C. H. Guenter
DIE RETTUNG
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Dr. Parker schraubte die Nade...
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C. H. Guenter
DIE RETTUNG
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Dr. Parker schraubte die Nadel von der Injektions spritze und reinigte beide Teile in kochendem Wasser. Er tat dies mit großer Umsicht. Schon mikroskopisch winzige Reste des Medikamentes gingen mit Luftsauerstoff toxische Verbindungen ein. Dabei schaute er immer wieder zu dem Patienten hin. Er lag in dem Himmelbett aus Eichenholz, in dem schon Präsident Lincoln geschlafen hatte. Der Patient, weißhaarig und mit einem Schädel, den die Welt kannte, hatte die Augen geschlossen. Er atmete jetzt ruhig. Außer Dr. Parker waren noch der Hausarzt und der Chef der Leibwache anwesend. Beide hatten sie aufmerksam, aber ohne einen Satz von sich zu geben, die Behandlung verfolgt. Nachdem Dr. Parker seinen Arztkoffer geschlos sen hatte, geleiteten sie ihn hinaus in den Vorraum. Der Hausarzt fragte: „Glauben Sie, Kollege, daß Ihr Präparat bei ihm anschlägt? Man sagt, es habe auch dem alten Henry Ford geholfen." „Aber Henry Ford", antwortete Dr. Parker, „hat keinen Körper, der von Poliomyelitis geschwächt ist. Wenn Kinderlähmung, also Entzündung der grauen Rückenmarkstruktur, einen Mann im Alter von sechzig Jahren erwischt, dann gerat die kör pereigene Abwehr völlig durcheinander. Man kann
sagen, sie ist so gut wie nicht mehr vorhanden. Dann hat Krebs jeder Art freie Bahn. - Hoffen wir das Beste.« Der Hausarzt hatte noch eine Frage an den Spezialisten. „Werden Sie Ihre Behandlung fortsetzen?" Dr. Parker, eher klein und unscheinbar gegen diese stattlichen gutaussehenden Männer, ver neinte. „Nicht nötig. Entweder es wirkt, oder es wirkt nicht. Außerdem existieren von meinem Medika ment nur noch zwei Kubikinches. Knapp ausrei chend für den nächsten Patienten. Ich nehme an, Sie wissen, Herr Kollege, wer darauf wartet." Der Hausarzt war entsetzt. „Nur noch eine Ampulle gibt es davon?" „Auf dieser Erde", bestätigte Dr. Parker, der als Mediziner und Biologe mit siebenundzwanzig Jah ren beinahe vertrauensunwürdig jung war. „Auf dieser Erde." „Und, zum Teufel, warum produzierte man nicht mehr davon?" „Weil", antwortete der Forscher, „ich keine Fabrik bin, geschätzter Kollege. Weil ich das Präparat eigenhändig im Labor im Keller meines Hauses in Los Angeles zusammenbraue. Und zwar hinter verschlossenen Türen, damit mir keiner zusieht." „Nicht einmal Ihr Assistent darf das?" „Nur, solange es nicht patentiert ist", ergänzte Dr. Parker. „Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Jetzt, im Krieg, scheint es mir ohnehin kaum möglich." Zwei Soldaten der Wache eskortierten den Arzt nach unten. Zurück blieb in seinem Schlafzimmer 8
im ersten Stock des Weißen Hauses der schwer kranke Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die erste Märzwoche des Jahres 1943 hatte noch einmal den Winter zurückgebracht. Die Forsythien in den Parks von Washington hatte der Nachtfrost getötet, und der Schnee hatte sie gnädig eingehüllt. Die Reifen der Chevrolet-Limousine schmatzten im Matsch der Kongress Avenue Richtung Bahnhof. Im Fond des schwarzen Wagens, der zum Fuhr park des Verteidigungsministeriums gehörte, saßen Dr. Parker und sein Assistent. Obwohl dieser nur drei Jahre jünger war, herrschte zwischen ihnen eine Distanz wie zwi schen Rekrut und General. Der Assistent erkannte das Genie seines Chefs rückhaltlos an, und Parker wußte, daß sein Assistent tüchtig war, zuverlässig und ehrlich. Eine rare Mischung. Auch bei Medizi nern. Und besonders dann, wenn es um sensatio nelle neue Techniken ging. Sei es in der Chirurgie oder bei der Entwicklung von Medikamenten. „Sie nehmen also nicht das Flugzeug, Profes sor?" fragte Dr. Chandler. „Ich habe Angst vorm Fliegen", gestand Parker. „Und ich hätte Angst vor dem Nordatlantik mit seinen Frühjahrsstürmen." „Man hat mir", sagte Dr. Parker, „eine bequeme, gutgeheizte Kabine auf einem Handelsschiff ange boten. Es fährt inmitten eines Geleitzuges, der von Zerstörern und Korvetten geschützt wird." „Aber auch einen Liberator-Bomber", erwähnte der blauäugige, blonde Assistent, der sich äußer
lich von seinem Chef wie Siegfried von König Etzel unterschied. „Der Geleitzug wird etwa zwölf Tage brauchen. Schwere See macht mir nichts aus. Ich werde in der Koje liegen, zwischen New York und England jene Bücher lesen, die ich schon immer lesen wollte, und bestens erholt in London ankommen." „Der Bomber braucht nur einen halben Tag, Sir." Parker grinste beinahe bübisch. „Dann sind Sie zwei Wochen vor mir drüben. Viel Spaß in Soho. Wie ich hörte, gibt es kaum Heizmaterial, wenig zu essen, keinen Whisky, und jede Nacht jagen deutsche Flugzeuge die Bevölke rung in die Luftschutzkeller. No, sorry. Ich werde Churchill behandeln und zusehen, daß ich so schnell wie möglich wieder nach Kalifornien komme. Sollte ich aber durch besondere Umstände aufgehalten werden, dann setzen Sie dem Premier die Spritze, vorausgesetzt, das Krankheitsbild ent spricht den geheimen Berichten." Sie näherten sich dem Bahnhof. Obwohl die USA sich seit Pearl Harbor im Krieg mit Deutschland, Italien und Japan befanden, hatte sich am öffentlichen Leben wenig geändert. Wie immer belebten Taxis, Privatautos und Busse das Straßenbild. Menschen eilten unter Regen schirmen aus dem Bahnhof und in den Bahnhof. Es gab alle Zeitungen, in den Bars bekam man jeden gewünschten Drink, in den Restaurants lagen ungekürzte Speisekarten aus. Niemand hatte das geringste Problem, Schokolade, Zigaretten oder Nylonstrümpfe zu beschaffen. Der Dienstwagen hielt. Dr. Parker öffnete seine Arzttasche und holte 10
nach längerem Herumkramen eine Art Brillenetui aus verchromtem Blech heraus. Er öffnete es. Zwischen Wattepolstern lag eine Ampulle voll tannenhonigfarbener öliger Flüssigkeit, rötliches Gelb mit leicht grünem Schimmer. „Das ist alles, was Sie noch haben, Professor?" fragte der Assistent ungläubig. „Nehmen Sie es mit. Im Atlantik warten deut sche U-Boote." „Und über der Themse deutsche Messerschmitt, Sir." „Wenn wir wieder in Kalifornien sind", deutete der Professor an, „unterhalten wir uns über eine Produktion in größerem Rahmen." Der Assistent fühlte sich dadurch wie geadelt. Immerhin bestand für ihn jetzt die Aussicht, Mit wisser eines der größten Geheimnisse der moder nen Pharmazie zu werden, in die Herstellung eines Medikamentes eingeweiht zu werden, das bedeu tender sein würde, als das Penicillin Flemings. Dr. Parker wartete, bis der uniformierte Fahrer die Fondtür öffnete. „Kein Gepäck?" fragte der Sergeant. „Ist schon in New York." Parker beugte sich noch einmal in den Wagen. „Guten Flug, Chandler." „Gute Reise, Sir." „In zwei Wochen in Downing Street." Sie sollten sich nie mehr wiedersehen. — Sie blickten sich kurz in die Augen. In diesem Moment war es, als wüßten sie es.
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Um 0.55 Uhr Ortszeit am 5. März 1943 warf der alte Trampdampfer Black Rose die Leinen los. In langsamer Fahrt dampfte der Kohlenbrenner hin aus in den nördlichen Hudson River, dann in Richtung Upper Bay. Dort sammelten sich die übrigen sechzig Damp fer des Geleitzuges SC-122. Sie kamen von überall her. Aus Südamerika, durch den Panamakanal vom Pazifik, aus Kanada. Geladen hatten sie alles, was England brauchte, um den Krieg ertragen zu können. Fleisch, Mehl, Zucker. In der Hauptsache aber Öl, Waffen, Munition, riesige Mengen von Eisenpulver und Fahrzeuge aller Art. Insgesamt 400 000 Tonnen Ladung. Der Geleitzug SC-122 war einer von den langsa men. Seine Geschwindigkeit hing von der Maschi nenleistung des ältesten Schiffes ab. Sie betrug etwa sieben Knoten. Gegen Mittag gab der Geleitzugkommodore das Flaggensignal. In Kiellinie setzte die Kolonne sich in Bewegung. Die Wolkenkratzer von Manhattan versanken. Vom Marinestützpunkt Staten Island liefen die Geleitschutzfahrzeuge aus. Zerstörer, Korvettenund U-Boot-Jäger. Auf dem offenen Meer ordneten sich die Damp fer in fünf Linien. Selbst jetzt betrug die Länge des Konvois noch mehrere Meilen. Sie dampften den Ambrose Channel entlang, den man nach Minen abgesucht hatte. Am Feuerschiff Ambrose wurde der Lotse abgesetzt. Der Geleitzug hatte seinen Marsch angetreten. Generalkurs war Neufundland. Im Falle eines U-Boot-Angriffs waren die Schiffe in den äußeren Kolonnen am meisten 12
gefährdet und von ihnen wiederum die vorderen und die letzten. Deshalb hatte man dem Frachter „Galakta" das Zentrum der inneren Kolonne als Position zugewiesen. Nur der Kommodore und der Chef des Geleitzu ges wußten warum. An Bord der Galakta befand sich ein Mann, den die Admiralität kurz mit dem Prädikat kriegsentscheidend versehen hatte. Die Tausende von Handelsschiffsoffizieren und Matrosen, die Hunderte von Soldaten an den Kanonen und Flakgeschützen und die Besatzungen der Zerstörer, sie alle waren wichtig. Aber wirklich bedeutend, so hieß es, sei nur dieser eine Mann auf der Galakta. Noch ehe Neufundland erreicht war, setzte Sturm ein. Die ersten Fälle von Seekrankheit traten auf. Speziell bei Matrosen, die sich zwei Tage vorher in New York zu sehr alkoholisiert hatten. Mehrere Frachter wurden vom Sturm stark mitgenommen. Aufbauten wurden beschädigt, Ladung riß sich los. Rettungsboote wurden fortge rissen. Einige Schiffe verließen den Konvoi und steuerten Halifax in Neuschottland an. Doch das Gros dampfte weiter auf der Nordroute mit Generalkurs nach Osten. Es goß unaufhörlich. Der Sturm erreichte Orkanstärke. Die Temperatur bewegte sich nahe Null. Schließlich kam auch noch Schnee - und die deutschen U-Boote.
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Die deutschen U-Boote ließen sich Zeit. Offenbar warteten sie, bis noch andere Boote aus der Weite des Nordatlantik an den Geleitzug herangeführt worden waren. Dann würden sie in ihrer bewähr ten Rudeltaktik zubeißen. Am späten Nachmittag des 11. März sichteten die Geleitschutzfahrzeuge einige aufgetaucht fah rende U-Boote in etwa zwei Meilen Entfernung. Sie rasten auf sie zu, zwangen sie unter Wasser und bewarfen sie mit Wasserbomben, sobald sie die Boote im Asdic erfaßt hatten. Erfolge waren nicht zu erkennen. Die Boote konnten gewöhnlich durch Tieftauchen den Was serbomben entgehen. Am Ende des Geleitzuges verfolgte eine Korvette einen Fühlungshalter. Aber die neuen deutschen IX-C.-Boote liefen über Wasser zwanzig Meilen, und damit einer Korvette mühelos auf und davon. Dann kam die Dämmerung. Die Bedingungen für die U-Boote wurden optimal. Rauhe See, nicht zu hohe Dünung und ein Dreiviertelmond, gegen den die Frachter sich wie Scherenschnitte ausnahmen. Außerdem nutzten die U-Boote die Luftlücke. Der Geleitzug SC-122 hatte ein Gebiet erreicht, wo ihn die schützenden Liberator-Bomber aus den USA nicht mehr und die in Englang stationierten noch nicht erreichen konnten. Kurz vor Mitternacht lösten Torpedotreffer die ersten Explosionen aus. Reihenweise wurden Frachter getroffen und sanken. Ihre Signalraketen zeigten an, wenn ein Schiff nicht mehr zu halten war. Von überallher SOS-Rufe, aufgeregte Funk sprüche. Kopflose Besatzungen gingen in die Ret tungsboote. Totale Panik und Chaos brachen aus. Die alten Zerstörer der W-Klasse, sie stammten 14
noch aus dem Ersten Weltkrieg, hatten offene Brücken, waren schmal und schlingerten fürchter lich, rasten um den Geleitzug wie die Hunde um eine Hammelherde, um sie zusammenzuhalten und vor den Wölfen zu schützen. Wieder zwei Detonationen. Ein Benzintanker zerplatzte im Feuerball. Ein wertvolles Kühlschiff mit soviel Koteletts an Bord, daß England einen Monat davon leben konnte, hatte Ruderschaden, fuhr im Kreis und rammte einen Munitionsfrach ter. Beide sanken. Im Mondlicht wurden Torpedolaufbahnen sicht bar. Wich ihnen ein Dampfer aus, traf der Torpedo den nächsten, der gestaffelt in der Kolonne fuhr. Es war ein gnadenloses Massaker. Fahrzeuge, die stoppten, um Schiffbrüchige aufzunehmen, wurden ebenfalls Opfer der U-Boote. Um einen sinkenden Tanker brannte die See. Ausgelaufenes Öl, das auf dem Wasser schwamm, hatte sich entzündet und röstete die darin treiben den Matrosen. Der Geleitzugkommandant ließ immer wieder den Kurs ändern und schlug Haken, was aber zu einem heillosen Durcheinander führte. Niemand liebte die Konvoifahrerei, aber in die ser Nacht wurde sie gehaßt, wie kaum ein anderer Job in diesem Krieg. Der Kommodore stand auf der Brücke seines Führungsschiffes und nahm immer neue Horror meldungen entgegen. „Wo bleibt die Verstärkung?" fragte er erschüt tert. „Geleitfahrzeuge sind in Island ausgelaufen, Sir", hieß es, „können aber erst morgen da sein." „Und Flugzeuge?" 15
„Nicht vor morgen mittag, Sir."
„Wetter?" „Auffrischend bis Sturmstärke. Und Schnee." „Gut für uns", sagte der Kommodore. „Aber die armen Menschen im Wasser . . . " Keiner hielt diese Temperaturen länger als ein paar Minuten aus. Erst warf sie eine Explosion vom Schiff. Wenn sie dann noch lebten, erfroren sie in dieser Saukälte. „Verluste?" „Bisher elf Schiffe", sagte der Funkoffizier. „Totalverlust. Andere . . ." Plötzlich fiel dem Kommodore etwas ein. Sie dendheiß. Es stand in seinem Befehl. Die amerika nischen und britischen Stäbe hatten es ihm beson ders ans Herz gelegt. „Was macht die Galakta?" „Dampft weiterhin sieben Knoten. Kurs zwei undachtzig Grad. Mitten im Geleitzug. Die ande ren Schiffe bieten ihr Körperdeckung." „Lange geht das nicht gut", fürchtete der Kom modore. „Die Scheiß-U-Boote sind jetzt überall. Vorne, hinten, an den Flanken und in der Mitte. Sobald sie getroffen haben, lassen sie sich durch den Geleitzug durchsacken, wo sie kein Bewacher kriegt. Und wenn einem der Helden unser Herz stück, die Galakta . . . " Der Kommodore sprach nicht weiter. Er überlegte krampfhaft, wie er die Galakta aus der Torpedoschußlinie bekam. Denn erfahrungsge mäß ging die Schlacht noch mindestens drei Nächte weiter, bis das letzte U-Boot seine Aale verschossen hatte. Um 2.15 Uhr Ortszeit, also noch vier Stunden vor Dämmerungsbeginn, hatte der Kommodore, 16
von dem es hieß, er sei absolut rücksichtslos, aber auch so scharfsinnig, daß er durch eine Stahlwand sehen konnte, sich entschlossen. „Rufen Sie die Galakta", sagte er. „Geben Sie folgendes durch . . . "
Die Galakta war ein sogenanntes Liberty-Schiff. Diese häßlichen Dieselschiffe, von einem Kon strukteur namens Henry Kaiser erdacht, wurden serienmäßig hergestellt. Sie waren alle gleich gut und gleich schlecht. Das Gute an ihnen war die kurze Bauzeit. Täglich liefen einige von diesen 7200-Tonnern auf einer US-Werft von Stapel. Nur so waren die Versenkungen durch die deutschen U-Boote eini germaßen auszugleichen. Gut an ihnen war ferner, daß dreißigtausend Komponenten der Maschinenanlage, der Ruderan lage, des Navigations-, des Ladesystems bis zu Funk und Kombüse vorgefertigt waren und auf der Werft lediglich zusammengefügt werden mußten. Ebenso wie man Automobile am Fließband mon tierte. Bauzeit rund eine Woche. Weniger gut war die mangelhafte Qualität. Die Liberty-Schiffe wurden nicht genietet, sondern geschweißt. Das ging schneller und sparte Gewicht. Aber die Schweißnähte der ersten Serien hielten nicht. Bei schwerer See brachen sie auf. Bald nannte man die Liberty-Schiffe Kaisersärge - und das war schlecht. Die Galakta kam aus der dritten Serie, wo man die Mängel abgestellt hatte. Außerdem kam sie von 17
einer Werft in Suffolk, die für ihre Qualität bekannt war. Der Mann in der Kabine unmittelbar hinter der des Kapitäns hatte tief geschlafen. Gegen Mitter nacht war er aber durch zwei Ereignisse erwacht. Erst durch die fernen Detonationen, die wie Gong schläge durch das Schiff dröhnten, dann dadurch, daß die Galakta sich plötzlich anders bewegte. Es war, als würde ein Mann, der vorher über Geröll geklettert war, auf einer flachen frisch gemähten Wiese Spazierengehen. Dr. Parker verließ die Koje, streifte den dunklen Pullover über und zog den pelzgefütterten Wach mantel an. So erschien er auf der Brücke. Der Kapitän nahm Parkers Anwesenheit wortlos, aber nicht gerade begeistert zur Kenntnis. Er war es gewohnt, seinen prominenten Passagier erst beim Frühstück anzutreffen. - Nun, dieser ver dammte U-Boot-Angriff hatte ihn wohl aufge weckt. Gähnend fragte Dr. Parker: „Wie sieht's aus, Käpt'n?" „Schlimm, Sir." „Das Rote am Horizont ist nicht die Dämme rung?" „Der halbe Geleitzug brennt." „Ach du guter Gott!" Der Arzt trat neben den Rudergänger, der den beleuchteten Kompaß vor sich hatte. „Neuer Kurs?" fragte Dr. Parker. „Wir machen einen Schlag nach Norden, Sir." „Nicht mehr gegen die See." „Nicht mehr so sehr gegen die See", bemerkte der Kapitän. „Wir fahren auch schneller." 18
„Ja, vierzehn Knoten", erklärte der I. Offizier, der die Hundewache ging. Er fürchtete, daß von Dr. Parker noch eine Menge Fragen kamen. Parker fragte ja immerzu. Und was jetzt vorging, paßte nicht in das Bild, das ihm die bisherige Reise über einen Konvoi vermit telt hatte. „Dachte, SC-122 ist ein langsamer Geleitzug", bemerkte Parker. „Richtig, Doktor." „Wir haben bisher mit Mühe sieben Knoten gemacht." „Acht", verbesserte der I. Offizier, „denn wir hatten Rückenwind. Aber die Maschinen liefen Umdrehungen für sieben Knoten, damit der lang samste Kohlenbrenner gerade noch mitkam." Dr. Parker nahm eines der Ferngläser aus dem Schrank, setzte es an und schaute lange hindurch. Dann lieh er sich einen Wildlederlappen, um die Linsen zu reinigen. Aber auch jetzt konnte er keines der anderen Geleitzugschiffe ausmachen. „Haben wir den Konvoi verloren?" Es begann, in nassen Flocken zu schneien. Bin nen einer Minute wurde Schneegestöber daraus, so dicht, daß es schwerfiel, den Deckel von Luke III zu erkennen. Dr. Parker war gewohnt, logisch zu denken. Also dachte er auch so. Sie hatten den Kurs geändert. Sie liefen doppelt so schnell wie im Konvoi möglich, und kein anderes Schiff war mehr zu sehen. „Wir haben den Geleitzug verlassen", kombi nierte er. Der Kapitän, ein massiger, etwas wortkarger 19
Sailor aus Baltimore, nickte. Dann steckte er die Pfeife in den Mundwinkel und zündete sie erneut an. „Befehl vom Kommodore", sagte er. „Und wenn uns nun ein U-Boot kriegt?" „Damit uns keines kriegt, greifen wir zu dieser Taktik, Sir. Sie rechnen mit etwa achtzig U- Booten. Die Schlacht wird sich hinziehen. Keines der Schiffe im Konvoi ist sicher." „Und hier allein auf weiter See?" „Schon eher", meinte der Kapitän. „Wir sind ein Schnelläufer. Wir hängen jedes U-Boot ab. Außer dem ist das Wetter auf unserer Seite. Erst Schnee, und weiter oben auf Grönland zu geraten wir in Nebelbänke. Danach ist Orkan angesagt mit einer Stärke, bei der die U-Boote den Arsch einziehen und ihr Heil in der Tiefe suchen. Noch Fragen, Doktor?" „Nein." „Das wär's dann." „Wie lange verzögert das unsere Ankunft, Ka pitän?" „Kaum, Sir", erklärte der I. Offizier, der für die Navigation verantwortlich war. „Wir schlagen zwar einen Bogen nach Norden mit tausend Meilen Umweg, aber wir schaffen nahezu zweihundert Meilen mehr pro Tag. In fünf Tagen haben wir das leicht aufgeholt. Vielleicht sind wir sogar früher als SC-122 in Schottland."
„Danke." Der Arzt ging wieder in seine Kabine und zu Bett. Aber einschlafen konnte er nicht. Also machte er wieder Licht. Er griff zu seinen Aufzeichnungen, die in der Büchernische auf der Innenseite der Koje 20
lagen und öffnete den wasserdichten Behälter mit den Notizheften. Er schrieb hinein, was ihm durch den Kopf ging. Es handelte sich um die Anordnung eines Labor versuchs, um sein Präparat, das Parker-Serum, besser zu reinigen. Ein kompliziertes Verfahren, das sich wohl nur bei Großproduktion rentierte. — Auch wollte er die Suche nach billigerem Rohma terial ausweiten. Wenn die Großproduktion erst einmal lief, würde diese kleine Amazonas-Eidechse wohl bald ausgerottet sein. Wenn man überhaupt noch welche bekam, mußte man ihr Gewicht vermutlich in Gold aufwiegen. - Mit den Pflan zenextrakten ging es ähnlich. Also mußte er einen anderen Weg finden, nämlich den der Zellvermeh rung. Zum Schluß schrieb er in sein Tagebuch: Meine geliebte Mary! Ich denke an dich. Nur dann fühle ich mich einigermaßen. Noch eine Woche bis England. Hoffe, Sir Winston C. helfen zu können. Er ist der wichtigste Mann an der Front. Wenn einer die Kräfte sammeln kann, um Hitler zu besiegen, dann er. Also nicht jammern. Vertrage das Bordessen nicht. Habe Kopfschmer zen. Was mir fehlt, sind deine Diätküche und deine beruhigenden Hände. Eine deprimierende Zeit. Man fühlt sich wie in Ketten. Aber ich bin vom Schicksal bestimmt. Und wer auserwählt ist, der muß es tun . . .
