DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION Gene und Stammbäume Roger Lewin
Aus dem Englischen übersetzt von Ina Raschke
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION Gene und Stammbäume Roger Lewin
Aus dem Englischen übersetzt von Ina Raschke
Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg · Berlin
Inhalt
Danksagung 1. Ein neues Fenster zur Natur
VII 1
2. Moleküle kontra Morphologie
19
3. Stammbäume
53
4. Das Rätsel der genetischen Variation
87
5. Die molekulare Uhr der Evolution
107
6. Molekularökologie
121
7. Molekularanthropologie
163
8. DNA aus alter Zeit
199
Weiterführende Literatur
231
Bildnachweise
236
Index
239
Danksagung
Ich hatte das Privileg, als Beobachter dabeizusein, als die neue Wissenschaft von der molekularen Evolution Gestalt annahm, und habe bei meiner eigenen Arbeit über dieses Gebiet von der Ermutigung und Unterstützung vieler Personen profitiert – zu vieler, um hier alle nennen zu können. Auch auf die Gefahr hin, die Gefühle des einen oder anderen nicht Erwähnten zu verletzen, möchte ich Morris Goodman, David Hillis und Emile Zuckerkandl meinen besonderen Dank aussprechen. Die Alfred P. Sloan Foundation zeigte Weitblick, als sie ein von Michael Teitelbaum betreutes Programm einrichtete, das die Erforschung der molekularen Evolution fördert, indem es junge Wissenschaftler finanziell unterstützt. Auch ich bin der Stiftung für Fördermittel, die ich für die Arbeit an diesem Buch erhielt, zu Dank verpflichtet. Und schließlich zolle ich meiner Mutter größte Dankbarkeit und tiefempfundenen Respekt.
VII
1.1 Männliche und weibliche Schmetterlinge verkörpern die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Natur, der sich die Wissenschaft mit modernen molekularbiologischen Methoden zu nähern beginnt, um traditionellen Fragen der Biologie auf den Grund zu gehen.
Ein neues Fenster zur Natur
N
icholas Davies, ein Zoologe an der University of Edinburgh in Schottland, ist ein hervorragender Beobachter tierischen Verhaltens – nach Aussage seiner Kollegen einer der besten. Statt sich jedoch einem der spektakuläreren Forschungsobjekte wie Schimpansen oder Löwen zu widmen, hat Davies die vergangenen zwölf Jahre damit verbracht, Heckenbraunellen (Prunella modularis) in den Botanischen Gärten der University of Cambridge zu beobachten. Ihr Aussehen mag schlicht sein, aber diese kleinen braunen Vögel haben ein Sozialleben, das alles andere als langweilig ist. Anders als beispielsweise bei Schwänen, die für ihre Monogamie bekannt sind, gibt es bei Heckenbraunellen viele Formen der Geschlechterbeziehungen: die Paarung eines Männchens mit einem Weibchen (Monogamie), eines Männchens mit mehreren Weibchen (Polygynie), eines Weibchens mit mehreren Männchen (Polyandrie) und sogar merkwürdige Kombinationen, bei denen sich mehrere Männchen mehrere Weibchen teilen (Polygynandrie). Ein fundamentaler Glaubenssatz der Evolutionsbiologie lautet, daß tierisches Verhalten nicht anarchisch ist, wie es oberflächlich betrachtet bei den Heckenbraunellen der Fall zu sein scheint, sondern daß es von einem einfachen darwinistischen Gesetz geprägt ist, nämlich vom Streben der Individuen nach maximalem Fortpflanzungserfolg, das heißt nach einer maximalen Nachkommenzahl. In ihren ungewöhnlichen Verhaltensmustern, so stellte Davies fest, frönen die Braunellen nicht etwa bizarren sozialen Extravaganzen, sondern sie scheinen sorgfältig ausgefeilte darwinistische Spiele zu spielen. Die Produktion von Nachkommen ist in der Natur ein ungleiches Geschäft, da die Interessen von Männchen und Weibchen in der Regel differieren. Das Ziel der Männchen ist es, so viele Nachkommen wie möglich zu zeugen, das der Weibchen dagegen, so viele eigene Nachkommen wie
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
möglich aufzuziehen. Die Sozialstruktur, die sich daraus für eine Tierart ergibt, ist stark von den verfügbaren Nahrungsquellen sowie dem zu ihrer Nutzung erforderlichen Aufwand beeinflußt. Häufig, vor allem bei Säugern, sind die Weibchen in der Lage, ihre Jungen allein zu ernähren; in diesem Fall bleibt die Aufzucht ihnen überlassen, und die Männchen übernehmen keinerlei elterliche Pflichten. Dagegen brauchen Jungvögel oft mehr Nahrung, als ein Elternteil allein herbeischaffen kann, und so ist väterliche Brutfürsorge – vor allem im Zusammenhang mit Monogamie – bei Vögeln häufig. Das variable Wechselspiel dieser unterschiedlichen darwinistischen Interessen ist die Ursache für das komplexe Sozialleben der Heckenbraunellen. Beispielsweise beobachtete Davies, daß selbst bei scheinbar monogamen Paaren das Weibchen oft versucht, ein zweites, sogenanntes Beta-Männchen zur Paarung zu bewegen, wodurch dieses motiviert wird, sich an der Nahrungsbeschaffung für die Jungen zu beteiligen. Wenn das geschieht, versucht der als Alpha-Männchen bezeichnete erste Partner des Weibchens energisch, den Eindringling zu vertreiben. In solchen Fällen wäre es für das Beta-Männchen aus darwinistischer Sicht sinnvoll, den Aufwand, den es in die Ernährung der Brut investiert, danach zu richten, ob und wie oft es sich mit dem Weibchen paaren konnte. Davies stellte fest, daß manche Beta-Männchen viel zur Versorgung der Jungen beitrugen, andere weniger; offensichtlich gab es hier irgendeine Form darwinistischer Regulation. In 80 Prozent der Fälle beispielsweise, in denen es einem Beta-Männchen gelang, sich mit einem Weibchen zu paaren, half dieses Männchen bei der
1.2 Heckenbraunellen haben kein einheitliches Paarungssystem, sondern es gibt verschiedene, zum Teil komplizierte Formen der Geschlechterbeziehungen. Wie genetische Untersuchungen gezeigt haben, ist das Verhalten des einzelnen Vogels extrem gut darauf abgestimmt, seine Darwinfitneß – das heißt die Anzahl seiner Nachkommen – zu maximieren.
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1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
Aufzucht der Jungen. Beta-Männchen, die nicht zur Paarung kamen, halfen dagegen nur in neun Prozent der Fälle. Überdies paßten die erfolgreichen Männchen ihren Fütterungsaufwand dem Ausmaß ihres Erfolgs an: Je öfter sie sich gepaart hatten, desto härter arbeiteten sie. Mit anderen Worten, das von Davies bei den Heckenbraunellen beobachtete Verhalten schien dem darwinistischen Imperativ recht gut zu entsprechen. Ohne jedoch feststellen zu können, welche Jungvögel von welchem Männchen gezeugt worden waren, konnte er nicht sicher sein, wie gut die Vögel diese Ziele erreicht hatten. Seinem scharfen Auge waren zwar tiefe Einblicke in das Sozialverhalten der Heckenbraunellen gelungen, doch Beobachten allein reichte nicht aus. Ende der achtziger Jahre lernte Davies eine Methode kennen, mit deren Hilfe sich feststellen ließ, welche Jungvögel von welchen Männchen gezeugt worden waren. Unter Verwendung von Blutproben der Vögel konnte er in Zusammenarbeit mit Terry Burke, einem Genetiker an der University of Leicester in England, Jungvögel und Väter mit Hilfe des – auch als genetischer Fingerabdruck bezeichneten – DNA-Fingerprinting einander zuordnen. Diese Technik, die kurz zuvor von Alec Jeffreys in Leicester entwickelt worden war, liefert für jedes Individuum ein einzigartiges DNA-Muster und zeigt, welche Individuen miteinander verwandt sind. Wie diese Untersuchung ergab, war das Verhalten der Vögel ihrem Fortpflanzungserfolg recht gut angemessen, allerdings nicht so gut, wie die Biologen angenommen hatten. Häufige Paarung erhöhte die Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft, aber der Fortpflanzungserfolg (also die Anzahl der gezeugten Nachkommen) war nicht genau proportional zum Paarungserfolg. Soviel zum Verhalten der Eindringlinge und ihrer darwinistischen Cleverness. Doch was war mit den Weibchen und den Alpha-Männchen? Davies’ frühere Beobachtungen hatten gezeigt, daß eine Brut, die von zwei Männchen und der Mutter ernährt wird, stets erfolgreicher ist als eine Brut, für die ein monogames Paar sorgt. Mehr Jungvögel überleben, und diese sind beim Flüggewerden schwerer als die Jungen von monogamen Paaren. Die Vorteile, die es für ein Weibchen mit sich bringt, die Aufmerksamkeit eines zweiten Männchens auf sich zu ziehen, sind daher offensichtlich. Doch selbst das Alpha-Männchen kann davon profitieren, und zwar nach Davies’ Berechnungen solange etwa 60 bis 70 Prozent der Jungen von ihm gezeugt wurden. Das typische Bestreben des Alpha-Männchens, andere Männchen zu vertreiben, erweckt den Anschein, als wüßte es, daß es unwahrscheinlich ist, diesen kritischen Erfolgslevel zu erreichen. Wie die Ergebnisse des DNA-Fingerprinting zeigen, ist das AlphaMännchen bei Brüten, die von einem Alpha- und einem Beta-Männchen gefüttert werden, durchschnittlich nur der Vater von 45 bis 55 Prozent der Jungen. Seine Versuche, andere Männchen fernzuhalten, sind daher berechtigt.
1.3 Das DNA-Fingerprinting, eine Mitte der achtziger Jahre in England entwickelte Methode, erlaubt die genetische Identifizierung von Individuen und ihren nahen Verwandten. Hier wird eine Mischung aus DNA-Fragmenten auf ein Gel aufgetragen; durch die nachfolgende Auftrennung der Fragmente in diesem Gel entsteht ein Bandenmuster, das für jedes Individuum einzigartig ist.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Davies’ Einsichten in das Verhalten der Heckenbraunellen waren, schon bevor er die genetische Dimension in seine Forschungen einbezog, als bahnbrechend gepriesen worden. Mit dem neuen molekularbiologischen Handwerkszeug hat Davies jedoch nicht nur die Genauigkeit seiner Beobachtungen auf ein zuvor für unmöglich gehaltenes Ausmaß gesteigert, sondern er wurde auch zum Vorreiter einer Entwicklung, die derzeit dabei ist, die traditionelle Biologie zu verjüngen und zu revolutionieren. Mit dem DNA-Fingerprinting, einer Methode, die ihre Entstehung einer zufälligen Entdeckung in einem molekularbiologischen Labor verdankt, steht Feldbiologen nun ein äußerst effektives Werkzeug zur Untersuchung evolutionsbiologischer Fragestellungen zur Verfügung – von der Identifikation der Eltern eines Individuums (wie im Beispiel der Heckenbraunellen) bis hin zur Aufklärung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Organismengruppen, deren Wurzeln Millionen Jahre zurückreichen. Dabei ist das DNA-Fingerprinting nur eine von mehreren neuentwickelten molekularbiologischen Techniken, die die Beantwortung vieler biologischer Fragen sehr viel leichter machen, als man sich noch vor wenigen Jahren hätte träumen lassen, und zum Teil sogar den Zugang zu zuvor unlösbaren Fragen ermöglichen. Diese Methoden reichen vom Vergleich der Grobstruktur von Proteinen bis hin zur Entzifferung der kompletten DNASequenz von Genen und sogar von kleinen Genomen. Befreit von den früheren technischen Beschränkungen, die es lediglich erlaubten, das Endergebnis der Aktivität zahlreicher Gene – die Anatomie von Organismen – zu untersuchen, nicht aber die Gene selbst, katapultiert sich die Evolutionsbiologie ins 21. Jahrhundert, angetrieben von leistungsfähigen Werkzeugen der Molekularbiologie.
Eine evolutionäre Perspektive »Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, wenn man es nicht im Lichte der Evolution betrachtet«, behauptete der Genetiker Theodosius Dobzhansky bereits vor zwei Jahrzehnten. Auch wenn diese Aussage stark verallgemeinert, ist sie grundsätzlich richtig, und zwar zwangsläufig, da die belebte Welt das Produkt der Evolution ist. Jahrtausendelang haben sich die Gelehrten bemüht, die Mannigfaltigkeit des Lebens zu erkennen, zu beschreiben und zu verstehen, indem sie das Verhalten und die anatomische Form von Organismen studiert und dabei nach Übereinstimmungen gesucht haben. In vordarwinistischer Zeit glaubte man, diese Übereinstimmungen verrieten das Muster der göttlichen Schöpfung; mit der Darwinschen Abstammungslehre setzte sich dann die Auffassung durch, daß sie Aufschluß über die Stammesgeschichte der Organismen geben. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert bei4
1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
spielsweise sahen die Gelehrten Ordnung in der Natur in Form der „Großen Kette der Wesen“ (Great Chain of Being) – ein Begriff, dessen geistige Wurzeln bis Aristoteles zurückreichen. Von den einfachsten Lebensformen, den Bakterien, bis hin zur kompliziertesten, Homo sapiens, war die Natur in regelmäßige Intervalle eingeteilt, in eine Hierarchie, welche die Ordnung in der Schöpfung widerspiegelte. Diese Kette galt als Beschreibung der natürlichen Welt, wie sie immer gewesen war und immer sein würde. In seinem 1758 veröffentlichten Werk Systema Naturae versuchte Carl von Linné, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Organismen mittels eines formalen Klassifikationssystems zu beschreiben – eines Systems, das auch heute noch verwendet wird. Durch anatomischen Vergleich suchte er nach Hinweisen auf Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Organismen, wobei größere Ähnlichkeit nähere und geringere Ähnlichkeit entferntere Verwandtschaft bedeutete. Beispielsweise gleichen die vorderen Extremitäten aller Vögel einander; es sind Flügel, die denselben grundlegenden Aufbau zeigen und sich deutlich von den Vorderbeinen der Säuger unterscheiden. Diese Beziehungen gab ein hierarchisches Klassifikationssystem wieder, das aus immer umfassenderen Gruppen aufgebaut war, beginnend mit der einzelnen Spezies als der untersten Stufe, über Gattung, Familie, Ordnung, Klasse und Stamm bis hin zum Reich. Unsere eigene Art (Homo sapiens) beispielsweise gehört zur
1.4 Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte Carl von Linné ein System zur Klassifikation der Arten auf der Grundlage anatomischer Ähnlichkeit, das heute noch in Gebrauch ist. In der sogenannten binären Nomenklatur ist jede Art durch einen Gattungsnamen und ein spezifisches Beiwort oder Epitheton bezeichnet, wie in Homo sapiens, dem wissenschaftlichen Namen des modernen Menschen.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Gattung Homo, zur Familie Hominidae (allerdings wandeln sich, wie wir noch sehen werden, die Ansichten darüber derzeit auf interessante Weise), zur Ordnung Primates, zur Klasse Mammalia, zum Stamm Chordata und zum Reich Animalia. Der Gattung Homo gehört nur eine Art an, aber es gibt 183 Primaten- und etwa 4000 Säugerarten.
1.5 Charles Darwin, der Vater der modernen Evolutionstheorie, träumte davon, daß es eines Tages möglich sein würde, einen kompletten Stammbaum des Lebens zu rekonstruieren, der die stammesgeschichtlichen Beziehungen zwischen allen existierenden Arten widerspiegeln würde. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahre 1868.
Nachdem Charles Darwin im Jahre 1859 The Origin of Species veröffentlicht hatte, setzte sich die Vorstellung von der Evolution durch natürliche Auslese allmählich durch, und man erkannte, daß die Übereinstimmungen in der Natur das Ergebnis gemeinsamer Abstammung und nicht Folge göttlicher Schöpfung sind. Jede Art besitzt Merkmale, die sie von allen anderen unterscheiden, doch stimmen Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren in bestimmten anatomischen Eigenschaften (und Verhaltensmerkmalen) überein, die ihre gemeinsame Abstammung erkennen lassen. Allgemein gesprochen ist der Versuch, diese gemeinsamen Eigenschaften zu erkennen, als Systematik bekannt, ein Arbeitsgebiet, das zum Hauptpfeiler der traditionellen Biologie wurde. Interessanterweise bedienten sich Biologen in vor- und nachdarwinscher Zeit derselben Methodik: Auf der Suche nach Ähnlichkeiten, die Verwandtschaft erkennen ließen, verglichen Wissenschaftler beider Epochen anatomische Eigenschaften. Verändert hatte sich nur die Erklärung für den Ursprung dieser Ähnlichkeiten. Letztlich sind alle Arten Teil eines großen, verzweigten Stammbaumes, dessen Spitzen die heute lebenden Arten darstellen, während die ausgestorbenen Spezies die Zweige bilden, die schließlich in einen gemeinsamen Stamm zusammenlaufen. In ihrer Hingabe an die Systematik sind Biologen bisher in diesem Baum herumgeklettert, haben versucht, hier und da evolutionäre Beziehungen ausfindig zu machen, und so gemeinsam ein Gesamtbild zusammengestückelt. Vor mehr als 100 Jahren schrieb Darwin an seinen Freund Thomas Henry Huxley: »Ich glaube, daß eine Zeit kommen wird – wenn ich sie auch nicht mehr erleben werde –, in der es echte Stammbäume für jedes große Reich der Natur geben wird.« Darwins Traum hat sich noch nicht erfüllt, doch zweifellos beginnt er inzwischen greifbare Formen anzunehmen, wobei genetische Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen. Die großen naturhistorischen Museen der Welt bergen ein umfangreiches Vermächtnis hingebungsvoller Beschäftigung mit der Systematik, sowohl aus der Zeit vor Darwin als auch aus späterer Zeit. Biologen schwärmten aus in die freie Natur, suchten nach lebenden Exemplaren der Artengruppen, die sie interessierten, und bauten allmählich Sammlungen von Pflanzen, Insekten und höheren Tieren auf, die die Vielfalt der heutigen Organismenwelt repräsentierten. Sie entdeckten neue Arten, benannten sie in der Linnéschen Tradition und klärten Verwandtschaftsbeziehungen zu bekannten Arten auf. Zur gleichen Zeit untersuchten Paläontologen alte Gesteinsschichten und sammelten Fossilien von Spezies, die Teil einer mannigfaltigen, ausgestorbenen Organismenwelt gewesen waren, Vorfahren
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1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
der heutigen, vielfältigen Lebensformen. Diese Arbeit war mit großen Abenteuern, mitunter scharfem Konkurrenzkampf und zeitaufwendigen Laboruntersuchungen verbunden. Manche Fragen bezogen sich auf größere Zusammenhänge, etwa die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Wirbeltierklassen; häufiger jedoch ging es um weniger umfassende, leichter zu untersuchende Fragestellungen, beispielsweise um die stammesgeschichtlichen Beziehungen innerhalb einer Gruppe von Nagern oder eines Zweiges der Arthropoden. Stammesgeschichtliche Verwandtschaft auf der Grundlage anatomischer Ähnlichkeit festzustellen, ist nicht so einfach, wie es klingt, denn solche Übereinstimmungen können zwar tatsächlich gemeinsame Abstammung widerspiegeln, sie können jedoch auch eine Folge der Anpassung an ähnliche Umweltbedingungen sein. Die ähnliche Körperform von Fischen und Walen beispielsweise ist das Resultat der strömungsdynamischen Anforderungen des Schwimmens; in diesem Fall ist die äußerliche Ähnlichkeit kein Zeichen naher Verwandtschaft. Zwischen den beiden Formen von Ähnlichkeit zu unterscheiden, ist oft extrem schwierig und mitunter auch unmöglich. Diese Schwierigkeiten haben zu vielen Meinungsverschiedenheiten über stammesgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen geführt. Nichtsdestotrotz wurde mit Hilfe der traditionellen Methoden – und sehr viel Phantasie – ein skizzenhafter Entwurf vom Stammbaum des Lebens erstellt, der jedoch mit vielen Fragezeichen versehen war. Wir teilen uns die Erde mit bis zu 30 Millionen Arten – einer erstaunlichen Vielfalt des Lebens, die lediglich der momentane Ausdruck eines kontinuierlichen Prozesses von Aussterben und Artbildung ist. Mehr als 99 Prozent aller Arten, die es jemals gegeben hat, sind ausgestorben – eine Tatsache, die deutlich macht, auf welch reichhaltige Abstammungsgeschichte wir zurückblicken. Das Leben entstand in der Frühzeit der Erdgeschichte, vor etwa vier Milliarden Jahren, in Form einfacher, einzelliger Organismen. Über eine kaum vorstellbare Zeitspanne hinweg wurde dieses Ursprungsthema lediglich variiert. Erst vor etwas mehr als einer halben Milliarde Jahren brachte die Evolution komplexere, aus vielen Zellen aufgebaute Organismen hervor. In einer treffend als „Kambrische Explosion“ bezeichneten plötzlichen Diversifikation entstanden viele verschiedene biologische Baupläne innerhalb eines kurzen Moments verschwenderischer evolutionärer Erneuerung. Jeder Bauplan diente als Grundmodell für zahlreiche Arten (die man jeweils einer gemeinsamen Großgruppe, einem sogenannten Stamm, zuordnet). Aus heutiger Sicht erscheint es bizarr, daß die Mitglieder dieser vielleicht 100 Gründerstämme im Bodenbereich des Flachwassers der Meere lebten. Nicht alle diese Formen überlebten, aber alle (oder praktisch alle) heute existierenden Stämme sind damals entstanden. Jeder hat zahllose Runden des Wandels durchlaufen, während die Evolution diese Grundformen kontinuierlich variierte und verfeinerte – ein Prozeß, der von gelegentlichen Perioden massenhaften Artensterbens und darauf folgender schneller Erholung unterbrochen wurde. Ausgehend von einer kleinen An7
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
zahl einfacher Lebewesen in den Meeren, besetzte die Natur schließlich ein breites Spektrum ökologischer Nischen auf dem ganzen Erdball und baute so die Lebensgemeinschaften auf, die die lebenden Komponenten der heutigen Ökosysteme darstellen. Die heutigen Lebensgemeinschaften sind also das Produkt von vier Milliarden Jahren Evolution. Sie sind das vergängliche Ergebnis der Wechselbeziehungen zwischen verschiedenartigen Organismen – zwischen Bakterien und Pilzen, Pflanzen und Tieren, Räubern und Beute. Vergänglich sind Lebensgemeinschaften insofern, als alles Lebendige ständig Veränderungen unterworfen ist. In gewissem Sinne sind sie jedoch auch dauerhaft: Über die Zeitalter hinweg werden immer wieder dieselben ökologischen Themen aufgegriffen, wobei verschiedene Arten ähnliche ökologische Nischen besetzen. In vergangenen Zeiten war der Säbelzahntiger ein wichtiges Raubtier in Afrika; heute ist der Löwe der König. Ehemals beweideten Deinotherien die Baumsavanne; heute tun dies Elefanten. Zu jeder Zeit und an jedem Ort wurden die Individuen jeder Spezies von einem darwinistischen Imperativ getrieben: dem Zwang, ihren Fortpflanzungserfolg zu 8
1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
1.6 Im Laufe der „Kambrischen Explosion“ vor 530 Millionen Jahren entstanden viele verschiedene Organismentypen, von denen einige hier in einer evolutionsgeschichtlichen Momentaufnahme abgebildet sind. Alle heute lebenden Stämme sind damals entstanden, und darüber hinaus viele andere, die nicht überlebt haben (durch Sternchen gekennzeichnet).
maximieren, wie oben für die Heckenbraunellen beschrieben. Jede Art führt den »Kampf ums Dasein«, wie Darwin es formulierte. Das Studium der Ökologie – der Art und Weise, wie die Individuen einer Art oder ganze Arten in der Welt zurechtkommen – ist daher das Studium der Evolution, wie sie Tag für Tag am Werke ist. Wichtige Elemente im Überlebenskampf sind natürlich die unbelebte Welt, zum Beispiel die Bodenchemie und das vorherrschende Klima, und die Beschränkungen, die sie den Organismen auferlegt. All dies ist Gegenstand der traditionellen Biologie, die sich um das Verständnis und die Rekonstruktion der Geschichte des Lebens sowie um das Verständnis des Verhaltens von Individuen, Populationen und Arten als Bestandteilen von Ökosystemen bemüht. Die in diesen Forschungsgebieten erzielten Erfolge waren enorm, vor allem in Anbetracht des Umfangs der intellektuellen Aufgabe. Im Laufe dieses Jahrhunderts und vor allem während der vergangenen zwei Jahrzehnte haben Feldbiologen freilebende Populationen zahlreicher Arten untersucht – eine Arbeit, der ausgefeilte Verhaltenstheorien zu verdanken sind. Diesen Leistungen zum Trotz 9
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
wurde die traditionelle Biologie meist als „weiche“ Wissenschaft angesehen, als intellektuell minderbemittelter Vetter beispielsweise der Teilchenphysik oder der Kosmologie, die wegen des stärkeren mathematischen Bezugs (der allerdings mittlerweile in der Biologie, vor allem in der theoretischen Ökologie, ebenfalls zunimmt) als „harte“ Wissenschaften galten. Die Sammlungen der naturhistorischen Museen, einstmals die modernsten naturwissenschaftlichen Errungenschaften, wurden zunehmend als anachronistische Einrichtungen mit geringem intellektuellem Gehalt abgetan, und die in den Museen tätigen Wissenschaftler mit ihrem altehrwürdigen Gewerbe der Systematik als bloße „Briefmarkensammler“. Dies hatte zur Folge, daß verschiedene große Museumssammlungen in den vergangenen Jahren aufgelöst wurden, um der modernen Biologie – das heißt der Molekularbiologie – Platz zu machen. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, daß die Molekularbiologie bei der derzeitigen Renaissance der traditionellen Biologie die Rolle einer Geburtshelferin spielt, indem sie Methoden bereitstellt, die einen ganz neuen Zugang zur genetischen Information ermöglichen. Das Herzstück jedes Lebewesens ist sein genetisches Material, das Genom, das seine Entstehung steuert. In der DNA des Genoms sind die Anweisungen für die Entwicklung eines ausgewachsenen Individuums aus einer einzigen befruchteten Eizelle verschlüsselt. Auf welche Weise aus einer Eizelle ein vollständig ausgebildeter Organismus hervorgeht, ist immer noch eines der größten Rätsel der Biologie und eine der größten Herausforderungen für
1.7 Jahrhundertelang haben Biologen Belegexemplare für die enorme Mannigfaltigkeit des Lebens gesammelt, beispielsweise diese Schalen von Achatinella phaezona, einer auf Bäumen lebenden Landschnecke aus Hawaii mit variabler Gehäusefärbung.
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1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
die Forschung. Doch außerdem ist im Genom jedes Individuums die Geschichte seiner Art festgehalten, ein ununterbrochener Faden der Abstammung, der bis zu den Anfängen des Lebens zurückreicht. Über diesen Faden, der den Besitz gemeinsamer Gene bedeutet, ist jede Art mit jeder anderen verbunden -je nach Anzahl der geteilten Gene eng oder auch sehr entfernt. Der Mensch beispielsweise hat nicht nur mit anderen Säugetieren Gene gemeinsam, sondern auch mit Pflanzen, Bakterien und Pilzen. Mit nahen Verwandten besteht jedoch eine größere Übereinstimmung als mit entfernten. Die genetischen Unterschiede zwischen zwei geographisch isolierten Populationen derselben Art sind zum Beispiel gering, die zwischen zwei verschiedenen Arten mit seit langem getrennten Evolutionswegen dagegen sehr viel größer. Der genetische Unterschied zwischen verschiedenen Populationen der Strandammer an den Küsten von Florida beträgt beispielsweise nur einen Bruchteil des Unterschieds zwischen Meerkatzen und Brüllaffen – Altwelt- beziehungsweise Neuweltaffen, deren Evolutionsgeschichte seit vielleicht 60 Millionen Jahren getrennt verläuft. Schon lange war Biologen klar, daß der Zugriff auf genetische Informationen sowie die Fähigkeit, genetische Unterschiede zu analysieren, der Evolutionsbiologie viele interessante Möglichkeiten eröffnen würde, darunter auch die der Rekonstruktion von Stammbäumen. Tatsächlich gab es schon um die Jahrhundertwende Bemühungen, solche Informationen zu erlangen. Damals verglich der britische Biologe George Henry Falkner Nuttall die immunologischen Charakteristika bestimmter Blutproteine des Menschen und einiger anderer Primaten (Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan und Gibbon). Ohne daß Nuttall sich explizit über die evolutionsgeschichtlichen Implikationen seiner Ergebnisse äußerte (da sein Interesse der Blutchemie galt), zeigten diese, daß der Mensch näher mit den afrikanischen als mit den asiatischen Menschenaffen verwandt ist. Diese Schlußfolgerung war ein Vorbote wichtiger Erkenntnisse über die menschliche Stammesgeschichte, die Emile Zuckerkandl und Linus Pauling am California Institute of Technology sowie Morris Goodman an der Wayne State University sechs Jahrzehnte später ebenfalls durch Arbeiten über Blutproteine gewannen. Während dieser sechzig Jahre gab es nur wenige Ansätze, sich den Problemen der traditionellen Biologie auf molekularer Ebene zu nähern, da noch keine geeigneten Methoden existierten. Proteine sind das Produkt von Genen und geben daher Aufschluß über genetische Information, wenn auch nicht so detailliert wie das komplette „Lesen“ eines Gens. Die Bausteine der DNA sind die sogenannten Nucleotide: chemische Untereinheiten, die jeweils aus einem Zucker (Desoxyribose), einer Stickstoffbase – Adenin, Guanin, Cytosin oder Thymin (abgekürzt A, G, C und T) – und einer Phosphatgruppe zusammengesetzt sind. Der Anzahl der Basen entsprechend gibt es vier verschiedene Nucleotide. Die Abfolge der wie Perlen auf einer Schnur angeordneten Basen bezeichnet man als DNA-Sequenz eines Gens. Auch Proteine 11
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
1.8 Jeweils ein Nucleotidtriplett oder Codon spezifiziert die einzelnen Aminosäuren, aus denen die Proteine aufgebaut sind. Die in der DNA codierte Information wird zunächst in Boten- oder MessengerRNA transkribiert, ein DNA-ähnliches Molekül, in dem die Originalsequenz der Codons erhalten bleibt. Die MessengerRNA dient dann als Matrize für die Translation in ein Proteinmolekül; Ort der Proteinsynthese ist das Ribosom.
haben eine kettenförmige Grundstruktur, deren Bausteine 20 verschiedene Aminosäuren bilden. Die DNA-Sequenz eines Gens bestimmt unmittelbar die Sequenz der Aminosäuren in dem von ihm produzierten Protein; jeweils ein Triplett von Nucleotiden – ein sogenanntes Codon – dient als Code für eine der 20 Aminosäuren. Aus vier verschiedenen Nucleotiden lassen sich 64 verschiedene Tripletts bilden, die DNA-Sequenz eines Gens enthält also mehr als dreimal soviel Information wie die Aminosäuresequenz eines Proteins. (Dadurch ist es möglich, daß fast alle Aminosäuren durch mehrere Tripletts codiert werden, die sich zumeist nur in einer der drei Codonpositionen unterscheiden.) Unterschiede zwischen den Eigenschaften von Proteinen verschiedener Individuen spiegeln daher Unterschiede zwischen den Genen dieser Individuen wider. Solche Unterschiede sind im Verlauf der Evolution entstanden, und zwar durch Mutationen, die sich im Laufe der Zeit in verschiedenen Abstammungslinien anhäufen. Mitunter kommt es beim Kopieren der DNA-Stränge während der Zellteilung zu Fehlern: An einer Stelle, an die eigentlich das Nucleotid A gehört, wird beispielsweise ein G oder ein C eingebaut, oder 12
1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
das Nucleotid verschwindet ganz. Durch solche und verschiedene andere Ereignisse entstehen in der Nucleotidsequenz der DNA Mutationen. Eine Mutation, die nicht korrigiert wird, besitzt das Potential, die zukünftige Evolution einer Spezies zu beeinflussen, falls sie die Eigenschaften des Proteins verändert, das von dem betroffenen Gen codiert wird. Ein mutiertes Protein, das nicht mehr gut funktioniert, wird eliminiert: Individuen mit dieser Mutation haben gegenüber anderen, die das normale Protein besitzen, einen Selektionsnachteil. Sie hinterlassen weniger (oder gar keine) Nachkommen, und auf diese Weise – durch natürliche Auslese – verschwindet die Mutation aus der Population. Wenn die Funktion des Proteins nur minimal verändert wird, so daß die Mutation Individuen, die sie besitzen, weder schädigt noch ihnen einen deutlichen Selektionsvorteil verschafft, kann diese Mutation sich mit geringer Häufigkeit in der Population etablieren. Eine Mutation, die die Funktion eines Proteins verbessert und dadurch die sogenannte Darwinfitneß ihrer Träger steigert, das heißt, ihnen zu mehr Nachkommen verhilft als Individuen mit der normalen Form des Proteins (beispielsweise indem sie auf irgendeine Weise die Stoffwechseleffizienz erhöht), wird innerhalb kurzer Zeit in der Population weit verbreitet sein. Mutationen sind nicht auf den Austausch einzelner Nucleotide in der DNA-Sequenz beschränkt. Bei sogenannten Deletionen beziehungsweise Insertionen gehen oft große DNA-Abschnitte verloren oder werden zusätzlich eingebaut. Das Prinzip ist jedoch das gleiche. Solche Mutationen können sich aus zwei Gründen als Teil der genetischen Ausstattung einer Art etablieren: Entweder haben sie keinen Einfluß auf die Fitneß und werden toleriert, oder sie verleihen ihren Trägern einen Selektionsvorteil und werden daher positiv selektiert. Mutationen treten häufig auf, doch nicht alle werden zum dauerhaften Bestandteil der genetischen Ausstattung der betreffenden Art. Durch die Ansammlung von Mutationen entstehen Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen einer Art und natürlich zwischen verschiedenen Arten. An dieser genetischen Variation greift die Evolution an, und die Biologie ist nun in der Lage, sie zu analysieren, um die genetische Geschichte einer Art zu erforschen. Bis in die sechziger Jahre ließen sich Informationen über die genetische Variation nur indirekt über die Analyse von Proteinen gewinnen, doch Ende der siebziger Jahre begannen die Molekularbiologen, die Analyse der DNA selbst in Angriff zu nehmen. Der erste Durchbruch war die Entwicklung einer Methode, die es erlaubt, Veränderungen in bestimmten, als Restriktionsschnittstellen bezeichneten DNA-Sequenzen zu identifizieren, die Aufschluß über Unterschiede im groben DNA-Muster von Genen verschiedener Organismen geben können. Solche Sequenzen, die in der Regel aus etwa einem halben Dutzend Nucleotiden bestehen, sind die Angriffsstellen sogenannter Restriktionsenzyme. Gene, die diesen Enzymen ausgesetzt sind, werden an den Restriktionsschnittstellen durchtrennt, wodurch 13
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
ein charakteristisches Muster aus DNA-Fragmenten bestimmter Länge entsteht. Erfolgt an einer oder mehreren dieser Schnittstellen eine Mutation, durch die die Schnittaktivität blockiert wird, so ergibt die Enzymbehandlung Fragmente veränderter Größen. Unterschiede im Muster der Fragmentlängen der DNA verschiedener Individuen derselben Art wie auch verschiedener Arten erlauben daher Rückschlüsse auf die Anzahl der Mutationen, also auf das Ausmaß der genetischen Unterschiede zwischen den untersuchten Individuen. Diese Methode, die man als Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus-Analyse (RFLP-Analyse) bezeichnet, erfaßt effektiv etwa fünf Prozent jedes Gens. Der zweite und entscheidende Angriff auf die genetische Geschichte wurde durch die neuerworbene Fähigkeit möglich, die Sequenzen der Gene selbst zu lesen, das heißt die Reihenfolge der die Perlschnur eines Gens bildenden Nucleotide zu bestimmen. Die erste Technik ist der Fähigkeit analog, die Existenz bestimmter Abschnitte in einem Buch festzustellen, ohne diese jedoch lesen zu können. Die zweite Methode entspricht der Fähigkeit, das ganze Buch Wort für Wort zu lesen. Die DNA-Sequenzierung war zunächst ein langsames, kostspieliges und mühsames Geschäft, doch inzwischen ist sie, unter anderem durch die Entwicklung von Sequenzierungsautomaten, beinahe zu einem Routineprozeß geworden. Heutzutage kann ein fortgeschrittener Student
1.9 Das Prinzip der Restriktionsfragment – längenpolymorphismus-Analyse: Restriktionsenzyme schneiden DNA-Stränge an bestimmten Sequenzen, wodurch Fragmente mit einer charakteristischen Größenverteilung entstehen. Bei Individuen mit identischer DNA entstehen identische Fragmentmuster (oben). Wenn eine Schnittstelle für ein Restriktionsenzym durch eine Mutation verändert wird, ändert sich auch das Fragmentmuster (unten).
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1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
ohne molekularbiologische Vorkenntnisse die Sequenzierungstechnik erlernen und bis zur Fertigstellung seiner Doktorarbeit ein bestimmtes Gen bei Hunderten von Individuen sequenziert haben – eine Leistung, die noch vor wenigen Jahren nur im Reich der Science-fiction möglich war. So eindrucksvoll die Gensequenzierung auch ist, mit ihr allein ließen sich hinsichtlich der Fragen, welche die traditionelle Biologie bewegen, keine großen Fortschritte erzielen. Dazu benötigte man außerdem ein Verfahren, um aus biologischem Material ausreichende Mengen der zu untersuchenden DNA-Abschnitte für die Sequenzanalyse zu gewinnen, sowie zuverlässige Methoden zur Identifizierung der DNA von Individuen. Ein Beispiel für letztere ist das DNA-Fingerprinting, und ersteres wurde durch eine als Polymerasekettenreaktion (PCR, für englisch polymerase chain reaction) bezeichnete Technik möglich. (Beide Methoden, die Mitte der achtziger Jahre entwickelt wurden, werden in Kapitel 6 beschrieben.) Die PCR ist ein so leistungsfähiges Verfahren und hat auf die Molekularbiologie wie auf die traditionelle Biologie so weitreichende Auswirkungen gehabt, daß Kary Mullis, der den größten Beitrag zur Entwicklung dieser Technik leistete, im Jahre 1993 zu einem der Empfänger des ChemieNobelpreises auserkoren wurde. Mit Hilfe der PCR ist es theoretisch möglich, selbst ein einziges Molekül einer zu untersuchenden DNA aus einer Gewebeprobe so stark zu vervielfältigen, daß man eine ausreichende Menge DNA für die Sequenzanalyse erhält. In der Praxis wird DNA meist aus winzigen Proben extrahiert, etwa aus der Wurzel eines einzigen ausgerissenen Haares. Selbst aus längst abgestorbenem Gewebe läßt sich DNA isolieren, wodurch erstmals die Vergangenheit der genetischen Analyse zugänglich wird. Die Entwicklung dieser und anderer Verfahren der Molekularbiologie eröffnet daher der traditionellen Biologie die Möglichkeit, hochinformative genetische Daten zu erhalten. Mit ihrer Hilfe läßt sich die Geschichte eines Individuums auf allen zeitlichen Ebenen erforschen – von der Gegenwart (Wer waren seine Eltern und Geschwister?) über seine jüngere Geschichte (Wie etablierte sich seine Population in ihrem Verbreitungsgebiet?) bis hin zur fernen Vergangenheit (Wie ist seine Art mit allen anderen Arten verwandt?).
Neue Welten Die folgenden Kapitel geben dem Leser Gelegenheit, die Welt der traditionellen Biologie durch dieses neu eröffnete Fenster zu betrachten. Wir werden die Ergebnisse einer momentan stattfindenden Revolution kennenlernen, einer Revolution, die sich allerdings noch in ihrem Anfangsstadium 15
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
befindet. Zur Einführung werden wir untersuchen, wie Biologen sich mit den beiden Sichtweisen der Evolution – aus der neuen Perspektive der genetischen Information und aus dem traditionelleren Blickwinkel der Anatomie – herumgeschlagen haben. Aus diesem Gegensatz „Moleküle kontra Morphologie“ sind verschiedene Kontroversen, vor allem über die Evolutionsgeschichte des Menschen, entstanden, doch inzwischen beginnt sich Einigkeit zu entwickeln. Wir werden uns dann damit beschäftigen, wie genetische Information zur Aufklärung der Evolutionsgeschichte auf verschiedenen Stufen des Lebens verwendet wird, und dabei auch einige unerwartete Erkenntnisse über die tiefsten Wurzeln des Lebensstammbaumes selbst gewinnen. Der Ursprung der genetischen Variation innerhalb von Populationen und Arten sowie die Methoden zu ihrer Erforschung sind die Grundlage der aktuellen Revolution; mit diesem Punkt werden wir uns als nächstes eingehender auseinandersetzen, darunter auch mit der Idee, daß genetische Information sich zur Datierung evolutionsgeschichtlicher Ereignisse verwenden läßt, da sie eine molekulare Uhr bereitstellt. Die letzten drei Kapitel werden zeigen, wie genetische Information in der Ökologie und Anthropologie genutzt wird und wie sich durch sie Museumsstücke wieder zum Leben erwecken lassen – wenn auch nicht buchstäblich. Ökologen verwenden die neue Wissenschaft beispielsweise, um herauszufinden, warum Suppenschildkröten Tausende von Kilometern zu fernen Brutplätzen wandern und wie Blattschneiderameisen zu Pilzzüchtern wurden. Anthropologen verdanken ihr neue Erkenntnisse über den Ursprung der Hominidenfamilie sowie darüber, wie und wann die
1.10 In Labors wie diesem an der California Polytechnic State University extrahieren Wissenschaftler DNA aus Gewebeproben und sogar aus Fossilien – eine Arbeit, die das Hirngespinst von einer zukünftigen Rekonstruktion von Dinosauriern nährt.
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1. EIN NEUES FENSTER ZUR NATUR
Evolution des modernen Menschen – unserer Spezies – stattfand. Und seit es möglich ist, DNA aus lange abgestorbenem Gewebe zu isolieren, erlaubt der Rückgriff auf Museumsstücke – etwa Wolfsfelle, Mumien und in Bernstein eingeschlossene Insekten – die Untersuchung von Fragen, die von einer Aura von Science-fiction umgeben sind und deren Klärung bis vor kurzem undenkbar war. Die Reinkarnation von Dinosauriern in Michael Crichtons Buch Jurassic Park liegt zumindest heutzutage noch nicht im Bereich des Möglichen, aber die Einblicke, welche die Untersuchung von DNA aus alter Zeit in das Leben seit langem toter Individuen und längst ausgelöschter Populationen erlaubt, übersteigen dennoch das Vorstellungsvermögen. Die Revolution befindet sich zwar noch im Anfangsstadium, ist aber bisher schnell vorangeschritten. Heute findet man kaum noch ein biologisches Universitätsinstitut oder ein größeres naturhistorisches Museum, das nicht die Möglichkeit zur Durchführung von DNA-Analysen besitzt. Die Museen mit ihren in Jahrzehnten und Jahrhunderten zusammengetragenen Sammlungen werden nicht mehr als bloße Lagerhäuser für getrocknete Häute und alte Knochen angesehen, sondern sind als unbezahlbare Fundgruben genetischer Information erkannt. Diejenigen Wissenschaftler, die einst für eine Auflösung solcher Sammlungen eintraten, da diese im Zeitalter der modernen Biologie – das heißt der Molekularbiologie – anachronistisch seien, erkennen nun ihren Irrtum. Bis vor kurzem mußten Biologiestudenten im Hauptstudium zwischen molekularbiologischen Fächern wie Genetik oder Biochemie und traditionellen Fächern wie Zoologie oder Ökologie wählen – Disziplinen, zwischen denen ein nur selten überbrückter Graben verlief. Heutzutage erlernen Studenten der Entwicklungsbiologie oder der Botanik mit großer Wahrscheinlichkeit auch Methoden der Molekularbiologie. Und Molekularbiologen sind sich sehr viel stärker der Tatsache bewußt, daß die von ihnen entzifferten DNA-Sequenzen Zeugnis von der Evolutionsgeschichte ablegen. Auf beiden Seiten der alten Trennlinie profitiert man also von der derzeitigen Revolution, allerdings zieht die traditionelle Biologie daraus den größeren Nutzen. Die Themen, mit denen sie sich seit langem beschäftigt, bleiben dieselben, und ihre wichtigste Methode – der vergleichende Ansatz – ist unverändert. Doch das neue molekularbiologische Handwerkszeug ermöglicht es Biologen, mit geschärfter Klinge an Fragestellungen heranzugehen, die sie seit langem interessieren, deren Beantwortung aber bisher jenseits ihrer Möglichkeiten lag.
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2.1 Durch genetische Analyse wurde das Rätsel um die Verwandtschaftsbeziehungen der Flamingos endlich gelöst.
Moleküle kontra Morphologie
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in gutes Beispiel für die Art quälender evolutionsbiologischer Fragen, deren Beantwortung durch die molekulare Analyse in den Bereich des Möglichen zu rücken schien, ist die taxonomische Einordnung der Flamingos, die bereits bei den alten Griechen umstritten war. Gehören die Flamingos zur Ordnung der Gänsevögel (Anseriformes) oder, wie die Störche, zu den Schreitvögeln (Ciconiiformes)? Sie besitzen lange Hälse und Beine wie Schreitvögel und gleichen diesen auch anatomisch in einigen Punkten, etwa im Bau des Schädels und des Beckens. Andere Eigenschaften teilen sie jedoch mit den Gänsevögeln: Sie haben Schwimmhäute zwischen den Zehen, besitzen eine quakende Stimme, ihre Jungen sind Nestflüchter mit dichtem Daunenkleid, und die Grundstruktur des Schnabels gleicht der der Anseriformes. Unfähig, die Frage nach den Verwandtschaftsbeziehungen anhand dieser morphologischen Daten zu klären, verlegten sich die Biologen auf die Untersuchung der Federlinge – im Gefieder lebender und sich von den Federn ernährender Läuse – von Flamingos. Gleichen diese eher den Federlingen von Gänsevögeln oder denen von Schreitvögeln? (Dabei ging man von dem Grundgedanken aus, daß solche Parasiten hochspezialisiert sind und ihre Evolution in der Regel in enger Harmonie mit der ihrer Wirte verläuft.) Dem Ergebnis dieser Untersuchung zufolge waren die Flamingos den Gänsevögeln zuzuordnen. Allerdings waren ihre Federlinge, gemessen an dem Zeitraum, der nach der vorherrschenden Lehrmeinung seit der evolutionsgeschichtlichen Trennung der Flamingos von den übrigen Gänsevögeln verstrichen ist, den Federlingen von Enten und Gänsen fast zu ähnlich. Auf jeden Fall ist denkbar, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, daß die Flamingos Federlinge vom Gänsevogeltyp einfach infolge der Besiedelung gemeinsamer Lebensräume erworben haben und nicht infolge
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
stammesgeschichtlicher Verwandtschaft. Frustriert hielten manche Wissenschaftler einen Kompromiß für die möglicherweise beste Lösung und stellten die Flamingos in eine eigene Gruppe zwischen Anseriformes und Ciconiiformes. Im Jahre 1985 erklärten Charles Sibley und Jon Ahlquist, die damals an der Yale University arbeiteten, das Rätsel für gelöst. Statt die Anatomie der Vögel zu untersuchen, beschäftigten sich Sibley und Ahlquist mit deren genetischem Material. Dabei bedienten sie sich der DNA-DNA-Hybridisierung, einer Technik, mit deren Hilfe sich ein Großteil der Gene von je zwei Arten effektiv vergleichen läßt (siehe Exkurs 2.1 auf Seite 22). Arten, die genetisch relativ nah verwandt sind, ähneln einander in der Gesamtstruktur ihrer Gene stärker als Arten, mit denen sie weniger nah verwandt sind. Legt man dies als Maßstab zugrunde, so gehören Flamingos zu den Schreitvögeln. Das Beispiel der Flamingos illustriert zwei gegensätzliche Methoden zur Aufklärung der Stammesgeschichte oder Phylogenese. Die eine, bereits Jahrhunderte alte Methode sucht nach Übereinstimmungen und Unterschieden in Form und Struktur, den sichtbaren körperlichen Eigenschaften, die man unter dem Begriff Morphologie zusammenfaßt. Die andere, sehr viel neuere Methode bedient sich der modernen Verfahren der genetischen Analyse, um die genetische Information verschiedener Arten zu vergleichen, und wird als Molekularphylogenetik bezeichnet. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die Molekularphylogenetik von einem Kuriosum zu einem effektiven und häufig genutzten Handwerkszeug der modernen evolutionsbiologischen Forschung entwickelt. Ermutigt durch die enorme (und stetig zunehmende) Flut an molekularbiologischen Daten über Organismen aller Arten, das Aufkommen innovativer Methoden zur Analyse dieser Daten sowie durch die Entwicklung von Computern mit der notwendigen Rechenkapazität, haben einige Wissenschaftler diesen Ansatz bereits als Möglichkeit gepriesen, die Evolutionsgeschichte vollständig zu enträtseln. Im Hinblick auf die Arbeit von Sibley und Ahlquist über Flamingos schrieb Stephen Jay Gould: »Wir sollten den Erfolg der Molekularphylogenetik bejubeln«, weil sich mit ihrer Hilfe stammesgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen aufklären lassen, wo traditionelle, auf vergleichender Morphologie basierende Methoden versagen. »Mir ist nicht ganz klar, warum wir diese Botschaft nicht von allen Dächern verkünden«, fuhr Gould, ein in Harvard tätiger Paläontologe, fort. »Das Problem der Phylogenese ist gelöst.« Im obigen Beispiel sind die wichtigsten Probleme der Phylogenetik sowie die Bedeutung der molekularbiologischen Methoden für ihre Lösung bereits angesprochen. Wie beispielsweise soll die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Organismen nun bestimmt werden, aufgrund der Analyse morphologischer oder molekularer Daten? Was geschieht, wenn die beiden Untersuchungsformen unterschiedliche Ergebnisse liefern? Mit anderen 20
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
Worten, ist die Molekularphylogenetik der vergleichenden Morphologie tatsächlich überlegen, wie Gould hier impliziert? Mit den ersten größeren Erfolgen der Molekularphylogenetik begannen viele Molekularbiologen in ihr ein einfaches, wirkungsvolles Instrument zur Überwindung der den traditionellen Klassifikationsmethoden inhärenten Probleme zu sehen. (Die Morphologen waren, wie wir noch sehen werden, weniger aufgeschlossen.) Doch obwohl kein Zweifel daran besteht, daß der neue Ansatz, den Erwartungen entsprechend, effektiv ist, hat sich seine Anwendung auf keinem Gebiet auch nur als annähernd so einfach erwiesen, wie man einst hoffte. Im vorliegenden Kapitel werden wir uns mit diesen Punkten beschäftigen und dabei mit ein wenig Geschichte beginnen. Das folgende Kapitel präsentiert einige auf verschiedenen systematischen Ebenen angesiedelte Fälle, in denen die Molekularphylogenetik maßgeblich dazu beigetragen hat, die Geschichte des Lebens aufzuklären.
Homologie kontra Analogie Die Klassifikation der Organismen, eines der ältesten Teilgebiete der Biologie, hat ihre Wurzeln im antiken Griechenland. Durch vergleichende Morphologie – das heißt durch die Suche nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in Form und Struktur – konnten die Arten natürlichen, hierarchisch angeordneten Gruppen zugewiesen werden. Dieser Methode folgte Linné bei der Entwicklung des ersten umfassenden biologischen Klassifikationssystems im Jahre 1758, das in seinen Grundzügen auch heute noch gültig ist. Von zentraler Bedeutung für die Aufklärung der Beziehungen zwischen Organismen war die Fähigkeit, zwischen zwei Formen körperlicher Ähnlichkeit zu unterscheiden: zwischen Homologie und Analogie. Diese Begriffe wurden von dem britischen Anatom Sir Richard Owen Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Homologie besteht, so schrieb Owen, wenn es sich um »dasselbe Organ ... in jeder Variante von Form und Funktion« handelt. So sind der menschliche Arm, das Vorderbein des Pferdes und der Vogelflügel homolog, weil sie aus derselben anatomischen Grundstruktur hervorgegangen sind: der fünfstrahligen Vorderextremität der vierbeinigen Tiere. Es ist allerdings offensichtlich, daß Arm, Vorderlauf und Vogelflügel sehr verschiedene Funktionen erfüllen. Dagegen besteht Analogie bei »einem Teil oder Organ ... das dieselbe Funktion hat«, sich aber von verschiedenen Grundstrukturen ableitet. Vogel- und Schmetterlingsflügel sind ein Beispiel für analoge Strukturen: Sie haben dieselbe Funktion, doch die Struktur, aus der der Schmetterlingsflügel hervorgegangen ist, ist nicht mit der Vorderextremität verwandt, von der sich der Vogelflügel ableitet. Die Flügel von
2.2 Sir Richard Owen, der britische Anatom, der den Begriff Homologie prägte.
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Exkurs 2.1: DNA-DNA-Hybridisierung Technisch gesehen ist die DNA-DNA-Hybridisierung eine relativ einfache Methode zur Bestimmung der Sequenzähnlichkeit sämtlicher Gene zweier Arten. Das Verfahren basiert auf der Tatsache, daß die DNA nicht als einzelner Strang vorliegt, sondern aus zwei umeinandergewundenen und durch Wasserstoffbrücken zur berühmten Doppelhelix verbundenen Strängen besteht. Die Nucleotidsequenzen dieser beiden Stränge sind komplementär; A paart sich mit T und G mit C. (Auf dieser Komplementarität beruht die Fähigkeit des Moleküls, Information zu speichern, sowie seine leichte Replizierbarkeit.) Im DNA-Doppelstrang eines Individuums besteht vollständige Komplementarität, das heißt, jeder der beiden Einzelstränge ist das exakte Gegenstück des anderen. Infolgedessen ist die Bindungsstärke zwischen den beiden Strängen maximal. Werden dagegen zwei DNA-Stränge gepaart, zwischen denen keine 100prozentige Komplementarität besteht, beispielsweise DNA von Individuen verschiedener Spezies, so ist die Stärke der Wasserstoffbrücken zwischen ihnen geringer. Die DNA-DNAHybridisierung mißt die Stärke der Bindung zwischen solchen Paaren und liefert so ein Maß für die Unterschiedlichkeit der DNA-Sequenzen. Die DNA der zu vergleichenden Individuen wird zunächst aus Zellen extrahiert und gereinigt, wodurch an sie gebundene RNA und Proteine entfernt werden; sodann zerlegt man sie in Fragmente von etwa 500 Basenpaaren Länge. Ein großer Teil der DNA umfangreicher Genome besteht aus Abschnitten mit jeweils einzigartiger („single-copy“-)Sequenz – den Genen –, die durch Abschnitte aus vielfach wiederholten („repetitiven“) kurzen Sequenzen voneinander getrennt sind. Die entscheidende genetische Information ist in der Sequenz der Gene
E.2.1.1 Die DNA-DNA-Hybridisierung ist eine effektive Methode zum Vergleich des kompletten Genoms zweier Arten. Sie basiert auf der Tatsache, daß DNA-Stränge mit hoher Sequenz-Komplementarität stärker aneinander binden als solche mit geringer Komplementarität (Einzelheiten siehe Text).
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2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
enthalten, so daß die repetitiven Sequenzen entfernt werden müssen, bevor man die beiden Genome vergleicht. Dies geschieht, indem man die Fragmentmischung zunächst erhitzt, um die doppelsträngigen Fragmente in Einzelstränge zu zerlegen. Sodann hält man den Cocktail aus Einzelstrangfragmenten für kurze Zeit auf 50 Grad Celsius. Dabei schließen sich die Abschnitte mit Sequenzwiederholungen schnell wieder zu Doppelsträngen zusammen, während die Abschnitte mit einzigartigen Sequenzen als Einzelstränge zurückbleiben; diese lassen sich dann mit Hilfe einer Hydroxylapatitsäule, welche doppelsträngige DNA bindet, während einzelsträngige DNA ungebunden bleibt, isolieren und vergleichen. Die Mischung einzelsträngiger einzigartiger Sequenzen einer der beiden zu vergleichenden Spezies wird dann mit einem radioaktiven lodisotop markiert; danach gibt man die beiden Einzelstrangmischungen zusammen. Treffen nun zwei annähernd komplementäre Sequenzen zufällig aufeinander, so hybridisieren sie, das heißt, sie schließen sich zu einer Doppelhelix zusammen. Die Stärke der Bindung zwischen den beiden Strängen wird durch die Gesamtkomplementarität der Sequenzen bestimmt. Nach Abschluß der Hybridisierung wird die Mischung auf eine Säule aus Hydroxylapatit gegeben und in einem Wasserbad, dessen Temperatur in 2,5-Grad-CelsiusIntervallen von 60 auf 90 Grad Celsius gesteigert wird, langsam erwärmt. Mit steigender Temperatur werden die Wasserstoffbrücken zwischen den komplementären Strängen zunehmend gespannt und brechen oder „schmelzen“ schließlich, wodurch wieder Einzelstränge entstehen. Hybride mit geringer Komplementarität schmelzen bei niedrigeren Temperaturen als solche mit hoher Komplementarität. Bei jedem Temperaturschritt wer-
den die durch das Schmelzen entstandenen Einzelstränge von der Hydroxylapatitsäule gewaschen und in ein separates Auffanggefäß überführt; die in den Gefäßen meßbare Radioaktivität gibt dann Aufschluß darüber, wieviel Prozent der Doppelstränge bei den einzelnen Temperaturschritten geschmolzen sind. Um ein Maß für die Komplementarität und damit für den genetischen Unterschied zwischen den getesteten Arten zu erhalten, kann man die Temperatur notieren, bei der 50 Prozent der Hybridmoleküle geschmolzen sind, die sogenannte mittlere Schmelztemperatur (Tm). Zwei Arten A und B lassen sich vergleichen, indem man zum Beispiel die mittlere Schmelztemperatur eines Hybridansatzes aus artgleicher DNA (bei dem durch die Paarung von Einzelsträngen derselben Spezies, zum Beispiel A, sogenannte Homoduplices entstehen) sowie die mittlere Schmelztemperatur eines Hybridansatzes aus DNA der Spezies A und B (bei dem sich sogenannte Heteroduplices bilden) ermittelt. Als Faustregel gilt, daß ein Grad Celsius Unterschied in der mittleren Schmelztemperatur einem Prozent Unterschied zwischen den DNA-Sequenzen entspricht, also einem ungleichen Nucleotid innerhalb einer DNA-Sequenz von 100 Nucleotiden. Die DNA-DNA-Hybridisierung liefert ein Maß für die genetische Distanz zwischen Arten, jedoch keine Informationen über Merkmalszustände (das heißt darüber, welche Nucleotidbase jeweils an einer bestimmten Stelle des Genoms vorliegt). Aus diesem Grunde erfreut sich diese Methode in der Molekularphylogenetik, in der die kladistische, auf Merkmalszuständen basierende Analyse das dominierende Verfahren ist, einer geringeren Popularität, als sie es vielleicht verdient hätte.
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2.3 Homologie und Analogie: Ein Fledermausflügel, das Vorderbein einer Maus und ein menschlicher Arm werden als homologe Strukturen bezeichnet, weil sie sich von denselben anatomischen Elementen ableiten, auch wenn sie unterschiedliche Funktionen erfüllen. Jede Vorderextremität besitzt dieselbe Grundstruktur, wurde jedoch in Anpassung an unterschiedliche Funktionen modifiziert. Diese strukturelle Übereinstimmung deutet auf einen allen drei Arten gemeinsamen Vorfahren hin, ein Wirbeltier mit vier Extremitäten. Fledermausflügel und Vogelflügel sind homologe Strukturen, gleichzeitig sind sie dem Schmetterlingsflügel analog. Analoge Strukturen haben dieselbe Funktion – in diesem Fall das Fliegen – beziehungsweise ähnliche Funktionen, leiten sich aber von verschiedenen anatomischen Grundstrukturen ab und wurden durch ähnliche Umweltbedingungen geformt. Die Allgegenwart von Analogien in der Natur zeugt von der Macht der natürlichen Auslese.
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Vögeln und von Fledermäusen sind gleichzeitig homolog (nämlich als Vorderextremitäten) und analog (als Flügel). Owen schrieb natürlich in vordarwinscher Zeit, und seine Bemühungen, zwischen homologen und analogen Strukturen zu unterscheiden, waren eine Methode zur Aufklärung dessen, was man für die natürliche Hierarchie des Lebens hielt. Die Evolution war noch kein Thema. Vielmehr sah man die Mannigfaltigkeit des Lebens als Produkt der göttlichen Schöpfung an, wie sie im Buch Genesis beschrieben ist; das Leben auf der Erde bestand demzufolge aus vielen gleichzeitigen Variationen einer Anzahl von Themen oder Archetypen, die eine göttliche Ordnung wiedergaben. Mit der allmählichen Akzeptanz der Evolutionstheorie änderte sich die Auffassung der Biologen vom Ursprung der hierarchischen Ordnung des Lebens – allerdings nicht ihre Methode, sie zu erforschen. Die Evolutionstheorie erklärte diese Ordnung als Ergebnis der »Abstammung mit Modifikationen«, um Darwins Formulierung zu verwenden. Mit anderen Worten, die heutigen Arten sind ihren Vorfahren anatomisch ähnlich, haben sich jedoch durch natürliche Auslese – das Überleben und den Fortpflanzungserfolg von Individuen, die durch bestimmte Modifikationen besonders gut mit sich wandelnden Umweltbedingungen zurechtkamen – in vieler Hin-
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
sicht verändert. So erwiesen sich abgeflachte, paddelartige Vorderextremitäten als vorteilhaft für meeresbewohnende Säuger (Robben und Wale), während bei den Vorderextremitäten von Säugern, die beispielsweise als Weidegänger lebten, Erdhöhlen bauten oder fliegende Insekten fingen, andere Modifikationen begünstigt waren. In diesem Schema wurden die Archetypen zu gemeinsamen Vorfahren, und Homologie wurde als ein Zeichen für gemeinsame Abstammung und nicht für einen identischen Entwurf angesehen. Analogien galten nun nicht mehr als das Ergebnis oberflächlicher Ähnlichkeit im Entwurf, sondern als Folge konvergenter Evolution, das heißt einer Evolution, in deren Verlauf Organismen, deren Ahnen nicht notwendigerweise identisch waren (etwa Vögel und Schmetterlinge), auf unabhängigen Wegen der Abstammung mit Modifikationen funktioneil konvergierten (in diesem Fall die Flugfähigkeit entwickelten). Die vergleichende Morphologie blieb jedoch das Mittel zur Aufklärung dieser stammesgeschichtlichen Zusammenhänge. »Es handelte sich um Veränderungen der Doktrin, nicht der Arbeitsweise«, schrieb dazu der britische Paläontologe Colin Patterson. Die vergleichende Morphologie war nun zu einer Methode geworden, mit deren Hilfe sich phylogenetische Beziehungen – nicht die Familienstammbäume von Individuen, sondern die Stammbäume verwandter Organismengruppen – rekonstruieren ließen. Darwin war optimistisch, daß sich die Geschichte des Lebens, ausreichend Zeit und Mühe vorausgesetzt, im Detail würde beschreiben lassen. »Unsere Klassifikationen werden dereinst, soweit sie sich dazu machen lassen, zu Genealogien werden«, schrieb er in The Origin of Species. Während der darauffolgenden 100 Jahre mühten sich Spezialisten, stammesgeschichtliche Verwandtschaftsverhältnisse aufzuklären, wobei sich der einzelne meist auf einen kleinen Bereich des gesamten Stammbaumes beschränkte. Erst zusammengenommen ergaben ihre Bemühungen ein umfassenderes Bild. Schließlich begann sich jedoch Frustration auszubreiten, und dies trug zu einer Verlagerung des Schwerpunktes von der Phylogenese auf Genetik, Ökologie und die Mechanismen der Evolution bei. Die Gründe hierfür waren widersprüchlich. Einerseits begann man zu glauben, die Form des Lebensstammbaumes sei im Prinzip bereits aufgeklärt und es müßten nur noch Details ergänzt werden. Andererseits wurde den Wissenschaftlern allmählich klar, daß ihre Methoden der Phylogenetik nicht den strengen Anforderungen der traditionellen wissenschaftlichen Praxis genügten; beispielsweise waren die Kriterien für die Ableitung von Verwandtschaftsbeziehungen nicht gut standardisiert. Ein wesentlicher Grund für die Frustration war die Notwendigkeit, präziser zwischen homologen und analogen Strukturen unterscheiden zu können. Während sich der Unterschied zwischen Homologie und Analogie in Worten leicht erklären läßt, ist eine Unterscheidung in der Praxis oft extrem 25
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schwierig, wie das Beispiel der Flamingos illustriert. Die natürliche Auslese kann bei der Anpassung der Anatomie an funktionelle Erfordernisse Erstaunliches leisten, so daß nur entfernt verwandte Arten einander morphologisch sehr ähnlich sein können. Das fast identische Aussehen des Beutelwolfes (eines Beuteltieres) und des eurasischen Wolfes (eines Säugers) ist hierfür ein warnendes Beispiel. Die beiden Arten sind einander im Körperbau sehr ähnlich, obwohl Beuteltiere und andere Säuger nur entfernt miteinander verwandt sind. Oberflächliche Ähnlichkeit durch Analogie kann also Bemühungen, durch vergleichende Morphologie auf die Stammesgeschichte zu schließen, untergraben. Dieses Problem veranlaßte einige Wissenschaftler, aufzugeben und zu erklären, der Ansatz des morphologischen Vergleichs habe die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht. Überdies schienen einige der unteren (älteren) Teile des Stammbaumes – beispielsweise der Ursprung und die Anfänge der Ausbreitung einfacher Mehrzeller – auf Dauer außerhalb der Reichweite der traditionellen vergleichenden Methoden zu liegen, denn, wie Patterson es formulierte, »die Anhaltspunkte sind spärlich, die Fährte ist kalt«.
Phänetik kontra Kladistik In den sechziger Jahren entstanden zwei neue, voneinander unabhängige Arbeitsrichtungen, die beide das Ziel hatten, einen Ausweg aus dieser methodologischen Sackgasse zu finden. Trotz ihres gemeinsamen Ziels waren sie im Ansatz grundverschieden, und es entwickelte sich eine lebhafte (und mitunter erbitterte) Debatte darüber, welche von beiden theoretisch überlegen sei. Die Wellen, die diese Debatte schlug, rollten über die Molekularphylogenetik hinweg, als diese begann, erste Ergebnisse zu liefern, was dazu führte, daß sie in manchen Kreisen nicht gerade enthusiastisch begrüßt wurde. Der erste der beiden neuen Forschungsansätze war die Phänetik. Das Ziel dieses auch als numerische Taxonomie bezeichneten Ansatzes war es, die Klassifikation der Arten zu objektivieren. Die Phänetiker suchten nicht explizit nach Stammbäumen, sondern versuchten statt dessen, Arten auf der Grundlage der morphologischen Gesamtähnlichkeit zu gruppieren. Die erhoffte Objektivität war durch den methodischen Ansatz begründet: Zahlreiche Merkmale der untersuchten Spezies (etwa die Zahnform bei Tieren oder die Länge der Blütenblätter bei Pflanzen) mußten mit Hilfe statistischer Methoden verglichen werden, wobei jedes Merkmal gleiches Gewicht erhielt. Das Ergebnis ist eine multivariate Clusterstatistik für Speziespaare, und schließlich ergibt sich eine Hierarchie von Clustern, die eine Beschreibung von Verwandtschaftsbeziehungen darstellen. 26
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Die Gesamtähnlichkeit mag ein vernünftiger Anhaltspunkt für stammesgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen sein, aber die Phänetik versucht nicht, einen Stammbaum als solchen zu rekonstruieren, das heißt, es ist nicht ihr Ziel, die Verzweigungsstellen des Baumes zu identifizieren. Wenn die Geschwindigkeit des evolutionären Wandels innerhalb eines Baumes einheitlich oder nahezu einheitlich ist, kann die Phänetik jedoch ein Maß für die evolutionäre Distanz – den Zeitraum – liefern, die zwei Arten voneinander trennt. Die phänetische Distanz mißt letztlich die Zweiglänge. Der zweite Ansatz, die Kladistik oder phylogenetische Systematik, geht auf ein 1950 veröffentlichtes Buch des deutschen Entomologen Willi Hennig zurück, gelangte jedoch erst nach dem Erscheinen einer englischen Übersetzung im Jahre 1966 zur Blüte. Anders als bei der phänetischen Klassifikation ist das erklärte Ziel der Kladistik die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte. Jede Artengruppe hat nur eine wahre Evolutions-
2.4 Willi Hennig, der deutsche Entomologe, dessen 1950 erschienenes Buch einen als Kladistik bekannten Ansatz der Systematik begründete. Heute ist die Kladistik die verbreitetste Methode zur Rekonstruktion von Stammbäumen.
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geschichte, die Geschichte ihrer tatsächlichen Entfaltung. Die kladistische Analyse versucht diese tatsächliche Geschichte aus bestimmten Merkmalen herzuleiten, die als gemeinsame abgeleitete Merkmale oder Synapomorphien bezeichnet werden. Dagegen liefern Merkmale, die Kladisten als ursprünglich oder primitiv bezeichnen, keinen Hinweis auf gemeinsame Abstammung. Die Einordnung eines Merkmals als primitiv oder abgeleitet hängt vom Kontext ab: Je nachdem, welcher Bereich einer Hierarchie betrachtet wird, kann sie unterschiedlich ausfallen. Dies läßt sich am besten anhand eines Beispiels erklären. Betrachten wir die Primatenunterordnung, der Hundsaffen, Menschenaffen und Menschen angehören: die Altwelt- oder Schmalnasenaffen (Catarrhini). Paviane, Schimpansen und Menschen (Angehörige dieser Gruppe) besitzen Nägel an ihren Fingerspitzen. Dieses Merkmal ist jedoch nicht auf sie beschränkt – alle Primaten haben Fingernägel. Da der Besitz von Fingernägeln auf den gemeinsamen Vorfahren der Primaten und alle seine Abkömmlinge beschränkt ist, nicht aber auf den gemeinsamen Vorfahren der Catarrhini und dessen Abkömmlinge (denn auch andere Primaten haben Nägel), ordnet die Kladistik Fingernägel in bezug auf die Altweltaffen als primitives Merkmal ein, in bezug auf die Primaten insgesamt dagegen als gemeinsames abgeleitetes Merkmal. Es gibt etwa ein Dutzend Merkmale, die Paviane, Schimpansen, Menschen und alle anderen Arten ihrer Unterordnung besitzen, Neuweltaffen (Platyrrhini) dagegen nicht – gemeinsame abgeleitete Merkmale der Catarrhini. Wohlgemerkt: Sowohl ursprüngliche als auch gemeinsame abgeleitete Merkmale sind homologe Eigenschaften, die jedoch auf verschiedenen Stufen einer Verwandtschaftsgruppe (in diesem Fall der Ordnung Primaten) für die Klassifikation brauchbar sind. Ohne uns zu tief in den Sümpfen der kladistischen Klassifikation verirren zu wollen, muß doch eine Frage gestellt werden: Wie läßt sich im konkreten Fall entscheiden, ob ein Merkmal ursprünglich oder abgeleitet ist? Die dazu verwendete Methode, der sogenannte Außengruppenvergleich, wurde im obigen Beispiel im Grunde schon beschrieben: Man vergleicht die Gruppe, um die es geht, mit einer anderen, relativ nah verwandten Gruppe. Nehmen wir wieder das Beispiel der Fingernägel. Um zu entscheiden, ob sie ein gemeinsames abgeleitetes Merkmal der Catarrhini darstellen, überprüfen wir, ob sie auch bei verwandten Gruppen anzutreffen sind. Das Vorhandensein dieses Merkmals beispielsweise bei Neuweltaffen oder bei Halbaffen (Prosimiae) zeigt, daß Fingernägel kein gemeinsames abgeleites Merkmal der Catarrhini sind, weil Neuweltaffen und Halbaffen ebenfalls zur Ordnung der Primaten gehören. Aufgrund dieser Vorgehensweise nehmen Kladisten für ihren Ansatz in Anspruch, objektiv zu sein, denn Verwandtschaftsbeziehungen werden hierbei nicht durch subjektive Beurteilung von Ähnlichkeit festgestellt, wodurch das Homologie-AnalogieDilemma umgangen wird. In der Praxis ist die Kladistik jedoch genau wie 28
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die Phänetik nicht frei von Subjektivität, nämlich hinsichtlich der Auswahl der zu untersuchenden Merkmale. Das Grundprinzip der kladistischen Klassifikation ist, daß die tatsächliche Phylogenese die letzte Wahrheit darstellt, so daß die Identifikation gemeinsamer abgeleiteter Merkmale die einzige Möglichkeit ist, eine Hypothese über diese Wahrheit zu konstruieren. Phänetische Distanzen sind relative Maße und für Kladisten inakzeptabel, ganz gleich, ob sie aus molekularbiologischen oder aus morphologischen Daten abgeleitet wurden. Im Gegensatz zu vielen anderen Methoden der Molekularphylogenetik liefert die DNA-DNA-Hybridisierung, die Gould im Falle der Flamingos so lobte, Distanzmaße und keine Aussagen über Merkmalszustände. Goulds Enthusiasmus bewirkte einen Aufruhr unter den Kladisten, dessen Nachhall der Akzeptanz der Molekularphylogenetik anfangs im Wege stand – und dies heute noch tut. Inzwischen erkennen die meisten Biologen die theoretische Überlegenheit des kladistischen Ansatzes an, aber das heißt nicht, daß Distanzmaße für die Rekonstruktion von Stammbäumen unbrauchbar sind. Eine Folge des Phänetik-Kladistik-Krieges war, daß die vergleichende Morphologie als Mittel der Klassifikation aus der Flaute gerettet wurde, in der sie sich seit einiger Zeit befunden hatte. So verjüngt war sie besser in der Lage, der vermeintlichen Herausforderung durch die Molekularphylogenetik zu widerstehen.
Äffische Verwandtschaft Ursache für dieses Gefühl einer Herausforderung war der schon früh entwickelte, starke Glaube auf Seiten mancher Molekularbiologen, molekularbiologische Daten seien morphologischen Daten von Natur aus überlegen – vor allem weil ihre Detailliertheit (in der Basensequenz der DNA ist der evolutionäre Wandel in seinen Grundzügen aufgezeichnet) die Frage nach Homologie oder Analogie – das Schreckgespenst der vergleichenden Morphologie – unter Umständen unnötig machen würde. Überdies nahm man an, die molekulare Evolution verlaufe mit stets gleichbleibendem Tempo, während die morphologische Evolution sprunghaft voranschreite, und leitete daraus eine größere Zuverlässigkeit molekularbiologischer Daten ab. (Tatsächlich sind die Verhältnisse jedoch nicht so einfach, wie in einem späteren Kapitel noch dargelegt wird.) Diese Annahmen wurden in einer faszinierenden und sehr emotionsgeladenen Debatte überprüft: in der Auseinandersetzung über die Stammesgeschichte des Homo sapiens. Mitte der siebziger Jahre verfügte man bereits über einige molekularbiologische Methoden zur Stammbaumanalyse. Dabei handelte es sich überwie29
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2.5 Aufgrund genetischer Befunde wurden Menschen und Menschenaffen neu klassifiziert. Früher (oben) gehörte der Mensch als einziges Mitglied in die Familie Hominidae, während die großen Menschenaffen (Gorilla, Schimpanse und Orang-Utan) in der Familie Pongidae zusammengefaßt wurden. Genetisch sind Gorilla und Schimpanse jedoch näher mit dem Menschen verwandt als mit dem Orang-Utan. Diesem Umstand trägt ein neues Klassifikationsschema (unten) Rechnung, das den Menschen und die afrikanischen Menschenaffen in die Familie Hominidae stellt, wahrend der Orang-Utan nun das einzige Mitglied der Familie Pongidae ist.
gend um elektrophoretische und immunbiologische Verfahren sowie um Sequenzierungsmethoden, mit deren Hilfe man hauptsächlich Proteine verglich. Wissenschaftler, die mit der DNA-DNA-Hybridisierung arbeiteten, konnten dagegen genetisches Material unmittelbar vergleichen. Durch diesen Zugriff auf die genetische Information »konnte man hoffen, quantitative und objektive Schätzwerte für die „genetische Distanz“ zwischen verschiedenen Arten zu erhalten«, schrieben Marie-Claire King und Allan Wilson in einem richtungweisenden Aufsatz, der 1975 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde. Sie bemerkten, daß unter allen Spezies, die man bis dahin mit Hilfe dieser Methoden untersucht hatte, nur zwei Arten mit jedem dieser Verfahren untersucht worden waren: Mensch und Schimpanse. »Damit besteht die Chance, herauszufinden, ob molekularbiologische und morphologische Distanzschätzungen übereinstimmen«, folgerten sie. Wie aus ihrer Veröffentlichung hervorging, ergab die Untersuchung mit jeder der molekularbiologischen Methoden eine extrem nahe Verwandtschaft zwischen Schimpansen und Menschen, vergleichbar mit der Ver30
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wandtschaft zwischen sogenannten Zwillingsarten. Dagegen, so legten King und Wilson dar, zeigte die traditionelle morphologische („organismische“) Analyse ein solches Ausmaß an anatomischen Unterschieden zwischen den beiden Arten auf, daß man sie nicht nur in verschiedene Gattungen, sondern sogar in verschiedene Familien gestellt hatte. (Die unausgesprochene Überzeugung, daß Homo sapiens sich – besonders in geistiger und seelischer Hinsicht – sehr stark von anderen Arten unterscheidet, hatte zu dieser Klassifikation beigetragen.) Die beiden Einschätzungen des Verwandtschaftsgrades standen in krassem Widerspruch zueinander. Auch war die damit verknüpfte Kontroverse nicht neu. Morris Goodman, ein Biologe an der Wayne State University, hatte sie Anfang der sechziger Jahre ausgelöst. Er analysierte das Serumprotein von Menschenaffen und Menschen (die gemeinsam als Hominoiden bezeichnet werden) mit Hilfe einer immunbiologischen Methode, um der genetischen Verwandtschaft zwischen ihnen nachzugehen. Das von ihm verwendete einfache, aber wirkungsvolle Verfahren beruht auf der Tatsache, daß die vom Immunsystem produzierten Antikörper extrem empfindlich für Strukturunterschiede zwischen einander ähnlichen Antigenen sind. Im ersten Schritt wird Kaninchen menschliches Serumalbumin (ein Blutprotein) injiziert. Das Immunsystem der Tiere reagiert darauf mit der Bildung von Antikörpern, die fest an menschliches Albumin binden. Mit Hilfe des Blutserums der Kaninchen lassen sich dann die Albumine der mit dem Menschen verwandten Arten vergleichen. Mischt man menschliches Albumin mit dem Kaninchenserum, so kommt es wegen der festen Bindung zu einer starken Reaktion, und das Albumin fällt aus. Je stärker sich die Proteinstruktur eines Albumins von der menschlichen Albumins unterscheidet, desto schwächere Reaktionen werden hervorgerufen, das heißt, desto weniger Niederschlag entsteht. Mit diesem Versuchsansatz erhielt Goodman ein eindeutiges Muster der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Hominoiden: Der Mensch und die beiden afrikanischen Menschenaffenarten (Schimpanse und Gorilla) bildeten gemeinsam eine Gruppe, mit der der große asiatische Menschenaffe – der Orang-Utan – weniger nah und der kleine asiatische Menschenaffe – der Gibbon – noch entfernter verwandt war. Heute ist uns dieses Muster vertraut, aber damals spiegelte die formale Klassifikation eine ganz andere Auffassung von den Verwandtschaftsbeziehungen wider – die sich in den meisten Lehrbüchern bis heute gehalten hat. Den Menschen hatte man in die Familie Hominidae (Hominiden) gestellt, während die afrikanischen großen Menschenaffen und der OrangUtan eine eigene Familie, die Pongidae (Pongiden), bildeten. Diese Klassifikation, die im wesentlichen auf George Gaylord Simpson zurückgeht, zielte ursprünglich darauf ab, den Anpassungsunterschied zwischen Menschen und großen Menschenaffen widerzuspiegeln, repräsentierte für viele aber inzwischen auch die Evolutionsgeschichte. 31
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Mit seinen neuen Daten ausgerüstet, schlug Goodman im Jahre 1962 eine Änderung der formalen Klassifikation vor: Die afrikanischen Menschenaffen sollten zu den Menschen in die Familie Hominidae gestellt werden, wodurch der Orang-Utan allein in der Familie Pongidae zurückgeblieben wäre. Goodmans Idee wurde nicht gut aufgenommen. Simpson schrieb dazu: »Es besteht nicht die geringste Chance, daß Zoologen und Lehrer generell – wie überzeugt sie auch von der Blutsverwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffen sein mögen – einen didaktischen oder praktischen Nutzen darin sehen werden, beide in eine gemeinsame Familie zu stellen.« Mit anderen Worten, die Vorstellung, daß Homo sapiens sich mit anderen Lebewesen in ein und derselben Familie wiederfinden sollte, war für Simpson und die meisten anderen Menschen inakzeptabel. (Mit größter Wahrscheinlichkeit basierte dieses Urteil nicht nur auf wissenschaftlichen Argumenten, sondern enthielt auch ein anthropozentrisches Element: die Sicht des Menschen als eines besonderen und von der übrigen Natur getrennten Wesens.) Mit Goodmans Entdeckung, nach Ansicht von David Pilbeam »eine der bedeutendsten anthropologischen Erkenntnisse dieses Jahrhunderts«, hielten molekularbiologische Daten Einzug in die Forschung nach den
2.6 Eine Sammlung fossiler Funde von Ramapithecus. Fossile Knochen dieses menschenaffenähnlichen Wesens wurden erstmals während der dreißiger Jahre in miozänen Schichten in Pakistan gefunden. Zunächst hielt man Ramapithecus für einen Frühmenschen, doch heute gilt er als nicht mit dem Menschen verwandter Vorfahre des heutigen Orang-Utan.
