreten Leseerfahrungen der Rezipienten vom Autor nicht vorhersehbar oder gar kontrollierbar sind. Aussagekräftig für Sokrates’ Verständnis von Texten ist, daß gerade die schlechten, d. h. die vom gutwilligen Autor so nicht intendierten Wirkungen des Textes betont werden: Und ist er erst einmal geschrieben, treibt jeder Text sich überall herum und zwar in gleicher Weise bei denen, die ihn verstehen, wie bei denen, für die er nicht paßt, und er weiß nicht, zu wem er reden soll und zu wem nicht. Und wird er mißhandelt und zu unrecht kritisiert, braucht er immer die Hilfe seines Vaters. Denn er selbst kann sich nicht wehren noch helfen.3
Genau in diesem Punkt, in der Unfähigkeit des geschrieben , sich selbst zu Hilfe zu kommen,4 erkennt Sokrates die entscheidende Schwäche der medialen Schriftlichkeit. Die Unfähigkeit schriftlicher , sich selbst zu Hilfe zu kommen, ist nichts anderes als das Unvermögen schriftlicher , 2 In den folgenden Formulierungen findet eine Begrifflichkeit Verwendung, die der sog. Rezeptionstheorie (vgl. etwa Iser 3 1990, insbes. S. 37-67) entlehnt wurde. Erneut gilt, daß zwar Ausdrücke (wie „Wirkungspotential“, „Aktualisierung“ usw.), nicht aber die genauen Definitionen dieser Ausdrücke übernommen werden (vgl. oben Fn. 126 auf S. 280). Zur Präzisierung der hier vorgelegten Platonauslegung scheint mir eine freie Aufnahme der Ausdrücke hilfreicher zu sein als die getreue Wiedergabe von rezeptionstheoretischen Begriffen, die in ihrer herkömmlichen Explikation einer ganz bestimmten literaturtheoretischen Position verpflichtet sind. Durch die freie Aufnahme und die eigene Explikation von Ausdrücken, die für die Auslegung brauchbar erscheinen, kann m. E. vermieden werden, daß ein externes literaturtheoretisches System den platonischen Texten übergestülpt wird. 3 Phdr. 275 d 9 – e 5: ˘ ´ %& ' ( ) ( * + &, - + &
!"#$
. * ,/ 0 1 - + 2 03
4 5- 6037 + 4 8 ( 51&3 8 6039& 4 : ;/ 4 Zur „Hilfe für den Logos“, dem 603 ; ;, vgl. insbes. Szlezák 1992.
4.1 Die intentio auctoris und das
289
sich selbst argumentativ zu rechtfertigen. Damit ist der medial schriftliche mit eben dem Stigma behaftet, das auch sophistische und enthusiastische kennzeichnet: mit der Unfähigkeit zum . Die bereits im Theuth-Mythos artikulierte These, daß kein Schriftstück Wissen besitzen oder vermitteln kann,5 erklärt sich gerade aus dieser methodischen Schwäche des schriftlichen , der sich nicht selbst verteidigen, sich nicht selbst rechtfertigen kann. Ob eine bestimmte sprachliche Äußerung auf Wissen beruht, kann nur durch Rechenschaft forderndes Nachfragen überprüft werden. Die Fähigkeit zum stellt die notwendige Bedingung jeder dar. Ist ein in der Tat auf Wissen gegründet, so bringen ihn die kritischen Prüffragen nicht in Gefahr, sondern geben ihm vielmehr – aufgrund seiner Kompetenz, den geforderten auch zu geben, – Gelegenheit, seine Validität im unter Beweis zu stellen. Schriftlichen aber, die prima facie verständig zu sein scheinen, mangelt wegen ihre medialen Eigenheit prinzipiell die zum erforderliche Dialogizität. Ohne Fähigkeit zum aber muß den schriftlichen der Anspruch, Wissen zu repräsentieren oder zu vermitteln, abgestritten werden. Da sich der schriftliche nicht selbst erklären und gegen Angriffe und Mißverständnisse verteidigen kann und auch sein Verfasser, der „Vater“ des geschriebenen zum Zeitpunkt der Rezeption in der Regel nicht präsent ist,6 zeichnen sich schlimme Folgen für das im vertretene Gedankengut einerseits und für die „Seelen“ der Rezipienten andererseits ab.
5 Vgl. Phdr. 275 a 6 – b 2. 6 Sokrates’ Kritik an der medialen Schriftlichkeit geht von dem Standardfall aus, daß der Autor eines Textes zum Zeitpunkt der Rezeption nicht anwesend ist und daher seinen Text nicht selbst erklären und rechtfertigen kann. Natürlich kann es auch den Fall geben, daß ein Schriftsteller bei der Rezeption seines schriftlichen anwesend ist und ihn dann auf dieselbe Weise unterstützen kann wie seine mündlichen . Daß die Nichtpräsenz des Autors den Standardfall bildet, hat aber einen einleuchtenden Grund, der gerade in der medialen Eigenheit der Schriftlichkeit liegt. Diese gestattet nämlich dem schriftlichen seine Emanzipation und seine Autonomie. Der mündliche bleibt dagegen aufgrund seiner medialen Eigenheit stets an seinen „Vater“ gebunden (Tonträger werden von Platons Dialogfiguren aus verständlichen Gründen nicht bedacht), was nicht heißt, daß ihn der Urheber des mündlichen deshalb auch schon erfolgreich verteidigen kann. Die Präsenz der aussagenden Instanz, die nur im Fall des mündlichen garantiert ist, ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für ein gelingendes . Anders formuliert: Bei jeder Rezeption eines mündlichen ist der Urheber des anwesend, bei der Rezeption eines schriftlichen ist der Urheber des in der Regel nicht anwesend. Die Anwesenheit des Urhebers ist aber vorauszusetzen, wenn die Rechtfertigung des möglich werden soll. Dem schriftli-
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4. Abschließende Gedanken zum
Den schriftlichen Text begreift Sokrates demnach als ein Wirkungspotential, das seine Aktualisierungen und die Folgen dieser Aktualisierungen ebenso wenig zu beherrschen vermag wie der Autor, der dieses bedrohliche Potential hervorgebracht hat. Wer Texte schreibt, muß damit rechnen, Wirkungen zu erzielen, mit denen er nicht gerechnet hat, ja: mit denen er gar nicht rechnen konnte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß die Produktion des Textes selbst eine Handlung, einen Schreibakt, darstellt.7 Auch wenn der Text nur ein Wirkungspotential ist, das seine Wirkungen erst in einem zweiten Akt, dem Akt des Rezipierens, entfaltet, ist die Produktion des Textes doch die Hervorbringung von etwas Wirklichem, eben einem wirklichen Wirkungspotential. Die vielfältigen – potentiell unendlichen – Wirkungen, die ein Text bei seiner Realisierung in Rezeptionssituationen hervorbringt, sind nach Sokrates ethisch zu verantworten. Dem geschriebenen selbst seine Wirkungen anzulasten, ist ausgeschlossen, da der Text nicht „denkt“ und daher zu keiner Verantwortung in der Lage ist. Intellektuelle Leistungen und damit auch die Fähigkeit zur Verantwortung sind allein dem Menschen, genauer: der menschlichen „Seele“ gegeben. Entsprechend sind die aktualisierten Wirkungen des Textes vom Autor des Textes zu verantworten, der im Akt des Schreibens eine Handlung mit unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Folgen begeht. Die im Ion wie in der Schriftkritik des Phaidros anzutreffende Privilegierung der intentio auctoris kann daher verstanden werden als Versuch, die Erzeugung von Wirkungspotentialen handlungstheoretisch faßbar werden zu lassen. An dieser Stelle fallen m. E. auch Dichterinterpretation und Textinterpretation zusammen – wegen des gemeinsamen Blicks auf den Urheber des jeweils chen kommt das dialektische Vermögen des daher in keinem Fall zu. Jeder , der eine gelingende Rechtfertigung zu leisten hat, muß notwendig mündlich sein. Die mediale Mündlichkeit stellt aber noch keine hinreichende Bedingung für das dar. Soll die Rechtfertigung glücken, so reicht es eben nicht aus, daß der verteidigende stets dasselbe wiederholt. Er muß neue, noch ungesagte Gründe vorbringen, die dem zu verteidigenden einen besseren Halt gewähren. Dies ist aber nur möglich, wenn der rechtfertigende auch inhaltlich den angegriffenen übersteigen, zusätzliche Denkmittel ins Spiel bringen und gegebenenfalls den Untersuchungsbereich erweitern kann. Wesentlich für das ist damit, daß der zu verteidigende auf Wissen, auf der , gründet. Hier liegt m. E. der Grund, warum die Dichter, von denen Sokrates in der Apologie spricht, ihre eigenen nicht plausibel machen können (vgl. Apol. 22 a 8 – c 8). Vgl. bereits Tate 1929, S. 149: (...) it would be quite useless to ask the poets what their verses mean; for they themselves do not know.“ 7 In diesem Punkt unterscheiden sich die nicht rechtfertigbaren , die von einem Schriftsteller stammen, von den ebenfalls nicht rechtfertigbaren , die ein Enthusiast verlauten läßt: Der Schriftsteller hat das Potential geschaffen, auf das die Wirkungen seiner letztlich zurückgehen, der Enthusiast nicht.