Der Liberty-Frachter Galakta meldete zweimal seine Position. Dann riß der Funkverkehr ab. In Island starten zwei Liberator-Fernaufklärer, 21
um die Galakta zu suchen. Die Maschinen blieben neunzehn Stunden in der Luft und landeten mit dem letzten Tropfen Sprit in St. Johns auf Neu fundland. Sie hatten viele Tausend Quadratmeilen des Meeres zwischen der Dänemarkstraße und Cap Farwell überprüft. - Aber von der Galakta fehlte jede Spur. Daß der Schnellfahrer einem deutschen U-Boot in die Hände gefallen war, wurde vom Londoner Marinestab in dem häßlichen, gefängnisähnlichen Betonbau zwischen Horse Guard und The Mall heftig bestritten. — Ein U-Boot hätte diesen Erfolg an Dönitz nach Berlin gefunkt. Sämtliche U-Boot-Meldungen wurde abgehört. Es gab keine dieser Art. Als die Galakta nach Wochen, nach Monaten nicht wieder aufgetaucht war, schloß man die Akte mit dem Vermerk: MS Galakta. Verbleib unbekannt. März 1943. Das Schicksal des Dampfers Galakta wurde zum größten Rätsel aller Geleitzüge des Zweiten Welt krieges. 2. Sobald der Sarg mit dem Toten die Grenze nach Deutschland überquert hatte, verließ er den Zuständigkeitsbereich des Bundesnachrichten dienstes. Dann würden sich andere darum küm mern. Der Militärische Abschirmdienst wartete schon auf die Leiche, denn sie gehörte einem Mann namens Hans Endress, einem Kapitänleutnant der Bundesmarine. 22
Deshalb reiste der BND-Agent Robert Urban dem Toten bis Kopenhagen entgegen. Am Flugha fen Kastrup holte ein Kollege vom dänischen Ge heimdienst ihn ab. Er war das Gegenteil von einem Wikingertyp. Er sah eher aus wie der Sohn, den ein Wikinger mit einer Sizilianerin gezeugt hatte. Mittelgroß, hager, braunhäutig und schwarzhaarig, Nur in seinen Augen schimmerte etwas wie Nordsee. „Danke, Sven", sagte Urban, als sie über die Brücke fuhren, die die Insel Amager von der Stadt trennte. „Das nenne ich Zusammenarbeit. Jetzt haben Sie bei mir mehrere Steine im Brett." „Mit einer Oktoberfesteinladung ist alles bezahlt", scherzte der Däne. „Schön, dann erwarte ich Sie in vier Wochen in München." Der Däne kam jetzt zum Thema und erzählte, was er am Telefon nicht lang und breit hatte ausführen können. „Sie fanden ihn in Südgrönland." „Und Grönland gehört zur dänischen Krone", zeigte Urban sich informiert. „Aus der EG ausgetreten ist es auch." „Nachdem es Milliarden an Subventionen kas siert hatte." „Sie bereuen es schon", sagte der Däne. „Wo fand man ihn?" „An der Südspitze nahe Cap Farewell. Wir haben es auf der Karte eingezeichnet. Sie kriegen von mir eine Fotokopie der Karte." „Wann geschah es?" „Ist jetzt drei Tage her. Ein Wunder, daß man ihn so schnell herüberflog." „Wer fand ihn wo?" 23
„Eskimos. Am Strand." „Und wie?" „In der Verfassung, wie man ihn zu uns brachte. Er steckte noch im Taucheranzug. Inzwischen haben wir ihn davon befreit. Mit den Gummikla motten und dem Sauerstoffgerät paßte er nicht in den Kühlcontainer im Leichenschauhaus." „Immerhin bemerkenswert, daß man ihn als Deutschen identifizierte. Gibt es Polizei dort oben?" „Ja, einen Gendarm für einen Distrikt so groß wie Jütland. Trotzdem lieferte man uns einen brauchbaren Bericht. Kapitänleutnant Endress hatte sich bei Eskimos eingemietet. Er gab vor, Tauchtests mit einem neuen Neoprenanzug in kalten Gewässern vorzunehmen. Aber das war wohl nicht seine Absicht." „Er tauchte", stellte Urban fest, „und kam dabei um." „Aber er suchte etwas unter Wasser. Er fuhr mit einem motorisierten Schlauchboot hinaus. Man fand das Boot an einem Treibanker auf Tiefenlinie fünfzig." „Was gibt es dort zu finden?" „Nichts zu suchen, nichts zu finden. Vielleicht Lachse, vielleicht sich paarende Robben, ein paar Klippen, und bald schon wieder Treibeis." „An den Tauchtest glaube ich nicht. Das macht nie einer allein", bemerkte Urban. „Die Leute da oben sind ehrlich bis auf die Knochen", sagte der Däne. „Sie gaben alles zu Protokoll. Was der Tote sagte, was er tat und jeden Schritt, den sie beobachtet haben. Sie haben alles, was ihm gehörte, in eine Mülltüte gepackt." „Und wo ist die Tüte?" 24
„In meinem Büro." „Was enthält sie?" „Den Gepäcksack. Zivilanzug, Wäsche, Foto, ein Tagebuch, angefangene Briefe, Geld. Außerdem noch seinen Paß, eine Seekarte der Küstengebiete, Kognak, Konserven, eine Thermosflasche mit Kaf fee und, und . . . " Urban überlegte so lange, daß der Däne fragte: „Ist ein Problem aufgetaucht?" „Wohin fahren wir zuerst? Ins Schauhaus oder in Ihr Büro?" „Das Schauhaus liegt auf dem Weg." Sie kamen die Amager-Straße herein, fuhren auf der Andersenstraße weiter und bogen am Raadhus Pladsen in die Altstadt ab. Es war ein sonniger Tag mit hellem nordischen Licht, dem hohen wolkenlosen Himmel und mit einer Luft wie Sekt. Vor Stunden, in München, war es noch föhnig und schwül gewesen. „Sie sehen gut aus, Colonel Urban", sagte der Däne. „Man hört eine Menge, aber alles scheint spurlos an Ihnen vorüberzugehen. Sie erinnern mich ein wenig, ich meine vom Aussehen, von der Figur her, an . . . wie heißt er doch noch?" „Bitte sagen Sie nicht Mister Dynamit." „Ich dachte an diesen Amerikaner. Ach ja, Rock Hudson. Der hatte auch dieses Lächeln drauf." „Er ist gestorben." „Tut mir leid." „An Aids", ergänzte Urban. „Auch das noch. Verzeihung, ich wollte damit nicht. . . " „Schon okay", sagte Urban.
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Die Leiche des Kapitänleutnants zeigte nicht die Spur von Gewaltanwendung. Der Pathologe bestä tigte es. „Tod durch Sauerstoffmangel", lautete seine Erkenntnis. „In solchen Fällen", wandte Urban ein, „taucht man doch auf, denke ich." „Oder durch Vordringen in zu große Tiefen." „Er war ein erfahrener Taucher", sagte Urban, „hörte ich." Der Tote war Marineoffizier gewesen und in Grönland auf rätselhafte Weise umgekommen. Der Sturm hatte ihn an den Strand gespült. Der BND hatte davon erfahren und konnte gar nicht anders als nachfassen. — Deshalb stand Urban, Agent mit der Codenummer 18, jetzt hier. Er untersuchte die Leiche, so gut wie das einem Laien möglich war. Er fand keine Wunde, keinen Einstich, auch nicht hinter dem Ohr oder unter den Zehen. „Den Mundbereich haben wir ebenfalls abge sucht", versicherte der Arzt, „und auch die ande ren diskreten Stellen wie After, Penis, Hoden et cetera." Der Pathologe, ein zittriges Männchen, diente hier offenbar die letzten Jahre vor seiner Pensio nierung als Amtsarzt ab. „Und die Todesursache?" wiederholte Urban seine Frage. Der alte Herr war damit überfordert. Er rollte die eckigen Schultern, als müßte er eine Last abschütteln. „Herzschwäche, Kreislaufkollaps", vermutete er. „Ein voll bordtauglicher Marineoffizier?" bezweifelte Urban die Diagnose. 26
„Genaues kann nur die Obduktion erbringen." Das war hier nicht möglich. Darüber mußten deutsche Behörden entscheiden. Dazu mußte man erst einem Staatsanwalt klarmachen, daß es sich möglicherweise nicht um Unfall, sondern um Mord handelte. - Doch darauf gab es keine Hinweise. „Danke", sagte Urban. Sie fuhren in Svens Büro. Es lag in einem kasernenartigen alten Gebäude aus Ziegelsteinen hinter dem Christianborg Palast, dem Sitz des Parlaments. Teile des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs waren hier untergebracht. Ein Staat wie Dänemark maß seiner Armee wenig Bedeutung bei. Dementsprechend waren die Räume. - Und der Geheimdienst hatte die ärmlichsten davon. — Sie waren klein, hatten Ofenheizung und Fenster, die nach hinten hinausgingen. Einen Anstreicher hat ten sie seit der Schlacht bei den Düppeler Schan zen auch nicht mehr zu sehen bekommen. Die Habseligkeiten des toten deutschen Kapitän leutnants lagen in einem Plastikmüllsack in der Abstellkammer. Urban leerte den Sackinhalt auf den Boden und prüfte jeden einzelnen Gegenstand. Schon in wenigen Tagen würden die Experten der Militärischen Abwehr, von Verfassungsschutz und BKA dasselbe tun. Deshalb ging er sorgfältig vor. - Aber nur zwei Dinge fanden sein Interesse. Die Thermosflasche und das Ringbuch des Toten. In der Thermos schwappte noch Kaffee. Endress hatte sich eine tüchtige Portion mitgenommen. Urban roch daran. Der Kaffee war mindestens eine Woche alt und nahezu geruchlos. Trotzdem 27
füllte Urban wenige Kubikzentimeter davon in seine Reiseflasche ab. Vorher hatte er jedoch den Rest Bourbon ausgetrunken, die Flasche mit hei ßem Wasser gespült und sie durch mehrmaliges Herumschleudern am ausgestreckten Arm ge trocknet. „Was machen Sie da, Kollege", fragte Sven erstaunt. „Sieht aus, als würden Sie den Baden weiler Marsch dirigieren." „Nur eingeschlafene Füße", sagte Urban. Dann überflog er die Eintragungen des Toten im Ringbuch. Endress beschrieb darin seine Reise nach Südgrönland vom Abflug in Hamburg aus. Er hatte Einzelheiten über die Natur und das Wetter notiert. Demnach war es unfreundlich gewesen. Endress hatte wegen der Kälte des Wassers mit dem Tauchen gezögert. Seine letzte Eintragung war ein Brief, den er aber nicht zu Ende geschrieben hatte. Lieber Otto! Ich habe es gefunden. Die Koordi naten von „D's"-Leuten am Berliner Tirpitz-Ufer sind überraschend genau. Morgen hoffe ich, das Rätsel um den wichtigsten Gegenstand, der im Jahre 1943 den Atlantik von West nach Ost über queren sollte, zu lösen . . . An dieser Stelle hörte der Brief auf. Er war noch nicht aus dem Ringblock gerissen. Hinten steckte ein vollständig adressierter Umschlag. An Herrn Otto Westphal, Flensburg, Straße und Hausnummer. Der Umschlag war bereits frankiert. Da es sich um Beweismaterial handelte, fertigte Urban eine Fotokopie an. Einigermaßen verwun derte ihn, daß sich nirgendwo ein Hinweis auf den Gegenstand, den Endress gefunden hatte, ebenso 28
wenig wie eine Seekarte und Angaben über den Lageort fanden. Wenn Endress getötet worden war, hatten die Mörder alle Spuren getilgt. - Da ein Mann wie Endress kaum ohne Seekarten mit präzisen Orts angaben reiste, hatte hier jemand Nachschau gehalten. — Damit bekam die Mordtheorie Ge wicht. Fragte sich nur noch, wie sie es gemacht hatten. - Ob Endress Feinde hatte? Vielleicht wußte Otto Westphal mehr darüber. „Darf ich Sie zum Essen einladen, Sven?" fragte Urban den dänischen Kollegen. „Ein andermal." „Auch nicht in einen Luxusschuppen an der Langelinie. Ins Little Mermaid vielleicht?" Mit seiner Antwort bewies der Däne ein erstaun liches Einfühlungsvermögen. „Ich sehe doch, Colonel, wie es Ihnen unter den Nägeln brennt." „Woran erkennt man das?" fragte Urban an standshalber. „An Ihrem häufigen Blick auf die Uhr. Wenn wir uns beeilen, kriegen Sie noch die Abendmaschine nach Hamburg." Und in Hamburg die nach München, dachte Urban.
In Hamburg-Fuhlsbüttel hatte Urban fünfzehn Minuten Zeit. Statt einen Bourbon zu nehmen, ließ er sich von der Telefonauskunft die Nummer von Otto Westphal in Flensburg geben und rief dort an. 29
Eine Frauenstimme meldete sich mit „Hallo!" Alter der Dame, grob geschätzt, siebzig. Er nannte seinen Namen und fragte höflich. „Bedaure, mein Sohn ist verreist." „Geschäftlich?" „Sie meinen dienstlich", verbesserte die alte Dame ihn. „Nein, er beantragte kurz entschlossen seinen Urlaub. Den von heuer und den vom letzten Jahr. Es ging alles sehr hoppla hopp." Urban begann zu lügen. „Ich soll ihm Grüße von Herrn Endress be stellen." „Ist Endress nicht in Island oder wo?" „In Grönland." „Ja, er ist ein Kamerad meines Sohnes. Eigent lich wollten sie zusammen weg, aber mein Sohn war wegen der Sommermanöver in der Ostsee unabkömmlich." Urban setzte die Mosaiksteine zusammen. Ein Kamerad ihres Sohnes, das bedeutete, daß auch Westphal Marineoffizier war. Die Manöver in der Ostsee bestätigten es. „Ist Ihnen bekannt, ob er zu Endress nach Grönland flog?" Die alte Dame lachte. „Nein, da bin ich ganz sicher. Mein Sohn hielt nicht allzuviel von dieser Idee. Es gab wohl irgendeinen Ärger, und er reiste nach Spanien. Mallorca, Ibiza. Mein Sohn liebt es, stets ohne feste Buchung loszufahren. Er behauptet, einer allein finde immer ein Bett. Bevor mir die Decke auf den Kopf fällt, sagte er, muß ich sechs Wochen aus spannen." Wenn man die Urlaubstage, die einem Marineof 30
fizier in zwei Jahren zustanden, zusammenzählte, kamen leicht sechs Wochen heraus. „Ich hätte ihn gerne gesprochen", sagte Urban. „Und sei es telefonisch." „Er hat mir eine Ansichtskarte aus Barcelona geschrieben." „Darf ich Sie wieder anrufen?" „Aber gern", erlaubte die Dame mit dem char manten Tonfall der nördlichen Küstenbewohner. »Liegt irgendein besonderer Grund vor?" „Wir sind", log Urban, „ein Freundeskreis." „Klar", verstand die alte Dame. „Freunde von Freunden von Freunden. Wie war doch Ihr Name?" „Urban", sagte der BND-Agent Nummer acht zehn. Dann wurde die LH-Maschine nach München aufgerufen.
Von München-Riem fuhr Urban in sein Büro im BND-Hauptquartier in Pullach. Es ging auf 22.00 Uhr. Mit der ihm eigenen Mischung aus Neugier, Energie und Rücksichtslosigkeit brachte er das Labor auf Trab. Die zwei Chemiker, die noch in der Technischen Abteilung herumsaßen, waren wenig entzückt. „Eigentlich ist schon seit vier Stunden Feier abend." Urban ließ sich schon längst nicht mehr auf Diskussionen darüber ein, was Gewerkschaften für reguläre Arbeitszeit hielten. Der BND war schließ lich auch kein regulärer Laden. Er stellte ihnen die silberne Reiseflasche hin. 31
„Bitte um Analyse." „Inhalt?" „Kaffee." „ Dann handelt es sich um Wasser, Koffein, Aromastoffe, Farbstoffe, Zellbestandteile, Zucker, Milchsäure, Fettstoffe und so weiter", zählte der Chemiker auswendig auf. „Und so weiter", wiederholte Urban. „Darauf kommt es an." „Was vermuten Sie?" „Etwas, das einen Mann umbringt." „Wünschen Sie sich nicht zu viel", sagte der andere. „Es könnte in Erfüllung gehen." „Bis morgen früh", wünschte Urban seinerseits, „und gute Nacht." Am Donnerstag führte ihn sein erster Weg in die Stralman-Abteilung im Basement des BNDHauptquartiers. Der Professor saß in seinem Büro und heizte die Pfeife an. „Stinkt hier mächtig", sagte Urban. „Nicht mein Tabak." „Na schön, atmen wir langsamer." „Guten Morgen, mein Junge", höhnte Stralman. „Guten Morgen, Professor Doktor." Der Wissenschaftler, der die vielhundertköpfige technisch-wissenschaftliche Abteilung in Schwung hielt, liebte Urban wie einen Sohn und Urban ihn wie seinen Lateinlehrer. Stralman hatte vor sich einen Hefter liegen. Darin klemmte ein winziger Zettel. „Die waren ganz schön sauer", sagte Stralman, „Was glauben Sie, was ich sein werde, wenn mich wieder mal einer in Asien oder in Afrika durch den Wolf dreht und in der Pfanne brät. In 32
diesem Dienst fällt die Arbeit eben dann an, wenn andere Weihnachten feiern. Was soll's." Stralman, der es auszubaden hatte, wenn seine Leute unzufrieden waren, reichte Urban den Zettel aus dem Hefter. Ein Wort mit acht Buchstaben stand darauf. „Hyperton", las Urban. „Klingt medizinisch." „Es befand sich im Kaffee. Eine starke Uberdo sis davon." „Und was ist Hyperton, bitte?" „Eines der stärksten blutdrucksenkenden Medi kamente. Es haut den höchsten Blutdruck im Nu von zweihundert auf sechzig runter." „Geschmacklos, geruchlos?" „Völlig." „Und die Wirkung?" „Auf einen Menschen mit normalem Blutdruck, sagen wir hundertzehn zu achtzig, wirkt es absolut verheerend. Er wird müde, schlapp, schläft fast im Stehen ein. Im Extremfall kann es zur Katastrophe führen, zum Kreislaufzusammenbruch." „Und wenn der Betroffene unter Streß steht, sich körperlich anstrengt?" „Zum Beispiel?" „Beim Joggen." Stralman putzte seinen Zwicker, setzte ihn sorg sam auf und zog heftig an der Pfeife. „Dann hört er auf zu rennen, setzt sich hin und wartet, bis es vorbei ist." „Und unter Wasser?" stellte Urban die nächste Frage, „auf vierzig Meter Tiefe, bei fünf Grad Temperatur?" „Scheiße wär das", äußerte Stralman. „Vornehm ausgedrückt. Da kann einer rasch ex gehen." 33
„Im Sinne von Abnippein oder über den Jordan schwimmen?" „Ja, in genau diesem Sinne", bestätigte der Professor, heute im weißen Mantel, denn es war ein ungerader Tag im Kalender. „Liegt in diesem Gesinne etwas vor?" Urban beantwortete diese Frage nicht, sondern stellte eine neue. Aber diese mehr sich selbst. „Wer mischte ihm das Hyperton in den Kaffee?" „Dem Taucher?" kombinierte der Professor. „Wie wird Hyperton verabreicht?" „Vermutlich in Tablettenform, als Tropfen oder als Spritze." „Tabletten sind meist weiß und morbide. Man kann sie zerbröseln, unter Zucker mischen. Trop fen kann man vorher in Milch verrühren oder einfach in eine Thermosflasche geben." „Es gibt jede Menge Möglichkeiten", meinte Stralman. Urban verstärkte sein angeborenes Lächeln, das er schon gut fünfunddreißig Jahre lang benutzte. „Dann war es Mord." „Probleme?" fragte Stralman kurz. „Zumindest etwas", gestand Urban, „auf das ich gern verzichtet hätte." Der Kapitänleutnant der Bundesmarine, Hans Endress, war also getötet worden, als er in einer Bucht Südgrönlands nahe Kap Farewell nach irgend etwas tauchte. — Wonach hatte er gesucht, und wer hatte ihn umgebracht? Urban rief noch einmal in Flensburg an. Aber Frau Westphal hatte noch nichts von ihrem Sohn gehört. Beim BND hatte man inzwischen ermittelt, daß 34
Otto Westphal Kommandant eines Schnellbootes einer Ostseeflottille war. Morgen, spätestens am Montag, würde der Tote in die Bundesrepublik überführt werden. Dann würden sich die anderen um ihn kümmern. Urban sah seinen Vorsprung zusammen schmelzen. Vielleicht handelte es sich doch um einen Unfall. Die Möglichkeit bestand immerhin. Aber sie war kleiner als zehn zu eins.
3.
Schon als zwölfjähriger Knabe hatte er sich vor Gleichaltrigen ausgezeichnet. Er lief schneller, sprang höher und warf den Stein weiter. Im Denken und beim Pokern steckte er sie alle in die Tasche. Das war in jener Zeit gewesen, als der Zweite Weltkrieg anfing, sich auch in Kuba bemerkbar zu machen. Die Lebensmittel wurden teurer, plötzlich gab es dieses und jenes nicht mehr. Er aber war seinen Weg gegangen. Als Student war er der Fleißigste, als Soldat der Mutigste und später, als die Guerilleros Battista verjagten, auch der Tapferste. Er hatte solange behauptet, der Beste zu sein, daß er wirklich daran glaubte. Denn wenn er nicht daran glaubte, hätte er längst aufgeben müssen. Nun war er der zweithöchste Mann in diesem Land. Er genoß die Liebe und das Ansehen des Volkes. - Er hatte alles erreicht. Seine Ideale hatte er verwirklicht. Er besaß Macht, ein Haus in einer 35
Bucht über dem Golf, eine schöne Geliebte, und Luxus umgab ihn. Und jetzt das . . . Der muskulöse kräftige Mann in der grünen Kampfuniform der Castro-Clique krümmte sich zusammen. Der Schmerz im Oberbauch war kaum noch auszuhalten. Erst hatte es ihn nur nach dem Essen gepeinigt. Dann war es öfter gekommen. Dazu unregelmäßi ger Stuhlgang. Wenn es jetzt kam, dann blieb es für Stunden. Es setzte ihm so zu, daß ihm der Schweiß ausbrach. — Jeder andere hätte laut geschrien, aber er hatte gelernt, Schmerzen wegzudenken. Es ist gar nicht vorhanden, dachte er. Alles nur Nervensache. Doch bald hielt er es nicht mehr aus. „Doktor!" rief er. Der Leibarzt des Vizepräsidenten war einge schlummert. Das schier endlose Besuchsprogramm in Kolumbien und der lange Flug übers Meer nach Havanna hatten ihn ermüdet. Er schreckte hoch, drückte sich aus seinem Sessel und eilte durch die Kabine nach hinten. Sofort sah er, was los war. Automatisch fühlte er den Puls von General Rodriguez. Er war leicht überhöht. Doch der Pulsschlag allein sagte wenig aus. Der General preßte die Hände auf seinen Leib. Der Arzt nahm sie weg und tastete den Oberbauch ab. Er spürte die spastische Verhärtung. „Wie immer?" fragte er. „Schlimmer." Schlimmer, das bedeutete, daß es nicht mehr zu ertragen war. 36
„Tun Sie was, Doc", keuchte der General. Der Arzt setzte dem zweiten Mann im Staat eine schmerzstillende Spritze. Zwanzig Milligramm Morphium. Mehr konnte er nicht riskieren. Dreißig Milligramm brachten einen Mann um. Obwohl sich die alte Propellermaschine in den Böen heftig bewegte, blieb der Arzt neben dem General stehen und wartete, bis die Wirkung einsetzte. Rodriguez begann sich zu entspannen. „Besser?" „Ein wenig." Der General wirkte erschöpft. „So geht es nicht weiter", warnte der Arzt. „Was?" „Daß Sie die Sache ignorieren." „Ich habe zu viel gegessen." „Sie essen seit Wochen zu wenig und nur Leicht verdauliches", erklärte der Arzt. „Außerdem haben Sie seit dem Frühjahr vierzehn Kilo abgenommen." „Ich fühle mich wohl dabei." „Bis auf die Anfälle", bemerkte der Arzt. „Dann fühlen Sie sich beschissen, und die Anfälle treten immer öfter auf." „Mach dir nicht in die Hosen, Doc", sagte der Mann mit dem seltenen Dienstgrad eines General admirals und Vizepräsidenten. „Verzeihung, und bei allem Respekt, Genosse General", erwiderte der Arzt, „der nächste, der sich in die Hosen macht, werden Sie sein. Und zwar dann, wenn Sie nicht damit rechnen." „Dann trage ich eben Gummischlüpfer." „Entweder Sie unterziehen sich einem Grund check im Armeehospital", fuhr der Arzt fort, „oder ich gebe bald keinen Peso mehr für Ihr Leben." Sie waren alte Guerilleros und schätzten einan 37
der. Grobheiten waren erwünscht, Schmeicheleien verpönt. „Was kann es sein?" fragte der General, der längst ahnte, wie es um ihn bestellt war. Der Arzt wußte, was es war, antwortete aber nicht. Er wartete, bis der General schlief, dann eilte er ins Cockpit. „Wann sind wir da?" fragte er den Kapitän. Der Oberst rechnete. „In zwei Stunden." „Ruft schon mal eine Ambulanz." „Zum Flugplatz?" fragte der Funker. „Wohin sonst wohl." „Wird sofort erledigt", bestätigte der Funker.
Im Armeehospital waren Ärzte und Hilfspersonal vereidigt und zu absoluter Geheimhaltung vergat tert. Der Internist, der den Generaladmiral als erster untersuchte, sagte: „Was Schweigen betrifft, Genosse Präsident, sind wir hier mit einem Trapistenkloster zu ver gleichen oder mit einem Priester, der die Beichte abnimmt." Der Patient wurde nach jedem Detail seiner Beschwerden befragt. Dann mußte er durch die Testmühle. Anschließend wertete das Ärzteteam die Ergeb nisse aus. Neue Untersuchungen, jetzt schon gezielter, folgten. Bis es dem alten Guerillero zu bunt wurde, und er forderte: „Genossen, die Wahrheit, bitte." 38
„Wir kennen sie noch nicht", hieß es. „Wenn Sie mir die Wahrheit nicht sagen, Genos sen, sorge ich dafür, daß Sie bei der Zuckerrohr ernte Ihre sozialistische Gesinnung beweisen können." Sie hatten alles an ihm überprüft. Sie hatten Magenspiegelungen, Darmspiegelungen, Bauch raumspiegelungen vorgenommen. Sie hatten das Blut untersucht, den Urin und den Stuhl. Sie hatten Blut darin gefunden und Sachen, die ihnen nicht gefielen. Sie hatten Gewebeproben genom men und histologisch untersucht. Das Ergebnis hatte ihnen noch weniger gefallen. Es deutete auf Geschwüre im Magen und im Darm hin. Gutartig oder bösartig, das ließ sich nur durch eine Opera tion zweifelsfrei klären. „Niemals", schrie der Patient. „Hören Sie, Ca balleros, ich lasse mich nicht aufschneiden." Es ging ihm besser. Er fuhr ins Ministerium. Dort arbeitete er die angefallenen Vorgänge auf. Am Abend ließ er sich nach Hause bringen und hatte wieder höllische Schmerzen. - Zwei Tage später lag er auf dem Operationstisch. Sie schnitten ihn auf und nähten ihn gleich wieder zu. Sie hatten gesehen, was los war. Krebs. Metastasen, Tochtergeschwüre überall. „Zu spät", lautete das Urteil der Ärzte. Der General erfuhr es. „Wie lange noch?" fragte er. „Drei Monate oder. . . " „Oder was?" „Oder weniger," „Gibt es Wunder?" „Nein." „Medikamente?" 39
„Kaum." „Also keine wirksamen." Der Arzt blieb die Antwort schuldig. „Ist es schmerzhaft?" wollte der General wissen. „Nicht, solange die Injektionen wirken. Aber irgendwann werden die Schmerzen stärker sein als das Morphium." „Fabelhafte Aussichten", scherzte der zweite Mann im Staate Kuba. „Es ist ganz einfach", erklärte der Leibarzt anläßlich der Visite in Rodriguez' Villa. „Man kann jeden Schmerz mit Morphium stillen, aber einmal wird die nötige Dosis so stark sein müssen, daß sie den Kranken umbringt." „Dann hat jeder Schmerz ein Ende", stellte der General fest. „Auf Kosten des Lebens", ergänzte der Arzt. „Na wennschon. Dann werde ich meine Orden an die Wand hängen. Wer heute stirbt, braucht mor gen nicht zu sterben. Alte Guerillero-Weisheit." „Sie sind unersetzlich", sagte der Arzt lächelnd. „Alte Historiker-Weisheit." „Auch nur so eine Redensart", antwortete der General.