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2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
Ursprüngen des Menschen. Der Aufruhr, den diese Entdeckung hervorrief, war jedoch nichts im Vergleich zu der Empörung, die sich wenig später gegen Allan Wilson (den späteren Coautor von King) und Vincent Sarich, beide Biochemiker an der University of California in Berkeley, richtete. Im Jahre 1967 veröffentlichten die beiden die Ergebnisse einer Untersuchung über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Hominoiden, bei der sie ein ähnliches Verfahren verwendet hatten wie Morris Goodman. Zusätzlich hatten sie jedoch die zeitliche Dimension einbezogen, wobei sie von dem Konzept einer molekularen Uhr ausgegangen waren. Wie in Kapitel 5 erklärt wird, könnte eine solche Uhr, mit deren Hilfe sich die Zeit messen ließe, die seit der Existenz des letzten gemeinsamen Vorfahren zweier Arten verstrichen ist, existieren, falls Mutationen im genetischen Material sich mit einigermaßen konstanter Geschwindigkeit ansammeln. Je länger die Evolution zweier Spezies getrennt verläuft, durch desto mehr Mutationen müßten sie sich dann voneinander unterscheiden. Ausgehend von dieser Annahme, kamen Wilson und Sarich zu dem Ergebnis, daß die afrikanischen Menschenaffen und der Mensch sich vor etwa fünf Millionen Jahren voneinander getrennt haben. Dies stand in erheblichem Widerspruch zu der damals in der Anthropologie vorherrschenden Meinung, derzufolge der Ursprung der Hominiden 15 Millionen, wenn nicht sogar 30 Millionen Jahre zurücklag. Derartige Schätzwerte basierten auf fossilen Zeugnissen eines als Ramapithecus bezeichneten affenartigen Lebewesens, die man in Indien gefunden hatte. Der in den dreißiger Jahren entdeckte Ramapithecus wurde in einem bedeutenden Aufsatz, den Elwyn Simons von der Yale University sechs Jahre vor dem Bericht von Wilson und Sarich veröffentlicht hatte, als erstes Mitglied der Familie Hominidae eingeordnet. Es folgten anderthalb Jahrzehnte der erbitterten Auseinandersetzung. Wilson und Sarich vertraten den Standpunkt, anatomische Merkmale seien eine unzuverlässige Grundlage für die Ableitung von Stammbäumen, während die Anthropologen darauf beharrten, es sei unwahrscheinlich, daß der Vergleich molekularbiologischer Daten gute Schätzwerte für evolutionsgeschichtliche Zeiträume liefern könne. Beide Seiten hatten Argumente für ihren Standpunkt. Wie wir bereits gesehen haben, ist es für Morphologen äußerst schwierig, bei anatomischen Merkmalen zwischen Homologie und Analogie zu unterscheiden. (Genau dies war, wie sich schließlich herausstellte, die Ursache dafür, daß man Ramapithecus irrtümlich den Status eines Hominiden zuerkannt hatte.) Andererseits betraten Wilson und Sarich mit ihrem Konzept der molekularen Uhren damals unerforschtes Terrain. Die Vertreter der traditionellen Biologie standen mit ihren Zweifeln am Fortschreiten der Evolution in gleichmäßigen Zeitintervallen nicht allein da; einige der schärfsten Kritiker dieser Idee waren Molekularbiologen. Infolge dieses gegenseitigen Mißtrauens verlief die 33
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
2.7 Vor dem Aufkommen der Molekularphylogenetik glaubte man, die Abstammungslinie des Menschen habe sich vor mindestens 15 Millionen Jahren von der der Menschenaffen getrennt; diese Annahme basierte auf der Einordnung des fossilen Ramapithecus als Frühmensch. Seit den sechziger Jahren haben sich zahlreiche molekularbiologische Belege dafür angesammelt, daß die Trennung sehr viel später erfolgte, nämlich vor kaum mehr als fünf Millionen Jahren. Ramapithecus gilt heute als Menschenaffe, der nahe mit der Abstammungslinie des heutigen OrangUtan verwandt ist.
erste umfangreichere Zusammenarbeit zwischen molekularbiologischem und traditionellem Ansatz bei der Enträtselung der Evolutionsgeschichte alles andere als glatt. Während die Debatte sich ausweitete, sammelte sich mehr und mehr molekularbiologisches Datenmaterial an – Daten, die man zum Teil unter Verwendung der traditionellen immunologischen Verfahren gewonnen hatte, überwiegend jedoch mit Hilfe neuentwickelter Methoden wie Protein-Fingerprinting, Proteinsequenzierung, Restriktionskartierung von DNA und schließlich DNA-Sequenzierung. Es ergab sich keine wesentliche Abweichung von der ursprünglichen Botschaft: Der Ursprung der Hominiden liegt noch nicht lange zurück. Die Angaben für den Zeitpunkt dieses Ereignisses bewegten sich in einem festumrissenen Bereich zwischen vier und acht Millionen Jahren vor der Gegenwart. Kein auf dem Konzept der molekularen Uhren beruhender Schätzwert lag, unabhängig von der angewendeten Methode, in der Nähe von 15, geschweige denn von 30 Millionen Jahren. Doch erst Anfang 1982 gab die Gemeinschaft der Anthropologen die Vorstellung von Ramapithecus als dem ersten Hominiden auf. Der Grund war ein neuer und besonders vollständiger Fossilfund, und zwar von Sivapithecus, einem Menschenaffen, der etwa zur gleichen Zeit gelebt hat wie Ramapithecus. Das neue Fossil zeigte zweierlei: Erstens bestand eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen Sivapithecus und Ramapithecus, und zweitens war Sivapithecus mit einem Vorfahren des heutigen Orang-Utan verwandt. Wenn dies zutraf, mußte Ramapithecus aus der Abstammungslinie der Hominiden herausgenommen werden, da die Orang-Utan-Gruppe sich schon früh von der Linie der Menschen und Menschenaffen (Hominoiden) getrennt hatte. Die Molekularphylogenetik hatte zumindest in diesem Fall ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, das durch das AnalogieHomologie-Dilemma geschaffene Durcheinander zu beenden. 34
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
King und Wilson erhöhen den Einsatz Abgesehen vom menschlichen Aspekt dieser Kontroverse hatte der 1975 erschienene Aufsatz von King und Wilson erhebliche Auswirkungen auf das gesamte biologische Unternehmen der Phylogenetik. Zwei Schlußfolgerungen ergaben sich aus ihren Beobachtungen – die eine explizit, die andere implizit. Die erste lautete, daß molekulare und morphologische Evolution mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit voranschreiten können, und zwar aufgrund des Wesens der molekularen Evolution. Die Genetiker hatten bis dahin im wesentlichen Mutationen in der Struktur von Proteinen als Grundlage des evolutionären Wandels angesehen, und in vielen Fällen trifft dies sicherlich zu. King und Wilson argumentierten jedoch, Mutationen in regulatorischen Genen könnten eine dramatischere morphologische Evolution bewirken als Mutationen in Strukturgenen – eine Überlegung, die Emile Zuckerkandl bereits einige Jahre zuvor geäußert hatte. Strukturgene codieren die Produktion von Proteinen, während regulatorische Gene das Zusammenspiel der Strukturgene steuern und damit (bei höheren Lebewesen) letztlich auch für die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum ausgewachsenen Organismus verantwortlich sind. Einfache Mutationen in regulatorischen Genen können daher komplexe Veränderungen der Entwicklung auslösen, durch die unter Umständen stark veränderte Organismen entstehen. Molekulare und morphologische Evolution können deshalb ungekoppelt ablaufen. Diese im Nachhinein auf der Hand liegende Schlußfolgerung sollte erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis des Evolutionsprozesses haben. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits schlagkräftige Belege für die Vermutung, daß Mutationen auf der Ebene der Gene sich mit einigermaßen konstanter Geschwindigkeit ansammeln und damit die Grundlage für eine molekulare Uhr liefern. Man nahm daher an, daß die molekulare Evolution auf einfache Art und Weise, einem Uhrwerk vergleichbar, voranschreitet, während die morphologische Evolution völlig anders verlaufen kann. Die offensichtliche Implikation (die zweite Schlußfolgerung aus den Beobachtungen von King und Wilson) lautet, daß molekularbiologische Daten sehr viel verläßlichere Indikatoren für evolutionären Wandel und stammesgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen sein müßten als morphologische Daten.
Moleküle, Morphologie und Mäuse Zehn Jahre später, im Jahre 1985, wurde die Gegensätzlichkeit dieser beiden Datentypen in einer großen internationalen Konferenz mit dem Thema 35
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
„Moleküle kontra Morphologie“ deutlich gemacht. Ziel der Konferenz war eine Abschätzung der Brauchbarkeit der beiden Ansätze für die Rekonstruktion phylogenetischer Beziehungen. Die Teilnehmer erfuhren, daß man begann, den Ablauf der molekularen Evolution als sehr viel komplizierter anzusehen, als man zuvor geglaubt hatte, was bedeutete, daß die Molekularphylogenetik weniger zuverlässig war, als bis dahin angenommen. Ein wichtiger Beitrag schien jedoch die Überlegenheit der molekularbiologischen Methoden sehr unmittelbar zu demonstrieren. Eine inhärente Schwierigkeit der Phylogenetik besteht darin, daß ihr Hauptziel – über bestimmte phylogenetische Beziehungen Gewißheit zu erlangen – unerreichbar ist, da es keine Möglichkeit gibt, ihre Ergebnisse zu überprüfen. Phylogenese heißt Stammesgeschichte, und über geschichtliche Ereignisse kann man bestenfalls Hypothesen aufstellen, aber keine Gewißheit erlangen. Wenn molekularbiologisch und morphologisch orientierte Phylogenetiker getrennt voneinander zu Ergebnissen gekommen sind, vergleichen sie daher ihre Hypothesen, und keine von beiden Gruppen kann sicher sein, recht zu haben. Gäbe es jedoch eine Möglichkeit, sowohl molekularbiologische als auch morphologische Verfahren auf Organismen mit bekannter Phylogenese anzuwenden, so könnte man die Richtigkeit der sich ergebenden Schlußfolgerungen direkt überprüfen. Walter Fitch, der damals an der University of Southern California arbeitete, und William Atchley, der an der University of Wisconsin tätig war, erkannten, daß Inzuchtstämme von Labormäusen eine solche Möglichkeit boten. Die Phylogenese dieser Mäuse ist im Zuge der Züchtung neuer Stämme seit 70 Jahren aufgezeichnet worden. (Das Wort Stamm bezeichnet in diesem Fall eine genetisch abgrenzbare Teilpopulation einer Art, die sich jedoch weniger stark von anderen Teilpopulationen unterscheidet als eine Unterart.) Bei den molekularbiologischen Daten handelte es sich um Proteinvarianten von 97 Genloci; die morphologischen Daten waren zehn Unterkiefermaße von zehn Wochen alten Mäusen. Fitch und Atchley analysierten die beiden Datensätze mit fünf verschiedenen Verfahren und stellten fest, daß sich die – bekannte – Phylogenese anhand der molekularbiologischen Daten korrekt rekonstruieren ließ, während dies mit Hilfe der morphologischen Daten nicht möglich war. Sie räumten ein, daß die Phylogenese der Mäuse nur 70 Jahre umfaßte – verglichen mit einer typischen Stammesgeschichte ein extrem kurzer Zeitraum – und daß es sich bei den morphologischen Daten um quantitiative Maße (nämlich Längen und Breiten) handelte, während Morphologen sonst meist qualitative Merkmale (nämlich das Vorhandensein oder Fehlen homologer Eigenschaften) verwenden; beide Umstände können der Erstellung eines korrekten Stammbaumes anhand morphologischer Daten entgegenwirken. Trotz 36
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
dieser Einwände zogen Fitch und Atchley die Schlußfolgerung, im Hinblick auf die Rekonstruktion von Stammbäumen »scheinen molekularbiologische Daten morphologischen Daten überlegen zu sein«. Viele Morphologen vertraten dagegen die Ansicht, diese Einwände machten einen Vergleich unzulässig. Dennoch hatte das Experiment großen Einfluß auf die allgemeine Einschätzung der Kontroverse „Moleküle kontra Morphologie“. Die Moleküle hatten scheinbar triumphiert. So konstatierten beispielsweise Sibley und Ahlquist bei der Tagung im Jahre 1985, daß »Moleküle eine sehr genaue Rekonstruktion der Phylogenese erlauben«. Drei Jahre später pflichtete ihnen Leslie Gottlieb von der University of California in Davis, gestützt auf Erfahrungen mit Pflanzenstammbäumen, bei: »Die molekularbiologischen Daten genügen sich insofern selbst, als ihre Brauchbarkeit nicht von der Übereinstimmung mit anderen phänotypischen Befunden abhängig ist.«
Homoplasie und Homologie von Genen Die anfängliche Überzeugung von der Überlegenheit molekularbiologischer Daten für die Rekonstruktion von Stammbäumen beruhte auf der Annahme, in ihnen sei der evolutionäre Wandel unmittelbar aufgezeichnet, was die Problematik irreführender Analogien (sogenannter Homoplasien) minimiert hätte. Die Wahrscheinlichkeit, daß hochgradige Übereinstimmungen in der DNA-Sequenz nicht verwandter Arten zufallsbedingt oder das Ergebnis einer Selektion solcher Sequenzen sein könnten, hielten Molekularbiologen für sehr gering. Wie man jedoch inzwischen weiß, sind DNA-Sequenzen sehr viel anfälliger für eine konvergente Evolution, als man damals annahm, und so ist das Homologie-Analogie-Rätsel nicht nur für die morphologische, sondern auch für die molekularbiologische Phylogenetik ein Problem. Colin Patterson schrieb dazu: »Molekulare Homologien sind keineswegs sicherer als morphologische, sie können sogar unsicherer sein.« Die Argumentation, derzufolge Homoplasie in DNA-Sequenzen unbedeutend ist, ist sehr einfach. Analoge morphologische Strukturen in nicht verwandten Arten entstehen, weil die natürliche Auslese, die solche Strukturen formt, einen machtvollen Mechanismus zur Produktion funktional und strukturell ähnlicher Merkmale darstellt. Dagegen schreibt man der Selektion, wie im nächsten Kapitel eingehend erläutert wird, nur eine relativ unbedeutende Rolle als Triebkraft der Evolution auf molekularer Ebene zu: Man nimmt an, daß die meisten Veränderungen der DNA-Sequenz das Ergebnis von zufälligen Ereignissen sind, und bezeichnet diesen Prozeß 37
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
als neutrale molekulare Evolution. Da die Wahrscheinlichkeit einer parallelen Evolution der DNA-Sequenzen verschiedener Spezies äußerst gering ist, dürften auf der molekularen Ebene kaum Homoplasien entstehen. Tatsächlich können durch neutrale Evolution jedoch sehr wohl analoge Gensequenzen entstehen, wahrscheinlich sogar in einem Ausmaß, das der intuitiven Einschätzung zuwiderläuft. Dazu sind nur identische Mutationen an derselben Stelle eines Gens bei verschiedenen Spezies erforderlich; in Anbetracht der begrenzten Anzahl möglicher Zustände (eines von vier Nucleotiden) an jeder Position eines Gens ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, daß durch Mutationen kurze DNA-Abschnitte mit ähnlicher Sequenz entstehen. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß an einer bestimmten Position eines Gens eine Mutation auftritt, bei den meisten Genen gering. Steht jedoch ausreichend Zeit zur Verfügung, so wird das Problem der Homoplasie bedeutsam. Bei einem Vergleich von 42 morphologischen und 18 molekularbiologischen kladistischen Untersuchungen stellten Michael Donoghue und Michael Sanderson von der Harvard University in den beiden Datensätzen ein ähnliches Ausmaß an Homoplasie fest. Allerdings minimiert die DNA-DNA-Hybridisierung nach Ansicht ihrer Anhänger dieses Problem, da sich mit ihrer Hilfe sehr große Teile verschiedener Genome vergleichen lassen. Die Anzahl der Nucleotidpositionen, an denen Homoplasie wahrscheinlich ist, ist daher, verglichen mit der Anzahl homologer Positionen, winzig. Statistisch gesehen macht die DNA-DNA-Hybridisierung die Homoplasie also unbedeutend. Doch auch abgesehen vom Problem der Homoplasie ist die Identifizierung homologer Gensequenzen keineswegs einfach. Tatsächlich ist sie in mancher Hinsicht komplizierter als die Identifizierung homologer anatomischer Merkmale. Jahrtausendelang haben Biologen über die wahren Ursachen der morphologischen Homologie nachgedacht, und der Diskurs darüber ist heute noch im Gange. Doch als Molekularbiologen begannen, ihre Daten in evolutionsbiologischen Zusammenhängen zu verwenden, steuerten sie – zum Teil aufgrund ungenauer Terminologie – eine weitere Ebene der Verwirrung bei. Wenn die Sequenzen desselben Gens zweier Arten miteinander verglichen werden, zeigt sich stets eine gewisse Übereinstimmung. Nehmen wir an, die Sequenz zweier Gene stimme zu 50 Prozent überein. Anfangs war es unter Molekularbiologen verbreitet, diese Gene als „zu 50 Prozent homolog“ zu bezeichnen, womit sie aber meinten, zu 50 Prozent gleich. Homolog im Sinne einer gemeinsamen Abstammung brauchten die Gene keineswegs zu sein. Dies veranlaßte David Hillis, einen Molekularbiologen an der University of Texas, zu der Aussage: »Molekularbiologen haben möglicherweise stärker als jede andere Wissenschaftlergruppe zur Begriffsverwirrung im Hinblick auf das Wort Homologie beigetragen.« Von Homologie sollte man ausschließlich im Zusammenhang mit gemeinsamer Abstammung sprechen und für die Gleichheit von Sequenzen das Wort Übereinstimmung verwenden. 38
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
2.8 Gene können DNA-Abschnitte verlieren (Deletion) oder zusätzlich aufnehmen (Insertion), wodurch erhebliche Unterschiede in der Sequenz verwandter Gene entstehen. Übereinstimmungen zwischen solchen Genen werden ermittelt, indem man Lücken in die bekannten Sequenzen einfügt und die Abschnitte dann (auf dem Papier) verschiebt, bis sie einander entsprechen.
Die Suche nach wirklicher Homologie zwischen Gensequenzen ist sehr viel schwieriger, als man vielleicht glaubt. Zwischen zwei Arten, die sich erst vor kurzem getrennt haben, gibt es unter Umständen überhaupt keine oder nur wenige Sequenzunterschiede. Stellt man beide Sequenzen nebeneinander, so zeigt sich eine sehr große Ähnlichkeit, die als Anzeichen für Homologie genommen werden kann. Im Laufe der Zeit werden sich jedoch in beiden Sequenzen Mutationen ansammeln, so daß das Ausmaß der Übereinstimmung bei Arten, die sich vor langer Zeit getrennt haben, extrem gering werden kann. Theoretisch ist es möglich, daß die Übereinstimmung nach Verstreichen einer ausreichenden Zeitspanne nicht höher ist als die zwischen zwei Zufallssequenzen, und zwar aus den folgenden interessanten Gründen. Auf molekularer Ebene ist die für die Funktion wichtige Eigenschaft der Proteine deren dreidimensionale Struktur, die darüber entscheidet, wie sie mit anderen Molekülen, etwa DNA, RNA, anderen Proteinen, Kohlenhydraten oder Fetten, in Wechselbeziehung treten. Proteinmoleküle mit sehr ähnlicher dreidimensionaler Struktur lassen sich aus erstaunlich unterschiedlichen Aminosäuresequenzen konstruieren, und diese Aminosäuresequenzen werden von Genen mit entsprechend unterschiedlichen DNA-Sequenzen codiert. Im Laufe der Evolution kann das gleiche Gen in zwei divergierenden Arten daher erheblich mutieren, ohne daß die Funktionstüchtigkeit des von ihm produzierten Proteins darunter leidet. Diese Gene sind trotz der Verschiedenheit der DNA-Sequenzen homolog. 39
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, daß Mutationen sich nicht auf den Austausch von Nucleotiden beschränken. Außerdem können auch Genabschnitte verloren gehen (man bezeichnet dies als Deletion) oder zusätzlich aufgenommen werden (Insertion). Durch einfaches Gegenüberstellen solcher Gene wird daher die grundlegende Ähnlichkeit ihrer Sequenzen nicht sofort deutlich. Man hat jedoch Analyseverfahren entwickelt, die „Lücken“ bei der Gegenüberstellung tolerieren – im Prinzip werden dabei Abschnitte der beiden Sequenzen auf der Suche nach Inseln von Ähnlichkeit aneinander entlanggeschoben. Die einander entsprechenden Abschnitte auf diese Weise korrekt zuzuordnen, gehört zu den kniffligsten Problemen der Molekularphylogenetik.
Gene in verschiedener Gestalt Bis vor nicht allzu langer Zeit nahm man an, die Genome der höheren Lebewesen seien genauso einfach aufgebaut wie die der Bakterien. Beispielsweise kommt bei Bakterien jedes Gen nur in einfacher Ausfertigung vor. Wie sich jedoch herausstellte, ist dies bei höheren Lebewesen nicht der Fall – eine Tatsache, die den Homologiebegriff in bezug auf Gene sehr viel komplizierter macht als in bezug auf anatomische Merkmale. Viele Gene der höheren Organismen liegen in zahlreichen Kopien vor, die gemeinsam jeweils eine sogenannte Genfamilie bilden. Manchmal sind alle Mitglieder einer Genfamilie identisch, so daß die Zelle innerhalb kurzer Zeit große Mengen eines Genprodukts bilden kann. Ein Beispiel sind die ribosomalen Gene, die den Proteinsyntheseapparat codieren. Oft haben sich jedoch Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Genfamilie ausgebildet, und diese erfüllen etwas unterschiedliche Aufgaben. Zum Beispiel besitzen Primaten für Globin, das Sauerstofftransportprotein der roten Blutkörperchen, eine Familie aus einem halben Dutzend Genen, von denen jedes sich ein wenig von den anderen unterscheidet und während eines anderen Zeitraumes der Individualentwicklung vom Embryo bis zum Erwachsenen aktiv ist. Solche Familien entstanden im Laufe der Evolution durch Duplikation existierender Gene. Dabei hatte das neue Gen zunächst die gleiche Sequenz wie das Originalgen. Im Laufe der Zeit akkumulierten sich jedoch Unterschiede, und so entstanden die verschiedenen Varianten. Manche Genfamilien bestehen aus nur zwei Mitgliedern, andere aus Dutzenden. Die Entdeckung der Genfamilien veranlaßte die Molekularbiologen, diesen komplizierten Verhältnissen durch die Prägung neuer Bezeichnungen für die verschiedenen Formen der Homologie Rechnung zu tragen. Für Gene, die nicht dupliziert worden sind (und daher nur in einfacher Ausfer40
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
2.9 Genduplikation kann zur Folge haben, daß ein Phylogenetiker die falschen Gene vergleicht und einen fehlerhaften Stammbaum erstellt. Hier hat sich ein Gen X einer Spezies A vor zehn Millionen Jahren dupliziert, wobei das paraloge Genpaar X1 und X2 entstand. Vor fünf Millionen Jahren spaltete sich die Spezies A in zwei Tochterspezies B und C auf, die beide das Genpaar besitzen. Vergleicht ein Phylogenetiker die Sequenz von X1 in beiden Tochterarten, so erhält er einen korrekten Stammbaum – den Artstammbaum. Vergleicht er aber X1 der Spezies B mit X2 der Spezies C, so entsteht ein falscher Stammbaum, nämlich der Genstammbaum, der die Geschichte des Gens und nicht die der Spezies wiedergibt.
tigung existieren), wurde für den Vergleich zwischen verwandten Arten die Bezeichnung Orthologie eingeführt; Orthologie ist der traditionellen morphologischen Homologie äquivalent. Als Paralogie bezeichnet man die Beziehung zwischen den Mitgliedern einer Genfamilie – etwa der Globinfamilie – derselben Organismenart. Die Existenz der Paralogien bedeutet für die Molekularphylogenetik potentielle Fallstricke, die zu falschen Schlußfolgerungen über die Evolutionsgeschichte verwandter Arten führen können. Ein hypothetisches Beispiel soll dies verdeutlichen. Man denke sich eine Stammart, die ein Gen X besitzt. Nehmen wir an, dieses Gen duplizierte sich vor zehn Millionen Jahren, so daß die Art nun eine Genfamilie mit den Mitgliedern X1 und X2 besitzt. In der Sequenz der ursprünglich identischen Gene X1 und X2 haben sich im Laufe der seither vergangenen zehn Millionen Jahre allmählich und unabhängig voneinander Mutationen angesammelt. Nehmen wir weiterhin an, daß die Art sich vor fünf Millionen Jahren in zwei Tochterarten aufspaltete, von denen jede die Genfamilie mit beiden Mitgliedern besitzt. Stellen wir uns schließlich vor, ein Phylogenetiker möchte die Evolutionsgeschichte der beiden Tochterarten erforschen, indem er die Sequenz des Gens X ermittelt, weiß aber nicht, daß es zwei Varianten dieses Gens gibt. Wenn er das Pech hat, aus der einen Tochterspezies X1 und aus der anderen X2 zu isolieren, wird die von ihm abgeleitete Evolutionsgeschichte falsch sein. Insbesondere würde ein Vergleich der beiden Sequenzen, bei dem ihre Unterschiedlichkeit als Indikator für den Zeitraum seit der Artaufspaltung herangezogen wird, zu der Schlußfolgerung führen, daß die beiden Arten sich vor zehn Millionen Jahren getrennt ha41
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 2.2: Zerstückelte Gene Nur wenige biologische Fragen sind so fundamental wie die, auf welche Weise die Struktur der Gene der höheren Lebewesen entstanden ist. Dennoch debattieren Biologen heute, mehr als vier Jahrzehnte nach der Aufklärung des grundlegenden Aufbaus der DNA, immer noch darüber, wie diese Gene so geworden sind, wie sie sind. Mehr noch, die Diskussion dreht sich nicht etwa um bloße Kleinigkeiten, sondern offenbart äußerst unterschiedliche Vorstellungen über den Verlauf der Evolution auf molekularer Ebene. Die Distanz zwischen beiden Seiten könnte Kaum größer sein. Die eine Seite hält die Gene der höheren Lebewesen für erst vor kurzem entwickelte Strukturen, die andere glaubt, sie enthielten rudimentäre Hinweise auf Prozesse, die sich vor sehr langer Zeit, nämlich schon bald nach der Entstehung des Lebens, abspielten. Im Jahre 1977 erlebten die Molekularbiologen eine große Überraschung. Zuvor hatten sie etwa zwei Jahrzehnte lang die Struktur und Funktion der Gene eines Lebewesens erforscht, das sie für einen Modellorganismus hielten: das Bakterium Escherichia coli. Eine der Regeln, die bei der Untersuchung dieses Einzellers deutlich zutage traten, war, daß eine direkte Entsprechung zwischen der Struktur der Gene und der von ihnen codierten Proteine besteht. Der Nucleotidstrang, der ein Gen bildet, wird über ein Messenger-RNA-Molekül direkt in einen Aminosäurestrang übersetzt, der ein Polypeptid oder Protein bildet. Man erwartete nun, diese bei E. coli gefundene Eins-zu-eins-Entsprechung auch bei allen höheren Lebewesen anzutreffen, von den Orchideen bis hin zu den Elefanten. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Information, die in einem Gen der höheren Organismen ein Protein codiert, in kleine Päckchen unterteilt ist, zwischen denen DNA-Abschnitte liegen, die offenbar nichts codieren. Die informationshaltigen DNA-Abschnitte erhielten die Bezeichnung Exons, die dazwischenliegenden Abschnitte wurden Introns getauft. Die Introns, von denen es durchschnittlich ein halbes Dutzend pro Gen gibt, sind sehr viel größer als die Exons – in der Regel etwa zehnmal so lang. Eine der Fragen, die durch ihre Entdeckung aufgeworfen wurden, lautet: Warum zerstückelte Gene? Eine andere, verwandte Frage ist: Woher stammen die Introns? Da die DNA-Sequenz der Introns offenbar keine Proteine codiert, mußte man nach einer anderen Funktion suchen – vielleicht in der Evolutionsgeschichte. Der Biologe Walter Gilbert von der Harvard University äußerte schon bald die Vermutung, die Intron-Exon-Struktur fördere die Evolution. Demnach wäre die Ansammlung von Mutationen in einer Gensequenz nicht die einzige Möglichkeit zur Bildung neuartiger Gene, sondern durch den Zusammenschluß verschiedener Exons in unter-
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schiedlichen Kombinationen könnten schnell neue, funktionstüchtige Gene entstehen – vor allem wenn jedes Exon irgendeine in struktureller oder katalytischer Hinsicht funktionstüchtige Proteinuntereinheit codieren würde. Diesen Prozeß bezeichnete er als Exon-Shuffling (Austausch oder Verschiebung von Exons). Zwei andere Wissenschaftler, James Darnell von der Rockefeller University und Ford Doolittle von der Dalhousie University in Neuschottland, stellten dann die Hypothese auf, es müsse, weil das Zerstückeln zuvor intakter Gene durch den Einbau von Introns nur wenig unmittelbaren Nutzen gehabt haben kann, schon in den ersten Genen, den Urgenen, Introns gegeben haben und diese seien in der Folgezeit aus den einfacheren Genomen der Bakterien eliminiert worden. Diese Ansicht fand jedoch keine allgemeine Zustimmung. Zu ihren prominentesten Gegnern gehörten die britischen Biologen Tom Cavalier-Smith, der heute an der University of BritishColumbia tätig ist, und John Rogers von der Cambridge University. Warum sollte man, so fragten sie, davon ausgehen, daß Introns von Anfang an existierten und in bestimmten Fällen später verloren gingen, wo es doch viele bekannte molekularbiologische Mechanismen gibt, durch die Introns in heutige Gene eingebaut werden könnten? Jedenfalls sind Introns in heutigen Genen extrem ungleichmäßig verteilt, was ihren späten Einbau zu einer einfacheren Erklärung macht. Es kam zur Polarisierung der Meinungen zwischen den Anhängern der Hypothese vom „frühen“ und der vom „späten“ Einbau der Introns. (Spät bedeutet in diesem Fall innerhalb der letzten Milliarde Jahre.) Zu den schlagkräftigsten Indizien für einen späten Einbau der Introns gehört der Verlauf der Stammesgeschichte (Phylogenese) – eine Beweislinie, die Jeffrey Palmer und John Logsdon von der Indiana University mit großer Beharrlichkeit entwickelt haben. Während die Gene der höheren Lebewesen Introns enthalten, fehlen diese bei einfacheren Organismen, nämlich Eubakterien und Archaebakterien, völlig. Um diesen Umstand mit Hilfe der Hypothese von der frühen Existenz der Introns zu erklären, muß man den parallelen Verlust von Zehntausenden Introns in vielen unabhängigen Abstammungslinien annehmen, einschließlich des vollständigen Verlusts in manchen Linien. Dies, so argumentieren Palmer und Logsdon, ist extrem unwahrscheinlich. Sehr viel einfacher ist die Erklärung, daß die wenigen Linien, die heutzutage Introns besitzen, diese durch späten Einbau in zuvor intakte Gene erworben haben. Bisher wurden in Bakteriengenen keine Introns gefunden, was man als Hinweis darauf deuten kann, daß diese Organismen niemals welche besaßen. Allerdings ist erst ein kleiner Teil aller
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
Gene der bekannten Bakterien analysiert worden, und nur ein winziger Anteil aller überhaupt existierenden Bakterien wurde untersucht. Würde man in einigen dieser Organismen schließlich doch Gene mit Introns entdecken, so würde dies die Hypothese von der frühen Existenz der Introns stützen. Theoretisch sind verschiedene Beweislinien denkbar, mit deren Hilfe sich die Früh-kontra-spät-Debatte eigentlich entscheiden lassen müßte – in der Praxis ist dies jedoch bisher nicht gelungen. Beispielsweise müßten Daten über die Lage der Introns innerhalb von Genen entscheidende Hinweise liefern. Wenn Introns aus der Frühzeit der Evolution stammen, müßte ihre Position in ein und demselben Gen in seit langem getrennten Abstammungslinien identisch sein. Wurden sie dagegen erst spät in der Evolution eingebaut, nachdem die Linien sich getrennt hatten, müßten die Positionen der Introns verschieden sein, da man davon ausgeht, daß es sich bei ihrem Einbau um einen Zufallsprozeß handelt. Die diesbezüglichen Befunde sind jedoch uneindeutig; man hat sowohl in einem bestimmten Muster angeordnete als auch scheinbar zufällig verteilte Introns gefunden. Dies könnte man als Beleg für die Spät-Hypothese auffassen; allerdings könnte eine zufällig erscheinende Verteilung auch durch den Verlust und die „Verschiebung“ von Introns – zwei voneinander unabhängige Prozesse – entstanden sein. Ein entscheidender Punkt der Exontheorie ist die notwendige Entsprechung zwischen Exons und bestimmten Proteinstrukturen. Anfang der achtziger Jahre identifizierte Mitiko Gö von der japanischen Kyushu Universität kompakte Bereiche des Proteins Globin, die sie als Module bezeichnete. Sie konnte feststellen, wo die beiden bekannten Introns kompakte Regionen im Globin voneinander trennen, fand aber einen dritten derartigen Bereich, dem kein Intron entsprach. Vielleicht war das dritte Intron in Tiergenen verlorengegangen, spekulierte sie. Innerhalb eines Jahres war das Gen für pflanzliches Globin (als Leghämoglobin bekannt) sequenziert – und ein drittes Intron darin nachgewiesen, exakt an der Position, die Gö vorhergesagt hatte. Damit hatte sich erstmals eine Vorhersage erfüllt, die auf der Exontheorie basierte, derzufolge Proteine aus Modulen zusammengesetzt sind. Eine zweite erfüllte sich ein Jahrzehnt später, als bei Mücken im Gen für Triosephosphatisomerase ein Intron entdeckt wurde – an der Stelle, die Gilbert und seine Kollegen 1986 vorhergesagt hatten. Bisher haben sich jedoch nur wenige derartige Vorhersagen bestätigt, und im Gen für Triosephosphatisomerase wurden in letzter Zeit mehrere Introns an Stellen entdeckt, welche die Modulhypothese nicht vorherge-
sagt hatte. Auf den ersten Blick könnte man dies als fatal für die Hypothese von der frühen Existenz der Introns interpretieren, zumindest sofern sie auf Gös Modulbegriff basiert. Allerdings sind die Muster, die durch Analysen nach dem Vorbild von Gö produziert werden, zwar wertvolle Anhaltspunkte, aber, wie Gilbert sagt, eben nichts weiter als Anhaltspunkte. Es ist möglich, die angenommene Struktur weiter zu zerlegen, so daß man zusätzliche mutmaßliche Intronpositionen erhält. Argumente und Gegenargumente werden weiterhin ausgetauscht, ohne daß es zu einem Konsens kommt – zum Teil weil es bei der Auseinandersetzung um sehr lange zurückliegende evolutionsgeschichtliche Ereignisse geht, die naturgemäß schwer, wenn nicht sogar überhaupt nicht experimentell zu prüfen sind.
E.2.2.1 Die Gene der höheren Lebewesen bestehen aus Exons, die die Information für Proteinsequenzen tragen, und Introns, welche nichts codieren. Wird ein Gen in MessengerRNA transkribiert, so werden die Introns herausgeschnitten („gespleißt“) und die Exons zusammengefügt, so daß eine kontinuierliche codierende Region entsteht.
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ben – tatsächlich handelt es sich hier aber um den Zeitpunkt der Genduplikation und nicht der Artbildung. Von einer solchen Schlußfolgerung sagt man, sie reflektiere den Genstammbaum und nicht den Artstammbaum. Die Wörter Orthologie und Paralogie bezeichnen daher Formen der Homologie, die sich aus der Geschichte eines Gens in verwandten Arten oder innerhalb einer Art ergeben. Eine dritte Form der Homologie, die ebenfalls auf die molekulare Ebene beschränkt ist, bezeichnet man als Xenologie (vom griechischen xenos für fremd, ungewöhnlich; Gast). Die genetische Ausstattung einer Art wird zwar fast ausschließlich vertikal weitergegeben, das heißt von einer Generation an die nächste vererbt, und bleibt von den Genen anderer Arten isoliert, doch gelegentlich wird dieses Prinzip durchbrochen. In solchen Fällen werden Gene horizontal von einer Art auf eine andere übertragen – oft als Passagiere bestimmter Viren – und können schließlich dauerhaft ins Genom des Wirtes eingebaut werden. (Viren müssen sich ins Genom ihrer Wirtszellen integrieren, um sich zu vermehren; gelegentlich werden bei der Virusreplikation Wirtsgene „mitgenommen“ oder Virusgene – oder auch Gene eines früheren Wirtes – „zurückgelassen“.) Bei Mikroorganismen ist horizontaler Transfer häufig, bei höheren Tieren dagegen selten, aber nicht unbekannt. Trifft man auf eine überraschende Ähnlichkeit in der Sequenz eines Gens zweier nur entfernt verwandter Arten, deren Gene sich ansonsten erheblich unterscheiden, so deutet dies auf Xenologie hin. Zu den bedeutendsten molekularbiologischen Entdeckungen der siebziger Jahre gehört die überraschende Tatsache, daß die codierende Sequenz eines Gens bei höheren Lebewesen anders als bei den Bakterien nicht als kontinuierlicher Nucleotidstrang vorliegt. Statt dessen besteht sie aus mehreren Abschnitten, den sogenannten Exons, die durch lange nichtcodierende Sequenzen – Introns – voneinander getrennt sind. Im Laufe der Evolution können Gene aus einer Auswahl von Exons anderer Gene zusammengesetzt worden sein (ein als Exon-Shuffling bekannter Prozeß). Dies führt zu einer Form von Homologie, die es bei den physischen Eigenschaften von Organismen nicht geben kann. Bei morphologischen Homologien handelt es sich um Alles-oder-nichts-Zustände, in der molekularen Evolution dagegen ermöglicht das Exon-Shuffling partielle Homologie. Beispielsweise besteht das Gen, das bei Säugern den Gewebeplasminogenaktivator codiert, aus einer Sammlung von Exons aus Genen, die andere Proteine codieren: Plasminogen, Fibronectin und den Epidermiswachstumsfaktor. Das bedeutet, daß das Gen für den Plasminogenaktivator jedem dieser anderen Gene partiell homolog (genaugenommen paralog) ist. Während der achtziger Jahre entdeckte man die sogenannten Pseudogene. Dabei handelt es sich um stumme Kopien aktiver Gene (ohne deren Introns). Ihre Existenz bedeutet für die Molekularphylogenetik eine poten44
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
tielle Komplikation, wie das folgende, mit unserem obigen hypothetischen Beispiel verwandte Szenario zeigt. Angenommen, ein Gen A in einer Stammart dupliziert sich, und dabei entstehen die Paraloge A1 und A2. Wie im obigen Beispiel gehen aus dieser Art zwei Tochterspezies hervor, die beide die Gene A1 und A2 besitzen. Nehmen wir nun an, in einer der Tochterspezies wird Gen A1 inaktiviert, wird also zu einem Pseudogen, und gleichzeitig in der zweiten Tochterart Gen A2. In Unkenntnis der tatsächlichen Geschichte dieses Gens würde ein Phylogenetiker die Sequenzen dieser Gene fälschlich als ortholog ansehen und nicht als paralog, was sie in Wahrheit sind. In dem Glauben, er leite den Artstammbaum ab (der die Aufspaltung der Stammart in zwei Tochterarten wiedergibt), würde er daher in Wirklichkeit den Genstammbaum ableiten (der die Duplikation wiedergibt, durch welche die Genfamilie mit zwei Mitgliedern entstand). Von einer weiteren Vertiefung in die Einzelheiten der modernen molekularbiologischen Evolutionsforschung sei hier abgesehen; es genügt die Feststellung, daß das Genom der höheren Lebewesen im Lichte der erwähnten und anderer Entdeckungen als extrem kompliziertes, äußerst dynamisches System erscheint. Aufgrund dieser Komplexität und Dynamik können Ergebnisse der Molekularphylogenetik schwerer interpretierbar und weniger zuverlässig sein, als frühere, statischere Vorstellungen vom Genom vermuten ließen – und zumindest so problematisch wie manche morphologischen Daten. Als Nachtrag zur obigen Diskussion sei erwähnt, daß Fitch und Atchley ihre Arbeit mit Inzuchtstämmen von Mäusen fortgesetzt und dabei das Spektrum der von ihnen untersuchten genetischen Information erweitert haben. Inzwischen haben sie Daten von mehr als 200 Genloci (von ge-
2.10 Durch Duplikation von Genen entstehen Genfamilien (unten). Mitunter wird jedoch ein Gen über ein RNA-Zwischenprodukt kopiert, aus dem die Introns und regulatorischen Sequenzen entfernt wurden (oben). Ein solches Pseudogen ist nicht funktionstüchtig.
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2.11 Pseudogene können zur Konstruktion fehlerhafter Stammbäume führen. Gen A dupliziert sich, dabei entstehen A1 und A2, die an zwei Tochterspezies weitergegeben werden. Falls nun A1 in einer Spezies stumm (also zum Pseudogen) wird, und A2 widerfährt das gleiche in der anderen Spezies, so würde ein Vergleich von Gen A der beiden Spezies einen Genstammbaum und keinen Artstammbaum ergeben.
wöhnlichen proteincodierenden Genen, Immunsystemgenen und bestimmten Viren, die ins Mausgenom eingebaut wurden) in 24 Mausstämmen analysiert. Die gewöhnlichen proteincodierenden Gene ergeben immer noch einen Stammbaum, der mit der bekannten Evolutionsgeschichte der Mäuse übereinstimmt, die Immunsystemgene und Virusgene dagegen nicht. »Die Ergebnisse dieser Untersuchungen deuten darauf hin, daß nicht alle genetischen Daten den gleichen Informationsgehalt für die Stammbaumrekonstruktion besitzen«, schlössen die Autoren im Jahre 1991. Festzuhalten ist, daß Informationen über ein einziges Gen oder sogar über viele Gene nicht unbedingt eine korrekte Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte erlauben. Aus den oben erläuterten Gründen kann die Untersuchung verschiedener Gene verschiedene mutmaßliche Stammbäume ergeben. Zur Konstruktion eines Stammbaumes, in den man Vertrauen setzen kann, muß ein breites Spektrum an genetischen Daten herangezogen werden.
Die Bewertung der Daten Mitte der neunziger Jahre hatte man genügend Erfahrung mit der Molekularphylogenetik gesammelt, um ihre relative Brauchbarkeit besser beurteilen zu können. Die ungestümen Tage, in denen manche Molekularbiolo46
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
gen glaubten, die Molekularphylogenetik könne die Anstrengungen der Morphologen ersetzen oder zumindest in den Schatten stellen, sind vorbei. Statt dessen gibt es eine lebhafte Debatte darüber, inwiefern man mit Hilfe der beiden Ansätze partnerschaftlich ein gemeinsames Ziel verfolgen kann. Molekularbiologische und morphologische Daten führen mitunter immer noch zu widersprüchlichen phylogenetischen Schlußfolgerungen, aber häufiger besteht Übereinstimmung. Ein Ergebnis von zwei Jahrzehnten des Kräftemessens zwischen molekularbiologischem und morphologischem Lager waren verstärkte Bemühungen beider Seiten, ihre Methoden durch die Behebung von Schwächen und die Förderung von Stärken zu verbessern. Dieser Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über die jeweiligen Vorzüge der beiden Ansätze. Paradoxerweise ist eine der Stärken der vergleichenden Morphologie die größere Einfachheit der morphologischen Homologie in den Fällen, in denen sie zuverlässig erkennbar ist. Ebenfalls paradox ist ein Vorzug, der vom ungleichmäßigen Tempo der morphologischen Evolution herrührt. Eine wichtige Eigenheit der Evolution ist die sogenannte adaptive Radiation, die bei der Entstehung einer neuen Organismengruppe auftritt: Durch Diversifikation bilden sich zahlreiche Linien mit unterschiedlichen, charakteristischen Merkmalen, die sich in der Folgezeit nur wenig verändern. Im Falle einer sehr lange zurückliegenden adaptiven Radiation könnte eine mit konstantem Tempo verlaufende Akkumulation von Genmutationen die Einzelheiten des auf einen kurzen Zeitraum begrenzten schnellen Wandels nicht wiedergeben, und zwar aus den folgenden Gründen. Bei einer geringen Mutationsrate der DNA-Sequenzen würde das Ereignis gar nicht aufgezeichnet; andererseits könnten DNA-Sequenzen, die sich schnell verändern, solche Veränderungen zwar aufzeichnen, diese Informationen würden jedoch durch spätere Mutationen bis zur Unleserlichkeit überschrieben. Die mit der Radiation verbundenen morphologischen Änderungen dagegen würden während der darauffolgenden Evolution der Linie im Prinzip erhalten bleiben und für die vergleichende Morphologie erkennbar von dem Ereignis zeugen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die schnelle Radiation der plazentalen Säuger (Eutheria) gegen Ende der Kreidezeit vor 100 Millionen Jahren. Museumssammlungen repräsentieren jahrhundertelange Bemühungen um die Katalogisierung der Natur und umfassen sowohl Fossilfunde als auch Exemplare in jüngerer Zeit ausgestorbener Arten, von denen es eine erschreckend große Anzahl gibt. Der vergleichenden Morphologie sind diese Stücke ebenso zugänglich wie die heute lebenden Arten; für die Molekularphylogenetik, deren Methoden mit DNA aus frischem Gewebe am besten funktionieren, gilt dies dagegen nicht. Zwar befinden sich Verfahren zur Extraktion und Analyse genetischen Materials aus den Überresten von Organismen, die schon vor langer oder sogar sehr langer Zeit gestorben sind, in der Entwicklung (siehe Kapitel 8), aber wahrscheinlich wird die 47
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vergleichende Morphologie hier noch sehr lange, wenn nicht sogar für immer, einen Vorsprung behalten. Ein wichtiger Vorzug der Molekularphylogenetik ist die potentiell von ihr zu bewältigende Informationsmenge, die im günstigsten Fall dem gesamten Genom entspricht (beim Menschen sind dies beispielsweise drei Milliarden Nucleotide). Morphologische Merkmale entsprechen zwangsläufig nur einem Teil dieser Information. Und weil sich Mutationen in verschiedenen Teilen des Genoms mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit ansammeln, bieten genetische Methoden sowohl Zugang zu sehr lange zurückliegenden phylogenetischen Aufzweigungen (durch Untersuchung sich langsam verändernder DNA wie der ribosomalen DNA, die einen Teil des Proteinsyntheseapparats der Zelle codiert) als auch zu jüngeren Ereignissen (durch Untersuchung sich schnell verändernder DNA wie der Mitochondrien-DNA, die Bestandteile des Energieversorgungsapparats der Zelle codiert). Der zeitliche Rahmen, über den morphologische Daten Auskunft geben können, ist nicht so weit gesteckt. Wenig brauchbar für die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte sind sie auch, wenn es um einfache Organismen mit nur wenigen physischen Eigenschaften geht, wie bei der frühen Aufspaltung der Mikroorganismen und beim Ursprung von Chloroplasten und Mitochondrien. Die Molekularphylogenetik dagegen kann Einblicke in diesen Teil der Evolutionsgeschichte liefern und hat einige interessante und überraschende Tatsachen aufgedeckt, die in Kapitel 3 beschrieben werden. Die morphologische Phylogenetik, die auf eine lange Geschichte zurückblickt, hat sehr viel mehr Erkenntnisse über die Geschichte des Lebens gesammelt als die Molekularphylogenetik, die noch in den Kinderschuhen steckt, aber schnell wächst. Im Jahre 1993 verfaßten Colin Patterson und zwei seiner Mitarbeiter einen Übersichtsartikel, in dem sie die Leistungen verglichen, welche die beiden Forschungsgebiete getrennt voneinander sowie gemeinsam erbracht hatten. »Übereinstimmungen zwischen molekularen Stammbäumen sind ebenso unzuverlässig wie solche zwischen morphologischen sowie zwischen molekularen und morphologischen«, schlössen sie etwas pessimistisch. »Als Morphologen, die große Hoffnungen in die Molekularsystematik gesetzt haben, schließen wir diesen Überblick mit gedämpften Erwartungen.« Die meisten Beobachter würden mehr Optimismus erkennen lassen und die negativen Äußerungen von Patterson und seinen Kollegen darauf zurückführen, daß diese zuviel Gewicht auf Einzelheiten gelegt haben, statt das Gesamtbild zu betrachten. Zu diesem Gesamtbild gehört eine noch junge, aber lebhafte Debatte darüber, wie man mit molekularbiologischen und morphologischen Daten umgehen sollte, die sich auf dieselbe phylogenetische Frage beziehen. Sollte man sie getrennt halten, um unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis kommen zu können, wodurch das Vertrauen in die Schlußfolge48
2. MOLEKÜLE KONTRA MORPHOLOGIE
rung gefördert würde? Oder sollten sie nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ kombiniert werden? Die Anhänger der beiden Vorgehens weisen bilden etwa gleich starke Lager.
Die Überprüfung der Methoden Die Rohdaten, sowohl molekularbiologische als auch morphologische, sind nur der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Stammbäumen. Es gibt inzwischen ein halbes Dutzend Analysemethoden, von denen einige mit Distanzdaten arbeiten (etwa aus der DNA-DNA-Hybridisierung oder immunologischen Messungen), während andere auf der Unterscheidung zwischen gemeinsamen abgeleiteten und ursprünglichen Merkmalen (etwa Protein- oder DNA-Sequenzen) basieren. Ganz gleich welche Methode man verwendet – man steht vor einer gewaltigen Aufgabe. Selbst mit nur einer Handvoll Arten ist die Zahl der möglichen Stammbäume enorm. Bei nur 50 Arten existieren beispielsweise 2,8×1074 mögliche Stammbäume, das sind etwa 10 000mal so viele, wie es Atome im Universum gibt. Um alle durchzurechnen, würde ein Computer, der eine Billion Stammbäume pro Sekunde prüfen könnte (bisher erreicht kein Computer diese Geschwindigkeit auch nur annähernd), 8,9×1054 Jahre brauchen – das entspricht dem mit 2×1045 multiplizierten Alter der Erde. Brauchbare Analysemethoden müssen diese Schwierigkeit überwinden und tun dies, indem sie schnell nach dem wahrscheinlichsten Stammbaum suchen. In der Praxis erstellt man viele Stammbäume, die alle mit gleicher oder an-
2.12 Die Parsimonietechnik ist die bevorzugte Methode zur Ableitung phylogenetischer Beziehungen. Die Abbildung zeigt fünf Individuen und einen Teil ihrer DNASequenzen. Durch Konzentration auf Position drei (oben links farbig hervorgehoben) versucht die Parsimonietechnik den Stammbaum zu finden, in dem alle Individuen durch die geringstmögliche Anzahl von Mutationsschritten verbunden sind. Abgebildet sind drei derartige Stammbäume, in denen ein, zwei beziehungsweise drei Schritte erforderlich sind, um die fünf Individuen zu verbinden. Stammbaum 1 gibt die phylogenetischen Beziehungen zwischen ihnen mit der größten Wahrscheinlichkeit korrekt wieder.
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nähernd gleicher Wahrscheinlichkeit richtig sind. Mit Hilfe statistischer Methoden werden dann die Möglichkeiten eingegrenzt. Zur Zeit sind Methoden, die sich des sogenannten Parsimonieprinzips (von englisch parsimony für Sparsamkeit, Knappheit; im Deutschen auch Prinzip der einfachsten Erklärung oder Sparsamkeitsprinzip genannt) bedienen, für die phylogenetische Analyse am beliebtesten und am wirkungsvollsten. Dieses in der Biologie althergebrachte Prinzip sucht nach der einfachsten Erklärung, in der Annahme, sie sei die wahrscheinlichste. In der phylogenetischen Analyse bedeutet dies die Suche nach dem Stammbaum (oder den Stammbäumen), in dem die wenigsten Veränderungen nötig sind, um die fraglichen Arten in einer Abstammungshierarchie miteinander zu verknüpfen – man sucht also nach der kürzesten Verbindung zwischen den gegebenen Punkten. Wie bereits erwähnt, läßt sich jedoch auch mit der besten Methode nicht mit Gewißheit sagen, ob der schließlich ausgewählte Stammbaum auch der historisch korrekte ist. Das beste Ergebnis ist schlicht die beste Hypothese darüber, wie es gewesen sein könnte; abgesehen von einer Zeitreise in die Vergangenheit gibt es keine Möglichkeit, festzustellen, ob eine Schlußfolgerung richtig ist. Eine wichtige Nebenbeschäftigung der Phylogenetiker ist daher die Suche nach Methoden zur Überprüfung der Effizienz von Analyse verfahren.
2.13 Diese elektronenmikroskopische Aufnahme von gefriergetrockneten Partikeln des Bakteriophagen T7 zeigt die ikosaedrisehe Form des Virus und den Schwanz, durch den es DNA in seine Wirte injiziert.
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Bisher gibt es zwei solcher Methoden. Bei der ersten werden mittels numerischer Simulation künstliche Stammbäume erstellt; bei der zweiten verwendet man bekannte Stammbäume lebender Organismen. Die numerische Simulation ist ein Versuch, die Evolution im Computer zu imitieren; dabei verwendet man Annahmen über Evolutionsmechanismen zur Konstruktion einer bekannten Evolutionsgeschichte. Auf Daten über die Endprodukte dieser künstlichen Evolution wendet man dann Methoden der Stammbaumanalyse an. Deren Ergebnisse lassen sich mit der tatsächlichen, vom Computer erzeugten Geschichte vergleichen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, daß sich relativ leicht sehr viele Stammbäume erstellen lassen. Der Nachteil ist, daß man selbst in den ausgefeiltesten Modellen von Annahmen ausgeht, die, verglichen mit den bekannten Tatsachen über die molekulare Evolution, furchtbar simplifizierend sind. Ein anderer Haken ist, daß manche dieser Annahmen über die Evolution (etwa über Geschwindigkeit und Art der Mutationen) auch in die Analyseverfahren eingehen. Infolgedessen ist die Analysetechnik letztlich auf die Methode zur Erzeugung der Stammbäume abgestimmt, wodurch ein positives Ergebnis des vermeintlich objektiven Tests begünstigt wird. Der zweite Weg, die Nutzung der bekannten Evolutionsgeschichte lebender Organismen, ist, weil man dabei von tatsächlicher Evolution ausgeht, effektiver – aber auch schwieriger. David Hillis und seine Kollegen schrieben dazu: »Experimentelle Stammbäume ermöglichen den Praxistest von
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Simulationsuntersuchungen und die Überprüfung der Zuverlässigkeit von Analysemethoden.« Die Arbeit von Fitch und Atchley mit Mäusen aus Inzuchtstämmen ist ein Beispiel für die Verwendung einer bekannten Evolutionsgeschichte; tatsächlich begannen die beiden diese Forschungsarbeit explizit mit der Absicht, dabei Analyseverfahren zu testen. Vor kurzem wurde ein anderes System entwickelt, bei dem einige der mit dem Maussystem verbundenen Probleme entfallen. Dabei verfolgt man aufeinanderfolgende Generationen des Bakteriophagen T7. Bakteriophagen (in der Regel kurz als Phagen bezeichnet) sind Viren, die Bakterien parasitieren und zerstören. Für die Wissenschaft bieten sie den Vorteil einer kurzen Generationsdauer – die sich in Minuten statt (wie bei Mäusen) in Monaten bemißt – und damit von realen Stammbäumen mit einer größeren Datenmenge. Überdies lassen sich aus Viren leichter umfangreiche genetische Informationen gewinnen als aus Mäusen. Dies ist nicht nur bei der phylogenetischen Analyse hilfreich, sondern liefert außerdem Einblicke in die Einzelheiten des Wandels auf molekularer Ebene – Aspekte, die sich in Simulationsmodellen einsetzen lassen. Die Stammbäume werden erzeugt, indem man Phagenkolonien zu festgesetzten Zeiten teilt; auf diese Weise entsteht schließlich eine Reihe von Abstammungslinien, deren Geschichte genau bekannt ist und die man zur kontrollierten Überprüfung phylogenetischer Methoden verwenden kann. In einer kürzlich durchgeführten Vergleichsstudie über die verschiedenen Tests für phylogenetische Analysemethoden schlössen Hillis und seine Kollegen wie folgt: »Sowohl simulierte als auch experimentelle Stammbäume zeigen, daß viele Methoden effektiv genug sind, um die Rekonstruktion der Stammesgeschichte mit einem hohen Grad an Genauigkeit zu erlauben.« Dieses positive Urteil ist natürlich wichtig, weil die phylogenetische Analyse in immer mehr Forschungsgebieten angewendet wird, und zwar für biologische Vergleiche auf allen Ebenen, vom gesamten Stammbaum des Lebens bis hin zu einfachen Laboruntersuchungen wie der am Phagen T7.
2.14 Dieser Stammbaum zeigt die bekannten phylogenetischen Beziehungen zwischen mehreren Populationen des Bakteriophagen T7. W steht für die Stammpopulation, die in zwei Teilpopulationen E und F aufgeteilt wird. Die Zahlen 17 und 18 bezeichnen die Anzahl der Mutationen, die sich nach einer bestimmten Zeit in den beiden Populationen angesammelt haben. Danach wurden E und F jeweils in zwei Subpopulationen unterteilt, A und B sowie C und D. Auch hier bezeichnen die Zahlen die Anzahl der Mutationen, die sich nach einer bestimmten Zeit angesammelt haben. Der gesamte Ablauf wird ein weiteres Mal wiederholt, wodurch insgesamt acht Populationen entstehen. Die DNA-Sequenzen dieser Populationen werden dann mit Hilfe verschiedener phylogenetischer Methoden analysiert, und aus den gewonnenen Daten wird jeweils ein Stammbaum rekonstruiert. Ein Vergleich dieser hypothetischen Stammbäume mit dem bekannten realen Stammbaum gibt Aufschluß über die Effizienz der einzelnen Methoden.
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3.1 Ein Beispiel für konvergente Evolution: Der ausgestorbene Beutelwolf sah dem nordamerikanischen Wolf sehr ähnlich, obwohl die beiden Arten durch mehr als 100 Millionen Jahre der Evolution getrennt sind.
Stammbäume
D
ie Molekularphylogenetik mag noch in den Kinderschuhen stecken, aber in der kurzen Spanne ihrer Existenz war sie bereits erstaunlich produktiv. In der großen Mehrzahl der Fälle wurden stammesgeschichtliche Beziehungen, die aufgrund von Befunden der traditionellen Phylogenetik als relativ gesichert galten, durch molekularbiologische Untersuchungen bestätigt. Für viele Bereiche des Organismenstammbaumes haben die traditionellen Methoden jedoch entweder keine eindeutigen Ergebnisse geliefert oder aufgrund der Unzulänglichkeit der morphologischen Information überhaupt keine Antwort erbracht. Genau in diesen Bereichen ist die Molekularphylogenetik potentiell am wertvollsten. Das wichtigste Beispiel hierfür sind die phylogenetischen Beziehungen zwischen Mikroorganismen, die, wenn sie bekannt wären, auf den gemeinsamen Vorfahren aller Lebensformen schließen lassen würden. Um diese Beziehungen aufzuklären und Aufschluß über die ältesten Zweige im Stammbaum der Organismen zu erhalten, müßte die Evolutionsgeschichte in ihren ersten Anfängen erforscht werden. Auch für die Aufklärung erst kurz zurückliegender Evolutionsereignisse ist die Molekularphylogenetik besonders gut geeignet, und man hat sie sogar verwendet, um die Fährte des Aids-Erregers HIV von Mensch zu Mensch zu verfolgen. In dem Zeitraum, der zwischen diesen beiden Extremen liegt, bietet der molekularbiologische Ansatz weniger Vorzüge gegenüber morphologischen Methoden. Dieses Mittelfeld der Evolutionsgeschichte dokumentiert die Beziehungen zwischen den Hauptgruppen der Organismen, etwa die Radiation der Metazoen (mehrzelligen Tiere), außerdem die Radiationen innerhalb der einzelnen Hauptgruppen, beispielsweise die Entwicklungs-
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
geschichte der Landvertebraten, sowie die Radiationen auf den nachfolgenden Stufen, beispielsweise die Diversifikation der Säugetiere; es umfaßt den Stammbaum der Organismen von den ältesten Stammformen bis hin zu den jüngsten abgeleiteten Formen. Diesen Bereich zu erforschen heißt, die Details in den Stammbaum der Lebewesen einzuzeichnen und zu ermitteln, wo die wichtigsten Zweige liegen. Die Molekularphylogenetik hat bereits neue Erkenntnisse zu einigen der vielen verbleibenden Fragen geliefert. Wenn die komplexen Evolutionsabläufe auf molekularer Ebene genauer erforscht sind und ausgefeiltere Methoden für die Analyse molekularbiologischer Daten zur Verfügung stehen, wird die Molekularphylogenetik hier erheblich mehr Fortschritte erbringen können, und schließlich wird man hoffentlich in der Lage sein, ein vollständiges Bild vom Stammbaum der Organismen zu zeichnen. Für einen Bruchteil der Kosten des Humangenomprojekts (die sich bis zum Jahr 2005 auf zwei Milliarden US-Dollar belaufen werden) könnte dieses Ziel innerhalb eines Jahrzehnts erreicht werden. Leider erscheint die Molekularphylogenetik den Stellen, die Fördermittel vergeben, nicht als spektakuläres Unternehmen. Die weiteren Fortschritte bei der Rekonstruktion des Organismenstammbaumes hängen daher ebensosehr von den verfügbaren Mitteln ab wie von den technischen Möglichkeiten, vielleicht sogar noch stärker. An dieser Stelle ist vielleicht eine Anmerkung zur Terminologie sinnvoll. Biologen sprechen oft vom Stammbaum des Organismenreiches, weil die Form eines Baumes den Verlauf der Evolution gut widerspiegelt. Ausgehend von einem Stamm (dem gemeinsamen Vorfahren), spaltet sich der Baum in Hauptäste auf (die Hauptlebensformen, wie Tiere, Pflanzen und Pilze), und diese Äste verzweigen sich immer weiter in kleinere Zweige (die Organismengruppen innerhalb der Hauptgruppen, etwa Säuger, Vögel, Reptilien und Amphibien innerhalb der Wirbeltiere); die Zweigspitzen bilden die rezenten (heute lebenden) Arten aller Gruppen. Dieses Bild paßt gut und nimmt daher für sich ein, aber es steht im Widerspruch zur Terminologie für die hierarchische Klassifikation der Lebewesen. Im Bild vom Baum liegen die Äste, die die Entfaltung der Hauptgruppen repräsentieren, ganz unten, und die Arten, die die feinste Unterteilung dieser Gruppen darstellen, stehen an der Spitze. Der Weg von den Arten zu den Hauptgruppen verläuft in diesem Bild also abwärts. In der von Biologen aufgestellten hierarchischen Klassifikation der Organismen dagegen stehen die Arten ganz unten, und der Weg zur höchsten systematischen Kategorie, den biologischen Reichen, verläuft aufwärts. Der Widerspruch entsteht zum Teil durch eine Vermischung der beiden Perspektiven. Das Bild vom Stammbaum der Organismen repräsentiert die Evolution – die Entfaltung des Lebens im Laufe der Zeit, mit den ältesten Formen im Stamm und den jüngsten in den Zweigen. Die systematische Hierarchie stellt dagegen eine Einteilung der Arten in 54
3. STAMMBÄUME
immer umfassendere Gruppen (Gattungen, Ordnungen und so weiter) dar. Solange einem dieser Unterschied bewußt ist, dürfte die Frage, was jeweils mit aufwärts oder abwärts gemeint ist, kein Problem darstellen. In diesem Kapitel werden einige Beispiele für molekularphylogenetische Untersuchungen vorgestellt. Informationen darüber, auf welchen Gebieten und mit welchem Erfolg sie durchgeführt wurden, werden auch die derzeitigen Grenzen der Molekularphylogenetik deutlich machen. Wir beginnen ganz oben in der systematischen Hierarchie – das heißt bei den frühesten Ästen im Stammbaum der Organismen – und arbeiten uns dann zu den Beziehungen innerhalb einzelner Gruppen vor.
3.2 Stammbäume werden konventionsgemäß so gezeichnet, daß die Stammgruppe unten steht und der Weg zu den rezenten Arten aufwärts führt. In der Klassifikation der Organismen dagegen führt der Weg von der Domäne zur Art in der Hierarchie abwärts.
Die Organismenreiche Die Klassifikation der Organismen ist eine Beschreibung der Beziehungen zwischen ihnen in einer hierarchischen Ordnung, mit den Reichen auf der höchsten und den Arten auf der untersten Stufe. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, galt diese Hierarchie vor Darwin als das Ergebnis eines göttlichen Entwurfs; seit Darwin geht man davon aus, daß sie die Evolutions- oder Stammesgeschichte widerspiegelt. Seit der Jahrhundertwende haben sich die Ansichten über die korrekte Klassifikation der Organismenwelt mehrfach – und insgesamt erheblich – verändert. Das jüngste Beispiel 55
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
hierfür war das Ergebnis einer völlig unerwarteten Entdeckung der Molekularphylogenetik. Nach Ansicht der frühen Naturphilosophen ließ sich die belebte Welt in nur zwei Gruppen unterteilen: Alle Lebewesen waren entweder Pflanzen oder Tiere. Als vor drei Jahrhunderten die Mikroorganismen entdeckt wurden, paßte man sie in dieses Schema ein: Die großen, mobilen Formen wurden als Tiere eingeordnet, die kleinen, weniger beweglichen (einschließlich der Bakterien) als Pflanzen. Der deutsche Paläontologe Ernst Haeckel stellte diese einfache Zweiteilung Mitte des 19. Jahrhunderts in Frage. Seiner Ansicht nach paßten die als Protisten bezeichneten einzelligen Organismen (alle Einzeller außer den Bakterien) in keine der beiden Kategorien. Viele von ihnen betreiben Photosynthese wie Pflanzen, sind jedoch groß und können sich wie Tiere fortbewegen. Der Stammbaum der Organismen trug deshalb fortan drei Äste statt zwei: Animalia, Plantae und Protista. Anfang dieses Jahrhunderts erhielten auch die Bakterien den Status eines Reiches (Monera), womit der Stammbaum vier Äste besaß. Die letzte Veränderung vor der Ära der Molekularphylogenetik wurde 1959 eingeführt, als den Pilzen der Status eines Reiches zuerkannt wurde. Trotz gewisser logischer Inkonsequenzen etablierte sich (zumindest im amerikanischen Raum) dieses von Robert Whittaker von der Cornell University vertretene Fünf-Reiche-Schema – mit Animalia, Plantae, Fungi, Protista und Monera – mit geringfügigen Modifikationen als die annehmbarste Beschreibung der Ordnung der Lebewesen. Zu den logischen Inkonsequenzen gehört zum Beispiel die Tatsache, daß der Unterschied zwischen den Monera und den anderen vier Reichen wesentlich größer ist als der zwischen letzteren und dennoch alle denselben systematischen Rang haben. Logischer ist eine primäre Einteilung der Lebewesen in Monera einerseits und eine Animalia, Plantae, Protista und Fungi umfassende Gruppe andererseits, die dann sekundär in Animalia, Plantae und so weiter unterteilt wird. Eine solche primäre Einteilung hatten Wissenschaftler, die sich mit der Zellstruktur befaßten, tatsächlich seit über einem Jahrhundert vorgenommen. Bakterien sind Prokaryoten, das heißt Zellen, in denen das genetische Material nicht in einem Zellkern eingeschlossen ist; alle anderen Lebensformen sind Eukaryoten, das heißt, ihre Zellen besitzen einen Zellkern. Prokaryotische Zellen sind in der Regel sehr viel kleiner als eukaryotische und enthalten weniger genetisches Material. Schließlich etablierte sich die Auffassung, die Einteilung in Prokaryoten und Eukaryoten, die im wesentlichen auf Eigenheiten der Zellstruktur basiert, entspreche einer evolutionsgeschichtlichen Aufspaltung; dem wurde formal Rechnung getragen, indem man zwei primäre Reiche Prokaryotae und Eukaryotae postulierte. Daß die Eukaryoten eine Einheit bildeten, erschien sinnvoll, denn sie stimmen in vielen komplexen Merkmalen überein und können somit als Ab56
3. STAMMBÄUME
kömmlinge eines gemeinsamen Vorfahren angesehen werden. Auch von den Prokaryoten glaubte man, daß sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten, obwohl man über die stammesgeschichtlichen Beziehungen innerhalb dieser Gruppe kaum etwas wußte. Seitdem koexistierten das Zwei-Reiche- und das Fünf-Reiche-Schema, trotz der scheinbaren logischen Überlegenheit des ersteren.
3.3 Prokaryotenzellen sind kleiner und einfacher aufgebaut als Eukaryotenzellen; beispielsweise sind ihre Chromosomen nicht von einer Kernhülle umschlossen. Eukaryotenzellen enthalten Mitochondrien (die Kraftwerke der Zelle) und bei photosynthetisch aktiven Arten auch Chloroplasten. Beide Organellen leiten sich von Prokaryoten ab, die vor langer Zeit zu Endosymbionten wurden.
Alte Reiche sind in neuen Domänen zusammengefaßt Lange Zeit bemühten sich die Mikrobiologen, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Prokaryoten aufzuklären, wurden aber durch den Mangel an sichtbaren Merkmalen, die man hätte vergleichen können, daran gehindert. In den sechziger Jahren hatten die meisten den Versuch aufgegeben und das Problem als mit traditionellen Methoden unlösbar erklärt. Molekularbiologische Daten boten jedoch eine Möglichkeit, nach Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Gruppe zu suchen, und als 57
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Ende der sechziger Jahre erste einfache Methoden zur Sequenzierung von DNA entwickelt wurden, begannen Carl Woese und seine Mitarbeiter an der University of Illinois sie anzuwenden. Seit der Entdeckung von Mikrofossilien wußte man, daß die Evolution der Bakterien innerhalb der ersten Milliarde Jahre nach der Entstehung der Erde vor etwa 4,5 Milliarden Jahren stattfand. Man mußte daher ein Molekül auswählen, in dem so lange zurückliegende Ereignisse aufgezeichnet sein konnten – ein Molekül, dessen Funktion und damit auch Struktur sich während der gesamten Geschichte des Lebens kaum verändert hatten. Die RNA der Ribosomen, der Strukturen, an denen die Proteine synthetisiert werden, bot eine solche Möglichkeit. Die Ribosomen enthalten drei RNA-Moleküle oder Untereinheiten: eine große, eine kleine und eine sehr kleine (die nach ihren Sedimentationseigenschaften bei der Isolierung im Labor als 23S, 16S und 5S bezeichnet werden). Ribosomen sind in jeder Zelle in großer Zahl vorhanden und lassen sich leicht isolieren. Woese und seine Mitarbeiter verglichen kleine Abschnitte der 16S-ribosomalen RNA (16S-rRNA) von zahlreichen Bakterienarten. Ihren Ergebnissen zufolge bildeten die meisten Bakterien eine große, einheitliche Gruppe, die sich in mehrere Hauptzweige unterteilen ließ. Einige Bakterien paßten jedoch nicht dazu und schienen eine eigene, unabhängige Gruppe zu bilden – genauso alt wie die erste, obwohl sie in vielen Einzelheiten der Zellstruktur praktisch mit dieser identisch war. Woese nannte die erste Gruppe Eubacteria (echte Bakterien), die zweite Archaebacteria (ursprüngliche Bakterien). Eubakterien und Archaebakterien unterscheiden sich genetisch genauso stark voneinander wie von den Eukaryoten – eine Tatsache, die der vermuteten primären Einteilung in Prokaryoten und Eukaryoten widerspricht. Die Prokaryoten bestehen demnach aus zwei Gruppen, den Eubakterien und den Archaebakterien, die beide denselben systematischen Status haben wie die Eukaryoten. In den fast zwei Jahrzehnten seit der Entdeckung der Archaebakterien ist die ribosomale RNA (rRNA) von mehr als 1000 Arten auf ihre grundlegenden Eigenschaften hin untersucht worden, und die kleine Untereinheit wurde komplett sequenziert. Auch andere an der Proteinsynthese beteiligte Moleküle sind erforscht worden, darunter die RNA-Polymerasen, die RNA-Kopien von DNA-Sequenzen herstellen, und bestimmte Faktoren, die an der Translation der genetischen Information in Proteinsequenzen mitwirken. Sämtliche Ergebnisse haben die primäre Einteilung in Eubakterien, Archaebakterien und Eukaryoten bestätigt. Überdies sind die Unterschiede zwischen den drei Gruppen evolutionsbiologisch gesehen grundlegender als die Unterschiede, auf denen die traditionelle Einteilung in Reiche beruht. Zum Beispiel stimmt das Schema der Untereinheiten, aus denen die RNA-Polymerase besteht, bei allen Eubakterien überein und unterscheidet sich von dem der Eukaryoten und Archaebakterien. Außerdem nutzen nur die Eukaryoten drei RNA-Polymerase-Funktionen. Zwischen 58
3. STAMMBÄUME
Pflanzen und Tieren beispielsweise bestehen keine derartigen Unterschiede. Aus diesen Gründen schlugen Woese und seine Mitarbeiter im Jahre 1990 eine neue formale Klassifikation der Lebewesen vor. Die drei primären Gruppen haben demnach einen als Domänen bezeichneten systematischen Status über dem der Reiche und erhalten die Namen Bacteria (für die Eubakterien), Archaea (für die Archaebakterien) und Eukarya (für die Eukaryoten). Innerhalb jeder Domäne gibt es mehrere Reiche. Die Reiche der Eukarya sind bereits etabliert, es wurden jedoch einige Änderungen vorgeschlagen; innerhalb der Domänen Bacteria und Archaea erhalten Hauptzweige den Status von Reichen. »Unser System ist ein Versuch, die Klassifikation mit den neuen, auf molekularbiologische Untersuchungen gegründeten Vorstellungen über die Phylogenese in Einklang zu bringen«, erklärten Woese und seine Mitarbeiter. Obwohl inzwischen weithin Einigkeit über die stammesgeschichtliche Realität der drei primären Gruppen oder Domänen besteht, ist das Klassifikationssystem, das Woese und seine Mitarbeiter daraus abgeleitet haben, immer noch Gegenstand von Auseinandersetzungen. Beispielsweise kritisierte Ernst Mayr, einer der prominentesten Evolutionsbiologen dieses Jahrhunderts, das Schema, weil es die Welt nicht so widerspiegelt, wie wir sie sehen. Er argumentierte, daß »der Unterschied in der strukturellen Organisation zwischen Prokaryoten und Eukaryoten in einer anderen Größenordnung liegt als der relativ geringe Unterschied zwischen Archaebakterien und Eubakterien.«
3.4 Die Molekularphylogenetik sorgte für eine große Überraschung, als Daten über ribosomale DNA zeigten, daß es innerhalb der Prokaryoten zwei Gruppen – Bacteria und Archaea – gibt, deren Trennung fast so lange zurückliegt wie die Entstehung des Lebens. Die beiden Gruppen oder Domänen unterscheiden sich fast so sehr voneinander, wie jede von ihnen sich von der dritten Domäne, Eukarya, den Eukaryoten, unterscheidet. Diese Entdeckung stieß die traditionelle Einteilung in Eukaryoten und Prokaryoten um, von der man bis dahin geglaubt hatte, sie spiegele die Evolutionsgeschichte wider.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Mayr favorisierte eine Klassifikation, welche die traditionelle Einteilung in Prokaryoten und Eukaryoten widerspiegelt. Es trifft zweifellos zu, daß Eukaryoten morphologisch komplexere Organismen sind als Prokaryoten. Doch ebenso trifft es zu, daß Prokaryoten in ihrem molekularen Aufbau und auch in ihrer Biochemie ebenso komplex sind wie Eukaryoten; ihre Ökologie ist sogar komplexer, denn sie besiedeln ein wesentlich breiteres Spektrum an Lebensräumen. Außerdem ist aus phylogenetischer Sicht das Ausmaß der Unterschiede zwischen den drei Domänen gleich. Bei der Auseinandersetzung geht es also letztlich um die Frage, was die Klassifikation der Organismen leisten sollte: Sollte sie die Welt so wiedergeben, wie wir sie wahrnehmen, oder sollte sie die stammesgeschichtliche Realität abbilden?
Der gemeinsame Vorfahre
3.5 Das thermophile Bakterium Thermus aquaticus gedeiht in den heißen Quellen des nordamerikanischen YellowstoneNationalparks. Noch einfachere Formen solcher Organismen waren vermutlich die ersten Lebewesen. Das DNA-replizierende Enzym dieses Bakteriums wird bei der Methode der Polymerasekettenreaktion verwendet, weil es hohe Temperaturen verträgt.
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Die Bandbreite der von Bacteria und Archaea besetzten ökologischen Nischen ist extrem groß, und viele dieser Nischen sind aus Eukaryotensicht bizarr. Thermophile (hitzeliebende) Bakterien leben in heißen Quellen und in Vulkanschloten, wo die Temperaturen hoch sind und Sauerstoff oft knapp ist; andere Bakterien leben an Orten mit hoher Salzkonzentration oder hohem Druck. Die Verteilung der Angehörigen der beiden Domänen auf diese Lebensräume gibt Hinweise auf die Bedingungen, unter denen das Leben vor fast vier Milliarden Jahren entstand. In beiden Domänen findet man, jeweils auf mehrere Hauptgruppen verteilt, zahlreiche thermophile Organismen. Ihre weite Verbreitung deutet darauf hin, daß die Thermophilen die Linien sind, deren Wurzeln am weitesten zurückreichen. Daraus folgt, daß auch die ersten Lebewesen einschließlich des gemeinsamen Vorfahren der drei primären Gruppen wahrscheinlich in einer unwirtlichen, heißen Umwelt gelebt haben – und entstanden sind –, in der der Siedepunkt des Wassers mitunter überschritten wurde. Die meisten heutigen Eubakterien verwenden Sauerstoff, um Energie aus Kohlenstoffverbindungen freizusetzen, und bilden dabei Wasser und Kohlendioxid. Vor vier Milliarden Jahren war Sauerstoff in der Atmosphäre knapp, und die ersten Organismen nutzten zur Energiegewinnung andere Substanzen, beispielsweise Schwefel, den sie zu Schwefelwasserstoff umsetzten. Die Energie verwendeten sie zum Aufbau organischer Verbindungen mit Kohlendioxid als Ausgangsmaterial. Diese direkt aus Erkenntnissen der Molekularphylogenetik abgeleitete Beschreibung des gemeinsamen Vorfahren unterscheidet sich grundlegend von der klassischen Sichtweise, derzufolge die ersten Organismen heterotroph waren (das heißt abhängig von Kohlenstoffverbindungen wie Glucose, aus denen sie komplexere Moleküle aufbauten, wie es auch moderne
3. STAMMBÄUME
3.6 Fossile Stromatolithensäulen, die in altem Gestein in Australien zutage treten. Solche Stromatolithen wurden von verschiedenen einfachen Mikroorganismen aufgebaut, die vor bis zu drei Milliarden Jahren lebten und zu den ersten Lebensformen gehörten.