4.1 Die intentio auctoris und das
291
zu Interpretierenden und wegen des gemeinsamen Interesses an einem Rechtfertigungsgrund für die Wirkungen, die das zu Interpretierende ja gerade zum Zeitpunkt der Rezeption hervorruft. Nicht nur die Texte, die ein Schriftsteller verfaßt, auch die Werke der Dichter werden gegenüber ihren Urhebern in einem gefährlichen Sinne autonom: Der Dichter schafft, mag er selbst auch den medial mündlichen Vortrag pflegen, ein Werk, das ebenso frei umherschweifen kann wie ein medial schriftlicher Text. Zwar bleibt der mündliche des Dichters als das konkrete Vorkommnis eines an den Dichter gebunden, doch wird durch dieses Vorkommnis gerade ein tradierbares poetisches Werk konstituiert, das in neuen Rezeptionssituationen aktualisiert werden kann. Der eines Dichters ist also einerseits als konkrete mündliche Verlautbarung an die Produktionssituation und damit an den Dichter gebunden, doch wird er andererseits gerade durch die konkrete Verlautbarung auf eine Weise veröffentlicht, die ihn der Kontrolle des Dichters entzieht. Nachdem er sein Werk der Öffentlichkeit mündlich oder schriftlich vorgestellt hat, besitzt der Dichter keine Kontrolle mehr über die Wirkungen, die seine Dichtung bei den Rezipienten „anrichten“ wird. Dabei ist die Frage, ob sein Werk bei späteren Rezeptionssituationen als medial schriftliches gelesen oder in einem medial mündlichen Vortrag präsentiert wird, zweitrangig. Der zentrale Vorwurf, den Sokrates an die medial schriftlichen richtet, daß sie sich nämlich nicht selbst zu Hilfe kommen und rechtfertigen können, trifft also zwar alle schriftlichen , aber eben nicht nur die schriftlichen . Auch die möglicherweise mündlich präsentierten Werke der Dichter lösen sich von ihrem Ursprung und treiben sich unkontrolliert umher. Die Unfähigkeit des schriftlichen , sich selbst zu helfen, liegt nach Sokrates begründet in der fehlenden Dialogizität, die wiederum die Rezeptionssituation kennzeichnet: Denn das, Phaidros, ist offenbar das Ärgerliche bei der Schrift und macht sie in der Tat vergleichbar der Malerei: Auch die Erzeugnisse der Malerei nämlich stehen da, als wären sie lebendig; fragst du sie aber etwas, so schweigen sie in aller Majestät. Und genauso ist es mit den geschriebenen Texten: Du könntest meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, weil du es verstehen willst, so erzählt der Text immer nur ein und dasselbe.8
8 Phdr. 275 d 4-9:
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4. Abschließende Gedanken zum
Die mangelnde Dialogizität stigmatisiert nicht allein die Rezeption von Bildern9 und von medial schriftlichen Texten, sondern auch den von Rhapsoden favorisierten durch Monologizität geprägten Vortragsstil. Im Phaidros vergleicht Sokrates schriftliche Texte explizit mit den Rhapsodenvorträgen, die beide darin zu kritisieren sind, daß sie keine „Möglichkeit von Einrede und Erläuterung“10 zulassen. Und bereits im Protagoras findet sich – im Zusammenhang der Makrologie-Brachylogie-Debatte11 – eine entsprechende Bemerkung des Sokrates über schlechte Redner: (...) aber wenn einer etwas weiter fragt, so wissen sie (sc. die schlechten Redner) wie die Bücher nichts weiter weder zu antworten noch selbst zu fragen; aber wenn einer auch nur ein weniges von dem Gesagten fragt, dann, wie Metall, worauf einer geschlagen, lange forttönt, wenn es nicht einer anrührt, ebenso auch diese Redner, um weniges gefragt, dehnen eine meilenweite Rede.12
Ohne Dialogizität, die als notwendige Bedingung des zu begreifen ist, besteht keine Möglichkeit, für einen geäußerten Rede und Antwort zu stehen, ihm zu Hilfe zu kommen, ihn argumentativ auszuweisen. Sokrates’ Kritik an der Autonomie des zur Rechenschaftsgabe unfähigen schriftlichen kann einerseits einen Hinweis darauf geben, was seine Privilegierung der intentio auctoris letztlich motiviert, andererseits aber auch zeigen, was diese Privilegierung der intentio auctoris problematisch werden läßt. Fassen wir zur Klärung dieser Fragen Sokrates’ Überlegungen systematisierend zusammen: Bei jeder Rezeption eines Textes und bei jeder Rezeption eines poetischen Werkes sind gewisse Wirkungen des Textes resp. des poetischen Werkes auf die Rezipienten zu beobachten. Texte und poetische Werke gehen zurück auf bestimmte Urheber, auf Schriftsteller und Dichter. Zu welcher Wirkung Texte und poetische Werke bei den Rezipienten führen, können die Schriftsteller und die Dichter nicht vorhersehen und nicht kontrollieren. Die Tatsache allerdings, daß es überhaupt zu Rezeptionssituationen kommt, bei denen sich diese Wirkungen entfalten können, wird allererst ermöglicht 9 Auch im Fall der Bilder betrachtet Sokrates die Rezeptionssituation, bei der der Urheber des Kunstwerks nicht anwesend ist, als den Standardfall. Dies bedeutet nicht, daß es nicht auch andere Rezeptionssituationen geben kann, die dann freilich – wegen der möglichen Dialogizität – unter anderen Konditionen stehen. 10 Phdr. 277 e 8 f.: (...) (...) 11 Vgl. oben Kap. 3.1.1. 12 Prot. 329 a 2 – b 1: ! "
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4.1 Die intentio auctoris und das
293
durch die Produktion rezipierbarer Texte und Dichtungen, die den Schriftstellern und Dichtern anzulasten ist. Ohne die Texte der Schriftsteller und ohne die Werke der Dichter müßten also nicht die unerwünschten Wirkungen beklagt werden, die Sokrates eben vor allem im Blick hat. Damit werden die Schriftsteller und Dichter letztlich verantwortlich gemacht für etwas, was sie gar nicht verantworten, was sie gar nicht absehen können. Will ein Schriftsteller oder ein Dichter, dem daran gelegen ist, nur gute Wirkungen bei seinen Rezipienten hervorzurufen, nicht ganz auf die Produktion der gefährlichen Wirkungspotentiale verzichten, so bleibt ihm zur eigenen Verteidigung nur, die schlechten Wirkungen, die bei den Rezipienten entstehen können, nicht auf seine Werke, sondern auf den falschen Umgang der Rezipienten mit seinen Werken zurückzuführen. Und exakt hier könnte der Schriftsteller resp. der Dichter seine eigene intentio auctoris ins Spiel bringen: Falls sich ein Rezipient gar nicht um das sorgt, was er – der Produzent – bei der Produktion des Textes bzw. des poetischen Werks intendiert hat, warum sollte dann er als Produzent für das einstehen müssen, was mit dem Rezipienten geschieht. Diese Apologie der Schriftsteller und Rezipienten ist sicherlich naheliegend, sie wirkt aber dann problematisch, wenn der Rezipient – wegen der fehlenden Dialogizität – prinzipiell nicht die Möglichkeit hat, der intentio auctoris im Rahmen einer konkreten Rezeptionssituation gerecht zu werden. Halten wir fest: So motiviert Sokrates’ Option für die intentio auctoris im Rahmen handlungstheoretischer Überlegungen zur Produktion schriftlicher und poetischer auch sein mag, aufgrund der Unmöglichkeit der Rezipienten, sich die intentio auctoris zu erarbeiten, kann diese Konzeption, die als Privilegierung der intentio auctoris Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation ebenso prägt wie seine schriftkritischen Überlegungen, nicht überzeugen. Damit kommen wir zu der zweiten Form der Rechenschaftsgabe, die sich nun von Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation ab- und dafür seinem philosophischen Gebrauch von Dichtung zuwendet. Galt bislang, daß ein Interpret darüber Rechenschaft zu geben hat, daß er sich in seiner Interpretation die intentio auctoris erarbeiten konnte, so gelangen wir nun zu einer Form des , die darüber Rechenschaft zu geben verspricht, daß sie im Gespräch eine philosophisch legitime intentio lectoris verfolgt, d. h. daß sie mit der Dichtung auf eine sachlich ergiebige Weise verfährt.
4. Abschließende Gedanken zum
294 4.2
Die intentio lectoris und das
Da Sokrates’ theoretische Aussagen über die Dichterauslegung nur seinem Idealbegriff der Interpretation zuarbeiten, finden wir leider keinen Versuch, den spezifisch philosophischen Gebrauch von Dichtung explizit zu rechtfertigen. Sokrates’ Aussagen über Interpretation bieten also nicht die gesuchte Begründung für den von Sokrates selbst praktizierten Gebrauch von Dichtung, sondern dienen allein der Skizzierung des interpretationstheoretischen Idealbegriffs. Damit bleiben uns im Grunde nur Spekulationen, wie ein solcher Rechtfertigungsversuch in etwa aussehen könnte. Allerdings können solche Spekulationen auf Sokrates’ übrige gesprächstheoretische Anschauungen und auf seinen eigenen praktischen Umgang mit Dichtung rekurrieren. Der Rechtfertigungsstandard, an dem sich ein philosophisch brauchbarer Umgang mit Dichtung zu messen hat, unterscheidet sich deutlich von dem, der Sokrates’ Idealbegriff der Interpretation zur Orientierung dient: Wer dem Idealbegriff der Interpretation entsprechen will, muß rechtfertigen, daß die Aussagen, die er als die Aussagen des Dichters hinstellt, in der Tat die vom Dichter intendierten Aussagen sind. Ob diese Aussagen auch sachlich stimmig sind, interessiert denjenigen nicht, der nur den Dichter interpretieren will. Wer dagegen Dichtung auf philosophische Weise gebrauchen will, muß rechtfertigen, daß die Aussagen, die er als die Aussagen des Dichters hinstellt, den sach- und problemorientierten vorantreiben und befruchten. Ob diese Aussagen in der Tat vom Dichter intendiert wurden, interessiert denjenigen nicht, der nur philosophisch von Dichtung Gebrauch machen will. Der Anspruch, von Dichtung auf philosophische Weise Gebrauch zu machen, muß sich im größeren Kontext gesprächstheoretischer und gesprächsethischer Überlegungen ausweisen. Auf philosophische Weise mit Dichtung zu verfahren, meint ja nichts anderes, als im Gespräch genau so mit Dichtung zu verfahren, daß das Gespräch – als philosophische Auseinandersetzung mit Sachproblemen – durch diesen Umgang mit Dichtung befördert wird. Damit stoßen wir auf die Frage, welchen Bedingungen denn ein Gespräch genügen muß, das sich als gelingende philosophische Auseinandersetzung mit Sachproblemen verstanden wissen will. Zur Klärung dieser Frage ist an die Gesprächstugenden des Gorgias und an Sokrates’ Entwurf einer dialektischen Rhetorik im Phaidros zu erinnern: Ein philosophisches Gespräch zeichnet sich durch die Verabschiedung pauschaler Autoritätsargumente13 und durch die kritische Prüfung von Behauptungen aus. Dabei ist jede Behauptung in 13 Vgl. oben S. 125.
4.2 Die intentio lectoris und das
295
einem konkreten Diskussionszusammenhang situiert, sie wird also von jemandem zu jemandem gesagt. Das Interesse gilt dem, was der jeweilige Gesprächspartner behauptet, und nicht einer von jeder aussagenden Instanz losgelösten Behauptung, die rein für sich Träger von Bedeutung sein und Wahrheit für sich in Anspruch nehmen könnte.14 Die Behauptung eines Gesprächspartners kann in ihrem theoretischen Anspruch und ihrer lebenspraktischen Relevanz nur dann in zureichender Weise geprüft ( ) werden, wenn die Gesprächspartner Einsicht ( ), Wohlwollen () und Freimütigkeit ( ) besitzen.15 Hinzu kommt die Forderung nach einer situativen Anwendungskompetenz, die in einer konkreten Redesituation erkennt, mit welchem Typ von Zuhörer bzw. Gesprächspartner man es hier und jetzt zu tun hat, die bestimmten Kolloquenten bestimmte zuzuordnen versteht, die schließlich auch die Zeit und die Unzeit des jeweiligen bemerkt.16 Ein Dichterzitat ins Gespräch einzubringen meint in diesem Sinne, von einer ganz bestimmten Art von Gebrauch zu machen. Als eine bestimmte Art von aber kennt auch der philosophische Gebrauch von Dichtung eine und eine . Nach Sokrates ist es gerade der über die Gesprächstugenden verfügende Dialektiker, der den dieses jeweils wahrzunehmen versteht. Sokrates’ eigener Umgang mit Dichtung, der im Lysis und im Menon exemplarisch vorgeführt wurde, zeigt an, wie dieser konkret zu ergreifen ist. Was sich allgemein festhalten läßt, ist das Ziel des philosophischen Gesprächs: Es geht um die sachlich-kritisch Prüfung von diskursiv zu entfaltenden Sachaussagen in konkreten Diskussionszusammenhängen. Die Frage, ob ein bestimmter Gebrauch von Dichtung diesem Ziel nun zuarbeitet oder eher abträglich ist, läßt sich dagegen nicht in allgemeiner Weise beantworten. Eine Regel, wann genau Dichtung im Gespräch philosophisch gebraucht wird, kann es nicht geben. Sokrates’ praktischer Umgang mit Dichtung liefert einzelne Beispiele, die gleichsam vorexerzieren, wie dieser Gebrauch aussehen kann. Seine gesprächstheoretischen Überlegungen geben zum einen das allgemeine Ziel vor, an dem sich der philosophische Gebrauch von Dichtung auszurichten hat, zum anderen erklären sie unter Rekurs auf das Problem der Applikation, warum es kein verbindliches allgemeines Muster für den angemessenen Umgang mit Dichtung geben kann. Die Frage nach dem richtigen Gebrauch von Dichtung im Gespräch gehört mit zur Frage nach der angemessenen Weise, sich im Gespräch zu verhalten, welche wiederum mit zur Frage 14 Vgl. oben S. 89. 15 Gorg. 486 e 5 – 487 a 3. 16 Vgl. oben Kap. 2.1.7, insbes. S. 76.