Als der Maximo Leader, Fidel Castro, von der tödlichen Krankheit seines besten Kameraden erfuhr, war er so verzweifelt, daß er Tränen vergoß. Doch dann befahl er, Rodriguez zu retten, ihn am Leben zu erhalten, koste es, was es wolle. Ohne diesen Freund fühlte er sich einsam und allein. Verdammt, es mußte doch Möglichkeiten geben, 40
den Krebs zu besiegen. Heute, wo man sogar abgetrennte Köpfe annähte. Der Geheimdienst wurde mit der Sache beauf tragt. Seine Experten setzten sich mit den berühmte sten Kapazitäten in Ost und West in Verbindung. Forschungslabors wurden befragt, Nobelpreisträ ger, Pharmakonzerne. Die Auskünfte waren unbefriedigend. Es gab krebszerstörende Präparate, aber noch gab es kei nes, das nicht auch die gesunden Systeme angriff und den Organismus so beeinträchtigte, daß der Mensch daran zugrunde ging. Die Wissenschaftler des kubanischen Geheim dienstes stießen in die Zukunft vor, scheuten aber auch nicht den Weg zurück in die Vergangenheit. Sie studierten alle Veröffentlichungen über Naturmedizin, über Methoden der Krebsbehand lung in Afrika, in Asien, in Südamerika. Sie gingen Meldungen über Wunderheilungen, Wundermittel, Wunderärzte, über Zauber, Hypnose und autosug gestive Heilverfahren nach. Sie arbeiteten sich zurück bis ins Mittelalter. Schließlich fand einer der Historiker etwas, das er nicht gleich verstand, obwohl es kaum fünfund vierzig Jahre zurücklag. Der Koordinator brachte die Sache vor den kubanischen Geheimdienstchef. Der hatte es gern, wenn Vorlagen zur Entscheidung nicht länger als eine Schreibmaschinenseite waren. „Je komplexer, desto kürzer", pflegte er zu sagen. „Alles, aber auch alles ist in drei Sätzen auszudrücken." Daran hatte der Koordinator sich gehalten. Der G-Chef überflog den Text, Man sah ihm an, wie 41
sein computerartiges Gehirn arbeitete. Dann stellte er, wie immer, blitzschnelle Fragen. Dies mit Kopfbewegungen, als hackte eine Krähe nach Würmern, und das alles in höchst unfreundlichem Ton. „Woran ist der Generaladmiral erkrankt?" „Magen-, Darm- und Leberkrebs, Genosse Di rektor." „Magen und Darm kann man operieren. Leber krebs tut nicht weh. Wie lange gibt man ihm noch?" ,.Ein halbes Jahr, wenn nichts geschieht." „Was soll geschehen?" „Der Staatschef wünscht, daß alles getan wird, was in unserer Macht steht. - Es soll da ein hochwirksames Präparat gegeben haben. Es wurde bei Henry Ford angewandt, bei Roosevelt leider mit nur geringem Erfolg. Churchill wurde im Jahre 1943 damit behandelt. Er lebte danach noch zwan zig Jahre. Und wenn man Gerüchten glauben darf, verlängerte dieses Mittel auch Stalins Leben nicht unbeträchtlich." Der Geheimdienstchef hackte wieder los. „Stalin starb anno dreiundfünfzig. Er überlebte seinen Krebs also nur um zehn Jahre, wenn wir davon ausgehen dürfen, daß ihm das Mittel vom Erfinder verabreicht wurde." Der Koordinator bestätigte dies. „Dr. Parker ist seit März 1943 vermißt." Eine Braue des Geheimdienstchefs hob sich. „Wie soll er dann Churchill und Stalin . . .? Nun, das ist nicht unser Problem. Vermutlich gab es ausreichende Mengen seines Serums. Aber das alles ist verdammt lang her, fast fünfzig Jahre. Wenn das Parker-Serum wirklich Ford, Churchill 42
und Stalin geholfen hätte, also hochwirksam gegen Killerkrebse ist, warum stellt man es nicht längst fabrikmäßig her? Das ist doch ein Milliardenge schäft." „Weil", setzte der Sachbearbeiter an, „die Zusammensetzung möglicherweise unbekannt oder nur wenigen Leuten bekannt ist oder das Rezept an einem unbekannten Ort liegt oder . . . " „Oder, oder, oder", höhnte der kubanische Geheimdienstchef, beruhigte sich dann aber wie der und wurde nachdenklich. „Möglich wäre schon, daß irgendwo auf dieser Erde noch eine Ampulle davon existiert - oder eine Niederschrift über den Inhaltsstoff oder ein Mensch, der die Zusammensetzung kennt." Er ertappte sich selbst bei der häufigen Verwen dung des Wortes oder. Dann handelte er nach Befehl. - Fidel Castro persönlich forderte, daß alles, aber auch alles zu tun sei, um Generaladmiral Rodriguez zu retten. „Verfolgen Sie jede noch erkennbare Spur." „Ist schon geschehen, Genosse Direktor." „Wohin laufen sie?" „Nach Kalifornien, wo Dr. Parker sein Labor hatte, nach Washington, wo er Roosevelt behan delte, nach London, wo sein Assistent, ein Dr. Chandler, den Premierminister versorgte, und in die Weite des Nordatlantik, wo der Erfinder spur los verschwand." Der Geheimdienstchef fällte die nächste Ent scheidung. „Suchen Sie die drei besten Leute aus. Sie sollen die Spuren aufnehmen wie hungrige Haie den Duft von Blut im Meer." „Und die Devisenfrage, Genosse Direktor?" 43
„Wir greifen auf den Sonderfond zurück. Sie kriegen von mir eine Bankvollmacht. Über die Ergebnisse möchte ich stets sofort unterrichtet werden." Darauf bestand der Geheimdienstchef. Allwis send zu sein war ein Teil seiner Macht. „Ich glaube, daß die Gruppe in drei Tagen einsatzbereit ist." „Und ich glaube", entgegnete der Geheimdienst chef drohend, „daß die Gruppe schon in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf dem Marsch ist." Der Referent zeigte einen bestürzten Gesichts ausdruck. Insgeheim aber hatte er mit dieser Forderung gerechnet. Jeder spielte hier sein Spielchen. „Und ich erwarte, daß die Operation erfolgreich ist", setzte der Geheimdienstchef noch hinzu. „Danke, Genosse Oberst." Der Sachbearbeiter grüßte militärisch und zog sich zurück. Idiot, dachte er. Ich erwarte, daß die Operation erfolgreich ist. Dieser ahnungslose Saftsack, der nur auf diesem Stuhl saß, weil er der Sohn jenes Mannes war, der im Jahre 1958 Havanna vor der Zerstörung durch Battistas Armee bewahrt hatte, dieser Scheißkerl hätte auch verlangt, erfolgreich an drei zusammengebundenen Luftballons auf den Mond zu fliegen. — Nun, man würde sehen, was ging. In seinem Büro drückte er auf den Knopf, schiß seine Mitarbeiter zusammen und brachte sie so auf Trab, daß sie etwa das gleiche über ihn dachten, wie er über den Geheimdienstchef. Aber eines hatte die Tatsache, daß keiner den 44
anderen ausstehen konnte, für sich. Der schwerfäl lig und träge arbeitende Apparat begann, schneller zu rotieren. 4.
Abgesehen davon, daß hübsche, friesisch blonde Frauen auf Ibiza stets Beachtung fanden, machte das Mädchen sich auch durch sein Verhalten auffällig. Sie hieß Karen Dolmann, war 178 cm groß, schlank, langbeinig und kleinbusig. Sie wog vier undfünfzig Kilogramm und hatte einen runden Hintern, der beim Gehen exzentrische Bewegungen vollführte. Überall hieß es, dies wäre sehr reizvoll. Sie selbst fand es weniger schön, eher ein wenig nuttenhaft. Sie bemühte sich lange darum, es abzustellen, aber das ließ sie nur verkrampft wirken, und so ließ sie es dabei. Karen Dolmann arbeitete als Übersetzerin für technische Betriebsanleitungen bei einer Bundes behörde. Sie hatte zwei Abschlüsse. Den als Fach hochschulingenieurin und den als Dolmetscherin für Englisch und Russisch. Sie verdiente gut, galt als zuverlässige, beliebte Kollegin. Und doch war sie überstürzt, Hals über Kopf, abgehauen. Sie hatte eine Woche Urlaub durchgesetzt, obwohl es eigentlich nicht ging, und war nach Ibiza geflogen. In der Hand hatte sie eine Postkarte, die eine Ortsansicht zeigte. Darauf war ein Bleistiftpfeil. Er deutete auf eine der oberen Gassen. 45
Hier hause ich stand am Kartenrand. Karen Dolmann zeigte dem Taxifahrer die Karte. „Dahin", sagte sie. „Nicht leicht, Senorita." „Woran liegt es?" „Die Gassen sind schmal, und mein Auto mag keine Treppen. Außerdem, welche Gasse genau ist es?" „Fahren Sie los", drängte sie, als ginge es um Minuten. Der Taxifahrer brachte sie so weit wie er konnte. Dann beschrieb er ihr mit vielen Handbewegungen und Gastarbeiterdeutsch den Weg. „Am besten, Sie fragen bei Fernandos Bodega." Sie bezahlte, stieg aus, zerrte ihre Reisetasche heraus und nahm die Treppe durch eine Gasse, die um die Ecke in eine noch engere führt. Dort witterte sie den Geruch von Espresso und Wein. Er drang aus einer Hausöffnung, die als Tür einen Glasperlenvorhang hatte. Sie trat ein. Es war kühl und dämmrig in der Bodega. Die Männer, die herumsaßen, Karten spielten, tranken oder rauchten, starrten sie an und verstummten. Sie setzte die Tasche ab und trat an die Theke. Zum Glück bediente dort eine Frau, der Figur und dem Alter nach bereits Großmutter. Wortlos zeigte Karen Dolmann ihr ein Foto. Die Patrona nahm es mit wischfeuchten Fingern und hielt es ans Licht. Das Foto zeigte einen Mann um die Dreißig in einem weißen Pilothemd mit Schulterklappen. Etwas Besonderes war nicht an ihm. „War der mal hier?" „Kann sein. Erinnere mich nicht an jeden Gast." 46
Die Wirtin hielt das Foto so, daß es die Gäste sehen konnten. Sie sagte etwas, das Karen Dol mann nicht verstand. Ein paar Männer standen auf und kamen näher, andere winkten gleich ab. „No, bedaure", sagte die Bodegawirtin. „Wo soll er wohnen?" „In diesem Viertel." „Fragen Sie beim Bäcker, beim Fleischer, beim Friseur, am Zeitungsstand. Na, Sie wissen schon wo." Es war Mittag und heiß. Die Sonne stand senk recht. Selbst in diesen schmalen Gassen gab es kaum Schatten. Der Wind, der vom Meer herauf kam, brachte Hafengeruch mit und feuchte Schwüle wie aus einem dampfenden Wassertopf. Karen Dolmann fragte hier und dort und beson ders Leute, von denen sie annahm, daß sie hier oben wohnten. Natürlich sprach sich das rasch herum. Für den Mann, den sie suchte, war das nicht gut, denn er hatte sich hier versteckt. - Aber sie hatte Erfolg. Ein Bauer, der auf einem Tisch unter einer Markise Obst verkaufte, wußte Bescheid. „Senor Otto", sagte er und deutete schräg die Piazza hinauf, am Brunnen vorbei über die Ecke der Kirche in eine Gasse. „Tercera casa, a la derecha bei Senora Manzares." Also drittes Haus rechts, bei Frau Manzares. „Gracias", sagte Karen Dolmann. Das Haus hatte ebenfalls keine Tür. Der Wind spielte mit dem Perlenvorhang. Sie trat ein, rief nach Donna Manzares, bekam aber keine Antwort. Sie schaute in die Erdgeschoß räume. Am Kleiderhaken sah sie einen weißen 47
Trenchcoat, den sie kannte. Also nahm sie die Treppe. Die Stufen knarrten. Oben gab es drei Türen. Eine führte ins Bade zimmer, eine ins Schlafzimmer, die dritte zu einem Zimmer nach hinten hinaus. Sie klopfte an und trat sofort ein. Auf dem Bett lag ein Mann mit einem Revolver in der rechten Hand. Links neben dem Bett stand eine Weinflasche. Im Ascher glomm eine Zigarette. „Du?" sagte Westphal, als er die Besucherin erkannt hatte. Grußlos setzte sie ihre Reisetasche ab. „Hans ist tot", sagte Karen Dolmann.
Sie erzählte. Der Mann rauchte hastig. Statt Wein trank er jetzt spanischen Cognac. Sie beendete ihren Bericht mit den Worten: „Es soll Mord gewesen sein." Westphal stützte sich auf die Ellbogen. Ein stummes Lachen schüttelte ihn. „Was glaubst du denn, warum ich hier bin." Sie hatte die Jacke ausgezogen und holte sich den Stuhl vom Balkon herein. Gerade und etwas steif saß sie da. „Und warum bist du hier?" „Sie sind hinter mir her." „Wer?" „Wie sie hinter Endress hergewesen sind", fuhr Westphal fort. „Aber er wollte es nicht glauben. Man hat uns beobachtet." „Aber, zum Teufel, warum denn?" „Das verstehst du alles nicht, Karen." 48
„Wenn ihr beide es verstanden habt", sagte sie, „dann verstehe ich es zweimal." „Von der Intelligenz her vielleicht", räumte der angetrunkene Westphal ein, „aber nicht vom Gefühl. Dein Kopf will es wissen, dein Gefühl sagt, es ist gefährlich. Der eine gibt auf, der andere bleibt dran. Ich gab auf." „Und Hans blieb dran", ergänzte sie. „Er führte immer aus, was er sich vornahm. Deshalb habe ich ihn geliebt. Aber er war auch ein Träumer. Eben falls ein Grund, warum ich ihn liebte, Er konnte sich noch für etwas begeistern." „Leider brachte es ihn um", mutmaßte Westphal, ließ sich flach auf das Bett zurücksinken und steckte sich eine neue Zigarette an. „Er war Idealist." „Und ich bin keiner. Ich warnte ihn immer wieder, versuchte, ihm klarzumachen, wie es enden könne. Daß es tollkühn sei, sich diesem . . . diesem unglaublichen Ding einfach zu nähern. - Er sagte, er sei ein Profi, und er müsse es machen. Aus Selbstachtung, für sein Selbstvertrauen. Alles Unsinn. Irgend jemand bekam von dem Plan Kenntnis. Dann setzten diese unerklärlichen Vor gänge ein. Telefonanrufe in der Nacht, so als würden wir kontrolliert. Immer wieder standen Autos mit Leuten darin vor unseren Haustüren. Sie folgten uns bis zum Hafen, bis zum Flottenstütz punkt, bis zum Sperrgebiet." „Wann fing das an?" fragte sie. „In Berlin." „Ihr hattet in Berlin eine sehr unwichtige Arbeit im Document-Center übernommen." Westphal erläuterte es kurz: „ Wir wurden abkommandiert und sichteten 49
Kriegstagebücher der ehemaligen Kriegsmarine. Sie hatten das Material in einem Keller ausgegra ben. Das Zeug mußte ausgewertet werden. Damals, vielmehr kurz danach, fing es an." „Habt ihr mit Dritten von eurer Arbeit gespro chen?" „Natürlich. Über diese fünfzig Jahre alten Vor gänge gibt es keine Geheimhaltung." „Und was fandet ihr?" „Unterlagen des B-Dienstes." „Wer war der B-Dienst?" Kapitänleutnant Westphal versuchte es zu er klären. „Der B-Dienst, oder auch Beobachtungsdienst, war eine Abteilung der ehemaligen Kriegsmarine. Im Jahre neununddreißig gegründet, gehörte der BDienst zum Kern des Marinehauptquartiers am Berliner Tirpitzufer. Schon vor dem Krieg entschlüs selte er Geheimcodes der britischen Admiralität. Später entschlüsselte er alliierte Marinefunksprüche und speziell Umlenkbefehle für deren Geleitzüge." „Was", fragte Karen Dolmann, „habt ihr ge funden?" „Wir haben uns geschworen, darüber zu schwei gen, solange wir leben." „Hans Endress ist tot", erinnerte sie zornig. „Du bist von deinem Eid entbunden. Eid, Eid — kindi sche Männerspielchen, daß ich nicht lache." „Je mehr du weißt", fürchtete Westphal, „desto näher bist du dem Tode. Ich schweige dir zuliebe. - Warum bist du überhaupt hier, Karen?" „Um dich zu warnen." „Na bitte!" „Es gab ja keine andere Möglichkeit, dich zu erreichen." 50
„Haben sie . . . " Wesphal schluckte und setzte erneut an. „Haben sie ihn schon begraben?" „Gestern." Sie fragte noch einmal nach dem Grund, warum Endress hatte sterben müssen, aber Westphal sagte nichts. Dann fragte sie, wo sie hier duschen könne, und begann, sich auszuziehen. Sie hatte keine Scheu, sich nackt vor dem Mann zu zeigen. Sie kannten sich schon sehr lange und hatten zusammen am FKK-Strand auf Sylt bei Buhne siebzehn gebadet.
Als Karen Dolmann am Abend vom Strand zurückkam, lag Westphal noch immer auf dem Bett und starrte zur Decke. Die Cognacflasche war leer. „Willst du hier vermodern?" fragte das Mädchen vorwurfsvoll. Er schaute auf die Marineuhr am Handgelenk. Sie war aus Stahl und hatte ein schwarzes Ziffern blatt mit grünen Leuchtzahlen und Zeigern. Dazu zwei rotmarkierte Sektoren von der Minute fünf zehn bis neunzehn und fünfundvierzig bis neun undvierzig. Sie zeigten die Funkstille für Seenot funk an. Außerdem hatte die Uhr noch einen Gezeiteneinstellring und Tachimeterskalen zur Umrechnung von km/h in Knoten und Meilen in Kilometer. „Ich verlasse das Haus nur bei Dunkelheit." „Du leidest an Verfolgungswahn. Du hast mit der Sache doch nichts zu tun." „Ich war sein bester Kamerad." „Wie lange willst du dich hier versteckt halten?" 51
„Wenn sie mich finden, haue ich ab. Woan dershin." „Du hast nicht ewig Urlaub." Sie fragte, ob es nicht besser sei, sich dem MAD anzuvertrauen. Der Militärische Abschirmdienst war zuständig für solche Fälle. „Damit gebe ich zu, daß wir dienstliche Informa tionen für private Zwecke genutzt haben." „Wie ich das sehe, hat nur Endress sie genutzt." „Ich war sein Kamerad, und damit sein Mitwis ser. Gemeinsam arbeiteten wir die Pläne aus und besorgten die Ausrüstung. Ich wollte erst mitma chen, aber dann stieg ich aus. Ich bin ein Feigling. Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn . . . " „Wenn er zur Vernunft gekommen wäre", ergänzte Karen Dolmann. Sie duschte das Salz von der Haut, cremte sich ein, kam duftend und nackt ins Zimmer und zog ein weißes Baumwollkleid an. Westphal stand auf und bot ihr sein Bett an. Er ging hinunter, sprach mit der Vermieterin, kam wieder und sagte: „Sie gibt dir ihr Schlafzimmer. Wie lange bleibst du?" „Zwei, drei Tage." „Das geht in Ordnung." Er trat auf den Balkon hinaus. Im Osten sank schon die Dunkelheit herab. Allmählich gingen in der Stadt die Lichter an. Es war die Zeit, zu der Westphal sich aus seinem Versteck wagte. Er kleidete sich sorgfältig an, steckte Geld, Zigaretten und Feuerzeug ein. Bevor er ging, fragte er das Mädchen: „Kommst du mit?" „Besser nicht. Ich habe hier und dort nach dir 52
gefragt, Eigentlich viel zu oft. Das war dumm von mir. Wir müssen vermeiden, daß man uns zusam men sieht." „Du warst immer fabelhaft ehrlich", stellte er fest. „Du und er weniger." Sie sagte nicht Hans, sondern er. Das ließ in Westphal den Verdacht aufkeimen, daß sie sich von dem Mann, den sie zu heiraten beabsichtigt hatte, schon zu entfernen begann. „Ja, das war falsch", räumte er ein. „Du kannst es ändern", sagte sie. Er stand herum und wußte nicht, was er tun sollte. In einem spontanen Entschluß gab er die Antwort auf ihre Frage vom Nachmittag. „Im März dreiundvierzig", berichtete er knapp, „ging mit einem Geleitzug eine äußerst wichtige Sendung von New York nach England. Die Sen dung kam nie an. Jetzt wissen wir, daß das Schiff aus dem Konvoi entlassen wurde, um dem Schick sal der anderen Schiffe, die von unseren U-Booten massakriert wurden, zu entgehen. Das Schiff — es hieß Galakta - verschwand spurlos im Nordatlan tik. Bis vor kurzem wußte niemand etwas über ihr Schicksal, bis wir eine Notiz fanden. Die Galakta ging unter. Sie liegt vor Südgrönland dicht an der Küste auf Grund. - Hans Endress, der mutigste Mensch, dem ich je begegnet bin, wollte nach diesem Wrack tauchen und gewissen Verdächti gungen nachgehen, wonach ein deutsches U-Boot ein Lazarettschiff torpediert habe. - Er mußte sterben. Offenbar gibt es Leute, die gewisse Geheimnisse für ewig und immerdar bewahren wollen. — Adios, Karen. Ich werde zu Abend essen und etwas trinken, und vielleicht finde ich ein 53
Mädchen für ein paar Stunden. Du schläfst ja doch nicht mit mir." „Nein. Du erinnerst mich zu sehr an Hans. Ihr seid euch sehr ähnlich." „Ist das der einzige Grund?" „Der wichtigste", gestand sie. „Dann adios." „Adios!" sagte sie, ohne zu wissen, daß sie diesen Mann nur noch einmal wiedersehen würde, und dies in einem bejammernswerten Zustand.
Karen Dolmann fand zur Frühstückszeit West phals Zimmer leer. Das wunderte sie, beunruhigte sie aber nicht. Am Abend war er noch immer nicht zurück. Sie begann ihn zu suchen und fand seine Spur, die er durch die Bars und Clubs gezogen hatte. Bald endete diese Spur. Ab 2.00 Uhr hatte ihn keiner mehr gesehen. Sie wartete noch bis zum nächsten Tag. Dann ging sie zur Polizei. Dort schien es, als habe man sie erwartet. Nicht Karen Dolmann, aber immerhin eine Person, die eine Vermißtenanzeige aufgab. Sie zeigte ein Foto und beschrieb ihn. Sie fuhren landeinwärts zu einem der ausgebau ten Felsenhänge. Die Höhle diente als Kühlraum für Leichen. Auf groben Holztischen lagen mehrere mit Laken zugedeckte Tote. Der Angestellte prüfte nur die Namensschilder an den Zehen der Leichen. Dann schlug er ein weißes Tuch zur Seite. 54
Karen Dolmann erkannte ihn sofort. Aber sie schrie nicht, sie war nicht fähig dazu. Sie preßte die Hand auf den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Sie starrte ihn an, trat an die andere Seite, nickte und folgte dem Offizier der Guardia civil nach draußen. „Ist das der Mann, den Sie suchen, Senorita?" „Otto Westphal, Deutscher, aus Flensburg." „Ein Unfall", sagte der Polizist. „Wir brauchen seine Heimatadresse wegen der Formalitäten, wegen der Überführung, der Kostenerstattung und so weiter." „Wo fanden Sie ihn?" fragte Karen Dolmann. „Im Hafenbecken bei den Fischkuttern." „Wann?" „Gestern morgen. Er ist wohl ertrunken." „Er war einer der besten Schwimmer . . . " . . . der Bundesmarine, wollte sie sagen, sagte aber: „Ret tungsschwimmer sogar." „Er war volltrunken." „Und wenn man ihn ermordet hat?" Der Beamte lächelte. „Wie denn, Senorita. Glauben Sie mir, wir sind Fachleute. Es gibt keinerlei Hinweise auf Gewalt anwendung. Nicht die geringsten. Weder Mord noch Raub liegen vor." Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß man Endress etwas in den Kaffee gemischt hatte. Viel leicht hatte man Westphal auch etwas in den Drink geschüttet. — Dann war seine Verfolgungsangst also begründet gewesen. Sie hütete sich, etwas in dieser Richtung zu äußern, denn eines wollte sie nicht, nämlich in die 55
Schußlinie dieser Mörderorganisation zu gelangen — falls sie nicht schon dort stand.
Mein Gott, dachte sie, bloß nichts wie weg hier.
5.
Die Nachricht vom Unfalltod eines Deutschen namens Otto Westphal auf Ibiza lief über den BKA-Ticker. Urban erfuhr davon. Die zwei Kapitänleutnants der Bundesmarine waren Freunde gewesen. Der eine war in Südgrön land umgekommen, der andere auf Ibiza. Urban zweifelte an der Unfalltheorie und nahm die Ermittlungen wieder auf. Seine Arbeit bewegte sich am Rand der Legali tät. Der BND war auf dem Gebiet der Bundesrepu blik nicht zuständig. Aber die Dame, von der man inzwischen wußte, daß sie die Braut von Hans Endress gewesen war und Westphal auf Ibiza gesucht hatte, lebte in Flensburg, also schon dicht an der Grenze. Urban rief an und bekam sie an den Apparat. Er nannte seinen Namen und seine Dienststelle. Das alles schien sie nicht im geringsten zu interessieren. So freundlich wie Beton und Sta cheldraht fertigte sie ihn ab. „Die Hintergründe sind Ihr Problem. Meines ist, damit fertig zu werden." „Verständlich", zeigte Urban Anteilnahme, „zwei Freunde innerhalb von einer Woche." „Was, zum Teufel, verstehen Sie schon davon?" Dann beging er einen Fehler. „Möglicherweise so wenig wie Sie von unserer Arbeit", entgegnete er spöttisch. 56
Das war der falsche Ton. „In diesem Land kümmert sich keiner um den anderen", brach es aus ihr heraus, „zuallerletzt der Staat um seine Bürger. Warum sollte sich also ein Bürger um den Staat kümmern?" „Deshalb ermitteln wir die Hintergründe von Endress' und Westphals Tod, weil der Staat sich um die Sicherheit sorgt. Und um was für eine Sicherheit geht es, wenn nicht um die der Bürger." Offenbar fiel ihr dazu nichts ein. Deshalb giftete sie: „Gehen Sie und hängen sie sich auf." Aber sie war noch in der Leitung. Urban änderte nun den Tonfall. „Sie haben Endress geliebt?" „Wen geht das etwas an", erwiderte sie. „Er ist tot. Es macht mich zornig und wütend, daß ich diesen fabelhaften Mann nie wieder sehen kann. Das ist es und nichts anderes. Er war moralischer, klüger, idealistischer, stilvoller als je ein anderer." „Die Mittelmäßigen leben am längsten", pflich tete Urban ihr bei. Aber es half wenig. „Lassen Sie mich in Frieden", zischte sie. Da mußte er ihr klarmachen, daß das so nicht ging. Sie mußte aussagen, was sie wußte. Wenn sie es ihm nicht sagte, dann kamen andere. - Aber die anderen kamen ohnehin. „Also, morgen um vier", schlug er vor. „Auch nicht um fünf", entgegnete sie. „Weder morgen noch nächste Woche." Damit hängte sie endgültig auf. Sie würde nicht leicht zu knacken sein.