Stoffwechselsysteme tun) und bei uns vertrauten Temperaturen lebten. Zu dieser Sichtweise war man durch einfache Extrapolation von den heutigen Bakterien gelangt, von denen viele in eher gemäßigter und nicht in extremer Umwelt leben. Vor vier Milliarden Jahren, als das Leben seinen Anfang nahm, befand sich die Erde noch in der Abkühlungsphase nach ihrer feurigen Geburt, und es gab sehr viel mehr Lebensräume mit extremen physikalischen Bedingungen als heute. So eindrucksvoll wie die Geschwindigkeit, mit der das Leben entstand, ist auch das Tempo, mit dem es sich in die drei primären Domänen differenzierte. Wie Fossilfunde in australischem Gestein zeigen, existierten schon vor drei bis vier Milliarden Jahren photosynthetisch aktive Eubakterien (und demnach wohl auch Archaebakterien, vielleicht sogar Eukaryoten), Abkömmlinge des gemeinsamen Vorfahren. Dieser Vorfahre muß also noch früher gelebt haben, und seine Zellstruktur und genetische Ausstattung dürften einfacher gewesen sein als die seiner Abkömmlinge; vermutlich bestand sein Genom aus RNA und nicht aus DNA. Bis jetzt wurden die drei Domänen als gleich nah miteinander verwandt beschrieben, was bedeuten würde, daß der Stammbaum keine Wurzel hätte. In solchen Situationen suchen Phylogenetiker normalerweise nach einer sogenannten Außengruppe, mit der sich die Taxa, um die es geht, vergleichen lassen. In diesem Fall gibt es natürlich keine Lebensformen, 61
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
auf die man sich als Außengruppe beziehen könnte, da alle Organismen Gegenstand der Untersuchung sind.
3.7 Um herauszufinden, welche Form die tiefsten Wurzeln des Lebensstammbaumes haben, muß man – als Ersatz für den Vergleich mit einer Außengruppe – paraloge Formen eines Gens des gemeinsamen Vorfahren heranziehen, das sich vor der Aufspaltung in Bacteria, Archaea und Eukarya dupliziert hat (oben). Sodann vergleicht man die Sequenzen der paralogen Gene X1 und X2 innerhalb der drei Linien sowie zwischen ihnen. Dabei zeigt sich (unten), daß die Sequenzen der Eukarya und Archaea stärker übereinstimmen als jede von ihnen mit den Sequenzen der Bacteria.
Einen Ausweg aus dieser Situation bieten Gene, die sich vor der Trennung der drei primären Linien dupliziert haben. Duplizierte Gene bezeichnet man, wie bereits erwähnt, als paralog; Paralogie ist eine Form der molekularen Homologie innerhalb einer Art. In Kapitel 2 haben wir den Fall betrachtet, daß durch Duplikation eines Gens X einer Stammart die Gene X1 und X2 entstanden sind. In diesen beiden Genen beginnen sich sofort Mutationen anzusammeln. Wenn die Stammart sich später in zwei Linien aufspaltet, setzt sich dieser Prozeß in beiden Linien fort, aber erst jetzt beginnen sich genetische Unterschiede beispielsweise zwischen Gen X1 der einen und X1 der anderen Linie aufzubauen. Das bedeutet, daß zwischen X1 und X2 innerhalb derselben Abstammungslinie ein größerer Unterschied besteht als zwischen den beiden Formen von X1 beziehungsweise von X2 der verschiedenen Linien. Spaltet sich eine dieser Linien später weiter auf, sammeln sich abermals in beiden Genen X1 und X2 genetische Unterschiede zwischen den beiden neuen Linien an. Zu diesem Zeitpunkt besteht jedoch schon ein erheblicher genetischer Unterschied zwischen X1 und X2. Die Reihenfolge, in der die Linien sich aufgespalten haben, läßt sich ableiten, indem man die Sequenzen der paralogen Gene innerhalb der Linien sowie zwischen ihnen vergleicht. Mit Hilfe dieser Methode hat man die Beziehungen zwischen Bacteria, Archaea und Eukarya untersucht, und zwar anhand von Sequenzdaten von Genen, welche die Elongationsfaktoren EF-1 und EF-2 codieren – Proteine, die an der Transkription von DNA-Sequenzen in Messenger-RNA beteiligt sind. Die Ergebnisse deuten auf eine nähere Verwandtschaft zwischen Archaea und Eukarya hin als zwischen jeder dieser Domänen und den Bacteria. Damit würden die Bacteria die Wurzel des Organismenstammbaumes bilden, und Archaea und Eukarya hätten einen gemeinsamen Vorfahren, der nach der Abspaltung der Bacteria lebte. Darüber hinaus lassen sich aus diesen Resultaten Erkenntnisse über die Natur und die Entstehung der Eukaryotenzelle ableiten. Erwähnenswert ist allerdings, daß hinsichtlich bestimmter Eigenschaften der kleinen Untereinheit der ribosomalen RNA eine stärkere Übereinstimmung zwischen Archaea und Bacteria besteht als zwischen jeder dieser Domänen und den Eukarya, was eine nähere Verwandtschaft zwischen Archaea und Bacteria nahelegt. Dieser Befund ließe sich jedoch auch durch eine relativ langsame Evolution der ribosomalen Gene bei den Archaea erklären. Ein ernsteres Problem besteht darin, daß einige Forscher, insbesondere James Lake von der University of California in Los Angeles, das Drei-Domänen-System grundsätzlich in Frage stellen. Lake vermutet, daß die Archaea nicht von einem einzigen Vorfahren abstammen und daß die Gruppe der extrem Thermophilen, der sogenannten Eocyten,
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die nächste Verwandtschaft der Eukarya darstellt, während die übrigen Archaea näher mit den Bacteria verwandt sind. Die Auseinandersetzung über diese Punkte ist noch im Gange. Auf jeden Fall gibt es massive Hinweise auf eine enge Verwandtschaft zwischen Eukaryoten und Archaebakterien (entweder der ganzen Gruppe oder eines Teils von ihr). Das hieße, daß der Vorfahre der Eukaryoten unter den Archaebakterien zu suchen wäre. Die Genome der Archaebakterien sind jedoch sehr viel kleiner als die der Eukaryoten. Wie läßt sich dieses Paradoxon erklären? Zwei Erkenntnisse können hier vielleicht weiterhelfen. Erstens gehören viele Gene der Eukaryoten zu Genfamilien, in denen erst in jüngerer Zeit mehrfach Duplikationen aufgetreten sind; der Vorläufer der heutigen Eukaryotengenome war demnach also kleiner als diese. Die zweite Erkenntnis ergab sich aus dem direkten Vergleich einzelner Eukaryoten- und Archaebakteriengene. Es hat sich herausgestellt, daß man sich eine Vorstellung von möglichen Eigenschaften der Vorfahren heutiger Eukaryotengene machen kann, indem man deren fundamentalste Bestandteile ermittelt. Die auf diese Weise abgeleiteten Stammgene sind einfacher aufgebaut als die heutigen Gene. Strukturell gleichen sie stark den entsprechenden Genen (Homologen) der heutigen Archaebakterien. Aus dieser Ähnlichkeit hat man, ungeachtet ihres Alters, auf eine enge stammesgeschichtliche Verwandtschaft geschlossen. Bisher gibt es allerdings erst wenige derartige Vergleiche, so daß über das Ausmaß dieser scheinbaren Verwandtschaft noch keine Klarheit besteht. Aus diesen Ergebnissen sowie den Arbeiten von Woese und anderen hat man nicht nur auf einen frühen Ursprung des Lebens, sondern auch auf eine frühe Entstehung aller drei Domänen – vor etwa 3,5 Milliarden Jahren – geschlossen. Dem stimmen jedoch nicht alle Molekularbiologen zu. Anfang des Jahres 1996 veröffentlichte Russell Doolittle von der University of California in San Diego Forschungsergebnisse, die die mittlerweile anerkannte Lehrmeinung in Frage stellten. Doolittle hatte Proteinsequenzen anstelle der häufiger verwendeten DNA-Sequenzen als molekulare Uhr verwendet – nicht zuletzt weil er auf zahlreiche solcher Sequenzen aus 15 Organismengruppen, von Bakterien bis hin zu Pavianen, zurückgreifen konnte. Ausgehend von der Annahme, daß sich Veränderungen in den 57 von ihm untersuchten Proteinen mit relativ konstanter Geschwindigkeit angesammelt hatten, kam er zu dem Schluß, daß das Leben zwar vor etwa 3,5 Milliarden Jahren entstand, daß sich aber die Domänen Eubakterien, Archaebakterien und Eukaryoten erst vor wenig mehr als zwei Milliarden Jahren ausbildeten. Dieses Szenario wirft unter anderem die Frage auf, welche Art von Organismen vor der Entstehung der drei bekannten Domänen lebte. Doolittles Schlußfolgerungen weichen so stark von denen ab, die durch Analyse von DNA-Sequenzen gewonnen wurden, daß sie massive Kritik 63
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ausgelöst haben. Manche Kritiker weisen auf fossile Zeugnisse hin, auf Mikrofossilien in 3,5 Milliarden Jahre altem Gestein, die heutigen Bakterien gleichen – Doolittle zufolge entstanden solche Organismen erst vor zwei Milliarden Jahren. Andere erheben Einwände gegen Doolittles Annahme einer konstanten Veränderungsrate der Proteinstruktur, obwohl Doolittle ein schlagkräftiges Argument dafür anführt. Ein Ende der Meinungsverschiedenheiten ist nicht in Sicht. Dieses Beispiel zeigt, daß die Molekularphylogenetik, so effektiv sie auch sein mag, nicht unkompliziert ist.
Genome außerhalb des Zellkerns Der größte Teil des genetischen Materials der Eukaryoten ist zwar im Zellkern (Nucleus) lokalisiert und geht auf einen archaebakteriellen Vorfahren zurück, aber es gibt in Eukaryotenzellen noch zwei weitere Genome, nämlich in Mitochondrien und Chloroplasten. Die Mitochondrien beherbergen den Stoffwechselapparat, der Nährstoffe, etwa Kohlenhydrate, abbaut und so Energie freisetzt, welche die Zelle für die Synthese der verschiedensten Verbindungen nutzt, darunter andere Kohlenhydrate, Proteine, Fette und Nucleinsäuren. Die Stoffwechselprozesse, die Energie freisetzen und nutzbar machen, verbrauchen Sauerstoff und produzieren als Nebenprodukt Kohlendioxid. Mitochondrien, oft als Kraftwerke der Zelle bezeichnet, findet man in allen Eukaryotenzellen mit Ausnahme der primitivsten. Chloroplasten fangen in dem als Photosynthese bezeichneten Prozeß Sonnenenergie ein und produzieren energiereiche Verbindungen, die ebenfalls zum Aufbau komplexer Makromoleküle verwendet werden. Bei der Photosynthese werden Wasser und Kohlendioxid verbraucht und Sauerstoff als Nebenprodukt freigesetzt. Beide Organellen enthalten Genome, welche die Synthese von Proteinen steuern, aber der Aufbau und die Stoffwechselaktivität von Chloroplasten und stärker noch von Mitochondrien unterliegt zu einem großen Teil der Steuerung durch Gene des Zellkerns. Der Ursprung dieser Organellen in Eukaryotenzellen ist seit ihrer Entdeckung vor mehr als einem Jahrhundert stets Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. Dabei gab es zwei populäre Haupttheorien. Der ersten Theorie (Theorie vom internen Ursprung) zufolge entstanden die Genome von Mitochondrien und Chloroplasten durch Abspaltung von Kerngenen, die dann in einer Organelle eingeschlossen wurden. Nach Maßgabe der zweiten Theorie (Theorie vom externen Ursprung) stammen die beiden Organellen von Bakterien ab, die von der Stammzelle der Eukaryoten aufgenommen wurden. 64
3. STAMMBÄUME
3.8 Der Theorie vom externen Ursprung oder Endosymbiontenhypolhese zufolge stammen Chloroplasten und Mitochondrien von freilebenden Prokaryoten ab, die vor langer Zeit von der Ur-Eukaryotenzelle aufgenommen wurden. Dabei gelten Cyanobakterien als Vorläufer der Chloroplasten, Purpurbakterien als Stammformen der Mitochondrien. Molekularbiologische Daten liefern schlagkräftige Belege für die Endosymbiontenhypothese, allerdings ist sowohl für Chloroplasten als auch für Mitochondrien noch ungeklärt, ob sie durch ein einmaliges Ereignis entstanden sind oder mehrere Ursprünge haben.
Beide Organellen gleichen in ihrem Aufbau Bakterien, was als Beleg für die Theorie vom externen Ursprung oder Endosymbiontentheorie angeführt wird. Ihre Genome sind jedoch mit höchstens einem Zehntel des Umfangs deutlich kleiner als die von Bakterien, was die Theorie vom internen Ursprung stützt. Es erwies sich als unmöglich, diesen Punkt anhand morphologischer Merkmale eindeutig zu klären. Auch hier eröffneten erst molekularbiologische Daten, vor allem über ribosomale RNA, die Möglichkeit zur Aufklärung eines lange zurückliegenden stammesgeschichtlichen Ereignisses. Die Abstammung der Chloroplasten von Bakterien (nämlich von photosynthetisch aktiven Cyanobakterien) wurde vor mehr als einem Jahrzehnt durch den Vergleich von ribosomaler RNA nachgewiesen. Ungeklärt blieb jedoch die Frage, ob Chloroplasten die Abkömmlinge einer einzigen gemeinsamen Stammzelle sind, oder ob sie mehrere Vorfahren haben. Mit anderen Worten: Kam es nur ein einziges Mal zu der endosymbiontischen Vereinigung, durch welche die Chloroplasten entstanden sind? Oder gab es mehrere solche Ereignisse? Da es mehrere Chloroplastentypen gibt, die sich meist hinsichtlich ihrer Pigmente unterscheiden, ist die mehrmalige Entstehung von Symbiosen wahrscheinlich. Es ist jedoch unbekannt, ob diese wiederholten Ereignisse innerhalb gemeinsamer Abkömmlinge der ursprünglichen Bakterienlinie stattfanden oder unabhängig voneinander in verschiedenen Bakterienlinien. Der Ursprung der Mitochondrien erwies sich als sehr viel schwerer aufzuklären, vor allem weil diese Organellen in molekularbiologischer Hinsicht recht variabel sind; das betrifft etwa die Ribosomenstruktur, die Organisation des Genoms und den Aufbau des Proteinsyntheseapparats. Die Molekularbiologie der Mitochondrien unterscheidet sich in vielen Einzelheiten von derjenigen der Eukaryoten, Eubakterien und Archaebakterien. Auf65
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grund dessen war ein einfacher molekularbiologischer Vergleich mit heutigen Bakterien nicht möglich: Mitunter ließen sich Übereinstimmungen feststellen, oft bestanden jedoch auch viele Unterschiede. Dennoch zeigte ein Vergleich der DNA-Sequenzen von rRNA-Genen schließlich, daß die Mitochondrien von Purpurbakterien abstammen. Auch hier ist die Frage, ob diese Organellen durch ein einmaliges Ereignis entstanden sind oder mehrere Ursprünge haben, noch ungelöst. Die geringe Größe der Genome von Mitochondrien und Chloroplasten sowie die in bezug auf viele wichtige Funktionen bestehende Abhängigkeit dieser Organellen von Kerngenen deutet darauf hin, daß die ehemaligen Bakterien nach Aufnahme durch die Ur-Eukaryotenzelle viele ihrer Gene verloren oder an den Zellkern übertragen haben. Das bedeutet, daß wir und alle anderen Eukaryoten nicht nur Abkömmlinge von Bakterien in unseren Zellen beherbergen, sondern daß auch unsere Zellkerne, deren Ursprung Milliarden Jahre zurückliegt, Bakteriengene enthalten. Diese Erkenntnisse über die heutige Organismenwelt in ihrer Gesamtheit und großen Mannigfaltigkeit sind nur durch molekularbiologische Techniken möglich geworden.
Viele Zellen, viele Fragen Die auffälligsten Organismen in unserem täglichen Leben – Tiere, Pflanzen und Pilze – sind mehrzellige Eukaryoten. (Zur Domäne Eukarya gehören außerdem die sogenannten Protisten oder Protoctisten: ein phylogenetisch breites Spektrum an Einzellern und mehrzelligen Algen.) Die Mehrzeller werden in über 30 Stämme (beziehungsweise bei Pflanzen und Pilzen Abteilungen) eingeteilt – Gruppen von Organismen mit gemeinsamem Bauplan. Der Stamm Chordata beispielsweise, der zu den Metazoa oder mehrzelligen Tieren gehört, umfaßt alle Lebewesen – darunter auch uns selbst – mit einem Rückenmark und einem als Chorda dorsalis bezeichneten Knorpelstab, der den Körper stützt (und bei den Wirbeltieren während der Embryonalentwicklung durch die Wirbelsäule ersetzt wird). Über die Einteilung der Metazoen in die verschiedenen Stämme besteht weitgehende Übereinstimmung, während die phylogenetische Verwandtschaft der Stämme untereinander noch sehr umstritten ist. Simon Conway Morris, ein an der Cambridge University tätiger Paläontologe, formulierte es kürzlich folgendermaßen: »Die Ansichten über die Phylogenese der Metazoen sind Legion und widersprechen einander oft.« Die Gründe für dieses Durcheinander sind leicht zu verstehen. Die verschiedenen Stämme haben sehr unterschiedliche Baupläne; tatsächlich basiert die Einteilung in Stämme auf diesen Unterschieden. Aufgrund dessen 66
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gibt es nur wenige Merkmale, anhand derer man auf die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Stämmen schließen könnte. Selbst bei Stämmen mit gemeinsamen Merkmalen bleiben Probleme bestehen: Deuten die Übereinstimmungen auf einen gemeinsamen Vorfahren hin? Oder sind sie das Ergebnis natürlicher Auslese, durch die sich in ähnlicher Umgebung ähnliche Formen herausbilden, auch wenn keine enge stammesgeschichtliche Verwandtschaft besteht? Es ist das alte Problem „Homologie kontra konvergente Evolution“, das hier jedoch durch die enorm lange Zeitspanne, die seither verstrichen ist, noch verschärft wird. Die Fährte ist, wie Colin Patterson schon sagte, kalt, vor allem in diesem Fall. Überdies erschwert die Unkenntnis über die Richtung, welche die Evolution vor so langer Zeit nahm, die Entscheidung, ob ein gemeinsames Merkmal abgeleitet oder ursprünglich ist. Diese Unterscheidung ist aber notwendig, um Schlußfolgerungen über Evolutionsabläufe ziehen zu können.
3.9 Dieser Stammbaum der Eukaryoten wurde durch Sequenzvergleiche der kleinen Untereinheit der ribosomalen RNA mit Hilfe von Methoden zur Ermittlung genetischer Distanzen rekonstruiert. (Die Länge des unten rechts dargestellten Balkens entspricht zehn Veränderungen pro 100 Nucleotidpositionen.) Die Buchstaben bezeichnen wichtige Evolutionsereignisse. A ist die Radiation der Coelomatenstämme vor etwa 530 Millionen Jahren; B die Radiation der Eukaryoten, die möglicherweise schon zwei Milliarden Jahre zurückliegt; C der vielleicht schon drei Milliarden Jahre zurückliegende Erwerb von Mitochondrien. D, die Wurzel des Stammbaumes, ist die Diversifikation der drei Domänen vor mehr als 3,5 Milliarden Jahren.
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Conway Morris klagte über diese beachtlichen Probleme, unter denen sein Berufsstand seit über 100 Jahren litt, fuhr jedoch fort: »Nun hat sich das Bild für immer gewandelt. Die wahre Form des Metazoenstammbaumes scheint sich abzuzeichnen«. Er schreibt den Wandel dem Einfluß der Molekularphylogenetik zu – vor allem, aber nicht ausschließlich, den Erkenntnissen, die der Vergleich von rRNA-Sequenzen erbracht hat. Um kein allzu optimistisches Bild zu zeichnen, sei gesagt, daß mehr Rätsel bleiben, als bisher gelöst wurden. Schlußfolgerungen aus molekularbiologischen Daten widersprechen einander oft; überdies bleibt das Problem, daß einige wichtige Radiationsereignisse explosionsartig innerhalb extrem kurzer Zeit und in ferner Vergangenheit abliefen und es daher vielleicht niemals möglich sein wird, sie mittels molekularbiologischer Methoden nachzuvollziehen. Wie Conway Morris beobachtete, ist es, so ermutigend die jüngsten Fortschritte der Molekularphylogenetik auch sein mögen, noch nicht an der Zeit, einfach »die Autoren zahlloser Schemata, die während der letzten 100 Jahre aufgestellt und wieder verworfen wurden, zu bemitleiden und sich unverzüglich interessanteren Problemen zuzuwenden«. Als eine der drei großen Abstammungslinien der Lebewesen haben die Eukarya eine weit zurückreichende Evolutionsgeschichte. Die untersten Zweige des Eukaryotenstammbaumes bestehen aus einfachen Mikroorganismen, die keine Mitochondrien besitzen und nur in sauerstofffreier Umgebung vorkommen. Die meisten dieser Organismen leben in den Eingeweiden etwa von Schaben oder Termiten. Die mittleren Zweige des Stammbaumes besetzen die Protisten, von denen viele Mitochondrien, aber keine Chloroplasten besitzen. Unter den Protisten ist auch der Vorfahre der stammesgeschichtlich jüngeren Mehrzeller zu suchen. Durch einen explosionsartigen Evolutionsschub innerhalb dieser einfachen Organismengruppe entstanden die wichtigsten Linien – Tiere, Pflanzen und Pilze –, welche die Krone des Eukaryotenstammbaumes bilden. Durch eine weitere schnelle Radiation innerhalb der Linie der Tiere oder Metazoen bildeten sich vor etwa 530 Millionen Jahren innerhalb kurzer Zeit sämtliche Stämme, denen die heutigen Tiere angehören, sowie einige weitere, die in der Folgezeit ausstarben. In bezug auf den Stammbaum der Eukarya und speziell der Metazoa gibt es viele Rätsel, die sich mit traditionellen Methoden nicht lösen ließen – und zu deren Verständnis die Molekularphylogenetik beigetragen hat. Eine grundlegende Frage ist beispielsweise, ob es sich bei den Metazoa um eine monophyletische Gruppe handelt (der sämtliche Abkömmlinge einer einzigen Stammform angehören). In welcher Beziehung stehen die Metazoa zu den anderen großen Mehrzellergruppen, nämlich Pflanzen und Pilzen? Wie hat sich der Metazoenbauplan im Laufe der Evolutionsgeschichte entfaltet – wie entstand beispielsweise die Leibeshöhle, in der Verdauungsund Fortpflanzungsorgane aufgehängt sind? Welchen systematischen Sta68
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3.10 Monophyletische Gruppen umfassen jeweils alle Folgearten eines gemeinsamen Vorfahren sowie die Stammart selbst. Paraphyletische Gruppen enthalten jeweils nur einen Teil der Folgearten einer Stammart. Eine solche Gruppe kann beispielsweise als passende Wiedergabe der realen Verhältnisse angesehen werden, wenn einige Folgearten sich im Laufe der Evolution so weit von der Stammart entfernt haben, daß man sie gesondert behandelt. Polyphyletische Gruppen umfassen Arten, die auf eine ähnliche Anpassung konvergiert sind. Die beiden letzteren Typen geben die Anpassungen im Organismenreich wieder, nicht aber die Phylogenese. Für manche Phylogenetiker, etwa die Kladisten, sind monophyletische Gruppen die einzigen natürlichen Gruppen, weil sie die Stammesgeschichte abbilden.
tus haben zum Beispiel die Arthropoden? Zu diesem artenreichsten Tierstamm – den Gliedertieren – gehören Insekten, Krebstiere und Spinnen. Ist er monophyletisch, paraphyletisch (das heißt, enthält er nur einen Teil der Abkömmlinge eines einzigen Vorfahren) oder polyphyletisch (gehören ihm Abkömmlinge von mehr als einem Vorfahren an)? Der folgende Abschnitt behandelt einige dieser Fragen zur Geschichte der Mehrzeller, meidet dabei aber den Sumpf der nomenklatorischen Einzelheiten, in dem man so leicht versinkt. Die Ergebnisse einer frühen Analyse von 18S-rRNA-Daten im Hinblick auf den Ursprung der Metazoa deuteten darauf hin, daß dieser Gruppe Abkömmlinge von mehr als einem Vorfahren angehören. (Die 1 SS-Untereinheit der Eukaryotenribosomen entspricht der 16S-Untereinheit bei Bacteria und Archaea.) Rudolf Raff und viele Mitarbeiter analysierten rRNASequenzen aus insgesamt über 1000 Nucleotiden, und zwar von 22 Arten aus zehn Tierstämmen. Sie kamen zu dem Schluß, daß die Metazoa aus zwei gesonderten Gruppen bestehen, den radiärsymmetrischen Coelenteraten (darunter Seeanemonen, Korallen und Quallen) und den spiegelsymmetrisch aufgebauten Bilateria. Jede dieser Gruppen leitet sich demnach von einem eigenen Protistenvorfahren ab. Spätere phylogenetische Analysen derselben Daten führten jedoch zu einem anderen Ergebnis: Die 69
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3.11 Die Ergebnisse erster Versuche, den Metazoenstammbaum mittels molekularbiologischer Methoden zu rekonstruieren, deuteten darauf hin, daß die Metazoen eine polyphyletische Gruppe seien, nämlich daß die Coelenteraten (zu denen unter anderem Seeanemonen, Korallen und Quallen gehören) von einem anderen protistischen Vorfahren abstammten als die Bilateria (Tiere mit bilateralsymmetrischem Körperbau). Spätere Untersuchungen zeigten jedoch, daß die Metazoen eine monophyletische Gruppe sind, mit einer Stammesgeschichte wie hier dargestellt.
gesamte Gruppe Metazoa stammt demnach von einem gemeinsamen Vorfahren ab, und die Coelenteraten trennten sich schon früh von den übrigen Angehörigen der Gruppe. Als nächste spalteten sich die Plattwürmer ab, und es blieben die Coelomata – Tiere mit einer echten Leibeshöhle – als weitere Gruppe mit einem gemeinsamen Vorfahren. Durch Radiation der Coelomaten entstanden vier Gruppen: Arthropoden, eucoelomate Protostomier (Anneliden, Brachiopoden und Mollusken), Chordaten (zu denen die Wirbeltiere gehören) und Echinodermen (Seeigel, Seesterne und andere). Dieses Schema scheint nun gesichert zu sein, da mehrere phylogenetische Analysen durch verschiedene molekularbiologisch arbeitende Forschungsgruppen zum gleichen Ergebnis kamen. Damit wurde eine Sichtweise der Metazoenevolution bestätigt, die Haeckel schon vor über 100 Jahren formuliert hat. In diesem Fall waren die auf morphologischen Befunden basierenden Schlußfolgerungen korrekt.
Die Verwandtschaftsbeziehungen der Metazoen Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Hauptgruppen der Mehrzeller – Tieren oder Metazoen, Pflanzen und Pilzen – bleiben für die traditionelle Phylogenetik ein Rätsel, obwohl in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren eine beträchtliche Datenmenge analysiert wurde. Weniger 70
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als fünf Substitutionen auf je 1000 Nucleotide der ribosomalen RNA trennen diese die Krone des Mehrzellerstammbaumes bildenden Gruppen voneinander, was die Aufklärung ihrer Verwandtschaftsbeziehungen extrem schwierig macht. Verschiedene Forschergruppen haben rRNA-Sequenzen und Proteingensequenzen (darunter Gene für RNA-Polymerase II) untersucht und sind dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Drei dieser Untersuchungen zufolge spalteten sich die Pflanzen zuerst ab, demnach hätten Tiere und Pilze vor ihrer späteren Trennung einen gemeinsamen Vorfahren gehabt. Zwei Untersuchungen kamen zu einem anderen Ergebnis, nämlich daß sich zunächst die Pilze abspalteten, womit Pflanzen und Tiere einen gemeinsamen Vorfahren besäßen. Für jedes der beiden Resultate sprachen sowohl Daten über ribosomale RNA als auch Daten über proteincodierende Gene. Wie sind diese widersprüchlichen Ergebnisse zu deuten? Die Untersuchung, in der Daten über RNA-Polymerase II verwendet wurden, sollte aus zwei Gründen vielleicht stärker gewichtet werden. Erstens haben sich in der 4000 Basenpaare langen Sequenz des untersuchten Polymerasegens im Laufe der Evolution viermal so viele Substitutionen angehäuft wie in der Sequenz der 18S-rRNA, woraus sich eine größere Menge an phylogenetisch aufschlußreichen Daten ergab. Zweitens hat sich das Gen für RNA-Polymerase II vor der Aufspaltung in Tiere, Pflanzen und Pilze dupliziert, wodurch paraloge Gene entstanden sind, die es, wie bereits beschrieben, ermöglichen, die Form des Stammbaumes zu ermitteln. Ein potentielles Problem bei dieser Methode besteht darin, daß die Evolution von Genfamilien manchmal übereinstimmend verläuft, wodurch das Evolutionsmuster verschleiert wird. Eine übereinstimmende Evolution tritt jedoch vor allem dann auf, wenn die verschiedenen Mitglieder der Familie dieselbe Funktion haben. Da die RNA-Polymerase-Gene verschiedene Funktionen erfüllen, ist eine gleichgerichtete Evolution bei ihnen unwahrscheinlicher als bei anderen paralogen Genen, die zur Untersuchung der Verwandtschaft zwischen Tieren, Pflanzen und Pilzen herangezogen wurden. Die RNA-Polymerase-Daten weisen auf eine nähere stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Tieren und Pflanzen hin, also darauf, daß die Pilze sich als erste Gruppe abgespalten haben. Solange zu diesem Thema nicht mehr Untersuchungen vorliegen, muß es jedoch als ungeklärt gelten. Die molekularbiologischen Daten stützen die Annahme einer explosionsartigen Radiation der Tierstämme vor 530 Millionen Jahren – Paläontologen sprechen von der „Kambrischen Explosion“ – anstelle einer langsamen, über einen längeren Zeitraum anhaltenden Diversifikation im Präkambrium, die in den fossilen Zeugnissen unsichtbar bleibt. Bei dieser plötzlichen Radiation entstanden auch zahlreiche triploblastische Stämme, das heißt Metazoen mit drei embryonalen Zellschichten, nämlich Ento-
3.12 Alle höheren Tiere entwickeln in ihrem Körper einen als Coelom bezeichneten Hohlraum, der die inneren Organe birgt. Der Körper geht aus drei Zellschichten hervor – Entoderm, Mesoderm und Ektoderm –, die hier an einem schematischen Embryo dargestellt sind. Bei der Bildung des Coeloms wird die Leibeshöhle vollständig von Mesoderm ausgekleidet.
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derm, Mesoderm und Ektoderm. Das Coelom (die Leibeshöhle) war entstanden und ermöglichte den Tieren, größer und muskulöser zu werden, so daß sie neue ökologische Nischen besetzen konnten. Der artenreichste Tierstamm unter den Coelomata sind die Arthropoden. Ihm gehören drei rezente Hauptgruppen an: Atelocerata (Insekten, Tausendfüßer und Hundertfüßer), Crustacea (Garnelen, Krebse, Krabben und Rankenfüßer) und Chelicerata (Pfeilschwanzkrebse und Spinnentiere). Der systematische Status der Arthropoden war lange umstritten. Aus den morphologischen und embryologischen Daten schlossen manche Phylogenetiker, die Arthropoden repräsentierten einen Teil der Abkömmlinge eines einzigen Vorfahren, die meisten kamen jedoch zu dem Schluß, die Gruppe umfasse sämtliche Folgearten eines gemeinsamen Vorfahren. Für die molekularbiologischen Daten, vor allem über rRNA-Sequenzen, gab es anfangs sogar ein noch breiteres Spektrum an Interpretationen, darunter auch die Möglichkeit, daß die Gruppe Abkömmlinge von mehr als einem Vorfahren umfaßt. Diese Meinungsverschiedenheiten beruhten auf Schwierigkeiten bei der vergleichenden Gegenüberstellung von Sequenzen, auf Problemen, die sich aus der schnellen Evolution mancher Gruppen ergaben, sowie auf der Verschleierung der aus der DNA-Sequenz ablesbaren Information infolge mehrfacher Substitution an einzelnen Positionen. Durch die Ausnutzung einer anderen Art von Information scheint die Frage jedoch inzwischen geklärt worden zu sein. Wesley Brown und seine Arbeitsgruppe an der University of Michigan in Ann Arbor untersuchten keine Gensequenzen, sondern die Reihenfolge der Gene in einem Genom, und zwar im Mitochondriengenom. Die meisten Metazoenmitochondrien besitzen 36 oder 37 Gene. Darunter sind zwei Gene für ribosomale RNA, 22 für Transfer-RNA – Moleküle, die an der Translation genetischer Information in Proteinsequenzen mitwirken – und zwölf oder 13 für Proteine, die am Energiestoffwechsel beteiligt sind. Die Reihenfolge dieser Gene auf dem ringförmigen Mitochondriengenom ist von Gruppe zu Gruppe verschieden. Da es für 36 oder 37 Gene eine sehr große Anzahl möglicher Reihenfolgen gibt, ist die gleiche oder eine ähnliche Reihenfolge bei verschiedenen Gruppen wahrscheinlich nicht zufallsbedingt, sondern auf gemeinsame Abstammung zurückzuführen. Vergleiche der Genfolge innerhalb der Arthropoden (mit Mollusken, Anneliden und Nematoden als Außengruppen) deuten stark auf die Abstammung von einer einzigen Art hin, wobei die engste Verwandtschaft zwischen Ateloceraten (Insekten und ihren Verwandten) und Crustaceen besteht. Der Vergleich der Reihenfolge der Mitochondriengene scheint eine effektive Methode für die Aufklärung alter stammesgeschichtlicher Verwandtschaftsbeziehungen zu sein.
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3. STAMMBÄUME
3.13 Der Quastenflosser Latimeria chalumnae gehört einer alten Abstammungslinie an; die Ordnung Quastenflosser (Crossopterygii) galt bis 1938, als das erste Exemplar entdeckt wurde, als ausgestorben. Latimeria wird mitunter als lebendes Fossil bezeichnet.
Wirbeltiervariationen Eine wichtige wie auch umstrittene Frage ist die nach dem 400 Millionen Jahre zurückliegenden Ursprung der Tetrapoden (Landwirbeltiere) und ihren phylogenetischen Verwandtschaftsbeziehungen. Sowohl Fleischflosser (darunter die rezenten Lungenfische) als auch Strahlenflosser wurden verschiedentlich als die nächsten Verwandten der Tetrapoden angesehen, wobei die Lungenfische als Favoriten galten. Die unerwartete Entdeckung des Quastenflossers Latimeria chalumnae im Jahre 1938 ließ die Hoffnung aufkeimen, dieser Fisch – der zusammen mit den Lungenfischen zu den Fleischflossern gehört und von dem man geglaubt hatte, seine Ordnung sei vor 80 Millionen Jahren ausgestorben – werde sich aufgrund seiner Anatomie als Bindeglied zwischen den Tetrapoden und ihrem Vorfahren einordnen lassen. Die Untersuchung dieses „lebenden Fossils“ mit Methoden der vergleichenden Morphologie konnte die Frage, ob Quastenflosser oder Lungenfische die Schwestergruppe der heutigen Tetrapoden sind, jedoch nicht klären. Fünfzig Jahre nach der Entdeckung des ersten Quastenflossers (seither wurden viele weitere gefangen) bot die Molekularphylogenetik eine neue Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen. Man analysierte eine bemerkenswerte Vielfalt an molekularbiologischen Daten, unter anderem über Mitochondriengene, nukleare ribosomale RNA 73
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sowie über Strukturgene des Zellkerns, etwa die Gene für Prolactin und Wachstumshormon sowie Gene des Immunsystems. Die vielversprechendsten Ergebnisse lieferte überraschenderweise die Mitochondrien-DNA, insbesondere die einer langsamen Evolution unterworfenen Sequenzen des 12S-rRNA-Gens und des Cytochrom-b-Gens. Aufgrund dieser Untersuchungen wurde eine Reihe von Stammbäumen rekonstruiert, die sich zum Teil deutlich unterschieden. Die Mitochondrien-DNA läßt auf eine engere Verwandtschaft zwischen Tetrapoden und Lungenfischen schließen, mit den Quastenflossern als Schwestergruppe und den Strahlenflossern als entfernterer Verwandtschaft; allerdings sind die Belege dafür nicht allzu schlagkräftig. Auch hier sind der Molekularphylogenetik durch die Tatsache Grenzen gesetzt, daß die fraglichen Evolutionsereignisse innerhalb von nur 20 Millionen Jahren stattfanden und etwa 400 Millionen Jahre zurückliegen. Zu den am intensivsten untersuchten Tetrapodengruppen gehören die Säugetiere – nicht zuletzt, weil diejenigen, die solche Untersuchungen durchführen, selbst Säuger sind. Die 3000 rezenten Arten verteilen sich auf drei Gruppen: Monotremata (eierlegende Säugetiere), Marsupialia (Beuteltiere) und Plazentalia (Plazentatiere). Allein die Rekonstruktion der Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der letzten Gruppe wurde vor kurzem von Dan Graur von der Universität Tel Aviv als »gewaltige Aufgabe für die Phylogenetik« bezeichnet. Für die mindestens 15 Ordnungen der plazentalen Säuger gibt es etwa 1012 theoretisch mögliche Stammbäume, von denen nur einer die historische Realität wiedergibt. Wie (um die Frage möglichst grundsätzlich zu formulieren) sehen die stammesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Carnivoren, Nagern, Primaten, Insektenfressern und so weiter aus? Viele der berühmtesten Systematiker haben sich im Laufe der letzten 150 Jahre mit dieser Frage auseinandergesetzt und dabei Schemata erstellt, die einander größtenteils widersprechen. Die Tatsache, daß alle die gleichen morphologischen Daten verwendeten, zeigt, wie schwierig diese Aufgabe war – und noch ist. Auch hier ist das kleine Zeitfenster, in dem die Radiation der Plazentalier stattfand (nach traditioneller Auffassung 65 bis 50 Millionen Jahre vor der Gegenwart) ein zentrales Problem. Eine gemeinsame Eigenschaft der vielen rekonstruierten Stammbäume war eine starke „Buschigkeit“ infolge der gleichzeitigen Abspaltung mehrerer Ordnungen. In einem jüngeren Beispiel gibt es eine fünffache Verzweigung, aus der 16 der 18 untersuchten Ordnungen hervorgehen. Möglicherweise spiegelt die buschige Form die stammesgeschichtliche Realität wider, doch erscheint dies unwahrscheinlich, da die gleichzeitige Abspaltung mehrer Zweige in der Evolution selten ist. Eine alternative – und wahrscheinlichere – Erklärung wäre, daß die analysierten Daten nicht hinreichen, um das tatsächliche Verzweigungsmuster zu rekonstruieren. 74
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3.14 Die Aufklärung der phylogenetischen Beziehungen zwischen den Säugetierordnungen ist eine der größten Herausforderungen der Molekularbiologie, da diese Ordnungen vermutlich vor langer Zeit innerhalb eines kurzen Zeitraumes entstanden sind. Der auf morphologischen Daten basierende Stammbaum (links) unterteilt die Ordnungen in zwei Gruppen: Die eine besteht aus Edentata und Pholidota, die andere aus allen übrigen Ordnungen. Die Molekularphylogenetik schlägt sich nur wenig besser, vor allem insofern, als der von ihr konstruierte Stammbaum sich an einer Stelle in sechs Zweige, darunter die Primaten, aufspaltet. Solche multiplen Verzweigungen spiegeln vermutlich nicht die stammesgeschichtliche Realität wider, sondern die Unfähigkeit des verwendeten Verfahrens, genaueren Aufschluß über das Verzweigungsmuster zu geben.
Nach zwei Jahrzehnten der Molekularphylogenetik ist »die Phylogenese der höheren Säugetiere immer noch ungeklärt«, wie Michael Novacek vom American Museum of Natural History es kürzlich formulierte. Das heißt aber nicht, daß man keine neuen Erkenntnisse gewonnen hätte. Beispielsweise bestätigte sich die Annahme, daß jede der drei großen Säugergruppen von einem einzigen Vorfahren abstammt. Außerdem stimmen molekularbiologische und morphologische Phylogenetik darin überein, daß die Edentata der Neuen Welt (Faultiere, Gürteltiere und Ameisenbären) ein früher, möglicherweise der früheste Zweig des Plazentalierstammbaumes sind. In bezug auf die Nagetiere, einen weiteren frühen Zweig, kommen die beiden Richtungen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen. Diese Kontroverse verschärfte sich Mitte des Jahres 1996, als die kompletten Sequenzen der Mitochondriengenome von Ratten, Mäusen und Meerschweinchen veröffentlicht wurden. Aufgrund morphologischer Befunde galt diese Gruppe als monophyletisch, seit einigen Jahren häufen sich jedoch die molekularbiologischen Belege dafür, daß sie in Wirklichkeit polyphyletisch ist, daß nämlich das (zu den Hystricormorphen gehörende) Meerschweinchen einen anderen Vorfahren hat und einer anderen Gruppe 75
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angehört als Ratten und Mäuse (Myomorphe). Die von italienischen und schwedischen Wissenschaftlern erhobenen neuen Daten über Mitochondrien-DNA unterstützen diese (für Morphologen) ketzerische Behauptung stark. In traditionellen Stammbäumen wurden außerdem Rodentia (Nagetiere) und Lagomorpha (Hasenartige) oft als nahe verwandt (in die Kohorte Glires) eingestuft – eine Einschätzung, die von den molekularbiologischen Daten massiv in Frage gestellt wird.
3.15 Der Indische Riesenflughund (Pteropus giganteus). Flughunde bilden gemeinsam mit den Fledermäusen die Ordnung Chiroptera (Fledertiere). Vor einiger Zeit wurde die Hypothese aufgestellt, Flughunde seien in Wirklichkeit näher mit den Primaten verwandt als mit den Fledermäusen, da die Anatomie ihres visuellen Systems derjenigen der Primaten ähnelt. Molekularbiologische Daten deuten jedoch stark darauf hin, daß diese Hypothese falsch ist.
Ein gleichfalls auf der Ebene der Ordnung angesiedeltes Rätsel, das in jüngster Zeit von molekularbiologischen Daten erhellt wurde, betrifft die Chiroptera (Fiedertiere), zu denen Fledermäuse und Flughunde gehören. Die meisten Morphologen waren der Ansicht, diese Ordnung stamme von einem einzigen Vorfahren ab, doch Mitte der achtziger Jahre äußerte John Pettigrew, ein australischer Anatom von der University of Queensland, die Vermutung, Flughunde seien nahe mit den Primaten verwandt und teilten sich mit diesen einen gemeinsamen Vorfahren, während die Evolution der Fledermäuse getrennt von ihnen erfolgt sei. Der ähnliche Flügelbau der beiden Fledertiergruppen ist seiner Ansicht nach das Ergebnis konvergenter Evolution. Die Vermutung einer Verwandtschaft zwischen Flughunden und Primaten gründete sich auf Ähnlichkeiten im visuellen System. Wie Pettigrew entdeckte, haben bestimmte Teile des visuellen Systems der Flughunde eine neuronale Struktur, von der man bis dahin geglaubt hatte, sie sei nur bei Primaten anzutreffen. Eine konvergente Evolution des visuellen Systems sei, so Pettigrew, aufgrund der Komplexität der betroffenen Strukturen wesentlich unwahrscheinlicher als die Konvergenz der Flügelform. Pettigrew fügte noch ein weiteres Argument gegen eine konvergente Evolution des Sehsystems an. Neue Gehirnstrukturen entstehen in der Regel durch die Modifikation existierender Strukturen. Infolgedessen besitzen neue Strukturen Merkmale der Stammform, selbst wenn diese nicht optimal sind. Der französische Molekularbiologe Francois Jacob formulierte es einmal so: »Die Arbeitsweise der Evolution gleicht eher der eines Kesselflickers als der eines Ingenieurs.« Pettigrew argumentierte, das visuelle System von Flughunden und Primaten scheine auf ähnlichen Vorläuferstrukturen aufgebaut zu sein, deshalb spiegele die Ähnlichkeit gemeinsame Abstammung wider und sei nicht das oberflächliche Ergebnis konvergenter Evolution. Morris Goodman und seine Arbeitsgruppe an der Wayne State University scheinen diese Frage geklärt zu haben. Sie untersuchten einen l 200 Nucleotide langen Abschnitt des Epsilon-Globin-Gens von 17 Arten. Die Analyse der Daten nach dem Parsimonieprinzip wies stark auf eine Verbindung zwischen den beiden Fledertiergruppen hin, während die Primaten außen vor blieben. Flughunde und Fledermäuse stimmen in 39 abgeleiteten Nucleotidsequenzveränderungen überein, Flughunde und Primaten nur in drei. Es hat daher den Anschein, als sei die ähnliche Anatomie des
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visuellen Systems von Flughunden und Primaten tatsächlich das Ergebnis konvergenter Evolution, so unwahrscheinlich das auch scheinen mag. In bezug auf die Phylogenese der Säuger gibt es sicherlich mehr offene als geklärte Fragen. »Der Säugetierforschung stehen einige große Überraschungen hinsichtlich der höheren Klassifikation der Säuger bevor«, bemerkte Graur kürzlich. Graurs Kommentar hätte nicht treffender sein können, denn gerade als dieses Buch in Druck ging, ergab eine molekularbiologische Analyse ein Bild von der Evolution der Säuger, das traditionelle Vorstellungen massiv in Frage stellt. Wie bereits erwähnt, koexistierten die Säuger 100 Millionen Jahre lang mit den Dinosauriern, machten aber keine evolutionäre Diversifikation durch, bevor die „schrecklichen Echsen“ vor 65 Millionen Jahren ausgestorben waren. Für diese Abfolge der Ereignisse gab es eine plausible Erklärung, nämlich daß das Aussterben der Dinosaurier viele bis dahin besetzte ökologische Nischen freimachte, welche die Säuger in einem kurzen Ausbruch evolutionärer Erneuerung füllten. Die im Mai 1996 veröffentlichten molekularbiologischen Forschungsergebnisse stellen diese Erklärung in Frage. Blair Hedges und seine Mitarbeiter von der Pennsylvania State University nutzten die schnell wachsende Datenmenge über Gensequenzen, um die Geschichte der Säuger zu erforschen. Sie untersuchten Sequenzen von 79 Genen in 16 Säugetierordnungen daraufhin, ob ihre Mutationsrate konstant genug ist, um aus ihnen zuverlässig den Zeitpunkt der Aufspaltung der Ordnungen ableiten zu können. Etwa die Hälfte der Gene genügte den Anforderungen, und die in ihnen verschlüsselte Information sorgte für eine Überraschung. Während die fossilen Zeugnisse auf eine Radiation der Säuger im Zeitfenster von 65 bis 50 Millionen Jahre vor heute schließen lassen, ergab die Untersuchung von Hedges und seinen Mitarbeitern für dieses Ereignis einen Zeitpunkt vor 100 Millionen Jahren oder noch früher. Wenn diese Schlußfolgerung korrekt ist – und andere Wissenschaftler werden sie sicherlich sorgfältig überprüfen, bevor sie sie akzeptieren –, hat Hedges eine Erklärung für den Zeitpunkt der Diversifikation anzubieten. Der Motor der Säugerdiversifikation war seiner Meinung nach nicht das plötzliche Verschwinden überlegener Konkurrenten, sondern die Zersplitterung von Populationen infolge der Kontinentaldrift. Die ersten Säuger erschienen vor etwa 200 Millionen Jahren, als die Kontinente der Erde sich zum Superkontinent Pangaea vereinigt hatten. Aufgrund dessen konnten Säugetiere wie Dinosaurier praktisch die gesamte Landmasse besiedeln. Vor 100 Millionen Jahren war Pangaea durch die Bewegung der Lithosphärenplatten, aus denen die Erdkruste sich zusam77
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mensetzt, in viele voneinander isolierte Landmassen zerbrochen – noch mehr, als eine Karte der heutigen Kontinente zeigt. Die Evolution der so auf verschiedenen Inseln isolierten Säugetierpopulationen verlief- im Einklang mit der modernen Evolutionstheorie – in viele verschiedene Richtungen. Während der vergangenen 100 Millionen Jahre haben sich viele der zuvor isolierten Inseln vereinigt; dadurch entstand das heutige Bild der Kontinente, und die zuvor isolierten Arten konnten sich wieder vermischen. Die eben beschriebene geographische Isolation war bereits früher als Motor für die Diversifikation der Dinosaurier im Gespräch. Nach Ansicht von Hedges ist den Säugern das gleiche widerfahren. Er räumt ein, daß mit dem Aussterben der Dinosaurier eine starke Diversifikation der Säuger einsetzte, doch dabei habe es sich lediglich um die Variation von Themen gehandelt, die sehr viel früher entstanden seien, und nicht etwa um den Ursprung dieser Themen. Hedges erklärt das weitgehende Fehlen von Säugetierfossilien, die älter als 65 Millionen Jahre sind, damit, daß die Populationen der Säuger ebenso wie deren Körpergröße klein gewesen seien – Faktoren, die das Auffinden fossiler Zeugnisse erschweren. Hedges’ Arbeit rief unter Säugetierforschern unterschiedliche Reaktionen hervor, wie es meist der Fall ist, wenn traditionelle Ansichten in Frage gestellt werden. Die Zeit wird lehren, ob der Molekularphylogenetik eine wichtige Erkenntnis über eines der interessanteren Evolutionsereignisse der jüngeren Stammesgeschichte zu verdanken ist.
Die Klassifizierung der Singvögel Eines der ehrgeizigsten Projekte der Molekularphylogenetik war die Untersuchung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Vögeln. Alle 9000 heutigen Vogelarten sind Abkömmlinge eines zu den Reptilien gehörenden gemeinsamen Vorfahren, der vor etwa 150 Millionen Jahren lebte. Aufgrund der Beliebtheit der Ornithologie sowohl bei Laien als auch unter Zoologen sind die Vögel vermutlich die am besten erforschte Tiergruppe überhaupt, und ihre Klassifikation spiegelt eine ungeheure Vielfalt wider. Natürlich gab und gibt es auch ungelöste Probleme, wie das Beispiel der Flamingos in Kapitel 2 zeigt. Doch die Ornithologen sind sich – zu Recht – ihres phylogenetischen Gesamtschemas sehr viel sicherer als etwa die Säugetierforscher. Als Charles Sibley und Jon Ahlquist Mitte der achtziger Jahre eine mit Hilfe von DNA-DNA-Hybridisierungsdaten erstellte Version des Vogelstammbaumes veröffentlichten, die einige krasse Fehler der traditionellen Klassifikation aufzeigte, sorgten sie daher für einigen Aufruhr. Manche Kritiker zogen die Verläßlichkeit ihrer Methoden in Zweifel, andere behaupteten, einige der von Sibley und Ahlquist kon78
3. STAMMBÄUME
3.16 Die Vögel gehören zu den am besten erforschten Tiergruppen überhaupt. Schon vor der Besiedelung Australiens durch die Europäer existierte eine weitgehend ausgearbeitete Klassifikation der Singvögel. Als die Ornithologen ihre Arbeit in Australien aufnahmen, stellten sie die einheimischen Vögel in bereits existierende Taxa zu amerikanischen und europäischen Arten, denen sie sehr ähnlich sehen. Der Ver-
gleich molekularbiologischer Daten ergab jedoch kürzlich, daß diese Ähnlichkeit das Ergebnis konvergenter Evolution ist und daß die meisten australischen Singvögel Ureinwohner des Kontinents sind, auf dem ihre Evolution unabhängig von derjenigen der Vögel anderer Kontinente stattfand. Der abgebildete Stammbaum basiert auf DNADNA-Hybridisierungsdaten.
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struierten Zweige des Stammbaumes ließen sich durch ihre Daten nicht belegen, da die abgeleiteten genetischen Distanzen zwischen den Arten in diesen Zweigen zu gering seien. Die meisten der von Sibley und Ahlquist vorgeschlagenen wesentlichen Veränderungen des Vogelstammbaumes blieben jedoch unwidersprochen.
3.17 Die australischen Baumrutscher, die äußerlich den eurasisch-amerikanischen Baumläufern gleichen, sind eine Vogelfamilie, deren Evolution genetischen Daten zufolge in Australien stattfand. Die Ähnlichkeit mit den Baumläufern ist das Ergebnis konvergenter Evolution und nicht naher Verwandtschaft.
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Man betrachte zum Beispiel Australien, das Land der Beuteltiere, in dem die Evolution einige einzigartige Formen (etwa die Känguruhs) hervorgebracht hat, aber auch viele Spezies, die bestimmten Altweltarten verblüffend ähneln (beispielsweise den Beutelwolf und die Kaninchennasenbeutler, kaninchenähnliche Beuteltiere). Trotz der zahlreichen Fälle konvergenter Evolution von Beuteltieren und Plazentatieren bestand kaum die Gefahr der irrtümlichen Annahme stammesgeschichtlicher Verwandtschaft zwischen einzelnen Beuteltierarten und ihren plazentalen Doppelgängern in der Alten Welt, weil die Beuteltiere durch ihren Beutel (Marsupium) morphologisch eindeutig charakterisiert sind. Die Molekularphylogenetik hat bestätigt, was die Morphologen bereits wußten. Wie steht es jedoch mit den Singvögeln, einer Gruppe, der mehr als die Hälfte aller Vogelarten der Erde angehören? In Australien gibt es über 700 einheimische Arten, unter ihnen viele, die praktisch nicht von afrikanischen, europäischen oder amerikanischen Spezies unterscheidbar sind. Als man im vergangenen Jahrhundert die Klassifizierung der australischen Singvögel in Angriff nahm, hatten die europäischen Ornithologen bereits fast überall sonst auf der Welt Vögel klassifiziert. Die australischen Singvögel sahen vertrauten Arten der Alten und der Neuen Welt so ähnlich, daß es nur natürlich erschien, sie in bekannte Gruppen einzuordnen. Sibley und Ahlquist bemerkten dazu, daß »viele der Konvergenzen so subtil sind, daß die wahren Verwandtschaftsbeziehungen ... sich durch anatomische Vergleiche allein wahrscheinlich nicht hätten aufklären lassen«. Aus diesem Grunde wurden zum Beispiel die Südsee-Grasmücken (Acanthizidae) den Sylviidae (Grasmücken oder Zweigsängern) zugeordnet, die Südseeschnäpper den Muscicapidae (Sängern oder Fliegenschnäpperartigen), die Baumrutscher (Climacteridae) den Certhiidae (Baumläufern) und die Honigfresser (Meliphagidae) den nektarfressenden afro-asiatischen Nektarvögeln (Nectariniidae). Diese Klassifikation ergab morphologisch gesehen Sinn, allerdings nicht geographisch, da Australien seit mindestens 30 Millionen Jahren vom Rest der Welt getrennt ist. Die einzige Erklärung für derartige Verwandtschaftsbeziehungen wäre die wiederholte Einwanderung von Arten anderer Kontinente gewesen – ein zwar nicht unmögliches, aber unwahrscheinliches Szenario. Überdies unterscheidet sich das von der Einwanderungshypothese implizierte Muster der Artenverbreitung stark von dem der einheimischen, auf Australien beschränkten Beuteltiere, während man normalerweise, insbesondere bei räumlich begrenzter Evolution, eine geographische Übereinstimmung verschiedener Speziesgruppen erwartet.
3. STAMMBÄUME
Die Daten aus der DNA-DNA-Hybridisierung stellten die bisherige Klassifikation der Vögel komplett in Frage. Sie zeigten, daß die australischen Singvögel Ureinwohner ihres Kontinents sind, brachten also die Biogeographie der Vögel mit der der Säuger in Einklang. Wie die Beuteltiere haben sich auch die Singvögel Australiens an ökologische Nischen angepaßt, die den Nischen in anderen Regionen der Erde gleichen, und ähneln ihren dort heimischen Gegenstücken infolge konvergenter Evolution, wobei der Grad der Ähnlichkeit oft erstaunlich ist. Nach Ansicht von Sibley und Ahlquist sollten die Singvögel Afrikas, Eurasiens und Nordamerikas in eine Kleinordnung Passerida gestellt werden, die australischen Singvögel dagegen in eine Kleinordnung Corvida. Zu dieser in Australien entstandenen Kleinordnung gehören auch Krähen, Elstern und Häher, die von dort aus die Alte und die Neue Welt besiedelt haben.
Flechten, Fische und HIV Dieser letzte Abschnitt enthält nur einige Beispiele dafür, wie mit Hilfe der Molekularphylogenetik stammesgeschichtliche Fragen untersucht wurden, die sich auf Bereiche im Stammbaum des Lebens unterhalb der Ebene der Klassen (beispielsweise Säuger und Vögel) beziehen. Besonders effektiv ist die Molekularphylogenetik, wenn es um jüngere Evolutionsereignisse auf diesen unteren Ebenen geht, für welche die Morphologie oft wenig aufschlußreich ist, etwa um die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten oder die Populationsgeschichte innerhalb von Arten. Flechten sind Lebensformen, in denen Pilze und Algen eine Symbiose bilden. Man kennt sie vor allem als graue Krusten auf Baumstämmen und Mauern, doch gibt es auch viele andere Formen. Bei manchen handelt es sich um echte Symbiosen, aus denen beide Partner Nutzen ziehen, bei anderen um Parasitismus, bei dem ein Partner den anderen schädigt. 20 Prozent aller Pilze bilden Flechten, doch trotz jahrelanger Bemühungen ist ihre Stellung im Stammbaum der Pilze immer noch nicht aufgeklärt. Im allgemeinen galten sie als natürliche Gruppe mit einem gemeinsamen Vorfahren, vereint durch unterschiedliche Ausformungen einer im Prinzip gleichen Lebensweise. Da sich morphologische Eigenschaften als wenig hilfreich erwiesen haben, wenn es darum geht, die Stellung der flechtenbildenden Arten im Stammbaum der Pilze zu ermitteln, hat die Forschung sich seit kurzem molekularbiologischen Befunden zugewandt. Beispielsweise untersuchte eine Arbeitsgruppe der Smithsonian Institution eine 1927 Nucleotide lange Sequenz der rRNA der kleinen Ribosomenuntereinheit von 75 Pilzarten, darunter zehn flechtenbildende Spezies. Diese Analyse ergab zwar kein 81
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umfassendes Bild der Phylogenese der Pilze, war aber breit genug angelegt, um einen ersten Einblick zu erbringen. Das Ergebnis ist eindeutig: Trotz ihres klaren Status als natürliche ökologische Gruppe bilden die flechtenbildenden Pilze keine natürliche Verwandtschaftsgruppe. Vielmehr sind sie in vielen Zweigen des Pilzstammbaumes anzutreffen; verschiedene Stammformen haben diese Lebensweise also unabhängig voneinander entwickelt. Flechtenbildende Pilze finden sich in der Verwandtschaft von Bierhefe, von Morcheln, von Pilzen, die Pflanzenkrankheiten (etwa das Ulmensterben) verursachen, aber auch von Pneumocystis, dem Erreger tödlicher Lungenentzündungen bei Aidspatienten. Diese Resultate stellen auch eine beliebte Vorstellung der Ökologie in Frage, wonach die Evolution normalerweise vom Parasitismus zum Mutualismus – der Symbiose mit wechselseitigem Nutzen – fortschreitet. Das erste Stadium in einer solchen Beziehung muß dieser Vorstellung zufolge zwangsläufig parasitisch sein, genau wie Räuber und Beute ein natürlicher Teil des Lebens sind. Im Gegensatz zu den meisten RäuberBeute-Beziehungen ist das Verhältnis zwischen Parasit und Wirt jedoch von kontinuierlichem körperlichem Kontakt gekennzeichnet. Aufgrund dessen kann die Evolution der beiden beteiligten Arten wie die einer einzigen Spezies ablaufen, wodurch oft eine weniger aggressive, weniger einseitige Beziehung entsteht, von der beide Partner profitieren. Mutualismus gilt daher als Endpunkt der Evolution von Arten, die einst Parasit und Wirt waren. Bei den flechtenbildenden Pilzen findet man jedoch zu frühen wie späten Zeitpunkten der Evolution sowohl parasitische als auch für den Partner nützliche Arten, was zeigt, daß es keine derartige Abfolge gibt.
3.18 Der Buntbarsch Pseudotropheus tropheops aus dem Malawisee. Molekularbiologischen Daten zufolge kam es bei den Buntbarschen (Cichliden) in jüngerer Zeit zu einem explosionsartigen Artbildungsprozeß. Mehrere der großen afrikanischen Seen beherbergen zusammen über 500 Arten, deren Stammesgeschichte bis vor kurzem ein Rätsel war.
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Für ein Gesamtbild von der Evolution der Flechten ist es noch zu früh, doch diese Untersuchung hat bereits gezeigt, daß die traditionelle (auf den begrenzten morphologischen Daten beruhende) Sichtweise falsch war. Die afrikanischen Buntbarsche (Cichliden) des Viktoria-, des Malawi- und des Tanganjikasees sind für Biologen so faszinierend wie rätselhaft – nicht zuletzt aufgrund einer Vielfalt von mehr als 500 Arten. Die Faszination beruht auf den zahlreichen und oft bizarren ökologischen Anpassungen dieser Fische. Manche beweiden Algenmatten, andere leben von Plankton und Detritus, wieder andere machen ausschließlich Jagd auf Insekten oder andere Fische, darunter ihre Verwandten. Es gibt eine Art, die das Maul maulbrütender weiblicher Buntbarsche mit dem eigenen Maul umschließt und sie zwingt, ihnen ihre Brut zu überlassen; eine andere Art lebt von den Schuppen anderer Cichliden, die sie mit Hilfe spezialisierter Kiefer und Zähne abraspelt; eine weitere frißt die Augen anderer Fische, die sie mit einem spezialisierten Kiefer herausreißt. Das Rätselhafte an den Cichliden ist aber ihr stammesgeschichtlicher Ursprung. Jeder See beherbergt zahlreiche Arten dieser bemerkenswerten Fischgruppe (der Viktoriasee beispielsweise etwa 200), und viele von ihnen besitzen dieselben oder ähnliche Anpassungen wie Arten aus anderen Seen. Die Seen sind jedoch relativ jung, der Viktoriasee zum Beispiel ist nur eine Million Jahre alt. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wie ist diese Mannigfaltigkeit entstanden? Und wie erklärt sich die Verteilung der verschiedenen Arten auf die Seen? Ursprünglich ordnete man sämtliche Arten einer einzigen Gattung zu, doch vor kurzem wurden sie aufgrund einer kladistischen Analyse morphologischer Merkmale in zahlreiche Gattungen eingeteilt, von denen viele in allen drei Seen anzutreffen sind. Diesem Schema zufolge erklärt sich die Artenvielfalt innerhalb der einzelnen Seen daher zumindest teilweise durch eine frühe Diversifikation, die jeweils von mehreren Einwanderungsschüben gefolgt wurde. Die Vielzahl der Arten in jedem der Seen würde demnach auf eine Vielzahl verschiedener Stammarten zurückgehen. Die ersten detaillierten molekularbiologischen Daten über die Cichliden, die 1990 veröffentlicht wurden, ergaben ein anderes Bild. Allan Wilson und seine Mitarbeiter sequenzierten 803 Nucleotidpositionen der Mitochondrien-DNA, darunter Teile des Cytochrom-b-Gens, zwei TransferRNA-Gene sowie eine Region, welche die Genexpression steuert; von den untersuchten Buntbarscharten stammten 14 aus dem Viktoriasee und 23 aus anderen afrikanischen Gewässern. Die Ergebnisse waren ziemlich eindeutig und standen ganz im Gegensatz zu den Resultaten der kladistischen Analyse morphologischer Daten. Die Variabilität der Sequenzen innerhalb der 14 Arten aus dem Viktoriasee war mit durchschnittlich drei Mutationen minimal. Dagegen unterschieden sich die Cichliden aus dem Malawi83
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see durch durchschnittlich 50 Mutationen von den Spezies aus dem Viktoriasee. Dies deutet stark darauf hin, daß die Evolution der in den verschiedenen Seen vorkommenden Buntbarscharten vor Ort stattfand, und zwar extrem schnell, vielleicht innerhalb der letzten 200 000 Jahre. Diese Schlußfolgerung wurde inzwischen durch umfassendere molekularbiologische Untersuchungen bestätigt. Die Buntbarsche sind daher ein hervorragendes Beispiel für die Entkoppelung von genetischem und morphologischem Wandel. Die genetische Variation zwischen den 200 Arten des Viktoriasees ist geringer als beispielsweise die innerhalb einer einzigen Pfeilschwanzkrebsart; dennoch ist die morphologische Variation zwischen diesen Arten enorm. Dieses Paradoxon wirft mehrere Fragen auf: Was war die Triebfeder so starker morphologischer Veränderungen angesichts eines so geringen genetischen Wandels? Wie erfolgte die Artbildung? Fand sie statt, als die einzelnen Seen ihre heutige Ausdehnung hatten, so daß neue Arten nebeneinander (sympatrisch) entstehen konnten, oder ereignete sie sich zu einem Zeitpunkt mit niedrigerem Wasserstand, als jeder See in mehrere isolierte Lebensräume unterteilt war (also allopatrisch)? Diese Fragen sind bisher ungelöst. Die Cichliden sind ein gutes Beispiel dafür, wie phylogenetische Erkenntnisse zu weiterreichenden biologischen Fragen anregen können. Schließlich trugen phylogenetische Untersuchungen auch zur Lösung der Frage bei, ob ein HlV-infizierter Zahnarzt seine Patienten mit dem Immunschwächevirus angesteckt hatte. Im Jahre 1990 berichteten Mitarbeiter der Centers for Disease Control (CDC) im US-amerikanischen Atlanta von einer jungen Frau aus Florida, die wahrscheinlich von ihrem inzwischen an Aids verstorbenen Zahnarzt mit HIV infiziert worden war. Unter den ehemaligen Patienten dieses Arztes, die durch eine öffentliche Bekanntmachung aufgefordert wurden, sich einem HIV-Test zu unterziehen, erwiesen sich zehn als HIV-positiv. In Interviews stieß man bei vier von ihnen auf Risikofaktoren, die eine Infektion durch Sexualkontakte oder intravenöse Übertragung möglich erscheinen ließen. Bei sechs der zehn Infizierten fand man jedoch keine Risikofaktoren. Das Immunschwächevirus HIV mutiert extrem schnell – sehr viel schneller als die meisten anderen Viren. Die Gründe dafür sind erst teilweise bekannt. Medizinisch bedeutet dies unter anderem, daß es äußerst schwierig ist, einen wirksamen Impfstoff zu produzieren. Viele Impfstoffe wirken, indem sie das Immunsystem zur Bildung von Antikörpern anregen, welche die molekulare Struktur der Hülle des Krankheitserregers erkennen. Wenn diese Struktur sich laufend ändert – wie bei HIV –, können potentielle Impfstoffe schon veraltet sein, bevor sie anwendungsreif sind. Die schnelle Mutationsrate des Virus hat außerdem Konsequenzen, die für die Untersuchung der Frage, ob die sechs Patienten sich wirklich bei ihrem Zahnarzt angesteckt hatten, bedeutsam waren. 84
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Erstens war aufgrund der schnellen Mutationsrate anzunehmen, daß zwischen den Viruspopulationen der einzelnen Individuen genetische Unterschiede bestanden, was den CDC die Möglichkeit bot, eine Stammbaumanalyse der Viren der sechs Patienten und ihres Zahnarztes durchzuführen, um so vielleicht den Ausgangspunkt der Infektion feststellen zu können. Dahinter steht die folgende Überlegung: Wenn das fragliche Virus nicht oder nur langsam mutiert war, würden die Virusstämme der Patienten mit dem des Arztes übereinstimmen. Eine solche Ähnlichkeit der Stämme würde den Zahnarzt jedoch nicht mit der Miniaturepidemie in Verbindung bringen, da das molekulare Profil seines Virus mit dem aller anderen identisch wäre. Ein mutierendes Virus dagegen hinterläßt eine molekulare Fährte, die man zurückverfolgen kann: Die Viren in einer Gruppe von Individuen, die sämtlich von Person A infiziert wurden, ähneln den Viren von A stärker als denen von B oder von C und so weiter. Die Frage, die sich die CDC-Mitarbeiter stellten, lautete also: Stammten die Viren der sechs Patienten vom HIV des Zahnarztes ab? Die Wissenschaftler sequenzierten ein Gen für einen der Proteinbestandteile der Virushülle und fanden tatsächlich genetische Unterschiede zwischen den sechs Individuen und ihrem Zahnarzt. Die phylogenetische Analyse dieser Daten ergab in der Tat, daß die Virusstämme der sechs Personen ohne HIV-Risikofaktoren nah miteinander verwandt waren und vom Virus des Zahnarztes abstammten. Eine Computersimulation, in der die Evolution des Virus rekonstruiert wurde, zeigte, daß sich – aufgrund der Mutationsgeschwindigkeit des Virus – aus den molekularbiologischen Daten wahrscheinlich kein korrekter Stammbaum mehr hätte ableiten lassen, wenn man diese Daten mehr als fünf Jahre nach der Infektion erhoben hätte (tatsächlich waren seither erst drei Jahre verstrichen). Im Laufe von fünf Jahren hätten sich so viele genetische Veränderungen angesammelt, daß die phylogenetischen Beziehungen zwischen den Stämmen nicht mehr nachvollziehbar gewesen wären. In diesem Beispiel ging es um die molekulare Phylogenese innerhalb eines extrem kurzen Zeitraumes. Einer der größten Vorzüge der Molekularphylogenetik ist die enorme zeitliche Bandbreite, über die sie brauchbare Ergebnisse liefert – von Ereignissen aus den Anfängen der Evolutionsgeschichte vor vier Milliarden Jahren bis hin zu Evolutionsprozessen, die erst wenige Jahre zurückliegen. Die Phylogenetik als Ganzes hat von der Einführung der molekularbiologischen Dimension profitiert, und zwar nicht zuletzt, weil die Konkurrenz durch einen neuen Forschungsansatz die Morphologen dazu angestachelt hat, ihre traditionellen Methoden zu verbessern. Die Molekularphylogenetik ist vielleicht nicht das Wundermittel, für das sie in ihren jungen, ungestümen Tagen gehalten wurde, aber sie ist zweifellos sowohl für sich genommen als auch – in zunehmendem Maße – in Kombination mit traditionellen Methoden ein sehr effektiver Ansatz. 85
4.1 Mäuse an der Harvard Medical School, die scheinbar den Ausdruck ihrer Gensequenzen lesen.
Das Rätsel der genetischen Variation
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ie wir gesehen haben, können Biologen, wenn sie die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten untersuchen wollen, dazu genetische Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen diesen Arten heranziehen. Nun besteht jedoch innerhalb jeder Spezies, obgleich diese genetisch gesehen ein zusammenhängendes Ganzes darstellt, eine genetische Variation zwischen den Individuen. Manche Menschen haben blaue Augen, andere braune; manche sind groß, andere klein. Diese Merkmale werden von den Eltern an die Kinder vererbt, ebenso wie die Gesichtszüge: Beispielsweise ist es in der Regel leicht zu sagen, wer zu dieser und wer zu jener Familie gehört. Die genetische Variation innerhalb einer Art ist das Rohmaterial der Evolution durch natürliche Auslese. Manche Merkmalsvarianten verschaffen ihren Trägern adaptive Vorteile. Solche Individuen haben eine höhere Darwinfitneß, das heißt, sie hinterlassen mehr Nachkommen als Individuen mit unterlegenen Merkmalsausprägungen. Bei Raubtieren beispielsweise besitzen Individuen, die besser als andere in der Lage sind, Beute zu machen, diesen gegenüber einen Selektionsvorteil. In ähnlicher Weise begünstigt die Selektion Individuen von Beutearten, die sich weniger leicht von Räubern fangen lassen. Im Laufe der Zeit setzen sich solche vorteilhaften Eigenschaften ebenso wie die zugrundeliegenden Gene in der Spezies durch. Die meisten Arten bestehen natürlich aus vielen geographisch voneinander getrennten Populationen. Aufgrund der Isolation entwickeln sich in den verschiedenen Populationen einer Art oft unterschiedliche genetische Varianten. Solche Varianten breiten sich nur dann auf andere Populationen aus, wenn Individuen aus einer Population in eine andere wandern und sich dort fortpflanzen. Bleiben die Populationen dagegen vollständig voneinan-
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der isoliert, etwa durch ein großes Flußsystem oder einen Gebirgszug, so können sich erhebliche genetische Unterschiede zwischen den Populationen ausbilden, was mitunter zur Entstehung von Unterarten oder sogar getrennten Arten führt. Genetische Variation gibt es also sowohl zwischen Populationen derselben Art als auch innerhalb von Populationen. In späteren Kapiteln werden wir noch erfahren, wie Biologen diese genetische Variation zwischen Populationen nutzen können, um die jüngere Stammesgeschichte einer Art zu erforschen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Frage, wie und wo die Evolution des modernen Menschen stattfand, ein anderes die lange ungelöste Frage, wann und wie die ersten Menschen Amerika besiedelten. In beiden Fällen haben die neuentwickelten genetischen Methoden die traditionellen Ansätze der Anthropologie und Archäologie ergänzt und einige erstaunliche Ergebnisse geliefert. Außerdem hat man die genetische Variation zwischen verschiedenen Populationen bestimmter Arten genutzt, um Erkenntnisse über die klimatischen und geographischen Barrieren zu gewinnen, die sie trennen; dabei handelt es sich zum Teil um historische Barrieren, die heute nicht mehr unmittelbar zu erkennen sind. In Kapitel 6 werden wir beispielsweise sehen, wie eine Analyse der genetischen Variation gezeigt hat, daß viele Fisch-, Wirbellosen- und Vogelarten im Südosten der USA in östliche und westliche Populationen unterteilt sind. Die Frage nach dem Ausmaß der genetischen Variation innerhalb von Populationen sowie zwischen ihnen war in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts Gegenstand einer langen und hitzigen Auseinandersetzung unter Populationsgenetikern, aus der zwei sehr unterschiedliche Denkschulen hervorgingen. Die eine Schule hielt das Ausmaß der Variation für gering, die andere für hoch. Die Variation zwischen Individuen ließ sich auf der Ebene des Phänotyps – das heißt, wie bereits erwähnt, auf morphologischer Ebene – bestimmen, doch bestand Ungewißheit darüber, inwiefern dies mit Unterschieden im Genotyp – das heißt im genetischen Material oder Genom und seinen unmittelbaren Produkten, den Proteinen – zusammenhing. Erst Mitte der sechziger Jahre, als man Methoden zur Messung der genetischen Variation auf der Ebene bestimmter Unterschiede in der Proteinstruktur entwickelt hatte, ließ sich diese Frage direkt angehen. Später entwickelte Verfahren untersuchten dieselbe Frage auf der Ebene der Nucleotidsequenz von Genen. Auch die Entstehung genetischer Variation war Gegenstand intensiver Forschung, und die darauf folgende Diskussion entwickelte sich zu dem, was als Debatte zwischen Neutralisten und Selektionisten bekannt werden sollte. Dabei ging es insbesondere um die Frage, ob Variation infolge der natürlichen Auslese entsteht, die vorteilhafte neue Varianten begünstigt, oder ob die Varianten selektionsneutral sind, so daß ihre Akkumulation einfach eine Folge des Mutationsprozesses ist und ihr Fortbestand in einer Population vom Zufall abhängt. 88
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
Mit dieser Streitfrage verknüpft ist die Frage nach der Geschwindigkeit, mit der sich Variation akkumuliert. Ist sie konstant, oder wechselt sie? Falls sich herausstellen sollte, daß genetische Variation sich mit gleichmäßigem Tempo ansammelt, könnte man sie als „molekulare Uhr“ der Evolution nutzen. Eine solche Uhr wäre extrem hilfreich, um den Zeitpunkt wichtiger Evolutionsereignisse zu bestimmen. Drei Jahrzehnte nachdem die Existenz einer solchen Uhr erstmals postuliert wurde, ist sie immer noch umstritten. Das Konzept der molekularen Uhr der Evolution ist Gegenstand des folgenden Kapitels. In diesem Kapitel geht es um zwei Aspekte der genetischen Variation: ihr Ausmaß und ihre Entstehung.
Wieviel genetische Variation? Seit die Populationsgenetik Anfang dieses Jahrhunderts zu einer eigenständigen Forschungsdisziplin wurde, war ihr Ziel die Beschreibung und Erklärung der genetischen Variation innerhalb von Populationen sowie zwischen ihnen. Das Ziel ist heute noch das gleiche, jedoch mit einem Unterschied. Seit Mitte der sechziger Jahre existiert ein Verfahren, mit dessen Hilfe eine direkte Messung der genetischen Variation möglich ist. Bis dahin mußten Populationsgenetiker, die Hinweise auf Variation im Genom suchten, sich auf zwei Arten von Information verlassen, die beide indirekte Maße für diese Variation waren. Ein alltägliches Beispiel für eine auf genetischen Unterschieden beruhende Variation ist die Augenfarbe beim Menschen. Verschiedene Varianten des Gens, welches das Pigment der Iris codiert, sind für blaue beziehungsweise braune Augen verantwortlich. Solche Varianten bezeichnet man als Allele des Gens. Wir besitzen von jedem unserer Gene zwei Allele; eines davon haben wir vom Vater geerbt, das andere von der Mutter. Jedes erbliche Merkmal geht auf ein solches Allelpaar zurück. Ein Allel kann entweder dominant oder rezessiv sein; Besitzer brauner Augen beispielsweise können entweder zwei Allele für braun haben oder eines für braun und eines für blau, da das „braune“ Allel dominant und das „blaue“ rezessiv ist. Blaue Augen haben nur Träger zweier Allele für blau. Die relative Häufigkeit dieser und anderer Allele variiert von Population zu Population; blaue Augen etwa sind bei Nordeuropäern häufig, bei Ostasiaten dagegen selten. Diese Form der Variation wurde erforscht, indem man sich mit den Varianten so populärer Merkmale wie der Blutgruppen des Menschen, der Schalenzeichnung von Schnecken und der Flügelzeichnung von Schmetterlingen sowie mit den seltenen rezessiven Mutationen bei Drosophila (Taufliegen) befaßte. Diese Merkmale lieferten zwar indirekte Hin89
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
weise auf die Variation auf der Ebene des betreffenden Gens (oder der Gene), boten aber keine Grundlage für Voraussagen über das Ausmaß der Variation im übrigen Genom. Auch konnte man in den meisten Fällen keine unmittelbaren Vorteile ausmachen, die einzelne Allele mit sich brachten und zu deren Begünstigung durch die natürliche Auslese hätten führen können. Unterschiedliche Schalenzeichnungen bei Schnecken beispielsweise bringen keine offensichtlichen Vor- oder Nachteile mit sich.
4.2 Das Allel für blaue Augen ist gegenüber dem für braune Augen rezessiv. Kinder, bei denen ein Elternteil zwei Allele für blaue Augen besitzt und der andere zwei Allele für braune Augen, haben selbst stets braune Augen. Man sagt, sie sind heterozygot für die Augenfarbe – sie besitzen Allele für beide Farben.