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4. Abschließende Gedanken zum
nach dem richtigen Handeln gehört. Der Gebrauch von Dichtung ist so gesehen eine Handlung, die der Handelnde nicht unter Berufung auf eine ihm ohnehin unzugängliche intentio auctoris, sondern mit Blick auf seine eigene intentio lectoris zu rechtfertigen hat. Das , zu dem sich ein philosophischer Gebrauch von Dichtung aufgefordert sieht, erfolgt also vor gesprächstheoretischen Rechtfertigungsstandards, die sich letztlich der Idealvorstellung einer philosophischen Gesprächs- und Lebensform verdanken. In seiner Schriftkritik stellt Sokrates die Frage nach dem „richtigen Umgang“ mit Schrift, nach der .17 Diese Frage beinhaltet zwei unterschiedliche Aspekte, einen rezeptions- und einen produktionsästhetischen: Die Frage, wie bei der Schriftrezeption mit Schrift umgegangen werden soll, ist zu unterscheiden von der Frage, wie bei der Schriftproduktion mit Schrift umgegangen werden soll. Ganz analog lassen sich die Probleme im Bereich der Dichtungstheorie fassen: Hier stellt sich die Frage nach dem „richtigen Umgang“ mit Dichtung, die sich gleichfalls in rezeptions- und produktionsästhetischer Hinsicht entfalten läßt: Wie soll der Rezipient mit Dichtung umgehen? Wie soll der Produzent von Dichtung verfahren? Nur die Frage nach einem angemessenen Rezeptionsverhalten kann im Umkreis gesprächstheoretischer Überlegungen einigermaßen zufriedenstellend beantwortet werden. Die Frage nach einem angemessenen Produktionsverhalten führt dagegen – sowohl im Fall der Dichtung als auch im Fall der medialen Schriftlichkeit – zu einem produktionsästhetischen Problem, das m. E. ungelöst bleiben muß: Wer Poesie verfaßt oder einen Text schreibt, muß nach Sokrates stets mit der Gefahr rechnen, daß die eigenen , die sich von Produktionssituation und Produzent lösen und autonom werden, mißverstanden, angegriffen oder auf ungewollte Weise vereinnahmt werden. Diese Gefahr läßt sich verkleinern, beseitigen läßt sie sich nicht. Der Dichter resp. der Schriftsteller kann versuchen, die Verbreitung seiner Werke genau zu kontrollieren. Er kann ein wachsames Auge darauf haben, daß möglichst nur diejenigen mit dem Werk zu tun bekommen, die es auch verstehen und zu würdigen wissen.18 Er kann das Werk auch so anlegen, daß es sich aufgrund seiner eigenen Struktur gegen 17 Vgl. insbes. Phdr. 274 b 6 f. und oben Fn. 152 auf S. 102. 18 Hier ist an den Umgang mit Schrift zu erinnern, den die Mittel- und Neuplatoniker pflegen: Bei der Produktion und noch mehr bei der Veröffentlichung von Schriften läßt man größte Vorsicht walten. Wer eine Schrift verfaßt, achtet sehr genau darauf, wer diese Schrift zu lesen bekommt. Noch größer als die Sorge um das Wohl der Rezipienten scheint dabei allerdings die Sorge um das Wohl des eigenen Gedankenguts. Vgl. insbes. Porphyrios’ Vita Plotini (18-20; 23; 25-26; 43-46; 70; 93; 106; 109; 111; 115; 132-133; 148-149) (in Harder 1958, Bd. Vc).
4.3 Das Problem der Selbstapplikation von Text- und Dichterauslegung 297
eine unerwünschte Rezeption zu sperren sucht.19 Doch all diese Maßnahmen schließen Mißverständnisse, Angriffe oder Vereinnahmung nicht völlig aus. Wenn ein Dichter seine Poesie oder ein Schriftsteller seinen Text der Öffentlichkeit preisgibt, muß er mit genau diesen Folgen rechnen. Daher bleibt dem „Vater“ des bloß eine vage heuristische Abschätzung, ob eine Veröffentlichung mehr Schaden oder mehr Nutzen hervorruft. Im Grunde kann der „Vater“ des bei diesem Spiel nur verlieren: Mag ein veröffentlichter auch noch so viel Gutes hervorbringen, sicher scheint doch, daß er auch Schlechtes zeitigen wird. Und für diese schlechten Folgen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gar nicht absehbar sind, muß sich – nach Aussage des platonischen Sokrates – der „Vater“ des zur Verantwortung ziehen lassen.
4.3
Das Problem der Selbstapplikation von Text- und Dichterauslegung
Das ungelöst gebliebene produktionsästhetische Problem, das sich aus Sokrates’ Überlegungen zur Dichter- und Textauslegung ergibt, läßt die Frage aufkommen, welche Auffassung von der Produktion literarischer Texte wohl der Autor eben der Schriften hatte, in denen sich diese Überlegungen finden. Damit stehen wir vor der Schwierigkeit einer gleich zweifachen Selbstapplikation: In seinen Dialogen gestaltet Platon zwar Gespräche, d. h. die Fiktion medialer Mündlichkeit, die Dialoge selbst aber stellen medial schriftliche Sprachäußerungen dar,20 die zugleich als literarische Werke zu begreifen sind.21 Daher kann sowohl die in den Dialogen thematisierte Theorie der Dichterauslegung als auch die in den Dialogen thematisierte Theorie der Textauslegung auf die literarischen Schriften bezogen werden, in denen diese theoretischen Überlegungen artikuliert werden. Vor dem Hintergrund der 19 Man kann die Auffassung vertreten, daß gerade die Dialogform einen solchen Versuch darstellt, den eigenen Text gegen ungerechte Angriffe, gegen Mißverständnisse und gegen Vereinnahmung gleichsam zu immunisieren. Es stellt sich aber die Frage, wie erfolgversprechend ein solcher Versuch ist. Auch wenn sich der Autor mit der eigenen Auffassung zurückhält und nur die Dialogfiguren Behauptungen aufstellen läßt, ist es doch – wie wir bei Diogenes Laertios gesehen haben – nicht ausgeschlossen, daß der in Dialogform geschriebene Text als explizite Äußerung seines Autors gedeutet und der Autor für die Behauptungen seiner Dialogfiguren zur Rechenschaft gezogen, getadelt oder auch gelobt wird. Die Dialogform seines Textes schützt den Autor weder gegen ungerechte Angriffe noch gegen Vereinnahmung. Und vor Mißverständnissen ist er deshalb erst recht nicht gefeit. 20 Vgl. oben insbes. S. 13. 21 Vgl. oben Kap. 1.3 und 1.4.
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4. Abschließende Gedanken zum
zu Beginn der vorliegenden Arbeit präsentierten hermeneutischen Überlegungen muß der Status dieses Bezugs allerdings fragwürdig wirken: Wer etwa aus Sokrates’ Kritik an allen medial schriftlich vorliegenden Sprachäußerungen ableitet, daß auch Platon seine eigenen Schriften22 in genau derselben kritischen Weise aufgefaßt haben muß, begeht den Fehlschluß, den wir oben Diogenes Laertios nachgewiesen haben: Er schließt unreflektiert von der Behauptung, die der Autor einer Dialogfigur in den Mund legt, auf die eigene Auffassung des Autors.23 Wer dagegen wegen hermeneutischer Skrupel ganz darauf verzichtet, einen Bezug zwischen den Aussagen des platonischen Sokrates und der Auffassung Platons herzustellen, läßt die m. E. gerade spannendsten Grundsatzfragen der Platonauslegung offen. Um diesen Fragen einerseits nachgehen zu können und andererseits nicht auf einen offenkundigen hermeneutischen Fehlschluß hereinzufallen, scheint es mir sinnvoll, mit der folgenden, inhaltlich zwar trivial wirkenden, methodisch aber hilfreichen Alternative fortzufahren: (A) Entweder hat Platon die kritische Position seiner Dialogfigur Sokrates zu Schrift und Dichtung geteilt – (B) oder er hat sie nicht geteilt. Betrachten wir zunächst die Möglichkeit (B): In diesem Fall liegt eine in sich konsistente Haltung der Dialogfigur Sokrates und eine in sich konsistente Haltung des Autors Platon vor. Sokrates kritisiert die mediale Schriftlichkeit und verfaßt selbst keine eigene Schriften. Platon kritisiert die mediale Schriftlichkeit nicht und verfaßt selbst eigene Schriften. Sokrates hält Dichterauslegung für in praxi ausgeschlossen und praktiziert selbst keine Dichterauslegung.24 Platon hält Dichterauslegung für in praxi möglich und produziert selbst eigene Dichtung. Dieser Fall, der eine inhaltliche Differenz zwischen Sokrates’ und Platons Auffassungen von Schrift und Dichtung postuliert, ist offensichtlich gerade aufgrund der Konsistenz der jeweiligen Position nicht sehr aufregend. 22 Daß die Schriftkritik des Sokrates sich auf alle medial schriftlichen Sprachäußerungen, mithin auch auf die platonischen Dialoge, erstreckt (vgl. oben Fn. 1 auf S. 287), heißt nicht, daß Platon seine eigenen Schriften nach Vorgabe dieser Kritik betrachten muß. Platon kann sehr wohl eine „positive“ Einstellung zu seinen Schriften gehabt haben, und zwar nicht, weil die platonischen Schriften – wie die sog. Syngramma-Theorie annimmt – von der Schriftkritik des Sokrates nicht betroffen sind, sondern weil die Schriftkritik des Sokrates eben nicht die Schriftkritik Platons sein muß. 23 Dieser Fehlschluß ist m. E. sowohl einigen Vertretern als auch manchen Gegnern der sog. „Tübinger Schule“ vorzuwerfen. Daß zwischen der Auffassung Platons und der Auffassung, die Platon seinen Sokrates vortragen läßt, möglicherweise ein Unterschied besteht, wird zwar theoretisch gerne zugestanden, in der Durchführung der Platonauslegung aber kaum berücksichtigt. 24 Wie oben in extenso ausgeführt, ist Sokrates’ Umgang mit Dichtung nicht als Dichterauslegung, sondern als philosophischer Gebrauch von Dichtung zu verstehen.