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Flensburg lag nur wenige Kilometer von der däni schen Grenze entfernt. Das war fast schon Nie mandsland. Außerdem nahmen es der MAD und der Verfassungsschutz auch nicht immer so genau. — Urban hatte also keine Hemmungen. Karen Dolmann bewohnte ein verklinkertes Rei henhaus in einem Neubauviertel zwischen der Straße nach Neustadt und der Förde. Rot und Weiß sah es aus und wie jeden Tag frisch gewaschen. Die Blumenpracht davor zog massenhaft Bienen an. Das große Fenster zur Straße hatte skandinavische Gardinen, die halb langen aus Spitze. Urban glaubte, dahinter ein ovales hübsches Gesicht, umrahmt von blonder Haarfülle, gesehen zu haben. Er läutete. Der Summer ging. Er drückte die Tür auf. „Urban, Bundesnachrichtendienst", stellte er sich vor. „Dolmann." Sie duftete nach einem zitronenarti gen Parfüm. Es paßte zu ihr. „Ich sagte doch, Sie sollen sich zum Teufel scheren." „Und ich sagte, ich würde heute um vier hier sein." Sie wirkte unschlüssig. Hinzu kam, daß keiner vom anderen bitter enttäuscht war. Das Bild, das man sich am Telefon gemacht hatte, entsprach überhaupt nicht der Wirklichkeit. Urban fand sie attraktiv und sie ihn wohl gutaussehend mit seiner südlichen Bräune, der dunklen Haartolle und den grauen Robert-Red ford-Augen. Gekleidet war er lässig elegant, wie ein Bursche, der in der Welt herumkam und nicht auf Parkbänken übernachtete. Sie trat zur Seite. 58
Urban schloß daraus, daß er eintreten dürfe. Im Wohnraum gab es einen Gaskamin. Auf dem Sims standen drei Fotos im Rahmen. Sie zeigten eine ältere Frau, einen älteren Mann und einen jüngeren in Uniform. Die älteren Leute waren offenbar Vater und Mutter. Das dritte Foto hatte einen Trauerflor. „Damit eines klar ist", sagte sie barsch. „Sie sind mir nach wie vor unwillkommen. Aber wir Dith marscher sind gastfreundlich. Und Sie haben nahezu tausend Kilometer hinter sich gebracht. — Tee?" „Kaffee, wenn es geht." „Ja, im Süden zieht man ihn wohl vor. Heiß und süß?" „Schwarz und bitter", wünschte er. Sie werkelte in der Küche. Es dauerte nicht lange, und schon kam sie mit dem Tablett. Sie trug einen gelben Hausanzug aus Wildseide. Er saß stramm wie eine zweite Haut. — Kein Zweifel, sie war kein Transvestit, sondern ein Vollweib. Deut lich zeichneten sich die Brustwarzen und der Hügel im Schritt ab. Sie war schön, aber leider nicht kooperativ. — Das würde sich vielleicht ändern. Nur selten lief alles weiter, wie es anfing. „Ich bin auch einer von den armen Hunden, die ihren Karren ziehen müssen", sagte er. „Und stur", ergänzte sie. „In diesem Punkt habe ich einiges von den Holsteinern. Und ganz besonders stur sind sie, wenn sie sich beleidigt fühlen." Sie verstand die Anspielung und reagierte heftig. „Ich habe wenig Zeit." 59
Sein Kaffee war heiß, und ihr Tee duftete aromatisch. „Wir haben noch weniger Zeit. Mit jeder Stunde entfernen wir uns von der Aufklärung dieser sogenannten Unfälle um Meilen weiter." „Zur Hölle mit euch allen, besonders mit Ihnen." „Da muß sich der Teufel aber sehr hüten", bemerkte Urban grinsend. „Sind Sie tatsächlich so anmaßend, zu glauben, daß Sie auch mit ihm fertig werden?" „Ich würde ihm ziemlich zusetzen." „Wie Sie mir zusetzen." „Nicht mehr lange. Wir reden, und dann . . ." er zitierte ihren Ausspruch von gestern, „.. . gehe ich und hänge mich auf." Urban setzte die Tasse ab und trat ans Fenster. Drüben auf der anderen Straßenseite, schräg unter den Bäumen, stand ein dunkler Opel Omega. Er führte keines der regionsüblichen Kennzeichen. Es war auch kein deutsches oder dänisches, son dern ein rotes. Schwarze Ziffern auf rotem Grund. Der Wagen war Urban sofort aufgefallen, als er das Taxi verlassen hatte. „Wenn ich jetzt gehe", fragte er, „was, glauben Sie, wird dieses Auto tun? Wird es hierbleiben oder wird es mir folgen?" Sie war neben ihn getreten. „Es lauert schon seit Tagen hier herum. Seitdem ich aus Ibiza zurück bin. Er ist nicht ständig da, aber immer wieder. Mal nur kurz, mal mehrere Stunden." „Es fängt an", sagte Urban. „Nein, es geht weiter", verbesserte sie ihn. „Es fing schon bei Endress an. Auch Westphal wurde beobachtet." 60
„Tauchte er deshalb auf Ibiza unter?" „Er wollte nicht hineingezogen werden. — Was ist das für ein Auto?" Urban steckte sich eine Goldmundstück-MC an. „Schauen Sie die Gesichter an." „Zwei Männer mit Hüten. Nichts Besonderes." „Die Gesichter." „Normale Gesichter. Etwas blaß, ein wenig breit." „Russen", sagte Urban. Sie lachte unecht. „Sie wollen mir angst machen." „Die haben sie schon, Karen", behauptete er. „Wie kommen Sie auf Russen? Ist ja dämlich." „Der Wagen führt das Kennzeichen der sowjeti schen Militärmission." „Der was, bitte?" Er wiederholte es. „Wie kommen die hierher, und was haben die hier zu suchen?" „Altes Besatzungsrecht", erklärte er und nannte ein paar der Klauseln, warum Russen noch immer kreuz und quer durch die Bundesrepublik fahren durften. „Sie halten sich mit Vorliebe in der Nähe von militärischen Gebäuden, Übungs- und Flugplät zen, Flottenstützpunkten und Industriewerken auf." „Sind das Agenten?" „Alles KGB-Leute im Offiziersrang." „Ja aber . . . " setzte sie an. „Genau deshalb", sagte er, „bin ich hier."
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Sie hatte es im Haus nicht ausgehalten. Sie war in den Garten gegangen. Jetzt kam sie wieder herein mit ihren langen Schritten. Sie war jung und sehr schön. Das blonde Haar war jetzt vom Wind zerzaust. Ihre Haut schimmerte mattbraun und glatt wie Bronze. Kein Künstler hätte an diesem Profil auch nur einen Strich geändert. „Tut mir leid", sagte sie. „Also schön, fragen Sie. Aber schnell, bitte, damit es endlich vorbei ist." Er machte es so schmerzlos wie möglich. „Was suchte Endress im Meer bei Kap Fare well?" „Vermutlich ein Wrack." „Er war kein professioneller Wracktaucher. Was brachte ihn dazu?" Sie setzte sich, stand wieder auf, ging dem Muster der Fliesen folgend unruhig auf und ab. „Endress und Westphal wurden abkommandiert, um neuentdeckte Kriegsakten zu archivieren. Viel mehr die Daten in die vorhandenen Tagebücher zu integrieren, Ich glaube, einige Stellen der Kriegs geschichte der Marine mußten neu geschrieben werden." „Gemäß dem Besatzungsstatut durften sie nur als Zivilisten in Berlin tätig sein", erklärte Urban. „Gehen Sie davon aus, daß die beiden keine bestehenden Gesetze, Verträge oder Abkommen verletzten. Aber sie fanden etwas, das Endress auf die Spur eines Schiffes namens Galakta brachte. Diese Galakta hatte etwas ungeheuer Wichtiges an Bord, das sie 1943 von New York nach England bringen sollte. Wie es dazu kam, daß sie ihren Konvoi verließ, weiß ich nicht. Aber das hat wohl mit dem B-Dienst des Admiralstabs zu tun. Jeden 62
falls sank die Galakta aus bisher ungeklärter Ursache." „Durch einen Torpedotreffer?" fragte Urban. „Davon steht nichts in den Unterlagen. Aller dings behaupten die Amerikaner, sie sei ein Laza rettschiff gewesen, und deutsche U-Boote hätten sie gejagt und versenkt." Sie sagte alles, was sie wußte. Viel war es nicht. In einem Punkt hakte Urban nach. „Was glaubte Endress auf dem fünfzig Jahre alten Wrack am Meeresgrund zu finden?" „Nach den B-Dienst-Akten führte das Schiff gewöhnliche Ladung, hatte aber möglicherweise einen ungewöhnlichen Passagier an Bord. Ein gewisser Doktor Farmer, Carter oder Parker."
Urban sprang auf. „Der Opel ist weg", rief er. Er hatte aber die Kennzeichennummer, rief kurz in München an und gab sie durch. Sie sollten feststellen, zu welchem Büro der SMM sie gehörte. Wenig später rief München zurück. „Verdammt, es muß noch irgendwo Unterlagen geben", polterte der Operationschef Oberst i. G. a. D. Sebastian. „Endress konnte nicht alles nur im Kopf behalten. Der MAD hat alle Wohnun gen durchsucht. Die von Endress, die von Westphal und die semer Mutter. Keinen einzigen Hinweis bis jetzt." „Die zwei Kapitänleutnants waren ins Zentral archiv abkommandiert, um die Seekriegsge schichte des Zweiten Weltkriegs zu ergänzen." „Alter Hut vom letzten Jahr. Längst aus der Mode", knurrte der Oberst. „Die Marineabteilung des MAD weiß das seit einer Woche. Sie gingen der 63
Sache nach. Leider fehlen in den Akten ausgerech net ein paar Seiten." „Auch auf den Mikrofilmen?" „Die Ergänzungen sollten erst demnächst mikro verfilmt werden." Genaugenommen war der MAD so weit wie Urban. Sie hatten lediglich festgestellt, daß es in Berlin nicht weiterging. Zum Schluß erwähnte der Alte noch etwas. Er sagte es fast nebenhin, dabei war es so bedeutend, daß es dem Ganzen eine neue Richtung gab. „Übrigens, der Opel mit der roten Nummer gehört nicht zur sowjetischen Militärmission." „Ich kenne doch KGB-Typen." „Vermutlich stammt er aus dem Wagenpark der sowjetischen Botschaft in Kopenhagen." Urban blickte Karen Dolmann an. Sie las in einem Magazin und tat, als hörte sie nicht zu. „Die Dänen machen die Augen zu", erwiderte Urban, „Endress starb in Grönland, das zur däni schen Krone gehört. Aber Sven Rasmussen beteu erte, wie froh sie seien, nichts mehr mit der Sache zu tun zu haben. Was, zum Teufel, bringt plötzlich die Russen ins Spiel?" „Das war Ihre Frage", betonte der Alte. Und es würde auch seine Antwort sein, auf die sie jetzt warteten. Urban hängte auf. — Und wieder einmal fürch tete er, die falsche Laufbahn eingeschlagen zu haben. Der Kaffee war jetzt kalt und labbrig. „Wie trinkt man hier den Tee an kalten Winter tagen?" „Mit Rum", antwortete das Mädchen. 64
„Es ist Winter", sagte Urban, „und verdammt kalt." Die schöne Blonde brachte eine Karaffe. Der Inhalt war klar, also weißer Bacardi. „Rum mit Tee oder mit Cola?" sagte sie. „Oder pur." Danach wurde ihm besser. Karen Dolmann fragte neugierig: „Ich hörte Dänemark." „Was", wollte Urban wissen, „hat Endress' Geschichte mit Dänemark zu tun, abgesehen davon, daß er auf großdänischem Territorium umkam?" Offenbar war die Frage leicht zu beantworten.
„Er besitzt ein Ferienhaus dort", erwähnte das
Mädchen. Urban fühlte einen Stromschlag. „Wer weiß davon?" „Alle Freunde, alle Welt. Ist kein Geheimnis. Immer wenn ihm danach war, haute er für ein Wochenende nach Esbjerg ab. Mal mit mir, mal mit Westphal, mal alleine." „Der Militärische Abschirmdienst fand nicht einen Fetzen Unterlagen", äußerte Urban. „Kann Endress sie in Dänemark haben?" Sie zuckte mit der Schulter. Sie wußte es nicht.
„Vielleicht ja, vielleicht nein."
„Verstehen Sie, daß ich damit nicht zufrieden
sein kann?" „Völlig." „Wie weit ist es bis zu dem Haus?" „Kaum hundert Kilometer." „Ich muß hin." Nachdenklich schaute sie auf die Uhr. „Es ist schwer zu finden, liegt am Strand zwi 65
sehen den Dünen versteckt. — Ich bringe Sie hin, Bob." „Sie sind fabelhaft, Karen." „Ach gehen Sie und hängen Sie sich doch auf." Sie war in Minutenschnelle fertig und holte ihren VW aus der Garage. „Eine alte Karre", sagte sie, „lauft aber noch bis zum Nordpol. Braucht nur Öl, Benzin und Luft." Der betagte Käfer war laut und so schnell, daß man Mühe hatte, einen Häuserblock zu überholen. Aber Urban war zufrieden. Es gab einen Weg, auf dem es weiterging. Außerdem war es ein milder Nachmittag. Zwar lag Regen in der Luft, aber im Norden wurde der Himmel klar. Allmählich verschwand das Licht hinter den Ästen der Chausseebäume. 6.
Das kubanische Expertenteam fing in Kalifornien an und machte in New York und Washington weiter. Dazu hatte sich die Dreiergruppe aufge teilt. Der Mann in New York graste alle Buchhandlun gen in Manhattan ab und kaufte, was er an Roosevelt-Biographien finden konnte. - Am Ende waren es mehr als zehn Pfund Bücher, Hardcover und broschierte. Er schleppte sie in sein Hotel und begann zu lesen. Zum Glück beherrschte er die Diagonal-Lese technik, sonst hätte er Wochen gebraucht, um die Literatur durchzuackern, auch wenn es nur um die 66
Zeit nach Pearl Harbor ging, speziell um die erste Hälfte des Jahres 1943. Es gab genug Hinweise auf Roosevelts Erkran kung an Kinderlähmung. Sie zwang den Präsiden ten, im Rollstuhl zu leben. Beim Gehen wurde er gestützt, auf Treppen getragen. PoliomyelitisExperten hatten alles versucht, die Lähmung des Präsidenten zu verringern. Man hatte Massagen jeder Art, Elektrobehandlung der Muskulatur angewandt, hatte es mit Frischzellen versucht. Aber seine Fähigkeit, sich zu bewegen, hatte sich eher verschlechtert. Bald kamen noch Symptome hinzu, die auf einen Krebsbefall des Präsidenten schließen ließen. An Operation war nicht zu denken. Sie hätte in einer riesigen eisernen Lunge durchgeführt werden müs sen und hätte doch nichts gebracht. In dieser Zeit wurden die ersten Forschungser gebnisse des kalifornischen Arztes und Biochemi kers Prof. Dr. Parker bekannt. Parker hatte angeblich ein Mittel gefunden, das die körpereigenen Abwehrstoffe so stärkte, daß sie mit allem Organfeindlichem, also auch mit Krebs geschwüren, fertig wurden und sie abbauten. Par ker hatte Henry Ford behandelt und wurde nach Washington gerufen. Seine Diagnose war niederschmetternd. Er wollte es versuchen, gab aber seinem Präparat keine Chance. Und zwar deshalb, weil in einem mit Poliovirus verseuchtem Körper von Immunabwehr keine Rede mehr sein konnte. — Er behielt recht. Sollte aber nicht mehr erfahren, daß seine Dia gnose eingetreten war. Er starb noch vor Roosevelt. Vielmehr, er ging auf der Reise von New York nach London verschollen. 67
Zwar führte sein Assistent, Dr. Chandler, die Behandlung Churchills durch, aber die Vorräte am Parker-Serum gingen zu Ende. Der Kubaner zog diesen Extrakt aus einem guten Dutzend Bücher, und wie an jedem Abend telefo nierte er mit seinen Partnern. Zu dem in Washington sagte er: „Dr. Chandler war Parkers Assistent. Er lebt angeblich in oder um Washington." „Dann kriege ich ihn", erklärte der andere.
Der Kubaner in Pasadena/Kalifornien hatte einige Mühe, das Haus, in dem Dr. Parker 1943 gelebt hatte, ausfindig zu machen. Das ehemals vornehme Wohnviertel war heruntergekommen. Nur Schwarze wohnten noch dort. Nach dem Krieg war ein schwarzer Arzt zugezo gen, ihm waren ein wohlhabender Mexikaner und dann ein Japaner gefolgt. Die Weißen hatten daraufhin ihre Häuser verkauft und waren wegge zogen. Sie betrachteten das ehemals feine Villen viertel als unrettbar verseucht. Später hatten es auch die reichen Farbigen wieder verlassen. Der Zustand der Häuser näherte sich dem, was man Suburban-Slum nannte. Alles war kaputt. Angefangen von der Straßenbeleuchtung bis zum Asphalt. Überall verkommene Vorgärten, zerbro chene Fenster, die Farbe blätterte ab, die Dächer sackten durch. Im hohen Unkraut hausten Wild karnickel und in den Häusern Kommunen, Fixer, Banden. Der kubanische Agent, ein kräftiger furchtloser Mann, verschaffte sich Eintritt in die ehemalige 68
Parker-Villa. Das kostete ihm einige Faustschläge und Handkantenhiebe und die Bewohner blutige Nasen, etliche Zähne und blaue Flecke. Als sie begriffen, daß gegen ihn nicht aufzukom men war, ließen sie ihn in den Keller hinunter. Was er dort sah, deprimierte ihn. Er war relativ schnell fertig. Die Reste von Parkers Laborausrüstung lagen auf einem Haufen in der Ecke. Scherben von Destillationsgeräten, Glaskolben, Kühlern, Bunsenbrennern, von Ther mometern und Kulturschalen, Mischvorrichtungen, Reagenzgläsern und Feinwaagen. In einem Kübel fand er einen Haufen vertrocknetes Getier. Vor wiegend Eidechsen, riesige Spinnen und auch Pflanzen. Er fuhr ins Hotel und rief in New York an. „Das ist ein Fall für Altertumsforscher", sagte er. „Die Ruinen von Pompeji sind ein geordneter Haufen dagegen," „Schreib deinen Bericht", forderte der Teamchef in New York, „und dann komm an die Ostküste." „Bis morgen abend", sagte der Mann des kubani schen Geheimdienstes in Kalifornien.
Der Kubaner in der Hauptstadt hatte Schwierig keiten, das Leben von Parkers Assistenten Dr. Chandler bis zum Jahre 1965 zu verfolgen. Chandler hatte nach Kriegsende eine Chefarzt stelle als Internist am Hospital zu den Frommen Brüdern bekommen. Sein guter Ruf brachte ihm bald eine Professur an der Universität von Virginia ein. Er hatte geheiratet, aber wohl stets über seine 69
Verhältnisse gelebt. Er war immer in Geldnöten. Luxusbungalow, Rolls-Royce, Golf, eine Motor yacht, Weltreisen. Das alles kostete mehr, als er verdiente. Deshalb hatte er versucht, an das große Geld zu kommen. - Für einen Arzt wie ihn war dies nur durch sensationelle neue Heilmethoden von Massenkrankheiten oder durch Medikamente für Massenkrankheiten möglich. Chandler hatte versucht, hinter das Geheimnis des Parker-Serums zu kommen. Er wußte, worauf seine Wirkung beruhte, kannte ungefähr die Grundstoffe und wohl auch einen Teil des Herstel lungsprozesses. Endlich glaubte er, das ParkerSerum rekonstruiert zu haben. Er warf es auf den Markt. Es war aber nicht nur wirkungslos, sondern brachte Hunderte von gläubigen Patienten um. Der Kubaner nahm die Spur Chandlers auf. Der inzwischen Siebzigjährige vegetierte in einem Sanatorium, genauer in einer Pflegeanstalt, vor sich hin. Man ließ zu, daß er den weißhaarigen, nahezu bewegungsunfähigen Mann aus der Ferne sah. Während Chandler von einer Krankenschwester im Rollstuhl durch den Park bewegt wurde, sagte der zuständige Stationsarzt: „Es ist ein Haufen Protoplasma, sonst nichts." „Wie kam es dazu?" „Selbstmordversuch nach einem verhunzten Leben. Die Schulden, die Scheidung, die Prozesse wegen eines unwirksamen Medikamentes. Er jagte sich eine Kugel durch den Schädel. Als Arzt hätte er eigentlich wissen müssen, wie man das richtig macht. Aber er machte auch das falsch. Vermut lich, weil er betrunken war oder unter Kokain stand. Ergebnis: er überlebte. Aber wie. Halb im 70
Koma. Partiell zerstörtes Gehirn. Irreparabel. Er kann nicht gehen, nicht essen, nicht reden, nicht hören, vielleicht auch nicht denken. Ein Wrack." „Danke, Doktor", sagte der Kubaner. Er gab den Bericht nach New York. Der Teamchef sah nur noch eine Möglichkeit weiterzukommen, und zwar auf der anderen Seite des Atlantik. „Wir fliegen nach London", entschied er. „Ha vanna drängt und fordert Ergebnisse."
In der britischen Hauptstadt hatten sie zwar die Unterstützung der diplomatischen Vertretung Kubas, den Zugang zu den Behörden mußten sie sich aber selbst verschaffen. Dabei ging es im wesentlichen um die Staatsarchive. Der Botschafter warnte sie: „Die Briten versehen zunächst einmal jeden amtlichen Rülpser mit dem Siegel des Schweigens. Mindestens fünfzig Jahre lang." „Dann fehlen leider noch fünf Jahre." „Selbst dann wird zwischen geheim und streng geheim unterschieden." „Streng geheim dürfte es allerdings gewesen sein." „Dann besteht keine Chance, Genossen." „Wie steht es hier mit Bestechlichkeit?" fragte der Teamchef. „Dieses Wort ist bei britischen Beamten nahezu unbekannt. Aber Sie können es ja versuchen."
Und das taten sie. Sie gingen nach Plan und konzentrisch vor. Einer marschierte ins Regierungsarchiv, wo er 71
behauptete, Journalist zu sein und ein Buch über den Kriegspremier Churchill, speziell unter Berücksichtigung medizinischer Aspekte, schrei ben zu wollen. Warum konnte ein Mann wie Sir Winston, der, auf seine erstaunliche Gesundheit hin befragt, immer nur antwortete: „No sport, Whisky and Havannas", so alt werden. Man verwies den Journalisten auf bekannte Veröffentlichungen. An Archivmaterial aus dem Jahre 1943 war nicht heranzukommen. Der zweite Mann brach nachts in die Top-secretAbteilung des Staatsarchivs ein. In den Regalen lagerten Millionen von Akten. Er ging dem Stichwort Churchill, 1943, März, nach und fand dort eine Lücke. Entweder gab es eine besondere Akte, oder man hatte sie, aus welchen Gründen auch immer, aus den Regalen entfernt. Der dritte Mann versuchte es mit Dollars. Er folgte dem zuständigen Archivar, machte sich in einem Pub an ihn heran, trank mit ihm, und als der Beamte einen in der Krone hatte, sagte der Kubaner: „Möchten Sie tausend Dollar verdienen, Sir?" „Noch lieber zehntausend." „Käme mir nicht darauf an." Der Engländer, vom Alkohol hochrot im Gesicht, fragte grinsend: „Und wofür?" Der Kubaner schob ihm fünfhundert als Anzah lung hin. Der Engländer legte seine Hand auf die Scheine, damit keiner sah, was lief. „Sie arbeiten im Archiv der Foreign Office." „Seit zwanzig Jahren." „Es geht um eine Akte aus dem Frühjahr drei 72
undvierzig, Churchills Krankheit und ihre wunder same Heilung betreffend." Der Engländer veränderte seine Züge in Rich tung Bedauern. „Da haben schon andere nachgeforscht." „Ich weiß." „Deshalb wurde diese Akte entfernt und in den Safe gelegt." „Auch das ist uns bekannt." „Zu diesem Safe habe ich keinen Zugang." „Auch nicht für zehntausend?" „Nicht für hunderttausend, Sir." Da mußte der Kubaner einsehen, daß es auch so nicht ging. Er stellte seine letzte Frage: „Wer wollte noch an das Material?" „Ein Kubaner", sagte der Beamte, „und . . ." „Und wer noch?" „Ich bin kein Hellseher", erklärte der Archivbe amte, „aber es dürfte sich wohl um einen Mann aus Nahost gehandelt haben. Perser vielleicht." „Perser? Sind Sie sicher?" „Nein." Der Engländer schob das Geld zurück, behielt aber einen Schein, um seine Zeche zu bezahlen. Der Teamchef meldete die Lage nach Havanna. Dort befahl man ihnen, sich auf den Kontinent zu begeben. Einige neue Hinweise und Erkenntnisse lägen vor. In Paris würde das Team Order erhalten. „Mal sehen", sagte der Teamchef, „mit welchen Idioten wir es dort zu tun haben werden." „Mit Tausenden davon", meinte einer seiner Männer. „Es kostet ja nicht mein Geld. Aber wenn ich mal Bauchschmerzen habe, wer fliegt dann 73
bitte um die ganze Welt nur wegen eines Abführ mittels." „Diese Frage steht dir nicht zu." „Und wen interessiert schon deine Arschbacke", meinte der dritte. 7.
Im Fluß, den sie überquerten, spiegelten sich die Lichter der kleinen Stadt. Das Land war flach, die Gezeiten wirkten tief hinein. Bei Flut stiegen die Flüsse an. „Gleich sind wir da", sagte Karen Dolmann. „Ein Käfer ist kein Wiesel, ein alter erst recht nicht. Könnte mir ja einen anderen kaufen, aber ich liebe ihn." „Ich auch", gestand Urban. „So was wie den gibt es nie wieder." „Mein erster hatte noch das Brezelfenster." „Von mir aus", erklärte Urban, „konnte die Entwicklung des Automobils beim Käfer aufhören. Robust, einfach, ehrlich. Aber bei den neuen voller Computer, Injektion, Motormanagement, Allrad lenkung, ABS-x-y-zet hat man das Gefühl, die Automobilindustrie verscheißert einen." „Wie bei allem im Leben", ergänzte sie. „Fort schritt ist mitunter Rückschritt. Wie schön lebten die Menschen im Mittelalter." „Auch schön beschissen", bemerkte Urban. „Lebenserwartung dreißig Jahre." „Da wären wir schon tot." „Na und?" Sie blickte ihn an und lächelte. „Wir sind beide müde." 74
„Und hungrig." „Da denkt man eben so." „Wann denkt man richtiger? Etwa satt und ausgeschlafen?" „Sie sind auch nicht gerade glücklich, Bob." Es war das zweite Mal, daß sie Bob gesagt hatte. „Selten", erwiderte er, „aber Zufriedenheit ist schon das Höchste." „Wann war ich zum letzten Mal glücklich", überlegte sie halblaut. „Das kann ich nicht beantworten." „Ich auch nicht." Sie fuhren weiter nach Norden, durch ein Dorf. Es schlief schon. Nur ein Hund war noch unter wegs. Hinter Varde bog sie Richtung Küste ab. Schmale Wege führten durch sandige Hügel, gerif felt wie Dünen, karg mit Strandhafer bewachsen. Nach einem Kilometer kamen ein paar Sommer häuser und ganz weit draußen vor dem Deich ein Blockhaus. Sie stellte das Auto neben der Terrasse ab. Zündung aus. Licht aus. Urban sah Reifenabdrücke und Trampelspuren im Sand. „Da war einer da." „ Kaum." Sie stiegen aus und gingen hinauf. Die Tür war offen. „Verdammt, Sie hatten recht", fluchte Karen Dolmann.