Einen zweiten Hinweis auf die Existenz genetischer Variation – und in diesem Fall ihrer generellen Vorteile – lieferten Züchtungsversuche, beispielsweise mit Drosophila und mit Mais, vor allem mit Inzuchtstämmen, in denen die genetische Variation generell geringer ist als in normalen Populationen. Aus der Paarung von Individuen aus demselben Inzuchtstamm gingen Nachkommen mit geringerer Lebensfähigkeit und Fruchtbarkeit hervor als aus Kreuzungen zwischen solchen Stämmen. Das Phänomen der größeren Fitneß durch diese sogenannte Auszucht war nicht nur ein Indiz für die Existenz genetischer Variation zwischen den Stämmen, sondern deutete auch darauf hin, daß die Steigerung dieser Variation eine Zunahme der Fitneß bewirkt. Man konnte allerdings nicht feststellen, ob dieser Effekt durch Varianten an wenigen oder an vielen Genloci bewirkt wurde. Das Ausmaß der genetischen Variation innerhalb einer Art blieb daher dem Zugriff der Genetiker entzogen. Natürlich konnten diese Methoden keine Informationen über genetische Unterschiede zwischen Arten liefern. »Unter diesen Umständen«, bemerkte der in Harvard tätige Genetiker Richard Lewontin kürzlich, »überrascht es nicht, daß die Evolutionsgenetiker sich in zwei gegnerische Schulen mit mehr oder weniger unvereinbaren Vorstellungen von der Wahrheit spalteten.« Die beiden Denkschulen standen in krassem Gegensatz zueinander. Die „Balance-Schule“ von Theodosius Dobzhansky und seinen Anhängern war der Ansicht, das Ausmaß der Variation sei erheblich, während die klassische Schule von H. J. Muller und seinen Anhängern es für begrenzt hielt. Dieser Gegensatz entsprang einer unterschiedlichen Einschätzung der Auswirkungen von Variation auf die Fitneß. Der Balance-Schule zufolge kann eine Population mit starker genetischer Variation sich leichter an wechselnde Umweltbedingungen anpassen. Zum Beispiel kann die Existenz von Individuen mit einem seltenen Allel, das seine Träger mit weniger Wasser auskommen läßt, bei einer Dürre gewährleisten, daß zumindest ein Teil der Population überlebt. Zwar können auch schädliche Mutationen auftreten, doch nahm man an, diese würden bald durch die natürliche Auslese eliminiert und trügen nicht signifikant zur Gesamtvariation bei. Dieser Schule zufolge begünstigt die natürliche Auslese also die Variation. Variation zwischen Populationen hielt man für zwar existent, aber unbedeutend, da die Variation innerhalb der Populationen schon als stark galt. Es wurde viel darüber spekuliert, welcher Anteil
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4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
der Gene eines Genoms in verschiedenen Formen existiere und wie viele Formen bestimmter Gene es gebe. Gene mit verschiedenen Allelen bezeichnet man als polymorph, und der Grad des Polymorphismus bei einem Gen kann hoch (bei vielen Allelen) oder niedrig (bei wenigen Allelen) sein. (Gene, die es nur in einer einzigen Form gibt, bezeichnet man als monomorph.) Bruce Wallace, ein führender Vertreter der Balance-Schule, äußerte die Vermutung, vielleicht seien alle Gene polymorph. Im Gegensatz dazu sah die klassische Schule die Rolle der natürlichen Auslese darin, schädliche Mutationen prinzipiell zu eliminieren. Nur gelegentlich breite sich eine seltene vorteilhafte Mutation schnell in einer Population
4.3 Theodosius Dobzhansky, der entscheidend an der Entwicklung der modernen Genetik mitwirkte, war ein führender Vertreter der „Balance-Schule“ der Populationsgenetik, derzufolge das Ausmaß der genetischen Variation in Populationen, bedingt durch die natürliche Auslese, hoch sein sollte.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
4.4 H. J. Muller gehörte zu den führenden Vertretern der „klassischen“ Schule der Populationsgenetik, derzufolge die genetische Variation in einer Population eine Belastung (genetische Bürde) darstellen müsse, die durch die natürliche Auslese schnell beseitigt werde.
aus und ersetze dabei das ursprüngliche Allel vollständig, so daß eine optimale genetische Ausstattung – ein optimaler Genotyp – entstehe. Individuen mit einem davon abweichenden Genotyp besäßen eine geringere Fitneß. Ein ausgeprägter Polymorphismus galt deshalb als Belastung, welche die Fitneß einer Population reduziere. Wenn die natürliche Selektion diese sogenannte genetische Bürde nicht eliminiere, könne die Art aussterben. Man ging daher davon aus, daß die Variation innerhalb von Populationen 92
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
gering sei. Aufgrund dieser angenommenen Begrenztheit der Variation innerhalb von Populationen hielt man die genetischen Unterschiede zwischen Populationen für erheblich. Muller schätzte, vielleicht sei nur einer von 1000 Genloci polymorph.
Technische Fortschritte Die Kluft zwischen den Grundannahmen und Vermutungen der beiden Schulen war groß. Lewontin bemerkte dazu: »Die Populationsgenetik schien zu einem ewigen Kampf zwischen alternativen Interpretationen großer Mengen zwangsläufig uneindeutiger Daten verurteilt zu sein.« Die theoretische Sackgasse wurde unabhängig voneinander in zwei Labors durch eine technische Neuerung durchbrochen – nämlich durch ein Verfahren zur Unterscheidung löslicher Proteine, mit dessen Hilfe man zahlreiche Proteine in großen Populationen untersuchte. Beispiele für lösliche Proteine sind viele Blutproteine, etwa Albumin, sowie zahlreiche Enzyme. Ein Beispiel für ein unlösliches Protein ist Kollagen, ein strukturbildender Bestandteil von Knorpel, Knochen sowie des Zellinnern. Das als Gelelektrophorese bezeichnete Verfahren funktioniert nur mit löslichen Proteinen, weil diese sich von der Gelschicht, in die sie eingebracht werden, aufnehmen lassen müssen. Viele lösliche Proteine sind elektrisch geladen (positiv oder negativ). Unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes lassen sich in dem Gel suspendierte Proteine in Abhängigkeit von ihrer Ladung auftrennen (und durch Färbung sichtbar machen). Positiv geladene Proteine bewegen sich dabei in die eine Richtung, negativ geladene in die andere; je stärker die Ladung, desto weiter wandert das Protein. (Außerdem beeinflußt die Größe eines Proteins seine Beweglichkeit.) Manche Aminosäureaustausche in einem Protein (die durch Mutationen der DNA-Sequenz entstehen) verändern die elektrische Gesamtladung, wodurch sich solche Varianten entdecken lassen. (Die meisten Aminosäureaustausche haben allerdings keinen Einfluß auf die Gesamtladung des Proteins und sind daher elektrophoretisch nicht nachweisbar.) Lewontin, der damals an der University of Chicago arbeitete, und sein Kollege J. L. Hubby entwickelten diese Technik und untersuchten mit ihr 18 Proteine in fünf Wildpopulationen von Drosophila. Dabei zeigte sich, daß 30 Prozent der Proteine in der Gesamtpopulation in mehr als einer Variante existierten. Das heißt, 30 Prozent der dieser Untersuchung zugänglichen Gene waren polymorph. Natürlich besaß nicht jedes Individuum sämtliche Polymorphismen; selbst wenn in der Gesamtpopulation mehrere Varianten eines Gens existierten, waren die beiden Kopien dieses 93
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Gens bei den meisten Individuen identisch. Durchschnittlich trug jedes Individuum an etwas mehr als einem von zehn Genloci zwei verschiedene Allele (man bezeichnet das Individuum als heterozygot für diese Gene). Der durchschnittliche Anteil heterozygoter Gene betrug in diesem Fall also 11,5 Prozent. Der britische Genetiker Henry Harris führte eine ähnliche Untersuchung mit zehn Proteinen aus menschlichen Populationen durch und erhielt dabei sehr ähnliche Ergebnisse: 30 Prozent der Proteine waren polymorph, und die untersuchten Individuen waren für durchschnittlich 9,9 Prozent ihrer Gene heterozygot. Lewontin bezeichnete das von ihm und Harris gefundene Ausmaß des Polymorphismus als „erstaunlich“.
4.5 Das Verfahren der Gelelektrophorese, das Proteine nach ihrer elektrischen Ladung auftrennt, eröffnete der Populationsgenetik eine Möglichkeit, das Ausmaß der genetischen Variation in Populationen zu ermitteln.
Die Veröffentlichung der Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen im Jahre 1966 regte eine Vielzahl ähnlicher Forschungsprojekte an, nicht zuletzt weil das Verfahren der Gelelektrophorese relativ einfach war und sich auf praktisch alle Spezies anwenden ließ. Das Monopol der wenigen genetisch manipulierbaren Organismen, die bis dahin die Populationsgenetik dominiert hatten, darunter Drosophila, Mais und die Labormaus, wurde durchbrochen. Bis zum Jahre 1984 hatte man bereits 1111 Arten mit Hilfe dieses Verfahrens untersucht und dabei durchschnittlich 23 Genloci und 200 Individuen pro Spezies einbezogen. Dieser Ansatz wird, wie Lewontin bemerkte, mitunter spöttisch als Finde-und-zermahle-sie-Schule bezeichnet, aber er hat sicher bestätigt, was ansonsten Gegenstand von Vermutungen geblieben wäre: daß in den meisten freilebenden Populationen etwa 30 Prozent der Gene für Enzyme und andere lösliche Proteine polymorph sind und daß jedes Individuum für ungefähr 10 Prozent seiner Genloci heterozygot ist. Lewontin und Hubby stellten fest, daß die Zahlen für Heterozygotie auch für verschiedene geographische Populationen derselben Art gültig sind. Sie untersuchten 18 Genloci in fünf Populationen von Drosophila pseudoobscura aus dem Süden und Westen der USA, und zwar aus Strawberry Canyon, Wildrose, Cimarron, Mather und Flagstaff. Wie ihre in Tabelle 4.1 wiedergegebenen Ergebnisse zeigen, ist die Heterozygotie einer Art von Population zu Population konstant; in dieser Hinsicht besteht also kein genetischer Unterschied zwischen geographisch isolierten Populationen. Selbst als Elektrophoreseverfahren zur Verfügung standen, mit deren Hilfe man die zuvor unsichtbaren Aminosäureaustausche sichtbar machen konnte, änderten sich diese Zahlen nicht – etwa zehn Prozent der Gene eines Individuums waren heterozygot. Loci, die früheren Analysen zufolge monomorph waren, blieben dies auch; für solche, die bereits als polymorph identifiziert waren, wurden neue Varianten entdeckt, und zwar mitunter in großer Zahl (zum Beispiel stieg die Anzahl der Allele für das Enzym Xanthindehydrogenase von acht auf 27). Als derartige Untersuchungen auch auf andere Proteinklassen ausgedehnt wurden, ergab sich ein ähnliches Bild. Die Entwicklung von Methoden zur Entschlüsselung der Nucleotidsequenz eines DNA-Moleküls beseitigte in den siebziger und achtziger Jahren alle
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4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
Tabelle 4.1: Das Ausmaß der genetischen Variation in Populationen von Drosophila pseudoobscura Population
Strawberry Canyon Wildrose Cimarron Mather Flagstaff
Anzahl der untersuchten Proteine
18 18 18 18 18
Anzahl der polymorphen Gene
6 5 5 6 5
Durchschnitt
Anteil der polymorphen Gene (in Prozent)
durchschnittlicher Anteil der heterozygoten Gene pro Individuum (in Prozent)
33 28 28 33 28
14,8 10,6 9,9 14,3 8,1
30
11,5
noch verbliebenen Zweifel am Ausmaß der genetischen Variation. Die Nucleotidsequenz, die grundlegende genetische Bauanleitung eines Organismus, ist noch variabler, als durch die Proteinstruktur offenbart wird, und zwar aus dem einfachen Grund, daß viele Änderungen der DNASequenz keinen Einfluß auf die Aminosäuresequenz der Proteine haben. Zwei Ebenen der genetischen Variation sind daher für Populationsgenetiker von Bedeutung: die Variation in den Genprodukten (Proteinen), die für die natürliche Auslese „sichtbar“ sind, weil sie die körperliche Beschaffenheit des Organismus beeinflussen; und die zahllosen Variationen der DNA-Sequenz, von denen viele für die natürliche Selektion „unsichtbar“ sind, weil sie keine Auswirkung auf die Proteinstruktur haben. Eine Frage, die in der Populationsgenetik während der drei Jahrzehnte, seit das Ausmaß der genetischen Variation nachgewiesen wurde, eine – sowohl theoretisch als auch empirisch – beherrschende Rolle gespielt hat, lautet: Wie ist diese Variation entstanden?
Zufall oder Selektion? Auf den Nachweis des ausgeprägten Polymorphismus von Proteinen folgte sehr schnell die Entwicklung zweier einander widersprechender Erklärungen. Die erste Erklärung lautete, der Polymorphismus sei das Ergebnis natürlicher Auslese, das heißt, er beruhe auf der aktiven Akkumulation von Varianten, die unter den vielen verschiedenen Umweltbedingungen, 95
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
denen Populationen ausgesetzt sind, einen Selektionsvorteil bieten. Mit anderen Worten, viele der genetischen Mutationen in einer Population werden fixiert, weil sie vorteilhaft sind. Schädliche Mutationen werden eliminiert, weil die Fitneß ihrer Träger reduziert ist. Die zweite Erklärung sah ausgeprägte genetische Variation einfach als passive Ansammlung von Zufallsmutationen, durch die neue Allele entstehen, welche in der überwiegenden Mehrzahl adaptiv neutral sind, also die Fitneß ihrer Träger weder steigern noch reduzieren. Dieser Sichtweise zufolge besteht die Rolle der natürlichen Selektion vor allem in der Beseitigung der seltenen schädlichen Allele. Für Selektionisten, die Verfechter der ersten Erklärung, sind also die meisten Mutationen entweder vorteilhaft oder schädlich; vorteilhafte bleiben in einer Population erhalten, wodurch ausgeprägte Variation entsteht, während schädliche Mutationen eliminiert werden. Für Neutralisten, die Anhänger der zweiten Hypothese, sind die meisten Mutationen adaptiv neutral und werden in Populationen fixiert, weil ihre Gegenwart keine schädlichen Folgen hat; ausgeprägte genetische Variation ist das Ergebnis dieses Prozesses. Dies ist, in einfachen Worten ausgedrückt, die Grundlage der Auseinandersetzung zwischen Selektionisten und Neutralisten. Die Selektionisten mußten zur Bestätigung ihrer Hypothese Belege dafür finden, daß Variation sich auf Populationen günstig auswirkt, und sie zogen dazu zwei Arten von Daten heran: funktionale und statische. Funktionale Daten dokumentieren die Existenz von Proteinvarianten und beschreiben, wie diese mit verschiedenen Lebensräumen korrelieren. Dahinter stand der Gedanke, eine solche Korrelation könne widerspiegeln, daß eine bestimmte Variante unter bestimmten Umweltbedingungen eine höhere Fitneß habe als andere. Statische Daten sind ein Maß für die Gesamtvariation in einer Population, und eine Frage war, ob Populationen mit ausgeprägter Variation eine größere Fitneß aufweisen als andere. Angesichts der verfügbaren Menge an Elektrophoresedaten machten sich die Populationsgenetiker mit Vergnügen an beide Aufgaben. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen waren bestenfalls uneindeutig, und zwar sowohl im statischen als auch im funktionalen Bereich. Einige Untersuchungsergebnisse unterstützten die Selektionisten, aber es waren nur wenige – sicherlich nicht das erwartete starke Signal. Gleichzeitig gewann die Sichtweise der Neutralisten an Boden, nicht nur wegen des relativen Mißerfolgs der selektionistischen Alternative, sondern auch aufgrund ihrer eigenen Eleganz und Stichhaltigkeit. Der Grundstein der Neutralitätstheorie (oder genauer der Hypothese über neutrale Mutationen und Zufallsdrift) war schon zu der Zeit gelegt worden, als Lewontin, Hubby und Harris ihre Daten sammelten. Im Jahre 1965 veröffentlichten Emile Zuckerkandl und Linus Pauling, die damals am California Institute of Technology arbeiteten, Daten über die Evolution 96
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
von Hämoglobinmolekülen, die sie durch den Vergleich der Aminosäuresequenzen des Hämoglobins verschiedener Spezies gewonnen hatten. Bemerkenswerterweise zeigten diese Daten das folgende: Aminosäuresubstitutionen waren mit konstanter Rate aufgetreten, und diese Rate war hoch. Als der japanische Genetiker Motoo Kimura vom Nationalen Institut für Genetik in Mishima diese Ergebnisse sah, brachten sie ihn auf einen Gedankengang, der schließlich zur Ausarbeitung der Neutralitätstheorie führte, die er im November 1967 formell ankündigte und im darauffolgenden Jahr veröffentlichte. Zusammen mit ähnlichen Daten über die Evolution des Proteins Cytochrom c vieler Spezies schienen die Informationen über Hämoglobin ein Bild vom Ursprung der Variation zu zeichnen, das sich nach Ansicht von Kimura durch den Prozeß der natürlichen Auslese nicht vollständig erklären ließ. Das Ausmaß der Variation und die Geschwindigkeit, mit der sie sich akkumulierte, schienen zu hoch zu sein. Als die ersten Ergebnisse der Elektrophorese von Proteinen zeigten, daß eine ausgeprägte Variation häufig ist, kam Kimura zu dem Schluß, die überzeugendste Erklärung dafür sei, daß die verschiedenen Allele eines Gens, die sich in einer Population ansammeln, überwiegend selektionsneutral – oder genauer gesagt für die Selektion äquivalent – sind. Das heißt, sie haben keinen Einfluß auf die Funktion des codierten Proteins und sind damit für die Selektion unsichtbar, weil keines gegenüber anderen begünstigt ist. Doch selbst wenn in einer Population mehrere äquivalente Allele existieren, kann eines von ihnen sich im Laufe der Zeit stärker ausbreiten – mitunter bis hin zur Eliminierung der anderen. Ein für die Selektion äquivalentes Allel wird auf diese Weise durch Zufallsprozesse – und nicht durch Selektion – in der Population fixiert. Man bezeichnet dies als genetische Drift. Ein Gedankenexperiment soll diesen Prozeß veranschaulichen. Man denke sich einen Beutel, der 100 Bälle enthält – 50 blaue und 50 rote. Nun greife man in den Beutel und nehme wahllos 50 Bälle heraus. Vielleicht entfernt man zufällig 25 blaue und 25 rote Bälle aus dem Beutel, aber mit der gleichen Wahrscheinlichkeit können es beispielsweise 30 blaue und 20 rote sein. Nun replizieren sich die verbliebenen Bälle, bis der Beutel wieder insgesamt 100 Stück enthält. (Dies entspricht einer Population von Lebewesen, die konstant bleibt.) Falls 30 blaue Bälle aus dem Beutel genommen wurden, bestünde die neue Population aus 40 blauen und 60 roten Bällen. (Dies entspricht einer Population, in der die „roten“ Individuen zufällig mehr Nachkommen haben als die „blauen“.) Wenn man diesen Vorgang viele Male wiederholt, wird der relative Anteil blauer und roter Bälle aufgrund dieser Zufallsprozesse schwanken. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, daß die Population schon nach relativ kurzer Zeit nur noch aus Bällen einer Farbe bestehen wird. Das gleiche geschieht in natürlichen Populationen.
4.6 Motoo Kimura entwickelte Ende der sechziger Jahre die Theorie der neutralen molekularen Evolution. Diese zunächst unpopuläre Theorie dominiert inzwischen die Vorstellungen über den Ablauf der molekularen Evolution.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
4.7 Das Diagramm gibt ein Modell der genetischen Drift wieder, das zeigt, wie Zufallsereignisse im Laufe der Zeit zu erheblichen Veränderungen in der Verteilung der Gene in einer Population führen können.
Im Jahre 1969 schlossen sich J. L. King und Thomas Jukes von der University of California in Berkeley der Neutralisten-Schule an, und zwar mit einer Veröffentlichung in Science, die die provokante Überschrift trug: „Nichtdarwinistische Evolution: Die zufällige Fixierung selektionsneutraler Mutationen“. Die Neutralitätstheorie schließt die Selektion nicht etwa als Quelle von Variation aus, schreibt ihr jedoch nur eine unbedeutende Rolle dabei zu. Kimura formulierte dies kürzlich so: »Der Theorie zufolge wird die große Mehrheit der ... Substitutionen auf molekularer Ebene durch Zufallsfixierung ... selektionsneutraler (das heißt selektionsäquivalenter) Mutanten unter beständigem Mutationsdruck verursacht. Dies steht in scharfem Widerspruch zur neodarwinistischen Evolutionstheorie, derzufolge Mutanten sich im Laufe der Evolution nur mit Hilfe positiver Selektion in einer Spezies ausbreiten können.« Die Unvereinbarkeit der Sichtweisen stand daher bald fest. In der realen Welt, die beide erklären wollten, scheinen die Organismen gut an die Er98
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
fordernisse ihrer jeweiligen Umwelt angepaßt zu sein. In The Origin of Species erklärte Darwin diese Anpassung damit, daß »die Arten sich durch die Beibehaltung und sukzessive Anhäufung geringfügiger vorteilhafter Variationen verändert haben und immer noch langsam verändern«. Genial war, daß Darwin eine Erklärung dafür hatte, wie es dazu kommt, daß Arten dafür „maßgeschneidert“ sind, in ihrer Umwelt zu funktionieren, nämlich durch den natürlichen Prozeß der Selektion. In The Origin of Species schrieb er am Schluß der Einleitung: »Ich bin davon überzeugt, daß die natürliche Auslese das wichtigste, aber nicht das einzige Mittel der Veränderung war.« Er zog also auch die Beteiligung anderer Faktoren an der Gestaltung der Welt in Betracht – einschließlich dessen, was man heute als neutrale Evolution bezeichnet –, maß ihnen jedoch nur untergeordneten Einfluß bei. In Anbetracht der Angepaßtheit der Lebewesen an ihre Welt ergibt Darwins Sichtweise intuitiv Sinn: Eine zu Angepaßtheit führende Selektion muß in der Evolution eine wichtige Rolle spielen. Kimura würde die Gewichtung jedoch umdrehen. Darwin paraphrasierend schrieb er kürzlich: »Ich bin davon überzeugt, daß auf neutrale Mutanten wirkende Zufallsdrift das wichtigste, aber nicht das einzige Mittel der molekularen Evolution war.« In der Auseinandersetzung geht es also um die relative Bedeutung von Selektion und neutraler Drift.
Voraussagen der Neutralitätstheorie Aufgrund ihrer mathematischen Einfachheit erlaubt die Neutralitätstheorie mehrere sichere, quantitative Vorhersagen über die Variation, und zwar hinsichtlich des Ausmaßes der in einer Population zu erwartenden Variation, der Geschwindigkeit, mit der sie sich ansammelt, sowie der Umstände, unter denen sie maximal sein müßte. Wissenschaftliche Theorien stehen oder fallen damit, ob ihre Vorhersagen der Überprüfung standhalten. Der Neutralitätstheorie zufolge ist das Ausmaß der in einer Population zu erwartenden Variation eine einfache Funktion der Mutationsrate sowie der sogenannten effektiven Populationsgröße. Errechnet man anhand dieser Formel die Variation oder Heterogenität einer Population, so ist das Ergebnis in der Regel höher als die tatsächlich beobachtete Variation. Die Anhänger der Neutralitätstheorie haben verschiedene Erklärungen für diese Diskrepanz. Eine von Tomoko Ohta, einem langjährigen Kollegen von Kimura, entwickelte Erklärung lautet beispielsweise, man solle Allele nicht als exakt neutral ansehen, sondern als nahezu neutral oder geringfügig schädlich. Die Selektion eliminiere diese schädlichen Allele und reduziere damit die Heterogenität der Population. Doch selbst wenn man diese modifizierte Formulierung der Neutralitätstheorie zugrundelegt, übersteigt die errechnete Variation die beobachtete. 99
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Eine andere mögliche Erklärung für die Diskrepanz lautet, daß die effektive Populationsgröße durchweg überschätzt wird, was die erwartete Variation künstlich steigert. Wenn eine Population über einen langen Zeitraum hinweg gleich groß bleibt, ist die effektive Populationsgröße mit der tatsächlichen identisch (hier ist eine ideale Population geschlechtsreifer Individuen vorausgesetzt, die sich alle in gleichem Maße fortpflanzen). In der Realität schwankt die Populationsgröße jedoch häufig, und zwar mitunter dramatisch, etwa infolge von Seuchen oder ungünstigen Veränderungen des Lebensraumes. Die effektive Populationsgröße ist daher eine Art Durchschnitt dieser Schwankungen. Das Ergebnis dieses und anderer Faktoren ist, daß die effektive Populationsgröße fast mit Gewißheit geringer ist als die tatsächliche Größe, und zwar mitunter erheblich. Diese Diskrepanz könnte erklären, warum die genetische Variation in Populationen geringer ist als erwartet. Das zu beweisen, ist allerdings sehr schwierig. Die Ergebnisse dieser Tests für die erste Vorhersage der Theorie machen auf einen kuriosen Umstand in der Auseinandersetzung zwischen Selektionisten und Neutralisten aufmerksam. Während die Selektionisten zu verstehen versuchten, weshalb das Ausmaß der Variation so hoch sein kann wie beobachtet, fragten sich die Neutralisten, warum es so gering ist. Die Geschwindigkeit, mit der sich genetische Variation akkumuliert, ist ein zentraler Punkt der Neutralitätstheorie. Wie wir noch sehen werden, führt er direkt zum Konzept einer molekularen Uhr der Evolution. Der Neutralitätstheorie zufolge ist die Akkumulationsgeschwindigkeit oder Akkumulationsrate der Variation eines bestimmten Moleküls einfach von der Rate abhängig, mit der es mutiert, das heißt mit der neutrale Allele fixiert werden. (Rufen Sie sich ins Gedächtnis, daß die Annahme, die Variation sammle sich mit konstanter, nur von der Mutationsrate abhängiger Geschwindigkeit an, der darwinistischen Sichtweise des Wandels widerspricht, derzufolge letztlich die Selektion darüber entscheidet, ob eines der nur selten neutralen Produkte der Mutation erhalten bleibt oder eliminiert wird.) Verschiedene Moleküle unterscheiden sich hinsichtlich des Ausmaßes an Veränderung, das sie tolerieren. Histone beispielsweise (Proteine, die mit der DNA in den Chromosomen einen Komplex bilden) tolerieren strukturelle Variation nur in geringem Maße, deshalb ist die Rate fixierter Mutationen bei ihnen niedrig; Hämoglobin dagegen toleriert beträchtliche Veränderungen (zumindest in Teilen des Moleküls) und hat daher eine sehr viel höhere Mutationsrate. Die unterschiedliche Toleranz gegenüber Mutationen hat verschiedene Implikationen. Erstens sagt die Neutralitätstheorie voraus, daß sich Mutationen an verschiedenen Genloci eines Organismus mit unterschiedlicher Geschwindigkeit akkumulieren. Zweitens müßte ihr zufolge dasselbe Gen bei verschiedenen Spezies die gleiche Rate fixierter Mutationen aufweisen. 100
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
Solche eindeutigen Vorhersagen müßten gegebenenfalls leicht falsifizierbar sein, und nach Ansicht mancher Beobachter wurden sie auch bereits falsifiziert. Es handelt sich hier um einen der angreifbarsten Punkte der Neutralitätstheorie, denn streng metronomartiges Verhalten ist nicht zu beobachten. Die Veränderungsrate eines Proteins unterscheidet sich oft von Art zu Art. Allerdings ist das beobachtete Ausmaß an uhrwerksartigem Verhalten wesentlich höher, als es die Selektionstheorie vorhersagen würde. Auch eine dritte Vorhersage bezieht sich auf die Veränderungsrate, ist aber spezifischer sowie abermals sehr gut prüfbar. Schon früh beschrieb Kimura die molekulare Evolution als der Neutralitätstheorie zufolge äußerst konservativ. Damit meinte er, daß Moleküle oder Molekülteile mit wichtiger Funktion sich langsamer verändern als unwichtige. Diese Ansicht stellt die darwinistische Sichtweise in Frage: Wenn die Selektion die treibende Kraft der Evolution ist, müßte die Evolutionsrate dort am höchsten sein, wo die Selektion am stärksten wirkt. Aus der darwinistischen Perspektive müßten Moleküle oder Teile von Molekülen, an die hohe funktionelle Ansprüche gestellt werden, sich am stärksten verändern, da die Selektion gerade an der Funktionalität angreift. Diese Vorhersage steht im genauen Gegensatz zu derjenigen der Neutralitätstheorie. Natürlich muß die natürliche Auslese das schützen, was funktioniert, und Mutationen, welche die Funktion eines Moleküls beeinträchtigen, eliminieren. Dieser Prozeß verlangsamt die Ansammlung von Veränderungen. Neutrale Mutationen, die keinen Einfluß auf die Funktionstüchtigkeit haben, sind für die Selektion unsichtbar und können sich mit maximaler Rate akkumulieren. Die Frage ist daher, ob die beobachtete maximale Veränderungsrate besser zu den vorhergesagten Effekten der Selektion oder zur Zufallsakkumulation neutraler Allele paßt. Die Antwort lautete eindeutig: zu letzterer, was stark für die Neutralitätstheorie spricht.
Wovon hängt die Veränderungsrate ab? Den ersten definitiven Beleg für die Vorhersage der Neutralitätstheorie, die Veränderungsrate werde mit zunehmenden Ansprüchen an die Funktion abnehmen, lieferten die Codons der DNA. Jedes dieser Nucleotidtripletts codiert eine Aminosäure, so daß ein Codonstrang eine Kette von Aminosäuren codiert, die ein Protein bilden. Im Zusammenhang mit der Neutralitätstheorie war die Entdeckung wichtig, was passiert, wenn eine Mutation eine Nucleotidsubstitution verursacht. Solche Substitutionen haben je nach ihrer Position im Codon unterschiedliche Folgen, was dazu führt, daß sich Mutationen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit akku101
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
4.8 Das Nucleotid an der dritten Position eines Codons kann in der Regel ausgetauscht werden, ohne daß sich dadurch die von dem Triplett codierte Aminosäure ändert. Man bezeichnet die dritte Codonposition als stumm und Mutationen an dieser Stelle als synonyme Mutationen. Das Diagramm illustriert die Häufigkeit solcher Mutationen: Wiedergegeben ist ein kurzer Abschnitt der Messenger-RNA von zwei Seeigelarten, der die Aminosäuren 24 bis 34 des Proteins Histon IV codiert.
mulieren. Nucleotidsubstitutionen an der ersten und zweiten Position eines Codons bewirken fast immer, daß eine andere Aminosäure codiert wird als zuvor. Dagegen verändert ein Austausch des Nucleotids an der dritten Position die codierte Aminosäure in der Regel nicht. Die dritte Position wird als stumm bezeichnet, ein Basenaustausch an dieser Stelle als synonyme Substitution. An dieser Position akkumulieren sich Mutationen etwa doppelt so schnell wie an der ersten und zweiten Codonposition, genau wie es die Neutralitätstheorie vorhersagt. Zu den interessantesten Ergebnissen der Molekularbiologie seit Mitte der siebziger Jahre gehört die Entdeckung von DNA-Abschnitten, die keinen funktionellen Zwängen unterliegen – das heißt nicht zur Codierung von Proteinen beitragen – und daher der Neutralitätstheorie zufolge eine hohe Substitutionsrate aufweisen müßten. Das erste Beispiel für solche DNAAbschnitte sind die sogenannten Introns (siehe Exkurs 2.2 auf Seite 42). Dabei handelt es sich um Sequenzen, welche die codierenden (funktionellen, informationshaltigen) Bereiche eines Gens – die sogenannten Exons – voneinander trennen. Im Verlauf der Transkription von DNA in Messenger-RNA werden die Introns herausgeschnitten und (zum größten Teil) abgebaut. In den nicht codierenden Introns sammeln sich Mutationen schneller an als in Exons, unter bestimmten Umständen mit einer Geschwindigkeit, die der an der stummen dritten Codonposition vergleichbar ist. Das zweite Beispiel für DNA-Abschnitte, die keinen funktionellen Zwängen unterliegen, sind die sogenannten Pseudogene. Sie gehen, wie bereits beschrieben, durch Genduplikation aus funktionstüchtigen Genen hervor. Bei der Duplikation entstehen oft Gene ohne Introns und assoziierte regulatorische Sequenzen. Solche duplizierten Gene können keine Proteine codieren, daher die Bezeichnung Pseudogen. Anfang der achtziger Jahre entdeckte man bei Untersuchungen eines Globin-Pseudogens Substitutionsraten, die fünfmal höher waren als die funktionstüchtiger Globingene. Außerdem bestand in den Pseudogencodons kein Unterschied zwischen
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4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
der Substitutionsrate an den ersten beiden Positionen und an der dritten Position. Ein besonders interessantes Beispiel dafür, was geschieht, wenn ein Gen von funktioneilen Zwängen befreit wird, wurde Ende der achtziger Jahre bekannt. Es handelt sich um das alpha-A-Kristallingen der EhrenbergBlindmaus (Spalax ehrenbergi). Bei vielen Tieren codiert dieses Gen ein Protein, das an der Bildung der Augenlinse beteiligt ist. Blindmäuse führen ein unterirdisches Leben und kommen selten, wenn überhaupt jemals ans Tageslicht. Sie besitzen rudimentäre Augen, sind aber völlig blind. Der Neutralitätstheorie zufolge müßten sich in ihrem alpha-A-Kristallingen schneller Mutationen akkumulieren als in den entsprechenden Genen verwandter, sehtüchtiger Nager, da das Produkt dieses Gens nicht benötigt wird. Es wurde nachgewiesen, daß dies tatsächlich der Fall ist: Die Mutationsrate ist viermal so hoch. Sie ist allerdings nicht so hoch wie die von Pseudogenen, was vielleicht verständlich ist. Immerhin wird das alpha-AKristallingen der Blindmäuse exprimiert (das heißt transkribiert und in ein Protein translatiert), Pseudogene dagegen nicht. Das alpha-A-Kristallingen der Ehrenberg-Blindmaus gehört zu einer Gruppe zusammenwirkender Gene, die während der Individualentwicklung eine definierte Struktur – das Auge – bilden, ganz gleich wie rudimentär diese auch sein mag. Das Gen unterliegt also gewissen funktionellen Zwängen, die vielleicht für seine gegenüber den Pseudogenen geringere Mutationsrate verantwortlich sind. Einen letzten Beleg, der die Neutralitätstheorie stützt, liefern die RNAViren. Diese Viren, zu denen zum Beispiel das Grippevirus gehört, haben im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen kein Genom aus DNA, sondern aus RNA. Rufen Sie sich ins Gedächtnis, daß die Neutralitätstheorie besagt, die meisten Mutationen seien selektionsneutral und müßten sich daher in Populationen ansammeln, statt von der Selektion eliminiert zu werden. (Die Häufigkeit der Varianten nimmt dann durch genetische Drift zufällig zu oder ab.) Das bedeutet, daß Mutationen sich zunächst mit einer Rate in der Population ansammeln, die nahezu der Rate ihres Auftretens entspricht – ein Effekt, den man als Mutationsdruck bezeichnet. Im Gegensatz dazu sind die Selektionisten der Meinung, daß Mutationen sich nur ansammeln, wenn sie gegenüber existierenden Varianten selektiv begünstigt sind. Der Neutralitätstheorie zufolge müßten Organismen, die von Natur aus eine höhere Mutationsrate haben, auch schneller neue Varianten akkumulieren. Die natürliche Mutationsrate von RNA-Viren ist sehr viel höher als die von DNA-Viren. Die Beobachtung, daß RNA-Viren Mutationen mit einer ähnlich erhöhten Rate akkumulieren, steht daher im Einklang mit der Neutralitätstheorie. Alles in allem unterscheidet sich die molekulare Evolution Kimura zufolge in zwei Punkten von der anatomischen Evolution: in ihrer konstanten Geschwindigkeit und ihrer Konservativität.
4.9 Blindmäuse, die in dunklen Bauen leben, besitzen nur rudimentäre Augen. Das Gen für alpha-A-Kristallin, ein Protein der Augenlinse, ist von funktionellen Zwängen befreit, allerdings nicht vollständig.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Selektion und Neutralität dominieren auf verschiedenen Ebenen Die Neutralitätstheorie wurde von Populationsgenetikern anfangs massiv kritisiert, weil sie so sehr im Widerspruch zu der Sichtweise stand, welche die Selektionisten von der Evolution haben. Innerhalb nur eines Jahrzehnts war sie jedoch nicht nur als ernstzunehmende Alternative zur Theorie der Selektionisten anerkannt, sondern hatte sich sogar zur vorherrschenden Theorie entwickelt. Beispielsweise schrieb John Gillespie, ein Evolutionsbiologe an der University of California in Davis und einer der schärfsten Kritiker der Neutralitätstheorie, vor etwa einem Jahrzehnt: »Die Neutralitätstheorie ... hat die Populationsgenetik, die Molekularbiologie und unsere Vorstellungen von der Evolution enorm beeinflußt.« Tatsächlich wurde diese Theorie zur Nullhypothese der molekularen Evolution – das heißt zur einfachsten Möglichkeit, die genetische Variation auf molekularer Ebene zu erklären, sowie zu der Hypothese, deren Vorhersagen zu widerlegen sind, bevor man die Alternative (die balancierende Evolution) ernsthaft in Betracht ziehen sollte. Gillespie und andere kritisieren die Theorie jedoch weiterhin, hauptsächlich weil man sehr oft beobachtet hat, daß die Geschwindigkeit, mit der sich genetische Variation akkumuliert, nicht konstant ist. Besser als durch stetige Akkumulation läßt sich die beobachtete Rate nach Ansicht von Gillespie dadurch erklären, daß es gelegentlich, von der Selektion getrieben, zu besonders starker Akkumulation von Substitutionen kommt. Kimura bezeichnet dieses Schema als „höchst unrealistisch“, da seiner Meinung nach in der molekularen Welt genügend uhrwerkartiges Verhalten beobachtet wurde, um postulieren zu müssen, daß die Selektion in verschiedenen Linien mit derselben Wahrscheinlichkeit hätte auftreten müssen. Diese Meinungsverschiedenheit ist noch nicht beigelegt, wenngleich unter Genetikern die Anhänger der Neutralitätstheorie in der Mehrzahl sind. Gillespie und andere Kritiker der Neutralitätstheorie bezweifeln, daß ein signifikanter Anteil – beispielsweise zehn Prozent – der Nucleotide an einem Genlocus ausgetauscht werden kann, ohne daß sich dies auf die Funktion auswirkt. »Das behauptet die Theorie der neutralen Allele«, stellte Gillespie fest. Wenn die Theorie jedoch so völlig falsch ist, so fragte er, »warum ist sie dann die Theorie der molekularen Evolution mit den meisten Anhängern?« Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist die natürliche Auslese auf der molekularen Ebene außerordentlich schwer zu definieren, vor allem in Anbetracht der extremen Komplexität des Genoms und seiner Veränderungsmechanismen. Zweitens hat die Neutralitätstheorie einen deutlichen Vorteil, was ihre mathematische Beschreibung betrifft. Sie läßt 104
4. DAS RÄTSEL DER GENETISCHEN VARIATION
sich durch einfache, überprüfbare Gleichungen beschreiben, während die Selektionstheorie sich bisher einer solchen Beschreibung entzieht. Vielleicht gelingt es uns, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu betrachten, wenn wir uns nochmals dem oben zitierten Satz von Darwin und Kimuras Paraphrase zuwenden. Darwin nahm an, daß die natürliche Auslese für die meisten, jedoch nicht alle evolutionären Veränderungen verantwortlich ist, während Kimura die Ansicht vertritt, daß neutrale Evolution für die meisten, jedoch nicht alle derartigen Veränderungen verantwortlich ist. Fragen wir uns nun, in welchem evolutionären Kontext diese Aussagen stehen. Darwin sprach über Organismen in ihrer jeweiligen Umwelt und über ihre Angepaßtheit an diese Umwelt. Kimura dagegen sprach über organische Moleküle (insbesondere DNA) in ihrer Umwelt und darüber, wie diese Moleküle sich verändern. In den beiden Aussagen geht es um verschiedene Welten. Kimura hat höchstwahrscheinlich recht, wenn er behauptet, daß auf der Ebene des Gens von Mutationen angetriebene neutrale Evolution dominiert. Auf höheren Ebenen jedoch – bei Organismen und den Populationen, in denen sie leben – spielt die Selektion offensichtlich eine wichtige, vielleicht dominierende Rolle für den Verlauf der Evolution. Der relative Beitrag von Selektion und Neutralität unterscheidet sich also je nach der betrachteten Ebene der Evolution. Populationsgenetikern sind daher zwei wichtige Tatsachen über die Variation auf der Ebene des Gens bekannt: Sie ist ausgeprägt, und sie ist zu einem erheblichen Teil zufallsbedingt. Im nächsten Kapitel geht es um die Geschwindigkeit, mit der sich Variation akkumuliert.
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5.1 Der Pfeilschwanzkrebs, ein sogenanntes lebendes Fossil, hat sich seit vielen Millionen Jahren morphologisch nicht verändert. Die Existenz solcher Arten deutet darauf hin, daß die Geschwindigkeit der morphologischen Evolution äußerst variabel ist, selbst wenn sich Mutationen in den entsprechenden Genen vielleicht mit gleichmäßigerem Tempo ansammeln.
Die molekulare Uhr der Evolution
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ie molekulare Uhr gehört zu den einfachsten und stärksten Konzepten der Evolutionsbiologie. Gleichzeitig ist sie eines der umstrittensten. Das Konzept läßt sich folgendermaßen umreißen. Wenn aus einem gemeinsamen Vorfahren neue Arten hervorgehen, akkumulieren sie Mutationen mit konstanter Geschwindigkeit, und so entsteht zwischen ihnen ein immer größerer genetischer Unterschied. Anhand des genetischen Unterschieds zwischen zwei verwandten Arten läßt sich daher im Prinzip der Zeitraum berechnen, der verstrichen ist, seit ihr gemeinsamer Vorfahre lebte. Die molekulare Uhr erweitert die Stammbäume, welche die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten zeigen, also um die zeitliche Dimension. Biologen, die die molekulare Uhr verwenden, stehen vor einem Dilemma: Sie haben bewiesen, daß diese Uhr (manchmal) funktioniert, aber sie wissen nicht genau, was sie ticken läßt. Es ist, als hätte man seinen Tagesablauf jahrelang nach der altehrwürdigen Rathausuhr gerichtet. Eines Tages beschließt man, sich einmal den Mechanismus anzuschauen, der die Uhr in all diesen Jahren so zuverlässig gehen ließ (jedenfalls die meiste Zeit). Man erklimmt die Stufen des Rathausturmes, öffnet die Türen zum Uhrgehäuse und erblickt nichts außer Taubenfedern, toten Ratten und anderem Unrat – nichts, was die Zeiger der Uhr in gleichmäßige Bewegung versetzen könnte. Natürlich schließt man daraus, daß die Uhr nicht funktionieren kann – es sei denn, man weiß, daß sie es doch tut. Dieser Vergleich ist nur wenig übertrieben. Das Wissen, daß die gleichen Proteinmoleküle verschiedener Spezies sich voneinander unterscheiden – und die Folgerung, daß der Unterschied um so größer ist, je länger ihre stammesgeschichtliche Trennung zurückliegt –
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
5.2 Nach einem Artbildungsereignis akkumulieren sich Mutationen in den Genen der getrennten Linien unabhängig voneinander. Dargestellt sind die Mutationen in einem Gen A, dessen Sequenz in den beiden Linien allmählich divergiert, wodurch A und A’ entstehen. Obwohl die Mutationsrate in beiden Linien unabhängig voneinander schwankt, ergibt sich, über längere Zeiträume betrachtet, ein ähnlicher Wert. In diesem Fall haben sich im dargestellten Zeitraum in der einen Linie fünf, in der anderen sechs Mutationen angesammelt. Insgesamt unterscheiden sich A und A’ also durch elf Mutationen.
ist alles andere als neu. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts verglichen E. T. Reichert und A. P. Brown vom Carnegie Institute of Washington die Kristallstruktur des Proteins Globin von verschiedenen Arten. Wie sie herausfanden, gibt es bei Spezies, die derselben Gattung oder mitunter auch derselben Familie angehören, strukturelle Übereinstimmungen, bei Arten aus verschiedenen Gattungen beziehungsweise Familien dagegen nicht. Etwa zur gleichen Zeit zeigte der britische Biologe H. F. Nuttall, daß bestimmte immunologische Eigenschaften mancher Blutproteine sich um so stärker unterscheiden, je entfernter die betreffenden Arten miteinander verwandt sind. Nuttalls Interesse galt unter anderem den Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Menschen und Affen. Dieser Forschungsansatz wurde von verschiedenen Labors mit Unterbrechungen bis in die sechziger Jahre hinein fortgeführt. Beispielsweise zeigte Morris Goodman von der Wayne State University, wie wir bereits gesehen haben, Anfang der sechziger Jahre anhand immunologischer Eigenschaften von Blutproteinen, daß die afrikanischen Menschenaffen (Schimpanse und Gorilla) nahe mit dem Menschen verwandt sind, während zum asiatischen Orang-Utan eine entferntere, und zwar für alle drei Arten etwa gleich entfernte Verwandt108
5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
schaft besteht. Bei all diesen Arbeiten ging man davon aus, daß sich im Laufe der Evolution in homologen Proteinen (das heißt in Proteinen mit demselben stammesgeschichtlichen Ursprung) verschiedener Spezies Mutationen angesammelt haben, nicht jedoch davon, daß dies mit gleichmäßiger Geschwindigkeit geschah. Dieser Ansatz hat gezeigt, daß man genetische Unterschiede zwischen Arten grundsätzlich zur stammesgeschichtlichen Rekonstruktion verwenden kann, ganz gleich ob die Rate, mit der sich Mutationen akkumulieren, konstant ist oder nicht, vorausgesetzt, sie schwankt nicht völlig regellos. Die Vorstellung, daß die Rate konstant (das heißt dem Gang eines Uhrwerks vergleichbar) sein könne, entwickelten Emile Zuckerkandl und Linus Pauling Anfang der sechziger Jahre am California Institute of Technology. In Zusammenarbeit mit Richard T. Jones, einem Studenten Paulings, behandelte Zuckerkandl die Familie der Hämoglobine mehrerer Tierarten mit einem Verdauungsenzym (Trypsin), das diese Moleküle aufspaltet; die entstandenen Fragmente wurden in einem Gel in zwei Dimensionen getrennt. Wann immer sich Unterschiede im Fragmentmuster zweier Proteine oder Arten zeigten, das wußten die Wissenschaftler, waren auch Aminosäurezusammensetzung und -sequenz verschieden. Im Jahre 1960 berichteten Zuckerkandl und Pauling, die Ergebnisse dieser Untersuchungen deuteten auf eine nahe Verwandtschaft zwischen dem Menschen und den afrikanischen Menschenaffen hin, während die Verwandtschaft mit dem asiatischen Menschenaffen offenbar entfernter sei. Dies war mehrere Jahre, bevor Goodman, ausgehend von seiner Forschungsarbeit mit immunologischen Methoden, die gleiche Schlußfolgerung veröffentlichte. Diese frühe Arbeit mit tryptischen Spaltungen und mehr noch Daten aus (in den fünfziger Jahren begonnenen) Untersuchungen, in denen die Aminosäuresequenz von Hämoglobinen bestimmt wurde, veranlaßten Zuckerkandl zu der Schlußfolgerung, die Anzahl der Aminosäuresubstitutionen sei der Zeitspanne, die seit der Trennung der jeweiligen Linien verstrichen ist, direkt proportional. In den Hämoglobinketten betrug die Rate etwa eine Aminosäuresubstitution pro Million Jahre. Diesen Wert hatte Zuckerkandl anhand des aus fossilen Zeugnissen bekannten Zeitpunktes großer stammesgeschichtlicher Aufzweigungen errechnet. Die Vorstellung von einer molekularen Uhr der Evolution wurde daher Anfang des Jahres 1961 formuliert, wenn auch erst 1965 in einem Aufsatz von Zuckerkandl und Pauling als solche im einzelnen erläutert. Es war, wie bereits erwähnt, unter anderem dem Einfluß dieser Veröffentlichung zu verdanken, daß Motoo Kimura zwei Jahre später seine Neutralitätstheorie entwickelte. Die Vermutung, die Evolution der Proteine schreite gleichmäßig voran wie die Zeiger einer Uhr, wurde aus guten Gründen nicht wohlwollend aufge109
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
5.3 Links: Emile Zuckerkandl ist ein Pionier auf dem Gebiet der molekularbiologischen Evolutionsforschung. Neben anderen innovativen Gedankengängen entwickelte er auch das Konzept der molekularen Uhr. Rechts: Der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling arbeitete am California Institute of Technology mit Zuckerkandl zusammen.
nommen. Damals herrschte unter Biologen die Ansicht vor, in der Evolution gebe es keinerlei Regelmäßigkeit. Diese Ansicht basierte zum einen auf Beobachtungen und war zum anderen eine Reaktion auf eine frühe, mittlerweile verworfene Theorie über einen gerichteten Verlauf des evolutionären Wandels, die sogenannte Orthogenese. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts glaubten einige Biologen, der evolutionäre Wandel werde unerbittlich und gleichmäßig in eine bestimmte Richtung vorangetrieben, und zwar mitunter mit unglücklichem Ausgang. So nahm man an, Säbelzahntiger seien ausgestorben, weil ihre langen Fangzähne von Generation zu Generation immer länger geworden seien, so daß die Katzen schließlich das Maul nicht mehr schließen konnten. Von bestimmten austernartigen Muscheln (Gryphaea) glaubte man, sie seien ihrer eigenen Evolution zum Opfer gefallen, die ihren Schalen eine Windung zuviel verliehen hätte, so daß sie sich in einem selbstgemachten Gefängnis wiederfanden. Die Orthogenese führte jedoch nicht immer zu unheilvollen Ergebnissen. Die menschliche „Überlegenheit“ und „Vorherrschaft“ über den Rest der Natur galten als zwangsläufiges Resultat einer gerichteten Evolution zu immer höherer Intelligenz. In den fünfziger Jahren hatte man das Konzept der Orthogenese bereits verworfen, nicht zuletzt weil es in deutlichem Widerspruch zur beobachteten natürlichen Welt stand. Die Geschwindigkeit der morphologischen Evolution ist in verschiedenen Linien offensichtlich extrem verschieden. Allein die Existenz sogenannter lebender Fossilien, die sich, wie beispielsweise die Pfeilschwanzkrebse, seit sehr langer Zeit – bis zu mehreren hundert Millionen Jahren – morphologisch nicht verändert haben, reicht hin, um die Theorie von der Orthogenese zu widerlegen.
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5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Schon Anfang der sechziger Jahre galt das Tempo der morphologischen Evolution daher als äußerst variabel, sowohl innerhalb einzelner Abstammungslinien als auch zwischen ihnen. Und, wie Zuckerkandl vor kurzem bemerkte: »Die Diversität der Geschwindigkeit der morphologischen Evolution war in den Augen der Biologen das stärkste Argument gegen eine ernsthafte Erwägung der Möglichkeit, daß abgestufte Unterschiede zwischen informationshaltigen Makromolekülen [Proteinen und DNA] proportional zur Evolutionsdauer sein könnten.« Mit anderen Worten war die Meinung verbreitet, es könne keine molekulare Uhr der Evolution geben, weil die Evolution in keinem der damals betrachteten Gebiete wie eine Uhr funktioniert. Der Unterschied zwischen Strukturgenen, die Proteine und verschiedene an der Proteinsynthese beteiligte RNA-Moleküle codieren, und Regulatorgenen, welche die Aktivitäten anderer Gene koordinieren, wurde zu diesem Zeitpunkt nicht richtig eingeschätzt. Mutationen in Regulatorgenen führen, wie wir bereits gesehen haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen morphologischen Veränderungen des Organismus. Dagegen haben Substitutionen in Strukturgenen oft keinen oder nur geringen Einfluß auf die Morphologie. Daher kann die Geschwindigkeit der morphologischen Evolution infolge gelegentlicher Veränderungen von Regulationsmechanismen äußerst ungleichmäßig sein, während sich in den für die Morphologie verantwortlichen (Struktur- und Regulator-) Genen mit konstanter Rate Mutationen ansammeln können.
5.4 Vom Säbelzahntiger wurde fälschlicherweise angenommen, sein Aussterben sei die Folge einer unerbittlichen Größenzunahme seiner Fangzähne im Laufe der Evolution gewesen. Der hypothetische Prozeß, auf den man diese schädliche Veränderung zurückführte, wurde als Orthogenese bezeichnet.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Nach der Arbeit über die Evolution von Hämoglobin wurde im nächsten wichtigen Forschungsprojekt, in dem man molekularbiologische Daten zur Analyse phylogenetischer Beziehungen heranzog, Cytochrom c untersucht, ein Protein, das bei allen Lebewesen am Energiestoffwechsel beteiligt ist. Im Jahre 1967 verglichen Walter Fitch und Emmanuel Margoliash, die damals an der University of Wisconsin arbeiteten, die Aminosäuresequenz des Cytochrom c von 20 Spezies, darunter der Mensch, Affen, Enten, eine Klapperschlange, ein Fisch und verschiedene Mikroorganismen. Sie konnten einen Stammbaum rekonstruieren, der mit wenigen Ausnahmen dem entsprach, was man durch vergleichende Morphologie abgeleitet hatte – eine bemerkenswerte Leistung für Wissenschaftler, die dazu auf Informationen über nur ein Protein zurückgegriffen hatten. Diese Arbeit war ein Meilenstein in der Entwicklung der Molekularphylogenetik. Zur ersten echten Überprüfung der Frage, ob sich solche Daten als molekulare Uhr verwenden lassen, kam es jedoch, als Allan Wilson und Vincent Sarich von der University of California in Berkeley im selben Jahr an die Arbeit von Morris über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Mensch und Menschenaffen anknüpften. Mit Hilfe einer ähnlichen Methode wie der von Goodman verwendeten gingen Wilson und Sarich über die Ziele der Phylogenetik, die nur die Form des Stammbaumes ableiten will, hinaus und berechneten die Länge der Zweige (also Zeiträume). Dazu eichten sie die molekulare Uhr, indem sie durch fossile Zeugnisse belegte Zeitspannen, die seit der Trennung bestimmter Linien vergangen sind, zum heutigen genetischen Unterschied zwischen Angehörigen dieser Linien in Beziehung setzten. Wilson und Sarich kamen zu dem Schluß, daß die Hominiden und die afrikanischen Menschenaffen vor etwa fünf Millionen Jahren einen letzten gemeinsamen Vorfahren hatten. Wie bereits in einem der vorigen Kapitel erwähnt, war diese Behauptung äußerst unpopulär. Der damaligen anthropologischen Lehrmeinung zufolge hatte die Aufzweigung je nach Interpretation der fossilen Zeugnisse vor mindestens 15, vielleicht sogar vor 30 Millionen Jahren stattgefunden. Man argumentierte außerdem, Wilson und Sarich könnten nicht recht haben, weil es keine (damals anerkannte) Grundlage dafür gebe, an die Existenz einer zuverlässigen molekularen Uhr zu glauben.
5.5 Allan Wilson war ein Pionier bei der Anwendung molekularbiologischer Methoden auf evolutionsbiologische Fragestellungen.
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Während der darauffolgenden Jahrzehnte haben viele Wissenschaftler sich mit demselben phylogenetischen Thema befaßt und dabei unter anderem Daten über eine Vielzahl verschiedener Proteine und DNAs genutzt. Berechnungen, denen das Konzept der molekularen Uhr zugrundelag, ergaben für den Zeitpunkt der Aufspaltung in Menschen und Menschenaffen stets ähnliche Ergebnisse wie das von Wilson und Sarich. Auch die Anthropologen, die die vorhandenen Daten über Fossilfunde neu bewertet und neuentdeckte Fossilien in ihre Berechnungen einbezogen haben, datieren die Aufzweigung nun auf einen Zeitpunkt, der nahe bei fünf Millionen
5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Jahren vor der Gegenwart liegt. Damit gibt es also anscheinend eine molekulare Uhr! (Genaugenommen eine Reihe von Uhren: Jedes der untersuchten Protein- und DNA-Moleküle stellt eine eigene Uhr dar.) Wenn die molekulare Evolution mit konstanter Geschwindigkeit voranschreiten kann und damit einer Uhr vergleichbar ist, wie es hier der Fall zu sein scheint, ist es wichtig, den diesem Prozeß zugrundeliegenden Mechanismus zu kennen. Die im vorigen Kapitel beschriebene Neutralitätstheorie der Evolution bietet einen solchen Mechanismus an und erlaubt außerdem Vorhersagen, die seine wissenschaftliche Überprüfung ermöglichen. Kimura beschrieb die Situation vor kurzem folgendermaßen: »Der Neutralitätstheorie der Evolution zufolge müßte eine universell gültige und exakte molekulare Uhr der Evolution existieren, wenn die Mutationsrate für neutrale Allele eines bestimmten Moleküls pro Jahr bei allen Organismen und zu jedem Zeitpunkt exakt gleich wäre.« Abweichungen von dieser hypothetischen Übereinstimmung in der Rate der neutralen Mutationen – hervorgerufen entweder durch eine Veränderung der Mutationsrate (etwa infolge von Unterschieden in der Generationsdauer) oder durch Veränderungen in der natürlichen Auslese, durch die beispielsweise eine zuvor neutrale Sequenz mit einem Mal einen Selektionsvorteil mit sich brächte – würden die Genauigkeit der Uhr beeinträchtigen.
5.6 Vincent Sarich tat sich Mitte der sechziger Jahre mit Allan Wilson zusammen und brachte die Anthropologen – nach erheblichen Kontroversen – bald dazu, ihre Annahmen über den Zeitpunkt des Ursprungs der Hominiden in Frage zu stellen.
An dieser Stelle ist festzuhalten, daß die molekulare Uhr selbst dann keine metronomische, Jahr für Jahr gleichmäßig tickende Uhr wäre, wenn alle Mutationen völlig selektionsneutral wären. Vielmehr wäre sie eine stochastische Uhr, die der Wahrscheinlichkeit von Mutationen in einem bestimmten Molekül über die Jahre hinweg folgen würde. Über die Zeit gemittelt können solche stochastischen Uhren dennoch äußerst genau gehen. Metronomische Uhren „ticken“ regelmäßig: Im Kontext der Evolution könnte eine solche Uhr beispielsweise alle tausend Jahre einmal ticken, so daß nach fünf Millionen Jahren 5000 Ticks in gleichmäßigen Abständen aufgetreten wären. Stochastische Uhren dagegen gehen nicht gleichmäßig, zumindest kurzfristig betrachtet. Über fünf Millionen Jahre hinweg könnte eine solche Uhr zum Beispiel während der ersten Jahrmillion bloß 500mal ticken, während der zweiten 1500mal, während der dritten 1000mal, während der vierten 300mal und während der fünften 1700mal. Nach Ablauf der gesamten Zeit hätte die stochastische Uhr jedoch die gleiche Anzahl von Ticks (oder evolutionären Veränderungen in Form von Mutationen) aufgezeichnet wie die metronomische Uhr, auch wenn diese Ticks sich mit ungleichmäßigem Tempo angesammelt hätten. Der Durchschnitt über fünf Millionen Jahre wäre bei beiden Uhren der gleiche. Ein wichtiger, von Verfechtern des Konzepts der molekularen Uhr zu oft übersehener Punkt dabei ist, daß die Genauigkeit stochastischer Uhren mit der gemessenen Zeitspanne zunimmt. Das Prinzip ist das gleiche wie beim Werfen einer Münze. Bei sechs Würfen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, beispielsweise zweimal Kopf und viermal Zahl zu erzielen, das heißt 33 Prozent 113
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
5.7 Die molekulare Uhr der Evolution „tickt“ nicht wie ein Metronom, sondern ihre Geschwindigkeit schwankt. Messungen des evolutionären Wandels ergeben daher Durchschnittswerte des Wandels über die Zeit. Es handelt sich um eine stochastische Uhr, die in evolutionsbiologischen Untersuchungen dennoch sehr hilfreich sein kann.
Kopf und 66 Prozent Zahl. Bei tausend Würfen dagegen wird die Verteilung sehr nah an 50:50 liegen, was der statistischen Wahrscheinlichkeit entspricht. Über einen längeren Zeitraum (mehr Würfe) werden zufallsbedingte Abweichungen von diesem Wert ausgeglichen. Über kurze Zeiträume können stochastische Uhren jedoch sehr ungenau sein. Selbst wenn bei der Ansammlung von Mutationen keine strikte Neutralität gegeben ist – sondern die Selektion eine wichtige, wenn auch schwankende Rolle spielt –, ist ein uhrenartiges Verhalten möglich. Über die Zeit gemittelt kann auch eine schwankende Mutationsrate ein brauchbares Maß für die Zeit ergeben. Entscheidend sind die jeweiligen Anforderungen. Wenn 99prozentige Genauigkeit gefordert ist, mag es sein, daß eine molekulare Uhr dieser Aufgabe nicht gewachsen ist; reicht jedoch 80prozentige Genauigkeit aus – wie es in der Biologie, wo es keine andere Möglichkeit der Zeitmessung gibt, oft der Fall ist –, dann kann sich eine solche Uhr, wie ungleichmäßig sie auch gehen mag, als brauchbar erweisen. Wie wir bereits gesehen haben, steht fest, daß die Mutationsraten verschiedener DNA-Sequenzen sich erheblich unterscheiden. Dies ist oft, jedoch nicht immer, die Folge unterschiedlicher funktioneller Zwänge: Manche, aber nicht alle Sequenzen können verändert werden, ohne daß die Funktion des entsprechenden Proteins beeinträchtigt wird. Manchmal beruhen die Unterschiede in der Mutationsrate auf unterschiedlicher Effizienz der DNA-Reparaturmechanismen. Diese unterschiedlichen Mutationsraten zeigen sich auf verschiedenen Ebenen des Genoms. So sind Mutationen innerhalb von Codons an der stummen dritten Position sehr viel häufiger als an den ersten beiden Positionen. Innerhalb eines Gens ist die Mutationsrate in Regionen, die starken funktioneilen Zwängen unterliegen, niedriger 114
5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
als in Abschnitten, auf die schwächere Zwänge wirken. In den Globingenen beispielsweise werden Mutationen, die das Innere des reifen, globulären Proteins verändern, weniger leicht toleriert als solche, die Auswirkungen auf die Außenseite des Proteins haben, weil das Innere das aktive Zentrum für die Sauerstoffbindung bildet. Die verschiedenen Gene eines Lebewesens mutieren mit unterschiedlicher Rate, je nachdem welcher Anteil des codierten Proteins modifiziert werden kann, ohne daß dieses seine Funktionstüchtigkeit einbüßt: Wie bereits erwähnt, tolerieren Histone nur geringfügige Modifikationen, Hämoglobin dagegen sehr viel stärkere – ein Unterschied, der sich in der Mutationsrate widerspiegelt. Die Gene für die an der Proteinsynthese beteiligten Ribosomen unterliegen ebenfalls starken Zwängen und mutieren nur langsam. Auf Introns und Pseudogene wirken, wenn überhaupt, nur sehr schwache Zwänge, und so ist ihre Mutationsrate hoch. Schließlich mutieren auch die verschiedenen Genome eines Organismus mit unterschiedlicher Rate. In Eukaryotenzellen enthält der Zellkern zwar den größten Teil der genetischen Information, aber im Cytoplasma gibt es Organellen, die ebenfalls Genome besitzen: bei Tieren beispielsweise die Mitochondrien, bei Pflanzen Mitochondrien und Chloroplasten. Die Evolution der Mitochondrien-DNA verläuft in der Regel etwa zehnmal so schnell wie die der Kern-DNA, und diese wiederum ist um ein Mehrfaches schneller als die Evolution der Chloroplasten-DNA. Es ist gut möglich, daß diese Unterschiede auf eine unterschiedliche Effizienz der DNAReplikation und -reparatur in Organellen und Zellkern zurückzuführen sind. Die Unterschiede (in der Mutationsrate) lassen sich zum größten Teil mit der Neutralitätstheorie in Einklang bringen. Überdies sind die unterschiedlichen Raten, mit denen sich Mutationen in verschiedenen DNA-Typen
5.8 Die Rate, mit der sich Mutationen ansammeln, ist bei verschiedenen DNA-Typen sehr unterschiedlich. Damit stehen für evolutionsbiologische Untersuchungen potentielle Uhren zur Verfügung, die verschiedene Zeiträume abdecken. Sehr lange zurückliegende Aufspaltungen lassen sich am besten mit langsam mutierender DNA (wie ribosomaler DNA – DNA des Zellkerns, die ribosomale RNA codiert) untersuchen, während für Aufzweigungen in jüngerer Zeit schnell veränderliche DNA (wie Mitochondrien-DNA) am besten geeignet ist. In proteincodierenden Genen der Kern-DNA sammeln sich Mutationen mit mittlerer Geschwindigkeit an. Generell verändern sich Exons langsamer als Introns, und die Evolution von Pseudogenen kann aufgrund fehlender Zwänge schnell verlaufen.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
akkumulieren, für die Forschung nützlich, denn mit ihrer Hilfe lassen sich Vergleiche über verschieden lange Zeiträume hinweg anstellen. Dazu wählt man einfach eine molekulare Uhr, die mit der passenden Geschwindigkeit „tickt“. Wenn es beispielsweise um eine phylogenetische Frage geht, die Vergleiche über mehrere hundert Millionen Jahre erfordert, ist eine sehr langsam gehende Uhr – wie die ribosomalen Gene – am besten geeignet. Dagegen benötigt man für phylogenetische Vergleiche über kurze Zeiträume, etwa einige zehntausend Jahre, eine schnell gehende Uhr, wie zum Beispiel bestimmte Regionen des Mitochondriengenoms.
Eine Uhr für alle Spezies? Die zentrale Frage in bezug auf die Neutralitätstheorie selbst sowie im Zusammenhang mit der molekularen Uhr der Evolution ist nicht, ob verschiedene Gene unterschiedlich schnell mutieren, sondern ob identische Gene in verschiedenen Linien mit der gleichen Rate mutieren. Hunderte von Proteinen und Genen aus zahlreichen Arten wurden sequenziert, um dieser Frage, deren Beantwortung im Prinzip einfach erscheint, nachzugehen. Es gab jedoch eine jahrelange Auseinandersetzung darüber, wie die Flut der so produzierten Daten zu interpretieren sei. Manche Wissenschaftler waren der Ansicht, es gebe in der Tat eine universelle Mutationsrate, sowohl in Kern- als auch in Mitochondrien-DNA, andere meinten eine Variabilität der Rate zu erkennen. Inzwischen steht fest, daß die Rate tatsächlich von Linie zu Linie variiert, allerdings nicht so stark, wie manche Forscher erwartet hatten. Beispielsweise erstellte Roy Britten vom California Institute of Technology im Jahre 1986 einen Überblick über die Befunde aus DNA-DNAHybridisierungen, in denen über 20 Arten verglichen worden waren, und fand dabei eine Schwankung der Mutationsrate um den Faktor fünf. Am geringsten ist die Rate bei den höheren Primaten (vor allem bei den Hominoiden – Menschenaffen und Menschen); ebenfalls niedrig ist sie in manchen Vogellinien. Eine höhere Mutationsrate findet man bei Nagetieren, Seeigeln und bei Drosophila. Bei der Untersuchung von Daten über synonyme Substitutionen in 25 Genen bei 29 Arten ermittelte Britten ähnliche Unterschiede in der Geschwindigkeit, mit der sich Mutationen akkumulieren. Sein Datenüberblick kann als typisch für den derzeitigen Konsens gelten. Warum unterscheiden sich die Mutationsraten? Britten nimmt an, daß die Gruppen mit niedrigen Raten effizientere DNA-Reparaturmechanismen besitzen, welche die bei der DNA-Replikation aufgetretenen Fehler eliminieren. Andere haben argumentiert, Arten mit sehr kurzer Generations116
5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
dauer – etwa Mäuse im Gegensatz zu Menschen – müßten höhere Mutationsraten aufweisen, weil sich bei ihnen häufiger Gelegenheit für das Auftreten von Fehlern bei der Weitergabe von Genen von Generation zu Generation bietet. Zwar ist die Mutationsrate bei Mäusen tatsächlich höher als beispielsweise beim Menschen, allerdings nur fünfmal so hoch, während die Generationsdauer der beiden Arten sich um den Faktor 100 unterscheidet. Als Erklärung für den geringeren Unterschied in der Mutationsrate relativ zur Generationsdauer wurde die ständige Neubildung der Keimzellen (speziell der Spermien) vorgeschlagen. Diese Neubildung findet unabhängig von der Generationsdauer ständig statt: Bei beiden Arten werden permanent Spermien produziert, so daß Replikationsfehler dauernd auftreten können und nicht nur zum Zeitpunkt der Weitergabe von Genen. Arten mit hoher Stoffwechselrate haben auch höhere Mutationsraten, was auf einen möglichen Einfluß der Stoffwechselrate auf die Mutationsrate hindeutet. Diese Vermutung wird durch eine neuere Untersuchung bestimmter Sequenzen von Mitochondrien-DNA verschiedener Haispezies gestützt. Zusammen mit Kollegen von der University of Hawaii sowie vom American Museum of Natural History errechnete Stephen Palumbi eine Mutationsrate, die sieben- bis achtmal niedriger war als bei Primaten oder Huftieren. Die betrachteten Tierarten haben eine ähnliche Generationsdauer, doch in der Stoffwechselrate gibt es erhebliche Unterschiede: Sie ist bei den Haien um das Fünf- bis Zehnfache niedriger als bei Säugern derselben Größe. Diese Untersuchung zeigt, daß es wichtig ist, Raten innerhalb von Gruppen zu messen, statt anzunehmen, man könne von einer Gruppe auf andere extrapolieren. Im Zuge der Überprüfung der Hypothese von der molekularen Uhr wurde auch untersucht, welche Gene gute Uhren abgeben und welche nicht. Dazu muß man das fragliche Gen (oder sein Proteinprodukt) in vielen verschiedenen Tiergruppen auf eine gleichmäßige Akkumulation von Mutationen hin untersuchen. Selbst dabei trügt oft der Anschein, und zwar aufgrund mehrerer komplizierender Faktoren. Beispielsweise hat man schon lange erkannt, daß die Mutationsrate in einem Gen unvermeidlich abzunehmen scheint, je länger der betrachtete Evolutionszeitraum ist. Das ist darauf zurückzuführen, daß Mutationen als stochastische Ereignisse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit mehrmals an derselben Position auftreten; man bezeichnet dies als Mehrfachtreffer. Im Laufe der Zeit nimmt die Anzahl der Mehrfachtreffer zwangsläufig zu, wodurch die scheinbare Mutationsrate sinkt. Bei Berechnungen zur molekularen Uhr wird diese Komplikation routinemäßig durch statistische Korrektur berücksichtigt. Die Wirklichkeit ist jedoch noch komplizierter, nicht zuletzt weil nicht alle Positionen eines Gens gleich anfällig für Mutationen sind. Zudem kann sich diese Anfälligkeit, bedingt durch Mutationen an anderen Positionen,
5.9 Das Phänomen der Mehrfachtreffer kann die tatsächliche Mutationsrate verschleiern. In der abgebildeten kurzen DNASequenz treten vier Mutationen auf. In Stadium 3 würde eine Sequenzanalyse die bis dahin aufgetretenen zwei Mutationen korrekt aufdecken. Die Mutationen, die zwischen Stadium 3 und 4 sowie zwischen Stadium 4 und 5 auftreten, werden dagegen nicht entdeckt, weil sie bereits mutierte Stellen treffen. Weil die Mutation zwischen Stadium 4 und 5 wieder das ursprüngliche Nucleotid einsetzt, macht sie zwei Mutationen unsichtbar. Eine Analyse von Sequenz 5 würde nur eine Mutation ergeben und nicht die vier, die tatsächlich aufgetreten sind.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
verändern. Mehrfachtreffer treten in Genen mit einigen besonders anfälligen Bereichen häufiger auf als in Genen, die auf ihrer ganzen Länge gleich anfällig sind – auch dadurch wird die scheinbare Mutationsrate reduziert.
5.10 Der sogenannte relative rate test zeigt, ob sich die Mutationsrate eines Proteins oder Gens in verschiedenen Linien unterscheidet. Im Diagramm sind zwei Evolutionsereignisse dargestellt. Bei 1 fand eine Aufzweigung statt, die einerseits zur Art C und andererseits zu einer zweiten Linie führte. Diese zweite Linie spaltete sich am Verzweigungspunkt 2, was zu den Arten A und B führte. Der Test basiert auf der Annahme, daß bei gleicher mittlerer Mutationsrate in allen Linien die genetische Distanz zwischen den Arten A und C (punktierte Linie) die gleiche sein müßte wie zwischen den Arten B und C (gestrichelte Linie). Wenn sich dagegen die Akkumulation von Mutationen in Linie B verlangsamt hätte, wäre die genetische Distanz zwischen B und C geringer als die zwischen A und C.
Solche Komplikationen können ein Gen, das eigentlich eine recht gute molekulare Uhr ist, ziemlich schlecht aussehen lassen. Ein Beispiel ist das Gen für Superoxiddismutase, ein Protein, das (mit Kupfer- und ZinkCofaktoren) bei allen aeroben Organismen toxische Sauerstoffradikale beseitigt. In den achtziger Jahren verglich Francisco Ayala die komplette Sequenz dieses Gens aus Schimmelpilzen, Hefe, Taufliegen, einem Schwertfisch, einem Rind, einer Katze und einem Menschen. Sodann übertrug er die Daten auf einen Stammbaum dieser Lebewesen (der 1,2 Milliarden Jahre zurückreicht) und errechnete die Mutationsrate zu verschiedenen Zeitpunkten und zwischen verschiedenen Gruppen. Die Werte unterschieden sich beträchtlich. Innerhalb der Säugetiere stellte er beispielsweise eine Rate von 27,8 Substitutionen pro 100 Aminosäuren pro Million Jahre fest; zwischen Säugern und Schwertfisch sowie zwischen der Gruppe Schwertfisch/Säuger und Drosophila betrug die Rate 9,1, zwischen Pilzen und Tieren 5,5. Offenbar schwankt die Mutationsrate dieses Gens um den Faktor fünf, je nachdem welche Zeitspanne man betrachtet. Ayala schloß, dieses Gen »ist eine sehr ungleichmäßig gehende Uhr«. Vor einiger Zeit analysierte Ayala in Zusammenarbeit mit Walter Fitch, der heute an der University of California in Irvine arbeitet, diese Daten für das Superoxiddismutasegen erneut, doch diesmal nahmen die Wissenschaftler umfangreichere Korrekturen für die Komplikation der Mehrfachtreffer vor. Wie sich dabei herausstellte, ist das Gen in Wirklichkeit eine ziemlich zuverlässige Uhr. Vor kurzem schrieben die beiden: »Ein vernünftiges Modell für die beteiligten biologischen Prozesse erlaubt den Schluß, daß das, was zunächst eine sehr ungenaue Uhr zu sein scheint, möglicherweise nur ungenau ist, weil nicht die notwendigen Korrekturen vorgenommen wurden.« Ähnliche Schlußfolgerungen gelten vielleicht auch für andere Gene, die als ungleichmäßig gehende Uhren beschrieben worden sind. Hier zeigt sich deutlich die Notwendigkeit geeigneter statistischer Analyseverfahren. Heute kann man sagen, daß die molekulare Uhr der Evolution weder so gut ist wie erhofft noch so schlecht wie befürchtet. Obwohl ihre Existenz davon abhängt, daß es ein nicht unerhebliches Maß an neutraler Evolution gibt, beeinflussen selbst bei neutraler Evolution viele Faktoren das, was sonst eine universelle Rate wäre, und stellen jede derartige Uhr sehr weit in den Bereich der Empirie. Vorhersagen darüber, was unter ungeprüften Umständen geschehen könnte, sind daher sehr schwer zu treffen. Mit der Zunahme der empirischen Datenmenge wird jedoch auch die Vorhersagbarkeit zunehmen. Es hat den Anschein, als existierten wahrscheinlich nur wenige „globale Uhren“ – Uhren, die über lange Zeiträume und ein breites
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5. DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Spektrum an Taxa funktionieren. Es ist aber sicher, daß man „lokale Uhren“ finden kann, die für begrenzte Zeiträume und Organismengruppen brauchbare Ergebnisse liefern. (Ihre Genauigkeit läßt sich mit dem in Abbildung 5.10 dargestellten Testverfahren überprüfen.) Außerdem ist es wünschenswert, bei Forschungsprojekten, bei denen man sich einer molekularen Uhr bedient, möglichst mehr als ein Gen zu verwenden. Wissenschaftler, die Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Uhren nachweisen können, werden in ihre Schlußfolgerungen mehr Vertrauen haben.
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6.1 Molekularbiologische Verfahren spielen in der Ökologie eine immer wichtigere Rolle. Die Abbildung zeigt die Extraktion von DNA aus einer Gewebeprobe; mit diesem Material kann man beispielsweise eine Vaterschaftsanalyse mittels DNA-Fingerprinting durchführen.
Molekularökologie
D
ie Ökologie ist eine traditionsreiche und umfassende Forschungsdisziplin, deren Bandbreite von den Wechselbeziehungen zwischen Parasit und Wirt über die Mechanismen der Strukturierung von Ökosystemen bis hin zur Dynamik der globalen Stoffkreisläufe reicht. Zunächst im Rahmen der Naturgeschichte praktiziert, hat die Ökologie ein Bild davon entworfen, wie die belebte Welt funktioniert, wie Organismen ihre individuellen Interessen verfolgen und wie die Evolution der Arten abläuft. Die Molekularökologie entstand vor nicht einmal zehn Jahren, als man begann, zur Erforschung dieser seit langem untersuchten Fragen neue molekularbiologische Methoden einzusetzen. Die bisherigen Kapitel haben gezeigt, wie es durch molekularbiologische Untersuchungen möglich wurde, evolutionäre Schlüsselbeziehungen aufzuklären: Welches sind die wichtigsten Zweige im frühen Stammbaum des Lebens? Wie sind die Hauptgruppen der Mehrzeller miteinander verwandt? Welchen grundlegenden Mustern folgte die Evolution dieser Gruppen? In diesem Kapitel werden wir erfahren, wie diese Erkenntnisse sich in zwei wichtige Richtungen erweitern lassen. Der Stammbaum der Organismen stellt schließlich nicht nur Verwandtschaftsbeziehungen dar, sondern gibt auch wieder, welche Lebewesen zu jedem beliebigen Zeitpunkt koexistiert haben; diejenigen, die bis in unsere Zeit überlebt haben, bevölkern die Ökosysteme der heutigen Erde. Nicht nur der Stammbaum der Organismen, sondern auch deren verflochtene Beziehungen untereinander sind daher Gegenstand der Erforschung durch molekularbiologische Methoden. Über das Erstellen biologischer Karten – das Aufzeichnen taxonomischer Grenzen und historischer Stammbaumverzweigungen – hinaus können wir heute in manchen Fällen sehen, wie diese Zweige entstanden sind, und dies führt zu neuen
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Erkenntnissen darüber, warum sich Arten aufspalten und neue Arten entstehen. In Kapitel 4 wurde beschrieben, wie man in den sechziger Jahren mit Hilfe der Gelelektrophorese von Proteinen überraschend entdeckte, daß innerhalb der Arten eine enorme genetische Variation existiert. Diese Entdeckung löste nicht nur die heute noch nicht beendete Auseinandersetzung zwischen Neutralisten und Selektionisten aus, sondern sie ermöglichte auch wichtige Untersuchungen der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Populationen und Arten, welche die Grundlage der Populationsgenetik bilden. Seither haben mehrere entscheidende technische Neuerungen die Wissenschaft in die Lage versetzt, nicht mehr nur wichtige Organismengruppen genetisch zu unterscheiden, sondern auch Individuen derselben Spezies. Eine dieser Neuerungen war die Anfang der achtziger Jahre entwickelte Analyse von Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen (RFLP), bekannt unter der knapperen Bezeichnung Restriktionskartierung. Wie in Kapitel 1 beschrieben, war diese Technik eine wichtige Bereicherung für das Handwerkszeug der Genetiker, weil sich mit ihrer Hilfe die genetische Variation in Populationen auf der Ebene der DNA untersuchen ließ. Um jedoch genetische Erkenntnisse verstärkt in der Ökologie nutzen zu können, benötigte man eine Möglichkeit, Individuen auf der Ebene ihrer Gene zu identifizieren. Das passende Analogon hierzu ist das 100 Jahre alte Fingerabdruckverfahren, mit dessen Hilfe sich Menschen sicher identifizieren lassen. Mitte der achtziger Jahre wurden zwei Verfahren entwickelt, welche die Identifikation von Individuen jeder beliebigen Art ermöglichen. Das erste war das auch als genetischer Fingerabdruck bezeichnete DNA-Fingerprinting, das im Prinzip der RFLP-Analyse ähnelt, aber sehr viel mehr Informationen über die DNA von Individuen liefert. Die Genome der höheren Lebewesen enthalten viele DNA-Abschnitte, die nichts zu codieren scheinen. Diese Sequenzen werden gelegentlich als DNA-Abfall bezeichnet, obwohl zumindest einige von ihnen möglicherweise Funktionen erfüllen, die man noch nicht erkannt hat. Ein Beispiel für einen solchen Fall sind die als Minisatelliten bekannten kurzen repetitiven Sequenzen, die eine etwa 15 Nucleotide lange wiederholte Sequenz oder Kernsequenz enthalten. Es gibt viele verschiedene Minisatelliten, von denen jeder eine andere Kernsequenz hat. Jeder Minisatellitentyp ist an mindestens 20 Stellen des Genoms vorhanden und bildet damit eine Minisatellitenfamilie. Die Länge der einzelnen Mitglieder einer Familie (das heißt die Anzahl der Wiederholungen der Kernsequenz an den einzelnen Positionen) kann von Individuum zu Individuum einer Spezies schwanken. Alex Jeffrey von der britischen University of Leicester erkannte darin das Potential für die Identifizierung von Individuen und entwickelte eine Methode, die er DNA-Fingerprinting nannte. 122
6. MOLEKULARÖKOLOGIE
6.2 DNA-Fingerprinting liefert für jedes Individuum ein einzigartiges DNA-Muster. Der erste Schritt ist die Präparation einer Sonde, die zu einer bestimmten wiederkehrenden DNA-Sequenz komplementär ist. Das erste Intron des dargestellten Gens enthält vier Wiederholungen einer 33 Basenpaare langen Sequenz, die auch die in Fettdruck dargestellte „Kernsequenz“ aus 13 Basenpaaren umfaßt (a). Diese Kernsequenz findet sich auch an anderen Genorten, die in dieser einfachen
schematischen Darstellung als Loci I, II und III bezeichnet sind. Mit Hilfe einer von der in a dargestellten Wiederholungssequenz abgeleiteten Sonde kann man zwischen zwei und acht Wiederholungen der Kernsequenz an den drei Loci (I-Ill) nachweisen (b). Zwar können Individuen einige Fragmente gemeinsam haben; die Wahrscheinlichkeit, daß alle Fragmente bei zwei Menschen übereinstimmen, ist jedoch sehr gering, so daß ein genetischer Fingerabdruck entsteht.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 6.1: Die Polymerasekettenreaktion Im Jahre 1983 war Kary Mullis, der damals bei der Cetus Corporation arbeitete, an der Entwicklung eines als Polymerasekettenreaktion oder PCR (für englisch polymerase chain reaction) bezeichneten Verfahrens beteiligt; für diese Arbeit wurde ihm 1993 ein Anteil am Chemienobelpreis verliehen. Das Verfahren ist ebenso einfach wie effektiv. Mit seiner Hilfe lassen sich große Mengen beliebiger DNA-Abschnitte herstellen, die man sodann leicht analysieren (zum Beispiel sequenzieren) kann. Im Prinzip kann man durch PCR, ausgehend von einer Probe, die nur ein einziges DNA-Molekül enthält, in Kürze eine Milliarde Kopien produzieren. Dieses Verfahren, das die Fähigkeit der Molekularbiologen, gewünschte DNA-Abschnitte für ganz verschiedenartige Untersuchungen zu gewinnen und zu analysieren, revolutionierte, war im Jahre 1990 bereits in 1000 Forschungsberichten erwähnt worden; und diese Zahl verdoppelte sich innerhalb weniger Jahre. Vor der Entwicklung der PCR war die gezielte Gewinnung bestimmter DNA-Abschnitte aufgrund der Natur des DNAMoleküls sowie der Art seiner Bindung in der Zelle eine mühsame Angelegenheit. Ein typisches Gen besteht aus mehreren tausend Nucleotiden, die in den beiden komplementären, zur Doppelhelix umeinandergewundenen Strängen wie Perlen auf einer Schnur angeordnet sind. In der Zelle ist die DNA weiter zu komplexen Strukturen aufgewunden und eng an verschiedene Proteine gebunden, die sie stabilisieren. Wenn man versucht, die DNA zu isolieren, indem man die Zelle aufbricht und die Proteine entfernt, zerbricht das lange, empfindliche Molekül oft an zufälligen Stellen. Infolgedessen findet sich ein und dasselbe Gen aus beispielsweise 1000 verschiedenen Zellen einer Probe auf DNA-Abschnitten unterschiedlicher Länge wieder, was die Isolierung brauchbarer Mengen dieses Gens schwierig macht.