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Kommen wir nun zu Möglichkeit (A), die von einer Übereinstimmung zwischen Sokrates’ und Platons Auffassungen von Schrift und Dichtung ausgeht. In diesem Fall liegt eine in sich konsistente Haltung der Dialogfigur Sokrates und eine in sich spannungsreiche Haltung des Autors Platon vor. Sokrates’ Haltung wurde bereits skizziert. Gestatten wir uns also einige Spekulationen über Platons prima facie inkonsistent erscheinendes Selbstverständnis als schriftkritischer Schriftsteller und interpretationsskeptischer Dichter: Wie lassen sich die Aussagen zur Schrift- und Dichterauslegung mit Platons eigener außerordentlich produktiver Tätigkeit als Autor und Dichter vereinbaren? Die oben angezeigten Gefahren, die sich aus jeder Veröffentlichung schriftlicher und poetischer Werke notwendig ergeben, nimmt Platon offensichtlich in Kauf.25 Hier liegt im übrigen keinerlei Widerspruch zur Schriftkritik vor: Aus der Schriftkritik folgt ja nicht das strikte Verbot, Schriften zu verfassen. Es geht vielmehr um den richtigen Umgang mit Schrift, und dieser liegt – produktionsästhetisch betrachtet – darin, daß der Autor weiß, daß seine Schrift im Grunde nur „Spielerei“ ist, d. h. vor allem: daß sie nicht zur direkten Vermittlung von Wissen, sondern nur als eine Erinnerungshilfe für den schon Wissenden taugt. Wenn sich Platon als Philosoph begreift, dann hat sich sein eigener Umgang mit Schrift – der Vorgabe der Schriftkritik entsprechend – durch die folgenden Merkmale auszuzeichnen: Der philosophische Autor muß in der Lage sein, in den konkreten Rezeptionssituationen, bei denen er selbst präsent ist, seine Schrift zu erklären und zu verteidigen. Dazu gehört, daß er nicht nur die alten Behauptungen wiederholt, sondern neue heranzuführen versteht, die den angegriffenen zu Hilfe kommen, was mitunter auch eine deutliche Ausweitung des Untersuchungsfeldes zur Folge haben kann.26 Dies macht, wie die Vertreter der sog. Tübinger Schule hervorheben, die Annahme plausibel, daß Platon nicht alle eigenen Überzeugungen auch in seinen Schriften preisgegeben hat. Schließlich muß der Philosoph beim Schreiben auch zurückhalten und „verbergen“, um den in der Schrift 25 Hier könnte man noch ergänzen, daß Platon seine Schriften vielleicht auch deshalb in Dialogform geschrieben habe, um die Gefahr ungerechter Angriffe gegen die eigene Person und die Gefahr mutwilliger Vereinnahmung eigener Gedanken zu verringern. Gänzlich vermeiden lassen sich diese Gefahren freilich nie. 26 Vgl. insbes. Phdr. 277 e 5 – 278 b 4. – Vgl. Erler 1987, S. 36 f.: „Zusammenfassend ist festzustellen, daß Platon drei Forderungen an einen richtigen Umgang mit Geschriebenem stellt. Zunächst ist die Anwesenheit des Autors zu verlangen, wenn man zu einer sicheren Interpretation kommen will. Dann muß der Autor etwas haben, was wertvoller ist als das, was er niedergeschrieben hat. Damit soll er dem Text erklärend und hilfreich in mündlicher Diskussion zur Seite stehen. Und drittens soll der Text dabei die Funktion einer Erinnerungshilfe für solche erfüllen, die schon wissend sind.“
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präsentierten im Bedarfsfall weitere Unterstützung bieten zu können. Auf dieses Selbstverständnis eines philosophischen Schriftstellers zurückzuführen ist letztlich die Differenz zwischen einem „exoterischen Platon“, der in seinen Schriften zwar einige, bei weitem aber nicht alle Überzeugungen veröffentlicht hat, und einem „esoterischen Platon“, der im Kreis der Akademie die in den Schriften präsentierten Überlegungen durch zusätzliche Argumente zu sichern gewußt hat. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß die hier nur kurz vorgeführte Position, die grob die Auffassung der sog. Tübinger Schule wiedergeben soll, von den beiden m. E. angreifbaren Voraussetzungen abhängig ist, daß (1) Sokrates’ Schriftkritik die eigene Auffassung Platons wiedergibt und (2) Platons eigene schriftstellerische Tätigkeit auch in der Tat eben den Anforderungen entsprochen hat, die nach Maßgabe der Schriftkritik an einen philosophischen Umgang mit Texten zu stellen sind. Da sich die vorliegende Arbeit ja nur nebenbei mit der Schriftkritik und vorrangig mit der Theorie und der Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen befaßt hat, soll sie ihren Abschluß nun in der Betrachtung des zweiten Aspekts der Selbstapplikation finden: Vorausgesetzt, es besteht keine Differenz zwischen Platons und Sokrates’ Verständnis von Interpretation, was folgt dann für das Selbstverständnis Platons als Literat? Platon hat seine Dialoge in dem Bewußtsein geschrieben, daß es prinzipiell keine Interpretation gibt, die sich seine intentio auctoris erarbeiten könnte.27 Daher muß nicht nur die hermeneutische Position obsolet werden, die – in der Nachfolge des Isokrates28 – meint, alle zur Aufdeckung der intentio auctoris notwendigen Informationen aus dem Text selbst gewinnen zu können. Aufzugeben ist auch die Hoffnung, daß über inhaltliches Vorwissen verfügende Interpreten mit Hilfe von „Informationen, die keineswegs im Text selbst zu finden sind, die gleichwohl aber hineinpassen wie bei einem Puzzle“,29 zur intentio auctoris vorzustoßen in der Lage sind. Grundsätzlich ist jede Auslegung in praxi, die der Platons gerecht werden könnte, nach Maßgabe eben dieser ausgeschlossen.30 Hoffen kann Platon also auf keine Interpre27 Die einzige Ausnahme bilden Rezeptionssituationen, an denen Platon selbst anwesend wäre. Aber diesen Fall wollen wir hier ausklammern. Vgl. dafür oben insbes. Fn. 6 auf S. 289. 28 Vgl. Erler 1992, insbes. S. 129. 29 Erler 1992, S. 135. 30 Dem Paradox, daß uns die Platons sagt, daß sie uns gar nicht zugänglich ist, kann durch eine kurze Reflexion auf den Status der hier vorgeführten Überlegungen begegnet werden: Es handelt sich nur um Spekulationen über die Autorintention Platons, die sich allerdings methodisch wegen der oben eingebrachten Alternative, die uns eine Fallunterscheidung erlaubt, rechtfertigen lassen. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit
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tation, sondern nur auf einen spezifischen Gebrauch seiner Werke, der nicht sophistischer, sondern philosophischer Natur ist. Das heißt: Platons eigenem Selbstverständnis entspricht ein Interpret seiner Dialoge nur dann, wenn er sich von der Suche nach der intentio auctoris verabschiedet und statt dessen versucht, in Platons Dialogen auf zu stoßen, die sein eigenes problemund sachorientiertes Nachdenken fördern. Damit ist der Weg eröffnet zu einem sehr freien Umgang mit den platonischen Texten, der nicht fragt, was Platon wohl mit bestimmten gemeint haben könnte, sondern was sich systematisch mit diesen anfangen läßt.31 Dagegen sehen sich alle PlatonAuslegungen, die mit dem Anspruch auftreten, die eine Philosophie, die eine Platons zu rekonstruieren, mit einer bemerkenswerten Schwierigkeit konfrontiert: Sie proklamieren, aus dem Dialogwerk die intentio des Autors Platon gewinnen zu können, obgleich es dieser Autor gerade für ausgeschlossen hält, daß aus irgendeinem Werk heraus die intentio auctoris gewonnen werden kann. Für die zuletzt vorgeführten Spekulationen über die Autorintention Platons gilt das Gleiche wie für die mythische Redeweise nach Sokrates’ Aussage im Phaidon:32 Sie ist ein schönes Wagnis, ein
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dem Paradox könnte nochmals Umberto Ecos Unterscheidung zwischen einer kritischen und einer semantischen Interpretation bemühen (vgl. oben S. 63): Die kritische Interpretation entdeckt, daß der Autor die Möglichkeit einer semantischen Interpretation, die sich auf seine intentio auctoris beruft, für unmöglich erachtet. Darum wird eine semantische Interpretation der durch die kritische Interpretation zu entdeckenden intentio auctoris nur dann gerecht, wenn sie sich nicht auf die intentio auctoris beruft. 31 Der freie philosophische Gebrauch der platonischen Texte wird sicherlich erleichtert durch ihre dialogische Struktur: Im Gegensatz zu einem Traktat, der nur eine Behauptungsperspektive kennt, führen die Dialoge Behauptungen in Gesprächshandlungen, d. h. in konkreten diskursiven Vollzügen vor: Der Autor, der einen Dialog schreibt, behauptet nicht selbst, sondern läßt seine Dialogfiguren behaupten. Wer philosophisch von einem Dialog Gebrauch machen will, tut nach Platon gut daran, nicht der müßigen Frage nachzugehen, wie die hinter den Behauptungen der Dialogfiguren verborgen liegende eigene Behauptung des Autors erschlossen werden kann, sondern sich ganz der Frage nach der philosophischen Fruchtbarkeit der präsentierten zu widmen. 32 Vgl. Phd. 114 d 6 und oben S. 229.