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Im Haus sah es aus, als wäre ein Stamm ostgerma nischer Rocker durchmarschiert. Kopfschüttelnd machte Karen Dolmann sich ans Aufräumen. Urban hielt sie zurück. „Moment mal", bat er. „Nach der Art, wie einer sucht, kann man schließen, wonach er suchte und wer derjenige ist, der suchte." Urban ging durch alle Räume des Fertighauses. „Es waren zwei", kombinierte er. „Einer mit klarem Kopf und eine Wildsau." Im Dachzimmer hatte der Fachmann gesucht, unten der andere. Dort war alles umgeworfen, ausgekippt, breitgetreten. Auf dem Tisch neben der Stereoanlage standen Flaschen mit klaren Getränken. Eine davon war offen. „Nicht jeder Franzose", meinte Urban, „trinkt Kognak, wenn er auch Whisky haben kann. Aber fast jeder Russe zieht Wodka allem anderen vor." Die offene Flasche enthielt Wodka. „Hans pflegte seine Flaschen zu verschrauben." Bald stand Urbans Urteil fest. „Sie haben nichts gefunden." „Woraus schließen Sie das?" „Sie drangen über die Terrasse in das Haus ein, durchsuchten zuerst die unteren Räume, dann das Dachzimmer. Sie hätten das Dachzimmer nicht durchsucht, wenn sie im Erdgeschoß fündig gewor den wären. Und im Dachzimmer war auch nichts." „Waren es die Agenten von der Militärmission?" fragte das Mädchen. „Wahrscheinlich." „Wann waren sie da? Vorher oder nachher?" Sie meinte, vor der Beobachtung ihres Hauses in Flensburg oder später. 76
„Danach", schätzte Urban. „Woher kannten sie es?" „Die wissen doch alles." „Aber warum durchsuchten sie es dann nicht schon längst?" Urban vermutete, daß es mit seinem Besuch bei Karen Dolmann zusammenhing. Sie hatten ihn erkannt und befürchtet, daß jetzt schwere Artille rie gegen sie eingesetzt würde. Aber noch war alles Theorie. „Jetzt kommt es auf die Reifenspuren an." Urban ging hinaus. Der Strahl seiner Kugel schreiberlampe war dünn und schmal, aber stark. U-förmig um das Haus herum liefen Reifenab drücke durch den nachtfeuchten Sand. Die negati ven Profilkanten waren scharf geprägt. „Höchstens eine Stunde her." „Sprach der alte Indianer", spottete das Mäd chen. Urban überlegte. „Wenn es die KGB-Kollegen waren, dann sind sie in Kopenhagen stationiert. Was tun sie nach getaner Arbeit? Sie fahren nach Hause. - Uhr zeit?" „Gleich Mitternacht." „Sie müssen von hier über die Insel Fyn." „Da gibt es eine Brücke." „Aber nach Sjaelland kommen sie nur mit der Fähre. Die geht so spät nicht mehr. Also bleiben sie irgendwo in der Gegend. Wir folgen der Spur." „Ich hole meinen Wagen." „Erst mal ein Stück zu Fuß", schlug Urban vor. Was die Russen im Haus nicht gefunden hatten, würde er auch nicht finden, aber er hätte sich gern mit diesen Burschen unterhalten. Themen gab es 77
genug. Thema eins lautete: Wer hat Endress in Grönland Hyperton in den Kaffee gemischt? Thema zwei: Wer hat Westphal auf dem Gewissen? Die Reifenspur führte in Kurven dem Gelände folgend durch den Sand um die Dünen herum.
Sie waren etwa einen Kilometer in Richtung Varde marschiert. Auch ohne Licht konnten sie der Spur folgen. Es war eine helle nordische Nacht. Aber wer etwas sah, konnte auch gesehen werden. Deshalb achtete Urban stets auf Deckung. Das Mädchen fand es lachhaft, wie er sich anstellte. „Erfahrungsgemäß ist jede Vorsicht um hundert Prozent übertrieben." „Leider erinnert mein Job immer wieder daran, daß Leichtsinn das Leben verkürzt." Ehe er es verhindern konnte, hatte sie sich eine Zigarette angesteckt. Sie rauchte genußvoll, und nichts, aber auch gar nichts geschah. Die Spur führte jetzt nicht mehr um die nächste Düne herum, sondern auf sie hinauf. Man sah es an den verwischten Reifenabdrücken. Unten hatte der Wagen mit ziemlich viel Gas Fahrt aufgenommen. In Urban glomm ein Funken Hoffnung, er könnte im Sand steckengeblieben sein. Also Vorsicht. — Doch wie zum Trotz stapfte Karen gerade und aufrecht neben ihm her. Im selben Moment fiel ein Schuß. Ein peitschender Knall zerriß die Stille. Urban hechtete Karen an und warf sie zu Boden. „Da ist was geplatzt." 78
»Ja, die Patrone im Lauf eines Gewehrs, Gnä digste." Sie sagte nichts mehr, sondern atmete schwer und hustete verhalten, denn sie hatte Sand in den Mund und in die Nase bekommen. „Hoffentlich", flüsterte sie, „muß ich jetzt nicht sterben." „Das hoffe ich auch", sagte Urban. Er lauschte. Das Meer dünte laut gegen den Strand. Sein Rauschen war stärker als das Geräusch, das die Stiefel eines Mannes im Sand erzeugten. Plötzlich sah Urban einen Schatten am oberen Rand der Düne. Er sah aus wie ein Baum ohne Krone, ein kahler Stumpf. Der Stumpf bewegte sich, veränderte seine Form, so als würde ihm ein Ast wachsen. Ein Mann legte das Gewehr an, visierte in Richtung der zwei dunklen Punkte im Sand und schoß. Urban hörte die Kugel sirren. Blitzschnell robbte er mit Karen in eine Mulde. Über den Rand der Mulde hinweg sah er noch immer den Mann. „Kaltblütiger Saukerl", fluchte Urban. „Wollen Sie sich nicht wehren?" „Soll ich mit Sand werfen?" „Sie tragen eine Waffe." „Die reicht nicht hin und nicht her." „Ihre böse Miene allein schreckt ihn nicht. Sollte ihn etwa Ihre Persönlichkeit ängstigen, vielleicht Ihr Ruf. Ihr Ruf als was?" Der Gewehrschütze kam näher, legte an, schoß wieder, noch einmal und stand da wie ein Monu ment. Langsam hockte er sich hin, rauchte, stand auf, drehte sich um und ging weg. 79
„Er haut ab", flüsterte Karen. „Nein, der nicht", sagte Urban. „Aber die Distanz ist zu groß. Ich kann nichts tun." Sie drückte sich an ihn. Er spürte, wie ihr Herz hämmerte. „Was bedeutet das?" „Sie sind zu zweit. Der eine kommt von vorn, der andere von hinten."
„Und?" „Das ist etwas, das ich gerne entbehren würde." Sie lagen da, aber nichts ereignete sich. Allmäh lich beruhigte Karen sich. Sie fragte: „Und was würden Sie nicht so gerne entbehren, Bob?" Da er nicht antwortete, versuchte sie, die Ant wort auf weibliche Art aus ihm herauszulocken. Sie zog die Bluse aus und schlüpfte aus der langen Hose. Sie hatte oben nichts darunter und unten nur einen winzigen Slip. Es war schließlich eine warme Nacht. Da er nur sein undurchschaubares Lächeln zeigte, machte sie mit ihm, was sie mit sich gemacht hatte, sie knöpfte sein Hemd auf und Öffnete seinen Gürtel. „Ich will das jetzt", sagte sie, „und wenn die Hölle auf uns wartet." „Dann erst recht", verstand er sie. „Oder ist es Wahnsinn." Wahnsinn war es in jedem Fall. Jetzt und hier und ohne Anlauf. Aber, zum Teufel, warum eigent lich nicht. „Die haben hier in der Nähe den Wagen stehen", sagte er. Als er völlig abgelegt hatte, ließ er zur Sicherheit die 7,65er in Reichweite. 80
Karen Dolmann gebärdete sich wie eine taub stumme Wildkatze. Das schien ihr Mut zu machen. Verständlich war es. In solchen Situationen dach ten Menschen einfach an Selbsterhaltung. Und Liebe gehörte dazu. Die wilde stumme Katze war gar nicht so wild. So wild etwa, wie sie glaubte, daß eine heißblütige Frau im Bett war, ohne es wirklich zu sein. Die Imitation einer Imitation. „Und jetzt versuchen wir es anders herum", keuchte sie nach dem ersten Akt. „Ich oben." Sie walzte sich auf ihn, grätschte die Beine und ließ ihn in ihre feuchte Wärme hineinflutschen. Krampfhaft unterdrückte sie jede Gefühlsäuße rung. Doch wenn sich ihr Körper versteifte, wußte Urban, woran er war. Als er endlich in Fahrt kam, war die Fahrt schon aus ihr heraus. Sie lag ermüdet da, nackt, sonnen braun, mit kleinen Brüsten und Dünensand im Schamhaar. Seine Linke lag auf ihrem Bauch, die Rechte an der Mauser. „Wie war es?" fragte sie. „Wenn der Kellner gut ist, ist es auch der Koch", antwortete Urban. „Quatsch nicht. Möchte wissen, wie ich war." Er dachte nach. Er wollte es ihr gerne sagen, aber so genau auch wieder nicht. „Wie Cuba libre", fiel ihm ein. „Viel Cola, mit wenig Rum, meinst du." Sie fuhr hoch. „Warum sagst du nicht gleich wie Kinder schokolade. Viel Milch, wenig Kakao." Sie hatte es präzise getroffen. Und die Entspan nung machte sie aggressiv. Die Frechheit danach war eigentlich eine Domäne der Männer gewesen, aber die Zeiten hatten sich auch darin geändert. 81
„Liebe", erklärte sie, „genieße ich wie eine Tafel Schokolade. Insofern ist der Vergleich richtig." „Laß uns", flüsterte er, „noch mal eine Rippe abbrechen." Sie hatte Verlangen danach, sagte es aber nicht. „Und die Russen?" „Die sind längst abgezittert." „Ich habe nichts gehört." „Aber ich", sagte er. „Komm her." Sie kamen nicht weit. Hinter den Dünen, in der Richtung, in der das Haus von Endress stand, begann es mit einemmal hell zu werden. Hell und rot, als hätte man ein Sonnwendfeuer angesteckt. Urban fuhr hoch. „Verdammt, sie brennen die Bude ab!" rief er.
Als sie hinkamen, hatte eine Polizeistreife auf der Straße nach Varde den Brand bereits entdeckt und die Feuerwehr alarmiert. Sie waren schon zur Stelle. Erst löschten sie mit dem Wasser aus dem Brunnen. Als der Brunnen leer war, pumpten sie über eine Schlauchleitung Meerwasser heran. Aber da glommen Balken und Holzverschalung nur noch. „War Brandstiftung", sagte der Feuerwehr hauptmann. „Hier fackeln sie immer wieder Ferienhäuser ab. Aber nur, wenn Vagabunden sie aufbrechen und darin übernachten. - Wer sind Sie, was suchen Sie hier?" „Das Haus gehörte einem Freund von mir", erklärte Karen Dolmann. „Als wir herkamen, war es von oben bis unten durchwühlt." „Sehen Sie die Autospur?" Urban zeigte nach 82
Norden. „Sie stammt nicht von unserem Volks wagen. " Ein Polizist ging der Spur nach. Als er zurück kam, hatte er zwei Patronenhülsen in der Hand. Er roch daran. „Ziemlich frisch. Die wurden erst vor kurzem verschossen." „Auf uns", prellte Karen Dolmann vor. Dem Polizisten gefiel das alles nicht. „Wie lange bleiben Sie?" „Nicht mehr lange", fürchtete Urban. „Kommen Sie vor der Abfahrt in unserer Station vorbei. Wir müssen ein Protokoll aufnehmen." Urban zog den Polizisten beiseite. „Mein Name ist Urban", sagte er. „Rufen Sie morgen früh Hauptmann Rasmussen in Kopenha gen an, und zwar unter der Nummer des Verteidi gungsministeriums. Man wird Sie mit seiner Abtei lung verbinden. Rasmussen bürgt für mich." Der Polizist war ein erfahrener Beamter. Er witterte sofort, daß es hier um etwas ging, dem man tunlichst nicht zu nahe kam. „Hauptmann Rasmussen. Wird erledigt. Telefo nieren ist mir lieber, als seitenlange Protokolle schreiben." Erst fuhr die Polizei weg, dann die Feuerwehr. Urban und Karen Kolmann übernachteten, so gut es ging, im VW. Am Morgen, sehr früh, schaute Urban sich an der Brandstelle um. Er hatte wenig Hoffnung, daß er etwas fand oder daß das Feuer etwas sichtbar gemacht haben könnte. Aber meist, wenn er gänzlich ohne Hoff nung war, ereignete sich etwas. Die Feuerwehrleute hatten den Brunnen nur notdürftig abgedeckt. Der Schacht war bis unten 83
hin trocken. Am Grund, zwischen den Steinen und dem Sand, schimmerte etwas silbrig. Es sah aus wie eine Frühstücksdose aus Aluminium. Urban kletterte hinab - der Brunnen war unge fähr fünf Meter tief — und holte das Ding herauf. Die Ränder der beiden Büchsenhälften waren mit olivgrünem Natoklebeband abgedichtet. Er riß die Streifen weg, hebelte mit dem Nagelreiniger die Büchse auf und fand darin genug Papier, um damit Krieg zu führen. Der Inhalt bestand aus zusammengefalteten Karten, aus Fotokopien von Kriegstagebüchern und Originalen. Alle führten die Stempel: Befehls haber der U-Boote und Geheime Kommandosache. Ein Schatten fiel über Urban. „Der alte Indianer hat es gefunden." Urban stopfte alles zurück in die Büchse, schloß sie und klemmte sie unter den Arm. Wind kam auf und wehte Karens blondes Haar nach vorn. „Fahren wir?" „Ja, gleich und umgehend." „Kaufst du mir ein Frühstück?" „Und Benzin." Sie waren hungrig wie eine Kompanie Soldaten. Gegen 8.00 Uhr fuhren sie weiter in Richtung Deutschland. Urban studierte das Material aus der Büchse. „Ich erlaube es dir", sagte das Mädchen groß zügig. „Danke." „Zwar bist du kein Ausbund an Höflichkeit, aber Männer sind wohl so. Der eine fährt nach Grön land baden, der andere. . . " 84
„Mach das Schiebedach zu", bat Urban, „sonst badet der dritte auch gleich." Zweifellos war er kein Ausbund an Höflichkeit. Aber eines kam zum anderen. Seit dreißig Stunden hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Die Pennerei im Auto hatte nur zu eingeschlafenen Füßen und einem steifen Nacken geführt. - Der lauwarme Erfolg und der lauwarme dänische Kaffee hatten ihn auch nicht gerade aufgemöbelt. Dazu noch der Wetterwechsel. Hier im Norden gab es vielleicht keinen Föhn, aber was es gab, war das gleiche, nur mit anderem Namen. „Auf was bist du sauer?" wollte sie wissen. „Auf mich." „Du hast, was du suchtest." „Die Kopfschmerzen habe ich, zum Teufel, nicht gesucht." „Dann nimm etwas dagegen." Gut dagegen war hinlegen und entspannen. Gut war auch eine kalte Dusche, sie weitete die Gefäße. - Er aber saß in dem hüftengen Käfer, die Dose mit Material, das sofort gesichtet werden mußte, auf den Knien. Er tastete in die obere Sakkotasche. Bei Gentle men enthielt sie ein seidenes Tuch. Er war kein Gentleman. Der Mittel- und der Zeigefinger erta steten etwas Dünnes, Hartkantiges. Er zog es heraus. Es war eine Folienpackung. Fünf Tablet ten, weiß, rund, in Reihe. Er drückte eine heraus und schluckte sie trocken. „Was ist das?" „Thomapyrin." „Wie wirkt das?" 85
„ Gegen Kopfschmerzen so gut wie Dynamit gegen einen Bunker." „Auch gegen Seelenschmerz?" „Probier's." Es fing zu regnen an. Bald goß es in Strömen. Der Wind nahm Sturmstärke an. Es war wie immer im Käfer, Die Scheiben beschlugen, die Lüftung wurde mit der Feuchtig keit nicht fertig. Aus der Heizung stank es wunder bar nach heißem Motoröl, muffigem Filz und Benzin. Es erinnerte Urban an seinen ersten Por sche. Aber nostalgische Gefühle kamen nicht hoch. Es lag am Kriegstagebuch von Admiral Dönitz and his boys. 8.
5. März 1943, 14.45 Uhr Operationsabteilung des Befehlshabers der Un terseeboote Der B-Dienst am Tirpitzufer hat den neuen Code entschlüsselt. Demnach sammeln sich im Hafen von New York mehr als hundert Frachtdampfer. Vermutlich bilden sie zwei Geleitzüge. Einen schnellen (Marschfahrt 10 Knoten) und einen lang samen (Marschfahrt 7 Knoten). Nummer der Geleitzüge: 122 und 229. Der Auslauftermin liegt um den 10. ds. Mts. Der Konvoi wird wie immer zunächst Kurs Neufundland nehmen, um dann im Schutz von Geleitfahrzeugen den Nordatlantik zu überqueren. Ziel sind die schottischen und nordirischen Häfen. Wie zuverlässige Quellen aus New York melden, 86
übernimmt der Liberty-Frachter Galakta eine besondere Aufgabe. Aus Sicherheitsgründen im Zentrum von Geleitzug 122 fahrend, befördert er kriegsentscheidende Fracht. Da über neue Waffen derzeit nichts bekannt ist, muß es sich um einen Passagier handeln. - Weitere Informationen fol gen.
Der BND-Agent Robert Urban - er hatte den Reservedienstgrad eines Oberst, aber auch den eines Kapitäns zur See inne - wußte eine Menge über die alte Kriegsmarine. So auch, daß die deutschen Werften im Januar 1943 vier neue UBoote pro Woche bauten. - In erster Linie die bewährten Atlantik-Kampfboote vom Typ VII-C. Aber auch die neueren, größeren und schnelleren IX-C-Boote kamen vermehrt zum Einsatz. Immer wieder stritten U-Boot-Fahrer sich, wel che Werft die besten Boote herstellte. Selbstver ständlich schworen die Männer immer auf das Boot, das sie trotz schwerer Wasserbombentreffer und anderer Schäden heil nach Hause brachte. Aber allgemein war bekannt.daß aus Hamburg die solidesten Boote kamen. Von den zwei Ham burger Werften Deutsche Werft und Blohm & Voss genoß letztere den Ruf, besonders sorgfältig zu arbeiten. - Auch was Sonderausstattungen betraf. Von der Marinewerft in Wilhelmshaven wiederum hieß es, sie baue zwar relativ wenig Boote, aber ihre Erzeugnisse seien aufgrund von speziell legierten Stählen, die anderen Werften nicht zur Verfügung standen, besonders stabil und tieftauch fähig. 87
Diese Boote waren auch um fünfundzwanzig Prozent teurer. Kein unwesentlicher Betrag, wenn man davon ausging, daß ein VII-C-Boot drei Mil lionen Reichsmark und ein IX-C-Boot vier Millio nen kosteten. Das Gros der U-Boote war in Biskaya-Häfen beheimatet, wo bombensichere Bunker sie schütz ten, wenn sie repariert, ausgerüstet und für den nächsten Einsatz vorbereitet wurden. Bei den neuen Booten hingegen war die Prozedur eine andere. Nach Fertigstellung, Probe- und Abnahmefahrt bunkerte das neue Boot Treibstoff, Torpedos und Proviant und nahm Kurs auf den Nordatlantik. Es fuhr einen vollständigen Einsatz, bis es seinen Heimathafen in der Biskaya anlief. Von der Werft fuhr man nicht mehr durch den Ärmelkanal. Er war total vermint und von Wracks verseucht. Also nahmen die Boote den Weg zwi schen den Faröer und Island hindurch. U-BootLeute nannten diese Passage die Reichsstraße Nr. 1. Zwar hatten die Briten auch dort mehrere hun derttausend Minen gelegt, aber die Minenfelder waren bekannt. Vor Patrouillenflugzeugen gingen die Boote unter Wasser in Deckung. Hatten sie dann den Atlantik erreicht, wurden die Boote vom Befehlshaber (BDU) geleitet und an die Geleitzüge herangeführt, um sie abzuschlach ten.
12. März 1943, 16.00 Uhr
Nördlicher Mittelatlantik. 52 Grad N. 49 Grad W. U-634. Kommandant: Kapitänleutnant von Tauroggen Das werftneue IX-C-Boot operierte an Geleitzug 122. Noch gehörte es dem Rudel Raubgraf an, erhielt dann aber einen Sonderbefehl des BDU. Der einlaufende Funkspruch war doppelt über schlüsselt, was seine Wichtigkeit unterstrich. Der Funker legte ihn vor, der I. Wachoffizier entschlüsselte ihn einmal und dann der Komman dant noch einmal. Danach kam er in die O-Messe zurück und wirkte nachdenklich. Kapitänleutnant von Tauroggen — Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub, für eine Viertelmil lion versenkter Tonnage — galt als einer der erfahrendsten Kommandanten. Aus neun Feind fahrten hatte er seine Boote heil zurückgebracht. Jetzt befehligte er eines der modernsten. - Des halb wohl auch der Spezialeinsatz. „Gentlemen", sagte der ostpreußisch wirkende Adlige, „jetzt geht es um die Wurst." „Um die Zipfel oder um das Mittelstück?" fragte der II WO. ein bekannt frecher Hund. Der Kommandant senkte die Stimme, so daß sie nur in der O-Messe zu vernehmen war. „Siebzig Boote operieren an den Geleitzügen. Da schwimmen mehr als hundertzwanzig dicke Schiffe." „Für jeden von uns anderthalb", rechnete der II WO. „Der Verband Raubgraf hat einen Sperriegel gebildet, gegen den die Geleitzüge auflaufen. Von 89
Süden her marschiert die Gruppe Westmark und Neuland heran. Ab Einbruch der Nacht Angriff." Einzelheiten wie Wetter, Kurs, letzte Positionen der Geleitzüge, wie sie der Fühlungsleiter U-336 durchgab, wurden besprochen. „Hurra!" sagte der junge, sehr pockennarbige II. Wachoffizier jetzt ziemlich gedämpft. „Das wird eine Nacht der langen Metzgermesser." Das Essen wurde beendet. Der Obersteuermann ermittelte den kürzesten Abfangkurs. Was er auf der Karte berechnet hatte, mißfiel ihm. „Wir stehen weit südöstlich an der Flanke", sagte er. „Wenn der Geleitzug den Generalkurs ändert, kommen wir zu spät hin." „Mit zu spät meinen Sie, erst bei Morgen grauen", bemerkte Tauroggen. Der Kommandant wagte es trotzdem und wandte sich an den Leitenden Ingenieur. „Wie steht es mit Treibstoff, LI?" „Wir kommen zurecht, wenn wir nicht drei Tage pausenlos AK laufen." „Zunächst nur sieben Stunden", sagte der Kom mandant. „Aber bitte mit allem, was drin ist." Die Diesel bekamen Befehl für Große Fahrt. Die erhöhte Drehzahl setzte sich durch das ganze Boot fort. Sie gingen auf Kurs 205 Grad. Die Torpedos wurden noch einmal nachgeregelt. Ersatzaale für einen zweiten Viererfächer klarge macht. In den Funkraum gebeugt, sagte der Kom mandant: „Paßt mir bloß auf jetzt. Besonders auf Schrau bengeräusche und Seenotfrequenzen. Ab Mitter nacht gibt es Zunder." 90
Dann kletterte er auf die Brücke. Der I WO machte Meldung. Das Boot hetzte mit sechzehn Knoten in Über wasserfahrt auf den Geleitzug zu. „Daß mir keiner an seinem Nachtglas ein schläft", warnte der Kommandant. „Auch auf Flugzeuge achten. Die Sunderlands haben Radar. Sie kommen jetzt auch bei Nacht." Zwar waren in dieser Gegend keine Flugzeuge zu erwarten, die Reichweiten waren noch zu gering, aber der Gegner ließ sich auch eine Menge ein fallen. Ab 21.00 Uhr nahmen die Antennen die bekann ten Kurzmeldungen auf: U-556 operiert an Geleit zug. — U-soundso Tanker und Munitionsfrachter versenkt. — U-X wird von Zerstörer gejagt. Was serbomben. — U-663 Vierfächer, drei Treffer. Der Fühlungshalter meldete Änderung des Geleitzugkurses. - Und so ging es weiter. „Schon vierzehn versenkte Schiffe", zählte der IWO. „Und wie viele von uns?" „Auf Gefechtsstation!" befahl der Kommandant.