In den siebziger Jahren entwickelte man Methoden zur Gewinnung von DNA-Abschnitten bekannter Länge (bei denen der DNA-Strang durch sogenannte Restriktionsendonucleasen zerschnitten wird), wodurch die Isolierung effizienter wurde. Die Ausbeute war dennoch oft gering, und häufig war es notwendig, die Menge der DNA zu vervielfachen, indem man diese in ein Replikationsvehikel (ein natürlich vorkommendes DNAStück, etwa ein Plasmid) in einem Bakterium einbaute und die Bakterien dann vermehrte. Bei der Teilung der Bakterien wird mit ihrem eigenen Genom auch die eingebrachte DNA kopiert. Wenn ausreichend Material produziert worden ist, löst man die Bakterienzellwand auf, schneidet die Ziel-DNA durch Restriktionsenzyme aus dem Vehikel heraus, sammelt und reinigt sie. Dieser zeitaufwendige und technisch anspruchsvolle Prozeß verläuft jedoch nicht immer erfolgreich und ist oft auch gar nicht möglich. Die Polymerasekettenreaktion vereinfacht die Isolierung und Vermehrung von DNA-Proben erheblich. Es handelt sich dabei um einen zyklischen Prozeß, in dem jeder Zyklus die Menge der Ziel-DNA verdoppelt. Ausgehend von einem einzigen Molekül, ergeben 30 PCR-Zyklen eine Milliarde Moleküle. Der Prozeß beginnt mit einer groben Trennung der DNA vom Ausgangsmaterial, etwa einer Haarwurzel. Voraussetzung für die PCR ist die Kenntnis jeweils eines kurzen Abschnitts (aus etwa 20 Nucleotiden) auf beiden Seiten der Zielsequenz; diese sogenannten Oligonucleotide werden mit Hilfe von Standardverfahren im Labor synthetisiert. Das DNA-Rohmaterial wird dann erhitzt, wodurch die Doppelhelix in zwei komplementäre Einzelstränge zerlegt wird. Sodann fügt man die als Primer bezeichneten Oligonucleotide hinzu und kühlt die Mischung etwas ab; dadurch können die Oligonucleotide an die komplementären Abschnitte, welche die Zielsequenz flankieren, bin-
Wie bei der RFLP-Technik wird die DNA mit Enzymen behandelt, die den Strang an bestimmten Nucleotidsequenzen durchtrennen. Die Länge der an den einzelnen Minisatellitenpositionen produzierten Fragmente hängt von der Anzahl der Kernsequenzwiederholungen an der jeweiligen Position ab. In Anbetracht dessen, daß die Länge der Minisatelliten erheblich variiert und daß jede Familie mindestens 20 Mitglieder hat, kann eine Minisatellitenfamilie eine erhebliche Informationsmenge liefern. Das DNA-Fingerprinting ergibt für jedes Individuum eine einzigartige Konstellationen Fragmentlängen und damit ein charakteristisches genetisches Profil. 124
6. MOLEKULARÖKOLOGIE
den (mit ihnen hybridisieren). In Gegenwart von DNA-Polymerase, einem Enzym, das DNA repliziert, und einem Gemisch der vier DNA-bildenden Nucleotide wird die Primer-Sequenz allmählich über die Ziel-DNA hinweg verlängert, wodurch ein kurzes doppelsträngiges DNA-Stück entsteht. Durch diesen einmaligen Zyklus wird die Ziel-DNA also verdoppelt. Wiederholt man den Prozeß aus Erwärmen, Hinzufügen von Primer und Replikation, so verdoppelt sich ihre Menge abermals. Sehr bald besteht der replizierte DNAAbschnitt nur noch aus der Ziel-DNA und den beiden sie flankierenden Oligonucleotiden. Aufgrund der geometrischen Progression entstehen durch eine relativ geringe Anzahl an Wiederholungen bald große Mengen der gewünschten DNA. Mit Hilfe der PCR läßt sich eine Arbeit, die früher Tage oder Wochen in Anspruch nahm, innerhalb weniger Stunden erledigen. Anfangs war es erforderlich, in jeder Runde der PCR, nämlich nach jedem Erwärmen, DNA-Polymerase zuzugeben, weil die hohe Temperatur, welche die Doppelhelix separiert, auch das Enzym inaktivierte. Mullis erkannte, daß man diesen Schritt durch Verwendung eines hitzetoleranten Enzyms einsparen konnte. Viele Bakterien sind an das Leben in einer heißen Umwelt, etwa in heißen Quellen, angepaßt; damit boten sie eine Möglichkeit, ein geeignetes Enzym zu finden. Mullis beschaffte sich einen dieser Organismen, nämlich Thermophilus aquaticus, und beauftragte Angestellte von Cetus, dessen DNAPolymerase zu isolieren. Wie erwartet toleriert das Enzym von T. aquaticus das zyklische Erwärmen und Abkühlen, und so konnte das Verfahren vereinfacht werden. Der gesamte Prozeß ist heute automatisiert und wird von einem kleinen, preiswerten Gerät durchgeführt.
Die extreme Empfindlichkeit der PCR ist nicht nur ihre große Stärke, sondern gleichzeitig ihr größter Nachteil. Die Primer hybridisieren zuverlässig immer mit derselben Sequenz, aber diese Sequenz kann zufällig auch in „fremder“ DNA vorkommen. Wenn das Reaktionsgemisch mit solcher Fremd-DNA verunreinigt ist, können unerwünschte Sequenzen vervielfältigt werden. Für die erfolgreiche Durchführung der Polymerasekettenreaktion ist daher peinliche Sauberkeit erforderlich, insbesondere bei der Untersuchung alter DNA, bei der die Proben, etwa getrocknete Haut, versteinerte Knochen oder in Bernstein eingeschlossene Insekten, durch Bakterien oder sogar durch menschliches Gewebe verunreinigt werden können. Mehr als einmal hat ein Forschungsteam die Extraktion vermeintlich alter DNA gefeiert, nur um später festzustellen, daß diese DNA in Wirklichkeit von einem der beteiligten Wissenschaftler stammte, vielleicht aus einigen abgeschilferten Hautzellen, die auf die Probe gefallen waren. In Anbetracht der Einfachheit der Polymerasekettenreaktion und ihrer enormen Auswirkungen sowohl auf die Grundlagenforschung als auch auf die kommerzielle Molekularbiologie ist es erstaunlich, daß alle Komponenten, die man für das Verfahren benötigt, zum Zeitpunkt seiner Erfindung bereits seit über einem Jahrzehnt zur Verfügung standen. Jeder kompetente Molekularbiologe hätte durch wenige Minuten Nachdenken auf diese Methode kommen können. Als Mullis die Idee dazu kam, war er selbst darüber erschüttert, daß niemand vor ihm diesen Einfall gehabt hatte. Schon im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz wurde die Polymerasekettenreaktion, das Produkt einiger schöpferischer Minuten, zu einem Milliardengeschäft.
Die zweite Neuerung war die Mitte der achtziger Jahre entwickelte Polymerasekettenreaktion (kurz PCR, für englisch polymerase chain reaction), mit deren Hilfe sich aus winzigen Substanzproben – etwa Blutflecken, Haarwurzeln, Federn und sogar getrockneten Exkrementen – DNA in analysierbarer Menge gewinnen läßt (siehe Exkurs 6.1 auf Seite 124). Seither wurden noch zahlreiche dem Fingerabdruckverfahren vergleichbare Methoden entwickelt. Terry Burke, ein Zoologe der University of Leicester, bemerkte kürzlich: »Diese und verwandte Verfahren haben die Anwendungsmöglichkeiten der Genetik in der Ökologie weit über das Vorstel125
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
6.3 Geringe DNA-Mengen lassen sich mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion – durch zyklische Wiederholung von enzymatischen DNA-Replikationsschritten – zu analysierbaren Mengen vervielfältigen. Hier wird DNA für die Vervielfältigung (Amplifikation) vorbereitet.
lungsvermögen des weitsichtigsten ökologisch orientierten Genetikers hinaus erweitert.« Diese neuen Möglichkeiten des Zugangs zu genetischen Daten sind der Nährboden der Molekularökologie, und der zunehmende Umfang der Arbeiten, die durch sie erleichtert wurden, führte dazu, daß im Jahre 1992 eine neue Fachzeitschrift namens Molecular Ecology herausgegeben wurde. Molekularökologen steht heute ein umfangreiches Handwerkszeug zur Verfügung, und dies erlaubt ihnen die Erforschung vieler Fragen innerhalb der vier Hauptgebiete ihres Faches: Evolutionsökologie, Verhaltensökologie, Phylogeographie und Artenschutzgenetik. Um die Bandbreite und die Möglichkeiten der Molekularökologie zu illustrieren, wird der Rest dieses Kapitels beispielhafte Forschungsarbeiten auf jedem dieser Gebiete beschreiben. Alle stimmen in ihrem methodischen Ansatz überein, und die meisten außerdem in ihrem Ziel, genauer herauszufinden, wie die belebte Welt – auf vielen Ebenen – funktioniert. Die Artenschutzgenetik hat eine zusätzliche Dimension: Sie sucht angesichts der Zerstörung natürlicher Lebensräume durch den Menschen nach Möglichkeiten, Arten vor dem Aussterben zu retten.
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6. MOLEKULARÖKOLOGIE
Evolutionsökologie Ein zentraler Lehrsatz der Darwinschen Theorie lautet, daß jedes Individuum sich so verhält, daß seine Fitneß – das bedeutet im wesentlichen sein Fortpflanzungserfolg – maximiert wird. Auf der einfachsten Ebene müßten Individuen sich demnach so verhalten, daß sie eine maximale Anzahl eigener Nachkommen hervorbringen. In den letzten Jahrzehnten mußten die Biologen diese Sichtweise erweitern, um auch dem sogenannten altruistischen Verhalten Rechnung zu tragen: den Bemühungen von Individuen, nahen Verwandten unter Umständen auch zum eigenen Nachteil bei der Erzielung eines maximalen Fortpflanzungserfolgs zu helfen. Ein junges Pavianmännchen, das seinem Bruder hilft, Angriffe abzuwehren, und sich dabei selbst in Gefahr bringt, verhält sich beispielsweise altruistisch. Ebensogut könnte es seinem Bruder helfen, die Aufmerksamkeit eines Weibchens auf sich zu ziehen, und so dessen Chance steigern, sich mit dem Weibchen zu paaren. Weil Geschwister die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben, ist der Fortpflanzungserfolg eines Bruders auch der eigene, auch wenn der Vorteil daraus geringer ist als der aus der Produktion eigener Nachkommen. Der Gesamtfortpflanzungserfolg – die sogenannte Gesamtfitneß – eines Individuums hängt daher von der Zahl seiner eigenen Nachkommen sowie von der seiner nahen Verwandten ab. Feldbiologen haben sehr viel Mühe darauf verwandt, die Paarungssysteme zahlreicher Arten zu untersuchen, um das Wirken dieses darwinistischen Imperativs zu überprüfen. Molekularbiologische Ansätze ermöglichen eine erhebliche Erweiterung dieser Freilanduntersuchungen. Männchen und Weibchen führen einen steten Kampf darum, so viele überlebende Nachkommen wie möglich zu produzieren und dabei möglichst wenig zu investieren. Es ist im Interesse jedes Elternteiles, daß sein Partner die Jungen aufzieht, so daß er selbst die Gelegenheit hat, mit anderen Partnern weitere Nachkommen zu zeugen. Zur Lösung dieses Konflikts haben sich viele unterschiedliche Wege entwickelt, das heißt, es ist eine Vielzahl von Paarungssystemen entstanden, deren jeweilige Form zum Teil von der Biologie der betreffenden Art und zum Teil von ökologischen Faktoren beeinflußt ist. Aufgrund der inneren Befruchtung bei Säugern beispielsweise tragen deren Männchen oft wenig mehr als ihr Sperma zum gemeinsamen Reproduktionsaufwand bei und überlassen die Jungenaufzucht den Weibchen; väterliche Fürsorge ist selten, und oft macht ein Männchen Anspruch auf mehrere Weibchen geltend (Polygynie). Auch bei Vögeln findet die Befruchtung im Körperinneren statt, aber da ein Elternteil allein die mit der Jungenaufzucht verbundene Arbeit nicht leisten kann, ist väterliche Brutfürsorge sehr viel häufiger als bei Säugern; überdies kümmern sich oft auch mehrere Männchen um ein Weibchen (Polyandrie). Bei Fischen erfolgt die Befruchtung außerhalb des Körpers, und in vielen Fällen bleibt die Brutfürsorge dem Männchen überlassen. 127
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Unabhängig vom jeweils zugrundeliegenden Paarungssystem ist zu erwarten, daß Männchen und Weibchen versuchen, ihren Fortpflanzungserfolg durch die Zeugung von Nachkommen außerhalb des Systems zu maximieren: durch heimliche Kopulationen (bei Männchen) sowie durch die erschlichene Fürsorge anderer Eltern für den eigenen Nachwuchs (eine Möglichkeit, die vor allem Vögeln offensteht und als intraspezifischer Brutparasitismus bezeichnet wird). Das Ablegen von Eiern in fremde Nester ist erstaunlich verbreitet; in der Neuen Welt findet man diese Praxis beispielsweise beim Hauszaunkönig (Troglodytes aedon), beim Königstyrannen (Tyrannus tyrannus) und bei der Fahlstirnschwalbe (Hirundo pyrrhonota). Bei diesen Arten enthält bis zur Hälfte der Bruten Eier, die von anderen Weibchen stammen. Überdies versuchen Weibchen oft auch, fremde Männchen zur Paarung zu veranlassen; dabei wählen sie Individuen mit hochwertiger genetischer Ausstattung aus und bringen diese häufig dazu, sich an der Versorgung der Jungen zu beteiligen.
6.4 Bei Säugern, wie den hier abgebildeten Elchen, ist Polygynie (ein Männchen beansprucht mehrere Weibchen) ein häufig anzutreffendes Paarungssystem.
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Mittlerweile setzen Biologen molekularbiologische Methoden ein, um herauszufinden, wie oft Männchen und Weibchen außerhalb des eigentlichen Paarungssystems erfolgreich sind. Anfangs untersuchte man auf diese Weise hauptsächlich Vögel – populäre Objekte der Evolutionsökologie. Inzwischen wurden auch Untersuchungen an Arten aus anderen Gruppen
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durchgeführt; dabei entdeckte man drei wesentliche Tatsachen. Erstens gibt es eine unerwartet große Vielfalt an Paarungssystemen. Zweitens sind sogenannte alternative Fortpflanzungsstrategien (heimliche Begattung, Brutparasitismus et cetera) häufiger als erwartet. Drittens treffen Weibchen häufiger die Partnerwahl (insbesondere außerhalb des Systems), als man bisher glaubte. Der in Kapitel 1 beschriebene Fall der Heckenbraunellen hat gezeigt, inwieweit Männchen in der Lage sind, ihre Aufzuchtbemühungen an ihren Reproduktionserfolg anzupassen. Eine andere frühe Untersuchung über Rotschulterstärlinge, eine nordamerikanische Art, erbrachte viele überraschende Ergebnisse, von denen einige die Grenzen der traditionellen Freilandbeobachtungen bei der Abschätzung des Fortpflanzungserfolgs aufgezeigt haben. Der Rotschulterstärling (Agelaius phoeniceus) ist eine polygyne Art: Ein Männchen verteidigt mehrere Territorien, in denen Weibchen brüten. Es gibt keine väterliche Brutfürsorge. Traditionell wurde der Fortpflanzungserfolg eines Männchens anhand der Anzahl der in seinem Territorium aufgezogenen Jungvögel gemessen, obwohl man wußte, daß sich auch fremde Männchen den Weibchen nähern. (Territoriumsbesitzer verbringen sehr viel Zeit mit der Bewachung ihrer Weibchen, um solche unerwünschten Eindringlinge zu verjagen.) In ähnlicher Weise nahm man an, die Weibchen träfen aufgrund einer (dem Menschen) unbekannten Eigenschaft des Revierbesitzers die Wahl, wo sie nisten und sich paaren. Eine wichtige Untersuchung von Lisle Gibbs und mehreren Kollegen von der Queen’s University in Ontario und der Carelton University in Ottawa hat offenbart, wie falsch diese Annahmen waren. Anhand mehrerer Minisatellitenfamilien konnten die Wissenschaftler per DNA-Fingerprinting die genetische Identität zahlreicher Vögel (111 Nestlinge, 21 mutmaßliche Väter und 31 mutmaßliche Mütter in 37 Nestern) ermitteln. Wie sich dabei herausstellte, paßte bei 45 Prozent der Nester das genetische Profil mindestens eines Jungvogels nicht zu dem eines seiner vermeintlichen Eltern, und 28 Prozent (31 von 111) der Jungen hatten einen Genotyp, der nicht mit dem eines ihrer mutmaßlichen Eltern zu vereinbaren war. In allen Fällen handelte es sich bei dem betreffenden Elternteil um das Männchen. Im Gegensatz zu vielen anderen Vogelweibchen legen weibliche Rotschulterstärlinge ihre Eier also nicht in fremde Nester. Das Ausmaß, in dem die Weibchen sich mit fremden Männchen paarten, war ebenso unerwartet wie das Muster, dem diese Kopulationen folgten. In fast allen Fällen war der Vater heimlich gezeugter Jungvögel der Besitzer eines Nachbarterritoriums, was vielleicht nicht verwunderlich ist. Überraschend war jedoch, daß Männchen, die in ihrem eigenen Territorium erfolgreich waren (das heißt die Begattung ihrer Weibchen durch fremde Männchen weitgehend verhindern konnten), ebenso erfolgreich darin waren, selber fremde Weibchen zu begatten. Außerdem gab es keine Korrela129
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
6.5 Männliche Rotschulterstärlinge verteidigen ein Territorium, das von mehreren Weibchen besetzt ist. Sie verbringen viel Zeit damit, andere Männchen, die versuchen, sich mit diesen Weibchen zu paaren, zu verjagen. Männchen, die bei der Verteidigung ihrer eigenen Weibchen erfolgreich sind, haben auch bei heimlichen Paarungen in benachbarten Territorien Erfolg. Das linke Photo zeigt ein Männchen, aufgenommen in Ogden im US-Bundesstaat Utah, das rechte ein Weibchen.
tion zwischen der Größe des Territoriums und dem Fortpflanzungserfolg, den sein Besitzer darin erzielte. In diesem Fall stieß die genetische Analyse also nicht nur die bisherigen Annahmen über den Fortpflanzungserfolg von Männchen um, sondern stellte auch Vermutungen über das Auswahlverhalten der Weibchen in Frage: Ihre Ergebnisse deuteten darauf hin, daß die Entscheidung eines Weibchens, wo es nistet, möglicherweise nicht davon beeinflußt wird, mit welchem Männchen es sich paaren wird. Außerdem warf diese Untersuchung die interessante, aber immer noch unbeantwortete Frage auf, wodurch sich die Männchen auszeichneten, die sowohl in ihren eigenen Territorien als auch in denen ihrer Nachbarn erfolgreich waren. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung über Prachtstaffelschwänze (Malurus cyaneus), eine australische Art, ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch molekularbiologische Analyse die unerwartete Komplexität eines Paarungssystems aufgedeckt werden kann. In diesem Fall wurde das höchste bisher bekannte Ausmaß an Außerpaarbefruchtungen aufgedeckt. Prachtstaffelschwänze leben in sozialen Gruppen aus einem Weibchen und ein bis vier Männchen, die ein permanentes Territorium verteidigen. Wenn der Gruppe mehrere Männchen angehören, ist normalerweise eines davon älter als die anderen und in seinem Verhalten dominant; die anderen Männchen sind Söhne des Weibchens dieser Gruppe, die ihr Herkunftsterritorium nicht verlassen können, weil Lebensraum und Weibchen knapp sind. Alle Männchen beteiligen sich an der Verteidigung und Aufzucht der Jungen. Die Paarbildung zwischen dem Weibchen und dem dominanten Männchen ist über die Jahre hinweg stabil. 130
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Andrew Cockburn und seine Mitarbeiter von der Australian National University in Canberra untersuchten alle Individuen aus 65 Brüten in zwei Fortpflanzungsperioden. Dabei stellten sie fest, daß die meisten Jungvögel, etwa 76 Prozent, Nachkommen von Männchen waren, die nicht zur jeweiligen sozialen Gruppe gehörten. In fast der Hälfte der Brüten traf dies auf alle Jungvögel zu. In Gruppen, die nur aus einem Paar bestanden, zeugte das Männchen bis zu 90 Prozent des Nachwuchses und beteiligte sich intensiv an dessen Aufzucht. Mit der Größe der sozialen Gruppe nahm jedoch der Anteil der vom ersten (primären) Männchen gezeugten Jungen drastisch – mitunter bis auf null – ab, und die tatsächlichen Väter der Jungen kamen fast immer aus entfernt gelegenen Territorien. Nur selten zeugten die anderen Männchen einer Gruppe, die sogenannten Helfer, in dieser Gruppe Junge, wohl aber gelegentlich in anderen Gruppen. Zu den erstaunlichsten Ergebnissen gehörte die Feststellung, daß einige der von außerhalb kommenden Väter deutlich erfolgreicher waren als andere und daß ihre Söhne ebenfalls erfolgreich waren. Die unbekannte Eigenschaft, die diese Männchen auszeichnete, war offensichtlich erblich. Überdies hatten bei allen Paarungen nicht die Männchen, sondern die Weibchen die Initiative ergriffen. Die bei dieser Art eindeutig stark ausgeprägte weibliche Partnerwahl ist für das ungewöhnliche Paarungssystem verantwortlich. Nach Ansicht von Cockburn und seinen Mitarbeitern geben Weibchen, die mit nur einem Männchen zusammenleben, diesem als Gegenleistung für seine Brutfürsorge sehr oft, wenn auch nicht exklusiv, die Gelegenheit zur Paarung. Sind dagegen Helfer vorhanden, so ist das Weibchen nicht auf die Fürsorge des ersten Männchens angewiesen und sucht verstärkt die Gelegenheit zur Paarung außerhalb der Gruppe, und zwar vor allem mit erfolgreichen Männchen. Es profitiert nicht nur davon, daß die Helfer-Männchen
6.6 Prachtstaffelschwänze, eine australische Art, leben in kooperativen sozialen Gruppen aus einem Weibchen und ein bis vier erwachsenen Männchen, die ein permanentes Territorium verteidigen. Links ein Männchen, rechts ein Weibchen mit zwei Jungen.
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sich um seine Jungen kümmern, sondern gewinnt auch insofern einen Vorteil, als es wahrscheinlich Söhne haben wird, die bei Paarungen außerhalb der eigenen Gruppe erfolgreich sein werden. Durch diese Untersuchung wurde erstmals bei Vögeln nachgewiesen, daß Weibchen, die fremde Männchen als Partner wählen, auch männliche Nachkommen produzieren, die bei Paarungen mit fremden Weibchen erfolgreich sind. Die theoretischen Fragen, die durch diese Ergebnisse aufgeworfen werden, sind Legion. Welche Vorteile zieht beispielsweise ein Weibchen aus den Kopulationen außerhalb der Gruppe, warum versorgen primäre Männchen Junge, mit denen sie wahrscheinlich nicht verwandt sind, und welcher Faktor ist für die erhebliche Variation im Ausmaß der Außerpaarbegattungen verschiedener Spezies verantwortlich? Auch bei Kegelrobben, die an entlegenen Orten im Bereich der britischen Inseln leben, entdeckte man vor kurzem unerwarteterweise, daß Weibchen ihre Geschlechtspartner auswählen. Wie bereits erwähnt, tragen die Männchen der meisten Säugerarten wenig mehr als ihr Sperma zur Fortpflanzung bei, und Polygynie ist unter Säugern verbreitet. Die Kegelrobbe bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Im Herbst kommen die Weibchen an Land, um jeweils ein Junges zu werfen, es zu säugen und sich zu paaren. Auch die Männchen verlassen in dieser Zeit das Meer und konkurrieren untereinander um Territorien innerhalb der Kolonie, in denen sie scheinbar mehrere Weibchen für sich beanspruchen. Bill Arnos von der Cambridge University und mehrere Kollegen ermittelten vor kurzem mittels DNA-Fingerprinting die Vaterschaftsverhältnisse der Nachkommen von 85 Männchen und 88 Weibchen aus mehreren Jahren. Sie stellten fest, daß die Nachkommen der einzelnen Weibchen zu 30 Prozent Vollgeschwister waren – ein Indiz für ein erstaunliches Ausmaß an Partnertreue. Zwei prinzipielle Erklärungen dafür waren möglich. Erstens könnte es sein, daß die Weibchen sich mit dem nächsten dominanten Männchen paaren, und daß beide Geschlechter oft zur selben Stelle in der Kolonie zurückkehren. Zweitens war denkbar, daß die Robben Partner auswählen, mit denen sie sich schon zuvor gepaart haben. Die genetischen Daten schlossen die erste Möglichkeit aus und ließen die zweite, so erstaunlich sie war, als wahrscheinlichste Erklärung übrig. Auch die Identität der Väter war eine Überraschung. Tatsächlich hatten die dominanten Männchen weniger Nachkommen gezeugt, als man zuvor aus Freilandbeobachtungen geschlossen hatte. Offenbar trafen die Weibchen eine Auswahl ihrer Geschlechtspartner, vielleicht weil Treue einem Männchen gegenüber dessen Aggressivität senkt und damit auch die Wahrscheinlichkeit, daß es Jungtiere tötet. Abermals enthüllte der Zugang zur DNA der Einzeltiere ein Verhaltensmuster, das durch Freilandbeobachtungen nicht erkennbar war, ja sogar im Widerspruch zu deren Erkenntnissen stand. 132
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6.7 Kegelrobben leben an abgelegenen Orten im Bereich der britischen Inseln. Im Herbst gehen die Weibchen an Land, um jeweils ein Junges zu gebären, es zu säugen und sich zu paaren. Zu diesem Zeitpunkt kommen auch die Männchen an Land und konkurrieren miteinander um Territorien in der Kolonie.
Arnos und zwei Kollegen von der Universität München ermittelten mit Hilfe desselben Ansatzes die Sozialstruktur von Grindwalen. Biologen haben inzwischen einige Erfahrung darin gesammelt, die Sozialstruktur von großen Säugern, etwa Pavianen oder Schimpansen, durch Langzeitbeobachtung freilebender Gruppen aufzuklären. Wie bereits erwähnt, sind die meisten Säugetierarten polygyn. Fast immer verlassen die Männchen bei Erreichen der Geschlechtsreife ihre Herkunftsgruppe und schließen sich einer benachbarten oder entfernt lebenden Gruppe an. (Schimpansen bilden eine Ausnahme, bei ihnen wandern die Weibchen ab.) Man vermutet, daß dieses Verhalten der Vermeidung von Inzucht dient. Ob auch Grindwale sich ähnlich verhalten, war bis vor kurzem unbekannt, weil Langzeituntersuchungen an diesen Tieren, die ihr Leben größtenteils an für Menschen unzugänglichen Orten verbringen, nicht möglich sind. Grindwale schwimmen in großen, zusammenhängenden Gruppen (sogenannten Schulen) aus oft über 100 Individuen, darunter junge und geschlechtsreife Tiere und etwa gleich viele Männchen und Weibchen. Den Herdentrieb dieser Wale haben sich Walfänger seit Jahrhunderten zunutze gemacht, indem sie die Schulen an Land trieben – eine Fangmethode, die heute nur noch auf den Färöer-Inseln praktiziert wird. Arnos und seine Kollegen extrahierten DNA von allen Mitgliedern zahlreicher dort getöteter Grindwalschulen und analysierten hochgradig variable Minisatelliten133
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Sequenzen. Auf diese Weise erhielten sie Informationen über Mutterschaft, Vaterschaft und den Verwandtschaftsgrad zwischen verschiedenen Individuen. Dabei stießen sie auf eine äußerst ungewöhnliche Sozialstruktur und ein ebenso ungewöhnliches Paarungssystem. Weder Männchen noch Weibchen verlassen bei Erreichen der Geschlechtsreife ihre Schule, und so handelte es sich bei jeder Gruppe eigentlich um eine Großfamilie. Die Männchen paarten sich jedoch ausschließlich mit Weibchen anderer Schulen. Alle Männchen schienen bei der Zeugung von Nachkommen gleich erfolgreich zu sein. Arnos und seine Kollegen deuten dieses ungewöhnliche System folgendermaßen. Wenn die Gelegenheit für Männchen, sich in anderen Schulen zu paaren, unbegrenzt ist, braucht ihre optimale Strategie keine väterliche Fürsorge für die eigenen Nachkommen zu umfassen. Indem sie in ihrer Herkunftsschule bleiben, könnten die Männchen ihre Schwestern und Halbschwestern dabei unterstützen, deren Junge aufzuziehen, und damit ihre eigene Gesamtfitneß optimieren. Vielleicht verteidigen die Männchen die Schule und helfen bei der Aufzucht, wenngleich keine dieser Verhaltensweisen bisher beobachtet worden ist. Auf jeden Fall erklärt die nahe genetische Verwandtschaft der Mitglieder einer Schule den starken Zusammenhalt der Gruppe.
6.8 Grindwale leben in großen Gruppen (oder Schulen) mit starkem Zusammenhalt, denen oft über 100 Individuen angehören, darunter junge und geschlechtsreife Tiere sowie fast gleich viele Männchen und Weibchen.
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Einpassung in die ökologische Nische Die Vorstellung, daß die Arten sich durch natürliche Auslese an ihre jeweilige Umwelt anpassen, gehört zu den Kernannahmen der Darwinschen Theorie, und wie Darwin versuchen auch die heutigen Biologen, sie durch vergleichende Beobachtungen zu überprüfen. Wenn unter ähnlichen Umweltbedingungen lebende Arten einander ähneln, bestätigt dies scheinbar den Zusammenhang zwischen der Umwelt und der Morphologie sowie dem Verhalten von Arten. In Wirklichkeit ist aber auch eine andere Erklärung möglich. Wenn die betreffenden Arten noch vor relativ kurzer Zeit einen gemeinsamen Vorfahren hatten, kann die Ähnlichkeit auf ihre gemeinsame Abstammung und nicht auf die Evolution spezifischer Anpassungen an eine bestimmte Umwelt zurückzuführen sein. Um die wahre Natur solcher Verbindungen in einer Gruppe von Arten zu ermitteln, muß man ihre Stammesgeschichte oder Phylogenese rekonstruieren. Wie wir bereits gesehen haben, ist dies auf der Grundlage morphologischer Merkmale nicht immer einfach. Molekularbiologische Eigenschaften führen hier manchmal leichter zum Erfolg. Adam Richman von der University of Oregon und Trevor Price von der University of California in San Diego unternahmen einen solchen Versuch, die Stammesgeschichte anhand molekularbiologischer Daten zu rekonstruieren, mit acht Arten insektenfressender Laubsänger im Himalaja, und zwar im indischen Teil von Kaschmir. Diese kleinen, grünen Vögel unterscheiden sich hinsichtlich der Habitatwahl, der Größe ihrer Beutetiere und des Ernährungsverhaltens. Zwischen der Morphologie und der Lebensweise einer Art besteht eine starke Korrelation. Beispielsweise fressen größere Arten größere Insekten, Arten mit relativ kurzen Zehen brüten in Nadelwald- und nicht in Laubwaldgebieten, und bei Arten mit breitem Schnabel ist der Anteil von Fliegen in der Nahrung deutlich höher. Sind diese Korrelationen das Resultat einer gemeinsamen Stammesgeschichte oder unabhängiger Anpassung durch natürliche Auslese? Richman und Price konstruierten einen Stammbaum der Laubsänger, indem sie eine 910 Basenpaare lange Sequenz aus dem Cytochrom-b-Gen der Mitochondrien-DNA aller acht Arten verglichen, außerdem wurden andere Arten als Außengruppe einbezogen. Ihren Ergebnissen zufolge lautet die Antwort auf die obige Frage „sowohl als auch“. Beispielsweise sind die drei kleinsten Arten nah miteinander verwandt, und das gleiche gilt für die drei größten sowie für die beiden mittelgroßen Arten. In diesen groben Kategorien der Körpergröße spielt daher gemeinsame Abstammung vermutlich eine Rolle. Allerdings bleibt, wenn man den Effekt der gemeinsamen Stammesgeschichte statistisch eliminiert, eine Korrelation zwischen Körpergröße und Beutegröße bestehen. Innerhalb der Gruppe der großen Laubsängerarten ist eine Art, die große Insekten frißt, größer als eine Art, 135
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6.9 Acht Arten insektenfressender Laubsänger leben im Himalaja im indischen Teil von Kaschmir, darunter auch der abgebildete Grünlaubsänger (Phylloscopus trochiloides). Sie weisen erhebliche Anpassungen an ihre unterschiedlichen Lebensräume und Beutetiere auf.
die sich von kleinen Insekten ernährt, und in den anderen Gruppen verhält es sich ebenso. Außerdem hat die Stammesgeschichte wenig Einfluß auf die Korrelationen von Habitatwahl, Ernährungsverhalten und Morphologie. Diese Korrelationen scheinen echte Anpassungseffekte zu sein. Der von Richman und Price rekonstruierte Stammbaum zeigt, daß die Gruppe vor etwa 3,5 Millionen Jahren entstanden ist und sich dann schnell diversifizierte: Im Laufe etwa einer Million Jahre nahm die Artenzahl von eins auf acht zu. Die erste Aufzweigung ging mit einer starken Veränderung der Körpergröße einher; in der Folgezeit veränderte sich die Körpergröße innerhalb der entstandenen Gruppen nur wenig. Im nächsten Schritt kam es zu starken Veränderungen der Schnabelform und des damit verknüpften Verhaltens, einschließlich der bevorzugten Beutegröße. Die jüngste Veränderung war die Anpassung von Verhalten und Morphologie an neue Lebensräume. Dieser Ablauf der Evolution, der möglicherweise auch auf andere Gruppen übertragbar ist, gibt außerdem Aufschluß über die Geschwindigkeit der Evolution: Lange Perioden mit wenig ökologischen und morphologischen Veränderungen wechseln sich ab mit gelegentlichen Perioden schnellen Wandels, in denen in der Regel jeweils nur ein Merkmal angepaßt wird.
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Leben in gegenseitiger Abhängigkeit Die Wurzeln der meisten Pflanzen sind von einem spinnwebfeinen Geflecht aus Millionen von Pilzfäden (Hyphen) umsponnen. Zwischen Pflanzen und Pilzen besteht ein für beide Seiten vorteilhaftes Arrangement: Jeder der Partner erhält vom anderen essentielle Nährstoffe. Diese erst vor relativ kurzer Zeit entdeckte symbiontische Beziehung ist von entscheidender Bedeutung für das Leben auf der Erde, wenngleich sie nur ein Beispiel für die Bedeutung der Symbiose in der belebten Welt ist. Vielleicht noch faszinierender, wenn auch ökologisch nicht ganz so bedeutsam, ist die enge Beziehung zwischen Blattschneiderameisen, einem Insektentribus von etwa 200 Arten, und den Pilzen, von denen sie sich ernähren. Beide Seiten sind zum Überleben aufeinander angewiesen. Die Blattschneiderameisen sind die dominierenden Herbivoren (Pflanzenfresser) der Neotropischen Region, wo sie etwa 20 Prozent der Biomasse an grünen Blättern ernten. Sie fressen die Blätter jedoch nicht -jedenfalls nicht direkt. Vielmehr tragen sie sie in weitverzweigte unterirdische Nester und verarbeiten sie dort zum Nährboden für ausgedehnte, sorgfältig gepflegte Pilzgärten. Die Pilze gedeihen bei dieser reichlichen Nahrungszufuhr sehr viel besser, als wenn sie auf gelegentlich vom Wind herange-
6.10 Eine Blattschneiderameise trägt ein Stückchen des Pilzes, den ihre Art in unterirdischen Pilzgärten kultiviert. Es gibt ungefähr 200 Arten dieser Ameisen, die in der neotropischen Region etwa 20 Prozent der Biomasse an grünen Blättern ernten und damit die dort dominierenden Herbivoren sind.
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wehte Blätter angewiesen wären, und die Ameisen ernähren sich von nährstoffreichen Verdickungen, die das Pilzmycel ausbildet. Bis vor kurzem waren einige Fragen zu dieser symbiontischen Beziehung noch ungeklärt. Erstens: Wie und wann ist sie entstanden, und wie hat sie sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt? Zweitens: Wie sind die Pilze taxonomisch einzuordnen? (Im Laufe der Entwicklung der Partnerschaft mit den Ameisen haben die Pilze die Produktion von Fruchtkörpern – anhand derer Pilze traditionell bestimmt werden – aufgegeben.) Außerdem war zunächst unklar, ob die Pilze einer einzigen Familie angehören und ihre Evolution über viele Millionen Jahre hinweg gemeinsam mit der der Ameisen verlaufen ist. Während der Stammbaum der Blattschneiderameisen anhand morphologischer Merkmale gut ausgearbeitet ist, gab es bis vor kurzem keine entsprechenden Informationen über die Pilze, von denen sie abhängig sind. Wissenschaftler von einem halben Dutzend Universitäten in den USA haben diese Wissenslücke inzwischen geschlossen, indem sie anhand von Sequenzen nucleärer, ribosomaler DNA einen Stammbaum dieser Pilze erstellten. Es gelang ihnen, die an der Symbiose beteiligten Pilze zu bestimmen, indem sie deren ribosomale DNA mit ribosomaler DNA freilebender Pilzarten verglichen. Die meisten gehören zur Familie Lepiotaceae, der auch der eßbare Parasolpilz (oder Riesenschirmling) angehört; die übrigen sind Angehörige einer entfernt verwandten Linie. Die Fähigkeit dieser beiden Pilzgruppen, grüne Blätter zu nutzbaren Nährstoffen abzubauen, ist einzigartig. Die Evolution der Symbiose zwischen Blattschneiderameisen und Pilzen verlief wie folgt. Es scheint, als sei das Pilzzuchtverhalten nur einmal in der Geschichte der Ameisen entstanden oder „erfunden“ worden, und zwar vor etwa 50 Millionen Jahren. Auch wechselten die Ameisen nur einmal von der ursprünglich genutzten Pilzlinie zu einer anderen. Ihre Treue ist auf die besonderen Fähigkeiten dieser Pilze zum Abbau von Blättern zurückzuführen. Zwar haben einige der primitiveren Blattschneiderameisen von Zeit zu Zeit zu einer anderen Linie innerhalb der Lepiotaceae gewechselt, aber die am stärksten spezialisierten Formen vermehren, wie die molekularbiologische Analyse zeigt, seit mindestens 23 Millionen Jahren dieselbe Pilzlinie. Wann immer eine Königin das Nest verläßt, nimmt sie ein Stückchen Pilzgeflecht mit sich, mit dem sie in einem neuen Nest einen neuen Garten begründet. Das bedeutet, daß die Millionen Tonnen Pilze, die überall in Süd- und Mittelamerika in Millionen unterirdischen Nestern dieser Ameisen gedeihen, sämtlich von einer einzigen Spore abstammen, die vor 23 Millionen Jahren existierte.
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Rätselhafte Wanderungen Manche Verhaltensökologen versuchen, Aspekte im Leben bestimmter Arten zu erforschen, die nicht unmittelbar mit dem Fortpflanzungserfolg des Individuums zu tun haben. Auch hier hat man durch Freilandbeobachtungen einige interessante Verhaltensweisen entdeckt, etwa die Gewohnheit von Schimpansen, regelmäßig Blätter zu fressen, die keinen oder nur geringen Nährwert haben (wie sich herausstellte, sind diese Blätter medizinisch wirksam). Bestimmte Verhaltensweisen entziehen sich jedoch der direkten Beobachtung, und ihre Erforschung ist nur mit Hilfe anderer Informationsquellen, etwa genetischer Daten, möglich. In den beiden Beispielen, die im folgenden beschrieben werden, geht es um wasserlebende Arten, nämlich die Suppenschildkröte und den Buckelwal. Die an Land schwerfälligen, im Wasser dagegen eleganten Suppenschildkröten sind beeindruckende Tiere, in deren Leben es einen Aspekt gibt, der der Wissenschaft bis vor kurzem ein Rätsel war (eigentlich waren es zwei Rätsel). Populationen dieser Schildkrötenart leben an zahlreichen Orten im Bereich des Äquators. Jede Population verbringt den größten Teil des Jahres als Weidegänger in seichten Gewässern, doch wenn es Zeit wird, sich fortzupflanzen, beginnt eine Wanderung zu den Eiablagestränden. Dort angelangt, gehen die Weibchen über einen Zeitraum von zwei
6.11 Eine weibliche Suppenschildkröte, die im brasilianischen Taim zur Eiablage an Land geht. Diese Tiere wandern zwischen Weidegründen und Nistgebieten hin und her und legen dabei manchmal mehrere tausend Kilometer zurück.
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Monaten alle zwei Wochen an Sandstränden an Land, heben tiefe Nester aus und legen jedesmal über 100 Eier. Nach Beendigung dieser Periode folgt eine Wanderung in die entgegengesetzte Richtung, und der Zyklus beginnt von neuem. Manche Populationen legen auf dieser Wanderung insgesamt mehrere hundert Kilometer zurück, andere mehrere tausend. So gibt es eine Population, die sich von März bis Dezember in brasilianischen Küstengewässern aufhält und deren Weibchen zur Eiablage zur Insel Ascension im Mittelatlantik wandern. Hin- und Rückweg sind insgesamt 3900 Kilometer weit. Die Population von Ascension sowie weitere Populationen in der Karibik sind von Biologen mehr als drei Jahrzehnte intensiv erforscht worden, wobei die Weibchen Markierungen erhielten. Während ihres gesamten fortpflanzungsfähigen Lebens – mehrere Jahrzehnte lang – kehren die Weibchen zur Eiablage Jahr für Jahr in dasselbe Gebiet zurück, selbst wenn sie ihre Weidegründe mit anderen Populationen teilen. So wurde von 28 000 Weibchen, die im Laufe der vergangenen 30 Jahre an einem großen Niststrand im costaricanischen Tortuguero markiert worden sind, kein einziges in einem anderen Brutgebiet gesichtet. Warum sind die Weibchen ihren Eiablagegebieten so treu? Treibt sie, wie vor über 30 Jahren in der Hypothese von der Rückkehr zum Geburtsort postuliert wurde, ein tief verwurzelter Instinkt dazu, an den Strand zurückzukehren, an dem sie selbst aus dem Ei geschlüpft sind? Oder wird der Ort der ersten Eiablage, dem die Tiere dann lebenslang die Treue halten, mehr durch den Zufall bestimmt, indem die jungen Weibchen dem Beispiel älterer folgen (ein Phänomen, das man als Verhaltensansteckung (social facilitation) bezeichnet)? Leider ist es bisher nicht gelungen, junge Schildkröten auf eine Weise zu markieren, welche die 30 Jahre bis zum Eintritt der Geschlechtsreife überdauern würde, um so diese Frage beantworten zu können. Mit ihr verknüpft ist eine andere Frage: Welchen Grund könnte es haben, daß die Population von Ascension jedes Jahr eine so anstrengende Wanderung unternimmt? Vor 20 Jahren schlug der Begründer der Meeresschildkrötenforschung, der inzwischen verstorbene Archie Carr, eine Antwort darauf vor. Er wies darauf hin, daß Südamerika und Afrika vor 60 bis 80 Millionen Jahren nur durch eine schmale Meerenge voneinander getrennt waren. Vorfahren der Schildkröten, die heute nach Ascension wandern, könnten den Vorläufer dieser Insel besiedelt haben, der zwischen den benachbarten Kontinenten lag. Diese drifteten jedoch Jahr für Jahr um einige Zentimeter auseinander. Durch die Kontinentaldrift entfernten sich Nistgebiete und Weidegründe der Schildkröten immer weiter voneinander. Vom Instinkt getrieben, verlängerten die Schildkröten ihre Wanderung von Generation zu Generation, bis daraus die heutige Odyssee geworden war. Leider gab es keine Möglichkeit, diese Hypothese zu überprüfen. 140
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Während der letzten Jahre haben Brian Bowen von der University of Florida und John Avise von der University of Georgia versucht, diese Fragen mit Hilfe molekularbiologischer Verfahren, speziell durch Restriktionsanalyse der Mitochondrien-DNA, zu beantworten. MitochondrienDNA ist für diese Untersuchung besonders geeignet: Da sie nur von der Mutter vererbt wird, gibt sie Aufschluß über die Geschichte und das Verhalten von Weibchenpopulationen. Sollte sich das Wanderungsverhalten der Männchen von dem der Weibchen unterscheiden, so werden die Untersuchungsergebnisse dadurch nicht verfälscht. Falls die Hypothese von der Rückkehr zum Geburtsort zuträfe, dürfte es keinen Fluß von Mitochondriengenen zwischen verschiedenen Eiablagegebieten geben, das heißt, die Weibchen jedes Nistgebiets müßten eine genetisch abgrenzbare Gruppe bilden. Dagegen würde Verhaltensansteckung eine Vermischung der Mitochondrienlinien aus verschiedenen Eiablagegebieten bewirken, und infolgedessen wären die entsprechenden Weibchengruppen genetisch nicht abgrenzbar. Die Daten aus der Mitochondrien-DNA sind eindeutig. Zwar sind die Weibchen aus zwei der untersuchten Nistgebiete, nämlich von der Hendersoninsel in Florida und aus Tortuguero, einander genetisch sehr ähnlich, aber alle anderen in der Karibik – und die auf Ascension – sind genetisch verschieden. Dieses Ergebnis unterstützt eindeutig die Hypothese von der Rückkehr zum Geburtsort. Wie verhält es sich aber mit Carrs Hypothese über die Population von Ascension? Wenn sie tatsächlich seit 80 Millionen Jahren von allen anderen Populationen getrennt wäre, müßte der genetische Unterschied zwischen den Suppenschildkröten von Ascension und anderen Populationen beträchtlich sein. Tatsächlich unterscheidet sich die Population von Ascension zwar von den anderen, aber die Trennung fand vor deutlich weniger als einer Million Jahren statt. Diesen Zeitpunkt impliziert jedenfalls das Ausmaß der Sequenzunterschiede, wenn man von einer Sequenzdivergenzrate von zwei Prozent pro Million Jahre ausgeht. (Die Sequenzdivergenzrate ist die Rate, mit der sich zwei Sequenzen auseinanderentwickeln.) Nach Ansicht von Bowen und Avise könnte die Divergenzrate bei dieser Spezies erheblich geringer sein und vielleicht nur 0,2 Prozent betragen. Doch selbst wenn man diese Rate zugrundelegt, ist Carrs Hypothese nicht haltbar. Natürlich könnte der genetische Unterschied selbst zwischen seit langem getrennten Populationen relativ gering sein, wenn durch gelegentliche Kreuzungen ein Genfluß zwischen ihnen bestanden hätte. Trotz des ausgeprägten Verhaltens der Rückkehr zum Geburtsort verirren sich Weibchen mitunter, wenn auch nicht häufig, in benachbarte Eiablagegebiete. Noch wahrscheinlicher ist nach Ansicht von Bowen und Avise die Erklärung, daß Nistgebiete, in geologischen Zeiträumen betrachtet, relativ kurzlebig sind und nur einige Jahrhunderte oder Jahrtausende, nicht jedoch Jahrmillionen überdauern. Auch bevor infolge menschlicher Aktivitäten viele be141
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kannte Eiablagestrände aufgegeben wurden, dürften manche Standorte durch natürliche Klimaverschiebungen als Nistplätze ungeeignet geworden sein. Beispielsweise stieg am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren der Meeresspiegel um ungefähr 90 Meter. Strände, die vielleicht fast 100 000 Jahre auf der kegelförmigen Insel Ascension existiert hatten, müssen damals innerhalb kurzer Zeit verschwunden sein, und als der neue Meeresspiegel sich eingestellt hatte, entstanden neue. Das Verschwinden und die Neuentstehung geeigneter Nistplätze im Laufe geologischer Zeiträume zwingt die Schildkrötenpopulationen, sich neue Eiablagegebiete zu suchen. Während dieser Zeit können sich Gelegenheiten für den Genfluß zwischen Populationen ergeben. Angesichts der relativen Kurzlebigkeit der Niststrände ist es unwahrscheinlich, daß die Schildkröten einen genetisch fixierten Instinkt für die Rückkehr zum Geburtsort besitzen. Statt dessen, so vermuten Bowen und Avise, verfügen alle Suppenschildkröten über die Fähigkeit, Schlüsselreize zu erlernen, anhand derer sie zum Ort ihrer Geburt zurückfinden. Diese, und nicht eine neurologisch verankerte Landkarte, treibt ihre Wanderungen an. Und wie verhält es sich in diesem allmählich entschlüsselten Rätsel mit den Männchen? Sie verbringen den größten Teil ihres Lebens im Meer und werden selten gesichtet. Die Mitochondrien-DNA gibt keinerlei Aufschluß über ihre Geschichte und ihr Verhalten. Um dieser Frage nachzugehen, arbeiteten Bowen und Avise mit Stephen Karl von der University of South
6.12 Buckelwale unternehmen saisonale Wanderungen zwischen Nahrungsgründen in Meeren der gemäßigten oder polnahen Breiten, in denen sie den Sommer verbringen, und Fortpflanzungsgebieten in seichten tropischen Gewässern; dabei legen sie oft mehr als 11 000 Kilometer zurück.
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Florida zusammen, der Kern-DNA-Sequenzen von Individuen aus mehreren Kolonien miteinander verglich. Auch zwischen diesen Kolonien gab es genetische Unterschiede, wenn auch nicht so deutliche wie die, welche die Analyse der Mitochondrien-DNA offenbart hatte. Das deutet darauf hin, daß die Männchen sich gelegentlich mit Weibchen aus anderen Populationen paaren und daher die Hauptverantwortung für den Genfluß zwischen Populationen tragen. Auch Buckelwale unternehmen saisonale Wanderungen, und zwar von ihren sommerlichen Nahrungsgründen in Gewässern der gemäßigten oder polnahen Breiten in ihre in seichten tropischen Gewässern gelegenen Fortpflanzungsgebiete, wobei sie häufig über 11 000 Kilometer zurücklegen. Bei vielen Walarten kann man, oft anhand charakteristischer Merkmale der Schwanzflosse, Tiere individuell identifizieren und so Informationen über die Populationsstruktur der jeweiligen Art gewinnen. Im Falle des Buckelwales haben Beobachter die Schlußfolgerung gezogen, daß es im Pazifik und im Atlantik Subpopulationen gibt, die getrennte Nahrungsgründe, aber oft gemeinsame Fortpflanzungsgebiete haben. Mit Hilfe genetischer Analysen ließen sich ihre Wanderungsmuster erforschen. Scott Baker von der Victoria University im neuseeländischen Wellington und mehrere Mitarbeiter entnahmen 90 Individuen aus zwei Nahrungsgründen (Nordostalaska und Mittelkalifornien) und einem Fortpflanzungsgebiet (Hawaii) im Nordpazifik sowie aus einem Nahrungsgebiet (Golf von Maine) im Nordatlantik mit Hilfe der sogenannten Dart-Biopsie Hautproben. Baker führte damit eine Restriktionsanalyse durch und sequenzierte außerdem einen schneller Evolution unterliegenden Abschnitt der Mitochondrien-DNA. Dabei entdeckte er einen deutlichen genetischen Unterschied zwischen den Populationen aus den verschiedenen Nahrungsgewässern, und zwar nicht nur zwischen denen aus verschiedenen Ozeanen (was nicht überraschend war), sondern auch zwischen den beiden aus dem Nordpazifik. Die Population im Fortpflanzungsgebiet bei Hawaii war eine Mischung von Individuen aus Alaska und aus Kalifornien. Das Fehlen geographischer Barrieren zwischen den pazifischen Subpopulationen veranlaßte Baker und seine Mitarbeiter zu der Schlußfolgerung, die Populationsstruktur in diesem Meer sei das Ergebnis »starker in weiblicher Linie überlieferter Traditionen hinsichtlich der Zielgebiete der Wanderungen«. Verhaltensansteckung spielt hier offenbar eine wichtige Rolle. Ein Vergleich der genetischen Unterschiede zwischen den Populationen aus Pazifik und Atlantik erbrachte weitere Erkenntnisse über das Verhalten der Art. Der Isthmus von Panama trennte die beiden Meere vor etwa drei Millionen Jahren. Falls die Trennung seit damals fortbesteht, müßte sich dies im genetischen Unterschied zwischen den Populationen widerspiegeln. Ausgehend von einer Sequenzdivergenzrate von zwei Prozent pro Million Jahre müßte der Unterschied zwischen den Populationen sechs 143
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Prozent betragen. Statt dessen fand man nur einen Bruchteil davon: etwa 0,27 Prozent. Entweder ist die Rate der Sequenzdivergenz bei Buckelwalen sehr viel geringer als bei anderen großen Säugern, oder es findet von Zeit zu Zeit ein Genfluß zwischen den beiden Meeren statt, vielleicht wenn sich Subpopulationen vermischen. Wie bei den Suppenschildkröten ist es auch bei den Buckelwalen wahrscheinlich, daß ihre Nahrungs- und Fortpflanzungsgebiete nur begrenzte Zeit bestehen, wodurch Gelegenheiten zur Vermischung entstehen. Diese Arbeit zeigt, wie Stephen O’Brien, einer der Mitarbeiter von Baker, es kürzlich formulierte, wie »die phylogenetische Analyse eines in weiblicher Linie vererbten Genoms unmittelbar Einblicke in das Wanderungsverhalten eines großen, bedrohten Meeressäugers erbrachte«.
Phylogeographie Die genetische Variation ist oft nicht gleichmäßig über das gesamte Verbreitungsgebiet einer Art verteilt. Vielmehr können die einzelnen Populationen in sich genetisch relativ gleichförmig sein, sich aber – in unterschiedlichem Maße – von anderen Populationen unterscheiden. Bei Suppenschildkröten und Buckelwalen beispielsweise sorgt die Wanderung der Weibchen dafür, daß die Populationen getrennt bleiben, so daß sich genetische Unterschiede zwischen ihnen akkumulieren können. Bei diesen Tieren ist die Unterschiedlichkeit der Populationen auf eine Verhaltensweise (nämlich das Wanderungsverhalten) zurückzuführen, doch sind auch andere Ursachen möglich – insbesondere die Anpassung von Populationen an ihre jeweilige Umwelt. In diesem Fall werden die genetischen Unterschiede innerhalb einer Art als Feinabstimmung der Genaktivität durch die natürliche Auslese betrachtet. Zwischen isolierten Populationen einer Art können sich, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, auch infolge zufälliger Ereignisse Unterschiede ausbilden; man spricht dann von genetischer Drift. Es gibt noch einen weiteren Faktor, der für genetische Unterschiede zwischen den Populationen einer Art sorgt: die Geschichte. Geschichte bedeutet in diesem Zusammenhang einen komplizierten Prozeß – ein Wechselspiel zwischen Geographie und Klima. Die Geographie entscheidet darüber, ob sich eine Art ausbreiten kann, so daß getrennte Populationen entstehen, und vom Klima hängt es ab, ob eine Art ein bestimmtes geographisches Gebiet zu besiedeln vermag. Manche Lebewesen, etwa Landschildkröten, können pro Tag wie auch im Laufe ihres Lebens nur eine sehr begrenzte Strecke zurücklegen, und dies kann Paarungen zwischen 144
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Individuen benachbarter Populationen unmöglich machen. Der Genfluß zwischen solchen Populationen ist daher begrenzt und ermöglicht im Laufe der Zeit die Entstehung genetischer Unterschiede. Mobile Arten – darunter manche Vögel, Meeresfische und große Landsäugetiere – können eine großes, praktisch zusammenhängendes Fortpflanzungsnetz bilden; dies fördert den Genfluß zwischen Populationen und begrenzt die Entstehung genetischer Unterschiede. Physikalische Ausbreitungsbarrieren haben den gleichen Effekt wie biologische Faktoren, die die Ausbreitung einer Art begrenzen. Beispielsweise können sich zwischen Populationen, die durch alte Gebirgszüge oder große Flüsse getrennt sind, erhebliche genetische Unterschiede ausbilden. Schließlich können diese Unterschiede so groß werden, daß aus den getrennten Populationen neue Arten hervorgehen. Physikalische Eigenschaften der Landschaft hinterlassen also Spuren in der genetischen Struktur dort lebender Populationen. Beispielsweise bestehen zwischen geographisch getrennten menschlichen Populationen genetische Unterschiede, wenngleich diese, verglichen mit dem Ausmaß der Variation innerhalb von Populationen, nicht groß sind. Im Jahre 1987 prägten John Avise und seine Kollegen für die Wissenschaft von den Auswirkungen der physikalischen Umwelt der Arten auf deren genetische Struktur den Begriff Phylogeographie. Nach Ansicht von Avise sollte die Phylogeographie ihren Platz neben der sogenannten Ökogeographie einnehmen, um gemeinsam das zu bilden, was Ökologen als Biogeographie bekannt ist. Beispielsweise gibt es in der Ökogeographie mehrere „Regeln“ dafür, wie sich anatomische Unterschiede zwischen Populationen einer Art in verschiedenen ökologischen Zonen ausbilden werden. Beispielsweise werden warmblütige Tiere der Bergmannschen Regel zufolge in höheren Breitengraden insgesamt größer als ihre Artgenossen aus wärmeren Gebieten (und damit nimmt auch das Verhältnis von Volumen zu Oberfläche zu). Ähnliches besagt die Allensche Regel, nach der die Extremitäten und andere exponierte Körperteile – etwa Ohren, Schwanz oder Schnabel – von Warmblütern mit zunehmendem Breitengrad relativ zur Körpergröße kürzer werden. Eskimos zum Beispiel haben stämmige Körper mit relativ kurzen Gliedmaßen, während die Menschen aus äquatornahen Populationen in der Regel groß und schlank sind und lange Gliedmaßen besitzen. Bei beiden Merkmalen handelt es sich um lokale Anpassungen an die Erfordernisse der Thermoregulation. Mit dem Zugang zu Daten über die Mitochondrien-DNA verfügt die Populationsgenetik seit Ende der siebziger Jahre über eine effektive Methode zur Untersuchung von Fragen der Phylogeographie. Mitochondrien-DNA ist hierfür besonders gut geeignet, weil sie empfindlich für genetische Unterschiede auf der Populationsebene und nicht auf der Ebene der Individuen ist. Derartige Arbeiten haben deutlich gemacht, daß die physikalische Umwelt starken Einfluß auf die genetischen Unterschiede sowohl innerhalb von Arten als auch zwischen ihnen hat. Die Analyse solcher Unterschiede innerhalb einer Art liefert daher Informationen über deren Aus145
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breitungsverhalten und Geschichte (ihre gegenwärtige und vergangene geographische Verbreitung). Einige Beispiele sollen diese Prinzipien verdeutlichen. Avise und seine Mitarbeiter gehörten zu den ersten Wissenschaftlern, die umfangreiche phylogeographische Daten über eine Vielzahl verschiedener Arten sammelten. Klassisch ist ihre 1979 veröffentlichte Untersuchung der Taschenrattenart Geomys pinetis, eines in ausgedehnten Bauen lebenden Nagers, der in drei Staaten der südöstlichen USA vorkommt. Die RFLPAnalyse der Mitochondrien-DNA von 87 Individuen dieser Art ergab eine deutliche Trennung zwischen östlichen (in Florida und Georgia lebenden) und westlichen (hauptsächlich in Alabama lebenden) Populationen. Jede Population war durch bestimmte DNA-Sequenzen eindeutig charakterisiert, was auf eine seit langem bestehende genetische Trennung hindeutet. Die genetische Verschiedenheit ist darauf zurückzuführen, daß diese Taschenratten in aller Regel in der Nähe ihres Geburtsnestes bleiben und selten, wenn überhaupt jemals in entferntere Gebiete abwandern. Ein Jahrzehnt später veröffentlichten Avise und seine Mitarbeiter ähnliche Daten über den Rotschulterstärling (Agelaius phoeniceus) – die erste derartige Untersuchung an einer weitverbreiteten Vogelart. Die Mitochondrien-DNA einer Stichprobe von 127 Individuen aus dem gesamten Nordamerika war genetisch weitgehend uniform, zwischen den Populationen bestanden nur geringfügige Unterschiede. Zwar nisten fast 90 Prozent der Rotschulterstärlinge in nicht mehr als 130 Kilometern Entfernung von dem Ort, an dem sie geschlüpft sind, aber die übrigen Individuen wandern sehr viel weiter, mitunter bis zu 1100 Kilometer. Ein erstaunlich geringer Genfluß zwischen den Populationen reicht aus, um die genetische Ähnlichkeit zwischen ihnen aufrechtzuerhalten: Pro Generation müssen nur ein bis zwei Vögel ihre Herkunftspopulation verlassen. Das Ausbreitungsverhalten der Rotschulterstärlinge erklärt also, obwohl es nur mäßig ausgeprägt ist, das Fehlen einer geographischen Populationsstruktur auf der genetischen Ebene. Dagegen bestehen zwischen den geographischen Populationen erhebliche, offenbar durch Umweltfaktoren bedingte morphologische Unterschiede, und man unterscheidet 23 Unterarten. Bis heute wurden über 100 Arten – Wirbeltiere, Wirbellose und Pflanzen – phylogeographisch untersucht. Wie bei Geomys pinetis und beim Rotschulterstärling besteht generell eine starke Korrelation zwischen der Ausbreitungsfähigkeit einer Art und der genetischen Struktur verschiedener Populationen. Ebenfalls stark ist der Effekt längerfristig wirksamer historischer Faktoren. So bewirkte der Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten während des Pleistozän (vor zwei Millionen bis 10 000 Jahren vor heute) konstante Veränderungen in Ökosystemen: Während der Kaltzeiten wurden Wälder fragmentiert und wanderten in Richtung Äquator, wodurch 146
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6.13 Bei verschiedenen europäischen Eichenarten gibt es eine klare Trennung zwischen westlichen und östlichen Populationen, die offenbar auf eine ehemalige geographische Barriere zurückgeht. Die abgebildete Stieleiche (Quercus robur) steht in England.
kleinere Ökosysteme, sogenannte Refugien, entstanden; in Zeiten milderen Klimas dehnten sich die Waldrefugien aus, vereinigten sich und wanderten vom Äquator weg. Solche Veränderungen können sich in genetischen Unterschieden zwischen Populationen widerspiegeln, und zwar sowohl innerhalb von Arten als auch zwischen ihnen, je nachdem wie eine Spezies auf sie reagieren konnte. Ein interessantes Beispiel hierfür sind europäische Eichen, und zwar speziell die einheimischen Arten Stieleiche (Quercus robur) und Steineiche (Q. petraea), deren Verbreitungsmuster eine ehemalige Trennlinie zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Populationen verrät. G. M. Hewitt und seine Mitarbeiter von der englischen University of East Anglia wählten einen ungewöhnlichen genetischen Marker aus, um nach Hinweisen auf lange zurückliegende Ereignisse zu suchen: ein Intron in einem Transfer-RNA-Gen aus Chloroplasten. Bestimmte Abschnitte dieses Introns sind seit einer Milliarde Jahren stark konserviert, das heißt, sie sind in allen photosynthesetreibenden Lebewesen identisch geblieben. 147
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Hewitt und seine Mitarbeiter sequenzierten diesen Abschnitt in einem halben Dutzend Eichenarten und machten dabei zwei überraschende Beobachtungen. Erstens besitzen Stieleiche und Steineiche eine identische Punktmutation, ein Cytosin anstelle eines Thymins an derselben Position. Zweitens ist diese Mutation nur in den östlichen Populationen der beiden Arten vorhanden. Stiel- und Steineiche überlebten die Kaltzeiten gemeinsam mit anderen Baumarten in südeuropäischen Refugien. Hewitt und seine Mitarbeiter vermuten, daß die ungewöhnliche Mutation während einer dieser Perioden bei einer der Eichenarten entstand und später durch interspezifische Hybridisierung, einen häufigen Vorgang, auf die andere Art übertragen wurde. Während der Warmzeiten wanderten beide Arten nach Norden, behielten aber die Trennung zwischen westlichen und östlichen Populationen eindeutig bei. Hewitts Arbeitsgruppe macht darauf aufmerksam, daß dieselbe geographische Grenzlinie, die bei den beiden Eichenarten nur auf der genetischen Ebene feststellbar ist, viele morphologisch unterscheidbare Taxa voneinander trennt. Außerdem bildet diese Linie bei vielen Vogelarten auch die Grenze zwischen Populationen mit unterschiedlichen Zugrouten, wobei ein Teil die westliche Route über Spanien und Gibraltar nach Afrika einschlägt und ein Teil die östliche Route über den Balkan und den Bosporus. Hier existiert ganz offensichtlich eine starke geographische Barriere, und das schon seit sehr langer Zeit. Ein ähnliches Wechselspiel zwischen Geographie und Klima muß es in vielen Teilen der Erde gegeben haben, und inzwischen hat man bereits einige auf molekularbiologischen Daten beruhende Erkenntnisse über derartige Prozesse gesammelt. Ein Beispiel betrifft Arten aus einer Bergwaldregion in Nordostaustralien. Dort sind zwei große Waldgebiete – der Daintree Forest im Norden und das Atherton Tableland im Süden – durch einen schmalen Korridor miteinander verbunden. Während der Eiszeiten schrumpfte die Waldfläche, und der Korridor, die sogenannte Black Mountain Barrier, verschwand. Durch die periodische Isolation und Wiedervereinigung der beiden großen Waldgebiete müßten zwischen den Populationen aller Arten, die in beiden Gebieten leben, genetische Unterschiede entstanden sein (deren Umfang von ihrer Ausbreitungsfähigkeit abhängig sein müßte). Evolutionsökologen diskutieren seit langem die Bedeutung solcher Prozesse für die Entstehung biologischer Vielfalt. Nach Ansicht mancher Ökologen können sich in Perioden, in denen Arten in geographisch isolierte Populationen aufgesplittert werden, genügend genetische Unterschiede zwischen diesen ausbilden, um zur Evolution neuer Spezies zu führen. Mit anderen Worten, die periodische Bildung von Refugien fördert die Evolution neuer Arten und steigert damit die Artenvielfalt. Craig Moritz und seine Mitarbeiter von der University of Queensland berichteten vor kurzem über eine Untersuchung an sechs Tierarten aus diesen Wäldern, in der sie unter anderem diesen Punkt überprüfen wollten. Vier 148
6. MOLEKULARÖKOLOGIE
der Spezies, nämlich drei Vogelarten und eine Echse, sind in Nordostaustralien endemisch, das heißt, sie kommen nirgendwo sonst vor: der Farnschnäpper (Heteromyias albispecularis), eine Laufflöterart, der Rotstirn-Sericornis (Sericornis keri) sowie eine Skinkspezies. Die nichtendemischen Arten waren der Gelbkehl-Sericornis (S. citreogularis) und der Fahlstirn-Sericornis (S. magnirostris). Aus Hautproben von 41 Skinken und Blut von 102 Vögeln wurde DNA für die Sequenzierung eines kurzen Abschnitts aus dem Cytochrom-b-Gen des Mitochondriengenoms gewonnen. Bei allen Arten außer einer bestand eine klare Trennung in eine nördliche und eine südliche Population, was auf eine Übereinstimmung ihrer geographischen Geschichte hinwies. Das Ausmaß der Unterschiede variierte allerdings beträchtlich: Die Sequenzdivergenz betrug beim Skink acht Prozent, beim Fahlstirn-Sericornis dagegen nur 0,1 Prozent. Phylogeographischen Prinzipien zufolge müssen Arten mit guter Ausbreitungsfähigkeit aus Populationen bestehen, die einander aufgrund des Austauschs von Individuen genetisch ähneln. Ein weiterer Faktor ist jedoch der Zeitpunkt, zu dem die genetische Auseinanderentwicklung innerhalb einer Art beginnt: Die Populationen des Skinks divergieren seit mehreren Millionen Jahren, die der meisten Vögel dagegen seit weniger als einer Million Jahren. Alles in allem unterstützen die Ergebnisse von Moritz und seinen Mitarbeitern die Annahme, daß Refugien für die Entstehung biologischer Vielfalt wichtig sind. Eine Ausnahme bildete der Rotstirn-Sericornis: Zwischen seinen beiden Populationen bestanden kaum genetische Unterschiede. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil das heutige Verbreitungsgebiet dieser Art auf einige hochgelegene Regenwaldgebiete beschränkt ist, die während der Eiszeiten voneinander isoliert gewesen sein dürften. Als mögliche Erklärung schlagen Moritz und seine Mitarbeiter vor, daß der Vogel während des Höhepunktes der letzten Eiszeit vor 18 000 Jahren ganz aus einem der beiden großen Waldgebiete verschwand. Als sich das Klima vor 10 000 Jahren wieder erwärmte, hätten demnach Individuen aus den überlebenden Populationen dieses Gebiet wiederbesiedelt. Wenn dies zutrifft, müßten andere Arten, deren Habitatansprüche mit denen des RotstirnSericornis übereinstimmen, ein ähnliches genetisches Muster aufweisen. Im letzten Beispiel dieses Abschnitts geht es um übereinstimmende Muster bei mehreren Arten, diesmal im Südosten der USA – einem Gebiet mit komplexen ökologischen und geographischen Verhältnissen. Diese Forschungsarbeit, die hauptsächlich von John Avise und seinen Mitarbeitern durchgeführt wurde und über zehn Jahre in Anspruch nahm, ist deshalb so bedeutend, weil sie eindeutig demonstriert, daß die heutige genetische Struktur in einer Gruppe nicht verwandter Arten Rückschlüsse auf den Einfluß historischer Faktoren – etwa des Klimawandels – auf die Verbreitung von Populationen erlaubt, selbst wenn dabei vielleicht unklar 149
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
bleibt, um welche Faktoren es sich konkret handelte. Überdies ließe sich in diesem speziellen Fall die gegenwärtige genetische Struktur nicht anhand der vorherrschenden ökologischen Selektionsdrücke vorhersagen, was die Bedeutung geschichtlicher Einflüsse betont. Die Halbinsel Florida erstreckt sich nach Süden hin in subtropische Gewässer; auf ihrer Ostseite liegt der Atlantik, auf ihrer Westseite der Golf von Mexiko. Viele Tierarten sind in den Ökosystemen entlang beider Küsten zu finden, andere dagegen sind auf eine Seite der Halbinsel beschränkt. Die etwa ein Dutzend Kaltzeiten des Pleistozän hatten verschiedene klimatische Auswirkungen und mit diesen zusammenhängende Effekte, unter anderem ein Absinken des Meeresspiegels um circa 90 Meter sowie eine Abkühlung und einen Rückgang der Luftfeuchtigkeit. Die Gesamtheit dieser Veränderungen dürfte komplexe Folgen gehabt haben. Avise ist jedoch der Ansicht, ihre Auswirkungen auf die Verbreitung der Populationen in der Vergangenheit ließen sich aus der genetischen Struktur der heutigen Populationen ablesen wie aus einem historischen Fußabdruck. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern analysierte er die Verbreitung der Mitochondrien-DNA-Typen von 19 Arten aus diesem Gebiet, und zwar aus Süßwasserökosystemen, Küstengebieten und dem offenen Meer (darunter verschiedene Fischarten, Muscheln, Wasserschildkröten, Krabben und Vögel), und rekonstruierte so eine biogeographische Geschichte der Fauna. Das verblüffendste Ergebnis war eine geographische Übereinstimmung der genetischen Muster in den Populationen der meisten, aber nicht aller Arten. Bei den marinen Arten und den Küstenbewohnern gibt es eine Trennlinie zwischen den Populationen des Atlantiks und denen des Golfes von Mexiko, und auch bei den meisten Süßwasserarten existiert eine ähnliche Trennung zwischen östlichen und westlichen Populationen. Daten, die in der Folgezeit von mehreren anderen Labors veröffentlicht wurden, ergeben ein ähnliches Ost-West-Verbreitungsmuster für eine Reihe landlebender Arten, darunter Nagetiere, Schildkröten und Vögel. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, daß physikalische Faktoren, die durch das Klima während des Pleistozän entstanden, ganz verschiedenartige Spezies in östliche und westliche Populationen aufspalteten. Die so getrennten Populationen entwickelten allmählich unterschiedliche genetische Merkmale, die heute noch nachweisbar sind, unter anderem in der MitochondrienDNA. Dieses ausgeprägte Muster einer Trennung zwischen östlichen und westlichen Populationen ließ sich auf der Grundlage der heutigen Umweltbedingungen nicht vorhersagen. Für das menschliche Auge ist auf der Reise von Osten nach Westen keine biogeographische Trennlinie erkennbar. Tatsächlich lassen der in Nord-Süd-Richtung verlaufende Temperaturgradient und die allgemeine Ausrichtung der Flußläufe eher eine Trennung in 150
6. MOLEKULARÖKOLOGIE
nördliche und südliche Populationen vermuten. In Anbetracht der Komplexität der zu erhellenden klimatischen und ökologischen Geschichte läßt sich noch nicht genau sagen, wodurch sich die historische biogeographische Dynamik so stark auf das heutige genetische Muster überträgt. Jedenfalls lassen diese überraschenden Ereignisse nach Ansicht von Avise erkennen, daß Populationsstrukturen und intraspezifische Evolutionsprozesse auch von historischen Faktoren beeinflußt sind. Die durch seine Arbeiten aufgedeckten erheblichen (und oft auf lange zurückliegende Prozesse zurückzuführenden) genetischen Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen einer Art haben Implikationen für die Artenschutzbiologie und für das Populationsmanagement. Artenschutzbiologen schlagen manchmal vor, zwei Populationen einer gefährdeten Art zusammenzubringen, zum Beispiel weil eine Population inzwischen zu klein ist, um sich selbst erhalten zu können, oder weil der Lebensraum einer Population bedroht ist. Das Zusammenbringen von Individuen aus zwei Populationen mag unter solchen Umständen vernünftig erscheinen, birgt aber die Gefahr der Vermischung von Populationen, die zwar zur gleichen Art gehören, sich aber genetisch voneinander unterscheiden. Überdies wird, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, die Identifikation von Arten, die möglicherweise gefährdet sind, durch die Existenz genetisch unterschiedlicher Populationen erschwert.
Populationsengpässe Unter Ökologen nimmt die Erkenntnis zu, daß immer mehr Arten der Ausrottung entgegengehen, und zwar hauptsächlich infolge der Zerstörung ihrer Lebensräume durch den Menschen. Der unerbittliche Kahlschlag der Regenwälder beispielsweise könnte dazu führen, daß die Hälfte aller auf der Erde lebenden Arten bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ausstirbt. Wenn der Lebensraum einer Art dahinschwindet, ist ihr Fortbestand gefährdet, und diese Gefährdung wird schon vor dem Tod des letzten Individuums übermächtig, nämlich dann, wenn die Population so stark dezimiert ist, daß sie durch Krankheiten, Brände, Unwetter und ähnliche Ereignisse ausgelöscht werden kann. Kleine Populationen sind, wie wir noch sehen werden, auch anfällig für verschiedene genetische Probleme. Naturschützer bemühen sich daher nach Kräften, der Zerstörung natürlicher Lebensräume Einhalt zu gebieten und für die Einrichtung von Schutzgebieten für bedrohte Arten zu sorgen. Seit einiger Zeit verwenden Ökologen die neuen molekularbiologischen Methoden auch dazu, derartige Bemühungen mit wissenschaftlichen Daten zu untermauern. Diese neue Disziplin, die Artenschutzgenetik, hat zwei 151
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Hauptziele: erstens die Erforschung der genetischen Veränderungen, die das Überleben bedrohter Arten gefährden, und zweitens die Nutzung genetischer Daten für das Management solcher Arten. Die Erkenntnisse, die diese beiden Forschungsansätze geliefert haben, waren mitunter überraschend. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, besteht in den meisten natürlichen Populationen ein erhebliches Ausmaß an genetischer Variation – eine Entdeckung, die Mitte der sechziger Jahre großes Erstaunen hervorrief. Zunächst konzentrierten sich die Populationsgenetiker auf die Frage, wieviel Zufallsvariation eine Population ohne negative Folgen tolerieren kann. Später wurde daraus die bis heute ungeklärte Frage nach dem adaptiven Nutzen ausgeprägter Variation. Die Naturschützer wurden Mitte der siebziger Jahre auf dieses Thema aufmerksam, als man bei einer Untersuchung an Nördlichen See-Elefanten vor der Westküste Nordamerikas bei 24 Proteinen keinerlei genetische Variation feststellte. Dieser ungewöhnliche Befund war die Folge einer rücksichtslosen Bejagung im vergangenen Jahrhundert, durch welche die Population auf eine Handvoll Individuen dezimiert worden war. Die Art überlebte, zum Teil infolge der Unterschutzstellung im Jahre 1922, und die’ Population ist seither auf etwa 120 000 Tiere angewachsen. Wenn eine Art einen solchen Populationsengpaß – mitunter auch als Flaschenhals bezeichnet – durchläuft, geht ein Großteil der in der Population vorhandenen genetischen Variation nach dem Zufallsprinzip verloren, vor allem wenn
6.14 Während des vergangenen Jahrhunderts wurde der Bestand des Nördlichen See-Elefanten durch intensive Bejagung auf eine Handvoll Tiere dezimiert. Seit ihrer Unterschutzstellung im Jahre 1922 hat sich die Art erholt; heute gibt es etwa 120 000 Individuen.