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Register Register der Stellen antiker und mittelalterlicher Autoren Platon Alkibiades II (Alk. II) 147 b5-d8 68f., 89 Apologie (Apol.) 19d8-20a2 248 22a8-c8 92, 199, 290 Charmides (Charm.) 161a2-5 277 161c5f. 127 163d1-e2 248 Euthydemos (Euthd.) 277d5-e3 153 277e3f. 248 288b2-d4 113, 115 291c7-d3 271 302c6-d3 50 303a4f. 247
486e5-487e7 79, 117, 295 487a3-e7 79f. 488a6-b1 83 492e10f. 271 495a7-9 82 499b9-c7 271 502c5-8 30 503d6-504a4 103 505e1f. 271 505e4-506a5 81 509a4-7 83 516b6f. 81 521d-e 54 527b4-6 82 530c8 57 542b4 57 Hipparchos 228b4-230e5 48, 242, 244
Euthyphron (Euphr.) 15c11-e2 113 15d1-4 118
Hippias maior (Hipp. ma.) 281a1-283b3 87 286a3-c2 86, 269
Gorgias (Gorg.) 449a2-b3 279 449b9-d7 235 462b3-466a3 52-56, 88, 124 471e2-472b3 127 475e 258 481c5-482a2 127 482c4-484c3 40 484b1-486d1 270
Hippias minor (Hipp. mi.) 363a1-d4 86-88 365c8-d4 89 368b2-369a2 87 Ion 530a1-b7 49-52, 108, 122, 169 530b8-c5 60, 71, 145 530c7-d3 112, 121, 134
320
Register
530d4-7 122, 132 530d9-531a4 121, 125, 132, 150 531a5-b3 278 531c1 121 532b8-c9 125, 146, 150f. 532d7 100 533c4-e5 97, 112, 121, 125, 148, 152 533e5-534a7 153-155, 162, 164, 189 534b3-c7 99, 121, 149, 153f., 162, 177 534c7-d4 99, 170, 189, 216 534e1-535a4 153, 168, 189 535b1f. 117 535d1-9 100, 108 535e1-536a1 99f., 101, 170 536d2-e2 98, 104, 121, 124, 132 538a1-539e5 146 540b3-5 103 541a1-b1 146 541c3-d6 50 541e1-542a3 113, 117, 121, 132f. 542a2-b4 52, 104, 121, 124 Kratylos (Crat.) 384a8-c1 248 384b2-c2 103 391a4-396d1 139 393c8f. 120 403d7-e6 180 432a8-d3 33 Kriton 46b1-c6 73 52b1-c3 108 54d3-8 153 Laches (Lach.) 181a7-b5 38 184c9-d4 239 187e6-188c3 39, 79 188e5-189b7 127 191a8-b7 90 194c7-d2 90 196a7-b7 123
197d1-5 248 201a7-b5 277 Lysis 213d6-216b9 213e5ff. 272 214b7-215c2 215c3-216b9 217b4-218a2
126 273 274ff. 152
Menon (Men.) 75c8-d7 72f., 116, 248 79e7-80b7 114, 119 81a10-b3 188, 268 81b8-c4 271 81d5-e2 40 95c1-10 279 95c8-96a5 247, 277 96a3f.-b8 278f. 96eff. 187 97c 185 99a1-d5 181f., 184f., 189, 216 Nomoi (Legg.) I 629b6-d5 214 I 630 e7-631a4 203 II 656c1-7 212 III 680b1-682a5 213-215 III 690c ]268 III 700d3-701a3 109 IV 714e6-715a2 270 IV 719b4-d3 212 VI 759a1-760a5 204f. VI 764c5-765e3 99, 113 VI 774e9-775a3 208 VII 790c5-e4 154 VII 810b4-c4 31 VII 811c6-10 28 VII 816c1-d2 204 VII 816d3-818e4 29 VII 817a2-e3 227 VII 817d4 111 VII 802a1-c4 209f. VII 821d5-10 207 VIII 828b3-7 206
Stellenregister VIII 834 d8-835b4 113 VIII 845e5-9 208 IX 865c2-d2 206-208 XI 873d1-4 209 XI 916c8-d1 208 XII 958d3-6 209 XII 964b8-d1 207 XII 969a1-4 207
276b1-d8 282 277e5-278b4 85, 282, 292, 299 278c4-d6 92
Phaidon (Phd.) 60d8-61b7 178 72e 90 76d8 90 85b10-d9 73 90b4-c6 73 91b8-c6 127 114d1-8 229, 301
Politeia (Rep.) I 328d7-e7 19 I 331e5-332c8 246 I 331c1-3 65 I 331e1-336 a10 19 I 331e1-8 66f. I 332b9-c3 67 I 336b1ff. 19 I 341c4-7 99 II 360e1-362c8 260 II 361e1-3 127 II 367c5-d5 127 II 372e2-373c7 146 II 373b7 100 II 378d5-e1 138 II 379a5-c7 195 II 380d-383c 194 II 381d11-e6 113 II 382e3 177 II 382e8-11 194 II 382e8-383c7 129 II 383a2-5 114 II 383a7-c7 127 II 383b2-9 271 III 392d2-394 c5 25 III 394e8-395a6 151 III 395a1-b1 100 III 401e1-402a4 127 III 404b-c 268 IV 414c4-415d5 114 IV 424b3-c6 127 IV 491b7-10 127 V 467a-d 65 V 475d1-e2 108 V 476d5-e2 57 VI 485c3f. 114
Phaidros (Phdr.) 227a1-230e5 108 244a3-c4 216-218 244c4d-5 219f. 244d5-245a1 217, 220 245a1-8 154, 189f., 221f. 245b1-c2 217, 223 246a-256e 228 249d4-e4 225 251c5-252c2 217 252e1-253b1 224 257b2-6 220 258d10 30 258e6-259d8 178f. 259e1-262c4 74f. 261d10-262c3 119 265a9-11 217 265b2-c3 220, 228 267b3-5 103 271b1-d7 75f. 271e2-272b4 76f., 114 274b6f. 103, 296 274b6-279c8 287 274c5-275b2 58, 127, 287 275a6-b2 289 275b3-c4 127f., 218 275d4-e5 91, 114, 266, 288, 291
Philebos (Phlb.) 22e5f. 247 23a 79 55e 53
321
322 VI 487b7-c3 120 VI 492b-c 108 VI 493d7-9 111 VI 497d8-498c4 114 VI 500d10-e4 227 VI 504e8-505a3 90 VI 506b11-c5 182 VII 514a-518b 225 VII 534b8-d1 73 VII 540a4-c2 123 VIII 548 b-c 227 VIII 560b1-e4 123 VIII 560d8-561a1 123 VIII 561a6-b5 167 VIII 568a8-d2 111 IX 573 a4-b4 167 IX 582d15-e2 127 X 598e3-5 243 X 599d2 178 X 601b2-4 30 X 607b5f. 22 X 606e1-607a5 124 Protagoras (Prot.) 329a2-b1 292 334a3-c8 233, 255 334c8-e3 48, 234 334e4-335a8 235 335b3-e4 236f. 336b4-e4 24, 237f. 337a1-c6 238, 248 337c6-338d5 239f. 338e6-339a6 241, 254, 279 339b1-e3 245-247 339e3-340e7 248-250 340e8-341c2 251 341a4 248 341d2-342a2 252-254 342a6-343b5 255 342e3 255 343b6-c3 256f. 344a7-b5 245, 257 345d6-e6 258
Register 347a3-b7 254, 261f. 347b8-348a9 284 347c3-d2 263 347c5-348a6 241, 264f. 350c6-d2 237 Sophistes (Soph.) 216c2-217a2 119 226a6f. 113 Symposion (Symp.) 174a6-175e9 110 176e4-10 264 178b5-7 271 179d2-7 96 194a5-b5 45 194a8-b8 110 198c5-199b5 130 202a 187 204a 187 205b8-c9 30 212c6-8 120, 264 215d5-e4 45, 154 216d3 45 220a4f. 159 220d5-222a6 38, 119 223c6-d12 149, 159 Theaitetos (Tht.) 142a1-143c8 26f. 154d8-e5 72 155d1-7 45 176b1 177 183a2-4 250 Timaios (Tim.) 29b3-c2 73 51e1-52a6 185 71d5-72b5 194-199, 202f. 7. Brief (Ep. VII) 347d5 247
Stellenregister
Aristoteles Analytica Priora (An. pr.) II 20 67a21 40 Analytica Posteriora (An. post.) I 2 71b13-15 183 I 2 71b34-72 a5 35 Topik (Top.) I 14 105b19-21 17 Sophistici Elenchi (Soph. El.) I 12 173a7f. 40 Physik (Phys.) I 1 184a16-26 35 De anima (De an.) I 1 402a1-4 63 Metaphysik (Met.) I 1 981a4 40 I 1 982b12-21 45 V 11 1018b30 35 VII 3 1029b3-12 35 XIV 4 1091a5-9 247 Nikomachische Ethik (NE) I 1 1094b11-27 63 I 6 1098a3-5 174, 196 I 13 1102b18-21 196 I 13 1102b18-1103a4 174 VII 2 1145b25-1146a8 258 VII 3 1146a24-27 120 VII 5 1147a21-24 121 Politik (Pol.) I 2 1252b1-5 151 I 2 1252b9-15 173
I 4 1253b32 172 I 4 1254a1-2 172 I 4 1254a11-16 173 I 5 1254b20-23 173 Rhetorik (Rhet.) III 1 1403b15f. 142 III 1 1403b18-35 122 III 1 1403b24-26 143 III 7 1408b11-20 101 III 7 1408b20 40 Poetik 1 1447b13-16 30 2 1448a1-18 34 3 1448a29f. 41 4 1448b34-38 41f. 6 1449b11-12 41 6 1450b16-21 34, 122 9 1451a36-b10 31-33f. 9 1451b16-19 35, 37 9 1451b32 34 13 1453a28-31 110 13 1453a30-36 43 14 1453b10-14 43, 45 17 1455a30-34 101 23 1459a17-30 33, 41f. 24 1459b26f. 41 24 1459b36f. 41 24 1460a7f. 40, 42 24 1460a26f. 36 25 1460b13-32 36, 104 25 1461a33-b9 143 25 1461b11-13 34, 36 26 1461b26-1462b13 122 Fragmente (ed. Rose) fr. 72 31