Eine Stunde vor Mitternacht meldete der Horcher Geräusche von Schraubenantrieben, jedoch noch weit entfernt. Wenig später war es, als würde es dort, wo morgens die Sonne aufging, zu dämmern beginnen. Der Horizont war rot von brennenden Schiffen. Leuchtraketen wurden geschossen. An Backbord ein Feuerball und aus. Da hatte es wieder einen erwischt. 91
Das Boot Tauroggens operierte jetzt ebenfalls an Geleitzug 122 heran und fuhr seinen ersten Über wasserangriff. In zwei Meilen Entfernung von der SteuerbordKolonne löste Tauroggen einen Vierfächer und drehte dann das Boot zum Heckschuß. Er hatte elektrische F-Torpedos geschossen, die in Schlangenlinien durch den Konvoi liefen und sich, falls sie das anvisierte Schiff verfehlten, ein anderes suchten. Noch vor Ende der Torpedolaufzeit erschütterte sie mehrmals das typische Wumm-Wong-Woräng. Tauroggen, der jetzt wußte, daß die Jagd der Bewacher begann, wandte eine bewährte U-BootTaktik an. Er wollte tauchen, um sich durch den Geleitzug durchsacken zu lassen. „Zerstörer auf siebzig Grad!" kam es vom Hor cher. Sie waren entdeckt worden. Die Zerstörer hatten Asdic, und für aufmerksame Ausguckposten war ebenfalls die schmale Silhouette eines U-Bootes zu erkennen. Tauroggen reagierte um einen Tick schneller. Das war der Unterschied zwischen ihm und ande ren Kommandanten. Mit äußerster Maschinenkraft drehte er das Heck dem heranpreschenden Zerstö rer entgegen. Er hatte einen Z-Torpedo im Rohr. Einen, der sich sein Ziel selbst suchte und zwei hochmoderne Pistolen im Kopf trug. Eine wirkte auf den Magnetismus des Gegners, die andere auf das Geräusch seiner Maschinen. Leider gab es Probleme bei diesen Wundertorpe dos. Von zehn arbeiteten immer nur acht zur Zufriedenheit. Tauroggen hoffte, daß einer von den achtzig Prozent im Rohr sei. 92
Der Bewacher rückte näher. Keine Chance mehr, um seinem Rammstoß oder seinen Wasserbomben zu entkommen. — Letzte Werte über UZO liefen ein. Dann das Kommando. „Heckrohr Achtung! Heckrohr los!" „Torpedo läuft!" „Tauchen!" Die Männer auf der Brücke ließen sich in die Tiefe des Bootes fallen. Als letzter stieg Tauroggen ein. Er schloß das Luk, als das Boot schon an kippte. „Bringen Sie uns auf Tiefe, LI", keuchte er, „aber mit Vollgas bitte." Die Stoppuhren liefen. Der Obersteuermann wollte schon die Lippen öffnen, um vorbei zu sagen, als der Treffer das Boot erschütterte. So klang es nur, wenn man ein Kriegsfahrzeug erwischte, das Dutzende von Was serbomben an Deck hatte. Dort oben brach jetzt die Hölle aus. Sie hörten die Spanten bersten, dann das Sinkgeräusch. Ein Tanker, ein Munitionsfrachter und ein Zer störer. Jetzt bekam schon der I WO Halsschmerzen und faßte sich dahin, wo die Ritterkreuze getragen wurden. U-634 rettete sich unter dem Geleitzug hindurch. Hektisch wurden die Rohre nachgeladen. Noch zwei Stunden bis zur Dämmerung. Das Boot operierte auf der Nordflanke von 122 erneut heran. Es tauchte auf und setzte seine Tagesmeldung ab. - Doch Minuten später war alles anders. Vom BDU kam ein Funkspruch. Nicht an alle, nur an Tauroggens Boot. 93
Der WO entschlüsselte. Der Kommandant las und war wütend, zeigte es aber nicht. Er zeigte weder Freude noch Ärger noch Furcht. „Kurs Null zwei Grad." Das war genau entgegengesetzt. Das Boot wendete getaucht. Nach zwei Stunden Unterwasserfahrt mit fünf Knoten ließ Tauroggen auftauchen. Man hatte sie aus einer der größten Geleitzug schlachten abgezogen. — Es erschien zunächst sinnlos. Sie hatten noch genug Torpedos und Treibstoff. Warum schickte sie der BDU plötzlich hinauf nach Grönland. Dort gab es nichts als Kälte, Schneestürme und Treibeis. Zwölf Stunden später kam der neue Operations befehl. — Er änderte wiederum alles. Der Kommandant erklärte seinen Offizieren die neue Lage. „Der Frachter Galakta, ein Liberty-Schiff mit Dieselantrieb, Geschwindigkeit maximal neunzehn Knoten, hat gestern nacht den Geleitzug 122 heimlich verlassen." Tauroggen nahm erst einen Schluck Kaffee. „Auf Befehl des Commodore, der seinen Befehl wiederum von der Admiralität in London erhält, wurde der Frachter entlassen. Das Gemetzel war zu groß, auch die Gefahr, daß es sogar Schiffe im Zentrum von Hundertzweiundzwanzig erwischen könnte. Unsere F-Torpedos sind einfach unbere chenbar." „Ist vielleicht Ginger Rogers an Bord", fragte der II WO, „oder Glenn Miller?" „Unser B-Dienst ermittelt, daß die Galakta kriegsentscheidende Ladung trägt." Die Seekarte wurde ausgerollt. Mit dem Zeige 94
finger beschrieb der Kommandant einen Bogen, der dicht an Grönland vorbei durch die DänemarkPassage nördlich um Island herum nach England führte. „Die Nordroute." „Für einen extremen Schnelläufer ist das der sicherste Weg." „Und ab 35 West beschützen ihn die LiberatorBomber aus der Luft." „Aber", meinte der Obersteuermann, ihr Nauti ker, „bis dahin hat es noch eine Weile. Drei Tage schätze ich." „Dann nichts wie hinterher!" befahl Tauroggen, „Jagen, finden, versenken, so lautet der Befehl des BDU. Er hat nur uns hier oben. Wir sind das schnellste Boot." Sie operierten in Richtung auf die letzte Position der Galakta, soweit der B-Dienst sie entschlüsselt hatte.
15. März 1943, 8.00 Uhr MEWZ Aus dem Logbuch von U-634 Kapitänleutnant von Tauroggen Laufen mit großer Fahrt gegen zunehmend schwere See. Haben 3.45 Uhr Position von Galakta errechnet. Von Frachter nichts zu sehen. Ist ver mutlich schneller als 18 Knoten. Behalten Kurs Kap Farewell bei. Geringe Flugzeugtätigkeit. Ein Sunderland-Flugboot mit Kurs Neuengland beobachtet. 95
15. März, 16.00 Uhr MEWZ
Kurswechsel auf 015 gemäß Positionsmeldung von Condor-Fernaufklärer, Laufen weiterhin große Fahrt. - Sicht durch Schneeschauer eingeschränkt. Treibstoff 38 Kubik / 6 Torpedos. 16. März, 8.20 Uhr Schiff auf weitergekoppelter Condor-Position gesichtet Mit Höchstfahrt verfolgt. In vorlicher Position getaucht. Sehrohrrundblick ergibt neue Lage. Kein Liberty-Schiff, sondern Zerstörer. Auf Torpedoschuß verzichtet, da Entdeckung zu befürchten. - Zerstörer läuft ab. 16. März, 9.45 Uhr Aufgetaucht. Batterieladung. Wieder Fahrzeug in NO gesichtet. Keine Rauchfahne. Vermutlich Dieselmaschine. Mit AKFahrt gefolgt. Treibstoff nähert sich Rückkehrreserve. 17. März, 7.45 Uhr Haben Frachter als Galakta identifiziert, aber im Schneesturm verloren. Getaucht zwecks Geräuschortung. Ortung ergibt Kursänderung der Galakta auf Kap Farewell. 17. März, 11.35 Uhr Objekt wieder in Torpedoreichweite. Planen Überwasserangriff mit Viererfächer. Am Nordhorizont Land in Sicht. Kap Farewell. Sicht bessert sich. — Schollen und kleine Eisberge. Werden bei Anlauf von Bewacher auf Tiefe gezwungen. Vermutlich ein Zerstörer. Aber keine Wasserbomben. Maschinengeräusch ebbt ab. Sehrohrtiefe. Rund blick. Zerstörer nicht identifizierbarer Klasse und 96
Nationalität liegt gestoppt. Werden durch Schnee böen gedeckt. Tauchen auf. Schießen Torpedo auf Zerstörer. Fernschuß. Kein Treffer. 17. März, 13.00 Uhr MEWZ Getaucht. 5 Knoten. Kurs NO. Maschinengeräusche von Zerstörer und Galakta entfernen sich. Schießen Vierfächer. Erneut Fehlschuß. - Nur erklärbar durch zu große Distanz oder Sichtung von Torpedolaufbahnen und Ausmanövrierung derselben. 20 Minuten nach Ende der Torpedolaufzeit deut liche Detonation. Bestimmen Position. Laufen hin. Liberty-Frach ter Galakta getroffen. Trägt Rot-Kreuz-Markierung von Lazarettschiff. Vermutlich zwecks Tarnung. Schiff brennt und sinkt. Geht binnen kurzem hecküber auf Tiefe. Keine Bewegung an Deck. Keine Rettungsboote. Der beobachtete Zerstörer unbekannter Klasse und Nationalität nicht an der Untergangsstelle. Vermuten Torpedoschuß durch anderes U-Boot. Genaue Position: drei Meilen südlich Kap Fare well. Tiefenlinie 40.
Am 18. März 1943 trat U-634 gemäß BDU-Befehl die Heimfahrt an. Laut Peilung reichte der Treibstoff für die Rück kehr nicht. Die tagelange Jagd auf die Galakta mit Höchstfahrt hatte zu viele Kubikmeter Diesel ge kostet. Der Leitende Ingenieur versuchte U-634 mit der 97
für U-Boote ökonomischsten Fahrweise bis Norwe gen zu bringen. Der Steuerborddiesel lief 200 Umdrehungen. Sein Generator trieb die BackbordE-Maschine an. So hungerte U-634 sich zwischen den Faröer und den Shetlandinseln nach Osten durch die Minen felder und die Meute britischer Küstenschutzboote. Mehrmals mußte es alarmtauchen und hatte auch einen Flugzeugangriff zu bestehen. Leicht beschädigt, aber ohne Verluste, erreichte das Boot elf Tage später den U-Boot-Stützpunkt Kristiansand in Südnorwegen. U-634 sank im Herbst 1943 in der Biskaya nach dem Angriff von zwei B-17-Bombern. Der inzwischen zum Korvettenkapitän beför derte von Tauroggen kam mit seiner gesamten Besatzung ums Leben. 9. Der BND-Agent Robert Urban stand am schwarz kiesigen Strand bei Kap Farewell und blickte einem nach Süden driftenden Eisberg nach. Über Island war er nach Frederiksdal auf Grön land geflogen und von dort weiter mit einem gemieteten Jeep über das Randgebirge querfeldein gefahren. Es gab keine Straßen zu der Stelle, wo man Kapitänleutnant Endress gefunden hatte. Da hockte er nun und wartete. Draußen vor dem Kap lag ein Kriegsschiff vor Anker. Es war lang, schmal und grau. Mit Geschütztürmen und Radar. Mit Raketenschußvor richtung und Vierlingsflak. - Ein Zerstörer. Name und Flagge ließen sich mit bloßem Auge 98
nicht erkennen. - Es handelte sich um den Zerstö rer Lütjens der deutschen Bundesmarine. Er hatte sich auf Nordlandfahrt zu einem Som mermanöver der NATO-Flotte befunden. Kurz ent schlossen hatte ihn das Verteidigungsministerium nach Grönland umdirigiert. - Ein schnelles Schiff kostete dieser Haken vielleicht vierundzwanzig Stunden. Mit auf Fernsicht fokussierten Augen erkannte Urban die Umrisse des Zerstörers. Wenig später löste sich ein Punkt von der Lütjens. Es war der Bordhubschrauber. - Er stieg hoch und nahm Kurs landwärts, genau auf ihn zu. Urban schaute auf die Uhr. Der Helikopter war pünktlich wie die Maurer, von denen es hieß, sie seien noch pünktlicher als die Preußen. Der Bölkow ging tiefer, landete am Strand, ohne daß es staubte, und Urban stieg zu. Die Besatzung trug Pilotenoveralls, Urban sei nen Glencheck-Sakko, dazu blaue Hose, weißes Hemd und Slipper. Sie musterten ihn wie ein Wesen aus einer anderen Welt. „Machen wir hier nun taktische Spielchen oder was?" fragte der zweite Pilot ironisch. „Genau", sagte Urban. „Ich meinte ja nur." Der Pilot deutete auf Urbans Gucci-Slipper. „Solches Schuhwerk ist sehr zu empfehlen. Besonders beim Rückzug durch das Inlandeis." „In hundert Jahren schafft man es allemal", entgegnete Urban, „auch barfuß." „Du paßt nach Grönland wie ein Schuhplattler in die Pariser Oper, Mann." Der 1. Pilot gab noch eins drauf: 99
„Grönland ist sowieso altmodisch. Grönland ist out. Das schaut man sich nicht mal mehr im Fernsehen an. - Was tun wir hier eigentlich?" Urban steckte sich eine Goldmundstück-Ziga rette an. „Das möchtet ihr gerne wissen." „Klar, Kumpel." „Ist leider ein Spitzengeheimnis." „Und das verraten sie ausgerechnet 'ner Luxus type wie dir?" „Ich hab's erfunden", sagte Urban, „Kumpel." Sie hielten das alles für ungeheuer komisch und ihn für weiß was. Für einen spinösen Techniker, der den Eisgang beobachtete, für einen total ausge flippten Wetterfrosch, vielleicht für einen Radar experten, der auf der Lütjens irgend etwas zu reparieren hatte. „Und einen Stenz wie dich lassen sie auf unser schönes Schiff?" fragte der Pilot. „Hab' früher mal bei der Flotte gedient", ant wortete Urban. „Dienstgrad?" fragte der Oberbootsmann. „Ist das wichtig?" „Klar. Hast du es weiter als zum Matrosenober gefreiten gebracht?" „Nur unwesentlich." „Maat etwa?" „Kapitän zur See", sagte Urban, „wenn es erlaubt ist." Von da an schauten sie stur nach vorn. Und der Pilot sagte: „Bitte um Entschuldigung." „Wofür?" fragte Urban, und dann: „Wie lange fliegen Sie bordgestützte Helikopter?" „Sieben Monate." 100
„Das merkt man. Sie lernen das noch." Leicht irritiert landete der Pilot den Hubschrau ber auf dem Achterdeck der Lütjens. Der I. Wach offizier geleitete Urban unter Deck. Dort fand sofort die Lagebesprechung statt. Das erste, was der Kommandant nach der Begrüßung sagte, war: „Wir haben verdammt wenig Zeit." „Ich auch", erwiderte Urban.
Mit Sonar war die Lage des Galakta-Wracks auf zehn Meter genau geortet worden. Urban machte sich tauchfertig. Begleitet wurde er von zwei Marinetauchern, die zur Besatzung des Zerstörers gehörten. Da präzise Zusammenarbeit wichtig war, erklärte Urban, um was es ging. Inzwischen hatte sich sein Wissen um die Galakta, ihr Schicksal und die Fracht, um die es im März 1943 gegangen war, vertieft. „Kabine zwei, Brückendeck, hinter Kartenraum und Kapitänskammer." „Und auf was kommt es an, Commander?" „In Kabine zwei der Galakta sollte ein Mann von New York nach London gebracht werden. Eine kriegsentscheidende Person. So wichtig wie Ein stein. Festzustellen ist, ob sich dieser Mann tat sächlich auf dem Schiff befand, ob sein Gepäck oder Reste davon vorhanden sind . . . oder nicht." „Oder sein Skelett", ergänzte einer der Taucher. „Und wodurch das Schiff damals auf Grund ging. Durch einen Torpedo, durch eine Treibmine, durch Bomben oder wer weiß was." 101
„Ist das alles, Commander?" „Nahezu", sagte Urban. Sie stiegen, gehüllt in Neopren-Anzüge, versehen mit Aqualunge, Reserve-Preßluft und allem, was man brauchte, in das große Schlauchboot. Dann legten sie ab und fuhren zu der Boje, mit der schon Kapitänleutnant Endress das Wrack markiert hatte. Im Schutz der Kanonen und Raketen der Lütjens tauchten sie ab. — Außerdem konnten sie sicher sein, daß ihnen niemand Hyperton in den Kaffee geschüttet hatte. „Haie gibt es hier zum Glück nicht", sagte der eine Marinetaucher, „und wenn, dann nur in Form tiefgekühlter Koteletts." „Aber Killerwale", meinte sein Kamerad. „Wer im Urwald lebt", bemerkte Urban, „muß die Schlangen kennen." „Dann auf zu den Schlangen." Sie spuckten in die Brillen, setzten sie auf, schoben die Mundstücke des Preßlufttauchgeräts zwischen die Zähne und ließen sich rücklings ins Meer fallen. Es war kalt. In der Tiefe noch kälter. Aber klar. Die Bojenleine führte nahezu senkrecht zur Galakta hinab. Sie lag ein wenig zur Seite geneigt, aber horizontal auf dem Kiel. Sie war weniger veralgt und mit Muscheln bewachsen als Wracks in warmen Gewässern, aber nichtsdestoweniger ein häßliches Schiff. Die Liberty-Frachter waren damals nach reiner Zweckmäßigkeit, nicht nach der Schönheit kon struiert worden. Das Dreierteam teilte sich auf. Urban begutachtete den Rumpf, die Marinetau 102
eher versuchten, in das Wrack einzudringen. Dabei wühlten sie Plankton auf. Es verteilte sich wie eine grüne Wolke um das Wrack herum. Urban suchte ein Leck, wie es Torpedos hinter ließen. Er fand keines. Und auch keinerlei Hin weise auf einen Minentreffer. Aber er fand Löcher, wie Granaten von mittelschwerer Schiffsartillerie sie rissen. Er zählte ungefähr zwei Dutzend Treffer, die Hälfte davon unter der Wasserlinie. Das also hatte die Galakta zum Sinken gebracht. Aber alle Ret tungsboote hingen in den Davits. Warum hatte man sie, so dicht unter Land, nicht zu Wasser gelassen? Urban folgte nun den Marinetauchern. In Brük kennähe erkannte er ein Blinksignal und schwamm darauf zu. Einer der Taucher machte das Handzei chen für: bitte folgen. Vorsichtige Paddelbewegungen der Schwimm flossen brachten sie ins Innere des Wracks. Vor einem offenen Schott, an dem noch die Nummer zwei zu erkennen war, wartete der Taucher und leuchtete hinein. Es sah aus, als lasse er Urban den Vortritt. Urban schlängelte sich hinein. Wie silbrige Pfeile schoß ein Schwarm Heringe zum Bulleye hinaus. Erhalten hatte sich nur, was aus Metall war. Und ein menschliches Gerippe. Es lag auf dem Kojen rahmen. Das Fleisch, die Muskeln, das Gewebe, alles hatte sich zersetzt. Nur das Kalkgerüst war noch erhalten. Um das Rückgrat zwischen Schädel und Schul terknochen hing etwas. Ein ovales Stück Alumi niumblech an einer Metallgliederkette. Offenbar die Erkennungsmarke des Toten. 103
Er war ein großer Mann gewesen. Mindestens einsfünfundachtzig lang. Inzwischen war auch der Marinetaucher herein geschwebt. Mit zwei Halogenlampen suchten sie die Kabine ab. Spind, Back, Koffer, Bücher, alles war nur noch in Fragmenten vorhanden. Allein eine Flasche war erhalten geblieben. Der Form nach hatte sie einst Whisky enthalten. Draußen, wo der Niedergang zur Bordküche hinabführte, wurde es hell. Der dritte Mann stieß zu ihnen. Er signalisierte, daß er das Schiff durch sucht hatte. In der Linken hielt er seinen Draht korb. Darin lag etwas Längliches. Er deutete darauf. Urban leuchtete hin. Obwohl es sich nicht um eine muschelbewach sene Thermosflasche handelte, sah das Ding so aus. Vorne lief es spitz zu und hatte am Ende eine kugelartige Verdickung, wie manche bayerischen Kirchtürme. Die Tauchzeit ging zu Ende. Sie mußten mit dem Luftvorrat haushalten, denn beim Aufstieg aus vierzig Metern Tiefe mußten sie Pausen einlegen. Sie erreichten das Schlauchboot, als der Sauer stoff in den Geräten bereits zu Ende war.
Sie saßen im Boot und atmeten tief durch. Einer der Taucher sagte: „Der Blindgänger lag an Deck herum." „Kaliber zehn Komma fünf", schätzte Urban, „oder etwas mehr." Wegen des Bewuchses ließ es sich nicht genau bestimmen. 104
„Die Verdickung der Spitze enthält offenbar einen Spezialzünder." Urban hatte sich durchaus mit den verschiede nen Arten von Artilleriemunition befaßt, aber so ein Ding hatte er noch nicht gesehen. „Wir haben solche Granaten mal aus der Ostsee raufgeholt", erinnerte der andere Taucher sich. „Wissen Sie noch wo?" „Könnte vor Bornholm gewesen sein. War damals bei der Ausbildung." Von der Lütjens kam ein Blinksignal herüber. Urban blinkte die Antwort und kündigte ihre Rückkehr an. Der bulligere Marinetaucher sagte: „Der Frachter sank eindeutig durch Artilleriebe schuß. So was geschieht nicht von einer Minute zur anderen. Warum sind die Rettungsboote nicht weggefiert worden? Überall liegen Skelette. Im Maschinenraum, im Mannschaftslogis, in der Kom büse, Warum hat die Besatzung das Schiff nicht verlassen?" Urban begann, eine Theorie dafür zu entwickeln, aber noch hatte er zu wenig Fakten. Sie starteten den Heckmotor und fuhren zur Lütjens hinüber. Urban meldete sich beim WO an Bord zurück, gab die Tauchklamotten ab, duschte und kleidete sich wieder in Zivil. In der Offiziersmesse wurde ein kulinarisches Mittagessen serviert. Eintopf. Corned beef mit Kartoffeln. Marinequalität. Urban wandte sich an den Leitenden Ingenieur. „Können Sie", fragte er, „die Granate und die Erkennungsmarke reinigen lassen?" „Notdürftig schon. Wir schleifen den Belag ab, 105
lösen den Rest mit Säure weg und polieren das Ganze dann." „Aber bitte so, daß man eventuelle Aufschriften noch lesen kann." Der Leitende ließ den Drahtkorb mit der Gra nate und die Erkennungsmarke wegbringen. Urban berichtete dem Kommandanten von sei nem Tauchgang. „Punkt eins ist jedenfalls geklärt. Ein deutsches U-Boot hat die Galakta nicht torpediert." „Auch nicht mit der Kanone beschossen?" „Solche Granaten haben nie ein deutsches Geschützrohr verlassen", wagte Urban zu be haupten. „Welches Geschützrohr dann?" „Möglicherweise das jenes Zerstörers, der mit der Galakta Kontakt hatte." „Ein alliierter Zerstörer", bemerkte der Kom mandant ungläubig, „versenkt sein eigenes angeb liches Lazarettschiff?" „Als hätte es die Pest an Bord", bemerkte der Stabsarzt. Urban hatte einen bestimmten Verdacht, behielt ihn aber für sich. „Fanden Sie, was Sie suchten, Kapitän Urban?" „Ein Skelett." „Skelette sagen nur dem Pathologen etwas", meinte der Arzt. „Aber einen Pathologen kriegen Sie da nicht runter, und das Skelett kriegen Sie heil wohl auch nicht herauf. Vielleicht einzelne Knochen." Damit deutete er, gewiß ohne Absicht, ein Ver säumnis Urbans an. Warum hatte er nicht einen Knochen des Skeletts mitgenommen. - Der Tatbe 106
stand der Leichenfledderei wäre wohl entschuld bar gewesen. Es dauerte nicht lange, dann brachte ein Mann aus der Maschine die gereinigte Granate und die Erkennungsmarke. Urban hielt sie gegen das Licht und versuchte die Prägung zu entziffern. Elias Parker - Blutgruppe B - jew. - Nr. 191217/43 „Na bitte, das ist der Gesuchte." „Leider nicht", antwortete Urban und beobach tete den Artillerieoffizier, der als Fachmann die Granate untersuchte. „Kaliber zehn Komma fünf. Aufschlagzünder. Sprenggranate." „Steht das etwa drauf?" fragte der Leitende spöttisch. „Es steht allerdings etwas drauf", bemerkte der Artillerieoffizier. „Aber ich kann kyrillische Buch staben nicht lesen." „Darf ich mal?" Urban sprach Russisch und ein wenig Polnisch. Und er fand, was er suchte. — Wie auf gewissen deutschen Munitionsarten als Herkunftszeichen ein Hoheitsadler geprägt war, gab es hier die Prägung von Hammer und Sichel. „Russische Munition." „Wer hat sie verfeuert?" „Bestimmt kein kanadischer, britischer oder amerikanischer Zerstörer. Die Russen hatten kaum genug Granaten für den eigenen Verbrauch." „Ein russischer Zerstörer so weit im Norden?" „Von Murmansk, ihrem Eismeerhafen aus gese hen, ist es weit im Süden." 107
„Ob er die Galakta für einen deutschen Frachter hielt?" Urban fürchtete, daß der Russe ganz andere Befehle gehabt hatte. Bald fürchtete er es nicht mehr, sondern glaubte es zu wissen. „Um diesen Doktor Parker kann es wohl nicht gegangen sein", bemerkte der Kommandant der Lütjens. „Nur um ihn ging es", entgegnete Urban. „Dann bekamen sie ihn aber nicht." „Sie bekamen ihn", erklärte Urban. „Wir wissen wenig über Dr. Parker. Nur soviel, daß er eher klein als mittelgroß war. Ungefähr fünfeinhalb Fuß, beschreibt ihn die CIA. Und das Skelett in Kabine zwei ist nahezu ein Fuß länger. Es ist also nicht das von Dr. Parker." „Aber die Erkennungsmarke?" „Die hat man dem Toten, den man für Parker in dessen Koje legte, umgehängt. Zur Tarnung, falls jemand ihn dereinst finden sollte." „Das ist eine echte Horrorgeschichte", äußerte der Funkoffizier begeistert. „Wie sie das Leben so schreibt", spottete Urban. Der Arzt spann den Faden weiter. „Sie stoppten also die Galakta, holten Dr. Parker vom Schiff und brachten eine Kiste mit präparier tem Wodka an Bord, der die Besatzung einschlä ferte. Dann schössen sie den Frachter in Grund und Boden," „Und wer, bitte, hat das getan?" fragte einer der jüngeren Offiziere vom Tischende her. Urban antwortete nicht. Er bedankte sich für die tatkräftige Unterstüt zung und die Gastfreundschaft. Wenig später setzte der Hubschrauber ihn an Land. 108
Urban hatte den Jeep noch nicht in Bewegung gesetzt, da hatte der Zerstörer Lütjens draußen schon Fahrt aufgenommen und verschwand mit Kurs auf die Dänemark-Passage. Im klaren Licht des arktischen-Spätsommers war sie noch lange zu sehen. 10. Erst als sie im Taxi saßen und durch das nächtliche Paris fuhren, ließ der Kommandoführer der Kuba ner die Katze aus dem Sack. „Jetzt kneift gefälligst die Arschbacken zusam men und haltet die Kanonen schußbereit." „Sind wir im Krieg?" „So ungefähr." „Und woher weißt du das, Capo?" „Mein Riecher." „Bei so viel Luftverschmutzung verlasse ich mich lieber nicht auf meine Nase." „Es sind Perser. Und Perser spielen meistens verrückt." „Wer behauptet das?" „Ich", sagte der Teamchef. „Daß es Perser sind?" „Die Zentrale hat Informationen. Angeblich suchen die Perser nach demselben Mann, Ding, Scheißdreck, nach dem auch wir suchen." Die anderen verstanden. „Wir sollen also . . . " „Genau." „Jeder Perser ist ein gläubiger Kämpfer für den Ayatollah, aus dem holst du nichts raus." „Ich schon", behauptete der Kommandoführer. 109
„Er quetscht es noch aus seinem Blut", sagte der dritte Mann. „Er heißt Blutquetscher, vergiß das nicht." „Es gibt Mittel", sagte der Teamchef. „Zum Beispiel Messer. Ein Messer ist spitz und scharf. Dann gibt es Zigaretten. Jede Zigarette hat eine Glut. Und Kanonen. Jede Kanone hat Patronen. Patronen haben Kugeln, und Perser haben Knie scheiben wie du und ich." „Und die Perser wissen etwas über Parker?" „Das zu ermitteln ist unsere Aufgabe." Sie sprachen Spanisch, damit sie der Taxifahrer nicht verstand. Jetzt, als sie von Pont Neuf in Richtung Rue Montmartre fuhren, gab der Teamchef dem Fahrer neue Anweisungen. „Boulevard Clichy und dann dritte Querstraße nach dem Moulin Rouge den Berg rauf." „Den Berg rauf", bestätigte der Algerier.