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6. MOLEKULARÖKOLOGIE
die Population sich nur langsam erholt. Weil der Durchgang durch diesen sehr engen Flaschenhals im Fall des Nördlichen See-Elefanten nicht zum Aussterben der Art führte, war die Bedeutung des Verlusts an genetischer Variation jedoch nicht offensichtlich. Die wahren Gefahren einer Abnahme der Populationsgröße, der daraus resultierenden Inzucht und des Verlusts an genetischer Variation zeigte eine im Jahre 197Ĝ9 durchgeführte Untersuchung an 24 in Gefangenschaft lebenden Wildtierpopulationen. Wie Katherine Ralls und ihre Kollegen vom National Zoo in Washington berichteten, nahm die Jungensterblichkeit bei Inzucht in fast allen Fällen zu. Artenschutzbiologen erkannten, daß solche schädlichen Effekte – zu denen auch der Rückgang der Spermienzahl und -vitalität und die gesteigerte Krankheitsanfälligkeit infolge einer Abnahme der genetischen Variation im Immunsystem zählen – auch bei wildlebenden, zahlenmäßig dezimierten Populationen auftreten können. Die nachteiligen Effekte der Inzucht entstehen durch den Verlust vorteilhafter Allele sowie durch die Expression seltener schädlicher Allele, die in großen Populationen nicht ins Gewicht fallen. Seit diesen frühen Studien haben Biologen bei Dutzenden von Tierarten, die Populationsengpässe durchlaufen haben, Proteinpolymorphismen, die Variation der Mitochondrien-DNA und genetische Fingerabdrücke untersucht. Ganz gleich ob der Populationsrückgang die Folge von Bejagung, Lebensraumzerstörung oder natürlichen Ursachen, etwa Epidemien, war: Die Gefahr einer Abnahme der Überlebensfähigkeit war groß, jedoch nicht bei allen Arten gegeben. Manche Spezies beziehungsweise Subspezies, wie der Gepard und die als Florida-Panther bezeichnete Unterart des Pumas, erlitten schwere Schädigungen, während bei anderen, etwa der auf den Inseln vor Kalifornien lebenden Unterart des Graufuchses (Urocyon cinereoargentus), die von manchen Wissenschaftlern auch als eigene Art U. littoralis angesehen wird, offenbar keine schädlichen Effekte entstanden. Diese Diskrepanz hat auch Auswirkungen auf die Auseinandersetzung über den adaptiven Nutzen genetischer Variabilität innerhalb von Populationen. Ob eine Population nach einem Engpaß unter genetischen Problemen leidet, hängt allerdings, wie Stephen O’Brien bemerkte, ebensosehr von der Qualität der verbliebenen genetischen Varianten ab wie von deren Quantität. Manche Populationen haben beim Durchgang durch einen Engpaß vielleicht insofern Glück, als sie zwar genetische Variation verlieren, aber die wenigen verbliebenen Gene größtenteils vorteilhaft und nicht schädlich sind. Die älteren Methoden der traditionellen Populationsgenetik – etwa die Suche nach Proteinpolymorphismen mit Hilfe der Gelelektrophorese – können wichtige Erkenntnisse über den genetischen Zustand von Populationen liefern, das heißt über das Ausmaß der vorhandenen genetischen Variation. Die neueren molekularbiologischen Verfahren liefern durch
6.15 Von Populationen, die sich nach einem starken Rückgang wieder erholt haben, sagt man, sie haben einen Populationsengpaß oder Flaschenhals durchlaufen. In diesem Prozeß wird die genetische Variation in aller Regel reduziert, und oft steigt die Häufigkeit schädlicher Allele, die in der Ausgangspopulation selten waren; die Folge ist eine geringere Fitneß der erholten Population.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 6.2: Die Kontroverse über den Geparden Unter Biologen herrscht Einigkeit darüber, daß zwischen dem Ausmaß der genetischen Variation einer Spezies und ihrer Fitneß, das heißt ihrem Fortpflanzungserfolg sowie ihrem Evolutionspotential, ein Zusammenhang besteht. Zwar ist die Art dieses Zusammenhangs noch nicht genau bekannt, doch weiß man, daß geringe Variation oft die Fruchtbarkeit senkt und die postnatale Sterblichkeit erhöht. Aus diesem Grunde widmet die Artenschutzgenetik der genetischen Variation inzwischen besondere Aufmerksamkeit, vor allem im Zusammenhang mit Versuchen, bedrohte Arten zu retten. Hauptsächlich durch die Untersuchungen, die Stephen O’Brien und seine Mitarbeiter am National Cancer Institute im US-Bundesstaat Maryland seit Anfang der achtziger Jahre durchgeführt haben, ist der Gepard zum Standardbeispiel für eine bedrohte Art geworden, deren gegenwärtige Notlage und Ungewisse Zukunft das Ergebnis einer drastisch gesunkenen genetischen Variation sind. Seit einigen Jahren ist diese Arbeit jedoch zunehmender Kritik ausgesetzt, und zwar sowohl in bezug auf O’Briens Behauptung, die genetische Variation beim Geparden sei für ein Raubtier ungewöhnlich gering, als auch hinsichtlich seiner Schlußfolgerung, die prekäre Lage der Art habe genetische Ursachen. Die Meinungsverschiedenheiten erstrecken sich auf ein weites Feld und sind sehr deutlich zum Ausdruck gebracht worden, so daß die Überschriften wissenschaftlicher Aufsätze oft die Worte „the cheetah controversy“ (die Kontroverse über den Geparden) enthalten. Der einst nahezu weltweit verbreitete Gepard kommt heute nur noch in Afrika südlich der Sahara sowie in einem kleinen Gebiet im Nordiran vor. Zwischen 1960 und 1974 wurde der afrikanische Bestand auf die Hälfte – etwa 15 000 Tiere – dezimiert; die Ursachen dafür waren hauptsächlich der Verlust natürlicher Lebensräume an die Landwirtschaft sowie die Tötung von Geparden durch Bauern, die ihr Vieh schützen wollten. Obwohl kaum gesicherte Bestandszahlen vorliegen, nimmt man an, daß der drastische Rückgang der Population sich fortgesetzt hat. Der Gepard gilt heute als gefährdet, und man bemüht sich verstärkt, ihn in Gefangenschaft zu züchten – vielleicht die einzige Hoffnung, die Art vor dem Aussterben zu retten. Zwar haben Gepardenweibchen, verglichen mit anderen Raubtierarten, relativ große Würfe mit durchschnittlich 3,5 Jungen, aber nur etwa fünf Prozent der Jungtiere überleben bis zur Geschlechtsreife. Die Zucht von Geparden in Gefangenschaft war immer schon schwierig, da die Fruchtbarkeitsrate niedrig (etwa 15 Prozent der geschlechtsreifen Wildfänge vermehren sich in Gefangenschaft) und die Jungensterblichkeit hoch ist (über 30 Prozent der Jungtiere sterben während der ersten sechs Lebensmonate). Die Sorge um das Überleben des Geparden basiert also auf Tatsachen. Im Jahre 1981 wurden O’Brien und seine Mitarbeiter eingeladen, die Geparden im DeWildt Cheetah Breeding and
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Research Center, einer südafrikanischen Zucht- und Forschungsstation, zu untersuchen, um vielleicht eine Erklärung für den geringen Fortpflanzungserfolg der dort gehaltenen Tiere zu finden. Sie stellten fest, daß die Konzentration der Spermien nur ein Zehntel des bei Hauskatzen üblichen Wertes betrug und daß der Anteil der mißgebildeten Spermien außergewöhnlich hoch war, nämlich 71 Prozent gegenüber 29 Prozent bei Hauskatzen. (Bei freilebenden Geparden ist der Anteil genauso hoch.) Die elektrophoretische Untersuchung von 52 Proteinen aus einer Population von 50 Tieren ergab keinerlei Polymorphismus, also keine Variation. Normalerweise sind zehn bis 60 Prozent der Gene einer Art polymorph. Eine umfangreichere Untersuchung des Proteinpolymorphismus (155 Proteine wurden einer zweidimensionalen Elektrophorese unterzogen) bei südafrikanischen Geparden ergab nur drei Prozent Polymorphismus, das ist etwa ein Drittel dessen, was man in menschlichen Populationen findet. Eine solche genetische Gleichförmigkeit ist charakteristisch für Inzuchtpopulationen. Drei weitere Indizien schienen die Schlußfolgerung, daß die genetische Variation beim Geparden ungewöhnlich gering sei, zu bestätigen. Das erste war ein als fluktuierende Asymmetrie bezeichnetes Phänomen. Bereiche des Körpers, die normalerweise spiegelbildlich zueinander sind, wie zum Beispiel die linke und die rechte Seite des Schädels, werden durch Inzucht weniger symmetrisch. Eine Untersuchung der Schädel von Museumspräparaten verschiedener Katzenarten ergab bei Geparden eine überdurchschnittlich ausgeprägte Asymmetrie. Das zweite Indiz war die Tatsache, daß Geparden Hauttransplantate von nicht verwandten Individuen viel länger vertrugen als andere Arten. Dies deutet auf eine geringe genetische Vielfalt im Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) hin, einer Gruppe von Proteinen der Zelloberfläche, die der Erkennung „eigener“ und „fremder“ Zellen dienen und in einem fremden Körper eine Immunreaktion auslösen. Das dritte Indiz für eine geringe genetische Variation war der Umstand, daß im Jahre 1983 die Hälfte der Geparden im Wildlife Safari Park im USBundesstaat Oregon an feliner infektiöser Bauchfellentzündung (Peritonitis) starb, obwohl zum Beispiel keiner der zehn afrikanischen Löwen des Zoos Symptome dieser Krankheit entwickelte. Die Geparden schienen für den Erreger sehr viel anfälliger zu sein, als zu erwarten oder als normal anzusehen wäre. Erklären läßt sich eine solch extreme Krankheitsanfälligkeit einer Art durch eine geringe genetische Diversität im Immunsystem, die keine effektive Krankheitsabwehr erlaubt. Aufgrund all dieser Indizien zeichnete sich das »Profil einer Spezies in ungewöhnlicher genetischer Gefahr« ab, wie O’Brien und zwei seiner Mitarbeiter im Jahre 1986 schrieben. Sie fuhren fort, das Fehlen genetischer Variation sei das Ergebnis mindestens eines, wahrscheinlich aber mehrerer demographischer Engpässe in der Geschichte der Spezies, während
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derer die Population auf eine sehr kleine Anzahl von Tieren geschrumpft sei. Durch solche Ereignisse kann die genetische Variation innerhalb einer Art durch den stochastischen Verlust von Polymorphismen dahinschwinden. (Damit aus einer hohen genetischen Diversität eine niedrige wird, muß die Population im Engpaß allerdings extrem klein sein und die Erholung extrem langsam verlaufen.) O’Brien und seine Mitarbeiter schlossen, die genetische Uniformität der Geparden sei ein wichtiger Faktor für den Rückgang der Art in freier Wildbahn sowie für die enttäuschenden Ergebnisse der Zuchtversuche in Gefangenschaft. Seit einigen Jahren läßt jedoch eine zunehmende Zahl von Untersuchungen Zweifel an dieser Interpretation aufkommen. Obwohl das Ausmaß an genetischer Diversität beim Geparden wahrscheinlich ungewöhnlich gering ist, wie O’Brien und seine Mitarbeiter behauptet haben, scheint es nicht zur gegenwärtigen mißlichen Lage der Art beizutragen. So haben Tim Caro von der University of California in Davis und Karen Laurenson von der University of Stirling in Schottland dokumentiert, daß
73 Prozent der Jungensterblichkeit in der Serengeti auf das Konto von Löwen und Tüpfelhyänen gehen, die übrigen sterben überwiegend durch Unfälle oder weil sie von der Mutter verlassen werden. Nur wenige Prozent der Jungtiere gehen aufgrund genetischer Defekte ein. Auch die große Mehrheit der Jungensterblichkeit in Zuchtprogrammen ist nicht auf genetische Schäden zurückzuführen. Die Schlußfolgerung, daß die Hauptursache für den frühen Tod in freier Wildbahn Raubtiere sind und nicht genetische Verarmung, bestätigt das rapide Wachstum der Gepardenpopulation in Namibia, wo Löwen und Hyänen von um ihr Vieh besorgten Bauern nahezu ausgerottet worden sind. Nadja Wielebnowski, eine Kollegin von Caro, hat festgestellt, daß die Erfolgsrate bei der Zucht von Geparden in Gefangenschaft derjenigen, die bei anderen Katzenarten – darunter Schneeleopard, Serval, Tiger und Löwe – erzielt wird, sehr ähnlich ist, obwohl die genetische Variation beim Geparden (Fortsetzung auf nächster Seite)
E.6.2.1 Die genetische Variation in freilebenden Gepardenpopulationen ist, scheinbar infolge historischer Populationsengpässe, extrem gering. Am stärksten ist die Art jedoch durch den Verlust ihrer Lebensräume gefährdet.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
(Fortsetzung von vorheriger Seite)
geringer ist. Und Donald Lindburgh und seine Mitarbeiter vom Zoo in San Diego fanden heraus, daß der hohe Anteil abnormer Spermien einer hohen Befruchtungsrate nicht im Wege steht. Zu den größten Hindernissen für den Fortpflanzungserfolg in Zoos gehört die Künstlichkeit der Umgebung und deren Effekt auf das Fortpflanzungsverhalten. In der Natur sind Geparden praktisch Einzelgänger, und Männchen und Weibchen leben in getrennten Revieren. Die Weibchen zeigen ihre Paarungsbereitschaft durch die Abgabe von Pheromonen (Duftstoffen) an, welche die Männchen über große, mit Sicherheit weit über Sichtdistanz hinausgehende Entfernungen hinweg wahrnehmen können. In Zuchtprogrammen verfuhr man oft so, daß die Paarungsbereitschaft des Weibchens abgewartet und dann das Manchen in dessen Gehege gelassen wurde – das Ergebnis war meist enttäuschend. Wie Lindbergh und seine Mitarbeiter feststellten, paaren sich die Tiere dagegen fast immer, wenn man die Abläufe in der Natur ansatzweise nachahmt, indem man das Männchen in Abwesenheit des paarungsbereiten Weibchens für kurze Zeit in dessen Gehege läßt, bevor man das Weibchen zurückbringt. Erst vor kurzem hat sich der bekannte Oxforder Ökologe Robert May in die Debatte über die Bedeutung genetischer
und anderer Faktoren für die Notlage des Geparden in Freiheit wie in Gefangenschaft eingeschaltet. Seine Schlußfolgerung: O’Brien gewinnt nach Punkten. Über die Behauptung, die genetische Variation des Geparden sei ungewöhnlich niedrig, sagt May: »Ich finde O’Briens Belege überzeugend.« Er fügt jedoch hinzu, dieser Umstand sei für die Zucht in Gefangenschaft wahrscheinlich weniger wichtig als die Haltungsbedingungen – ein Punkt für die Kritiker. Grundsätzlich gilt seiner Ansicht nach aber, daß die geringe genetische Diversität für die Zukunft der Art eine wichtige Rolle spielt, vor allem hinsichtlich der Krankheitsanfälligkeit. May stellt fest, daß die größte Sorge der Artenschützer dem Erhalt natürlicher Lebensräume gilt, und schließt, die genetische Diversität »bleibt für viele Schutzprogramme und speziell, wenn es um Geparden geht, ein wichtiger Gesichtspunkt«. Zur Zeit findet also eine deutliche Verschiebung der Gewichtung statt. Genetische Faktoren stehen für Naturschutzbiologen nicht mehr im Mittelpunkt; inzwischen hat man erkannt, daß auch ökologische Faktoren und Praktiken des Artenschutzmanagements eine wichtige Rolle spielen. O’Brien behauptet, er habe nie gesagt, die vollständige Antwort sei in der Genetik zu finden, und stimmt mit May darin überein, daß der Verlust natürlicher Lebensräume »der wichtigste Faktor für die Zukunft der Arten« sei.
direkten Zugriff auf die DNA jedoch noch eindeutigere und außerdem umfangreichere Informationen. Mit Hilfe dieser Methoden läßt sich auch bestimmen, wann in der Geschichte einer Art ein Populationsengpaß aufgetreten ist. Die moderne Artenschutzgenetik kann daher zur Aufklärung der Geschichte wie auch des gegenwärtigen Zusiands und der Zukunftsaussichten einer Art beitragen. Ein extremes Beispiel für einen Bestandseinbruch mit drastischen genetischen Folgen liefert der sogenannte Florida-Panther. Diese Unterart des Pumas war vor 100 Jahren in weiten Teilen der südöstlichen USA anzutreffen. Heute leben nicht einmal mehr 30 Tiere in freier Wildbahn, und zwar ausschließlich in den Everglades von Florida. Früher stellten die Jagd sowie Zusammenstöße mit Autos die größte Bedrohung für den Fortbestand der Unterart dar, doch heute ist der Florida-Panther durch einen biologischen Faktor bedroht: seine verarmte genetische Ausstattung. Nicht nur die Spermienzahl der Männchen ist signifikant reduziert; überdies sind 95 Prozent der Spermien im Ejakulat mißgebildet. Die Häufigkeit eines seltenen erblichen Defekts, der zum Hochstand eines oder beider Hoden führt, hat in den vergangenen 15 Jahren von null auf 80 Prozent zugenommen. Es gibt bereits einige Fälle eines angeborenen Herzfehlers, und die 156
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6.16 Der Florida-Panther ist in freier Wildbahn extrem bedroht und leidet unter genetischen Defekten, die auf die geringe Populationsgröße zurückzuführen sind.
Tiere sind sehr stark von Parasiten befallen. Wie die Analyse von Mitochondrien-DNA und DNA-Fingerprinting ergeben haben, hat der FloridaPanther die geringste genetische Variabilität von allen Unterarten des über Nord- und Südamerika verbreiteten Pumas. Ein Plan zur Rettung des Florida-Panthers vor dem sofortigen Aussterben ist die Einführung von Exemplaren einer nahe verwandten Unterart aus einem Zuchtprogramm in Texas. Dieses Vorhaben ist allerdings umstritten und illustriert, vor welch extremen Dilemmas Artenschützer oft stehen. Sein Ziel wäre die Vermehrung der genetischen Variabilität der Population, um so vielleicht die schädlichen Effekte der Inzucht aufzuheben. Ein Erfolg würde jedoch bedeuten, daß es den Florida-Panther im Grunde nicht mehr gäbe, zumindest nicht als genetisch abgrenzbare Population. Vielleicht lohnt es sich, diesen Preis zu zahlen, um den vollständigen Verlust der Population zu verhindern. Ein inzwischen klassisches Beispiel für einen Flaschenhalseffekt in einer Wildtierpopulation liefert der Gepard, den O’Brien und seine Mitarbeiter während der vergangenen zehn Jahre eingehend untersucht haben (und der in letzter Zeit außerdem Gegenstand einer im Exkurs 6.2 auf Seite 154 beschriebenen Auseinandersetzung geworden ist). Das Vorkommen dieser einst in Nordamerika, Europa, Asien und Afrika verbreiteten Art ist heute auf Ost- und Südafrika beschränkt. Seit Jahrzehnten bemüht man sich, die 157
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in vieler Hinsicht eindrucksvolle Großkatze (die beispielsweise das schnellste Landtier der Welt ist) in Gefangenschaft zu züchten – mit kläglichen Ergebnissen. Überdies lag die Sterblichkeit der in Gefangenschaft geborenen Gepardenjungen alarmierend hoch, nämlich über 30 Prozent. Verbesserte Haltungsbedingungen und Zuchtprogramme haben in den letzten Jahren zu besseren Ergebnissen geführt. Anfang der achtziger Jahre kamen O’Brien und mehrere Kollegen zu dem Schluß, die Ursachen dieser Fehlschläge seien wahrscheinlich eine niedrige Spermienzahl und ein hoher Anteil (70 Prozent) mißgebildeter Spermien. Anhand traditioneller Untersuchungen von Proteinpolymorphismen, Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen von bestimmten Kerngenen und Mitochondrien-DNA sowie anhand von Minisatellitenanalysen demonstrierten sie, daß die genetische Variation in Gepardenpopulationen – sowohl in freier Wildbahn als auch in Gefangenschaft – verschwindend gering war, nämlich in etwa der Variation in Inzuchtstämmen der Labormaus vergleichbar. Der Verlust an genetischer Variation betrug 90 bis 99 Prozent. Infolgedessen vertrugen Geparden Hauttransplantationen von nicht verwandten Exemplaren, was nur zwischen genetisch extrem ähnlichen Individuen möglich ist. O’Brien und seine Kollegen schlössen daraus, die Art müsse in ihrer Geschichte mindestens einen sehr engen Flaschenhals durchlaufen haben (wahrscheinlich aber mehrere). Durch Ausnutzung der hohen Mutationsrate von Mitochondrien-DNA war es ihnen möglich, die genetische Distanz (den genetischen Unterschied) zu bestimmen, die in diesem Genom zwischen lebenden Individuen bestand. Ihren Berechnungen zufolge trat der Populationsengpaß vor 10 000 Jahren auf; dies fällt mit dem Ende der pleistozänen Vereisung zusammen. Die Bejagung in der jüngeren Vergangenheit reduzierte die genetische Variation in der schrumpfenden Population noch weiter. Leider ist der Gepard in dieser mißlichen Lage nicht allein.
Was sollten wir schützen? Die modernen Methoden der Molekularbiologie sind auch für den Artenschutz von Bedeutung, insbesondere wenn es darum geht, zu entscheiden, was geschützt werden sollte. Die scheinbar klare Antwort auf diese Frage – gefährdete Arten – ist weniger eindeutig und komplizierter, als man vielleicht glaubt. Ökologen bezeichnen Arten, Unterarten oder Populationen, deren Schutzbedürftigkeit festgestellt worden ist, nüchtern als „zu schützende Einheiten“. 158
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Die moderne Taxonomie gründet sich hauptsächlich auf die Sammlungen und Klassifikationen von Naturforschern des 19. Jahrhunderts, die ihre Beurteilungen auf anatomische Merkmale stützten. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, liefert die Morphologie nicht immer verläßliche Anhaltspunkte zur Feststellung von Unterschieden zwischen Arten und insbesondere auch innerhalb von Arten. Eine zu schützende Einheit kann daher eine Art sein, aber auch eine einzelne Population einer Art, wie beispielsweise der Florida-Panther. Woher wissen wir, ob eine Art oder eine Population schutzbedürftig ist? Da der gesetzliche Rahmen für den Artenschutz auf taxonomischen Einstufungen basiert, kann die moderne Artenschutzgenetik dazu beitragen, die richtige Antwort auf die Frage nach der Schutzbedürftigkeit zu finden. Am Beispiel von zwei Arten, die als gefährdet eingestuft sind, sollen die Probleme illustriert werden, die sich in diesem Zusammenhang stellen können. Die erste Art ist eine nordamerikanische Flachlandtaschenratte, die zweite die neuseeländische Brückenechse. Die Flachlandtaschenrattenpopulation, die in Camden County im US-Bundesstaat Georgia lebte, wurde im Jahre 1898 als eigene Art Geomys colonus beschrieben. Viele Jahrzehnte vergingen, bevor Biologen erstmals wieder Interesse an dieser Population, die in den sechziger Jahren wiederentdeckt wurde, zeigten. Zu diesem Zeitpunkt lebten nur noch etwa 100 Individuen. G. colonus galt als unmittelbar vom Aussterben bedroht und wurde daher vom Staat Georgia unter Schutz gestellt. Dieser Stand der Dinge blieb bis Anfang der achtziger Jahre unverändert, als Avise und seine Mitarbeiter eine Reihe von Untersuchungen an der Population von Camden County und benachbarten Populationen von G. pinetis, einer anderen Flachlandtaschenrattenspezies, durchführten, unter anderem eine Analyse der Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen der Mitochondrien-DNA. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Population von G. colonus war genetisch nicht von den benachbarten Populationen von G. pinetis zu unterscheiden. Zudem ergaben die Untersuchungen eine beträchtliche genetische Variation zwischen Ost- und West-Subpopulationen von G. pinetis. »Entweder war [die Beschreibung von G. colonus] im Jahre 1898 wissenschaftlich nicht begründet«, schrieb Avise kürzlich, »oder eine ursprünglich valide Art G. colonus war Anfang dieses Jahrhunderts ausgestorben und durch vor kurzem nach Camden County eingewanderte G. pinetis ersetzt worden.« Wie auch immer es sich verhielt, die Population von Camden County verdiente jedenfalls keine Anerkennung als eigene Art und damit auch keinen besonderen Schutz. Das entgegengesetzte Schicksal erlitt die Brückenechse, ein Reptil, das sich unter anderem durch den Besitz eines dritten Auges in der Mitte des Schädels auszeichnet. Im 19. Jahrhundert unterschied man drei Arten, von denen eine inzwischen ausgestorben ist. Die beiden verbliebenen Arten 159
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
6.17 Sphenodon punctatus, eine der beiden neuseeländischen Brückenechsenarten, die Opfer der falschen Einstufung als eine einzige Art geworden sind.
waren Sphenodon guntheri und S. punctatus. Im Jahre 1895 wurde die Brückenechse unter Schutz gestellt. In den folgenden Jahrzehnten wurde ihre Taxonomie aufgrund morphologischer Eigenschaften über mehrere Jahrzehnte hinweg immer wieder verändert, und schließlich wurde nur eine einzige Art anerkannt. Ein Forscher bemerkte, die anatomischen Unterschiede zwischen Populationen, die zuvor als verschiedene Arten eingestuft worden waren, seien nicht stärker als die Unterschiede, die man innerhalb einer Kolonie beobachten kann. Diese Sichtweise wurde allgemein anerkannt. Infolgedessen galt die einzige „Art“ als weit verbreitet, und der Verlust von zehn von insgesamt 40 Populationen im Laufe der letzten 100 Jahre wurde nicht als besonders bedrohlich bewertet. Erst vor kurzem führten Biologen von der University of Wellington in Neuseeland und der University of Sydney in Australien genetische Analysen an Individuen von 24 der 30 Inseln durch, auf denen es bekannte Vorkommen der Brückenechse gibt. Ihre Ergebnisse bestätigen nicht nur die ursprüngliche Unterscheidung der Arten 5. punctatus und S. guntheri, sondern zeigen außerdem, daß S. guntheri am Rande der Ausrottung steht. Von dieser Art existieren nur noch circa 300 Individuen auf einer einzigen Insel. Das (falsche) Urteil, es gebe nur eine einzige Brückenechsenart, hat also dazu geführt, daß die Spezies S. guntheri auf einen Schlag ausgelöscht werden könnte, falls ihre letzte verbliebene Population auf Brother Island beispielsweise einem Sturm zum Opfer fiele. 160
6. MOLEKULARÖKOLOGIE
Der Ausgang dieser beiden warnenden Beispiele ist unterschiedlich, aber aus beiden muß man dieselbe Lehre ziehen: Eine korrekte Taxonomie ist die Grundlage guten Populationsmanagements und sinnvoller Schutzmaßnahmen. Der neuen Disziplin der Artenschutzgenetik kommt also eine wichtige Rolle in der Zukunft der Naturschutzbiologie zu, nicht nur als einziger Richter über den wahren taxonomischen Status von Populationen, sondern auch als wirksame Ergänzung zu den traditionellen Ansätzen. Wie Avise vor kurzem gewarnt hat, muß die Gefahr eines »molekularen Chauvinismus« in der Artenschutzgenetik vermieden werden, und derselbe Rat gilt auch für alle anderen Bereiche der Molekularökologie. Molekularbiologische Methoden sind für die Forschung in diesem und anderen Bereichen der traditionellen Biologie zweifellos sehr nützlich, man sollte sie aber nicht für das einzige Werkzeug halten, das zuverlässige Ergebnisse liefern kann.
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7.1 Ein menschliches Skelett (rechts) in der Gesellschaft Verwandter: links ein Gorilla, in der Mitte ein Orang-Utan.
Molekularanthropologie
D
er Begriff Molekularanthropologie wurde vor etwas mehr als drei Jahrzehnten von Emile Zuckerkandl geprägt, der gemeinsam mit Linus Pauling auf die Idee gekommen war, molekularbiologische Daten zur Aufklärung stammesgeschichtlicher Zusammenhänge zu verwenden. Damals fand auf Burg Wartenstein in Österreich eine wissenschaftliche Tagung mit dem Thema „Klassifikation und menschliche Evolution“ statt, und zwar unter der Schirmherrschaft der New Yorker Wenner-Gren Foundation für anthropologische Forschung. Zu den Teilnehmern gehörten die wichtigsten Persönlichkeiten der Evolutionsbiologie und der biologischen Anthropologie jener Tage, darunter George Gaylord Simpson, Ernst Mayr, Theodosius Dobzhansky, Louis Leakey und Sherwood Washburn. Zuckerkandl warb intensiv für sein Konzept, daß Moleküle über stammesgeschichtliche Beziehungen ebensoviel Aufschluß geben könnten wie die traditionelleren anatomischen Befunde – in manchen Fällen vielleicht sogar mehr. Die Koryphäen des traditionellen Ansatzes waren interessiert, aber skeptisch. Am Ende sagte Dobzhansky zu Zuckerkandl: »Vielleicht werden Sie in 20 Jahren sagen können: ›Ich hatte recht ‹.« Dobzhanskys Vorhersage verfehlte die Realität nur knapp. Mitte der achtziger Jahre hatten molekularbiologische Ansätze zur Ableitung von Evolutionsereignissen in der menschlichen Stammesgeschichte in der Anthropologie Fuß gefaßt, und man versprach sich von ihnen weitere Fortschritte. So schrieb David Pilbeam, ein Anthropologe an der Harvard University, im Jahre 1984: »Heute steht fest, daß die molekularen Zeugnisse uns mehr über Verzweigungsmuster [im Stammbaum von Menschenaffen und Menschen] verraten können als die fossilen Zeugnisse.« Zwar wären die meisten Anthropologen nicht so weit gegangen wie Pilbeam, der den mole-
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
kularbiologischen Daten technische Überlegenheit einräumte, aber sie begannen deren Brauchbarkeit für die Ableitung des Verzweigungsmusters in verschiedenen Abschnitten der menschlichen Stammesgeschichte anzuerkennen. Innerhalb eines Jahrzehnts erhielten viele anthropologische Abteilungen in Universitäten und Museen Geräte für molekularbiologische Untersuchungen, die neue Möglichkeiten zur Erforschung praktisch jedes wichtigen Aspekts der menschlichen Stammesgeschichte eröffneten. Bisher haben sich die Vorstellungen über drei Aspekte unserer Stammesgeschichte aufgrund molekularbiologischer Befunde stark verändert. Die aus solchen Befunden abgeleiteten Schlußfolgerungen widersprachen in allen drei Fällen den bisherigen Erkenntnissen, und in zwei Fällen widerlegten sie diese schließlich. Der dritte Fall ist noch nicht entschieden. Vielleicht wären die Anthropologen zu gegebener Zeit auch anhand der morphologischen Befunde zu diesen neuen Standpunkten gelangt. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, daß unter allen Gebieten der Evolutionsforschung besonders die Anthropologie einen extrem wichtigen Anstoß erhalten hat. Der erste molekularanthropologisch erforschte Aspekt unserer Stammesgeschichte, mit dem wir uns befassen werden, ist der Ursprung der Hominiden, das heißt ihre evolutionäre Abspaltung von einem menschenaffenähnlichen Vorfahren. Der zweite ist das jüngste Ereignis der menschlichen Evolution – der Ursprung des modernen Menschen, des Homo sapiens. Der dritte Aspekt schließlich ist die Besiedelung der beiden amerikanischen Kontinente. Hier haben sich durch eine unerwartete und bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen molekularbiologischen Befunden und linguistischen Daten neue Erkenntnisse ergeben. In allen drei Fällen liefern die molekularbiologischen Befunde nicht nur Schätzwerte für den Zeitpunkt bestimmter Ereignisse, sondern geben auch Aufschluß über deren Ablauf. Sie machen außerdem deutlich, wie schwach der Zusammenhang zwischen genetischen und anatomischen Veränderungen ist, wie wir bereits in Kapitel 2 gesehen haben. Die stammesgeschichtlichen Beziehungen zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten, den afrikanischen Menschenaffen, offenbaren vielleicht ein besonders bemerkenswertes Beispiel für dieses Phänomen.
Äffische Verwandtschaft In Kapitel 2 wurde bereits beschrieben, wie molekularbiologische Befunde einen ersten Hinweis darauf lieferten, daß sich unsere Vorfahren sehr viel später von den Menschenaffen trennten, als man früher geglaubt hatte: vor 164
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
ungefähr fünf Millionen Jahren und nicht vor 15 oder 30 Millionen, wie Anthropologen aus fossilen Zeugnissen abgeleitet hatten. Bis etwa 1984 erlaubten die verschiedenartigen molekularbiologischen Daten aus vielen verschiedenen Labors, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, aber keine Aussage darüber, wie die drei Linien Mensch, Schimpanse und Gorilla sich voneinander getrennt haben könnten. Mit anderen Worten, der Stammbaum teilte sich vor vier bis acht Millionen Jahren in drei Zweige, das heißt, die drei Linien entstanden gleichzeitig. Eine solche Dreifachverzweigung liegt natürlich im Bereich des Möglichen, und eine Reihe von Wissenschaftlern ließen sich durch die Befunde davon überzeugen, daß sie in diesem Fall tatsächlich stattgefunden hatte. Allerdings ist das Auftreten von Dreifachverzweigungen in der Evolution höchst unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, daß sich zunächst eine Linie von dem gemeinsamen Vorfahren trennte und aus diesem später zwei Linien hervorgingen. Die meisten Wissenschaftler erwarteten, daß die molekularbiologischen Daten eines Tages Aufschluß über den wirklichen Ablauf geben würden. Genaugenommen waren sie sicher, daß die Linie des Menschen die erste war, die sich vom gemeinsamen Vorfahren trennte, womit Schimpanse und Gorilla als am nächsten miteinander verwandt übriggeblieben wären. Jeder, der die afrikanischen Menschenaffen im Zoo beobachtet hat, wird bemerkt haben, wie überaus ähnlich sie einander anatomisch und vor allem hinsichtlich ihrer als Knöchelgang bekannten Fortbewegungsweise sind. Eingehende anatomische Vergleiche zwischen Mensch und Menschenaffen mit Hilfe der neuesten, genauesten Analyseverfahren haben dieses intuitiv offensichtliche Muster bestätigt. Seit 1984 begann sich das Schwergewicht der molekularbiologischen Befunde zu verschieben, und es zeigte sich immer deutlicher, daß es tatsächlich keine Dreifachverzweigung gegeben hatte, sondern zunächst die Abzweigung einer Linie und danach eine Zweiteilung. Doch entgegen den Erwartungen der meisten Fachleute waren diesem neuen Schema zufolge Mensch und Schimpanse am nächsten miteinander verwandt, während die genetische Distanz zum Gorilla größer war. Im selben Jahr veröffentlichten Charles Sibley und Jon Ahlquist, die damals an der Yale University arbeiteten, die Ergebnisse eines per DNA-DNA-Hybridisierung durchgeführten Vergleichs zwischen dem Menschen und den großen Menschenaffen, die das sich abzeichnende Schema massiv unterstützten. Diese Ergebnisse waren eine große Überraschung. Als erster Hominoide hatte sich demnach vor acht bis zehn Millionen Jahren der Gorilla abgespalten, und erst vor 6,3 bis 7,7 Millionen Jahren war die Trennung zwischen Schimpanse und Mensch erfolgt. (Trotz gewisser technischer Probleme mit dem verwendeten Verfahren kam eine unabhängige Gruppe später mit derselben Methode zum gleichen Resultat.) Diese Ergebnisse wurden äußerst skeptisch aufgenommen, und das aus gutem Grund: Samt165
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
liche anatomischen Analysen hatten die entgegengesetzte Konstellation ergeben. Während der folgenden zehn Jahre wurden über ein halbes Dutzend Untersuchungen über die Evolution der Hominoiden veröffentlicht, die auf verschiedenen molekularbiologischen Daten basierten. In manchen war die Chromosomenstruktur untersucht worden, in anderen hatte man Restriktionskartierungen oder Protein-Gelelektrophoresen durchgeführt, in wieder anderen verschiedene Aspekte der Mitochondrien- beziehungsweise der Kern-DNA untersucht. Dabei ergab sich zwar kein Konsens, aber die Mehrzahl der Befunde wies in die gleiche Richtung wie die Ergebnisse von Sibley und Ahlquist. Ein vor kurzem veröffentlichter Übersichtsartikel zählt 13 Untersuchungen, welche die nahe Verbindung zwischen Mensch und Schimpanse bestätigen, gegenüber sieben, die für eine nähere Verwandtschaft zwischen Schimpanse und Gorilla sprechen. Auf der Ebene des DNA-Sequenzvergleichs stützen neun von zehn Studien die Verbindung zwischen Mensch und Schimpanse. Morris Goodman und seine Mitarbeiter faßten diese Sequenzdaten vor kurzem zusammen und zählten die Anzahl der Nucleotidpositionen, die für die eine beziehungsweise die andere Konstellation sprechen. Dreizehn Datensätze über verschiedene Kerngene umfaßten insgesamt 37,1 Kilobasen (tausend Basen, Abkürzung kb) DNA, wobei mehr als die Hälfte auf Sequenzen aus der Gruppe der Globingene entfiel. Innerhalb dieses „Pools“ von Kern-DNA sprechen 62 Nucleotidpositionen dafür, daß die engste Verwandtschaft zwischen Mensch und Schimpanse besteht, 25 für Schimpanse-Gorilla und 16 für Mensch-Gorilla. Der Sequenzpool aus Mitochondrien-DNA ist mit 6,6 Kilobasen kleiner, liefert aber grundsätzlich das gleiche Ergebnis: 75 Nucleotidpositionen für MenschSchimpanse, 52 für Schimpanse-Gorilla und 37 für Mensch-Gorilla. Diese Daten lassen sich nicht nur dahingehend interpretieren, daß Mensch und Schimpanse am nächsten miteinander verwandt sind, sondern deuten außerdem daraufhin, daß die Zeit, die zwischen der Abspaltung des Gorillas und der Aufzweigung in Mensch und Schimpanse lag, sehr kurz war.
7.2 Morris Goodman, ein Pionier der Molekularanthropologie. Das Photo stammt aus den frühen siebziger Jahren; zehn Jahre zuvor hatte Goodman erstmals eine auf molekularbiologischen Befunden beruhende Neuklassifikation der Hominoiden vorgeschlagen.
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Einige Molekularanthropologen sind allerdings anderer Meinung. Sie weisen darauf hin, daß die Daten über manche Gene zwar für eine schnelle Aufeinanderfolge der beiden Ereignisse sprechen, daß es aber auch Daten gibt, die auf einen langen dazwischenliegenden Zeitraum schließen lassen. Jeffrey Rogers von der Southwest Foundation for Biomedical Research im texanischen San Antonio behauptet jedoch, dieses Muster ließe sich dadurch erklären, daß die drei Linien praktisch gleichzeitig divergierten, dabei aber verschiedene Genvarianten mitnahmen. Ein Gedankenexperiment soll dies illustrieren. Man denke sich eine Stammart, die ein Gen A besaß. Vor zehn Millionen Jahren sei eine Variante dieses Gens, A’, entstanden.
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
7.3 Die Bildung von Genvarianten (Polymorphismus) und deren darauf folgende Verteilung bei der Entstehung neuer Arten kann phylogenetische Schlußfolgerungen beeinflussen. Beispielsweise würde man aus einem Vergleich der Varianten von Gen A der Spezies X und Y folgern, daß die Arten sich vor zehn Millionen Jahren trennten und nicht, wie es tatsächlich der Fall war, vor fünf Millionen Jahren. Bei der links dargestellten Verteilung der Varianten von A hätte es den Anschein, als seien X und Y näher miteinander verwandt als jeweils mit Z, während in Wirklichkeit alle drei Arten gleich nah miteinander verwandt sind. Umgekehrt würden bei einer Verteilung wie im rechten Teil der Abbildung die Arten Y und Z als nächste Verwandte erscheinen. Dieses Phänomen wurde als Erklärung dafür vorgeschlagen, wie sich die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Mensch und afrikanischen Menschenaffen bei der Ableitung aus molekularbiologischen Daten darstellen.
Das Gen war nun also polymorph, und Individuen aus der Population des gemeinsamen Vorfahren konnten zwei Kopien der Variante A, zwei Kopien der Variante A’ oder je eine Kopie jeder der Varianten besitzen. Nehmen wir schließlich an, daß die Stammart sich vor fünf Millionen Jahren in die drei Tochterspezies X, Y und Z aufspaltete. In der Population, die zu X führt, geht die Variante A’ verloren, so daß nur A übrig bleibt. In der Population, die zu Z führt, geht A verloren, und nur A’ bleibt übrig. (Auf die Tochterspezies Y werden wir gleich zu sprechen kommen.) Als erstes ist hier anzumerken, daß ein Sequenzvergleich dieser Gene der Spezies X und Z auf eine Aufzweigung vor zehn Millionen Jahren hindeuten würde, obwohl dieses Ereignis tatsächlich erst vor fünf Millionen Jahren stattfand. Diese falsche, auf der Vermischung von Gen- und Artstammbäumen basierende Datierung wäre eine irreführende Folge des Genpolymorphismus. Und Spezies Y? Wenn ihre Population die Variante A verloren hätte, würde ein Vergleich aller drei Arten darauf hindeuten, daß Y näher mit Z als mit X verwandt ist; hätte sie umgekehrt A’ verloren, so schiene sie näher mit X verwandt. Wir sind jedoch davon ausgegangen, daß alle drei Arten gleich nah miteinander verwandt sind. Aus dieser Überlegung ist zu folgern, daß sich aus dem Vergleich der Gene von Arten, deren gemeinsame Stammart viele polymorphe Gene besaß, nicht eindeutig ein einziger Stammbaum ableiten läßt. Dies erklärt nach Ansicht von Rogers die gemischten Daten für die Hominoiden. Er 167
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 7.1: Auf der Suche nach dem fehlenden Bindeglied In seinem 1871 erschienenen Buch The Descent of Man prophezeite Charles Darwin, man werde die fossilen Überreste der frühesten Vorfahren des Menschen in Afrika finden, weil unsere nächsten Verwandten, die großen afrikanischen Menschenaffen, dort leben. Als aber der australische Anatom Raymond Dart im Jahre 1925 bekanntgab, er habe einen Fund gemacht, bei dem es sich seiner Ansicht nach um einen frühen Vorfahren des Menschen handele, waren die Anthropologen skeptisch – nicht zuletzt weil die Fundstätte in Südafrika lag. Überdies glich das Fossil, dem Dart den Namen Australopithecus africanus (afrikanischer Südaffe) gab, in den Augen der meisten Anthropologen viel zu sehr einem Menschenaffen. Dieses Wesen schien zwar aufrecht gegangen zu sein wie ein Mensch, aber die Größe seines Gehirns entsprach der von Menschenaffen, und es hatte eine vorspringende Schnauze. Zu jener Zeit hielt man Asien für die Wiege der Menschheit, und als unser Vorfahre wurde ein Geschöpf erwartet, das edler war als ein Menschenaffe. Fast ein Vierteljahrhundert mußte verstreichen, bevor Darts Behauptung akzeptiert und Australopithecus africanus als primitivster bekannter Hominide anerkannt wurde – als Vorfahre anderer Arten der Gattung Australopithecus (die alle ausgestorben sind) sowie der Gattung Homo, aus der schließlich Homo sapiens hervorging. Eine genaue Datierung von Darts Fossil war aufgrund des geologischen Kontexts, in dem es gefunden wurde (einer Kalksteinhöhle), unmöglich, aber man schätzte sein Alter auf etwa zwei Millionen Jahre. Australopithecus africanus behielt seinen Status primitivster Hominide bis 1978, als die amerikanischen Anthropologen Donald C. Johanson und Tim D. White neuentdeckten Fossilien, die zwischen drei und 3,75 Millionen Jahre alt waren, den Namen Australopithecus afarensis gaben. Diese Fossilien waren in der Region Hadar in Äthiopien sowie an der Fundstätte Laetoli in Tansania entdeckt worden. Die Art, zu der auch die berühmte Lucy, ein teilweise erhaltenes Skelett, gehört, war in Gesichts- und Hirnschädelform sowie in der Gebißanatomie noch menschenaffenähnlicher als A. africanus. Und sie war wesentlich älter. Wie zuvor schon A. africanus hielt man nun A. afarensis für den Vorfahren aller späteren Hominiden. Wie bei den heutigen Menschenaffen waren die männlichen Individuen dieser Art nach Aussage von Johanson und White deutlich größer als die weiblichen. Nicht alle Anthropologen stimmten dem zu. Die den Fossilfunden zu entnehmenden Unterschiede in der Körpergröße belegten nach Ansicht der Kritiker die Existenz mehrerer Arten und nicht die einer einzigen Art mit ausgeprägtem Sexualdimorphismus, Neben der anatomischen Variation sprach auch ein Argument, das auf dem Alter der Funde und dem für andere große
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E.7.1.1 Das berühmte Skelett „Lucy“ gehört zur Spezies Australopithecus afarensis und wurde 1974 in Äthiopien entdeckt.
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
Säuger typischen Evolutionsmuster beruhte, für die Annahme, bei den Fossilien von A. afarensis handele es sich um verschiedene Arten. Wenn der Ursprung der Hominiden wesentlich länger zurücklag als 3,75 Millionen Jahre, wie die meisten Anthropologen glaubten, war es unwahrscheinlich, daß zu diesem späteren Zeitpunkt nur eine einzige Art existierte, die der Vorfahre aller folgenden Spezies war. Das übliche Evolutionsmuster ist die Radiation vieler Arten, sobald eine neue Anpassung (in diesem Fall der zweibeinige oder bipede Gang) entstanden ist; auf diese Weise ergibt sich ein buschförmiger Stammbaum. Später kann der Busch ausgelichtet werden, so daß nur wenige Arten zurückbleiben oder, wie im Falle der Hominiden, sogar nur eine. Die Auseinandersetzung darüber, ob die Fossilien, die man A. afarensis zugeordnet hatte, einer oder mehreren Spezies angehörten, wurde mehr als ein Jahrzehnt lang fortgesetzt und ist immer noch nicht ganz abgeschlossen. Dagegen wurde die Frage, ob A. afarensis der primitivste Hominide ist, durch den
denkbar schlagkräftigsten Beweis beantwortet: die Entdeckung neuer Fossilien. Ende 1994 gaben White und seine äthiopischen Kollegen Gen Suwa und Berhane Asfaw bekannt, daß sie in Aramis in der Region Middle Awash in Äthiopien Vormenschenfossilien gefunden hatten, die noch affenähnlicher waren als A. afarensis. Überdies wurde das Alter dieser Fossilien auf fast 4,5 Millionen Jahre datiert, also in die Nähe des geschätzten Zeitpunktes der Aufspaltung des gemeinsamen Vorfahren in Menschen und afrikanische Menschenaffen. Die Funde von Aramis sind so affenähnlich, daß manche Fachleute sich fragen, ob es sich nicht eher um einen Vorfahren des heutigen Schimpansen handelt. White und seine Kollegen weisen jedoch darauf hin, daß bestimmte Aspekte der Gebißanatomie sowie Hinweise auf Bipedie im Schädel und in einem Armknochen ihre Schlußfolgerung stützen, das von ihnen Ardipithecus ramidus be(Fortsetzung auf nächster Seite)
E.7.1.2 Tim White, Berhane Asfaw und Gen Suwa (von rechts nach links) bei der Untersuchung der vor kurzem entdeckten Fossilien der neuen Hominidenart Ardipithecus ramidus.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
(Fortsetzung von vorheriger Seite)
nannte Fossil sei menschenartig. Sie trugen aber seiner Primitivität Rechnung, indem sie ihm einen anderen Gattungsnamen gaben als den übrigen Vormenschenarten. (Ramid ist das äthiopische Wort für Wurzel, und es liegt auf der Hand, was mit seiner Verwendung als spezifisches Epitheton ausgesagt werden soll.) Eine starke anatomische Ähnlichkeit mit Menschenaffen, wie A. ramidus sie aufweist, ist bei den frühesten Hominiden zu erwarten. Der gemeinsame Vorfahre von Menschen und Menschenaffen glich ohne Zweifel einem Affen – aber nicht den heutigen Menschenaffen, denn auch sie haben sich im Laufe der Evolution verändert. Es sind viele Affenarten bekannt, die vor mehr als fünf Millionen Jahren lebten, allerdings besteht kein Konsens darüber, welche von ihnen der Vorfahre der Hominoiden (das heißt von Menschenaffen und Menschen) sein könnte. Auf Anhieb liegt der Gedanke nahe, die allererste Hominidenart müsse in praktisch jeder Hinsicht außer ihrer Fortbewegungsweise – dem aufrechten Gang – affenartig gewesen sein. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, daß der gemeinsame Vorfahre von Menschenaffen und Menschen biped war und die Menschen dieses primitive Merkmal beibehielten, während Schimpansen und Gorillas eine spezialisiertere Art der Fortbewegung (den Knöchelgang) entwickelten. Wie Geologen, die mit White und seinen Kollegen zusammenarbeiteten, gezeigt haben, war die Umwelt, in der A. ramidus lebte, nicht die Savannenlandschaft, in welche die moderne Mythologie die ersten Hominiden stellt. Vielmehr handelte es sich um Waldgebiete und Waldränder, den typischen Lebensraum des heutigen Schimpansen. Die neunziger Jahre waren bisher eine sehr ergiebige Zeit für die Entdeckung von Vormenschenfossilien. Zu Ardipithecus ramidus in Äthiopien gesellten sich etwas jüngere Fossilien, die Meave Leakey in Nordkenia entdeckte. Diese Funde unterscheiden sich anatomisch von Ardipithecus ramidus und Australopithecus afarensis und wurden als neue Art klassifiziert:
Australopithecus anamensis. Und im Mai 1996 entdeckten französische Forscher ein Unterkieferfragment eines weiteren Hominiden, der vor drei bis 3,5 Millionen Jahren lebte und den Namen Australopithecus bahrelgazali erhielt. Aus diesen Funden ergibt sich, daß der Stammbaum der Hominiden sich anfangs stärker verzweigte, als irgendein Anthropologe erwartet hätte. Zu den überraschendsten Entdeckungen gehört ein Unterkiefer, den David Pilbeam von der Harvard University und Yves Coppens vom College de France im Tschad fanden und der ihrer Meinung nach ebenfalls zur Gattung Australopithecus gehört. Das zwischen drei und vier Millionen Jahre alte Fundstück unterscheidet sich anatomisch von A. afarensis und stützt damit einmal mehr die Annahme, daß es zu jener Zeit eine Reihe verschiedener Hominidenspezies gab. Am bemerkenswertesten ist aber weder das Alter dieses neuen, bisher noch nicht mit einem wissenschaftlichen Namen versehenen Fossils noch die Tatsache, daß es sich anatomisch von den bisherigen Funden unterscheidet, sondern sein Fundort. Unter Anthropologen hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß die frühe Evolution des Menschen ausschließlich östlich des Ostafrikanischen Grabenbruches stattgefunden habe, während westlich davon das Land der Menschenaffen lag. Die Entdeckung im Tschad entlarvte dies als Irrtum. Genau wie man es aus den fossilen Zeugnissen über die Evolution der Schweine ableiten kann, dürften auch frühe Hominidenarten sehr bald nach ihrem Erscheinen geeignete Lebensräume erobert haben; durch bloßes Entlangwandern an den Waldrändern könnten sie sich schnell über Zentral- und Westafrika ausgebreitet haben. Tatsächlich gibt es keine Möglichkeit, sicher festzustellen, ob die Evolution der ersten Hominidenart in Ostafrika, Südafrika oder Westafrika stattfand. In geologischen Zeiträumen betrachtet, würde die Zeit zwischen erstem Auftreten und Ausbreitung der Population nur einem Moment entsprechen. Anhand fossiler Zeugnisse den genauen Ursprungspunkt festzulegen und die darauf folgende Ausbreitung nachzuvollziehen, ist daher unmöglich.
schließt: »Die wahrscheinlichste Hypothese über die phylogenetischen Beziehungen zwischen Homo, Gorilla und Pan [Schimpanse] ist, daß es tatsächlich eine Trichotomie gegeben hat« – eine Dreifachverzweigung. Falls weitere Analysen von Gensequenzen beweisen sollten, daß Rogers’ Hypothese korrekt ist und daß tatsächlich Mensch und Schimpanse am nächsten miteinander verwandt sind, stehen die Anatomen vor der enormen Herausforderung, anatomische Merkmale zu finden, welche die wahren Verwandtschaftsbeziehungen erkennen lassen. Der Knöchelgang und die entsprechenden anatomischen Eigenschaften von Schimpansen und 170
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Gorillas wirken so spezialisiert, daß die Annahme, zwischen diesen beiden Arten bestehe die engste Verwandtschaft, ausgesprochen vernünftig war. Die Evolution des Knöchelganges hätte demnach nur einmal stattgefunden, nämlich beim gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Gorilla, und beide Affenlinien hätten dieses Merkmal beibehalten. Wenn jedoch das der Intuition zuwiderlaufende Schema zutrifft, auf das die molekularen Befunde schließen lassen, muß der Knöchelgang unter anderen stammesgeschichtlichen Umständen entstanden sein. Entweder entwickelte sich diese Fortbewegungsart in den Abstammungslinien von Schimpanse und Gorilla unabhängig voneinander, oder der gemeinsame Vorfahre des Menschen und der beiden afrikanischen Menschenaffenspezies (vor der Abspaltung des Gorillas) ging schon auf den Knöcheln, und der Mensch folgte einer Außenseiterstrategie, indem er den aufrechten, zweibeinigen Gang entwickelte. Statistisch gesehen ist die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere, weil die unabhängige Evolution einer Reihe komplizierter anatomischer Anpassungen (in diesem Fall an den Knöchelgang) in zwei Linien extrem unwahrscheinlich ist. Im Jahre 1990 regte Morris Goodman, der 1962 vorgeschlagen hatte, die afrikanischen Menschenaffen und den Menschen in der Familie Hominidae zusammenzufassen und den Orang-Utan in eine eigene Familie zu stellen, erneut eine Änderung der Hominoidenklassifikation an – anders
7.4 Aufgrund der (molekularbiologischen Befunden zufolge) extrem nahen Verwandtschaft zwischen Mensch und Schimpanse hat Morris Goodman kürzlich nochmals eine Neuklassifikation der Hominoiden vorgeschlagen, in der Mensch und Schimpanse in einem Subtribus Hominina zusammengefaßt werden. In der traditionellen, auf anatomischen Daten beruhenden Klassifikation ist der Mensch der einzige Vertreter der Familie Hominidae, während Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan gemeinsam die Familie Pongidae bilden.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
als seine erste, aber ebenso radikal. Der Mensch und alle Menschenaffen einschließlich der Gibbons würden demnach derselben Familie angehören, den Hominiden. Die Gibbons bildeten eine eigene Unterfamilie (Hylobatinae), die afrikanischen Menschenaffen, der Orang-Utan und der Mensch eine zweite (Homininae). Innerhalb dieser Unterfamilie wäre der OrangUtan das einzige Mitglied des Tribus Pongini, während Gorilla, Schimpanse und Mensch dem Tribus Hominini angehörten. Der Gorilla wiederum wäre das einzige Mitglied des Subtribus Gorillina, und die enge Verwandtschaft zwischen Schimpanse und Mensch käme durch ihre gemeinsame Zuordnung zum Subtribus Hominina zum Ausdruck. Diese Klassifikation, die bereits einige Anhänger hat, unterscheidet sich von der, die Goodman 1962 vorschlug, insofern, als ihr zufolge Mensch und Menschenaffen noch enger miteinander verwandt sind.
Der Ursprung des modernen Menschen: Ein Ereignis oder viele? Zu den heutzutage am heftigsten diskutierten Fragen der Anthropologie gehört der Ursprung des anatomisch modernen Menschen. Die molekularbiologischen Befunde hatten starken Anteil daran, daß das Interesse an diesem Thema zunahm. Wie schon in der Auseinandersetzung über den Ursprung der Hominiden wiesen auch hier viele Anthropologen die ersten auf molekularbiologischen Befunden basierenden Schlußfolgerungen energisch zurück, als diese Ende der achtziger Jahre veröffentlicht wurden, und manche tun es heute noch. Doch heute läßt sich die Debatte als lebhaft beschreiben – nicht mehr als erbittert. Die Molekularanthropologie als Wissenschaft ist gereift. Die Frage, um die es hier geht, lautet: Wie ist der moderne Homo sapiens aus seinem unmittelbaren Vorfahren hervorgegangen? Die molekularbiologischen Daten ermöglichen es nicht nur, einen Zeitpunkt und einen Ort für dieses Ereignis festzulegen, sondern geben auch Aufschluß über evolutionäre Abläufe und liefern damit genauere biologische Erkenntnisse über unsere Ursprünge. Im Laufe der Jahre wurden zwei einander widersprechende Modelle entwickelt. Beide nehmen ähnliche Vorgänger des modernen Menschen an, sind aber über die Abläufe, die schließlich zu seinem Erscheinen führten, uneins. Übereinstimmung besteht zum Beispiel darüber, daß irgendwann vor ein bis zwei Millionen Jahren Populationen von Homo erectus Afrika verließen und begannen, sich über den Rest der Alten Welt auszubreiten. Die berühmten Fossilien Javamensch und Pekingmensch sind Abkömm172
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linge dieser Migranten. Vor etwa 250 000 Jahren fand in den Populationen der gesamten Alten Welt ein erkennbarer evolutionärer Wandel statt: Es erschien der sogenannte archaische Homo sapiens, ein Überbegriff für alle Formen, die fortschrittlicher waren als Homo erectus in Afrika, Asien und Europa und als der Neandertaler in Westasien und Europa. Die Veränderungen bestanden vor allem in einer Größenzunahme des Gehirns, einer Abnahme der Wandstärke des Hirnschädels und einer Verkleinerung der knöchernen Überaugenwülste. An diesem Punkt schlagen die beiden Modelle verschiedene Richtungen ein. Dem sogenannten Modell der multiregionalen Evolution zufolge setzte sich der Prozeß des evolutionären Wandels, durch den die Populationen des archaischen Homo sapiens entstanden, einfach fort, so daß in allen Populationen der Alten Welt schließlich moderne Menschen entstanden. Zwischen diesen Populationen soll während des gesamten Zeitraumes ein intensiver Genfluß bestanden haben. Wenn dieses Modell zutrifft, müßten die Anthropologen in jedem Gebiet der Welt einige anatomische Merkmale finden, die es während der gesamten Zeit gegeben hat. Überdies müßten die genetischen Wurzeln jeder geographischen Population sehr tief reichen, nämlich bis zur Ankunft des ersten Homo erectus am jeweiligen Ort. Das zweite Modell ist sehr verschieden vom ersten. Es wird mitunter als Arche-Noah-Modell oder als Out-of-Africa-Modell bezeichnet und sieht den Ursprung des modernen Menschen als singuläres Ereignis, das in einer einzigen Population des archaischen Homo sapiens in Afrika stattfand. Nachfahren dieser Population des modernen Menschen breiteten sich dann über den Rest der Alten Welt aus und verdrängten die dortigen Populationen des archaischen Homo sapiens vollständig. Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, dürfte sich kein generelles Muster der Kontinuität regionaler anatomischer Merkmale über die Zeit hinweg feststellen lassen. Auch wären die genetischen Wurzeln der modernen geographischen Populationen sehr flach: Sie würden bei der einzigen Stammpopulation beginnen, die vor vergleichsweise kurzer Zeit lebte. Manche Anthropologen vertreten eine gemäßigte Version dieses Modells, derzufolge der moderne Mensch die archaischen Populationen nicht vollständig verdrängte, sondern sich zum Teil mit diesen vermischte. Eine solche Vermischung der Populationen würde das eben gezeichnete Bild in bezug auf die anatomischen wie auch auf die genetischen Merkmale verwischen. Es gibt viele berühmte Fossilien aus dieser wichtigen Periode, die Anzeichen eines anatomischen Wandels in Richtung auf den modernen Menschen aufweisen. Die fossilen Zeugnisse sind jedoch viel unvollständiger, als der Laie es sich vorstellt, und wesentlich unvollständiger, als den Fachleuten lieb ist. Über ihre Interpretation besteht bisher kein Konsens. Nach Ansicht mancher Anthropologen läßt sich in vielen Teilen der Alten Welt 173
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
7.5 Schematische Darstellung von zwei Hypothesen über den Ursprung des modernen Menschen. Dem Modell der multiregionalen Evolution zufolge ging die Art Homo sapiens nahezu zeitgleich in verschiedenen Regionen der Alten Welt aus Populationen von Homo erectus hervor. Das Arche-Noah-Modell (Out-of-AfricaModell) postuliert dagegen, daß Homo sapiens durch ein einziges Speziationsereignis entstanden ist, und zwar wahrscheinlich in Afrika.
eine regionale Kontinuität anatomischer Merkmale feststellen, was die Hypothese der multiregionalen Evolution stützt. Beispielsweise sollen der schwere Schädel und Merkmale des Gesichts, die sowohl bei älteren und jüngeren Hominidenfossilien als auch bei den heutigen australischen Ureinwohnern anzutreffen sind, eine regionale Kontinuität in Südostasien verraten. In ähnlicher Weise hat man das flache Gesicht, die kurze Nase und die schaufelförmigen oberen Schneidezähne vieler Nordasiaten (vor allem in China) zur Unterstützung der Hypothese der multiregionalen Evolution angeführt. Viele Anthropologen weisen jedoch darauf hin, daß diese Merkmale nicht auf die betreffenden geographischen Regionen beschränkt sind und behaupten, es gebe keinerlei Belege für regionale Kontinuität, was für das Out-of-Africa-Modell spricht. Wieder andere sehen Hinweise auf einen singulären Ursprung, dem jedoch eine erhebliche Vermischung gefolgt sei. Der vielleicht einzige Punkt, in dem fast völlige Einigkeit herrscht, ist, daß der Neandertaler ausgestorben ist und als Vorfahre des modernen Menschen kaum eine Rolle gespielt hat. Das Problem, das durch den Widerspruch zwischen den beiden Modellen formuliert wurde, war für einen Klärungsversuch mittels molekularbiolo174
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
gischer Methoden, insbesondere durch Analyse der Mitochondrien-DNA, gut geeignet. Deren schnelle Evolution sowie die Vererbung in weiblicher Linie bieten eine Möglichkeit zur Untersuchung der jüngeren Evolutionsgeschichte, in diesem Fall höchstens der letzten zwei Millionen Jahre. Zur Zeit ist die Mitochondrien-DNA das am besten erforschte Genom aus Eukaryotenzellen, da ihre gesamte Sequenz (etwa 16 590 Basenpaare) und Genorganisation beim Menschen ermittelt wurden. Die Polymerasekettenreaktion ermöglicht den Vergleich jedes beliebigen Genomabschnitts verschiedener Individuen. Vor mehr als zehn Jahren begannen zwei Arbeitsgruppen mit der Auswertung von Daten über Mitochondrien-DNA: die von Douglas Wallace, der damals in Stanford tätig war und heute an der Emory University in Atlanta arbeitet, und die von Allan Wilson an der University of California in Berkeley. Im Jahre 1983 veröffentlichten Wallace und seine Mitarbeiter den ersten Überblick über die Mitochondrien-DNA heutiger Menschenpopulationen, und zwar auf der Basis einer Restriktionskartierung, durch die etwa neun Prozent des Genoms erfaßt wurden. Sie machten eine Reihe von Beobachtungen, die bis heute gültig sind. Erstens ist die Gesamtvariation in heutiger Mitochondrien-DNA gering und läßt auf einen Ursprung des modernen Menschen vor etwa 200 000 Jahren schließen. (Eine alternative Erklärung wäre, daß die Evolution des modernen Menschen schon länger zurückliegt, die Population aber in jüngerer Zeit einen Engpaß durchlief, der die genetische Variation reduzierte. Es gibt keinerlei Daten, die diese Hypothese stützen könnten, aber reichlich genetische Befunde, die ihr widersprechen.)
7.6 Douglas Wallace, ein Pionier der Erforschung der menschlichen Stammesgeschichte mit Hilfe der Mitochondrien-DNAAnalyse.
Zweitens weisen die Afrikaner unter allen getesteten Populationen die stärkste genetische Variation auf. Wallace und seine Mitarbeiter legten dar, daß, sofern sich Mutationen in allen menschlichen Populationen mit der gleichen Rate ansammeln, Afrika die Wiege der modernen Menschheit sein muß. Mit anderen Worten: Geht man davon aus, daß sich Mutationen stets gleich schnell angesammelt haben, so läßt sich die Variation in der afrikanischen Population, die stärker ist als in allen anderen Populationen der Erde, nur durch den Vorsprung in einer anderen Variablen erklären: der Zeit. Die afrikanische Population muß demnach die älteste sein. Drittens hat die Mitochondrien-DNA in den verschiedenen geographischen Populationen unterschiedliche Merkmale entwickelt, aus denen sich ein Stammbaum ableiten läßt, der die Geschichte der Populationen wiedergibt. Zwar kamen Wallace und seine Mitarbeiter in ihrer Veröffentlichung von 1983 zu dem Schluß, die Wiege des modernen Menschen habe in Asien und nicht in Afrika gestanden (sie erklärten die stärkere Variation der Mitochondrien-DNA bei Afrikanern durch eine höhere Mutationsrate), aber später änderten sie ihre Meinung zugunsten von Afrika; und dabei sind sie bis heute geblieben. 175
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Ein im Januar 1987 veröffentlichter Aufsatz von Allan Wilson und seinen Mitarbeitern, in dem die Mitochondrien-DNA von 147 Personen aus Afrika, Asien, Australien, Europa und Neuguinea beschrieben wurde, löste umfassende Diskussionen über die sogenannte Mitochondrien-Eva aus. Auch in dieser Untersuchung war, wie vier Jahre zuvor von Wallace und seinen Mitarbeitern, eine Restriktionskartierung des Mitochondriengenoms vorgenommen worden. Die Analyse ergab 133 verschiedene Typen von Mitochondrien-DNA, und aus diesen wurde durch Parsimonieanalyse ein Stammbaum konstruiert. »Alle diese Mitochondrien-DNAs stammen von einer einzigen Frau ab, die vor etwa 200 000 Jahren gelebt haben dürfte – wahrscheinlich in Afrika«, schloß der Aufsatz. Der Ausdruck Mitochondrien-Eva wurde in einem Zeitungsbericht geprägt und sehr bald in Fachund Sachliteratur übernommen. Dieser Begriff ist zwar anschaulich, aber irreführend und rief zahlreiche Mißverständnisse hervor. Die Ursache dafür, daß die MitochondrienDNA-Typen der heutigen Menschen sich auf eine einzige Frau zurückführen lassen, ist nicht etwa, daß diese die einzige damals lebende Frau war (auch muß die Population, der sie entstammte, nicht unbedingt klein gewesen sein), sondern sie liegt in der Dynamik des Verlusts von Mitochondrien-DNA. Das läßt sich am besten durch einen Vergleich erklären. Stellen Sie sich eine Population aus etwa 5000 Paaren (also 10 000 Individuen) vor, von denen jedes einen anderen Familiennamen hat. Diese Population soll über die Zeit stabil sein (das heißt, jedes Paar hat nur zwei Nachkommen). In jeder Generation wird durchschnittlich ein Viertel aller Paare zwei Jungen haben, die Hälfte einen Jungen und ein Mädchen und ein Viertel zwei Mädchen. Angenommen, die Nachkommen erhalten, wie es in westlichen Ländern oft der Fall ist, stets den Nachnamen des Vaters und niemals den der Mutter. In der ersten Generation geht daher ein Viertel der Familiennamen verloren. Die Anzahl der Namen nimmt von Generation zu Generation ab, wenn auch mit nachlassender Geschwindigkeit. Nach etwa 10 000 Generationen (doppelt so vielen, wie es in der Ausgangspopulation Frauen gab) wird nur noch ein Nachname übrig sein. Das gleiche Muster gilt für den Verlust von Mitochondrien-DNA-Typen, nur daß die Weitergabe hier in weiblicher Linie erfolgt. Wilson und seine Mitarbeiter legten im Jahre 1987 lediglich das Gebiet fest, in dem der moderne Mensch ihrer Meinung nach seinen Ursprung hat (Afrika), und gaben einen Schätzwert für den Zeitpunkt dieses Ereignisses an (vor etwa 200 000 Jahren). Dennoch wurde weithin – jedoch fälschlich – angenommen, der Durchgang durch einen Populationsengpaß sei ein notwendiger Bestandteil der Eva-Hypothese. Vielleicht löste der biblische Name die Vorstellung von einer einzigen Frau aus, die mit ihrem Adam auf der Erde allein war. Als Daten über eine Gengruppe, die Proteine des Immunsystems codiert, zeigten, daß es in der jüngeren Menschheits176
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
7.7 Der berühmte „Hufeisenstammbaum“, den Allan Wilson und seine Mitarbeiter durch Restriktionskartierung der Mitochondrien-DNA von Menschen aus allen Regionen der Erde erstellten. Die auf diese Weise abgeleiteten stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den 182 verschiedenen Mitochondrientypen (äußerer Rand des Hufeisens) lassen darauf schließen, daß der moderne Mensch in Afrika entstand. Darauf deutet auch die stärkere genetische Variation zwischen den afrikanischen Populationen hin.