323
324
Register
Weitere Autoren A NAXAGORAS DK / B 1 135 DK / B 2 135 A RISTOPHANES Frösche 52ff. 61 151 61 1033f. 131 Wolken 361ff. 248 AUGUSTINUS Confessiones XI 3,5 91 D IOGENES L AERTIOS III 18 31 III 34 37 III 35 36 III 37 28, 31 III 48 24f. III 49-51 16 III 52 23 III 56 18 III 57-60 18 III 57-62 21 III 60 96 III 65 24 E MPEDOKLES DK / B 134, 4f. 135 DK / B 135 135 E URIPIDES Bacchen 708-711 164 737-742 164 748-764 165 849-853 165 Medea 76-91 114
G ORGIAS DK / B 6 103 DK / B 11 30, 103, 158, 176 DK / B 23 102 H ERAKLIT DK / B 40 DK / B 42 DK / B 57 DK / B 75 DK / A 23
137 137 137 131 137
H ERODOT I 26-94 198 I 52-54 198 I 90 198 II 53 131 H ESIOD Theogonie 27f. 157 Werke und Tage 17-20 136 Fragment 197 155 H IPPOKRATES Peri diaites I 24, 496, 3 102 H OMER Ilias (Il.) I 10 136 I 43-61 136 I 194-221 155 I 575f. 245 II 1-5 193 II 1-34 129 II 484-494 156 II 594-600 158 III 164 175 VI 438f. 155 IX 411-415 155
Stellenregister IX 702f. 155 XIV 153-353 194 XIX 326 270 XIX 396f. 135 XXIV 467 270 Odyssee (Od.) I 153ff. 155 I 337ff. 155 IV 347ff. 113 IV 349 114 IV 385f. 114 IV 410 115 IV 460 115 VIII 487-491 157 VIII 496-498 158, 245 XII 39-54 180 XVII 217f. 273 XVII 218 272 XVII 261ff. 155 XVII 347 277 XVII 352 277 XIX 203 157 XXII 330ff. 155 XXII 347 168 I SOKRATES Panathenaikos §§ 264f. 93 §§ 235-263 140, 247 K RITIAS DK / B 25
205, 211
P ROTAGORAS DK / A1 274 DK / A 27 274 DK / A 28 274 DK / A 29 274 T HOMAS VON AQUIN STh II-I, q.94, a.4 66 T HUKYDIDES I 20,3-22,4 157 I 73,2 157 I 77,3 175 II 54,4 136 II 60,5f. 71f. X ENOPHANES DK / B 10 137 DK / B 11 137 DK / B 12 137 DK / B 24 131 X ENOPHON Symposion III 5-6 51, 141 IV 6 131 Memorabilien I 6,14 276 I 7,14 51 IV 2,8-10 141
325
326
Register
Namensregister Abel, G. 1 (Fn. 1) Aischylos 143 (Fn. 271), 166, 260, 271 (Fn. 97) Anaxagoras 135 (Fn. 254) Aristophanes 37 (Fn. 66), 61 (Fn. 46), 112 (Fn. 181), 131 (Fn. 243), 149, 154 (Fn. 295), 166, 248 (Fn. 45) Aristophanes von Byzanz 163 (Fn. 322) Aristoteles 3, 6, 8, 16f., 28 (Fn. 35), 30-46, 63, 101, 104 (Fn. 156), 110 (Fn. 173), 120 (Fn. 208), 121f. (Fn. 214), 142-144, 151 (Fn. 287), 171-175, 183 (Fn. 375), 185, 185 (Fn. 377), 196 (Fn. 409), 247 (Fn. 40) Augustinus 37 (Fn. 69), 91 (Fn. 119) Barmeyer, E. 48 (Fn. 5), 107 (Fn. 164), 152 (Fn. 289), 154 (Fn. 296), 157 (Fn. 305), 158 (Fn. 309 und 310), 162 (Fn. 318), 168 (Fn. 334 u. 335), 169 (Fn. 336), 174 (Fn. 349), 175 (Fn. 351), 176 (Fn. 355), 181 (Fn. 368), 182 (Fn. 371), 190 (Fn. 392), 201 (Fn. 419), 227 (Fn. 487 und 488), 268 (Fn. 89) Barner, W. 70 (Fn. 70), 156 (Fn. 303), 245 (Fn. 34) Bassenge, F. 247 (Fn. 40) Baumhauer, A.O. 52 (Fn. 23), 74 (Fn. 80) Bernhard, Th. 87 (Fn. 109) Bernhart, J. 91 (Fn. 119) Bien, G. 120 (Fn. 208), 151 (Fn. 287) Blume, H.-D. 48 (Fn. 8), 108 (Fn. 166), 109 (Fn. 170), 122 (Fn. 214), 142 (Fn. 271), 143 (Fn. 271) Brandwood, L. 47 (Fn. 4) Buchheim, Th. 30 (Fn. 43), 53 (Fn. 29), 77 (Fn. 88), 102 (Fn. 152), 103 (Fn. 152), 112, 112 (Fn. 184),
132 (Fn. 246), 158 (Fn. 309), 175 (Fn. 352), 176 (Fn. 352) Büttner, St. 29 (Fn. 40), 31 (Fn. 46), 138 (Fn. 261), 160 (Fn. 315), 161 (Fn. 315 und 316), 167 (Fn. 331), 176 (Fn. 356), 190 (Fn. 392), 214 (Fn. 452) Burkert, W. 114 (Fn. 189), 187 (Fn. 381) Buschor, E. 164 (Fn. 324) Bywater, I. 120 (Fn. 208) Capelle, W. 211 (Fn. 443) Christ, G. 244 (Fn. 30) Dalfen, J. 2 (Fn. 3), 15 (Fn. 14), 16 (Fn. 15), 27 (Fn. 34), 38 (Fn. 70), 49 (Fn. 9), 68 (Fn. 65), 108 (Fn. 166), 109 (Fn. 170), 127 (Fn. 231), 132 (Fn. 245), 227 (Fn. 487) Diderot, D. 99, 99 (Fn. 142), 100, 101 (Fn. 147) Diels, K. 134 (Fn. 251) Dieterle, R. 90 (Fn. 116), 239 (Fn. 21) Diller, H. 102 (Fn. 151), 107 (Fn. 164), 121 (Fn. 210), 148 (Fn. 279), 151 (Fn. 287), 158 (Fn. 308), 185 (Fn. 378) Diogenes Laertios 3, 16-25, 28 (Fn. 35), 31 (Fn. 45), 36 (Fn. 65), 37 (Fn. 66), 40, 42, 44, 46, 96 (Fn. 129), 297 (Fn. 19), 298 Dirlmeier, F. 121 (Fn. 214) Donlan, W. 249 (Fn. 47) Duke, E.A. 8 (Fn. 4) Eco, U. 63, 63 (Fn. 52), 280, 280 (Fn. 126), 301 (Fn. 30) Eigler, G. 28 (Fn. 37), 80 (Fn. 92), 182 (Fn. 370), 196 (Fn. 408), 204 (Fn. 423) Eisenberger, H. 101 (Fn. 147), 103 (Fn. 154), 105 (Fn. 160), 107 (Fn. 164)
Namensregister Empedokles 31, 135 (Fn. 254) Enzensberger, H.M. 61 (Fn. 45) Epicharm 271 (Fn. 97) Erler, M. 49 (Fn. 9), 92 (Fn. 120), 93, 93 (Fn. 124), 118 (Fn. 200), 138 (Fn. 261), 140 (Fn. 265), 237 (Fn. 11), 240 (Fn. 22), 299 (Fn. 26), 300 (Fn. 28 und 29) Euripides 6, 50, 61, 64, 114 (Fn. 190), 163, 163 (Fn. 322), 166, 221, 270 (Fn. 96), 271 (Fn. 97) Ferber, R. 45 (Fn. 99), 70 (Fn. 69), 93 (Fn. 123), 118 (Fn. 201), 183 (Fn. 374) Figal, G. 25 (Fn. 29) Fink, E. 159 (Fn. 314), 170 (Fn. 337 und 339), 227 (Fn. 486) Finsler, G. 25 (Fn. 29), 40 (Fn. 80), 154 (Fn. 294) Flashar, H. 38 (Fn. 72), 42 (Fn. 89), 47, 47 (Fn. 2 und 3), 48 (Fn. 5), 49 (Fn. 11 und 13), 103 (Fn. 154), 104 (Fn. 157), 107 (Fn. 164), 108 (Fn. 168), 111 (Fn. 177), 123 (Fn. 217), 136 (Fn. 255), 141 (Fn. 266), 148 (Fn. 280), 164 (Fn. 323), 168 (Fn. 335), 189 (Fn. 384 und 386), 190 (Fn. 392), 192, 192 (Fn. 397) Fleischer, M. 217 (Fn. 462), 225 (Fn. 484), 228 (Fn. 488) Fränkel, H. 244 (Fn. 30) Frede, D. 254 (Fn. 60 und 61), 259 (Fn. 72 und 73), 261 (Fn. 75) Friedländer, P. 58 (Fn. 40), 98 (Fn. 137), 241 (Fn. 24), 244 (Fn. 30), 249 (Fn. 48), 257 (Fn. 69), 258 (Fn. 70), 259 (Fn. 72) Fuhrmann, M. 30 (Fn. 42), 34, 34 (Fn. 56), 39 (Fn. 74), 42 (Fn. 85, 86 und 89), 191, 191 (Fn. 394) Gadamer, H.-G. 106 (Fn. 161), 178 (Fn. 362)
327
Gaiser, K. 15 (Fn. 13), 28, 28 (Fn. 36), 29, 29 (Fn. 39) Gatzemeier, M. 134 (Fn. 251), 137, 137 (Fn. 260) Geldart, W.M. 154 (Fn. 295) Gentinetta, P.M. 248 (Fn. 43) Gerhardt, V. 39 (Fn. 75) Glaukon 5, 134, 142-144 Goethe, J.W. v. 95, 95 (Fn. 127), 96, 103 (Fn. 156), 106, 106 (Fn. 163), 107 Gorgias 102-103, 108, 111 (Fn. 179), 114, 124, 158 (Fn. 309), 175 (Fn. 352), 176 (Fn. 352), 235 (Fn. 6), 279 (Fn. 124) Graeser, A. 45 (Fn. 96), 65 (Fn. 56), 69 (Fn. 67) Gundert, H. 148 (Fn. 280), 161 (Fn. 316), 187, 187 (Fn. 380), 217 (Fn. 461), 225 (Fn. 482) Habermas, J. 34 (Fn. 58), 37 (Fn. 68), 44, 44 (Fn. 95), 49 (Fn. 10) Hall, F.W. 154 (Fn. 295) Hamburger, K. 31 (Fn. 44), 33 (Fn. 52) Harder, R. 296 (Fn. 18) Haussig, H.W. 198 (Fn. 413) Havelock, E.A. 156 (Fn. 305) Heidegger, M. 87 (Fn. 109), 88 (Fn. 109), 160 (Fn. 314) Heitsch, E. 9 (Fn. 2), 40 (Fn. 76), 73 (Fn. 79), 74 (Fn. 81), 75 (Fn. 82), 77, 77 (Fn. 88), 106 (Fn. 161 und 162), 107 (Fn. 164), 120 (Fn. 208), 193 (Fn. 399), 216 (Fn. 457 und 458), 217 (Fn. 461), 220 (Fn. 472), 221 (Fn. 475) Hekataios von Milet 237 (Fn. 259) Heraklit 131 (Fn. 243) Herington, J. 109 (Fn. 170) Hermann, K.F. 148 (Fn. 279) Herodot 131 (Fn. 243), 198, 198 (Fn. 413 - 415) Hesiod 29, 61, 127 (Fn. 231), 135 (Fn. 254), 136 (Fn. 254), 137