Sie gaben der Concierge hundert Francs, dann fragten sie. Zweiter Stock, den Gang links. Dort, wo Licht brannte, wohnte angeblich ein Perser. Sie schlichen hinauf. Es stank sauer nach undichten Abwasserrohren, nach Essen und unge lüfteten Wohnräumen. Sie hatten die PPK-Pistolen durchgeladen. Die Patronen steckten in den Läufen. Sie hielten die Pistolen in der Hand. Nur ihr stämmigster Mann, der Türbrecher, nicht. Er war kubanischer Meister im Gewichtheben gewesen und wog hundertzwan zig Kilo. 110
Er ging vor ihnen. Eine Diele knarrte. Vorsichtig weiter. Zweite Etage, der Gang, die Tür, das Licht im Spalt. — Drinnen dudelte ein Radio. Trotz der Dunkelheit konnten sie sich durch Gesten verständigen. Der mit den Stemmerschultern nahm Anlauf und rammte die Tür ein. Holz splitterte, die Tür schlug innen gegen den Schrank. Schon standen die anderen Kubaner im Raum. Der Perser, ein kleiner, fixer, schob die Finger unter das Sofakissen zur Waffe, als ihn ein Hand kantenschlag das Gelenk zertrümmerte. Sie rissen ihn hoch, bohrten ihm einen Pistolen lauf ins linke Nasenloch und sagten auf englisch: „Was weißt du von Doktor Parker?" „Doktor wer?" Sie traten ihm auf die Zehen. Er trug nur Slipper und spürte den Absatz schmerzhaft. „Wenn das ein Scherz sein soll", keuchte der Perser. „Ich überlege gerade", sagte der Teamchef der Kubaner, „und ich überlege folgendes: Ob wir mit deinem Ohr anfangen oder mit dem Zeigefinger," Der Perser hatte ein braunes, zerfurchtes, nahezu fleischloses Gesicht, das jetzt die Farbe von schimmligem Quark annahm. Sie zogen ihm das Hemd aus der Hose. Der dritte Kubaner steckte sich eine Havanna an. „Eine Zigarre", sagte der Teamchef, „brennt besser." Noch ehe sie mit einer Messerklinge oder mit Glut den Bauch des Persers berührt hatten, fluchte der: „Verdammte Hunde. Allah wird es euch büßen lassen." 111
„Ein mieser Tag für Allah und seine Gläubigen, he?" höhnte der Anführer der Kubaner. „Kann mich an keinen guten Tag erinnern", sagte der Perser, der auch nur ein armes Schwein war. Dabei sah es so aus, als sei er bereit auszu packen. Sie stellten ihn an die Wand und hielten die Drohung aufrecht, indem sie auf den Tisch eine Pistole und ein Messer legten und der Dicke an der Havanna zog, daß die Glut aufleuchtete.
Die Augen des Persers irrten verängstigt hin und her. „Damit", erklärte er ihnen, „eines klar ist, und dafür könnt ihr mich foltern oder umlegen: Wo Doktor Parker ist, wissen auch wir nicht." „Aber ihr sucht ihn." Der Perser nickte. „Das trifft zu." „Was habt ihr gefunden? Ihr treibt euch doch nicht für nichts in London und Paris herum." Der Perser hatte Mühe, es glaubhaft zu machen. „Wir fügen noch einen Stein zum anderen. Doktor Parker fuhr dreiundvierzig auf einem Schiff von New York nach Osten. Das Schiff liegt vor Grönland auf Grund. Ein Deutscher, der danach suchte, wurde umgelegt." „Von wem?" „Vielleicht von Leuten, die die Nachforschungen unterbinden wollen." „Also haben sie Parker." „Parker wäre heute über siebzig." „Weiter!" „Der Tote war deutscher Marineoffizier. Die deutschen Behörden gehen dieser Sache nach. Sie sind es, die derzeit am meisten wissen. Wie man 112
hört, fand vor Kap Farewell eine Tauchoperation im Schutz eines Nato-Zerstörers statt. Sie müssen etwas gefunden haben." „Was?" „Fragt den Agenten, der die Operation leitete." „Wer ist dieser Agent?" Der Perser gab auch dies preis, denn es kostete ihn wenig. „Sie nennen ihn Mister Dynamit. Ein BNDAgent. BND ist der Bundesnachrichtendienst." Die Kubaner fragten nicht danach, woher der Perser das wußte. Bei jedem Geheimdienst gab es undichte Stellen und im Nato-Geheimverbund erst recht. Von zehn Geheimnisträgern waren minde stens zwei käuflich und für Geld zu Aussagen bereit. „Mister ist englisch und Dynamit ein Spreng stoff", sagte der Kubaner. „Agent Code achtzehn. Name Robert Urban. Wohnhaft in München." Sie holten noch eine Menge aus ihm heraus. Als sie von ihm abließen, war der Blutquetscher sicher, daß der Perser alles, aber auch alles gesagt hatte. „Was machen wir mit ihm?" fragte der Athlet. „Knebeln und gut fesseln. Sie werden ihn finden. Aber bis dahin sind wir schon weit weg." Wenig später verließen sie in der Nähe des Place Pigalle das Gewirr der alten Gassen und winkten einem Taxi.
Der Operationschef in Havanna antwortete: „Das deckt sich mit unseren neuesten Erkennt nissen." 113
„Und wie lautet die weitere Order?" fragte sein Mann in Paris. „Gut gearbeitet bis jetzt", lobte der Vorgesetzte. „Macht weiter so. Aber was bis jetzt Schwach strom war, wird von nun an Hochspannung." „Mister Dynamit" nannte der Mann in Paris ahnungsvoll die Voltzahl. „Sucht ihn, stellt ihm eine Falle, bringt ihn zum Reden. Ihr kennt das Ziel. Es lautet: Parker oder sein Serum." „Wir setzen uns morgen früh in Bewegung. Aber wir brauchen ein Einreisevisum." „Beschafft euch bei der Botschaft spanische Pässe. Spanier sind EG-Mitglieder und können frei herumreisen." „Unser Geld geht zu Ende", erwähnte der Mann in Paris noch. „Die Botschaft bekommt eine Anweisung über Telex." Als der Kubaner das Hauptpostamt verließ, fröstelte ihn. Die Herbstnacht in Paris war für einen Kubaner kalt wie die Arktis. Er kaufte zwei Flaschen Rum und fuhr ins Hotel zu seinen Männern. Indem er den Korken durch gezielte Schläge auf den Flaschenboden heraustrieb, übermittelte er die Befehle aus Havanna. „Ab morgen wird es ernst. Ich habe dafür einen Riecher. Bisher war es lauwarm. Dieser BND-Typ hat einen schlechten Ruf." „München", sagte einer. „In München sind die Nächte lang." „Du verwechselst das mit Hamburg." „Außerdem war da noch etwas mit einer Frau", 114
bemerkte der Teamchef. „Ob man die benutzen könnte. Ich meine, ob man mit ihr weiterkäme?" Sie begannen zu trinken. Mit Rum war alles leicht. Das Graue wurde ein wenig bunt. Der Teamchef sprach von alten Zeiten. Wenn er erzählte, hörte er nicht mehr auf. Dann glaubte man, ihm gehörte der ganze kubanische Geheim dienst und alle geheimen Kriege dieses Jahrhun derts gingen auf ihn zurück. „Für mich auch noch ein Glas", sagte der Gewichtheber. „Stopp!" antwortete der Teamchef. „Wir wissen doch, was sich gehört. Geteilt wird wie immer. Die eine Hälfte für mich." Er rülpste und fügte grinsend hinzu: „Und die andere Hälfte auch."
11. Mitten in seinem Referat vor dem BND-Vizepräsi denten wurde Urban ans Telefon gerufen. „Karen, das Friesenmädchen", scholl es aus dem Hörer. Plötzlich mußte er an den goldenen Flaum an ihren Schenkeln denken und an das goldene Vlies weiter oben. „Ruf mich später zu Hause an." Er gab ihr seine Privatnummer. Sie ging nicht darauf ein. „Ich liege noch im Bett. Es war schön am Nordseestrand", schwärmte sie. „Ich träume davon." „Junge schlafen lang", sagte er, „und die Schö 115
nen schlafen ganz besonders lang. Was gibt es, Friesenmädchen?" „Muß dich sehen." „Flensburg steht nicht auf meinem Programm." „Ich bin nicht in Flensburg". fuhr sie fort. „Kennst du einen Ort namens Garmisch-Parten kirchen?" „War da nicht mal die Olympiade?" „Hör zu, Urban", wurde sie mit einemmal sach lich. „Ich bin jung, aber manchmal auch alt genug, um Großmutter zu sein. Also ganz ernsthaft. Ich habe noch etwas gefunden." „Das Rasierwasser von Endress." „Nein, in seiner Armprothese. Die Kapsel mit Mikrofilm in seiner Armprothese." Sie war ein verdammt schlaues Mädchen. Daß es irgendwo Mikrofilme gab, war nicht auszuschließen, aber Endress hatte keine Prothese getragen. Er war noch im Besitz all seiner Extre mitäten, als er starb. - Also wollte sie damit etwas ausdrücken. Sie wollte ihn warnen. Vielleicht stand sie so unter Druck, wie eine brutale Organi sation einen Menschen nur unter Druck zu setzen vermochte. Er reagierte sofort, denn die Wahrscheinlichkeit, daß mitgehört wurde, war nicht auszuschließen. „Verflucht, ja, in seiner Prothese habe ich nicht nachgesehen." „Aber ich. — Wann bist du da?" „Ich eile", versprach er und hängte etwas Unver fängliches an: „Wie wär's mit horizontalem Kör perkontakt?" „Ich wüßte im Moment nichts Besseres." Sie sagte ihm, wo er sie fand. In einem Haus am 116
Südrand von Garmisch auf die Berge zu. Ein einsam gelegener Bauernhof. „Wann?" fragte er. „Um sechs." „Warum nicht um vier?" „Schön, um vier." Nachdem er aufgelegt hatte, trafen die Augen des Vizepräsidenten ihn wie ein Radarstrahl. „Klingt nach Falle." „Es ist eine." „Dann würde ich mich an Ihrer Stelle gut panzern." „Darauf können Sie sich verlassen." Urban beendete seinen Vortrag. Noch einmal faßte er alles zusammen und kam dann zum Schluß. „Die Galakta wurde, nachdem man Dr. Parker von Bord geholt hatte durch einen russischen Zerstörer versenkt. Man konnte keine Zeugen gebrauchen. Aber man wollte Dr. Parker und sein Medikament. Vermutlich für einen Mann ganz oben an der Spitze in Moskau." „Stalin?" fragte der Präsident. „Wenn er 1943 an Krebs erkrankt war, dann verlängerte das Parker-Präparat immerhin sein Leben um eine entscheidende Phase." Der Vizepräsident lehnte sich zurück und mas sierte seine Nackenflanken. „Ob die Russen das Präparat haben?" „Wohl kaum. Fünfundvierzig Jahre lang läßt sich so etwas nicht geheimhalten." „Dann dürfte Parker also längst tot sein." „Oder er ist ein so großer Schweiger, daß Moltke gegen ihn ein Schwätzer war." 117
„Wie lautet die Meinung unserer medizinischen Experten über die Sache?" Urban schaute auf die Uhr. „Ich treffe mich gleich mit einem der führenden Immunologen." „Sie halten mich auf dem laufenden, ja?" Urban nickte. Sein Haar wird auch immer dünner, dachte er, kommt von den Sorgen. Bin neugierig, ob er bald eine Perücke benutzen wird. — Aber verdammt, warum dachte er an so was, wo es wichtigere Dinge zu denken gab.
Prof. Dr. Dr. Staller galt als Kapazität. Der weißhaarige Bergsteigertyp lag auf der Ter rasse seiner Tutzinger Villa und entschuldigte sich, daß er nicht in der Lage sei, aufzustehen. „Habe mir heute morgen auf der Jagd den Hexenschuß geholt. Als ich vom Hochsitz runter stieg. Saß wohl zu lange in der feuchten Kälte da." Urban grinste nur. „Ich weiß, was Sie denken, Bob. Sie denken, als Arzt müsse man das wissen. Sie haben recht. Aber es gibt keinen schlechteren Arzt, als wenn man der eigene Arzt ist." „Und keinen unfolgsameren Patienten", ergänzte Urban. Es war warm in der Nachmittagssonne. Der Starnberger See und das Ammerlander Ufer waren zum Greifen nah. Das Wetter würde sich wohl ändern. „Mein Masseur hat mich eine Stunde lang durch gewalkt. Manchmal hilft es", sagte Staller. 118
Offenbar hatte es heute nicht geholfen, denn bei jeder Bewegung verzerrte der Arzt das Gesicht vor Schmerz. Aber sein Kopf war in Ordnung. Urban hatte sich angemeldet und Stichworte gegeben. „Dr. Parker", begann Urban. Die Antwort des Professors kam ohne Verzöge rung. „Parker ist eine Figur so geheimnisvoll wie Robin Hood oder wie Rübezahl. Aber er lebte wirklich. Das ist erwiesen. Und er wurde offenbar von Gottvater erleuchtet. Er fand etwas gegen Krebs. Man sagt, vielmehr es geht in Ärztekreisen die Legende, sein Parker-Präparat habe das Leben Henry Fords, Churchills und Stalins verlängert." „Ein Mittel gegen Krebs also." „Bei Roosevelt wirkte es nur kurz, denn der USPräsident war durch die Poliomyelitis schon zu stark geschwächt. Wenn es sich bei ihm wirklich um Dickdarmkrebs handelte, was nach Erkran kung eine Überlebensfrist von zwölf Monaten erwarten läßt, schenkte Parkers Serum ihm immer hin noch ein zusätzliches Jahr." „Professor Parker verschwand damals spurlos. Heute, fünfundvierzig Jahre später, weiß man etwas mehr darüber." „Ich hörte", fuhr der Mediziner fort, „ein deut sches U-Boot habe den Dampfer versenkt, obwohl er als Lazarettschiff vorschriftsmäßig gekenn zeichnet war." „Es war kein Lazarettschiff, und es wurde nicht von einem deutschen U-Boot versenkt", erklärte Urban. „Das weiß man inzwischen. — Aber was vermutet man hinter dem Parker-Präparat?" 119
Der Mediziner faßte unter Schmerzen zu seinem Cognacglas, nahm einen Schluck und sagte dann: „Wenn man dieses Zaubermittel hätte, würde man es wohl Parkeron nennen, und es wäre ein Multimilliardengeschäft. Amerikanische Kollegen kolportieren eine Geschichte, wonach Parkers Assistent, ein gewisser Dr. Chandler, das Präparat nachkonstruiert haben sollte. — Es mißlang. Er brachte es trotzdem auf den Markt. Bei der klini schen Erprobung gab es krasse Fehlschläge." „Tote?" „Ja. Woraufhin Chandler sich - er war völlig überschuldet — zu töten versuchte. Durch Kopf schuß. Die Kugel machte ihn nicht zur Leiche, aber zum Krüppel. Er vegetierte in einer Heilan stalt im US-Staat Virginia." Urban lag weniger an Stories und Klatsch, als an dem, was Prof. Staller von dem Parker-Serum wußte oder darüber dachte. „Was könnte dieses Parker-Serum damals ent halten haben? Aus heutiger Sicht." Der Arzt hob beide Hände und ließ sie wieder fallen. „Es hat mit Frischzellentherapie zu tun, der man heute nicht nur eine Null- sondern eine Negativwirkung nachsagt. Dann hat es mit Zell extrakten von Tieren zu tun, welche die Fähigkeit besitzen, ganze Körperteile zu ergänzen. Etwa wie bestimmte Reptilien ihre Schwänze und Schlan gen ihre Haut erneuern, oder Regenwürmer, die aus einem einzigen Ring neue funktionsfähige Systeme bilden. Aber das ist nicht alles. Vermut lich hat Parker sich auch aus der Welt der Bota nik bedient. Es gibt Pflanzen mit einer Wachsge schwindigkeit, die die des Menschen um das Tau 120
sendfache übertrifft. Vielleicht gelang ihm damals schon eine Genveränderung. Ja, und aus alledem kochte er sein Süppchen." „War er ein Genie?" „Nein, gewiß nicht", erklärte der Professor. „Betrachten wir es doch einmal mathematisch. Heute schon, und davon bin ich überzeugt, exi stiert ein Mittel gegen jede Art von Krebs und auch gegen Aids. Man muß es nur unter den Millionen bekannter Stoffe herausfinden und mit den anderen Millionen bekannter Stoffe im richti gen Verhältnis kombinieren. Wenn Parker etwas fand, dann nicht durch Nachdenken, sondern durch Zufall." „So einfach ist das." „Als Genie zu gelten? Ja." Staller hatte das Wort Aids erwähnt. Vielleicht die schlimmste Seuche dieses Jahrhunderts. „Wenn Parkers Serum gegen Krebs wirkte, dann würde es auch gegen Aids wirken." „Man nimmt es an." „Sind diese Erkrankungen auf Immunschwäche zurückzuführen?" „Aids ist ein Virus, Krebs fängt als Zellentar tung an. Ein gesunder, also intakter Organismus, wird davon mehrmals am Tag befallen und damit fertig. Aber dieses Trommelfeuer von Angriffen schwächt ihn auf die Dauer. Dazu kommen Beein trächtigungen durch Krankheiten, etwa durch eine einfache Grippe, durch Blutvergiftung, Blu tergüsse, Wunden, Eiterherde, durch exzessives Leben, Trinken, Fressen, Huren. Durch übermäßi gen Sport, nicht zu vergessen, und durch Schäden der Psyche, der Seele. Das alles zusammengenom 121
men macht die Waffen des Körpers allmählich stumpf." Im Grunde wußte Urban jetzt genug. Aber es half ihm nicht weiter. Er schaute auf die Uhr. — In einer Stunde war er in Garmisch verabredet. „Danke, Professor." „Sie gehen schon?" Der Professor richtete sich ein wenig auf und sah unten am Zaun ein hohes grünes Auto stehen. „Heute mit Geländemercedes da?" „Es läuft noch ein kombinierter Einsatz." „Im Walde bei den Hasen." „Nicht im Wald", sagte Urban. Aber Hase war nicht falsch getippt.
Das Haus lag einsam und noch ein Stück oberhalb vom Sonnenhof am Waldrand. Alles war bestens organisiert. Außer Kühen sah man nicht eine Pistolenmündung. Urban überquerte den schmierigen Hang. Die Wiese war feucht. Erst mußte er in den Allradan trieb, dann sogar auf die Differentialsperre. Das Haus, ein ehemaliger Stall, war als bewohnbare Almhütte ausgebaut worden. Über dem Mauerwerk kam Holz. Den Balkon schützte ein vorspringendes Dach. Vor der Hütte rauschte ein Brunnen. An Romantik war es nicht zu über bieten. Urban glaubte, Bewegung an einem der Fenster vorhänge zu erkennen. Als er sich dem Haus näherte, ließ er gegen seine Gewohnheit den Motor noch einmal hoch 122
brummen. Dies, um sein Kommen anzukündigen. — Gewiß hatten sie ihn längst gesehen. Er stieg aus. zeigte sein Gesicht, steckte sich lässig eine MC an und schaute sich dabei um. Sein Verhalten sollte sie ablenken, aber auch nicht so wirken, als sei er völlig ohne Mißtrauen. Im feuchten Erdreich lief eine Autospur zur Remise. Die Tür stand halbseitig auf. Drinnen stand Karens VW mit dem Flensburger Kennzeichen. Er rauchte die Zigarette zu Ende, trat die Kippe in den Dreck und schöpfte aus dem Brunnentrog zwei Hände voll Quellwasser. Er wusch sich das Gesicht, als würde er schwitzen, und trocknete es mit dem Taschentuch. Dabei schielte er nach links. Nun wußte er, daß jemand im nördlichen Eck zimmer war. Er ging zur Haustür, trat sich die Sohlen sauber ab, Öffnete die Tür und rief in den dunklen Gang hinein. „Karen Dolmann!" Da keine Reaktion erfolgte, wiederholte er seine Frage: „Frau Dolmann?" Wieder keine Antwort. Er ging ungefähr sieben Schritte ins Haus hin ein. Draußen brüllten die Kühe. Dann war wieder totale Stille. An die Wand gepreßt drückte er die Wohnzim mertür auf. Sie schwang nach innen. Links stand ein blauer Kachelofen, auf dem Hirtenteppich ein Tisch mit Bauernstühlen, dahin ter war der Herrgottswinkel mit Kruzifix und Blumen. Urban bewegte sich vorwärts und vergrößerte sein Blickfeld. 123
Karen Dolmann saß auf einem der Stühle, den Oberkörper nach vorn und ein wenig zur Seite geneigt, starrte sie ihn an. Ihr Mund war mit Paketband verklebt, ihre Hände und Füße mit Plastikschnüren gefesselt. Ein Geräusch ließ Urban herumfahren. Dicht hinter ihm atmete ein Muskeldreieck mit einer Axt in der Hand. Also nahm Urban den Weg nach vorn. In der Stube sah er sie dann. Einer stand am Schrank, der andere trat hinter dem Ofen hervor. Der Ältere hatte eine Stirling-Maschinenpistole, der Kleinere nur einen 38er Trommelrevolver. „Mister Dynamit?"
„Mein Name ist Urban."
„Das genügt uns."
Seit dem Eintritt ins Haus waren vielleicht
siebzig Sekunden vergangen. Das genügte noch nicht. Er versuchte, die Unterhaltung auszudeh nen. Minimum drei Minuten, hatte man von ihm gefordert. „Wir griffen zu diesem Mittel", sagte der mit der Stirling in spanisch gefärbtem Englisch. Aber Spanier war er nicht. „Puertoricaner?" fragte Urban, „Mexikaner? Nein, Kubaner." „Schlaues Kerlehen", sagte der mit der Axt. „Wie kommt er darauf?" Urban hatte die grüne angerauchte Havanna im Ascher gesehen. „Wir griffen, wie gesagt, zu diesem Mittel, Senor." Niemand brauchte Urban zu erzählen, was erlaubt und was nicht erlaubt war. In diesem Geschäft war einfach alles erlaubt. 124
„Was wollen Sie von mir?" „Alles über Doktor Elias Parker."
„Er ist tot." „Nein, er lebt." „Dann ist er siebzig und senil." „Er ist vielleicht siebzig und senil." „Er ist vielleicht siebzig, aber völlig okay." „Dann wissen Sie mehr als ich." Es ging hin und her. Die Sekunden verrannen. Urban lenkte sie ab. Sie merkten es nicht. Um es noch besser zu tun, reizte er sie. „Lassen Sie sofort das Mädchen frei, und ziehen Sie Leine. Nur dann sehe ich davon ab, die Behörden zu verständigen." „Soll ich ihm das Maul stopfen", fragte der mit der Axt, „oder den Schädel spalten?" „Noch nicht." Der Wortführer wandte sich wieder an Urban. „Sagen Sie mir, was Sie wissen, und Sie und die Frau kommen ungeschoren davon." „Reden Sie keinen Stuß, Mann", entgegnete Urban. „Wenn hier einem der Arsch aufgerissen wird, dann seid ihr es." Der Muskelberg schnaubte wütend und stieß Urban die stumpfe Seite der Axt ins Kreuz. Urban fuhr herum und fixierte ihn. „Companero", drohte er. „Tu das nicht noch einmal." Da holte der Schwerathlet aus. Urban tänzelte zur Seite. Ein Warnschuß fiel. „Ruhe, verdammt!" Karen Dolmann stöhnte gepreßt. Die drei Minuten waren um. - Warum, zum Teufel, kamen die GSG-9-Typen nicht. Die Kubaner machten jetzt Ernst. Bereit, Urban 125
hochzunehmen, wechselten sie schnelle Blicke. Wer griff zuerst an? Doch Urban hatte die Mauser vom Halfter gezogen. „Einer von euch", dehnte er die Zeit, „sollte schon mal die Ambulanz rufen." Wütend stürzte der Athlet sich auf ihn. Noch einmal konnte Urban ihn abwehren. Er stellte ihm ein Bein. Der Kubaner stolperte. Von da an sah Urban allerdings schwarz. „Ich mache ihn kalt."
„Ja, brech ihm die Knochen."
Der mit der Axt holte aus, — Doch mit einem
Mal veränderte sich das Licht in der Stube. Es wurde dunkel, denn draußen vor den Fenstern standen Schatten. Scheiben barsten. Die Fenster flügel klappten nach innen. Die Männer draußen trugen Kampfanzüge, Schutzbrillen und Stahlhelme. Die Gesichter waren mit Tarncreme verschmiert. Sie hatten Schnellfeuergewehre, Maschinenpistolen und Eierhandgranaten in den Fäusten. Die Kubaner gaben nicht auf. Sie packten das Mädchen. Karen Dolmann wehrte sich so gut es ging. Urban schlug den Wortführer mit der Hand kante nieder. Die Axt sauste über seinen Kopf hinweg in die Wand. Nun suchten die Kubaner ihr Heil in der Flucht. Sie stürmten nach hinten hinaus. Doch auch dort waren die GSG-9-Leute, wie überall. Urban nahm an, daß sie sogar einen Posten oben am Schorn stein sitzen hatten. „Ihr kommt spät", stellte Urban fest. 126
„Gerade richtig", bemerkte der Kommandant der Sondereinheit. Sie befreiten Karen Dolmann von den Fesseln und dem Knebel. Sie stand auf, wankte knieweich zu Urban und umarmte ihn. „Jetzt gehst du nie wieder weg, ja?" flüsterte sie. „Nie im Leben", sagte er. Es war insofern keine Lüge, als es auch bedeu ten konnte, daß er nicht daran dachte, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Der GSG-9-Kommandeur ordnete die sachge mäße Behandlung der Kubaner an. Einem wurde die Platzwunde verarztet. Sie bekamen Stahl schellen. Hände auf dem Rücken. Vom Wald herüber kam ein Mannschaftstrans portwagen, um die Kubaner zu übernehmen. „Was soll mit ihnen geschehen?" „Sie gehören euch", zeigte Urban sich generös. „Sie meinen dem Verfassungsschutz." „Wem auch immer", sagte Urban. „Aber eine Bitte habe ich. Ich muß die Typen noch einmal verhören. Auf der Fahrt nach München kommen Sie am Staffelsee vorbei. Meine Firma betreibt dort eine Art Gästehaus, für besonders liebe Freunde und Geschäftspartner. Wir haben ein Abendessen für Sie und Ihre Männer vorbereitet. Eine gute bayerische Mahlzeit nimmt Sie gewiß zwei Stunden in Anspruch. Zwei Stunden genügen mir." Es war nicht anders zu machen. Der BND konnte auf dem Gebiet der Bundesrepublik wenig tun. Seine Zuständigkeit begrenzte der Schlag baum. 127
Der Kommandeur der Grenzschutzeinheit ver stand richtig. „Wir nehmen", sagte er, „Ihre Einladung gerne an." 12. Sie nannten ihn den Mahdi, den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten. Nach vierzehn Jahren des Exils war er nach Teheran zurückgekehrt, hatte den Schah verjagt und die iranische Republik gegründet. Unerbittlich und mit unstillbarem Rachedurst hatte er Hunderttausende seiner Feinde hinrichten lassen. Er hatte den Gläubigen das Paradies ver sprochen, aber es war eher die Hölle daraus geworden. Im Golfkrieg hatte er die Tapfersten seiner Anhänger als Kanonenfutter verheizt. Die Wirt schaft war ruiniert. Millionen waren obdachlos. Das Volk hungerte. Und trotzdem verehrte es den finsteren Alten wie einen Gott. Aber vorbei war die Zeit der Jubelstürme, als er am Mosall-Platz zu ihnen sprach. Immer seltener hatte Khomeini sich in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit gezeigt. Jetzt lag er im Norden Teherans im Stadtviertel Dschanaran in seiner Villa und war todkrank. Die Öffnung seines Leibes und die Darmopera tion waren sogar im Fernsehen übertragen worden. Doch nun ging das Gerücht um, der Mann, den sie als Gott verehrten, sei doch nicht unsterblich. Eng gedrängt standen sie vor seiner Villa, um als erste zu hören, was die Ärzte zu sagen hatten. 128
Hieß es, daß es ihm besserging, dann jubelten sie, sanken auf die Knie und beteten. Hieß es, der Gesundheitszustand Khomeinis habe sieh nicht verändert, dann fürchteten sie alle, er habe sich verschlechtert. Dann lag dumpfe Trauer über der Stadt. Noch war der Schiitenpapst für alle der Super mann. Sie trugen Transparente mit seinem Bild und den Worten: Niemals wird Khomeini uns verlassen.