177
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
7.8 Dieser Stammbaum zeigt, wie es möglich ist, daß alle Mitochondrienlinien in einer heutigen Population sich auf eine einzige Linie in einer Stammpopulation zurückführen lassen. In jeder Generation hat ein Viertel aller Mütter zwei Söhne, ein Viertel hat zwei Töchter, und die Hälfte hat einen Sohn und eine Tochter. Da Mitochondrien nur in weiblicher Linie weitergegeben werden, brechen die Mitochondrienlinien von Frauen, die nur Söhne haben, ab, und schließlich beherrscht eine einzige Linie die gesamte Population.
geschichte keinen solchen Engpaß gegeben hat, erklärten viele die Hypothese für widerlegt. Dies war jedoch nicht der Fall. Die Vorstellung einer Mitochondrien-Eva mag sich als falsch erweisen, aber nicht weil es in der jüngeren Geschichte des Menschen keinen Populationsengpaß gegeben hat. Wilsons Hypothese zufolge gehörte Eva einer großen, nach jüngeren Schätzungen etwa 10 000 Individuen umfassenden Population archaischer Menschen an. Die Arbeitsgruppe aus Berkeley stützte ihre Annahme, der Ursprung des modernen Menschen liege 200 000 Jahre zurück, auf ihre Kalibrierung der Rate, mit der sich Mutationen in menschlichen Populationen ansammeln: Sie maßen die genetische Divergenz im Mitochondriengenom von Bewohnern einer zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel, die vor etwa 60 000 Jahren besiedelt wurde. Anhand der genetischen Divergenz innerhalb dieser Population sowie des Zeitraumes, in dem sie sich entwickelt hat, konnten Wilson und seine Mitarbeiter die durchschnittliche Rate der Akkumulation von Mutationen errechnen. Die Sequenzdivergenz zwischen zwei Linien betrug zwei bis vier Prozent pro Million Jahre, das heißt, im Laufe einer Million Jahre mutieren zwei bis vier Nucleotide je 100 Positionen der beiden Genome. (Diese Zahlen beziehen sich wohlgemerkt auf die akkumulierte Differenz zwischen zwei Genomen, nicht etwa auf die Mutationsrate in einem dieser Genome – ein Punkt, der für viel Verwirrung gesorgt hat.) Die Divergenz von zwei bis vier Prozent wurde von anderen Arbeitsgruppen bestätigt, die Daten über Menschen und viele andere Säugerarten verwendeten. Die ersten Daten über MitochondrienDNA entsprachen also den Vorhersagen des Out-of-Africa-Modells, er178
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
stens werde in der Mitochondrien-DNA des heutigen Menschen nur eine begrenzte Variation existieren, was auf einen späten Ursprung hindeute, und zweitens werde die afrikanische Bevölkerung die stärkste Variation aufweisen. Die Vorhersagen des Modells der multiregionalen Evolution dagegen, es werde erstens eine ausgeprägte genetische Variation geben, die auf einen Ursprung vor mindestens einer, wenn nicht zwei Millionen Jahren hindeute, und zweitens werde keine Population eine signifikant höhere Variation aufweisen als alle anderen, wurden nicht bestätigt. Das Fehlen jeglicher alter Mitochondrien-DNA in Wilsons Stichprobe von 1987 bedeutete einen schweren Schlag für die Hypothese der multiregionalen Evolution. Wenn die heutigen Populationen durch einen Prozeß langanhaltender regionaler Kontinuität entstanden wären, müßte sich die Gründung dieser lokalen Populationen vor mehr als einer Million Jahren, als erstmals Populationen von Homo erectus Afrika verließen und sich über den Rest der Alten Welt verbreiteten, in der Mitochondrien-DNA der Stichprobe widerspiegeln. Das Fehlen von alter Mitochondrien-DNA impliziert auch, daß die vorhandenen Populationen des archaischen Homo sapiens vollständig verdrängt wurden, als sich der moderne Mensch über die Alte Welt ausbreitete. Zunächst konnte man noch argumentieren, die Stichprobe von 147 Individuen sei zu klein gewesen, so daß ältere Mitochondrien-DNA möglicherweise nicht erfaßt wurde. Doch inzwischen sind über 5000 Personen untersucht worden, und keine von ihnen besitzt Mitochondrien-DNA mit einer höheren Anzahl akkumulierter Mutationen (ältere Mitochondrien-DNA) als die Angehörigen der ersten Stichprobe. Gegner der Hypothese von der Mitochondrien-Eva – der prominenteste unter ihnen ist Milford Wolpoff von der University of Michigan in Ann Arbor – behaupteten zunächst, die Divergenzrate sei falsch berechnet worden und liege in Wirklichkeit niedriger. Das würde einen früheren Ursprung des modernen Menschen bedeuten. (Dazu sei angemerkt, daß Wilson sich um den Faktor fünf verrechnet haben müßte, wenn die eine Million Jahre korrekt wäre, die das Modell der multiregionalen Evolution postuliert.) Später argumentierte Wolpoff, die Rate sei irrelevant, weil der natürliche Verlust von Mitochondrien-DNA über viele Generationen hinweg eine korrekte Rekonstruktion der Populationsgeschichte ausschließe. Wolpoffs Argument lautet, die heutigen Mitochondrien-DNA-Typen lieferten nicht genügend Information, um die Rekonstruktion eines Stammbaumes zu erlauben. Da im Laufe der Zeit unweigerlich einige DNA-Typen verloren gegangen seien und daher heute fehlten, werde jeder heute rekonstruierte Stammbaum zwangsläufig einen zu späten Zeitpunkt für die Existenz des gemeinsamen Vorfahren ergeben. Dieses Argument ist jedoch nicht haltbar, weil in der Sequenz der heute noch vorhandenen Typen von Mitochondrien-DNA deren Verwandtschaftsbeziehungen untereinander bis hin zum gemeinsamen Vorfahren aufgezeichnet sind. Überdies ist auch der 179
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
7.9 Milford Wolpoff, ein führender Verfechter der Hypothese von der multiregionalen Evolution des modernen Menschen.
Hinweis angebracht, daß die fossilen Zeugnisse (auf welche sich die Verfechter des Modells der multiregionalen Evolution vor allem stützen) lückenhafter sind als die genetischen Zeugnisse und dementsprechend mit höherer Wahrscheinlichkeit falsch interpretiert werden. Daten über Mitochondrien-DNA führen nur dann zu gültigen Aussagen über die Populationsgeschichte, wenn der Verlust von Typen im Laufe der Zeit stochastisch (nach dem Zufallsprinzip) erfolgt. Sollte dagegen irgendein nichtzufälliger Faktor den Verlust maßgeblich beeinflussen, so wären Schlußfolgerungen, die man aus Befunden über heutige Populationen ableitet, in Frage gestellt oder vielleicht ungültig. Ein potentieller derartiger Faktor ist die Selektion. 180
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
Angenommen, nach der Entstehung des modernen Menschen hätte sich eine neue Mitochondrienvariante entwickelt, die von der natürlichen Auslese stark begünstigt wurde, dann hätte sie, genügend Zeit und einen ausreichenden Genfluß zwischen den Populationen vorausgesetzt, andere Varianten verdrängen können. Das für den gemeinsamen Vorfahren der Mitochondrien errechnete Alter wäre dann künstlich herabgesetzt. Zwar kennt man bisher kein Beispiel für einen derartigen Vorgang bei einer anderen Spezies, aber es lassen sich theoretische Argumente dafür anführen, daß er beim Menschen wahrscheinlich aufgetreten ist. Beispielsweise gibt es, wie Goodman festgestellt hat, in der Mitochondrien-DNA nur wenige nichtcodierende Abschnitte. Codierende DNA (die die Produktion von Proteinen steuert) unterliegt jedoch der natürlichen Auslese. Überdies produzieren verschiedene Mitochondriengene Proteine, die eine wichtige Rolle in Stoffwechselwegen spielen, welche Energie für den zukünftigen Gebrauch in der Zelle nutzbar machen. Ein entscheidender Aspekt der jüngeren Evolution des Menschen ist die Größenzunahme des Gehirns, vor allem des Neocortex. Das menschliche Gehirn verbraucht überproportional viel Energie, nämlich etwa 20 Prozent des Gesamtenergiebudgets des Körpers bei nur zwei Prozent des Körpergewichts. Deshalb, so argumentieren Goodman und andere Wissenschaftler, könnte die Selektion während der Evolution eines größeren Gehirns bestimmte Mitochondriengene begünstigt haben, deren Produkte am Energiestoffwechsel beteiligt sind. Dies bleibt jedoch Spekulation. Andere Faktoren, die zu einem nicht zufälligen Verlust von Mitochondrien-DNA-Typen geführt haben könnten, sind Launen der Populationsgeschichte, etwa Bevölkerungseinbrüche und -explosionen. In solchen Fällen wäre der Verlust neuer Varianten ebenso wahrscheinlich gewesen wie der alter. Wenn die Evolution des modernen Menschen wirklich in Afrika stattfand, dieser sich dann über den Rest der Alten Welt ausbreitete und sich mit den dortigen archaischen Populationen vermischte, müßte die so entstandene Population eine Mischung aus alter und neuer MitochondrienDNA besitzen. Dabei würde die alte DNA überwiegen, da die Zahl der Neuankömmlinge gegenüber den großen Populationen der lokalen archaischen Menschen relativ klein gewesen wäre. Die Unwägbarkeiten des Populationswandels hätten in diesem Fall die Eliminierung der Minderheit (der neuen Typen) begünstigt, und die alten Typen hätten weiterhin dominiert. Der Veröffentlichung von Wilsons Arbeitsgruppe im Jahre 1987 folgten weitere Daten aus Berkeley und anderen Labors sowie verschiedene Analysen des Ganzen durch viele Außenstehende. Die Molekularbiologen waren sich zwar keineswegs einig, aber die Hypothese von der Mitochondrien-Eva gewann immer mehr Unterstützung. Im September 1991 erschien in Science ein Aufsatz von Wilson und vier anderen Autoren. Darin wurde die Sequenz eines Teiles des Mitochondriengenoms von 189 Perso181
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
nen aus verschiedenen Regionen der Erde beschrieben. Die Autoren hatten den wahrscheinlichsten Stammbaum abermals mit Hilfe einer Parsimonieanalyse konstruiert und zwei statistische Tests angewandt. Die Ergebnisse stützten die Hypothese von einer afrikanischen Eva massiv. »Unsere Untersuchung liefert die bisher stärkste Bestätigung für die Ansiedlung des gemeinsamen Vorfahren unserer Mitochondrien-DNA in Afrika vor etwa 200 000 Jahren“, schlossen die Autoren. Es stellte sich allerdings heraus, daß diese Parsimonieanalyse ebenso wie die von 1987 unzureichend gewesen war. Bei der Parsimonietechnik versucht man, denjenigen Stammbaum zu finden, der alle beobachteten Varianten durch eine minimale Anzahl an Mutationen miteinander verbindet. Bei Stichproben, die mehr als 100 Individuen umfassen, und einer ähnlichen Anzahl informationshaltiger Sequenzen im Genom wird die Zahl der möglichen Stammbäume jedoch extrem hoch. Das Auffinden der Stammbäume mit der geringsten Anzahl von Mutationen erfordert eine enorme Rechnerkapazität. Beispielsweise lassen sich aus den Daten von 1991 astronomische 8×10264 mögliche Stammbäume ableiten, und selbst die Anzahl der kürzesten Stammbäume übersteigt eine Milliarde. Auch bei maximaler Ausschöpfung derzeit verfügbarer Rechnerkapazitäten läßt sich eine solche Unzahl von Möglichkeiten nicht analysieren. Unter Verwendung der besten Algorithmen und der schnellsten Computer haben die erschöpfendsten Parsimonieanalysen nur 50 000 Stammbäume bewältigt. Aufgrund dessen kann man immer nur eine Auswahl von Stammbäumen untersuchen, und die Wissenschaftler gingen davon aus, daß ihre jeweilige Auswahl eine repräsentative Stichprobe darstellte. Wie sich gezeigt hat, war dies aber nicht der Fall. Beispielsweise untersuchten die Autoren des 1991 veröffentlichten Aufsatzes 100 Stammbäume. Als zwei der Autoren, Linda Vigilant und Mark Stoneking von der Pennsylvania State University, sich veranlaßt sahen, die Gültigkeit der Schlußfolgerungen zu überprüfen, konstruierten sie 10 000 Stammbäume und stellten fest, daß darunter ebensoviele auf einen Ursprung außerhalb von Afrika hindeuteten wie auf einen Ursprung in Afrika. Alan Templeton von der Washington University und David Maddison und seine Mitarbeiter von der Harvard University kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Auf der Grundlage dieser Daten läßt sich die Hypothese von der in Afrika beheimateten Mitochondrien-Eva statistisch nicht unterstützen, woraufhin viele diese Hypothese für widerlegt hielten. Doch, so bemerkt Stoneking, »die Tatsache, daß diese Schlußfolgerung statistisch nicht signifikant ist, bedeutet nur, daß die Wahrscheinlichkeit eines Ursprungs außerhalb von Afrika mehr als fünf Prozent beträgt, und nicht, daß es keinerlei Informationen über den geographischen Ursprung gibt«. Ohne daß eine statistisch signifikante Stammbaumanalyse vorliegt, ergibt sich der folgende Stand der Dinge: Erstens ist das Ausmaß der genetischen Variation in der 182
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
menschlichen Mitochondrien-DNA gering, was auf einen späten Ursprung des modernen Menschen hindeutet; auf diese Schlußfolgerung haben die Probleme mit der Parsimonieanalyse keinen Einfluß. Zweitens ist die Variation in der afrikanischen Population am stärksten ausgeprägt; auch dieser Sachverhalt steht fest, und die wahrscheinlichste, wenn auch nicht statistisch untermauerte Interpretation dafür ist ein Ursprung in Afrika. Stoneking und seine Mitarbeiter haben vor kurzem die Mutationsrate der menschlichen Mitochondrien-DNA neu kalibriert; dabei analysierten sie Daten aus Papua-Neuguinea mit Hilfe von zwei neuen Methoden. Die beiden Eichungen ergaben für den Zeitpunkt der Existenz des MitochondrienDNA-Vorfahren einen mittleren Wert von 133 000 beziehungsweise 137 000 Jahren vor der Gegenwart. Das wichtigste an der neuen Kalibrierung ist jedoch der 95-Prozent-Vertrauensbereich: für die eine Methode liegt er zwischen 63 000 und 356 000 Jahren vor heute, für die andere zwischen 63 000 und 416 000 Jahren. Das untere Ende dieses Bereichs stimmt gut mit Beobachtungen über die Anfänge modernen menschlichen Verhaltens überein, wie es in den archäologischen Zeugnissen erkennbar ist. Für unsere Zwecke noch wichtiger ist aber die Tatsache, daß selbst die Daten am oberen Ende des Bereichs weniger als halb so lange zurückliegen, wie es das Modell der multiregionalen Evolution erfordert (nämlich mindestens eine Million Jahre). Andere sind bei der Analyse von Daten über Mitochondrien-DNA zu abweichenden Ergebnissen gekommen. Beispielsweise hat Christopher Wills, ein Genetiker an der University of California in San Diego, eine Untergruppe von Nucleinsäuremutationen untersucht, die seiner Meinung nach ein saubereres Resultat liefert als die gesamte DNA. Seinen Ergebnissen zufolge liegt der Ursprung des modernen Menschen 436 000 bis 806 000 Jahre zurück. Das hieße, daß Eva zu einem früheren Abschnitt der menschlichen Stammesgeschichte gehörte, als viele glauben, nämlich daß sie kein archaischer Homo sapiens, sondern ein Homo erectus war. Doch auch dann hätte sie nicht während der Zeit der ersten von Afrika ausgehenden Wanderungen (vor vielleicht schon zwei Millionen Jahren) gelebt, wie es nach der Hypothese der multiregionalen Evolution der Fall sein müßte. Einst als potentielle Antwort auf die Frage angesehen, wann und wo der moderne Mensch entstand, werden die Daten über die MitochondrienDNA heute realistischer als nur ein Anhaltspunkt eingeschätzt. Obwohl das Mitochondriengenom 37 Gene umfaßt, verhält es sich praktisch wie ein einziger Genlocus, weil es von den Kerngenen getrennt ist und sich als Einheit weiterentwickelt. So schwer es ist, mit ihnen zu arbeiten, werden in Zukunft dennoch auch andere Gene eine wichtige Rolle in der Molekularanthropologie spielen. Daten aus mehreren Untersuchungen der Variation von Kerngenen haben gezeigt, daß sich zunächst eurasische Populationen von afrikanischen ge183
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 7.2: Anatomie und Artefakte: Ein Rätsel Die Wissenschaft bezieht ihre Stärke aus der Kenntnis von Grundmustern, insbesondere aus der Übereinstimmung solcher Muster. In den Augen derjenigen Anthropologen, die von einem späten, singulären Ursprung des modernen Menschen überzeugt sind, besteht eine Übereinstimmung zwischen den fossilen und den genetischen Befunden: Beide deuten auf ein Speziationsereignis in Afrika vor etwa 100 000 Jahren hin. Wie steht es aber mit Zeugnissen menschlichen Verhaltens? Wenn die Evolution des modernen Menschen 100 000 Jahre zurückliegt, müßte man dann nicht auch archäologische Belege für Verhaltensweisen des modernen Menschen finden? Leider ist das Muster hier sehr viel unklarer. Was meinen wir überhaupt mit Verhaltensweisen des modernen Menschen? Über weite Strecken der menschlichen Vorgeschichte verlief der Wandel des Verhaltens (belegt durch Zeugnisse von Werkzeugherstellung und -gebrauch) extrem langsam und stagnierte sogar über lange Zeiträume ganz. Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge stammen aus Äthiopien und Kenia und sind etwa 2,5 Millionen Jahre alt; es handelt sich um kleine, scharfe Steinsplitter und sogenannte Chopper oder Geröllgeräte. Ihr Auftauchen trifft vermutlich mit der Evolution der ersten Art der Gattung Homo zusammen. Diese sogenannte Oldowan-Kultur bestand etwa eine Million Jahre praktisch unverändert. Dann trat, abermals in Ostafrika, eine neue Kultur auf den Plan, das Acheuleen. Außer durch Geräte wie die des Oldowan ist das Acheuleen durch tropfenförmige Faustkeile charakterisiert, deren Herstellung eine genauere Vorstellung von der fertigen Form sowie verbesserte handwerkliche Fertigkeiten erforderte. Die nächste wichtige Veränderung, die durch archäologische Funde belegt ist, liegt erst 250 000 Jahre zurück und umfaßt eine neue Methode zur Herstellung von Steinsplittern (die sogenannte Levallois-Technik), welche die Produktion einer wesentlich größeren Vielfalt von Geräten erlaubte. Dann herrschte praktisch wieder technischer Stillstand, der diesmal von der abruptesten Veränderung überhaupt beendet wurde. Erstmals wurden andere Materialien als Stein – etwa Knochen und Elfenbein – in der Werkzeugherstellung wichtig, und die Werkzeuge selbst waren extrem verfeinert und vielfältig. Überdies erschienen zum ersten Mal Schmuckstücke (wie Grabbeigaben belegen) und andere Zeugnisse künstlerischer Tätigkeit. Die Größe der menschlichen Ansiedlungen nahm zu, und es gibt erste Belege für Kontakte über weite Entfernungen und Tauschhandel, sowohl von Gebrauchsgegenständen (aus Stein) als auch von Gegenständen ohne unmittelbaren praktischen Nutzen (Weichtierschalen und Bernstein). In der Abruptheit und dem Ausmaß dieses Wandels zeigt sich, daß hier der Verstand des modernen Menschen am Werk war. Aus historischen Gründen bezeichnet man die beschriebenen archäologischen Perioden mit unterschiedlichen Fachter-
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mini, je nachdem um welche geographische Region es sich handelt. Bezogen auf Afrika südlich der Sahara heißt die Periode, zu der die Kulturstufen Oldowan und Acheuleen gehören, Early Stone Age. Die Veränderung vor 250 000 Jahren leitet das sogenannte Middle Stone Age ein, das schließlich in das Later Stone Age übergeht. Die entsprechenden Perioden in Europa, Asien und Nordafrika bezeichnet man als Unteres, Mittleres und Oberes Paläolithikum. (Das Untere Paläolithikum beginnt später als das Early Stone Age, weil die Vorfahren des Menschen erst vor etwa zwei Millionen Jahren nach Eurasien vordrangen.) Hier stellt sich nun die Frage: Wann erfolgten die Übergänge vom Mittleren zum Oberen Paläolithikum und vom Middle zum Later Stone Age? Wenn dieses offensichtliche Signal für das Erscheinen des modernen Menschenverstands zeitlich mit der Evolution des anatomisch modernen Menschen zusammentrifft, wäre zu erwarten, Belege dafür zunächst in Afrika vor etwa 100 000 Jahren und später in Eurasien zu finden (falls das Out-of-Africa-Modell über den Ursprung des modernen Menschen zutrifft). Die ältesten für das Obere Paläolithikum charakteristischen Funde in Westeuropa sind 40 000 Jahre alt. Dies fällt dicht mit dem ersten Auftauchen des anatomisch modernen Menschen zusammen, der vermutlich von Osten her dorthin vordrang. Schaut man jedoch nach Asien, so bricht die erwartete Übereinstimmung zwischen Anatomie und Verhalten schnell zusammen, was die Anthropologen vor ein Rätsel stellt. Im Nahen Osten beispielsweise fand man in den Höhlen von Skhul und Qafzeh fossile Belege für die Existenz des modernen Menschen vor etwa 100 000 Jahren. Dies ist mit einem etwas früheren Ursprung des modernen Menschen in Afrika südlich der Sahara und einer darauf folgenden Ausbreitung nach Norden vereinbar. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise auf moderne Verhaltensweisen, die weiter zurückreichen als 40 000 bis 50 000 Jahre. Zudem lebten die Menschen in Skhul und Qafzeh offenbar mindestens 50 000 Jahre lang in Koexistenz mit Neandertalern, bis letztere verschwanden – vermutlich starben sie aus. Die einzigen Artefakte, die man dort aus dieser Periode gefunden hat, sind der Form nach typisch für das Mittlere Paläolithikum (in dieser Region als Mousterien bezeichnet). Sie lassen keine Verhaltensunterschiede zwischen den archaischen Menschen (Neandertalern) und den modernen Menschen, die sie schließlich verdrängten, erkennen. Das gleiche Rätsel stellt sich in bezug auf Afrika, wo das archäologische Bild weniger klar ist – nicht zuletzt weil es weniger Fundstätten gibt. Es besteht kein Zweifel daran, daß in Afrika südlich der Sahara vor 40 000 Jahren eine Later-StoneAge-Kultur existierte (qualitativ dem Oberen Paläolithikum äquivalent). Doch wenn ein Zusammenhang zwischen Anatomie und Verhalten besteht, müßten dort mindestens 60 000 Jahre
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
E.7.2.1 Knochengeräte, darunter einige mit Widerhaken versehene, von der Grabungsstätte am Semliki River in Zaire. Die ältesten so geformten Geräte, die man vor der Entdeckung dieser Artefakte kannte, stammen aus Europa und wurden auf ein Alter von 30 000 Jahren datiert – 60 000 Jahre weniger als diese Funde aus Afrika.
ältere Belege für eine verfeinerte Werkzeugherstellung und eine kompliziertere Sozialstruktur zu finden sein. Dies ist nicht der Fall, jedenfalls nicht eindeutig. Es gibt eine Reihe früher Kulturstufen – Aterien im Nordwesten und Howieson’s-Poort-Industrie im Süden –, deren Geräte technisch fortgeschrittener sind als die, die für das Middle Stone Age typisch sind, aber die Archäologen sind sich über ihre Deutung nicht einig. Sind sie Anzeichen für einen Übergang in die Kultur des Later Stone Age in einer Zeit, aus der bisher nur sehr wenige archäologische Zeugnisse gefunden wurden? Oder handelt es sich bloß um geographische Varianten des Middle Stone Age, die nicht mit späteren, fortgeschrittenen Verhaltensweisen in Verbindung stehen? Man hat sorgfältig gearbeitete Steinklingen, wie sie für Later-Stone-AgeIndustrien charakteristisch sind, an annähernd 100 000 Jahre alten Fundstätten entdeckt – jedoch nur wenige. Ein neuer Verhaltenstrend ist damit nicht überzeugend belegt. Anfang 1995 berichteten Archäologen aus den USA, Kanada und Belgien von der Entdeckung fein gearbeiteter Knochengeräte an zwei Fundstätten in der Nähe des Semliki River in Zaire. Diese der Form nach extrem modernen Geräte könnten 90 000 Jahre alt sein, falls die Datierung der Fundstätten korrekt ist. In diesem Fall würde es sich um die ältesten Belege für eindeutig modernes Verhalten in der Alten Welt handeln, was im Einklang mit der Vorstellung vom Ursprung des modernen Menschen in Afrika stünde. Allerdings führt bislang keine
E.7.2.2 Alison Brooks von der Smithsonian Institution und Mitarbeiter arbeiten an der Grabungsstätte Katanda im Gebiet des Semliki River in Zaire. Dort fanden sie viele aus Knochen hergestellte Geräte, die auf ein Alter von 90 000 Jahren datiert wurden und damit die am feinsten gearbeiteten bekannten Werkzeuge aus dieser frühen Periode sind.
überzeugende archäologische Fährte, die ein derartiges Verhalten anzeigt, nach Eurasien. Welche Lösungsvorschläge haben die Archäologen für das Rätsel einer scheinbaren Entkopplung der modernen Anatomie vom modernen Verhalten anzubieten? Möglicherweise ging die Modernisierung der Skelettanatomie tatsächlich der Modernisierung des Verhaltens voran, und letztere war eine Folge weiterer biologischer Veränderungen, die irgendwann vor mehr als 40 000 Jahren eintraten. Oder die Entstehung des modernen Verhaltens war, wie manche Archäologen glauben, ein kulturelles Ereignis und wurde nicht durch eine biologisch bedingte Steigerung der kognitiven Fähigkeiten ausgelöst. Um diese Ansicht zu stützen, weisen sie auf die Anfänge der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren hin. Es gibt keine Belege für eine Veränderung der geistigen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt; vielmehr begünstigten der kulturelle Kontext und die Umweltbedingungen eine neue und komplexe Verhaltensweise.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
trennt haben und später eine Aufspaltung in europäische (aus historischen Gründen oft auch als kaukasisch bezeichnete) und asiatische Menschen erfolgte. Eine ähnliche, allerdings allgemeinere Schlußfolgerung ergibt sich aus Daten über einen kleinen, nichtcodierenden Abschnitt auf Chromosom 12, die aus dem Labor von Ken Kidd an der Yale University stammen. Die Variation an diesem Locus ist in Afrika sehr viel größer als im Rest der Welt. »Das steht völlig im Einklang mit einer späten, von Afrika ausgehenden Ausbreitung des modernen Menschen«, bemerkte Kidd. »Eine andere Erklärung für diese Daten ist schwer vorstellbar.« In einem anderen nichtcodierenden DNA-Abschnitt fanden Luigi Lucca CavalliSforza und seine Mitarbeiter an der Stanford-University ebenfalls eine im Vergleich zu anderen Populationen starke Variation in Afrika. »Diese Beobachtung stützt die Annahme eines Ursprungs in Afrika«, schlössen sie Anfang 1994 einen in Nature veröffentlichten Bericht. Dieses Muster – starke genetische Variation in Afrika und geringere anderswo – könnte folgendermaßen zustandegekommen sein. Der moderne Mensch entstand in Afrika, und in der Folgezeit bildete sich dort eine hohe Variabilität aus. Später verlagerten kleine Gruppen dieser großen Population ihre Territorien immer weiter nordwärts und breiteten sich allmählich nach Europa und Asien aus. Diese Gruppen umfaßten aufgrund ihrer geringen Größe nur einen Teil der genetischen Variation der Gesamtpopulation. Die so neu entstandenen Populationen breiteten sich schnell in den noch unbesiedelten Gebieten aus – ein Prozeß, durch den eine relativ geringe genetische Variation erhalten blieb. Mehrere Forschungsteams haben nach anderen genetischen Belegen für das eben beschriebene Muster gesucht. Beispielsweise berichteten Wilson und Anna Di Rienzo, in den Mitochondrien-DNA-Daten gebe es Hinweise darauf, daß die Variation in Europa vor etwa 60 000 Jahren rapide zuzunehmen begann. »Eine Erklärung ist, daß wir hier die Folgen einer schnellen Bevölkerungszunahme sehen, die nach der Auswanderung aus Afrika einsetzte«, schreibt Di Rienzo. Dagegen entdeckt Alan Templeton von der Washington University in den Daten keine Hinweise auf einen derartigen Prozeß und interpretiert dies als Beleg für die Richtigkeit der Hypothese der multiregionalen Evolution. Henry Harpending von der Pennsylvania State University sieht in seiner Analyse von Mitochondrien-DNA-Daten Belege für das unabhängige Wachstum von Populationen weltweit, was ebenfalls die Hypothese der multiregionalen Evolution stützt. Alan Rogers von der University of Utah hat ein Computermodell für „plötzliche Vermehrung“ auf Mitochondrien-DNA angewendet und Belege für das von Harpending postulierte Wachstum von Populationen überall auf der Welt gefunden, das demnach vor etwa 80 000 Jahren begonnen hat. Es gibt keine eindeutige Schlußfolgerung zugunsten der einen oder anderen Hypothese, bemerkt Rogers, aber insgesamt spricht mehr für das Out-of-Africa-Modell. 186
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
Noch schwieriger ist es, aus der Variation von Kern-DNA den Zeitpunkt des Ursprungs des modernen Menschen abzuleiten, aber zwei in den vergangenen Jahren produzierte Schätzwerte – einer von Masatoshi Nei und seinen Mitarbeitern von der Pennsylvania State University und einer von Cavalli-Sforza und seinen Stanforder Mitarbeitern – liegen bei etwa 100 000 Jahren vor der Gegenwart. Damit sind sie dem Zeitpunkt, den die meisten Analysen der Mitochondrien-DNA ergeben haben, erstaunlich nahe. Noch erstaunlicher sind die Ergebnisse des Vergleichs eines 729 Nucleotide langen Genabschnitts auf dem Y-Chromosom, die Mitte 1995 in Science veröffentlicht wurden. Das Y-Chromosom ist insofern ein Äquivalent zur Mitochondrien-DNA, als es nur in einer Linie vererbt wird – der männlichen. Robert Dorit von der Yale University und zwei Mitarbeiter fanden bei 38 männlichen Personen aus aller Welt keine Variation dieser Sequenz. Dieser Befund war eine Überraschung und bedeutete für die Wissenschaftler, welche die Geschichte dieses Gens erforschen, eine Herausforderung. Die statistische Analyse ergab, wie Dorit und seine Mitarbeiter berichteten, »für den Zeitpunkt, zu dem der letzte gemeinsame männliche Vorfahre lebte, einen Erwartungswert von 270 000 Jahren vor heute (mit einem 95-Prozent-Vertrauensbereich von 0 bis 800 000 Jahren)«. Falls die Out-of-Africa-Hypothese zutrifft, müßte der von ihr beschriebene Prozeß in verschiedenen Zeugnissen der menschlichen Abstammungsgeschichte Spuren hinterlassen haben. Viele solcher Spuren dürften in den materiellen Hinterlassenschaften der verschiedenen Kulturstufen zu finden sein, aber auch die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den verschiedenen Sprachen der Erde könnten in diesem Zusammenhang aufschlußreich sein. Es ist möglich, daß es in der Stammpopulation des modernen Menschen nur eine einzige Sprache gab. Diese hätte sich mit den wandernden Populationen ausgebreitet und wäre dabei, genau wie die Gene, einer lokalen Evolution unterworfen gewesen. Wenn dagegen die Hypothese der multiregionalen Evolution zutreffen sollte, hätten die Sprachen in den verschiedenen Teilen der Alten Welt extrem weit zurückreichende und isolierte Wurzeln, genau wie das genetische Erbe. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich zwischen dem geographischen Verbreitungsmuster der Sprachen und dem Verbreitungsmuster von Populationen mit jeweils spezifischem genetischem Profil eine Übereinstimmung feststellen ließe, wäre sehr gering. Seit dem Ursprung der Sprache und dem der regionalen Populationen wäre so viel Zeit vergangen, daß eventuelle Verbindungen zwischen beiden inzwischen nicht mehr erkennbar wären. Als Cavalli-Sforza vor mehr als einem Jahrzehnt begann, genetische Daten über menschliche Populationen zu sammeln, hatte er nicht vor, dieses linguistische Thema zu untersuchen, aber vor einiger Zeit wurde ihm klar, daß er in der Lage war, einen Test durchzuführen. Von den Stanforder Linguisten Joseph Greenberg und Merrit Ruhlen ermutigt, stellten Cavalli187
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
7.10 Ein Vergleich genetischer und linguistischer Daten der verschiedenen Menschenpopulationen der Erde ergab eine erstaunlich gute Übereinstimmung: Die genetische Karte entspricht der Karte der mit-
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einander verwandten Sprachfamilien. Die Übereinstimmung spricht für einen relativ späten Ursprung des modernen Menschen, ausgehend von einer einzigen afrikanischen Stammpopulation.
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
Sforza und seine Mitarbeiter eine genetische Karte der Alten Welt einer Karte der verwandten Sprachfamilien gegenüber. »Zwischen den linguistischen Überfamilien und den beiden Hauptgruppen [im genetischen Muster] zeigt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung, was auf eine beträchtliche Parallelität der genetischen und der sprachlichen Evolution hindeutet«, schlossen sie. Zwar sind einige Aspekte der Stanforder Arbeit umstritten, aber das daraus abgeleitete Muster steht im Einklang mit der Annahme, daß eines der letzten Elemente in der Evolution des modernen Menschen eine Steigerung der sprachlichen Fähigkeiten umfaßte. Es paßt außerdem zu einem späten, singulären Ursprung des modernen Menschen in Afrika, gefolgt von einer Wanderung in den Rest der Alten Welt – und schließlich in die Neue Welt.
Die Besiedelung Amerikas Die „Entdeckung“ Amerikas vor einem halben Jahrtausend bedeutete für die europäischen Gelehrten einen schweren Schock. Die Existenz eines riesigen, unbekannten Kontinents widerlegte den bis dahin herrschenden Glauben, alle Landmassen der Erde seien der Wissenschaft bekannt. Ebenso schockiert waren die amerikanischen Ureinwohner, als Menschen aus unbekannten Ländern an ihren Küsten landeten. Beide Gruppen suchten nach Erklärungen für die Existenz der jeweils anderen und zogen dazu die unterschiedlichsten Geschichten heran, darunter solche mit religiösem Hintergrund, aber auch solche, denen zufolge es sich bei den Fremden um Außerirdische handelte. Im 18. Jahrhundert, zur Zeit des dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson, wurden dann linguistische und archäologische Befunde dahingehend gedeutet, daß die amerikanischen Ureinwohner von asiatischen Vorfahren abstammten. Zu irgendeinem Zeitpunkt der Vorgeschichte, so schloß man, erreichten aus Asien kommende Einwanderergruppen den äußersten Nordwesten Amerikas, von wo aus sie sich nach Süden ausbreiteten. Damals wendeten sich die Gelehrten den folgenden Fragen zu: Wie lief diese Kolonisierung ab, und wann fand sie statt? 200 Jahre später stellt sich die Wissenschaft immer noch die gleichen Fragen. Generationen von Forschern haben archäologische, paläontologische und linguistische Befunde analysiert, sind aber zu keinem eindeutigen Konsens gekommen. Beispielsweise gibt es auf den beiden amerikanischen Kontinenten drei große Sprachfamilien. Die beiden ersten – EskimoAleutisch in der Arktis und die Na-Dene-Sprachen im Nordwesten – sind relativ homogen. Die dritte, Amerindisch, weist eine enorme Vielfalt auf. Die eskimo-aleutischen Völker und die Stämme der Na-Dene-Sprachfami189
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
7.11 Ein Kupferstich aus dem 16. Jahrhundert, auf dem der Flame Theodore De Bry die Ankunft von Columbus in Amerika und dessen erstes Zusammentreffen mit Eingeborenen dargestellt hat.
lie könnten die Nachfahren von zwei getrennten Migrationswellen sein. Problematischer ist der Ursprung der amerindischen Völker. Sind sie die Nachfahren einer einzigen Wanderungswelle, die in der Folgezeit einer starken sprachlichen Differenzierung unterworfen waren? Oder stammen sie von Gruppen einheitlicher genetischer Herkunft ab, die Amerika in mehreren Migrationswellen erreichten? Auch über den Zeitpunkt solcher mutmaßlichen Wanderungen herrscht wenig Einigkeit (siehe Exkurs 7.3 auf Seite 194). Nach Ansicht mancher Archäologen liegt die erste Einwanderungswelle etwas über 11 000 Jahre zurück (sogenannte späte Einwanderung), während andere überzeugende Belege dafür sehen, daß die Kolonisierung schon vor 32 000 Jahren begann (sogenannte frühe Einwanderung). Mitte der achtziger Jahre erstellte Joseph Greenberg aus Stanford eine Analyse aller Sprachen der amerikanischen Ureinwohner. Erwartungsgemäß ordnete er Eskimo-Aleutisch und Na-Dene als eigene Sprachfamilien oder Phyla ein. Seine Zusammenfassung aller Sprachen der 600 amerindischen Stämme zu einem einzigen Phylum mit einer gemeinsamen 190
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
7.12 Der Stanforder Linguist Joseph Greenberg hat die vielen Sprachen Amerikas in nur drei Familien unterteilt: Eskimo-Aleutisch (dunkelblau), Na-Dene (dunkelgrün) und Amerindisch (hellgrün). Als erste betraten die Vorfahren der amerindischen Völker die Neue Welt, als letzte die Vorfahren der eskimo-aleutischen Völker.
191
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Wurzel war allerdings umstritten, vor allem aufgrund der Diversität dieser Gruppe. Gebißbefunde, die Christy Turner von der Arizona State University gesammelt hatte, sowie Daten über klassische Proteinmarker, etwa Blutgruppenproteine, die Cavalli-Sforza lieferte, unterstützten jedoch diese Einteilung in drei Gruppen. Gemeinsam führten die Befunde aus diesen drei Arbeitsgebieten zur sogenannten Drei-Wellen-Hypothese: Zuerst kamen die Vorfahren der amerindischen Stämme nach Amerika, es folgten die Ahnen der Na-Dene-Völker und schließlich die der eskimo-aleutischen Völker. Mit Hilfe der Glottochronologie, einer linguistischen Methode zur Datierung von Sprachspaltungen, die aber bestenfalls ungefähre zeitliche Anhaltspunkte liefert, wurden für diese Ereignisse die folgenden Zeitpunkte abgeleitet: über 12 000, 9000 und 5000 Jahre vor der Gegenwart. Die Ungewißheit über den Zeitpunkt, zu dem die Vorfahren der amerindischen Völker einwanderten, spiegelt die Ungenauigkeit der Glottochronologie für die Zeit vor mehr als 10 000 Jahren wider. Was die Molekularanthropologie betrifft, so erfordert der relativ späte Zeitpunkt der menschlichen Einwanderung nach Amerika die Analyse eines Genoms mit einer hohen Mutationsrate. Deshalb bietet es sich an, die Variation der Mitochondrien-DNA zu untersuchen. Seit Mitte der achtziger Jahre ist dieser Ansatz in verschiedenen Labors verwendet worden – bisher mit widersprüchlichen Ergebnissen. Immerhin besteht in zwei Punkten Übereinstimmung: hinsichtlich der asiatischen Abstammung der amerikanischen Ureinwohner sowie in bezug auf die genetische Verwandtschaft zwischen den Völkern innerhalb jeder der drei Sprachfamilien Amerindisch, Na-Dene und Eskimo-Aleutisch. Die Kontroverse betrifft den Zeitpunkt und den Verlauf der Einwanderung. Die Arbeitsgruppe von Douglas Wallace an der Emory University in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia ging das Thema zunächst durch einen Vergleich der Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen der Mitochondrien-DNA von Pima-Indianern aus Arizona und von mehreren asiatischen Populationen an. Sie fanden bei den amerindischsprachigen Pima vier Mitochondrienlinien, die sie als A, B, C und D bezeichneten. Jede dieser Linien war durch einen seltenen asiatischen Mitochondrien-DNA-Marker charakterisiert, der bei Europäern und Afrikanern nicht vorkommt. Dieses Ergebnis bestätigte die asiatische Herkunft der amerindischen Völker. Allerdings waren solche Marker in den amerikanischen Populationen sehr viel häufiger als in den asiatischen. Wallace und seine Mitarbeiter schließen daraus auf eine Reduktion der genetischen Gesamtvariation in der Neuen Welt infolge eines Populationsengpasses. Mit anderen Worten, die Population, die von Asien nach Amerika wanderte und von der die amerindischen Völker abstammen, bestand nur aus einigen hundert oder tausend 192
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
Individuen und umfaßte lediglich einen Ausschnitt aus der genetischen Variation der Herkunftspopulation. In einem zweiten Schritt bezog die Arbeitsgruppe von Wallace zahlreiche weitere Populationen in ihren Vergleich ein, und zwar aus Süd-, Mittelund Nordamerika (um Gruppen der amerindischen und der Na-DeneSprachfamilie zu vergleichen) sowie aus Asien. Das ursprüngliche Muster bestätigte sich nicht nur, sondern wurde außerdem detaillierter. Beispielsweise schien die genetische Variation innerhalb der vier Mitochondrienlinien nach dem mutmaßlichen Populationsengpaß entstanden zu sein, was die Annahme bestärkte, daß eine kleine Population nach Amerika einwanderte und sich dann schnell ausbreitete. Weiterhin kamen in der Population der amerindischen Völker alle vier Mitochondrienlinien (A, B, C und D) vor, während sämtliche Angehörigen von Na-DeneVölkern die Linie A besaßen; dies deutete auf eine getrennte Wanderung hin. Die durchschnittliche Variation innerhalb dieser Linien war bei den amerindischen Stämmen viermal so hoch wie bei den Na-Dene-Völkern – ein Indiz dafür, daß die Vorfahren der amerindischen Stämme zuerst nach Amerika kamen. Ausgehend von einer Rate der Sequenzdivergenz von zwei bis vier Prozent pro Million Jahre, errechnete die Arbeitsgruppe von Wallace, daß die Population, von der die Völker der amerindischen Sprachfamilie abstammen, den Kontinent vor 21 000 bis 42 000 Jahren erreichte, die Vorfahren der Na-Dene-Völker dagegen erst vor 5250 bis 10 500 Jahren. Dieses Muster entspricht dem Drei-Wellen-Modell, gibt aber einen früheren Zeitpunkt für die Einwanderung der amerindischen Gruppe an. Später überarbeiteten Wallace und seine Mitarbeiter ihre Daten nochmals; diesmal verwendeten sie eine Sequenzdivergenzrate, die sie durch genetische Untersuchungen Chibcha sprechender Stämme Mittelamerikas ermittelt hatten. Anfang 1994 veröffentlichten sie einen revidierten Zeitpunkt für die Einwanderung der Population, aus der die amerindischen Völker hervorgingen: 22 000 bis 29 000 Jahre vor heute. (Nur eine der vier Mitochondrienlinien, nämlich B, ist weniger variabel als der Rest und ergibt 13 500 Jahre; dies läßt eine zweite, spätere Einwanderung von Völkern der amerindischen Sprachfamilie möglich erscheinen.) Statistisch läßt sich mit diesen Ergebnissen nicht belegen, ob die Einwanderung früh oder spät stattfand, aber sie lassen die erstere Alternative wahrscheinlicher erscheinen. Inzwischen hat ein Forschungsprojekt an der University of Utah unter der Leitung von Ryk Ward andere Ergebnisse erbracht. Zunächst berichtete Wards Arbeitsgruppe, sie habe in den von Wallace und seinen Mitarbeitern beobachteten Mitochondrienlinien eine beträchtliche Variation gefunden, die auf den ersten Blick eine Einwanderung vor mehr als 70 000 Jahren implizierte. Später erklärte die Gruppe, eine vernünftigere Interpretation 193
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Exkurs 7.3: Die ersten Amerikaner: Schwer interpretierbare archäologische Befunde Im Jahre 1927 fanden Archäologen, die in der Nähe von Folsom im US-Bundesstaat New Mexico mit Ausgrabungen beschäftigt waren, Speerspitzen, die in dem Skelett einer am Ende der letzten Eiszeit ausgestorbenen Bisonart steckten. Dies war der erste wichtige Hinweis auf die frühe Anwesenheit von Menschen in Amerika – die Besiedelung der Neuen Welt durch den Menschen mußte demnach mindestens 10 000 Jahre zurückliegen. Wenige Jahre später kamen, abermals in New Mexico, weitere Belege für eine frühe Besiedelung ans Tageslicht, die den Zeitpunkt dieses Ereignisses noch um 1300 Jahre zurückverlegten. Wieder waren Speerspitzen das verräterische Indiz für die Anwesenheit von Menschen. Diesmal fand man sie zwischen den Knochen von Mammuten, von denen die Paläontologen wußten, daß sie früher ausgestorben waren als die Bisonart aus Folsom. (Die genaue Datierung wurde später durch Radiocarbonuntersuchungen vorgenommen.) Die charakteristischen kannelierten Speerspitzen und die Menschen, die sie herstellten und verwendeten, erhielten den Namen Clovis. Während der folgenden 60 Jahre hieß es Dutzende von Malen, man habe Belege für eine frühere Besiedelung als die durch die Ciovismenschen gefunden, manche angeblich bis zu 250 000 Jahre alt. Die meisten dieser Belege verflüchtigten sich jedoch bei genauerer Betrachtung. David Meltzer, ein Archäologe an der Southern Methodist University in Dallas und Experte für die Besiedelung Amerikas, bemerkte dazu: »Mittlerweile sind so oft falsche Hoffnungen in bezug auf alte Fundstätten geweckt worden, daß die amerikanischen Archäologen gegenüber den fast jährlich zu verzeichnenden neuen Behauptungen ausgesprochen skeptisch geworden sind.« Während dieser Zeit setzte sich weitgehend die Überzeugung durch, die Ciovismenschen seien tatsächlich die ersten Siedler gewesen – Immigranten aus Nordostasien, die die Beringbrücke zu einer Zeit überquerten, als der Meeresspiegel infolge der Vereisung niedrig war. Den reichhaltigen Funden von ihren Wohnstätten und Zeugnissen ihrer Jagdaktivitäten nach zu urteilen, wanderten diese Menschen schnell nach Süden, erreichten in nur wenigen Jahrhunderten Feuerland und rotteten auf ihrem Weg möglicherweise etwa 35 Großsäugergattungen aus. Leider hat man bisher nur sehr wenige Knochen dieser Menschen selbst gefunden. Der Zeitpunkt des ersten Vordringens asiatischer Völker nach Amerika läßt sich durch mehrere Faktoren eingrenzen. Erstens gibt es keinerlei Hinweise auf die Existenz von Menschen in Nordostasien vor mehr als 40 000 Jahren, womit eine Obergrenze für den Zeitpunkt der Einwanderung gesetzt ist. Zweitens lag die Beringbrücke aufgrund der schwankenden
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Temperaturen während der letzten Eiszeit nur im Zeitraum zwischen 35 000 und 11 000 Jahren vor unserer Zeit trocken und erlaubte einen Übergang zwischen den Kontinenten. Auf dem Höhepunkt der letzten Vereisung, vor etwa 18 000 Jahren, vereinigten sich jedoch der östliche und der westliche Eisschild, unter denen Nordamerika lag, so daß ein Vordringen nach Süden nicht möglich war. Es gibt also zwei Zeitfenster, während derer es möglich gewesen wäre, in Gebiete südlich der Eisschilde zu wandern: von 35 000 bis 28 000 und von 14 000 bis 11 000 Jahren vor unserer Zeit. Während der letzten Jahre wurden eine Handvoll archäologischer Fundstätten entdeckt, die älter sein könnten als 11 500 Jahre. Damit besteht die Möglichkeit, daß Menschen der Vorcloviszeit die frühere der beiden Gelegenheiten wahrnahmen. Drei dieser Fundstätten sind selbst für Skeptiker ziemlich überzeugend. Eine liegt in Nordamerika, die anderen beiden in Südamerika. Die Meadowcroft-Höhle in der Nähe von Pittsburgh in Pennsylvania ist seit über 20 Jahren ein Ausgrabungsort. Man fand dort in mehreren Siedlungsebenen Steinartefakte, deren ältestes mit Hilfe der Radiocarbonmethode auf ein Alter von fast 17 000 Jahren datiert wurde. Die Datierung auf die Vorcloviszeit ist verschiedentlich angezweifelt worden, aber James Adovasio von der University of Pittsburgh, der Leiter dieses Forschungsprojekts, hat die Kritikpunkte zum größten Teil widerlegt. Das Leben der ersten Menschen in Meadowcroft muß eine frostige Angelegenheit gewesen sein, denn der südliche Rand des Laurentischen Eisschildes war damals nur 100 Kilometer entfernt. Der aussichtsreichste Vorclovis-Anwärter in Südamerika ist die Fundstätte Monte Verde in Südchile, wo in einem Torfmoor die Überreste einiger Hütten mit rechtwinkligem Grundriß erhalten sind. Tom Dillehay und sein Mitarbeiter von der University of Kentucky führten dort von 1976 bis 1985 Grabungen durch und fanden Feuerstellen, Tierknochen und -häute sowie Holzund Steingeräte. Die Radiocarbondatierung von Holzkohle aus den Feuerstellen ergab als Zeitpunkt der frühesten Besiedelung 13 000 Jahre vor unserer Zeit. Eine nahegelegene Fundstätte wurde – sehr viel weniger sicher – auf ein Alter von 33000 Jahren datiert. Noch älter soll die Fundstätte Pedra Furada im Nordosten Brasiliens sein. Diese über einem Talgrund gelegene Höhle ist mit über 1000 Zeichen und Figuren ausgemalt, darunter Menschen, Echsen, Gürteltiere und Jaguare. Bei Grabungen unter der Leitung des brasilianischen Archäologen Niede Guidon fand man dort Feuerstellen und Steingeräte. Die Radiocarbondatierung von Holzkohle aus den Feuerstellen ergab ein Alter von 42 000 Jahren. Nach Ansicht von Guidon ist dies tatsächlich das Alter der Fundstätte, während andere Archäologen sie
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
E.7.3.1 Die charakteristischen kannelierten Speerspitzen der Ciovismenschen, die vor etwas mehr als 10 000 Jahren in Amerika lebten.
für jünger halten. Älter als Clovis ja – aber mehr als 30 000 Jahre älter? Das ist ihrer Meinung nach unwahrscheinlich. Wenn in Amerika vor der Cioviszeit südlich des Eises Menschen gelebt hätten, müßte es auch Belege für eine frühe Einwanderung nördlich des Eises geben, wo es reichlich Wild gab. An zwei Fundstätten am Yukon – Old Crow Basin und Bluefish Caves – wurden Steinsplitter und Knochenstücke entdeckt, bei denen es sich möglicherweise um Artefakte und nicht um natürlich entstandene Bruchstücke handelt. Das Alter dieser Fundstätten genau zu bestimmen ist schwierig, es dürfte aber 25 000 Jahre oder mehr betragen. Die bisherigen archäologischen Befunde werfen viele Fragen auf. Wie ist die explosionsartige Besiedelung, auf welche die zahlreichen Funde aus dem Clovis-Komplex hinweisen, zu interpretieren? Gab es zu diesem späten Zeitpunkt eine große
E.7.3.2 Während der letzten Eiszeit sank der Meeresspiegel stark, wodurch sich die Küstenlinie Nordamerikas veränderte und die Beringbrücke zwischen Nordamerika und Asien trockenfiel, so daß die Neue Welt von Einwanderern aus der Alten Welt besiedelt werden konnte. Der Zeitpunkt der Besiedelung Amerikas ist noch umstritten. Die violett dargestellte Fläche war damals von Eis bedeckt
Wanderungs- und Ausbreitungswelle? Oder verbreitete sich eine neue Kultur schnell unter den Menschen, die bereits auf den beiden amerikanischen Kontinenten lebten? Die archäologischen Zeugnisse aus der Zeit vor Clovis deuten auf eine frühere Wanderung (oder mehrere Wanderungen) hin, doch ihre Seltenheit läßt vermuten, daß Bevölkerungszuwachs und Besiedelung sich in engen Grenzen hielten. Auf jeden Fall deuten genetische Befunde von heutigen Indianern darauf hin, daß diese von Menschen abstammen, die Amerika lange vor der Ciovisperiode erreichten. Als Columbus im 15. Jahrhundert dort ankam, waren auf den beiden amerikanischen Kontinenten mehr als 1000 Sprachen und die dazugehörigen Kulturen beheimatet. Nur die Hälfte dieser Sprachen hat überlebt, und viele sind vom Aussterben bedroht. Gemeinsam zeugen sie von einer schnellen Diversifizierung der Nachfahren asiatischer Einwanderer, die vielleicht nur in wenigen Gruppen nach Amerika kamen.
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DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
ihrer Daten sei, daß ein Großteil dieser Variation sich vor der Einwanderung nach Amerika entwickelt habe und daß die einwandernde Population groß – viele tausend Individuen – gewesen sei. In diesem Fall wären andere, etwa archäologische Daten erforderlich, um den Zeitpunkt der Einwanderung zu bestimmen. In späteren Analysen, in denen von einer neu ermittelten Sequenzdivergenzrate der Mitochondrien-DNA ausgegangen wurde, kam die Gruppe aus Utah zu dem Schluß, die Einwanderung der amerindischen Völker liege etwa 13 000 Jahre zurück und die der Na-Dene-Völker 6200 Jahre. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit dem Modell der späten Einwanderung. Die unterschiedlichen Schlußfolgerungen der Gruppen aus Utah und Georgia sind hauptsächlich die Folge unterschiedlicher Annahmen über die Sequenzdivergenzrate. Bisher wurde in diesem Punkt keine Einigung erzielt, und die Frage, wann die Besiedelung Amerikas begann, bleibt unbeantwortet. Ward und seine Mitarbeiter haben Beobachtungen über die sprachliche und genetische Differenzierung zwischen den amerindischen beziehungsweise Na-Dene-Völkern angestellt. Dabei ging es ihnen um die Frage, ob sprachliche und genetische Veränderungen mit vergleichbarem Tempo erfolgen. Wenn dies der Fall wäre, müßte die genetische Differenzierung zwischen den verschiedenen Stämmen der amerindischen Sprachfamilie geringer sein als zwischen Völkern der amerindischen und der Na-DeneSprachfamilie, weil die amerindischen Sprachen ein Phylum bilden und die Na-Dene-Sprachen ein anderes. Tatsächlich ist das Ausmaß der genetischen Differenzierung innerhalb der Völker der amerindischen Sprachgruppe dem zwischen amerindischen und Na-Dene-Stämmen relativ ähnlich, was darauf hindeutet, daß die sprachliche Evolution schneller fortschreiten kann als die genetische. »Wir vermuten, dies ist darauf zurückzuführen, daß sprachliche Vielfalt auf ganz andere Weise entsteht als genetische Diversität«, schrieben Ward und seine Mitarbeiter vor kurzem. »Wenn man den sprachlichen Wandel als kulturelles Phänomen ansieht, das von sozialen und historischen Ereignissen beeinflußt wird, sind „Ausbrüche“ der Veränderung und Perioden des „Stillstandes“ wahrscheinlich. Dagegen schreitet die molekulare Evolution in gleichmäßigerem Tempo voran.« Ein kongruent erscheinendes Muster des sprachlichen und genetischen Wandels wird man nur in Populationen finden, die sich vor sehr langer Zeit voneinander getrennt haben, so daß genügend Zeit für einen Ausgleich der Unterschiede in den Ergebnissen der beiden Prozesse bestand. Die Molekularanthropologie ist inzwischen eine anerkannte Wissenschaft. Natürlich kann sie die traditionellen Wissenschaftszweige, die sich mit der menschlichen Vorgeschichte befassen, nicht ersetzen, aber sie ergänzt sie 196
7. MOLEKULARANTHROPOLOGIE
äußerst wirkungsvoll. Die in diesem Kapitel beschriebenen Beispiele lassen dies erkennen, zeigen aber auch die Schwierigkeiten bei der Arbeit mit molekularanthropologischen Methoden. Gäbe es diese Schwierigkeiten nicht, so würde man schnell eindeutige Antworten erhalten – und das war, wie sich am Beispiel der Besiedelung Amerikas deutlich gezeigt hat, bisher nicht der Fall.
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8.1 Das Quagga, ein naher Verwandter der Zebras, starb Ende des 19. Jahrhunderts aus. Es ist die erste Art, aus der alte DNA isoliert wurde.
DNA aus alter Zeit
I
n diesem letzten Kapitel geht es um einen Bereich der molekularbiologischen Evolutionsforschung, der kühn in die Vergangenheit vorstößt und auf dem gleichzeitig unrealistische Hoffnungen für die Zukunft ruhen. Steven Spielbergs spektakulärer Film Jurassic Park brachte im Jahre 1993 die Idee – oder besser gesagt die Phantasievorstellung – ins Gespräch, daß es möglich sein könnte, aus den Eingeweiden eines in Bernstein eingeschlossenen blutsaugenden Insekts DinosaurierDNA zu gewinnen und mit ihrer Hilfe die ausgestorbenen „schrecklichen Echsen“ wiederauferstehen zu lassen. Der Film basierte auf Michael Crichtons gleichnamigem, 1990 erschienenem Roman, aber die Idee geht auf Überlegungen zurück, die Charles Pellagrino, ein Paläobiologe und Autor am Rockville Center in New York, ein Jahrzehnt zuvor anstellte. Im Jahre 1977 löste der Anblick eines 95 Millionen Jahre alten Bernsteinstückes aus New Jersey, in dem ein scheinbar perfekt erhaltenes Insekt eingeschlossen war, bei Pellagrino eine Spekulation aus. »Drei weitere Jahrzehnte technischen Fortschritts, und wir werden vielleicht in der Lage sein, DNA aus den Eingeweiden von Insekten zu extrahieren und zu lesen, und wenn wir Glück haben, werden wir in diesen Eingeweiden das Blut und die Haut von Dinosauriern finden«, schrieb er in der Wissenschafts- und Science-fiction-Zeitschrift Omni. Wenn Teile des genetischen Codes fehlen sollten, könnte man sie, so schlug er vor, vielleicht durch genetische Extrapolation und Verwendung der Gene heute lebender Dinosaurierverwandter rekonstruieren. »Dann könnte alles, was notwendig ist, um einen Dinosaurier zu produzieren, in die Form von Chromosomen überführt werden«, fuhr er fort. »Diese könnten wir in einen Zellkern einsetzen, ein Dotter und eine Eischale hinzufügen und unseren eigenen Dinosaurier ausbrüten.«
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Die drei Jahrzehnte sind noch nicht verstrichen, und trotz Jurassic Park bleiben Dinosaurier vorerst ausgestorben. Doch Pellagrinos Grundgedanke – die Extraktion von DNA aus ausgestorbenen Lebewesen – ist Wirklichkeit geworden. Ein neuer, vielversprechender Forschungszweig, der keinen richtigen Namen hat, aber zusammenfassend als Erforschung alter DNA bezeichnet werden kann, ist entstanden. Die Geburt dieses Forschungszweiges fand im Jahre 1984 statt, und wie so oft in der Entwicklung der molekularbiologischen Evolutionsforschung war auch hier Allan Wilson der Geburtshelfer. Bei der Erforschung alter DNA sind zwei technische Schwierigkeiten zu bewältigen. Erstens befindet sich die DNA aus Geweben, die seit Hunderten, Tausenden oder sogar Millionen von Jahren abgestorben sind, in einem sehr schlechten Zustand. Zweitens muß eine Methode zur Gewinnung solcher DNA entwickelt werden. In ihrer bahnbrechenden Arbeit gelangen Wilson und seinen Mitarbeitern die ersten Schritte zur Überwindung dieser Schwierigkeiten. Mit der Fähigkeit, alte DNA aus allen Arten von Lebewesen zu extrahieren, wird es möglich, die weiter vorn in diesem Buch beschriebenen Forschungsansätze weiter in die Vergangenheit auszudehnen. Diese Ansätze – auf dem Gebiet der Populationsbiologie, der Naturgeschichte und der Anthropologie – liefern zur Zeit Informationen über die Vergangenheit, die auf der genetischen Information lebender Organismen beruhen. Bei der Er-
8.2 Bernstein konserviert Gewebe bemerkenswert gut, und so stößt man bei Insekten, die in der goldfarbenen, spröden Substanz eingeschlossen sind, auf eine relativ gut erhaltene Zellstruktur mitsamt DNAFragmenten. Das Photo zeigt die Entnahme von Insektengewebe aus einem zerbrochenen Bernsteinstück; das Insekt und die Pinzettenspitzen sind auf dem Bildschirm sichtbar.
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8. DNA AUS ALTER ZEIT
forschung alter DNA geht es um ähnliche Fragen, doch sie bedient sich genetischer Information, die Teil jener Vergangenheit ist. Diese neue zeitliche Dimension erlaubt es, Fragen zur genetischen Geschichte direkt anzugehen, und erweitert außerdem das Spektrum möglicher Fragen über die Gegenwart, indem sie ganz neue Vergleiche mit der Vergangenheit ermöglicht.
Wiedererweckung alter DNA Bereits Anfang der achtziger Jahre war bekannt, daß abgestorbenes Gewebe, etwa Haut, Knochen und mumifizierte Körper, Makromoleküle wie Proteine und DNA enthält. Einige Wissenschaftler hatten Proteine aus solchen Proben extrahiert, um Aminosäuresequenzen zu entschlüsseln und so Erkenntnisse über evolutionsbiologische Fragen zu gewinnen. Die Ergebnisse waren nicht besonders vielversprechend – nicht zuletzt weil die Proteine oft stark zerfallen waren. Ein alternativer Ansatz machte sich die Fähigkeit von Antikörpern zunutze, verschiedene Proteine, gleich ob fragmentiert oder nicht, zu erkennen. Dieser Ansatz erwies sich als erfolgreicher, gleichzeitig war er aber einen weiteren Schritt von der Information entfernt, die in den Genen selbst enthalten ist, wodurch die Detailliertheit der möglichen genetischen Vergleiche begrenzt war. Wenn sich dagegen die Gene extrahieren ließen, und sei es auch nur in fragmentiertem Zustand, so wäre es möglich, einen sehr viel größeren Pool genetischer Information anzuzapfen. Gemeinsam mit Russel Higuchi, mit dem er in Berkeley zusammenarbeitete, beschloß Wilson, zu versuchen, ob sich tatsächlich DNA aus bereits lange toten Organismen gewinnen ließ. Sie beschafften sich getrocknetes Muskelgewebe und Haut von einem Quagga (Equus quagga), das 1843 in einem Amsterdamer Zoo gestorben war und im Naturhistorischen Museum in Mainz aufbewahrt wurde. Dieses Exemplar war das letzte einer Art gewesen, die anatomischen Befunden zufolge als nahe mit den Zebras und weniger nahe mit dem Pferd verwandt galt. Wie ein Zebra trug das Quagga Streifen, jedoch nur auf der vorderen Körperhälfte. Mit Hilfe konventioneller Verfahren der damaligen Zeit gewannen Wilson und seine Mitarbeiter aus dem Quagga-Gewebe DNA, allerdings nur ein Hundertstel der Menge, die bei Extraktion aus frischem Gewebe zu erwarten gewesen wäre. Sie arbeiteten mit Mitochondrien-DNA, weil jede Zelle viele Kopien des Mitochondriengenoms liefert. Wiederum mit Hilfe konventioneller Verfahren wählte das Team aus Berkeley DNA-Abschnitte aus und klonierte sie, um ausreichend Material für die Sequenzanalyse zu gewinnen. Beim Klonieren wird das ausgewählte DNA-Fragment mit einem 201
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
anderen DNA-Molekül, einem sogenannten Carrier, verknüpft, das in der Lage ist, sich in Bakterien zu replizieren. Diese Methode funktioniert mit frischem Gewebe gut, ist aber sehr viel problematischer, wenn man die abgebaute DNA aus lange totem Gewebe verwendet. Die erste Beobachtung war, daß die Quagga-DNA wie erwartet in kurzen, meist etwa 100 und maximal 500 Basenpaare langen Bruchstücken vorlag. (Aus frischem Gewebe werden dagegen routinemäßig Ketten aus über 10 000 Basenpaaren extrahiert.) Die Wissenschaftler sequenzierten zwei kurze Abschnitte der DNA von Quagga und Bergzebra (Equus zebra), die jeweils etwa 115 Basenpaare enthielten, und verglichen sie miteinander. Zunächst zählten sie an den 229 Nucleotidpositionen, die sie vergleichen konnten, zwölf Unterschiede zwischen der DNA der beiden Arten. Später entdeckten sie, daß zwei der Unterschiede auf Abbauprozesse in dem alten Gewebe zurückzuführen waren. Die verbliebenen zehn Unterschiede deuten auf eine nahe Verwandtschaft zwischen Quagga und Bergzebra hin, wie sie auch die anatomischen Ähnlichkeiten vermuten lassen. In weiteren Experimenten verglichen die Wissenschaftler aus Berkeley diese Sequenzen mit entsprechender DNA des Steppenzebras (Equus burchelli) und des Hauspferdes (Equus caballus). Die Stammesgeschichte der Pferdefamilie von der Gattung Eohippus (Hyracotherium), die vor 50 Millionen Jahren lebte, bis zur modernen Gattung Equus ist schon seit längerem aufgeklärt und ein Paradebeispiel für die Ergebnisse paläontologischer Forschung. Es bestehen aber noch Unklarheiten hinsichtlich der Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Gattung Equus, insbesondere in bezug auf die taxonomische Einordnung des Quagga. In jüngerer Zeit waren drei Grundschemata vorgeschlagen worden, die auf dem Vergleich verschiedener anatomischer Merkmale beruhten. Das erste stellte das Quagga in die nahe Verwandtschaft des Hauspferdes, getrennt von Steppen- und Bergzebra. Dem zweiten zufolge war das Quagga näher mit dem Steppenzebra verwandt als mit dem Bergzebra. Und im dritten galt das Quagga überhaupt nicht als eigene Art, sondern bloß als eine extreme Variante des Steppenzebras. Die molekularbiologische Analyse von Wilson und seinen Mitarbeitern bestätigte das letztere Schema, weil sie praktisch keine Unterschiede in der DNA-Sequenz von Quagga und Steppenzebra ergab. Durch diese Entdeckung ermutigt, haben Beschäftigte des Vrolijkheid Breeeding Centre in der südafrikanischen Kapprovinz unlängst versucht, das Quagga wiederauferstehen zu lassen, indem sie selektiv Steppenzebras kreuzten, deren Hinterhand nur schwach gezeichnet war. Anfang der neunziger Jahre wurden Fohlen geboren, die mit ihrer kräftig dunkelbraunen Grundfarbe, ihrem gestreiften Vorderkörper und den nur schwach ausgebildeten Streifen auf der Hinterhand ausgestopften Exemplaren des Quagga verblüffend ähneln. Wohl kaum der Stoff für Science-fiction nach Crichtonschem Vor202
8. DNA AUS ALTER ZEIT
bild, wird das Quagga vielleicht dennoch eines Tages wieder durch die afrikanische Savanne ziehen – nicht zuletzt dank Methoden zur Gewinnung alter DNA. In ihrem im November 1984 in Nature erschienenen Aufsatz, der ihre anfängliche Arbeit über das Quagga beschreibt, erklärten Wilson und seine Mitarbeiter: »Der vorliegende Bericht scheint die erste Demonstration zu sein, daß sich aus den Überresten einer ausgestorbenen Art klonierbare DNA-Sequenzinformation gewinnen läßt.« Sie erwähnten außerdem, daß sie bereits DNA aus einem 40 000 Jahre alten, im sibirischen Permafrostboden konservierten Mammut extrahiert hatten, und spekulierten über die Möglichkeit, DNA aus in Bernstein eingeschlossenen Insekten, die viele Millionen Jahre alt sein können, zu gewinnen. Wilson und seine Kollegen schlössen ihren Aufsatz mit einem prophetischen Satz: »Wenn sich die langfristige Erhaltung von DNA als allgemeines Phänomen erweisen sollte, könnte davon eine ganze Reihe von Forschungsgebieten, darunter Paläontologie, Evolutionsbiologie, Archäologie und Gerichtsmedizin, profitieren.«
Von Mumien zum „Molekülangeln“ Während Wilson und seine Kollegen Gewebe des Quagga untersuchten, dachte ein anderer Wissenschaftler, Svante Pääbo, in ähnlichen Bahnen. Während der Arbeit an seiner Dissertation über Molekularvirologie an der Universität Uppsala erfuhr Pääbo, wie leicht sich DNA aus frischem Gewebe vieler Organismenarten extrahieren läßt, und fragte sich, ob dieselben Verfahren auch mit altem Gewebe funktionieren würden. Er interessierte sich speziell für menschliche Mumien und besorgte sich Proben aus der ägyptischen Sammlung seiner eigenen Universität sowie aus dem Berliner Pergamonmuseum, in dem es zahlreiche Mumien gibt. Tatsächlich gelang es ihm, aus diesem Material DNA zu isolieren – das erste Mal, daß jemand genetische Information aus menschlichen Körpern gewonnen hatte, die seit mehreren tausend Jahren tot waren. Wie die Gruppe aus Berkeley stellte jedoch auch er fest, daß die DNA extrem fragmentiert war und nur noch in Abschnitten von maximal 100 bis 200 Basenpaaren Länge vorlag. DNA-Fragmente dieser Länge zu klonieren, ist oft schwierig, nicht zuletzt weil die Moleküle häufig in einer Weise physikalisch und chemisch verändert sind, welche die Replikationsgenauigkeit beeinträchtigt. Überdies ist es nicht einfach, zu einer solchen kurzen Sequenz einen entsprechenden Abschnitt in einem der bekannten Gene zu finden, so wie es schwieriger ist, die Stelle in einem Buch zu entdecken, an der ein bestimmtes Satz203
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
8.3 Svante Pääbo gehört zu den Pionieren der Forschung an alter DNA. Bei seinem ersten Versuch auf diesem Gebiet verwendete er Gewebe ägyptischer Mumien; das Photo zeigt ihn mit dem Fuß einer solchen Mumie.
bruchstück vorkommt, als eine ganze Seite aufzufinden. Diese Probleme können Zweifel an der Herkunft der DNA aufkommen lassen. Beispielsweise mußte Pääbo, als er ein Stück DNA aus einer etwa 2000 Jahre alten Mumie isolierte und klonierte, sicher gehen, daß es sich wirklich um menschliche DNA handelte und nicht bloß um genetisches Material von Bakterien oder Pilzen, die in dem eingetrockneten menschlichen Gewebe wuchsen oder konserviert waren. Daß bei der Untersuchung alter DNA immer die Gefahr von Verunreinigungen besteht, war den Wissenschaftlern von Anfang an klar. Wie groß das Potential für solche Verunreinigungen ist, sollte aber später noch sehr viel deutlicher werden. Pääbo löste dieses Problem, indem er nach bestimmten kurzen, vielfach wiederholten Sequenzen, den sogenannten Alu-Sequenzen, suchte, die für menschliche Genome charakteristisch sind und in sehr großer Anzahl darin vorkommen. Sie zu finden und zu identifizieren würde relativ einfach sein. Ende 1984 war Pääbo sicher, DNA-Fragmente, darunter einige recht lange, aus verschiedenen, zwischen 2310 und 2550 Jahre alten Mumien isoliert zu haben. Er wußte nichts von der Arbeit in Berkeley und nahm an, er würde der erste sein, der eine Arbeit über alte DNA veröffentlichte. Mit 204
8. DNA AUS ALTER ZEIT
ihrer Publikation im November kamen ihm Wilson und seine Mitarbeiter jedoch zuvor. Die unwissentlichen Rivalen begannen aber schon bald zusammenzuarbeiten, und schließlich schloß Pääbo sich Wilsons Arbeitsgruppe an. Diese Verbindung der auf wissenschaftliches Neuland vordringenden Forscher erwies sich als äußerst produktiv. Schon bald war DNA von einer Handvoll ausgestorbener Arten isoliert, unter anderem vom südchilenischen Riesenfaultier und vom australischen Beutelwolf. Die technischen Probleme, die aus der Fragmentierung alter DNA resultierten, blieben allerdings nach wie vor bestehen. Das Klonieren von DNA gleicht in gewisser Hinsicht dem Angeln: Man wirft einen Haken aus – das DNA-Trägermolekül – und hofft, etwas Interessantes herauszufischen. Ob der Fang interessant ist, weiß man allerdings erst, nachdem die DNA in ausreichender Menge in einem Bakterium repliziert wurde. Wenn man mit frischem Gewebe arbeitet, ist es möglich, viele verschiedene DNA-Fragmente zu gewinnen und so viele verschiedene Klone zu produzieren. Bei altem Gewebe kann man dagegen von Glück sagen, wenn man wenigstens ein paar intakte Fragmente erhält. Das liegt vor allem daran, daß die bakteriellen Enzymsysteme, die DNA replizieren, mit kurzen Fragmenten schlecht funktionieren und oft fehlerhafte Kopien herstellen. Bei frischem Gewebe ist die Wahrscheinlichkeit hoch, bei mehreren aufeinanderfolgenden „Fischzügen“ die gleichen DNA-Fragmente zu erhalten. Das erlaubt es, die Analysen zu wiederholen, was für die experimentelle Wissenschaft von grundlegender Bedeutung ist. Dagegen macht die sehr geringe Effizienz der DNA-Klonierung aus altem Gewebe die mehrmalige Gewinnung derselben Sequenz praktisch unmöglich, ganz gleich wie oft man den Fischzug wiederholt. Mit den Methoden, die 1984 und Anfang 1985 zur Verfügung standen, ließen sich daher keine reproduzierbaren Ergebnisse erzielen. Pääbo beschrieb diese Situation später folgendermaßen: »Molekularbiologisch arbeitende Evolutionsbiologen, die auf eine Zeitreise erpicht waren, befanden sich in einer deprimierenden Situation. Weil sie nicht in der Lage waren, ihre Ergebnisse zu verifizieren, indem sie ein Experiment wiederholten, konnte sich die Erforschung alter DNA nicht als wirklich respektable Wissenschaft qualifizieren.« Noch pessimistischer war Alec Jeffreys von der University of Leicester in England. In einem Übersichtsartikel über den Erfolg von Wilson und seinen Mitarbeitern mit dem Quagga schrieb er: »Jegliche Hoffnung, die Molekularbiologie könne durch die Untersuchung fossiler DNA eine großartige Synthese mit den Evolutionswissenschaften eingehen, scheint immer noch nichts als ein schöner Traum zu sein.« Die Lage schien hoffnungslos zu sein, die Natur hielt ihre Geheimnisse in quälender Weise dem menschlichen Zugriff entzogen. Die DNA ist ein empfindliches Molekül, vor allem in dem ungünstigen Milieu, das gerade abgestorbenes Gewebe bietet. Beim Tod eines Lebewesens beginnt seine 205
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Zersetzung an zwei Fronten. Erstens im Körperinnern, und zwar durch die Wirkung der körpereigenen Abbauenzyme. Diese Enzyme, die viele Arten von Molekülen spalten können, sind normalerweise in Organellen oder anderen Zellstrukturen eingeschlossen und kommen daher niemals mit der DNA in Kontakt. Nach dem Tod beginnen diese Strukturen zu zerfallen, und die Enzyme werden in andere Bereiche der Zelle einschließlich des Zellkerns freigesetzt. An der zweiten Front, nämlich von außen, greifen Bakterien und Pilze an, die in der Umwelt allgegenwärtig sind. Die Proteine, die für die DNA in der lebenden Zelle Stütz- und Schutzfunktion haben, werden bald von diesen Mikroorganismen zersetzt. Die der schützenden Proteine beraubte DNA ist nicht nur dem enzymatischen Abbau ausgesetzt, sondern auch durch die Einwirkung von Wasser und Sauerstoff von Zerstörung bedroht. Langfristig zerfallen DNA-Ketten auch unter dem Einfluß der natürlichen Hintergrundstrahlung, was jedoch in den meisten Fällen nicht zum Tragen kommt, weil der Abbau so bald nach dem Zelltod einsetzt. Pääbo formulierte es folgendermaßen: »Die durchschnittliche Länge alter Moleküle [ist] immer gleich (etwa 100 Basenpaare), ob sie nun aus einem vor 13 000 Jahren in Südchile verendeten Riesenfaultier [stammen] oder aus erst vier Jahre altem getrocknetem Schweinefleisch.« Tatsächlich ist der Abbauprozeß in nur vier Tage (ja sogar vier Stunden) altem Schweinefleisch bereits weit fortgeschritten. Diese unverrückbare Tatsache schien die genetische Vergangenheit dem wissenschaftlichen Zugriff zu entziehen.
Erfolg und potentielle Fallstricke Dann beschrieb Kary Mullis, der damals bei der Cetus Corporation arbeitete, im Jahre 1985 die von ihm entwickelte Polymerasekettenreaktion (PCR), ein äußerst empfindliches und effektives Verfahren zur Vervielfältigung von DNA-Fragmenten. In Kapitel 6 haben wir bereits gesehen, wie die PCR molekulargenetische Untersuchungen in der Evolutionsbiologie, Naturgeschichte und Anthropologie enorm vereinfacht hat: Was zuvor möglich, aber schwierig war, ließ sich nun viel leichter erreichen. Für die Anerkennung der Erforschung alter DNA als Wissenschaft war die Erfindung der PCR oder eines ähnlich effektiven Verfahrens von fundamentaler Bedeutung. Die Tatsache, daß verschiedene natürliche Mechanismen zusammenwirken, um DNA-Ketten bald nach dem Tod zu zersetzen, stellte kein unüberwindliches Hindernis für den Fortschritt mehr dar. Es war nun möglich, ausgewählte DNA-Abschnitte aus der enormen Menge abgebauter und beschädigter Moleküle zu isolieren. Der Einfluß der PCR ist ein wunderbares Beispiel dafür, daß der wissenschaftliche Fortschritt ebensosehr durch neue Verfahren wie durch neue Theorien vorangetrieben werden kann. 206
8. DNA AUS ALTER ZEIT
8.4 Kary Mullis entwickelte die Polymerasekettenreaktion, mit deren Hilfe sich winzige DNA-Proben stark vervielfältigen lassen, so daß man analysierbare Mengen erhält. Ohne PCR oder ein ähnliches Verfahren wäre die Forschung an alter DNA unmöglich.
Wilson stand in enger Verbindung mit Mullis, und so war seine Gruppe, der sich inzwischen Pääbo angeschlossen hatte, die erste, die alte DNA mit Hilfe der PCR untersuchte. Zu den ersten Arbeiten zählte die Überprüfung der Daten über die Quagga-DNA, und dabei entdeckten sie die beiden Fehler, die beim Vergleich mit der DNA des Bergzebras aufgetreten waren. Als nächstes versuchte die Gruppe aus Berkeley, DNA aus sehr viel älterem Gewebe zu gewinnen, nämlich aus dem Gehirn einer 7000 Jahre alten Leiche aus einer Solquelle in Florida. Nach mehreren Fehlschlägen gelang die Isolation von Mitochondrien-DNA-Abschnitten, und zwar eines Typs, der bei den heutigen Indianern nicht vorkommt. Dies war der Beginn der im vorigen Kapitel beschriebenen Bemühungen, die Frage nach der Besiedelung Amerikas auf die genetische Vergangenheit auszuweiten. Um das Jahr 1990 herum untersuchten bereits ein Dutzend Labors in den USA und Europa voller Enthusiasmus altes Gewebe ganz verschiedener Organismen mit Hilfe der PCR. Manche dieser Lebewesen waren erst seit einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten tot, andere seit mehreren zehntausend oder sogar Millionen Jahren. Mitten in dieser Entwicklung erzielte ein Team von der University of Oxford einen wichtigen Fortschritt. Zunächst hatte man angenommen, die Aussichten, DNA aus Knochen gewinnen zu können, seien minimal, und sich daher wie beschrieben auf Weichteile konzentriert. Ende 1987 begannen Erika Hagelberg und ihre Mitarbeiter nach neuen Methoden der DNA-Extraktion zu suchen, mit denen sich, so hofften sie, die Schwierigkeiten, die sich aus dem mineralischen Milieu der Knochen ergaben, umgehen ließen. Innerhalb eines Jahres hatten sie Erfolg, doch verstrich ein weiteres Jahr, bis sie sicher sein 207
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konnten, daß die von ihnen isolierte DNA tatsächlich aus den untersuchten Knochen stammte. Der 1989 veröffentlichte Bericht über diese Bestätigung war ein Meilenstein in der Erforschung alter DNA, denn nun war es unter anderem möglich, die genetische Untersuchung menschlicher Populationen weit in die Vergangenheit hinein auszudehnen. Was, wenn man zum Beispiel DNA aus Neandertalerknochen extrahieren könnte? Damit würde man überaus wichtige – vielleicht entscheidende – Daten über den Ursprung des modernen Menschen gewinnen. Tatsächlich gelang Pääbo und seinen Mitarbeitern als ersten die Extraktion von (Mitochondrien-)DNA aus Neandertalerknochen. 1997 konnten sie durch Sequenzvergleiche mit menschlicher Mitochondrien-DNA sowie durch phylogenetische Analysen zeigen, daß die Sequenz der Neandertaler-DNA aus der Variation der MitochondrienDNA des modernen Menschen herausfällt. Zudem wurde das Alter des gemeinsamen Vorläufers von Neandertaler- und moderner menschlicher Mitochondrien-DNA als viermal so hoch wie das Alter des gemeinsamen Vorläufers der Mitochondrien-DNA der modernen Menschen bestimmt. Dies spricht für die Annahme, daß die Neandertaler einen ausgestorbenen Seitenast der menschlichen Vorgeschichte (eine eigene Art) darstellen und keine Population in einer fortlaufenden Abstammungslinie waren. Der Erfolg der Gruppe von Hagelberg wurde bald durch neue Fragen in Zweifel gezogen, vor allem durch die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Verunreinigungen. Weil es sich bei dem untersuchten Objekt um einen seit 5000 Jahren toten Menschen (aus einer Grabungsstätte in Oxfordshire) handelte, mußten die Wissenschaftler nicht nur sicher gehen, daß die von ihnen isolierte DNA menschlicher Herkunft war, sondern auch, daß sie von dem Skelett und nicht etwa von ihnen selbst stammte. Anthropologische Fundstücke kommen bei der wissenschaftlichen Untersuchung vielfach mit lebenden Menschen in Kontakt, daher ist die Gefahr einer Kontamination mit heutiger menschlicher DNA groß. Nur ein paar Zellen, die von der Haut abschilfern oder mit dem beim Niesen produzierten Tröpfchennebel transportiert werden, reichen aus, um die PCR mit Material für ihren hocheffektiven Vervielfältigungsprozeß zu versorgen. Bei einer internationalen Tagung über die Erforschung alter DNA erzählte Bryan Sykes, ein Mitglied der Oxforder Arbeitsgruppe, kürzlich eine warnende Geschichte. Sein Labor hatte einige Monate mit dem Versuch zugebracht, DNA aus Mammutknochen zu extrahieren, was schließlich auch gelang. Am Ende stellte sich jedoch heraus, daß das, was man isoliert hatte, keine genetische Information aus der Eiszeit war, sondern DNA von einem der technischen Angestellten des Labors. Um die Zuverlässigkeit ihrer Methode zu testen, beschlossen Hagelberg und ihre Mitarbeiter, DNA aus einem Schweineknochen zu extrahieren, der vom Wrack der Mary Rose stammte, dem Flaggschiff von Heinrich 208
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VIII., das im Jahre 1545 im Ärmelkanal unterging. So wurde ein Leckerbissen von einer Renaissancetafel zum Testfall für eine wichtige Entwicklung in der Erforschung alter DNA. Der Nachweis wurde erbracht, daß die aus dem Knochen extrahierte DNA vom Schwein und nicht vom Menschen stammte. Dieser 1991 erzielte Erfolg veranlaßte den Schlagzeilentexter einer englischen Zeitung, den Bericht über das Ereignis mit der folgenden scherzhaften Überschrift zu versehen: »Pig brings home the bacon of DNA«. Damit stand der Molekularanthropologie der Weg offen, sich mit Knochen zu beschäftigen, die Tausende, wenn nicht sogar Zehntausende von Jahren alt sind.
Museen als Goldgruben für alte DNA Für andere in der Erforschung alter DNA tätige Wissenschaftler waren die Ambitionen, welche die Anthropologen hinsichtlich des Alters der von ihnen untersuchten DNA hatten, äußerst bescheiden. Eine Zeitlang gab es
8.5 Eine Parade von Lebewesen aus vergangener Zeit, aus denen DNA extrahiert worden sein soll. Die Zahlen geben das Alter des jeweiligen Materials in Jahren an.
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unter ihnen einen regelrechten Wettbewerb um die Entdeckung der ältesten DNA. Den Anstoß gaben Edward Goldenberg und Michael Clegg von der University of California in Riverside, als sie 1990 berichteten, DNA aus einem 17 Millionen Jahre alten Magnolienblatt isoliert zu haben, welches in einer Tonschicht eines alten Sees in Clarkia im US-Bundesstaat Idaho eingelagert gewesen war. Die Erhaltungsbedingungen an diesem Fundort müssen außergewöhnlich gut gewesen sein, denn einige der Blätter waren immer noch grün, was auf die Erhaltung von Chlorophyll und demnach wahrscheinlich auch anderer Makromoleküle einschließlich DNA hindeutete. Der Bericht über die Gewinnung von DNA, darunter bis zu 800 Basenpaare lange Sequenzen, rief gemischte Reaktionen hervor. Einigen Wissenschaftlern gelang es, dieses Ergebnis zu reproduzieren, wodurch die Behauptung glaubwürdiger wurde; anderen, darunter Wilson und Pääbo, gelang es nicht, was zur Vorsicht mahnte. Wie wir noch sehen werden, scheint diese Vorsicht berechtigt gewesen zu sein. Schon bald waren die 17 Millionen Jahre allerdings nicht mehr besonders eindrucksvoll: Ende 1992 wurde die Isolierung 25 Millionen Jahre alter DNA aus einer Termite bekanntgegeben, ebenfalls noch 1992 die von 25 bis 40 Millionen Jahre alter DNA aus einer Biene und schließlich, im Juni 1993, die von 130 Millionen Jahre alter DNA aus einem Rüsselkäfer. Jedes dieser Tiere war bei seinem Tod von Bernsteinharz eingeschlossen
8.6 Eine in 25 Millionen Jahre altem dominikanischem Bernstein eingeschlossene Termite der Art Mastotermes electrodominicus. Eine solche Termite war das erste in Bernstein konservierte Insekt, dem DNA entnommen wurde.