328
Register
(Fn. 259), 139, 150, 155, 155 (Fn. 302), 157 (Fn. 308), 158, 158 (Fn. 308), 161 (Fn. 316), 195, 249, 250 (Fn. 52), 271, 271 (Fn. 97), 274-276, 280 Hippias 23, 59, 86-89, 108, 118 (Fn. 200), 233, 239, 240, 259-262, 269-271, 279 (Fn. 124), 281 Hippokrates 102 (Fn. 151) Höhne, H. 135 (Fn. 252) Homer 6, 29, 31, 51, 51 (Fn. 19), 52, 57 (Fn. 38), 59-61, 68-71, 79, 86-91, 97-108, 111 (Fn. 178), 113, 115, 121-150, 154 (Fn. 296), 155-161, 167, 168 (Fn. 335), 180, 194 (Fn. 400), 195, 213-215, 242 (Fn. 28), 244 (Fn. 30), 245 (Fn. 34), 263 (Fn. 83), 266-280 Horn, Chr. 57 (Fn. 36), 189 (Fn. 386) Hude, C. 72 (Fn. 72) Hülser, K. 68 (Fn. 63) Iser, W. 288 (Fn. 2) Isokrates 92 (Fn. 120), 93 (Fn. 125), 140 (Fn. 265), 247 (Fn. 39) Jacobi, K. 36 (Fn. 64), 39 (Fn. 73), 43 (Fn. 92), 82 (Fn. 95), 200 (Fn. 418) Jaeger, W. 40 (Fn. 78) Janaway, Chr. 214 (Fn. 452) Jaspers, K. 18 (Fn. 17) Joly, R. 102 (Fn. 151) Jürß, F. 16 (Fn. 15) Kannicht, R. 30 (Fn. 43), 34 (Fn. 59), 38 (Fn. 72), 41 (Fn. 80), 70 (Fn. 70), 71 (Fn. 70), 109 (Fn. 170), 156 (Fn. 305), 157 (Fn. 307), 158 (Fn. 308), 263 (Fn. 83) Kassel, R. 30 (Fn. 42) Kennedy, G.A. 101 (Fn. 149) Kobusch, Th. 111 (Fn. 179) Koch, P. 10, 11 (Fn. 6 und 7), 14, 14 (Fn. 12) Koller, H. 25 (Fn. 29), 157 (Fn. 306), 180 (Fn. 367), 181 (Fn. 367)
Kuhn, H. 29 (Fn. 41), 227 (Fn. 487) Kritias 205 (Fn. 430), 211, 211 (Fn. 443) Kranz, W. 134 (Fn. 251) Krautz, H.-W. 234 (Fn. 2 und 5), 259 (Fn. 72) Kröner, H.-O. 93 (Fn. 125), 140 (Fn. 265) Krüger, G. 66 (Fn. 58) Landmann, G.P. 78 (Fn. 72) Latacz, J. 36 (Fn. 65), 61, 61 (Fn. 47 und 48), 62 (Fn. 49), 107 (Fn. 164), 108 (Fn. 166), 109 (Fn. 170), 111 (Fn. 178), 155 (Fn. 301), 156 (Fn. 303), 163 (Fn. 322), 165 (Fn. 327), 166 (Fn. 329), 245 (Fn. 34), 246 (Fn. 34), 263, 263 (Fn. 83 und 84) Latte, K. 157 (Fn. 305), 158 (Fn. 308), 168 (Fn. 335) Ledger, G.R. 47 (Fn. 4) Lenk, H. 1 (Fn. 1) Löhrer, G. 1 (Fn. 1) Lohse, G. 271, 271 (Fn. 98 und 99), 272, 272 (Fn. 100) Long, H.S. 16 (Fn. 15) Manuwald, B. 247 (Fn. 41), 254 (Fn. 63), 258 (Fn. 71), 261 (Fn. 77), 274 (Fn. 109) Marchant, E.C. 141 (Fn. 267) Marten, R. 44 (Fn. 94), 70 (Fn. 68), 73 (Fn. 75), 79 (Fn. 90), 81 (Fn. 94), 83 (Fn. 100), 97 (Fn. 134), 114 (Fn. 190), 157 (Fn. 307), 158 (Fn. 308), 160 (Fn. 314), 195 (Fn. 405), 223 (Fn. 478), 261 (Fn. 79), 262 (Fn. 80) Martens, E. 27 (Fn. 33) McKim, R. 111 (Fn. 179) Mehmel, F. 103 (Fn. 156), 125 (Fn. 228), 137 (Fn. 259), 138 (Fn. 261), 190 (Fn. 392), 215 (Fn. 456)
Namensregister Meier, Chr. 62, 62 (Fn. 50), 206 (Fn. 432) Metrodor von Lampsakos 5, 134-144 Mittelstraß, J. 2 (Fn. 3) Müller, A. 107 (Fn. 164), 132 (Fn. 246), 134 (Fn. 251), 144 (Fn. 274), 284 (Fn. 130) Müller, C.W. 99 (Fn. 141) Müller, H. 28 (Fn. 37), 196 (Fn. 408) Musil, R. 35 (Fn. 60), 118 (Fn. 201) Nestle, W. 134 (Fn. 251), 135 (Fn. 253), 136, 137 (Fn. 258), 259 (Fn. 72) Nietzsche, F. 14 (Fn. 11) Nussbaum, M.C. 193 (Fn. 399) Oehler, K. 60 (Fn. 44) Oesterreicher, W. 10, 11 (Fn. 6 und 7), 14, 14 (Fn. 12) Patzer, H. 107 (Fn. 164), 111 (Fn. 180) Perger, M. v. 13 (Fn. 9), 79 (Fn. 89) Pfister, F. 260 (Fn. 74) Pindar 61, 103 (Fn. 156), 154 (Fn. 296), 187, 214 (Fn. 452), 268 (Fn. 89), 270 (Fn. 96), 271 (Fn. 97) Pittakos 244 (Fn. 30), 246-252, 256, 257 Pöhlmann, E. 99 (Fn. 139), 103 (Fn. 154), 107 (Fn. 164), 145 (Fn. 275), 190 (Fn. 393) Pohlenz, M. 42 (Fn. 89) Porphyrios 21 (Fn. 20), 296 (Fn. 18) Prauss, G. 44 (Fn. 93) Prodikos 103, 103 (Fn. 154), 233, 238, 239, 244, 244 (Fn. 30), 248-254, 260 (Fn. 75), 263 Protagoras 7, 23, 37, 39, 59, 97 (Fn. 134), 233-268, 274 (Fn. 109), 278-281 Puster, R.W. 65 (Fn. 56) Rellstab, F. 99 (Fn. 142), 101 (Fn. 147)
329
Riedweg, Chr. 189 (Fn. 390) Rolfes, E. 120 (Fn. 208), 151 (Fn. 287) Rorty, R. 280 (Fn. 126) Rose, V. 31 (Fn. 45) Ross, W.D. 17 (Fn. 16), 40 (Fn. 78), 151 (Fn. 287) Rupé, H. 135 (Fn. 252) Rzach, A. 158 (Fn. 308) Schadewaldt, W. 30 (Fn. 43), 42 (Fn. 88 und 89), 103 (Fn. 154), 109 (Fn. 170), 135 (Fn. 252), 157 (Fn. 305) Schäublin, Chr. 93 (Fn. 125), 140 (Fn. 265), 247 (Fn. 39) Schildknecht, Chr. 46 (Fn. 100), 117 (Fn. 197), 190 (Fn. 390) Schirnding, A.v. 158 (Fn. 308) Schlaffer, H. 98 (Fn. 136), 107 (Fn. 164), 133 (Fn. 248), 137 (Fn. 260), 156 (Fn. 305), 161 (Fn. 317), 244 (Fn. 31) Schleichert, H. 65 (Fn. 57) Schleiermacher, F. 15 (Fn. 13), 68 (Fn. 63), 80 (Fn. 92), 111 (Fn. 178), 182 (Fn. 370), 287 (Fn. 1) Schmitt Pantel, P. 48 (Fn. 5) Schöpsdau, K. 28 (Fn. 37), 109 (Fn. 169), 204 (Fn. 423) Schwinge, E.-R. 25 (Fn. 29) Sève, M. 47 (Fn. 1 und 2) Simonides 6, 7, 61, 66-69, 94, 233-268, 272, 274 (Fn. 109), 278-281, 284 (Fn. 129) Skiadas, A. 105 (Fn. 160), 160 (Fn. 315) Snell, B. 60 (Fn. 43) Söll, L. 10, 10 (Fn. 4) Sophokles 61 Stählin, F. 190 (Fn. 392) Stenzel, J. 23 (Fn. 23), 32 (Fn. 49) Stesimbrotos von Thasos 5, 134, 140-142, 144 Stegeman, V. 135 (Fn. 252)
330
Register
Stetter, Chr. 39 (Fn. 73), 112 (Fn. 182), 235 (Fn. 6) Stierle, K. 38 (Fn. 72), 40 (Fn. 80) Stillet, H. 192 (Fn. 398) Szaif, J. 71 (Fn. 72), 243 (Fn. 29), 278, 278 (Fn. 119 und 120) Szlezák, Th.A. 2 (Fn. 3), 117 (Fn. 197), 119 (Fn. 207), 196 (Fn. 407), 226 (Fn. 485), 237 (Fn. 12), 287 (Fn. 1), 288 (Fn. 4) Tate, J. 134 (Fn. 251), 137 (Fn. 258), 138 (Fn. 261 und 263), 182 (Fn. 371), 290 (Fn. 6) Taylor, C.C.W. 245 (Fn. 33), 258 (Fn. 71), 259 (Fn. 72 und 73) Theagenes von Rhegion 137 (Fn. 259) Theognis 247 (Fn. 40), 277-281, 318 (Fn. 127) Theokrit 240 (Fn. 22) Thespis 166 Thomas von Aquin 66 (Fn. 57) Thomas, H.W. 180 (Fn. 367), 190 (Fn. 390) Thukydides 71 (Fn. 72), 136 (Fn. 256), 157 (Fn. 305), 175 (Fn. 352) Tugendhat, E. 13 (Fn. 9) Tulli, M. 138 (Fn. 261) Tynnichos aus Chalkis 167f. Voit, L.
269 (Fn. 92)
Von der Mühll, P. 157 (Fn. 305) Wehrli, F. 123 (Fn. 217), 168 (Fn. 335) Weiher, A. 157 (Fn. 305) Weinreich, O. 154 (Fn. 295) Wichmann, O. 176 (Fn. 354) Wieland, W. 37 (Fn. 69), 39 (Fn. 73), 48, 48 (Fn. 6), 65 (Fn. 56), 67 (Fn. 61), 72 (Fn. 74), 84 (Fn. 102), 93 (Fn. 123), 106 (Fn. 161), 126 (Fn. 230), 127 (Fn. 230) Wilamowitz-Moellendorff, U.v. 71 (Fn. 71), 249 (Fn. 48), 255 (Fn. 64), 259 (Fn. 72) Woodruff, P. 193 (Fn. 399) Wyller, E.A. 15 (Fn. 13), 50 (Fn. 14), 98 (Fn. 137), 107 (Fn. 164), 190 (Fn. 392) Xenokles 166 Xenophanes 131 (Fn. 243), 137 (Fn. 259) Xenophon 37 (Fn. 66), 131 (Fn. 243), 141, 141 (Fn. 268), 142, 276 (Fn. 115) Zaidman, L.B. 48 (Fn. 5) Zanker, P. 119 (Fn. 204), 158, 159 (Fn. 311 und 312) Zimmermann, B. 112 (Fn. 181), 164 (Fn. 324)
Begriffs- und Sachregister
331
Begriffs- und Sachregister Abbild 30 (Fn. 42), 30-46, 54f., 65 (Fn. 56), 151, 177, 212 Agon 47f., 51, 61 (Fn. 46), 88 (Fn. 110), 96, 99, 108-113, 134, 136 (Fn. 254), 169, 236f., 240f., 247, 251-259 akribeia 62f. (Fn. 51) Antilogik s. Eristik Autopsie 156 Autorität 66-69, 90, 121-131, 137, 143, 147, 188 (Fn. 383), 210, 213, 218-221, 230, 250, 257, 260, 264, 267, 270f., 272 (Fn. 103), 274-279 Autoritätsargument 66, 126, 131, 147, 188 (Fn. 383), 213f., 250, 267f., 281, 294 Bakchen 154f., 162-167, 177, 186, 192, 223f. brachylogia 7, 85, 88, 233-243, 247 (Fn. 40), 255f., 264, 292 Dialektik / dialektisch 67 (Fn. 61), 72-74, 79-81, 85, 97 (Fn. 134), 110, 115-120, 132f., 145, 148 (Fn. 279), 177, 187, 237 (Fn. 11), 248 (Fn. 45), 254 (Fn. 60), 255, 260-266, 282, 295 Dialog 9-46 – als literarische Gattung 9-16 – Klassifikationsmöglichkeiten 16-25 – Dialogtechnik (narrativ, dramatisch etc.) 16f., 25-28, 40-42, 45 (Fn. 96), 47-49, 86, 233, 269 (Fn. 93) – Dialogfiguren 36-40, 96f., 105-107 Dialogizität 13 (Fn. 9), 85-92, 117, 255 (Fn. 65), 265-267, 289-293 dianoetisch 60, 64, 69f. dianoia 57-60, 89, 94, 201, 209f., 229f., 253f., 263f., 271, 280, 284f., 287-297 documentary fallacy 32 doxa 5, 56f., 62f., 82, 158 (Fn. 309),
181-188, 189, 215, 228f., 245, 256, 258 elenchos 105, 133, 148 (Fn. 279), 230, 242, 264, 267, 294 empeiria s. techne (ant.) epideixis 5, 86f., 121-133, 147, 149, 158 (Fn. 309), 175f. (Fn. 352), 242 (Fn. 28), 254-262, 270 episteme 5, 56f., 68, 75, 77, 79 (Fn. 89), 90, 92 (Fn. 121), 93, 113-126, 137 (Fn. 260), 139, 156, 158, 178 (Fn. 362), 181-189, 208f., 211f., 215, 223 (Fn. 478), 228f., 239 (Fn. 21), 243 (Fn. 29), 256, 258, 289, 299 Epos 6, 30 (Fn. 42), 41, 61 (Fn. 48), 97, 107 (Fn. 164), 111 (Fn. 178), 113, 130, 134-138, 144, 149, 153, 155-157, 189, 195 (Fn. 405), 269-271 Eristik 72, 116, 126, 237 (Fn. 11), 260 Etymologie 41, 107 (Fn. 164), 139 (Fn. 264), 222 (Fn. 475) Gegensatz, kontradiktorischer 212f. Gegensatz, konträrer 275 Gesetze 6, 35, 53, 109 (Fn. 169), 129, 135 (Fn. 254), 138, 176 (Fn. 352), 203-215 Gesetzesausleger 6, 203-215 Gesprächshandlung 2f., 19, 32f., 37-39, 45f., 49, 73 (Fn. 76), 78, 80, 86, 90, 97 (Fn. 134), 102 (Fn. 151), 212 (Fn. 446), 243 (Fn. 29), 282 (Fn. 127), 301 (Fn. 31) Gesprächstugend 4, 79-84, 88, 294f. Gott / Götter 5, 51, 71 (Fn. 71), 92, 97, 99, 104, 110, 113-115, 119, 127-129, 134-138, 154f., 159-180, 185f., 191-211, 213, 217-224, 230, 245 (Fn. 34), 249, 272 hyponoia 68, 136-139
332
Register
Inspiration 98 (Fn. 136), 101 (Fn. 149), 152 (Fn. 289), 154 (Fn. 296), 158 (Fn. 310), 162, 168 (Fn. 334f.), 175 (Fn. 351), 181 (Fn. 368), 190, 193 (Fn. 399), 202, 218f., 222 (Fn. 476) Instrumentalisierung 173-177, 210, 221 intentio auctoris 7, 59, 64, 69-71, 78, 93, 121, 123, 139-145, 259f., 267f., 276f., 280-285, 287-293, 296, 300f. intentio lectoris 8, 140, 145, 260, 273, 276, 280-285, 287, 293, 294-297 intentio operis 139f. Interpretation – Notwendigkeit der Interpretation 4, 60, 63, 64-69, 94, 140 (Fn. 265), 197f., 202f., 246 (Fn. 36) – Unmöglichkeit der Interpretation 7, 67 , 86-95, 140 (Fn. 265), 145-148, 259 (Fn. 73), 265-268, 280-285, 301 (Fn. 30) – allegorische Interpretation 134-140, 142, 144f. – apologetische Interpretation 106 (Fn. 161), 137-139, 143f. – kritische Interpretation 63f., 301 (Fn. 30) – semantische Interpretation 63f., 301 (Fn. 30) – bei Abwesenheit des Autors 89, 92f., 140 (Fn. 265), 265-267, 289 (Fn. 6), 299 (Fn. 26) – Idee der richtigen Interpretation 61-64 – Privatinterpretation 71 – Selbstinterpretation 92, 199, 202, 266 – Vermittlung der Interpretation 69-72 – Zeitpunkt der Interpretation 92, 265f., 273f., 289-291 Komödie 34, 41, 43, 62, 100, 149-151 Korybanten 153f., 159-163, 177, 192
Kureten 163 Kurzrede s. brachylogia Langrede s. makrologia Lobrede s. epideixis logon didonai 85, 167, 182, 185f., 188, 193, 212, 214 (Fn. 452), 223 (Fn. 478), 228-230, 238, 243, 253, 256, 261f., 284f., 287-301 Lüge 103f. (Fn. 156), 109 (Fn. 169), 114 (Fn. 190), 115, 119, 137 (Fn. 260), 157, 157f. (Fn. 308), 193f. Magnet 152f., 170f., 179, 198 makrologia 7, 85, 233-243, 247 (Fn. 40), 255, 292 Mantik 96, 215, 219-226 Mehrfachadressierung 49, 107 metron 30-32 mimesis s. Abbild Möglichkeitsaussagen 199-201 Monologizität 13 (Fn. 9), 85, 85 (Fn. 103), 88, 292 Mündlichkeit (als Medium und Konzeption) 3, 9-15, 19, 25 (Fn. 27), 26 (Fn. 32), 28f., 103 (Fn. 154), 107, 282 (Fn. 128), 285, 287 (Fn. 1), 288, 289f. (Fn. 6), 296-301 Musen 109 (Fn. 169), 111 (Fn. 178), 149, 152-158, 162, 168, 177-181, 192 (Fn. 398), 212f., 221f., 227 (Fn. 487f.) Mythos / mythische Redeweise 58 (Fn. 39), 61, 66 (Fn. 58), 68 (Fn. 65), 102, 127-129, 136 (Fn. 257), 137 (Fn. 258f.), 138, 143, 163 (Fn. 322), 166, 174 (Fn. 349), 178f., 180 (Fn. 367), 194 (Fn. 400), 197 (Fn. 411), 214 (Fn. 452), 218f., 228f., 287 (Fn. 1), 289, 301 Nachahmung s. Abbild Naturphilosophie 17-21, 30-32, 135-139, 143
Begriffs- und Sachregister Naturrecht 80, 151 (Fn. 287), 172-175, 239 noetisch s. dianoetisch Nüchternheit 100, 179, 190, 197, 220, 222 (Fn. 476), 284 (Fn. 130) Orakel / Orakelsänger 128, 162, 170, 177, 182, 185, 189, 197f., 203-206, 210, 217f. organon s. Werkzeug Performanz 1, 19, 38 (Fn. 70), 237 (Fn. 11) prepon 103 Politiker 5, 108 (Fn. 166), 111f., 181-189, 219, 215, 221 polloi 108-111, 132-134, 250 Priester 187-189, 204-206, 218 Propheten 6, 182 (Fn. 371), 201-203, 218 Prüfgespräch s. elenchos Rätselhaftigkeit 68f., 89 Rausch s. Trunkenheit Rezitation 92, 98 (Fn. 137), 107 (Fn. 164), 110 (Fn. 173), 140-145, 266 Rhetorik (dialektische vs. sophistische) 4, 52f., 72-78, 85f., 89, 103, 114 (Fn. 190), 124, 143, 262, 294 Schauspieler 99-104, 108-110, 121f. (Fn. 214), 143 (Fn. 271), 146 (Fn. 278), 149 (Fn. 280), 179 Schiedsrichter 99 (Fn. 143), 109 (Fn. 170), 110, 113, 239f. Schriftkritik 10 (Fn. 5), 26 (Fn. 32), 58 (Fn. 39), 85 (Fn. 103), 91, 93 (Fn. 123), 103 (Fn. 154), 282 (Fn. 128), 185-301 Schriftlichkeit (als Medium und Konzeption) s. Mündlichkeit Seele 53-55. 74-76, 82, 123 (Fn. 217), 172-175, 187f., 195f., 199, 203, 214 (Fn. 452), 221-229, 289f.
333
Seher 6, 156 (Fn. 305), 162, 170, 189-203, 204 (Fn. 425), 206f. Situierung 76 (Fn. 86), 89, 204-208, 295 Sklave 154 (Fn. 295), 171-175, 208 (Fn. 438), 247 (Fn. 40) Sprachrohr 23-25, 40, 122 (Fn. 214), 168, 192, 197-201, 270 Sprechen – adressatengerechtes Sprechen 23f., 48f., 58f., 70-79, 111 (Fn. 178), 127 (Fn. 231), 132, 171, 234f., 238, 295 – sachgerechtes Sprechen 73 (Fn. 78), 74f., 77 – in propria persona 27, 39f., 41f. – Zeit / Unzeit des Sprechens 76f., 87, 114 (Fn. 190), 169, 246, 262, 295 Synonymik 238, 248-253, 260 (Fn. 75) techne 4f., 47, 52-57, 58, 69f., 74-78, 85, 97f., 115, 124, 133, 145-151, 167, 191, 218f., 242f., 254 Telestik 215, 220f., 225f. Tempeldiener 187 (Fn. 381), 204, 204 (Fn. 424) Textauslegung 1 (Fn. 1), 8, 30 (Fn. 43), 59, 69 (Fn. 67), 145, 288, 297-301 Tragödie 17, 29, 34, 41-45, 60-64, 100, 102, 109-111, 122 (Fn. 214), 137 (Fn. 260), 144, 149-151, 163, 166f., 264 Traum 110, 129, 193f. (Fn. 400) tribe s. techne (ant.) Trunkenheit 154 (Fn. 295), 159, 264 Verantwortung / Verantwortlichkeit 5, 13 (Fn. 9), 56, 61, 68 (Fn. 65), 70, 94, 101f., 109 (Fn. 169), 129, 147, 160 (Fn. 314), 167-181, 186, 212, 219, 230f., 264, 267f., 290, 293, 297 Vernunft / Vernunftlosigkeit 5, 92f., 98 (Fn. 137), 101f., 154-162, 166-181, 191-203, 211f., 221, 223, 226, 229
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Register
Wahrhaftigkeit 65, 129f., 194 Wahrheit 39 (Fn. 73), 60, 66 (Fn. 58), 70 (Fn. 70), 73, 79 (Fn. 90), 80-85, 89f., 91 (Fn. 119), 92 (Fn. 121), 102 (Fn. 152), 114 (Fn. 190), 117-119,125-131, 137 (Fn. 260), 156 (Fn. 305), 157f., 178 (Fn. 362), 181-188, 193-196, 211 (Fn. 443), 212-214, 219, 228f., 242-246, 256, 262, 268, 275, 277, 280 (Fn. 125), 284, 295 Wahrheitsanspruch 13 (Fn. 9), 24, 44, 59, 66 (Fn. 58), 137 (Fn. 259) Wahrheitsbemühung 116, 260, 265 Wahrheitskonditionale Semantik 81f.
Wahrheitssuche 72 (Fn. 73), 80, 81,117f., 123, 137 (Fn. 258) Wahrheitsvergewisserung 57, 66 (Fn. 58), 72, 80f. Wahrsager 182, 185, 202 „Was-ist-X?“-Frage 65 Werkzeug 5f., 104, 151 (Fn. 287), 167-181, 186, 191 (Fn. 395), 199-203, 210f., 230 Wissen s. episteme Wissensanspruch 56f., 121 (Fn. 214), 256 Wissensvorenthalt 4, 68, 113-120, 133, 299 Zufall 181