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worden und auf diese Weise offenbar außerordentlich gut erhalten geblieben (siehe Exkurs 8.1 auf Seite 212). Die beteiligten Wissenschaftler arbeiteten am American Museum for Natural History in New York sowie an der University of California in Berkeley. Der von Goldenberg gegründete „Million-plus-Club“ gewann schnell neue Mitglieder. Bei diesen spektakulären Bekanntmachungen ging es nicht nur darum, wer für sich beanspruchen konnte, die älteste DNA isoliert zu haben. Biologen, die Zugang zur DNA dieser Organismen haben, könnten bestimmte Fragen zur Phylogenese effektiver angehen. Beispielsweise ähnelt die DNA, die das New Yorker Team aus der fossilen Termite extrahiert hat, DNA-Sequenzen einer heutigen australischen Termite, die bisher als evolutionäres Bindeglied zwischen Schaben und Termiten gilt. In Anbetracht dessen, daß zwangsläufig immer nur DNA eines einzigen Individuums zur Verfügung steht, beruht die Untersuchung der genetischen Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb heutiger Organismengruppen sowie die Aufklärung der stammesgeschichtlichen Beziehungen zwischen diesen Gruppen allerdings auf nicht sehr beweiskräftigem Datenmaterial, insbesondere angesichts der langen Zeiträume, um die es geht. Die Isolierung extrem alter DNA stieß in der Öffentlichkeit natürlich auf großes Interesse – nicht zuletzt weil damit ein echter Jurassic Park in den Bereich des Möglichen zu rücken schien. Außerdem führte sie zu einem lebhaften Gedankenaustausch zwischen den mit der Erforschung alter DNA beschäftigten Wissenschaftlern selbst, und zwar vor allem über zwei Punkte: über den Wert von Museumssammlungen und die Frage, wie man sie am besten nutzen könne, sowie über die Gefahr der Verunreinigung alter Proben mit heutiger DNA. Natürlich war keiner dieser Punkte neu, aber der hohe Aufmerksamkeitswert der Arbeiten mit in Bernstein eingeschlossenen Insekten ließ sie stärker hervortreten. Seit mehreren Jahrhunderten sammeln Feldbiologen mit großem Fleiß Exemplare aller möglichen Spezies, von Schmetterlingen bis hin zu Büffeln, von Beeren und Käfern bis hin zu Seepocken und Vögeln. Die Magazine der naturhistorischen Museen sind randvoll mit den Früchten dieser Arbeit. Auf der Grundlage solcher Sammlungen wurden neue Arten benannt und Vergleiche zwischen bekannten Spezies angestellt. Sie waren nicht nur Denkmäler für Forschungsreisende sowie für die geduldigen Katalogisierer unter den Naturhistorikern, sondern bildeten auch lange das Fundament der traditionellen Biologie, sowohl in der Systematik als auch in der Phylogenetik. Sie waren der Stolz der Institutionen, die sie beherbergten. Doch mit dem Aufkommen der Molekularbiologie verloren diese Sammlungen nicht nur an Ansehen, sondern wurden auch zum Symbol einer vergangenen Ära geistiger Anstrengungen. Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahrzehnten mehrere große Sammlungen aufgelöst, um Platz für die Gerätschaften und Objekte der modernen Biologie zu schaffen. 211
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Exkurs 8.1: Stilleben in Bernstein Der älteste Bernstein, der organismische Einschlüsse – von Pilzen, Pollenkörnern und Koniferenblüten – aufweist, stammt aus Südschottland und entstand vor etwa 300 Millionen Jahren während des Carbon. Bernsteinstücke mit Lebewesen, die vor mehr als 130 Millionen Jahren eingeschlossen wurden, sind jedoch selten; dieser Umstand könnte allerdings darauf zurückzuführen sein, daß bisher erst wenig Material dieses Alters untersucht wurde. Noch vor gar nicht langer Zeit galten Organismen, die in Bernstein eingeschlossen sind, vielen Biologen als bloße Kuriositäten – ungewöhnliche, durch eine Laune der Natur geschaffene Objekte von geringem wissenschaftlichem Wert. Seit langem tote, in spröden honigfarbenen Särgen schwebende Organismen wurden als Schatten, als hohle Geister vergangenen Lebens angesehen. Dann, im März 1982, veröffentlichten George Poinar und Roberta Hess von der University of California in Berkeley elektronenmikroskopische Aufnahmen von Schnitten durch eine in 40 Millionen Jahre altem Bernstein eingeschlossene weibliche Pilzmücke, auf denen die innere Struktur von Muskel- und anderen Zellen im Detail zu erkennen war. Bernstein, der durch langsame Umwandlung zähflüssigen Baumharzes in einen spröden Feststoff entsteht, ist eine Art Zeitkapsel, in der vor langem gestorbene Lebewesen fast intakt bis heute konserviert wurden. DNA, wenngleich in fragmentierter Form, blieb ebenfalls erhalten. Die Entdeckung von Poinar und Hess warf eine naheliegende Frage auf: Welche chemischen Bestandteile des Bernsteinharzes bewirken eine derart gute Konservierung? Harze werden seit langem kommerziell genutzt, etwa als Konservierungsmittel, bei der Weinherstellung, als lokale Antibiotika sowie zur Imprägnierung. In Anbetracht dieser breitgefächerten Verwendung in der älteren und jüngeren Geschichte nahm Poinar an, die Bestandteile des Bernsteinharzes seien längst von Chemikern analysiert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Gerechtigkeit halber muß allerdings gesagt werden, daß es sich dabei nicht ausschließlich um ein Versäumnis der Chemie handelt, sondern daß auch technische Schwierigkeiten eine Rolle spielen. Harze sind sehr kompliziert zusammengesetzte chemische Cocktails. Als Bernstein bezeichnet man alle fossilen Harze; die wichtigsten Lieferanten dieser Substanz waren Nadelhölzer, insbe-
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sondere die Bernsteinkiefer (Pinus succinifera) aus dem Tertiär. Harze bestehen unter anderem aus einer Vielzahl organischer Verbindungen (Zuckern, Alkoholen, Estern und einer Mischung von Terpenen). Die verschiedenen Baumarten produzieren unterschiedliche Varianten dieses Grundmusters, und selbst ein und derselbe Baum kann den Cocktail gelegentlich abwandeln. Die Frage ist, welche dieser Substanzen für die Entwässerung und Gewebefixierung organismischer Einschlüsse sowie für den Ausschluß von Bakterien verantwortlich sind – drei Prozesse, von denen jeder die Konservierung fördern kann. Die Alkohole und Zucker im Harz bewirken möglicherweise den Entzug von Wasser aus dem Gewebe und damit die Dehydration, die für die Konservierung unerläßlich ist. Manche Oxidationsprodukte könnten Aldehyde bilden, die unter Umständen wie Glutaraldehyd wirken – das Fixierungsmittel, das Biologen im Labor verwenden. Ein großer Teil der konservierenden Wirkung des Harzes beruht aber vielleicht einfach darauf, daß es Sauerstoff und zersetzende Organismen wie etwa Bakterien ausschließt. Auf welche Weise auch immer die Konservierung erfolgt, es liegt auf der Hand, daß der Prozeß schnell einsetzen muß. Sobald ein Lebewesen stirbt, beginnt der Abbau seines Gewebes, und zwar auf zwei Fronten: zuerst im Inneren durch gewebeeigene Enzyme und dann von außen durch Bakterien und Pilze, die in der Umwelt allgegenwärtig sind. Ebenso geheimnisvoll wie die konservierenden Eigenschaften des Harzes ist der Prozeß, durch den es sich in Bernstein verwandelt. Das klebrige, duftende Harz wird schnell zu einem relativ harten Feststoff, den man als Kopal bezeichnet. Nach vielleicht vier bis fünf Millionen Jahren ist die Substanz zu einem amorphen, geruchlosen, glasartigen Material geworden – echtem Bernstein. Die entscheidende chemische Reaktion bei dieser Umwandlung ist die Polymerisation, durch die kurze Terpene zu langen Ketten verknüpft werden, welche dem Bernstein seine Festigkeit verleihen. Die meisten synthetischen Polymere entstehen durch Verknüpfung zahlreicher einfacher, identischer Untereinheiten (Monomere) zu langen Ketten (Polymeren). In Bernstein dagegen liegt ein Gemisch verschiedener, keineswegs einfach aufgebauter Monomere vor. Das gebildete Polymer ist daher extrem komplex. Welche physikali-
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schen Bedingungen für diesen Polymerisationsprozeß des Bernsteins notwendig sind oder ihn vielleicht fördern, ist unbekannt. Ungeachtet dieser ungelösten Fragen besteht die Tatsache, daß Bernstein zarte und zerbrechliche Lebewesen und auch Interaktionen zwischen ihnen konserviert. Der Prozeß der Versteinerung kann dies nicht leisten. Ein Beispiel ist der älteste bekannte Blätterpilz, Cophnites dominicana, der in 35 bis 40 Millionen Jahre altem dominikanischem Bernstein eingeschlossen ist. Ebenfalls in dominikanischem Bernstein fand man einen Bambussamen, der eine kleine Geschichte erzählt. Die Spitze des Samens ist mit Häkchen versehen, und in einem dieser Häkchen hatten sich einige Säugetierhaare verfangen, die sich bei einer genaueren Untersuchung als Raubtierhaare entpuppten. »Vielleicht streifte eine Katze, die vor langer Zeit durch einen Wald strich, einen Bambushalm und nahm dabei ein paar Samen als blinde Passagiere mit«, schreibt Poinar. »Später scheuerte sich die große Katze wahrscheinlich an einem Baum, um die Samen abzustreifen, und einer davon fiel in einen frischen Harzklumpen.« Der Konservierungsprozeß übernahm den Rest, der nötig war, um Samen und Haar 25 Millionen Jahre später der Wissenschaft zugänglich zu machen. Zwangsläufig handelt es sich bei den meisten Organismen, die in Bernstein eingeschlossen sind, um Insekten. Doch auch Bakterien, Pilze und Pflanzenteile sind häufig. Weil die Harzklumpen relativ klein sind, sind Wirbeltiere selten: Bis Anfang 1996 hatte man nur Frösche und Echsen gefunden; die Existenz von Säugern und Vögeln in den Ökosystemen der Vergangenheit wird durch Haare (wie eben erwähnt) und Federn angezeigt. Das erste Exemplar eines Säugetieres, eines winzigen spitzmausähnlichen Wesens in 18 bis 20 Millionen Jahre altem dominikanischem Bernstein, entdeckten Mitarbeiter des American Museum of Natural History in New York. Doch selbst ohne den direkten Beweis durch Fossilien wäre die Existenz von Wirbeltieren durch die bemerkenswerte Anzahl erhaltener Wirbeltierparasiten belegt, darunter Flöhe, Zecken, Stechmücken, Gnitzen, Bremsen und Stechfliegen. Infolge des hervorragenden Erhaltungszustands in Bernstein eingeschlossener Organismen ist es möglich, winzigste Details
ihrer Anatomie mit der Anatomie ausgestorbener wie rezenter Arten zu vergleichen und so ganz neue Erkenntnisse über mikroevolutionäre Veränderungen zu gewinnen. Überdies kann Bernsteinharz – vergleichbar der Asche des Vesuv, als sie Pompeji verschüttete – Lebewesen mitten in ihren Aktivitäten „einfrieren“, nämlich in dem Moment, in dem die zähflüssige Substanz sie bewegungsunfähig macht. So gibt es ein goldfarbenes Stück baltischen Bernstein, in dem ein Fliegenpaar während der Kopulation vor 40 Millionen Jahren zu sehen ist, und einen libanesischen Bernstein, in dem eine Stechfliege von einer Milbe gebissen wird – das älteste bekannte Beispiel für Ektoparasitismus. Das älteste Beispiel für Endoparasitismus ist ein deutlich sichtbarer Nematode im Hinterleib einer Mücke, konserviert in 135 Millionen Jahre altem libanesischem Bernstein. Noch dramatischer ist der Fall einer ähnlich parasitierten Mücke in dominikanischem Bernstein, aus deren Körper der Nematode sich wie eine Schlange herauswindet. Eine weibliche Taufliege in dominikanischem Bernstein wurde von einer anderen Nematodenart parasitiert; in ihrem Körper sind 120 Jugendstadien des Parasiten erkennbar, von denen einige sich bereits aus dem Wirt befreien. Eine andere Verhaltensweise, die in Bernstein eingefroren erhalten ist, aber nur selten in anderen Formen der Fossilisation, wird als Kommensalismus bezeichnet. Meist trägt dabei ein Lebewesen passiv ein anderes: Der Passagier profitiert davon, aber der Wirt erleidet keinen Schaden. Beispielsweise gibt es zahlreiche Bernsteinstücke, in denen Pseudoskorpione sich immer noch an verschiedenen Wirten festklammern, etwa an Käfern, Wespen und Fliegen. Wie der Parasitismus wäre auch der Kommensalismus in fossilen Zeugnissen praktisch unsichtbar, wenn es keinen Bernstein gäbe. »Die Größe der Organismen, die Bernstein konserviert, mag begrenzt sein«, räumt Poinar ein, »aber seine Fähigkeit, Verhaltensweisen einzufrieren, erlaubt es, eine wichtige Verbindung zwischen heutigen und früheren Lebensformen herzustellen.«
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Paradoxerweise haben die Museumssammlungen nun durch eben die Disziplin, die einst drohte, sie in Vergessenheit geraten zu lassen, ihren Wert wiedererlangt und sogar vervielfacht. Die Erforschung alter DNA hat die Stöße von Fellen und Schubladen voller aufgespießter Insekten und gepreßter Pflanzen in etwas verwandelt, das sehr viel wertvoller ist als bloße Quellen anatomischer Information. Man hat dieses Material inzwischen als unbezahlbare Reserve der genetischen Geschichte erkannt – als Flöze, die darauf warten, in einer Art „Genrausch“ ausgebeutet zu werden. Wäre die Anstrengung der Sammler früherer Zeiten – die deren damaligen Zielen diente – geringer ausgefallen, so wäre diese genetische Geschichte verlorengegangen. Zwar kann man auch heute noch in Bernstein eingeschlossene Insekten finden und fossile Knochen sammeln, aber es ist nicht mehr möglich, Exemplare aus Populationen zu entnehmen, die vor 100 Jahren existierten und inzwischen verschwunden sind. Eine wichtige Frage, die durch die Arbeit an in Bernstein eingeschlossenen Insekten besonders deutlich hervortritt, ist, wie Museumssammlungen in Zukunft genutzt werden sollten, denn schließlich bedeutet ihr neuentdeckter Wert auch ein neues Risiko. Museumskustoden sind von Natur aus wie auch von Berufs wegen konservativ. Es ist ihr Beruf, Museumsstücke zu erhalten. Durch die Entnahme von Material für die DNA-Extraktion werden die Präparate zwangsläufig zerstört oder zumindest beschädigt. Molekularbiologen sind vielleicht von Natur aus wie von Berufs wegen ein wenig anmaßend. Es hat bereits Beschwerden darüber gegeben, daß solche Wissenschaftler glauben, sie hätten ein Recht auf Zugang zu Museumspräparaten, und sich einfach nehmen, was sie wollen, ohne Rücksicht darauf, welchen Wert das jeweilige Stück im Kontext der Sammlung oder auch für sich genommen besitzt – ein in diesem Entwicklungsstadium des Fachgebiets vielleicht unvermeidbares Verhalten. Eine gewisse Reifung ist jedoch bereits erkennbar. Molekularbiologen und Museumsbiologen beginnen zusammenzuarbeiten, und dabei überqueren und erweichen sie oft die Grenzen ihrer zuvor eigenständigen, sich nun vermischenden Disziplinen, genau wie es in anderen Gebieten geschieht, in denen die molekulare Evolution erforscht wird. Ein Jahrzehnt ist eine kurze Zeitspanne im Leben einer Wissenschaft, die mit Sicherheit eine lange Zukunft hat, und so darf man annehmen, daß dieser Trend sich fortsetzen wird. Es gibt bereits ein größeres Einvernehmen darüber, aufweiche Weise man die Museumsstücke auswählen sollte, denen man Proben entnehmen kann, und wer ein Anrecht auf die genetischen Daten und die vervielfältigte DNA hat, die bei Forschungsprojekten produziert werden. Und vor allem hat man erkannt, daß man relevante biologische Fragen stellen muß, so daß seltenen Museumsstücken nicht einfach aufgrund ihrer Seltenheit Proben entnommen werden, sondern nur im Zuge von Untersuchungen, in denen es um umfassendere populations- oder evolutionsbiolo214
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gische Fragen geht. Mit anderen Worten, unersetzliches Material sollte sorgfältig für wichtige Projekte rationiert werden. Der zweite Punkt, der durch die Forschungsberichte über Insekten in Bernstein verstärkt ins Bewußtsein rückte, ist die Möglichkeit von Verunreinigungen durch den Einsatz der Polymerasekettenreaktion. Den Wissenschaftlern, die sich mit alter DNA beschäftigen, war diese Fehlerquelle schon eine Weile bewußt. Doch Anfang 1993 wurden sie gezwungen, sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen. Damals veröffentlichte der britische
8.7 Die Extraktion von Gewebe aus in Bernstein eingeschlossenen Insekten ist eine heikle Angelegenheit und wird in der Regel unter dem Mikroskop mit feinen Nadeln und Injektionsspritzen durchgeführt.
8.8 Die Untersuchung von Proben alter DNA unter dem UV-Transilluminator. Mit diesem Gerät läßt sich DNA, die für das bloße Auge unsichtbar ist, sichtbar machen.
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Chemiker Tomas Lindahl einen Aufsatz in Nature, in dem er letztlich behauptete, daß DNA, die aus Millionen Jahre alten Organismen isoliert wurde, eine Verunreinigung sein muß, weil DNA einfach nicht so lange erhalten bleibt. Lindahl hatte für seine kühne Behauptung schlagkräftige Argumente. Intensiver als irgend jemand sonst hat er erforscht, welches Schicksal DNAMoleküle im Laufe der Zeit erleiden. In den siebziger Jahren führte er mit peinlicher Genauigkeit Versuche zum Abbau „nackter“ – das heißt nicht von Proteinen geschützter –, in Wasser gelöster DNA durch. Der Abbau verlief schnell und war unvermeidlich, was Lindahls Skepsis gegenüber der Behauptung, es gebe extrem alte DNA, erklärt. »Es läßt sich vorhersagen, daß ... vollständig hydratisierte DNA bei gemäßigten Temperaturen im Laufe einiger Jahrtausende spontan zu kurzen Fragmenten abgebaut wird«, schrieb er in der oben erwähnten Publikation. Unter günstigsten Bedingungen, so fuhr er fort, »könnte es möglich sein, brauchbare DNASequenzen mit einem Alter von einigen zehntausend Jahren zu isolieren.« Die Wahrscheinlichkeit einer längeren Erhaltung von DNA hielt er für verschwindend gering. Indem er die Wissenschaftler, die sich mit alter DNA beschäftigten, dazu brachte, ihre Annahmen und Versuchsbedingungen genauer zu überprüfen, sorgte Lindahls äußerst kritischer Aufsatz für eine positive Entwicklung innerhalb dieser Disziplin. Beispielsweise vermeiden Forscher, die beabsichtigen, mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion DNA aus einem in Bernstein eingeschlossenen Insekt zu gewinnen, sorgsam jeden Kontakt zu Personen, die mit lebenden Insekten arbeiten, damit nicht Verunreinigungen durch heutige DNA irrtümlich für alte DNA gehalten werden. In Reaktionen auf Lindahls Aufsatz wurde außerdem betont, wie wenig man darüber weiß, wovon das Schicksal von DNA in totem Gewebe abhängt. In der Tat, so führten viele Wissenschaftler aus, sind die Bedingungen, denen DNA unter natürlichen Umständen ausgesetzt ist, völlig verschieden von denen, die in einem wassergefüllten Reagenzglas herrschen. Ob diese Bedingungen den Abbau jedoch eher hemmen als beschleunigen, konnte niemand aufgrund theoretischer Überlegungen sagen. In manchen Situationen scheint DNA tatsächlich Zehntausende von Jahren und vielleicht sogar mehrere zehn Millionen Jahre erhalten zu bleiben, aber sie tut das gegen alle Wahrscheinlichkeit – zumindest würde ein Nucleinsäurechemiker es so sehen. Die Mechanismen, auf denen die Erhaltung beruht, bleiben eine chemische Black box. William Hauswirth, ein Biologe am College of Medicine der University of Florida, sagte dazu kürzlich: »Nach zehn Jahren Erfahrung weltweit scheint es keine allgemeingültigen Anhaltspunkte dafür zu geben, welcher Gewebetyp oder welche Art von Erhaltungsbedingungen alte DNA höchster Qualität liefern könnte.« 216
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So wie sich zwischen Museumskustoden und Molekularbiologen ein harmonisches Verhältnis entwickelt hat, ist auch zwischen Chemikern und Wissenschaftlern, die alte DNA erforschen, ein Geist der Zusammenarbeit entstanden. Beide wollen herausfinden, warum DNA länger erhalten bleibt, als sie eigentlich „dürfte“ – das heißt, aufgrund welcher chemischen Vorgänge es überhaupt möglich ist, alte DNA zu untersuchen.
Die Analyse alter DNA in der praktischen Anwendung: Ratten, Kaninchen und Rotwölfe In diesem letzten Abschnitt werden einige Beispiele für die Untersuchung alter DNA zur Klärung konkreter wissenschaftlicher Fragen vorgestellt. Sie sind lediglich repräsentativ für das breite Spektrum der derzeitigen Forschung, geben es aber nicht umfassend wieder. Berührt werden Aspekte der Phylogenetik, der Anthropologie sowie der Populationsbiologie. Am Ende des Abschnitts kommen wir noch einmal auf das Hirngespinst der Gewinnung von Dinosaurier-DNA zurück. Die erste Untersuchung alter DNA im Zuge einer Populationsstudie nahmen Svante Pääbo, Kelly Thomas und Francis Villabianca im Jahre 1990 an Känguruhratten vor. In verschiedenen Museen wurden Anfang dieses Jahrhunderts Felle dieser in der Mojavewüste im Südwesten der USA verbreiteten Tiere gesammelt. Die Arbeitsgruppe aus Berkeley extrahierte und sequenzierte Mitochondrien-DNA-Fragmente aus 48 Bälgen, die aus drei Populationen stammten. Sodann fing sie lebende Individuen aus exakt denselben drei Regionen der Mojavewüste und extrahierte die entsprechenden DNA-Fragmente. Der Vergleich der heutigen und der alten DNA aus den drei Gebieten ergab, daß die Populationen vor 60 bis 80 Jahren den heutigen Populationen sowohl hinsichtlich der vorhandenen DNATypen als auch in der Variabilität sehr ähnlich waren. Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, daß die Populationen stabil waren und daß kaum ein Austausch zwischen den Regionen stattgefunden hatte. So unspektakulär dies auch erscheinen mag – es war ein Meilenstein in der Entwicklung der Erforschung alter DNA, denn es zeigte, wie sich Erkenntnisse über Populationen gewinnen lassen. Der Mensch nimmt seit Jahrtausenden unbeabsichtigt wie auch gezielt Einfluß auf die Verbreitung von Tierarten. Ein hervorragendes Beispiel ist das europäische Kaninchen. Diese Art (Oryctolagus cuniculus) stammt ursprünglich von der iberischen Halbinsel und hat sich seither, überwiegend mit Hilfe des Menschen, über einen Großteil der Erde ausgebreitet. Um Erkenntnisse über diese Populationsbewegungen zu gewinnen, hat eine 217
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Arbeitsgruppe des Centre Genetique Moleculaire in Gif-sur-Yvette, Paris, Mitochondrien-DNA-Muster heutiger und historischer Kaninchenpopulationen analysiert. In der Ursprungsregion des Kaninchens ist die morphologische und genetische Diversität beträchtlich. Es gibt zwei Hauptlinien der MitochondrienDNA: Typ A in Südspanien und Typ B in Nordspanien und Südfrankreich. Die französische Arbeitsgruppe fand an archäologischen Grabungsstätten auf der tunesischen Insel Zembra Belege für die Einführung des Kaninchens in römischer Zeit. Obwohl die heutigen Kaninchen auf Zembra morphologisch denen aus Südspanien ähneln, entspricht ihr Mitochondrientyp dem der nördlichen Populationen. Das gleiche gilt für DNA, die aus Kaninchenknochen der Grabungsstätten auf Zembra isoliert wurde. Außerdem deutet das Ausmaß der genetischen Variation in der heutigen Population darauf hin, daß die Kaninchen von Zembra von wenigen vor etwa 1400 Jahren eingeführten Exemplaren abstammen. Die Untersuchung alter DNA beginnt auch im Zusammenhang mit Artenschutzbemühungen eine Rolle zu spielen, weil sich mit ihrer Hilfe Fragen beantworten lassen, die die jüngere Geschichte von Populationen betreffen und für die Entscheidung über das Schicksal scheinbar bedrohter Arten wichtig sein können. Der Rotwolf beispielsweise war einst im Südosten der USA häufig, doch Anfang dieses Jahrhunderts begann sein Bestand rasch zu schrumpfen. Durch menschliche Eingriffe wurde sein Lebensraum zerstört, die Wölfe selbst wurden bejagt, und die überlebenden Rotwölfe begannen mit Kojoten zu bastardieren. In den sechziger Jahren waren echte Rotwölfe in freier Wildbahn mit Ausnahme einer kleinen Population in Südosttexas praktisch verschwunden. Zwei Jahrzehnte danach existierte der Rotwolf nur noch in Gefangenschaft, nämlich in einer Population, die von Individuen abstammte, die man in den siebziger Jahren in Texas gefangen hatte. Um wieder Populationen in freier Wildbahn zu etablieren, wurden in einem Schutzgebiet im Osten von North Carolina, dem Alligator River National Wildlife Refuge, Tiere aus dieser Zuchtpopulation ausgewildert. Konnte der Rotwolf, den manche Wissenschaftler für die Stammform des Wolfes (Canis lupus) und des Kojoten (Canis latrans) hielten, wieder sicher in Freiheit leben? Es kamen jedoch nachhaltige Zweifel an der genetischen Identität der in Gefangenschaft gezüchteten Tiere auf. Handelte es sich wirklich um echte Rotwölfe, oder waren durch Bastardierung mit Kojoten fremde Gene eingeschleust worden? Mehrere konventionelle Genanalysen stützten diesen Verdacht. Robert Wayne und seine Mitarbeiter an der University of California in Los Angeles schlössen sich den diesbezüglichen Untersuchungen an und analysierten unter Verwendung der Polymerasekettenreaktion zunächst DNA aus Gewebe heutiger Populationen und dann solche, die sie 218
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aus Fellen von Museumssammlungen gewonnen hatten. Tatsächlich erwies sich, daß die in Gefangenschaft gezüchteten Tiere Bastarde zwischen Wolf und Kojote waren. Dieses Ergebnis schien auf einen enttäuschenden Ausgang der wohlgemeinten Schutzbemühungen hinzuweisen. Doch als Wayne und seine Mitarbeiter Rotwolffelle untersuchten, die von Anfang des Jahrhunderts getöteten Tieren stammten, also aus einer Zeit, von der man annahm, es habe damals noch keine Bastardierung in freier Wildbahn gegeben, erhielten sie noch sehr viel überraschendere Ergebnisse. Auch diese Tiere waren nämlich Bastarde. Daraufhin mußte eine neue Hypothese aufgestellt werden – und zwar daß der Rotwolf nicht etwa ein Vorfahre von Wolf und Kojote ist, sondern ein Bastard zwischen diesen beiden Arten, und daß er niemals eine eigene Spezies gebildet hat. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, müssen Artenschützer oft befürchten, daß Populationen, denen sie Tiere entnehmen, um sie in menschlicher Obhut zu vermehren und später zwecks Aufbau neuer freilebender Populationen auszuwildern, genetisch verarmt sind. Durch Rückgriff auf Museumsexemplare aus früheren Populationen können sie oft die tatsächliche Geschichte der genetischen Variation dieser Arten zurückverfolgen, wie es beispielsweise beim Geparden geschehen ist. So hilfreich es ist, seine Hoffnungen und Befürchtungen auf den bekannten genetischen Status einer Art gründen zu können – arbeiten können die Artenschützer nur mit den Populationen, die bis heute überlebt haben. Überdies sind sie bei der
8.9 Die stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Rotwolf (Felle auf der rechten Seite) und Wolf (Felle auf der linken Seite) wurde durch die Extraktion von DNA aus Fellen aufgeklärt, die von Anfang des Jahrhunderts getöteten Tieren stammen und in Museen gelagert waren. Die abgebildeten Felle gehören zur Sammlung der Smithsonian Institution.
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Entscheidung, ob solche Populationen in Gefangenschaft gezüchtet werden sollten oder ob man sogar Individuen aus geographisch und genetisch entfernten Populationen kreuzen sollte, oft von der dringenden Notwendigkeit getrieben, etwas – irgendetwas – zu tun, um wenigstens einige Restbestände einer Abstammungslinie zu retten. Informationen, die durch die Untersuchung alter DNA gewonnen wurden, können Anhaltspunkte dafür liefern, was im Zustand der Verzweiflung zu tun ist, aber sie können weder ausgestorbene Arten wiederauferstehen lassen, noch einmal verlorengegangene genetische Variation zurückbringen.
Die Analyse alter DNA in der praktischen Anwendung: Beuteltiere und Moas Die wissenschaftliche Untersuchung alter DNA hat bereits Licht auf die Evolutionsgeschichte sowie auf die jüngere Populationsgeschichte verschiedener Tierarten und -gattungen geworfen. Zwei interessante Beispiele sind der australische Beutelwolf und die Moas, riesige Vögel, die einst Neuseeland bevölkerten. Die einheimischen Säuger Australiens und Südamerikas sind Beuteltiere: Nach einer kurzen Tragzeit werden noch sehr unreife Jungtiere geboren, die danach über einen längeren Zeitraum im mütterlichen Beutel heranwachsen. Viele Arten des einen Kontinents sind Spezies des anderen Erdteils so ähnlich, daß eine stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen ihnen postuliert wurde. Ein Beispiel ist der Beutelwolf (Thylacinus cynocephalus), der einst in Australien weit verbreitet war, aber heute ausgestorben ist. Manche Wissenschaftler hielten ihn für einen Verwandten der Borhyaenidae, einer ausgestorbenen Familie fleischfressender Beuteltiere Südamerikas. Beispielsweise stimmt er mit diesen in drei Zahnmerkmalen und einem Beckenmerkmal überein; dagegen gibt es nur zwei Merkmale der hinteren Extremitäten, die darauf hinweisen, daß der Beutelwolf näher mit den übrigen australischen Beuteltieren verwandt ist. Dieses Verhältnis von vier zu zwei zugunsten einer Verbindung zu südamerikanischen Arten hat einige Forscher veranlaßt, eine stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Beutelwolf und Borhyaenidae anzunehmen, obwohl die beiden Kontinente seit mehreren zehn Millionen Jahren getrennt sind. Als Richard Thomas, der heute am Natural History Museum in London tätig ist, und seine Kollegen zwei Mitochondrien-DNA-Fragmente aus dem Fell eines Beutelwolfes isolierten, ergab sich jedoch ein völlig anderes Bild. Bei einem Vergleich der Sequenzen mit denen heute in Australien 220
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und Südamerika lebender Beuteltiere fanden sie keinerlei genetische Verbindungen zwischen den Spezies der verschiedenen Kontinente. Die Vorfahren des Beutelwolfes lebten in Australien, nicht in Südamerika. Die erstaunlichen morphologischen Übereinstimmungen zwischen australischen und südamerikanischen Arten müssen das Ergebnis starker konvergenter Evolution sein. Auch fleischfressenden Plazentatieren gleichen diese fleischfressenden Beuteltiere morphologisch in erstaunlichem Maße, was ebenfalls auf konvergente Evolution zurückzuführen ist. Australiens geographischer Nachbar Neuseeland war einst die Heimat der Moas, einer Gruppe riesiger, straußenartiger Vögel, von denen es etwa ein Dutzend Gattungen gab. In prähistorischer Zeit lebten auf den beiden Inseln nur wenige Säugetiere, und die flugunfähigen Moas besetzten die große Nische der Fleischfresser, die auf anderen Kontinenten Säuger innehatten. Als die ersten menschlichen Siedler, die Maori, vor etwa 1000 Jahren Neuseeland erreichten, begannen die Moas seltener zu werden, und bald waren die großen Vögel ausgestorben. Zwei evolutionsbiologische Fragen über die Geschichte der Moas waren bis vor kurzem ungelöst: erstens die nach der Abstammung der Moas und den Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ihnen und zweitens ihr Verwandtschaftsgrad zu den Kiwis, den kleineren flugunfähigen Vögeln, die ein Nationalsymbol von Neuseeland sind. Obwohl die Abstammungslinie der Moas, wie man bereits wußte, etwa 80 Millionen Jahre zurückreicht, zeigte die Analyse der Mitochondrien-
8.10 Das Skelett eines Moa, eines riesigen, straußenähnlichen Vogels. Ein Dutzend Gattungen dieser Vogelfamilie lebten in Neuseeland, bevor die beiden Inseln vor etwa 1000 Jahren von Menschen besiedelt wurden.
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DNA aus weichem Gewebe mumifizierter Moas, daß der Ursprung der Gruppe, die bei der Ankunft der Maori lebte, weniger als 30 Millionen Jahre zurückliegt. Alan Cooper von der Victoria University in Wellington, der die Moa-DNA extrahierte und analysierte, vermutet, daß diese biologische Geschichte die geographische Geschichte der Inseln widerspiegelt. Vor mehr als 30 Millionen Jahren wurde die Fläche der Inseln auf etwa 15 Prozent ihrer heutigen Ausdehnung reduziert, als sie infolge tektonischer Aktivitäten tiefer ins Meer sanken. Der größte Teil blieb sieben Millionen Jahre lang von Wasser bedeckt, und während dieser Zeit starben die meisten Moagattungen, die es zuvor gegeben hatte, aus. Als die Landfläche vor etwa 26 Millionen Jahren wieder zunahm, förderten die neuen ökologischen Gelegenheiten eine rasche Artbildung. Damals entstand eine neue Kohorte von Moagattungen und -arten. Coopers Analyse der Mitochondrien-DNA zeigte außerdem, daß alle von ihm untersuchten Moagattungen nahe miteinander verwandt waren – nicht jedoch mit den Kiwis, deren nächste Verwandte die australischen Emus und Kasuare sind. Höchstwahrscheinlich erreichte der Vorfahre der Kiwis Neuseeland als flugfähiger Vogel und verlor diese Eigenschaft im Laufe der Zeit, wie es oft auf Inseln der Fall ist, auf denen es kaum Räuber gibt.
Die Analyse alter DNA in der praktischen Anwendung: Die menschliche Vorgeschichte Eine der ersten und umfassendsten Untersuchungen alter DNA zur Klärung anthropologischer Fragen wurde von William Hauswirth und seinen Mitarbeitern durchgeführt. Dabei ging es um die Populationsstruktur und -dynamik in einer Indianergesellschaft, die vor 8200 bis 6900 Jahren lebte. Anfang der achtziger Jahre wurden 177 Skelette und 91 Gehirne aus einem Torfmoor in Florida geborgen. Es war einer außergewöhnlichen Kombination chemischer Bedingungen zu verdanken, daß die Individuen und die DNA in ihren Gehirnen erhalten geblieben waren: Der Torf sorgte für eine sauerstofffreie Umgebung, und tröpfelnde Kalksteinquellen pufferten das saure Milieu ab, das ansonsten das genetische Material zerstört hätte. Die aufgefundenen Individuen repräsentieren etwa 50 Generationen. Durch die Entnahme von Mitochondrien-DNA sowie von Kern-DNA aus dem Haupthistokompatibilitätskomplex (kurz MHC) konnten Hauswirth und seine Mitarbeiter untersuchen, ob zwischen Männern und Frauen hinsichtlich des Sozialverhaltens (speziell der Partnerwahl) Unterschiede bestanden. Innerhalb der Population und über die 1300 Jahre hinweg exi222
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stierten nur sehr wenige Mitochondrienlinien. Daraus läßt sich unter anderem schließen, daß die Frauen in der Regel in der Gemeinschaft blieben und nur wenige genetisch unterscheidbare Frauen von benachbarten Gruppen hinzustießen. Die Variabilität der MHC-Gene war jedoch sehr viel ausgeprägter, als auf der Grundlage der Mitochondrienvariabilität zu erwarten gewesen wäre. Dies deutet darauf hin, daß zwischen genetisch verschiedenen Nachbargemeinschaften mehr Männer als Frauen ausgetauscht wurden. Dieses Muster ist für prähistorische Gesellschaften nicht ungewöhnlich, doch diese Daten sind, so sagt Hauswirth, »der erste genetische Beleg für solch unterschiedliches Verhalten«. Auch der Frage nach dem Ablauf der Besiedelung Amerikas kann man anhand von Informationen aus alter DNA nachgehen, wenngleich sich bisher noch keine Lösung der im vorigen Kapitel beschriebenen Kontroverse abzeichnet. Vielmehr sind einige Aspekte eher noch komplizierter geworden. Beispielsweise gründet sich die primäre Hypothese, es habe mehrere Einwanderungswellen gegeben, auf Unterschiede in den MitochondrienDNA-Typen zwischen den drei großen Sprachgruppen (siehe Seite 193). Glaubt man jedoch Connie Kolman und ihren Mitarbeitern vom Smithsonian Tropical Research Institute in Panama, so können Unterschiede zwischen Mitochondrientypen leicht und innerhalb kurzer Zeit entstehen. Die Arbeitsgruppe analysierte Mitochondrien-DNA panamaischer Indianervölker, die zwei verschiedenen Sprachgruppen – Chibcha und Choco – angehören. Man nimmt an, daß die Mitglieder dieser beiden Sprachgruppen von ein und derselben Population abstammen, die vor 7000 Jahren in dem Gebiet lebte. Bei den Choco findet man alle vier Haupt-Mitochondrientypen der amerindischen Völker, bei den Chibcha dagegen nur zwei. Demnach müßten die Chibcha während der vergangenen 7000 Jahre Mitochondrientypen verloren haben, wodurch die Aussagekraft von Vergleichen zwischen den Mustern der DNA-Typen von amerindischen, Na-Dené- und eskimo-aleutischen Völkern in Frage gestellt wird. Zwar führen Vertreter der Drei-Wellen-Hypothese Argumente gegen diese Schlußfolgerung an, doch die Frage nach der Besiedelung Amerikas bleibt ungelöst. Es ist eigentlich nicht überraschend, daß sich das Bild mit zunehmender Datenfülle kompliziert. Letztlich stellt sich den Forschern die Aufgabe, aus den Einzelheiten auf das Gesamtbild zu schließen, wie das folgende Beispiel demonstriert. Eine der ersten anthropologischen Fragen, denen sich Erika Hagelberg zuwandte, nachdem sie verfeinerte Methoden zur DNA-Extraktion aus alten Knochen entwickelt hatte, war die Besiedelung des pazifischen Raumes durch den Menschen – insbesondere die Geschichte der Osterinsel. Als eine der am stärksten isolierten bewohnten Inseln der Erde fasziniert die Osterinsel die Historiker schon lange. Dabei gingen die Meinungen über den Ursprung der ersten Siedler auseinander. Einige glaubten, die Insel sei 223
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Exkurs 8.2: Der Gletschermann Bei aufregenden anthropologischen und archäologischen Entdeckungen spielt der Zufall oft eine wichtige Rolle. So war es auch im September 1991, als ein deutsches Bergsteigerehepaar in den Ötztaler Alpen auf die Leiche eines Mannes stieß, der in 3210 Meter Höhe in das Eis eines Gletschers am Hauslabjoch eingeschlossen war. Zuerst glaubten die beiden, einen Alpinisten gefunden zu haben, der einige Jahrzehnte zuvor ein trauriges Ende gefunden hatte. Solche Entdeckungen sind in diesem schwierigen Terrain sehr selten. Eine genauere Begutachtung ergab jedoch schon bald Hinweise auf eine ganz andere Geschichte. Der Tote, der am Boden einer acht Meter breiten und 40 Meter langen Felsrinne lag, trug fein genähte, lederne Beinbekleidung, ein Fuß war ebenfalls mit Leder umwickelt, aus dem Heu herausquoll. Unter seinem Oberkörper lag ein mattenartiges Gebilde. In seiner Nähe fand man ein altertümlich aussehendes Metallbeil, gelochte Birkenrindenstücke, verschiedene Brettchen und Rundhölzer, einen langen, zugespitzten Stock und Fellreste – nicht ganz die Ausrüstung eines modernen Bergsteigers. Hier handelte es sich offensichtlich um eine Erscheinung aus der Vergangenheit. Leider wurde das wahre Alter des Fundes erst nach der Bergung offenbar, und so wurde Ötzi nicht von Archäologen, sondern unter der Leitung eines Gerichtsmediziners geborgen. Während der vier Tage zwischen der Entdeckung und der Bergung des Toten hatten mehrfach Laien den Fundort aufgesucht, dort einzelne Fundstücke eingesammelt und zum Teil auch zerstört. Bei einem ersten Versuch der Bergrettung, die Leiche mittels eines Preßluftmeißels aus dem Eis zu befreien, wurden ihr an der linken Hüfte und am linken Oberschenkel massive Verletzungen zugefügt. Als Ötzi erstmals einem Fachmann – Konrad Spindler vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Innsbruck – zu Gesicht kam, lag er, nackt bis auf seinen rechten Schuh, in der Innsbrucker Gerichtsmedizin. Auf seinem Rücken waren deutlich Tätowierungen – mit Holzkohle eingefärbte Striche – sichtbar. Seine noch am Fundort teilweise vorhandene Ausrüstung und Kleidung war bei der Bergung eingesammelt worden, weitere Stücke wurden bei archäologischen Nachuntersuchungen in der darauffolgenden Woche sowie im Sommer 1992 sichergestellt. Außerdem übergaben mehrere Laien, die während der ersten Tage Stücke vom Fundort mitgenommen hatten, diese den mit Ötzis Untersuchung befaßten Instituten. Nachdem eindeutig erkannt war, daß es sich bei dem Gletschermann um einen überaus bedeutenden archäologischen Fund handelte, begannen österreichische und italienische Behörden darüber zu diskutieren, wem er gehöre. Die Stelle, an der er gestorben war, lag, wie man später feststellte, knapp jenseits der österreichischen Grenze auf Südtiroler Boden, doch weil er von Österreichern geborgen worden war,
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wurde er ins Innsbrucker Institut für Anatomie verbracht. Man einigte sich zunächst darauf, daß er bis auf weiteres in dessen Obhut verbleiben sollte. (Im Januar 1998 überführte man den Gletschermann aber schließlich zum neuen Landesmuseum für Archäologie in Bozen.) Am Innsbrucker Institut wurden die sterblichen Überreste des Gletschermanns bei minus sechs Grad Celsius aufbewahrt. Wissenschaftler, die den Eismann untersuchen wollten, mußten schnell arbeiten, denn nach 30 Minuten mußte er zurück in seine Kühlzelle, damit er durch die Temperaturerhöhung keinen Schaden nahm. Der Anatom Werner Platzer leitete die anthropologischen Untersuchungen, der Ur- und Frühgeschichtler Konrad Spindler war für die Archäologie zuständig, das heißt für die Ausrüstung sowie die Tätowierungen des Gletschermanns. Aus dem Abnutzungsgrad von Ötzis Zähnen schlössen die Anthropologen auf ein Sterbealter von 40 bis 45 Jahren. Aufgrund seines Beiles, dessen Klinge eigentlich eine für die frühe Bronzezeit typische Form hat, schätzte man zunächst, der Gletschermann sei vor etwa 4000 Jahren gestorben. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Klinge aus Kupfer besteht, einem Material, das bereits in der Jungsteinzeit verarbeitet wurde. Tatsächlich ergaben Radiocarbon-Untersuchungen von Haut- und Knochenpartikeln sowie von Grashalmfragmenten aus Ötzis Schulterumhang, die unabhängig voneinander in Oxford, Zürich, Uppsala, Cambridge/USA und Paris durchgeführt wurden, daß der Gletschermann vor 5100 bis 5350 Jahren starb. Skelettfunde dieses Alters sind in Europa nicht selten, doch dies war weltweit die erste Leiche, die in einem so guten Erhaltungszustand gefunden wurde. Haut und Weichteile sind sehr viel besser erhalten als bei den ausgetrockneten ägyptischen Mumien oder den eisenzeitlichen Moorleichen, die unter Sauerstoffabschluß konserviert wurden. Der Wissenschaft bietet sich daher ein nie dagewesener Blick auf einen Menschen, der vor 200 Generationen lebte – von den Tätowierungen auf seiner Haut bis zu seinem Darminhalt (der aus Resten eines Speisebreies aus pflanzlicher (Getreide) und tierischer Nahrung (Eiweiß) bestand). Außerdem ist Ötzi mitsamt seiner Ausrüstung und Bekleidung mitten aus dem Leben gerissen, während man es sonst fast immer mit Grabfunden zu tun hat. Zu seiner Ausrüstung zählten neben dem Kupferbeil unter anderem ein einfacher Steindolch, ein ledernes Gürteltäschchen mit mehreren Feuersteingeräten und einem Zunderschwamm, eine hölzerne Rückentrage sowie ein Bogen samt Köcher und Pfeilen. Und natürlich fand man den Gletschermann just zu dem Zeitpunkt, als Methoden zur Untersuchung alter DNA entwickelt worden waren. Aus diesen Gründen hat man Ötzi als archäologischen Jahrhundertfund bezeichnet. Der Gletschermann lebte zu einer Zeit, in der in Mesopotamien eine Hochkultur heraufdämmerte: Stadtstaaten und
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Reiche wurden gegründet, monumentale Bauwerke und ehrgeizige Bewässerungsprojekte geschaffen. Die Sumerer hatten bereits die Schrift erfunden. Ötzi und seine europäischen Zeitgenossen führten jedoch ein sehr viel einfacheres Leben. Sie waren in kleinen Dörfern seßhaft und ernährten sich durch Landwirtschaft und Jagd. Ausgerüstet mit einem Bogen und einem Köcher mit 14 Pfeilen, konnte der Gletschermann eine Gemse oder einen Steinbock erlegen, wenn sich die Gelegenheit bot. Eine an eine Quaste aus Lederriemchen geknüpfte Dolomitperle diente ihm wohl als Amulett. Die Tätowierungen besaßen therapeutische Bedeutung, denn die Gelenke und die Wirbelsäule, an deren benachbarten Hautstellen diese Tätowierungen angebracht waren, zeigten bereits altersbedingte Verschleißerscheinungen, die dem Gletschermann sicher Schmerzen bereiteten und die er mit solchen Tätowierungen zu lindern hoffte. Man kennt vergleichbare Verfahren bei Naturvölkern. Zudem hatte sich Ötzi früher in seinem Leben fünf Rippen gebrochen und eine Zehe erfroren. Insofern paßt er in das Bild von den überaus harten Lebensbedingungen in jungsteinzeit-
lichen Dörfern, das sich aufgrund von Untersuchungen vorgeschichtlicher Skelette abzuzeichnen beginnt. Kalkablagerungen in den Gefäßen deuten auf eine altersbedingte Stoffwechselerkrankung hin – eine Erkenntnis, die nur aufgrund der besonderen äußeren Bedingungen möglich wurde, unter denen der Gletschermann starb und die zu seinem außergewöhnlich guten Erhaltungszustand führten. Was Ötzi ins Hochgebirge getrieben hat, darüber läßt sich nur spekulieren. Man fand bei ihm Knochensplitter von einem Steinbock sowie eine Schlehe, also ist er wahrscheinlich nicht verhungert. Auch gibt es keinen Hinweis auf tödliche Verletzungen. Ein Team aus deutschen, österreichischen und schwedischen Anthropologen leitet ein mögliches Todesszenario aus der Form von Ötzis linkem Ohr ab. Offensichtlich hatte sich der Gletschermann auf seine linke Seite gelegt und war, mit dem Kopf auf einem Felsblock, schnell eingeschlafen. Dabei war seine linke Ohrmuschel nach vorne umgeknickt, ohne daß ihn dies gestört zu haben scheint. Nach Ansicht der Wissen(Fortsetzung auf nächster Seite)
E.8.2.1 Im September 1991 entdeckten Bergsteiger die Leiche eines Mannes, der vor etwa 5000 Jahren in den Ötztaler Alpen starb. Bis Anfang 1998 wurde „Ötzi“ bei minus sechs Grad Celsius im Anatomischen Institut der Universität Innsbruck aufbewahrt.
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(Fortsetzung von vorheriger Seite)
E.8.2.2 Einige der Geräte, die der Gletschermann bei seinem Tod bei sich trug.
schaftler war Ötzi, als er die Felsrinne erreichte, möglicherweise sehr erschöpft. Vielleicht suchte er in der Rinne Schutz, etwa vor einem Unwetter, und legte sich hin, um sich auszuruhen. Im tiefen Schlaf der Erschöpfung drang das Unbehagen, das eine umgeknickte Ohrmuschel verursacht, nicht in sein Bewußtsein. Aus diesem Schlaf glitt er vermutlich in die Bewußt-
losigkeit hinüber, die eintritt, wenn die Kerntemperatur des Körpers infolge niedriger Außentemperaturen drastisch absinkt, und erfror. Luftzirkulationen im Schnee, der ihn wohl noch in der Nacht seines Todes einhüllte, trockneten seinen Körper aus, bevor er schließlich von Eis umschlossen wurde, und so wurde Ötzi effizient gefriergetrocknet.
vor mehreren tausend Jahren im Zuge der großen polynesischen Wanderungswelle durch den gesamten pazifischen Raum besiedelt worden. Andere nahmen an, es habe zwei Einwanderungswellen gegeben: zuerst durch Europide aus Peru und später durch Polynesier aus dem Westen. Der bekannteste Verfechter der zweiten Theorie war Thor Heyerdahl, der im Selbstversuch heldenhafte Seefahrten unternahm, um festzustellen, ob die Meeresströmungen ein Floß von Amerika zu dieser abgelegenen Insel transportieren könnten. Ähnlichkeiten zwischen Artefakten aus Peru und von der Osterinsel nahm man als Bestätigung dieser Hypothese. Aus Knochen von zwölf Menschen, die vor mehreren hundert Jahren auf der Osterinsel lebten, wurde Mitochondrien-DNA extrahiert. Die Befunde aus ihrer Untersuchung, nämlich die vorhandenen Mitochondrien-DNATypen, scheinen Aufschluß über die tatsächliche Abstammung dieser Menschen zu geben. Alle zwölf Individuen besaßen einen Typ, der nach Unter226
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suchungen von Hagelberg und ihren Mitarbeitern charakteristisch für frühere und heutige polynesische Populationen ist. Dieser sogenannte polynesische Typ ist durch eine neun Basenpaare lange Deletion und eine Substitution von drei Basenpaaren gekennzeichnet. Dieses Muster, das einem genetischen Fingerabdruck vergleichbar ist, kennzeichnet die frühen Bewohner der Osterinsel als Polynesier und nicht als Amerikaner, wie Heyerdahl glaubte. Der Untersuchung alter DNA verdankt auch die Geschichte von Ötzi, der berühmten, 5000 Jahre alten mumifizierten Leiche, die im September 1991 in einem Gletscher der Ötztaler Alpen entdeckt wurde (siehe Exkurs 8.2 auf Seite 224), eine wichtige Fußnote. Dieser Fund war so außergewöhnlich, daß von verschiedenen Seiten die Vermutung geäußert wurde, es handele sich um eine Fälschung – unbekannte Täter hätten eine bereits mumifizierte Leiche aus Ägypten oder Südamerika in dem seit einiger Zeit abschmelzenden Gletschereis deponiert. Eine umfangreiche Gruppe von Wissenschaftlern aus mehreren europäischen Ländern veröffentlichte vor kurzem eine DNA-Analyse von Ötzi. Diese Analyse war kein leichtes Unterfangen, da die Leiche von zahlreichen Personen angefaßt und manipuliert worden war und damit viel Gelegenheit zur Kontamination mit Fremd-DNA bestanden hatte. Die Forschergruppe demonstrierte zunächst, daß es sich bei der von ihr extrahierten DNA nicht um eine Verunreinigung handelte, und zeigte dann, daß diese DNA in die genetische Variation der heutigen Mittel- und Nordeuropäer paßt und sich deutlich vom ägyptischen sowie vom südamerikanischen DNA-Typ unterscheidet. Alle noch verbliebenen Zweifel an der Echtheit des Fundes wurden damit zerschlagen.
Dinosaurier-DNA In den letzten Jahren haben zwei Forschergruppen verlauten lassen, die Wiedergewinnung von Dinosaurier-DNA stehe möglicherweise kurz bevor. Im Juli 1993 berichtete Jack Horner von der Montana State University, er habe in einem versteinerten Beinknochen von Tyrannosaurus rex, dem vielleicht bekanntesten aller Dinosaurier, etwas entdeckt, das Blutzellen zu sein schienen. Horner ist ein angesehener Paläontologe und für seine sorgfältigen und innovativen Arbeiten über Dinosaurier bekannt. Wenn der Knochen tatsächlich Blutzellen enthält, könnte es sich dann, so fragte er, vielleicht als möglich erweisen, aus ihnen DNA zu extrahieren? Bisher hat man darin jedoch keine DNA gefunden. Ende 1994 gingen Wissenschaftler der Brigham Young University einen Schritt weiter, als sie von der Extraktion von DNA aus einem 80 Millionen 227
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8.11 In fossilen Knochen sind Details der anatomischen Feinstruktur erhalten. Das Photo zeigt einen mikroskopischen Schnitt durch einen Beinknochen der vielleicht bekanntesten Dinosaurierart, Tyrannosaurus rex, der im Museum of the Rockies in Bozeman im US-Bundesstaat Montana angefertigt wurde. Die kleinen, runden Mikrosphären finden sich in Blutgefäßkanälen und enthalten Häm, einen wichtigen Bestandteil des Blutfarbstoffes Hämoglobin. Da die Blutzellen von Reptilien Zellkerne enthalten, hoffte man, in den fossilen Knochen auch DNA finden zu können. Neueren Untersuchungen zufolge ist dies jedoch unwahrscheinlich.
Jahre alten Dinosaurierknochen berichteten, der aus einer Kohlengrube im Osten des US-Bundesstaates Utah stammte. Mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion erhielten Scott Woodward und seine Mitarbeiter neun Abschnitte des Cytochrom-b-Gens der Mitochondrien-DNA, alle mehr als 130 Basenpaare lang. Vergleiche der DNA-Sequenz mit heutigen Sequenzen von Säugern, Vögeln und Krokodilen ergaben in keinem Fall eine Übereinstimmung. Dies war überraschend, denn man erwartete eigentlich eine gewisse Übereinstimmung mit der DNA von Vögeln, da diese als Nachfahren der Dinosaurier gelten. Der in der angesehenen Fachzeitschrift Science veröffentlichte Bericht wurde mit einer Mischung aus Erregung und Skepsis aufgenommen. Die meisten Fachleute wollten abwarten, ob es anderen Arbeitsgruppen gelänge, das Ergebnis zu reproduzieren und ähnliche DNA aus Proben desselben versteinerten Knochens zu isolieren. Manche Wissenschaftler glaubten aufgrund der angeblichen Besonderheit der extrahierten DNA, diese stamme möglicherweise tatsächlich von dem Dinosaurier; andere, etwa Blair Hedges von der Pennsylvania State University und Mary Schweitzer vom Museum of the Rockies in Bozeman in Montana, vermuteten, es handele sich um eine Verunreinigung. Sechs Monate nach dem 228
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Erscheinen von Woodwards Bericht veröffentlichten sie ihre eigene Analyse der vermeintlichen Dinosaurier-DNA-Sequenz, derzufolge es sich vermutlich um menschliche DNA handelte. Und exakt ein Jahr nachdem Hedges und Schweitzer ihre Zweifel publik gemacht hatten, veröffentlichte Science im Mai 1996 einen Forschungsbericht, der die Möglichkeit, Dinosaurier-DNA könne jemals intakt aus versteinerten Knochen extrahiert werden, nahezu ausschließt. Demnach ist es selbst unter günstigsten Erhaltungsbedingungen – das heißt in kalten Klimaten – nicht möglich, DNA aus Geweben zu isolieren, die älter als 100 000 Jahre sind. In warmen Klimaten sind schon nach wenigen tausend Jahren keine verwertbaren DNA-Mengen mehr vorhanden. In der betreffenden Arbeit verwendeten Svante Pääbo, Hendrik Poinar und Matthias Höss von der Universität München eine geniale Methode, bei der eine einfache chemische Reaktion von Aminosäuren als Indikator dafür genutzt wird, ob eine Gewebeprobe wahrscheinlich intakte DNA enthält oder nicht. In der Natur kommen Aminosäuren, ihrer dreidimensionalen Struktur entsprechend, in zwei zueinander spiegelbildlichen Formen vor, der D- und der L-Form. Wenn Lebewesen Proteine aus einem Aminosäurevorrat aufbauen, verwenden sie ausschließlich die L-Form. Stirbt Gewebe ab, so beginnen die Proteinketten zu zerfallen, und ein langsamer Prozeß, die sogenannte Racemisierung, setzt ein, in dessen Verlauf die L-Aminosäuren in die D-Form umgewandelt werden. Schließlich entsteht eine Mischung aus gleichen Teilen der beiden Formen. Die Dynamik der Racemisierung unter verschiedenen Bedingungen wird bereits seit einigen Jahren erforscht. Im Jahre 1993 entdeckte Jeffrey Bada von der University of California in San Diego, daß eine sehr enge Parallele zwischen der Racemisierungsrate und der Rate des Hauptabbauprozesses von DNA, der sogenannten Depurination, besteht. Er tat sich daher mit Pääbo und seinen Mitarbeitern zusammen, um mit vereinten Kräften ein quantitatives Maß für die Racemisierung als Indikator für die Anwesenheit intakter DNA zu erarbeiten. Für ihre Untersuchungen wählten die Wissenschaftler Asparaginsäure, da sie schneller racemisiert als alle anderen Aminosäuren. Sie bestimmten die Menge von D- und L-Asparaginsäure in Geweben, deren Alter zwischen 50 und 40 000 Jahren lag, und stellten fest, daß keine intakte DNA mehr vorhanden war, wenn der Quotient D/L 0,08 oder mehr betrug. Sodann ermittelten sie diesen Quotienten für verschiedene Gewebe, aus denen angeblich alte DNA extrahiert worden war, einschließlich des 65 Millionen Jahre alten Knochens von Tyrannosaurus rex, der 17 Millionen Jahre alten Magnolienblätter und mehrerer in Bernstein eingeschlossener Insekten unterschiedlichen Alters. Der Quotient D/L überstieg die Abbauschwelle in allen Fällen mit Ausnahme der in Bernstein eingeschlossenen Organismen. Der Schluß der Forschergruppe lautete: »Die Aussichten, DNA-Sequenzen von Dinosauriern gewinnen zu können, erscheinen trübe.« 229
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In einem Kommentar zu dem Forschungsbericht räumte Scott Woodward ein, daß seinen früheren Behauptungen, Dinosaurier-DNA extrahiert zu haben, ein schwerer Schlag versetzt worden war. Die Abbauprozesse sind einfach zu zerstörerisch, als daß DNA über sehr lange Zeiträume in Knochen erhalten bleiben könnte. Dagegen scheinen die chemischen Bedingungen in Bernstein den Abbau mindestens 35 Millionen Jahre lang (so alt war die älteste Probe) zu blockieren. Michael Crichtons Entscheidung, in Bernstein eingeschlossene Insekten als Ausgangsmaterial für seine fiktive Wiederauferstehung von Dinosauriern zu wählen, war also richtig. Selbst wenn es sich als möglich erweisen sollte, Dinosaurier-DNA aus in Bernstein eingeschlossenen blutsaugenden Insekten zu extrahieren, bleibt Jurassic Park Fiktion. Die Dinosaurier sind ausgestorben und werden es wahrscheinlich auch bleiben. Schon der „Züchtung“ eines Individuums einer heute lebenden Art aus nackter DNA – im Gegensatz zu einem Start mit dem vollständigen, sicher in einer Eizelle eingeschlossenen Chromosomensatz – stehen in Anbetracht der Komplexität der Embryonalentwicklung und der Unwissenheit der Biologen über die daran beteiligten Mechanismen zahlreiche Hindernisse im Wege. Aus dem seit langem toten Gewebe ausgestorbener Arten läßt sich gar nur ein winziger Teil der GesamtDNA gewinnen: eine Handvoll Fragmente von 200 Basenpaaren Länge, gegenüber den mehreren Milliarden Nucleotiden, welche die komplette genetische Ausstattung einer intakten Zelle darstellen. Charles Pellagrinos Spekulation im Science-fiction-Magazin Omni über das Ergänzen der fehlenden DNA und den Einbau des so rekonstruierten Erbmaterials in eine Eizelle regt zu kreativen Tagträumen an, aber das ist auch alles. Wenn eine Art ausstirbt, geht eine genetische Linie, die sich bis zum Anfang des Lebens zurückerstreckt, verloren – für immer. Die Gewinnung und Analyse alter DNA macht Dinge möglich, die noch vor einem Jahrzehnt nur wenige für machbar hielten, aber das Unmögliche läßt sich dadurch nicht erreichen. Doch auch wenn die Wiedererweckung verschwundener Arten außerhalb ihrer Kraft liegt, ist diese Forschungsrichtung Teil einer Revolution in der Biologie, die wunderbare neue Erkenntnisse über die noch vorhandene Organismenwelt ermöglicht – und die uns helfen könnte, Wege zu finden, die den Fortbestand dieses komplizierten Systems sicherstellen.
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Bildnachweise
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© Rosamond Purcell. Alle Rechte vorbehalten Ölgemälde von H. W. Pickersgill, 1845. National Portrait Gallery, London Exkurs 2.1.1 Verändert nach Charles G. Sibley und Jon E. Ahlquist Reconstructing Bird Phylogeny by Comparing DNA ‘s, in Scientific American 254(2) S. 84. © 1986 Scientific American, Inc. Alle Rechte vorbehalten 2.4 Wolfgang Hennig 2.6 John Reader/Photo Researchers 2.12 Aus Roger Lewin Human Evolution, 3. Aufl. Blackwell Scientific Publications 1993 2.13 M. E. Bisher und A. C. Steven 2.14 Aus J. J. Bull et al. Experimental Molecular Evolution of Bacteriophage T7, in Evolution 47 (1993) S. 993-1007
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2.1 2.2
3.17 3.18
4.1 4.3 4.4 4.6 4.8
4.9 3.1 3.4
3.5
3.6 3.7 3.9
236
© Rosamond Purcell. Alle Rechte vorbehalten Verändert nach C. R. Woese et al. Towards a Natural System ofOrganisms, in Proceedings of the National Academy of Sciences (USA) 87 (1990) S. 4576-4579 Photographie von Thomas Brock, University of Wisconsin in Madison. Mit freundlicher Genehmigung von University of Wisconsin Office of News and Public Affairs Reg Morrison/AUSCAPE Verändert nach M. Schlegel Molecular Phylogeny ofEukaryotes, in Trends in Ecology and Evolution 9 (1994) S. 331 Aus A. Knoll The Early Evolution ofthe Eukaryotes: A Geological Perspective, in Science 256 (1992) S. 623
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BILDNACHWEISE
Michio Hoshino/Minden Pictures Robert Erwin/Natural History Photographic Agency 6.5 (rechts) Art Wolfe 6.6 A. N. T./Natural History Photographic Agency 6.7 Margaret Welby/Planet Earth Pictures 6.8 Doug Perrine/Planet Earth Pictures 6.9 Madhusudan Katti/Trevor Price 6.10 Mark W. Moffett/Minden Pictures 6.11 Haroldo Palo Jr./Natural History Photographic Agency 6.12 Pete Atkinson/Planet Earth Pictures 6.13 Georgette Douwma/Planet Earth Pictures 6.14 Frans Lanting/Minden Pictures 6.16 Art Wolfe Exkurs 6.2.1 Art Wolfe 6.17 Fotocentre/Natural History Photographic Agency
6.4 6.5 (links)
7.1 7.2 Exkurs 7.1.1 Exkurs 7.1.2 7.6 7.7
7.8
7.9
© Rosamond Purcell. Alle Rechte vorbehalten Morris Goodman John Reader/SPL/Photo Researchers © 1995 David L. Brill/Atlanta Douglas Wallace, Emory University Verändert nach Allan C. Wilson und Rebecca L. Cann The Recent African Genesis ofHumans, in Scientific American 266(4) S. 69. © 1992 Seientific American, Inc. Alle Rechte vorbehalten Verändert nach Allan C. Wilson und Rebecca L. Cann The Recent African Genesis ofHumans, in Scientific American 266(4) S. 72. © 1992 Seientific American, Inc. Alle Rechte vorbehalten Ira Block Photography, Ltd
Exkurs 7.2.1 Alison S. Brooks, Department of Anthropology, George Washington University Exkurs 7.2.2 Alison S. Brooks, Department of Anthropology, George Washington University 7.11 Kupferstich von Theodore De Bry, 16. Jh. Rare Book and Special Collections Division, Library of Congress 7.12 Aus Joseph H. Greenberg und Merritt Ruhlen Linguistic Origins ofNative Americans, in Scientific American 267(5) S. 95. © 1994 Scientific American, Inc. Alle Rechte vorbehalten Exkurs 7.3.1 Rick Wicker, Denver Museum of Natural History Photo Archives. Alle Rechte vorbehalten © Rosamond Purcell. Alle Rechte vorbehalten Benali-Landmann/Gamma Liaison Thomas Stephan/Black Star Philip Saltonstal Photographie von Jacky Beckett. © American Museum of Natural History 8.7 und 8.8 Benali-Landmann/Gamma Liaison 8.9 Alex Webb/Magnum 8.10 Photographie von J. Nauta. The Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa, Wellington, Neuseeland Exkurs 8.2.1 Wolfgang Neeb, Universität Innsbruck Stern/ Black Star Exkurs 8.2.2 Wolfgang Neeb, Universität Innsbruck Stern/ Black Star 8.11 Photographie von Mary Higby Schweitzer, Montana State University. Knochengewebe aus dem Museum of the Rockies 8.1 8.2 8.3 8.4 8.6
237
Index
A Achatinella phaezona 10 Acheuleen 184 Agelaius phoeniceus 129f, 146 Ahlquist,J. 20,37,78-81,165 Aids 84f Allele 89f Allensche Regel 145 alpha-A-Kristallgen 103 Alpha-Männchen 2f alternative Fortpflanzungsstrategien 129 Altweltaffen 28 Alu-Sequenzen 204 Amerika archäologische Funde 194f Besiedelung 189-197,223 Sprachfamilien 189, 191 Amerindisch 188f, 191-193, 196 Arnos, B. 132-134 Analogie 21,24f, 37 Antikörper 31,201 Archaea 59-63 Archaebakterien 58f, 61, 63 Arche-Noah-Modell 173f Archetypen 24f Ardipithecus ramidus 169f Artenschutz 158-161,219f Artenschutzbiologie 151 Artenschutzgenetik 154-158,161 Arthropoden 69f, 72 Artstammbaum 44-46 Asfaw, B. 169 Atchley, W. 36f, 45f,51 Aterien 185 Augenfarbe 89f Ausbreitungsbarrieren 145 Außengruppenvergleich 28 Australopithecus afarensis 168 africanus 168 anamensis 170 bahrelgazali 170
Auszucht 90 Avise, J. 141f, 145f, 149-151, 159, 161 Ayala, F. 118
B Bacteria 59-63 Bada, J. 229 Bakterien 58-60 Evolution 58 thermophile 60,62 Bakteriophage T7 50f Balance-Schule 90f Baumrutscher 80 Bergmannsche Regel 145 Bergzebra 202 Bernstein 199f, 209-216,229f Entstehung 212 konservierende Eigenschaften 212 Bernsteinkiefer 212 Beta-Männchen 2f Beuteltiere 80 Beutelwolf 26, 52, 205, 220f Bilateria 69 binäre Nomenklatur 5 Biogeographie 145 Bipedie 169 Blattschneiderameisen 137f Blindmaus 103 Blutgruppen 89 Blutproteine 108 Borhyaenidae 220 Bowen, B. 141f Britten, R. 116 Brooks, A. 185 Brown, A. P. 108 Brown, W. 72 Brückenechse 159f Brutparasitismus, intraspezifischer 128 Buckelwal 142-144 Buntbarsche 82-84
C Caro, T. 155 Carr, A. 139f Catarrhini 28 Cavalier-Smith, T. 42 Cavalli-Sforza, L. L. 186f, 189, 192 Chiroptera 77f Chloroplasten 57, 115 Ursprung 64-66 Chloroplasten-DNA 64-66 Mutationsrate 115 Cichliden 82-84 Ciliaten 59 Clegg, M. 210 Clovis 194f Cockburn, A. 131 Codon 12, lOlf Coelenteraten 69f Coelomata 70-72 Cooper, A. 222 Coppens, Y. 170 Coprinites dominicana 213 Corvida 81 Cyanobakterien 59,65 Cytochrom c 97,112
D Darnell, J. 42 Dart, R. 168 Darwin, C. 6, 25, 99, 105, 168 Darwinfitneß 2, 13,87, 127 Davies, N. 1 4 Deletion 13, 39f Depurination 229 Di Rienzo, A. 186 Dinosaurier 77f, 199 Dinosaurier-DNA 227-230 Distanzmaße 29 DNA 124 Abbau 205f, 216,228f alte 198-230 Aufbau 11f, 42f
239
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Extraktion aus Knochen 207-209, 223,226-230 Klonieren 201-205 maximales Alter 216 Verunreinigungen 204,208,215f, 228 DNA-DNA-Hybridisierung 20,22f, 29f, 38,79-81, 165 DNA-Fingerprinting 3f, 15, 120, 122f, 129,132,157 DNA-Polymerase 125 DNA-Sequenzierung 14f, 34 Dobzhansky, T. 4,90f, 163 Domänen 57 60 Doolittle, F. 42 Doolittle, R. 63f Dorit, R. 187 Drei-Wellen-Hypothese 192f Drosophila 89f, 93-95, 116
E effektive Populationsgröße 99f Ehrenberg-Blindmaus 103 Eiche 147f Elch 128 Endosymbiontenhypothese 65 Entstehung des Lebens 7f Equus burchelli 202 caballus 202 quagga 201-203 zebra 202 Escherichia coli 42 Eskimo-AIeutisch 188-192 Eubakterien 58f, 61 Eukarya 59-63,66 Eukaryoten 56-60,63,66 Stammbaum 67f Ribosomen 69 Evolution konvergente 52 neutrale 38 Tempo 47f, 89, lOOf Evolutionsökologie 127 Evolutionstheorie 24 Exons 42-45,102,115 Exon-Shuffling 42,44
F Fahlstirnschwalbe 128 Fahlstirn-Sericornis 149 Farnschnäpper 149 Federlinge 19 Fingernägel 28 Fitch, W. 36f,45f,51, 112, 118 Fixierung von Mutationen 97f Flagellaten 59 Flamingos 18-20 Flaschenhals, siehe Populationsengpaß
240
Flechten 81-83 Fiedertiere 76 Florida 150 Florida-Panther 153, 156f, 159 Flügel 21,24 Flughunde 76 Fortpflanzungsstrategien 129 Fünf-Reiche-Schema 56f funktioneile Zwänge 102f, 114
G Gelbkehl-Sericornis 149 Gelelektrophorese 93f, 122 Genduplikation 40f, 44-46,62, 102 Gene 22f, 89f DNA-Sequenz 12 regulatorische 35 von höheren Organismen 40-46 genetische Bürde 92 genetische Drift 7 genetische Variation 13,16,87-105, 144,152,175,177 Ausmaß 88-93,99f, 154 Entstehung 88f, 95-99 Gepard 158 Tempo der Akkumulation 100, 106-119 genetischer Code 12 genetischer Fingerabdruck 3 Genfamilien 40,63 Genstammbaum 44-46 Geomys colonus 159 pinetis 146,159 Gepard 154-158 genetische Variation 158 Geröllgeräte 184 Gesamtfitneß 127, 134 Gibbon 30, 171f Gibbs, L. 129 Gilbert, W. 42 Gillespie, J. 104 .. Gletschermumie, siehe Ötzi Globin 40f, 102, 115, 166 Glottochronologie 192 Gö, M. 43 Goldenberg, E. 210 Goodman.M. 31f,76,108,166,171,181 Gorilla 30f, 108, 162, 165f, 170-172 Gorillina 171f Gottlieb, L. 37 Gould, S. J. 20 grampositive Bakterien 59 Graufuchs 153 Greenberg, J. 187, 190f Grindwal 133f Große Kette der Wesen 5 Grünlaubsänger 136 Gryphaea 110
H Haeckel, E. 56 Hagelberg, E. 207f, 223 Halbaffen 28 Hämoglobin 97,100,109,115 Harpending, H. 186 Harze 212 Hauspferd 202 Hauswirth, W. 222f Hauszaunkönig 128 Heckenbraunelle 1-4 Hedges, B. 77f, 228 Hennig, W. 28 Hess, R. 212 Heteromyias albispecularis 149 Heterozygotie 94 Hewitt, G. M. 147f Heyerdahl, T. 226 Higuchi, R. 201 Hillis, D. 50f Hirundo pyrrhonota 128 Histon 100,102,115 HIV 84f Hominidae 30-34,171 Ursprung 164-172 Hominina 171f Homininae 171f Hominini 17 lf Hominoidae 30-33,116,171 Evolution 165f Klassifikation 171, 173 Homo erectus 172-174,179,183 Homo habilis 175 Homo sapiens Analyse alter DNA 222-227 archaischer 173f, 179, 183 MHC-Gene 222f Mitochondrien-DNA 175-183, 186f, 192f, 196, 207f, 222f, 226f Partnerwahl 222f Ursprung 172-189 siehe auch Mensch Homologie 21, 24f partielle 44 von Genen 37-44 Homoplasie 37f Homer, J. 227 Höss, M. 229 Howieson’s-Poort-Industrie 185 Hufeisenstammbaum 177 Hylobates 171 Hylobatidae 30 Hylobatinae 17lf
I Indischer Riesenflughund 77f Insekten in Bernstein 209-216 Insertion 13,39f
INDEX
Introns 42-45,102,115,147 Inzuchtstämme 90 Maus 36,45f, 51
J Javamensch 172 Jeffreys, A. 3,122,205 Johanson, D. C. 168 Jones, R. T. 109 Jukes, T. 98
K Kambrische Explosion 7-9,71 Känguruhratten 217 Kaninchen 217f Karl, S. 142 Kegelrobbe 132f Kern-DNA 166 Mutationsrate 115f Kidd, K. 186 Kimura, M. 97-99, lOlf, 105, 133 King, J. L. 98 King, M.-C. 30f, 35 Kladistik 27-29 Klassifikation der Organismen 5f, 54-60 klassische Schule der Populationsgenetik 90,92 Klonieren von DNA 201-205 Knöchelgang 165, 170f Knochen, DNA-Extraktion 207-209, 223,226-230 Kojote 218f Kolman, C. 223 Königstyrann 128 konvergente Evolution 52
L Lake, J. 62f Latimeria chalumnae 73 Laubsänger 135f Laufflöter 149 Laurenson, K. 155 Leakey, M. 170 lebende Fossilien 110 Levallois-Technik 184 Lewontin, R. 90, 93f Lindahl, T. 216 Lindburgh, D. 156 Linné, C. von 5,21 Logsdon, J. 42 Lucy 168
M Maddison, D. 182 Magnolien 209f, 229
Malawisee 82-84 Malurus cyaneus 130f Mammut 203,209 Margoliash, E. 112 Mastotermes electrodominicus 210 Maus, Inzuchtstämme 36, 45f, 51 May, R. 156 Mayr, E. 59f Mehrfachtreffer 117f Mensch Stammesgeschichte 11,29-34, 108f, 112,162-197 siehe auch Homo Menschenaffen 30f, 108, 133, 139, 162, 164-166, 170f, 173 Merkmale gemeinsame abgeleitete 28 ursprüngliche 28 Messenger-RNA 12 __ Metazoa, Stammbaum 66 72 metronomische Uhr 113f MHC-Gene, Mensch 222f Minisatelliten 122,124 Mitochondrien 57,115 Ursprung 64-66 Mitochondrien-DNA 64-66,72,141, 145,157-159,166,183,201,228 Mensch 175-183, 186f, 192f, 196, 207f, 222f, 226f Mutationsrate 115f Mitochondrien-Eva 176, 178f, 181-183 Moas 209,221 f Module 43 molekulare Uhr 16,33f der Evolution 106-119 Eichung 112 gute 117f Molekularphylogenetik 20f, 36 Monera 56 Monogamie 1-3 monophyletische Gruppen 69 Moritz, C. 148f Morphologie 20 vergleichende 25f, 47f Morris, S. C. 66,68 Muller, H. J. 90,92 Mullis, K. 15, 124f, 206f multiregionale Evolution, Modell 173f, 179f, 183, 186f Mumien 203f, 209,224-227 Museen, naturhistorische 6, 10, 17 Gewinnung alter DNA 209-217, 219f Mutationen 13,35,38-40 synonyme 102 Mutationsrate 106-119 in verschiedenen Linien 116-119 universelle 116 Mutualismus 82
N Na-Dene 188-193,196 Neandertaler 173f, 184 DNA 208 neutrale Evolution 38 Neutralisten 88 Neutralitätstheorie 96-105,113,116 Neuweltaffen 28 Nördlicher See-Elefant 152f Nucleotide 11-13 numerische Simulation 50 numerische Taxonomie 26 Nuttall, G. H. F. 11, 108
O O’Brien, S. 144, 154-158 Ohta, T. 99 Ökogeographie 145 ökologische Nische 135f Oldowan-Kultur 184 Orang-Utan 30f, 108, 162, 171f Organismenreiche, siehe Reiche Orthogenese HOf Orthologie 41,44,46 Oryctolagus cuniculus 217f Osterinsel, Besiedelung 223,226f Ost-West-Verbreitungsmuster 150f Ötzi 209,224 227 Out-of-Africa-Modell 173f, 178, 184, 186f Owen, R. Sir 21,24 p Pääbo, S. 203-208,217,229 Paarungssysteme 1-3,127-131 Paläolithikum 184 Palmer, J. 42 Palumbi, S. 117 Part, siehe Schimpanse Pangaea 77 Paralogie 41,44,46 paraphyletische Gruppen 69 Parasitismus 81f Parsimonieprinzip 49f, 76, 176, 182f Passerida 81 Patterson, C. 37,48 Pauling, L. 96, 109f, 163 Pekingmensch 172 Pellagrino, C. 199 Pettigrew, J. 76 Pfeilschwanzkrebs 105,110 Phänetik 26 29 Phylloscopus trochiloides 136 Phylogenese 20 phylogenetische Systematik 27 Phylogeographie 144-151 Pilbeam, D. 163, 170
241
DIE MOLEKULARE UHR DER EVOLUTION
Pilze 59 Pinus succinifera 212 Platyrrhini 28 Platzer, W. 224 Pleistozän 146, 150, 158 Poinar, G. 212f Poinar, H. 229 Polyandrie 127 Polygynie 127-129,132 Polymerasekettenreaktion 15, 124-126, 206f, 216 Polymorphismus 91-93,95,167 polyphyletische Gruppen 69 Pongidae 30-32 Pongini 171f Pongo, siehe Orang-Utan Populationsengpaß 151-158, 178, 192f Populationsgenetik 89, 122, 156 Populationsmanagement 151 Prachtstaffelschwanz 130f Price, T. 135f Prinzip der einfachsten Erklärung, siehe Parsimonieprinzip Prokaryoten 56-60 Prosimiae 28 Proteine 39,229 Aufbau 1 lf, 43 Evolution 109 lösliche 93 Protein-Fingerprinting 34 Proteinsequenzierung 34 Protisten 56,66,68 Prunella modularis 1 4 Pseudogene 44-46, 102f, 115 Pseudotropheus tropheops 82 Pteropus giganteus llf Puma 156 Purpurbakterien 59,65f
Q Quagga 198,201-203,209 Quastenflosser 73f Quercus petraea 147f robur 147f
R Racemisierung von Aminosäuren 229 Radiation 47,53f, 70f Raff, R. 69 Ralls, K. 153 Ramapithecus 32-34 Refugien 147 regulatorische Gene 35, 111 Reiche 55-60 Reichert, E. T. 108 relative rate lest 118 Restriktionsenzyme 13,124
242
Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus-Analyse, siehe RFLP-Analyse Restriktionskartierung 34 siehe auch RFLP-Analyse RFLP-Analyse 14, 122 Ribosom 12,58,115 ribosomale DNA 115 Mutationsrate 115 ribosomale RNA 58 Richman, A. 135f Riesenfaultier 205 RNA-Polymerase 12,58,71 RNA-Viren 103 Rogers, A. 186 Rogers, J. 42,166 Rotschulterstärling 129f, 146 Rotstirn-Sericornis 149 Rotwolf 218f Ruhlen, M. 187
S Säbelzahntiger HOf Sarich, V. 33, 112f Säugetiere, Stammbaum 74-78 Schildkröten 139 143 Schimpanse 30f, 108, 133, 139, 165f, 170-172 Schweitzer, M. 228 Seeigel 102,116 Selektion 87,98f, 104f Selektionisten 88,96, 100, 104 Selektions vorteil 13 Sequenzdivergenzrate 141 Sericornis citreogularis 149 keri 149 magnirostris 149 Sibley, C. 20,37,78-81,165 Simons, E. 33 Simpson, G. G. 31f Singvögel, Klassifikation 78-81 Sivapithecus 34 Skink 149 social facilitation 140 Spalax ehrenbergi 103 Sphenodon guntheri 160 punctatus 160 Spindler, K. 224 Sprachen, Verwandtschaftsverhältnisse 187-193,196 Sprachfamilien 188-193,196 Karte 188 Stammbaumrekonstruktion 49,51, 53-85 Stämme 66f Stammgene 63 Steineiche 147f Steinwerkzeuge 184
Steppenzebra 202 Stieleiche 147f stochastische Uhr 113f Stoffwechselrate 117 Stone Age 184 Stoneking, M. 182f Stromatolithen 61 Strukturgene 35,111 Superoxiddismutase 118 Suppenschildkröte 139-143 Suwa, G. 169 Symbiose 81f, 137f Synapomorphien 28f synonyme Mutationen 102 Systematik 6 phylogenetische 27
T Taschenratten 146, 159 Taxonomie, numerische 26 Templeton, A. 182,186 Termiten 210f Tetrapoden, Ursprung 73f thermophile Bakterien 60,62 Thermus aquaticus 60 Thomas, K. 217 Thomas, R. 220 Thylacinus cynocephalus 26, 52, 205, 220f Transkription 12 Translation 12 Triploblasten 71f Troglodytes aedon 128 Turner, C. 192 Tyrannosaurus rex 227-229 Tyrannus tyrannus 128
U Urocyon cinereoargentus
153
V Variation genetische, siehe genetische Variation Vaterschaftsanalyse 120 Veränderungsrate von Proteinen 101-103 Verhaltensansteckung 140 Vigilant, L. 182 Viktoriasee 83f Villabianca, F. 217 Viren 103 Vorderextremität 21,24
W Wallace, B. 91 Wallace, D. 175, 192f
INDEX
Wanderungsverhalten 139-144 Ward, R. 193, 196 Wayne, R. 218f Werkzeugherstellung 184f White, T. D. 168f Whittaker, R. 56 Wielebnowski, N. 155 Wills,C. 183 Wilson, A. 30f, 33, 35, 83, 112, 175-179, 181, 186, 200-203, 205, 207 Woese, C. 58 Wolf 26,218f Wolpoff, M. 179f, 181 Woodward, S. 228-230
X Xenologie 44
Z Zuckerkandl, E. 96, 109 111, 163 Zwei-Reiche-Schema 56f Zwillingsarten 31
243
Originaltitel: Patterns in Evolution. The New Molecular View Aus dem Englischen übersetzt von Ina Raschke Amerikanische Originalausgabe bei The Scientific American Library, A Division of HPHLP, New York (W. H. Freeman and Company, New York) © 1997 Scientific American Library Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Lewin, Roger: Die molekulare Uhr der Evolution : Gene und Stammbäume / Roger Lewin. Aus dem Engl. übers, von Ina Raschke. – Heidelberg ; Berlin : Spektrum, Akad. Verl., 1998 Einheitssacht.: Patterns in Evolution ‹dt.› ISBN 3-8274-0222-0 © 1998 Spektrum Akademischer Verlag GmbH Heidelberg • Berlin Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, sind vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages photokopiert oder in irgendeiner anderen Form reproduziert oder in eine von Maschinen verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Es konnten nicht sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt. Lektorat: Frank Wigger, Martina Mechler (Ass.) Redaktion: Karin Zerfaß-Thome Produktion: Daniela Brandt Einbandgestaltung: Kurt Bitsch, Birkenau Gesamtherstellung: Graphischer Betrieb Konrad Triltsch, Würzburg