Der General hatte einst dem Savak angehört, dem berüchtigten Geheimdienst des Schahs. — Fast alle seine Kameraden aus dieser Zeit waren tot. Ihn hatte man am Leben gelassen und sogar befördert. Dies aus zwei Gründen: er war ein heimlicher Vertrauter der Gruppe Khomeinis gewesen und Experte von hohen Graden. Als der Arzt aus dem Krankenzimmer kam, war der stellvertretende Ministerpräsident der erste und der General der zweite, mit dem er sprach. Allein schon sein Gesicht drückte alles aus, Übernächtigt, mit schwarzen Ringen unter den müden Augen, sagte der Arzt: „Die Operation war erfolgreich." „Dann wird er also überleben." „Ich sagte, die Operation war erfolgreich. Wir haben das verschlossene Darmstück entfernt, aber die anderen Organe, Leber, Blase, Lunge, sind schon angegriffen." „Er hat immer keusch gelebt. Er ist wider standsfähig", wandte der Präsident ein. 129
„Und er ist siebenundachtzig", ergänzte der Arzt. „Was kann man tun?" „Chemotherapie." „Die hatte er schon. Die Tabletten brachten ihn fast um." „Bestrahlungen." „Das verlängert doch nur die Qual." Der prominente Mediziner, erst kürzlich zum Leibarzt des Ayatollah ernannt, zog den Präsiden ten und den General in einen Nebenraum. Als die Tür geschlossen war, sagte er: „Brüder, Freunde. Mit jedem von uns geht es einmal zu Ende. Früher oder später." Der Präsident fiel ihm ins Wort. „Was können wir tun, daß es mit ihm nicht zu Ende geht. Er ist die Hoffnung, an die sich unser Volk klammert. Die Arbeit ist noch nicht getan. Wir sind noch nicht durch das Tal der Tränen, der Entbehrungen und des Jammers hindurch." Der Arzt, ein kleiner Mann, wußte, daß sie Khomeini brauchten, denn ohne ihn waren die geplanten Reformen nicht durchzuziehen. Ohne ihn schwand ihre Macht dahin. „Was wir tun können . . ." sagte der Arzt. „Ich erwähnte es schon. Es gibt, besser es gab, ein Mittel. Es verlängerte das Leben so wichtiger Leute wie. ." Er sparte sich die Aufzählung, denn der Präsident und der General wußten Bescheid. „Bringen Sie mir den Mann oder sein Serum, und vielleicht feiert Khomeini seinen hun dertsten Geburtstag." „Endlich wissen wir, daß Dr. Parker noch lebt", sagte der General. „Es wäre die Rettung." 130
„Es war schon mehrmals die Rettung. In Eng land rettete es den Sieg, in Rußland den Bestand der Revolution." Der Politiker fragte den General: „Was gibt es Neues?" „Unsere Agenten haben ermittelt, daß dieser Arzt noch lebt. Und da er lebt, kann er auch helfen." „Wenn er in unserer Hand ist." „Darin liegt das Problem", fuhr der General fort, „aber es ist nicht unlösbar." Sie kannten ihn gut. Er war vorsichtig. Ein geschickter Taktiker, der eher zu wenig als zu viel versprach. Wenn er sagte, es ist nicht unlösbar, dann hatte er längst einen Weg gefunden. „Dr. Parker lebt das Leben eines Staatspensio nisten mit allem ihm zustehenden Luxus." „Wo?" „Ungefähr tausend Kilometer von hier." „Im Nordwesten?" Der General nannte den Ort nicht, bestätigte aber durch eine Kopfbewegung, daß es im Nord westen sei. „In einer weißen Villa, in einem tropischen Garten am Meer." „Und wie weit ist es von unserer Nordgrenze entfernt?" „Vierhundertachtzig Kilometer Luftlinie." Damit bewies der General, daß er es sehr genau wußte, daß also bereits ein Plan bestand und die Vorbereitungen liefen. Gemäß dieser Schlußfolgerung fragte der Staatspräsident: „Wann?" „Wir warten noch die letzte Bestätigung ab." 131
„Wann?" wiederholte der Arzt die Frage. „Stündlich." „Wann können Sie losschlagen?" „In jeder darauffolgenden Nacht." „Und wer leitet die Operation?" „Ich", sagte der General. „Wir brauchen dazu ein Schiff, zwei Hubschrauber und ein Dutzend kampferprobter, todesmutiger Einzelkämpfer." „Ich denke, Sie haben alles, was Sie brauchen", bemerkte der Politiker. „Wir brauchen nur noch Glück." Das war alles klar. Nicht nur das Hoheitsgebiet anderer Länder wurde berührt und verletzt, son dern auch ein kriegsähnliches Kommandounter nehmen durchgeführt. Aber politische Komplikationen waren jetzt zweitrangig. Das würden die Diplomaten wieder ausbügeln. Hauptsache es gelang, diesen Wunder heiler nach Teheran zu bringen. „Sollten wir ihn jemals hier haben", gab der Arzt zu bedenken, „wird er dann auch kooperativ sein? Bisher verschwieg Parker sein Rezept." Der General sagte erst nichts, dann leise: „Wir kennen Mittel und Verfahren, aus jedem Mann alles herauszuholen. Selbst Dinge, von denen er keine Ahnung hatte, daß sie in seinem Gehirn schlummern." „Dann sei Allah mit euch", sagte der Staats mann, der wie alle hohen Politiker auch den Rang eines Mulla einnahm. Fragte sich nur, ob Allah in der Lage war, alles auf einmal zu regeln. Daß der Frachter nicht entdeckt wurde und daß das Wetter günstig war. Daß die Posten am Küstenradar schliefen, daß die Wachen betrunken waren und daß es keine Schie 132
ßerei gab, bei der Dr. Parker vielleicht zu Tode kam. Daß der Rückzug klappte und daß nicht irgendwo im Gebirge ein Flakkanonier den Finger am Abzug krümmte. „Ja, Allah möge mit uns sein", sagte der Ge neral. Noch in dieser Stunde flog er in die kurdischen Provinzen zu seinen Männern. 13. Der BND-Agent Robert Urban hatte die Kubaner verhört und übergab sie wieder dem Grenzschutz kommando. „Hat es sich gelohnt?" fragte der Major. „Nein", sagte Urban. „Aber das Essen war vorzüglich." „Dann ist wenigstens einer zufrieden." „Was", fragte der GSG-9-Major, „hat Ihr Dienst mit der Sache zu tun?" „Nichts", gestand Urban, „abgesehen von der Tatsache, daß zwei Kapitänleutnants der Bundes marine daran zugrunde gingen." „Das dürfte reichen." „Zwei als Unfall getarnte Morde." „Und der Täter?" „Vermutlich der KGB." „Dann geht es nicht nur um die zwei Offiziere." „Sondern um das, was sie herausgefunden hat ten", bestätigte Urban. „Unter anderem, daß ein angeblich als Lazarettschiff deklarierter Dampfer durch ein deutsches U-Boot versenkt wurde." „Es wurde also nicht von uns versenkt." „Nein, sondern von einem alliierten Zerstörer." 133
Der Major pfiff erstaunt. „Wenn das herauskommt!" „Dann machen wir uns wieder mal höchst unbe liebt", befürchtete Urban. „Es darf also nicht herauskommen. Doch leider hängt noch mehr an diesem Fall." „Möchte ich gar nicht wissen", sagte der Major. „Ich darf es Ihnen auch gar nicht erzählen." Die Gruppe brach auf. Die Kubaner wurden im Mannschaftstransporter durch die Nacht geschau kelt. München-Frankfurt-Köln. Nur siebenhundert Kilometer, und das bei dem Wetter. Aber sie waren alle beinharte Männer.
Der BND hatte nichts mehr damit zu tun. Aber Urban hatte Freunde, die er wieder einmal brauchte, und er wollte nicht, daß sie in ein offenes Messer liefen. Zu Hause öffnete er den Safe und nahm das rote Notizbuch, nicht das goldene, heraus. Im goldenen standen die Nummern, welche die Ver bindung mit seinem Tiergarten der Lüste herstell ten, mit seinen Schmetterlingen, Katzen, Hasen, Schlangen, Glühwürmchen und bunten Vögeln. Danach stand ihm heute nicht der Sinn. Er öffnete das rote Buch. Wichtige Leute hatten ein rotes Telefon und ebenfalls so ein rotes Notiz buch. Die Nummern darin verbanden ihn mit allen Männern, die über ein rotes Telefon verfüg ten und in Aktion traten, wenn irgendwo das rote Telefon läutete. Sei es in Moskau, in London oder Washington. 134
Wenn er sie anrief, war das immer die kürzere Verbindung zu Männern am richtigen Hebel. Unter K stand ganz oben Igor Krischnin, Gene ral, KGB-Hauptquartier Moskau. Dazu drei Num mern. Die eines Büros, die seiner Stadtwohnung und die seiner Datscha in den Leninbergen. Urban fing in der Mitte an. - Keine Verbin dung. Ebensowenig meldete sich jemand draußen auf seinem Landsitz. Also versuchte er es im Büro in der Dzerzhinskystraße. Es ging schon auf Mitternacht, aber eines hatten die Russen sich noch nicht abgewöhnt, nämlich in der Nacht zu arbeiten. Ein Relikt aus Stalins Zeiten. Ein Adjutant war am Apparat. Dann ein Assi stent. Auch der zweite Assistent wußte nur, daß der General nicht zu erreichen sei. Urban hatte keinen Namen genannt. Er sagte: „Er soll Dynamit anrufen. Bin zu Hause. Ist dringend. Für ihn, nicht für mich. Ende." Ehe sie ihre Fragen stellten, hatte er sich aus der Leitung empfohlen. Dann badete er. Er gehörte zu den Abenddu schern, da er morgens meist keine Zeit hatte. Nach dem Bad, schon im Schlafanzug und Haus mantel, genehmigte er sich den Drink zur Verab schiedung dieses beschissenen Tages und zur Begrüßung des nächsten beschissenen Tages. Nach dem Drink gab er noch einen halben zu, wollte gerade ein wenig Musik machen, als das Telefon zirpte. - Sie hatten ihm den Apparat ausgewechselt, leider hatte er nicht mehr das alte solide Signal, sondern dieses idiotische Zirpen.
Er hob ab, hörte die Stimme. „Nicht zu fassen. Igor, der Schreckliche." 135
„Die Zeiten ändern sich", sagte der Russe mit seiner kratzigen Stimme. „Auch bei uns entspricht blitzartig mittlerweile der Lichtgeschwindigkeit. Aber wenn du mich verlangst, Genosse Ur banski ..." „Verarschen und verarscht werden", sagte Urban, „ist zweierlei. Der eine merkt es gar nicht, und der andere glaubt es zu werden, ohne daß es zutrifft. Denk jetzt, was du willst, Genosse, aber es geht um folgendes . . . " Urban setzte Krischnin kurz ins Bild. Mitten drin unterbrach der KGB-General ihn. „Professor Parker? Nie gehört. Mein Ehren wort." „Das war alles vor unserer Zeit", fuhr Urban fort. „Aber soviel steht fest: Dr. Parker verlän gerte mehr oder weniger das Leben berühmter Männer wie Ford, Roosevelt, Churchill und Stalin." Igor hatte gut zugehört. „Wieso das von Stalin, wenn er dreiundvierzig absoff, zum Teufel?" „Nur sein Schiff, die Galakta, soff ab. Dr. Parker holte man vorher von Bord und brachte ihn nach Rußland." „Ich bin nicht dafür verantwortlich", sagte Igor Krischnin. Jetzt gab Urban es ihm härter. „Zwei deutsche Marineoffiziere, die herausfan den, daß kein U-Boot die als Lazarettschiff getarnte Galakta versenkte, mußten sterben. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Liquidie rung durch KGB-Agenten. Ich setzte ihre Arbeit fort, suchte nach dem Wrack und fand heraus, daß das Skelett in Kabine zwei nicht das von Parker 136
ist. Man hatte ihm nur seine E-Marke umgehängt. Die Galakta wurde von einem Zerstörer, der rus sische Zehnzentimeter-Schiffsgranaten verfeuerte, versenkt. Vorher wurde die Besatzung am Verlas sen der Galakta gehindert. Man konnte schon damals keine Zeugen gebrauchen. Mit Sicherheit wurde Dr. Parker nach Murmansk und weiter nach Moskau gebracht. Mit welchen Mitteln man ihn zwang, sein Serum herzustellen und es für Stalin zu verwenden, wissen wir nicht. Aber wir können uns das vorstellen." Krischnin gab keinen Kommentar. Dazu war er nicht in der Lage. „Mann, das liegt hundert Jahre zurück in der Steinzeit." „Nur fünfundvierzig Jahre - in der Eisenzeit", verbesserte Urban zynisch. „Dieser Parker ist doch längst verstorben und vermodert." „Oder nur uralt." Auch Krischnin wußte, daß es in den Weiten der UdSSR Dinge gab, von denen selbst Leute wie er keine Ahnung hatten. Sachen, die einfach verges sen wurden. Es war vorgekommen, daß Gefangene in Straflagern nach fünfzig Jahren dort starben, obwohl andere Regierungen sie amnestiert hatten, die nächste Regierung die Amnestie widerrufen und die übernächste die Amnestie erneuert hatte. Viele dieser Bedauernswerten lebten zwar noch, galten aber als nicht mehr vorhanden. Krischnin wußte das, und Urban wußte es auch. „Wie kommst du darauf, daß Dr. Parker noch existieren könnte?" „Er wird zur Zeit gesucht, und das von zwei Gruppen. Von Kubanern und von Iranern. Beide 137
brauchen für wichtige Leute ihres Staates seine Hilfe. Die Kubaner für Generaladmiral Rodriguez und die Perser . . . nun, dreimal darfst du raten." „Wir erfuhren, daß Khomeini todkrank sein soll." Nun ließ Urban die Katze noch ein Stück weiter aus dem Sack. „Die Perser haben aufgehört, Informationen zu sammeln. Das bedeutet wohl, daß sie fündig wur den und die nächsten Schritte einleiten." „Du meinst, sie holen diesen Parker ans Kran kenbett des Ayatollah?" So weit wollte Urban nicht gehen. Er blieb bei den Fakten. „Unsere türkischen NATO-Freunde haben im Kurdistan, an der persisch-türkischen Grenze hektische Aktivitäten festgestellt. Spezialeinhei ten, auf dem neuesten Stand der Technik, fuhren nachts in einem einsamen Gebirgstal auf. Mit Lastwagen brachten sie unter Planen mehrere Hubschrauber hin. Dazu Tankwagen, Funkwagen und ein fahrbares Feldlazarett. Sie bauen Zelte auf, ziehen Tarnnetze, um darunter die Hub schrauber zu montieren und sie einsatzklar zu machen." „Ein Manöver", tat der General es ab. „Im Schwarzen Meer", machte Urban weiter, „fährt ein persischer Tanker spazieren. Normaler weise wird öl von euren Schwarzmeerhäfen durch den Bosporus gebracht und nicht durch den Bosporus herein ins Schwarze Meer. Der Frachter läuft Kurs Sotschi. Er ist bereits an der Krim vorbei." „Ständig fahren Tausende von Schiffen durch das Schwarze Meer", tat Krischnin es ab. 138
Der General war alles andere als einfältig. Also stellte er sich nur so, um möglichst viel aus Urban herauszulocken. Urban hätte es ihm sowieso mitgeteilt. „Der Tanker macht extrem lange Fahrt. Bei Nacht liegt er sogar gestoppt. Also wartet er auf etwas."
„Vielleicht hat er Maschinenprobleme." „Und treibt sich deshalb ständig an eurer Hoheitsgrenze herum. O heilige Einfalt." „Jenseits davon können wir wenig tun. Oder?" „Die Türken haben ihn unter Kontrolle." Krischnin fühlte sich immer weniger wohl und brauste auf: „Was, zum Teufel, soll das alles?" „Angenommen", erklärte Urban, „der Tanker dient als schwimmende Insel, als Hubschrauber landeplatz, als Auftankstation." Jetzt glaubte Urban zu ahnen, was in dem Russen vorging. Im Geiste zog Krischnin eine Linie vom nördlichsten Zipfel des Iran zu dem Frachter. Wenn er diese Linie verlängerte, kam er an die russische Schwarzmeerküste, an die Rote Riviera." „Du hast doch noch etwas, Urbanski." „Ja, die Befürchtung, daß sie diesen Parker gefunden haben", schärfte Urban ihn weiter an. „Dann müßte er irgendwo an der Schwarzmeer küste seinen Lebensabend verbringen." „Wie so viele eurer Staatspensionäre." „Und die Perser schnappen ihn sich, meinst du." Urban hatte Krischnin endlich da, wo er ihn haben wollte, denn trotz aller Differenzen lag 139
ihnen die UdSSR näher als die islamische Repu blik Iran. Die Russen waren Europäer und Nachbarn. Ihre Probleme waren die Probleme des Ostblocks, und die konnten rasch die Probleme der westlichen Blocks werden. Die Sowjetunion war innenpoli tisch angeknackst. Oft genug lenkte man von solchen Lagen durch außenpolitische Maßnahmen ab. - Wenn nun noch die Affäre Parker hinzu kam, wer konnte garantieren, daß sich da nichts aufschaukelte. Immerhin hatte Rußland im Golf krieg die Gegner des Ayatollah mit Waffen unter stützt. „Und die Perser schnappen sich Parker", wie derholte Urban. „Das war mein Wort zur mitter nächtlichen Stunde." „Sie werden sich blutige Nasen holen", prahlte Krischnin. „Unsere Radarstationen registrieren jeden Furz, der von Süden herüberweht." Das war Angabe pur. Der NATO war bekannt, daß die Russen nicht nur ein sehr lückenhaftes Radarsystem am Schwarzen Meer unterhielten. Es hatte obendrein noch die ältesten Geräte mit Bedienungspersonal von nahezu mediterraner Lebensfreude. Ihre Schwarzmeerküste hatten die Russen niemals sonderlich gefährdet angesehen. Dann schon eher die Landenge von Armenien. „Danke, du hörst von mir", versprach Krisch nin. „Danke, nicht nötig", sagte Urban. „Nur soviel noch: Wenn der Tip gut war, vergiß nicht, wer ihn dir lieferte." Er hängte ein, leerte sein Glas und ging schlafen. 140
Er hatte getan, was er konnte. — Zumindest was ihm zu tun nötig schien. Am Morgen würde er noch mit dem NATOVerbindungsstab in Ankara telefonieren. Schluß der Vorstellung. Er ging nach oben und zu Bett.
14. Die iranische Spezialeinheit ging auf einen techni schen Kommandotrupp beim Geheimdienst SAVAK zurück. Da der Name SAVAK aber nicht ausgesprochen werden konnte, ohne tiefe Abscheu zu erregen, hatte man die Einheit einer verdienten Truppe, der zweiten motorisierten Gardedivision, zugeteilt. Die Zugehörigkeit bestand nur auf dem Papier. Schon der Ausrüstungsstand dieser Ein heit Täbris, wie sie nach ihrem Standort hieß, unterschied sich von dem aller anderen Verbände. Er stellte sogar den von Luftwaffe und Marine in den Schatten. Täbris bekam, was immer sie an Maschinen, Waffen und Personal anforderte.
Er war General und ein alter Haudegen. Gegen Abend rief er die Beteiligten im großen Komman dozelt zusammen. Gegen Luftaufklärung war es mit den Zeichen des Grünen Halbmondes und dem Internationalen Roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet. Im Zelt lagen Karten auf zusammengestellten 141
Tischtennisplatten. An den Wänden standen Funkgeräte, Funktelefone, Funkfernschreiber. Draußen hämmerte ein Dieselgenerator und sorgte für den nötigen Strom. Die Lampe hing tief herunter. „Der Einsatz", begann der Stabsoffizier von Täbris das Briefing, „läuft wie folgt ab: Zwei Hubschrauber fliegen im Abstand von zehn Minu ten, das entspricht fünfundvierzig Kilometer, auf der türkisch-russischen Grenzlinie entlang Kurs Nordwesten. Ziel: Batumi. Und zwar im extremen Tiefflug. Das ist schwierig, wegen der Gebirgsfor mationen, aber es wurde schließlich geübt. Nach Erreichen der Küste neuer Kurs gemäß Funkpeilung des Tankers Argos. Dann Anflug. Nachtanken, Wartung, Aufnahme von Waffen und jeweils sieben Mann." Der Stabsoffizier blickte den General an. Von dem kam bis jetzt kein Einwand. Also fuhr er fort: „Start vom Tanker. Ostkurs. Tiefflug unter dem Radar hindurch. Ziel an der Küste ist Punkt Alpha. Er liegt zwischen der Flußmündung und dem Leuchtturm. Es sind vier Villen. Davon die letzte in Anflugrichtung gesehen rechts. Gruppe eins landet am Strand zwecks Sicherung. Gruppe zwei landet im Park vor dem Haus. Das Objekt schläft im Obergeschoß. Bewacht wird das Haus von einem Veteranen der Armee mit Hund. Ab und zu kontrolliert auch eine motorisierte Polizei streife die Prominentenvillen. Aber mit den Polizi sten werdet ihr fertig. — Dem Objekt ist größt mögliche Schonung angedeihen zu lassen. Bei Widerstand genügt eine kurze Narkose. Das Objekt wird auf die Trage geschnallt und sofort 142
abgeflogen. Nach Zwischenlandung auf der Agros und Auftanken, Rückkehr hierher." Es gab Fragen. Sie wurden beantwortet. Dann erläuterte der Einsatzoffizier den Zeitplan. „Für das Unternehmen stehen uns die Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zur Verfügung. Jetzt, um diese Jahreszeit, insge samt elf Stunden. Genau sechshundertsiebenund achtzig Minuten. Entfernung von Basis bis Tanker vierhundertfünfzig Kilometer. Flugzeit zwei Stun den. Zeit für Nachtanken und Wartung fünfzehn Minuten. Entfernung Tanker-Küste beträgt sech zig Kilometer. Flugzeit fünfzehn Minuten. Zeit für die Hauptoperation maximal dreißig Minuten. Hochgerechnet beansprucht der Einsatz eine Gesamtzeit von dreihundertdreißig Minuten. Das Doppelte steht zur Verfügung. Wir haben also ausreichende Reserven für Vorkommnisse aller Art." Wieder erhob der General keinen Einwand. „Das Wetter", ergriff nun der Meteorologe das Wort, „im Gebirge beim Hinflug: Sicht klar, Fall winde, Temperatur zehn Grad. In Küstennähe Dreizehntel Bevölkerung. Untergrenze vierhundert Meter. Wind von Ost auf West drehend. Zwei bis drei Kilometer. Seegang auf Position des Tankers eins bis zwei. Gegen Morgen ist in Küstennähe des Schwarzen Meeres mit Regen zu rechnen und im Raum Tiflis in der Armenischen SSR auf jeden Fall mit Morgennebel" „Was uns zustatten kommt", sagte der General. „Der Hinflug wird vermutlich ungestört verlaufen, aber beim Rückflug werden sie gewarnt sein und Augen und Ohren offen halten. Unsere türkischen 143
Nachbarn sind mit dem Finger rasch am Abzug ihrer Flakkanonen und Raketenstarter." Die Piloten bekamen Anweisungen, wie sie sich in dieser und jener Situation zu verhalten hatten. „Bei Angriff", lautete der Befehl, „wird vertei digt, und zwar nach dem Grundsatz: Auf einen groben Klotz ein grober Keil. Das heißt, wenn geschossen wird, ballert zurück, daß ihnen die Fetzen um die Ohren fliegen, daß es ihnen den Schneid nimmt. Bei Treffern, Maschinenschäden, sind die Helikopter zu sprengen. Verluste müssen hingenommen werden. Nur eines nicht, daß das Ziel der Operation nicht erreicht wird. Dieser Mann, Doktor Parker, muß unverletzt und ohne Kratzer nach Teheran gebracht werden. Den Grund kennt jeder." Die letzten Wettermeldungen wurden eingeholt, dann Kontakt mit dem Tanker Argos aufge nommen. Der Tanker stand auf Position. Nach wie vor wurde er von einem türkischen U-Boot beschattet. Auch ein sowjetischer Trawler hatte sich ihm genähert. Auf seine Sprechfunkanfrage, ob Hava rie vorläge, hatte der Tankerkapitän einen Ruder schaden genannt, den man selbst binnen weniger Stunden mit Bordmitteln beheben könnte. - Dar aufhin war der Russe abgedampft. Der General schaute auf die Uhr. In einer Stunde war es dunkel. „Dann los!" entschied er und reichte jedem der Piloten die Hand. „Allah sei mit euch." Als sie gegangen waren, sagte der General: „Geben Sie den vereinbarten Code an die Argos. Operation läuft. Bereithalten gemäß Zeitplan." 144
Sie hatten es geübt. Und zwar an einem Modell, das dem Original entsprach. Es lag zwar an der Küste des Kaspischen Meeres, war aber weitge hend mit der Villa von Dr. Parker identisch. Sie hatten es zweimal durchexerziert, mehr Zeit hatte nicht zur Verfügung gestanden, denn die letzten Informationen waren erst vor drei Tagen eingetroffen. Ihrem Geheimdienst war es gelungen, Luftbilder zu beschaffen. Sie stammten aus irgendeiner NATO-Quelle. Die Bilder waren schon ein Jahr alt, aber am Küstenverlauf und Luxusvillen aus der Zarenepoche änderte sich in so kurzen Zeit räumen wenig. Die Fotos, die Karten, die Skizzen griffbereit, die Funkfrequenzen im Kopf, die Nachtgläser, die Restlichtverstärker und Waffen in den Cockpits, kletterten die Piloten in ihre Hubschrauber. Sie benutzten für diese Operation zwei russische MIL-MI-8-Helikopter. Das iranische Arsenal ver fügte zwar über moderne Beutemaschinen, aber für die MIL-MI-8 hatte man sich aus mehreren Gründen entschieden. Der Transporthubschrauber wurde seit fünfund zwanzig Jahren gebaut und war ausgereift. Er war ausreichend schnell, hatte mit Zusatztanks genü gend Reichweite, verfügte über zwei Turbinen und konnte bei Vertikalstart viertausend Kilo Ladung nehmen. Der Pilot des ersten Hubschraubers sagte zu seinem Copiloten, der mit der Anlaßprozedur beschäftigt war: „Eigentlich mag ich diese MIL nicht." „Ein Oldtimer", meinte der andere und gab Zündung, als die Preßluft die Isotow-Turbinen auf 145
Drehzahlen gebracht hatte. „Aber solide war alles von damals. Kein Rennkamel, eher eines, um den Acker zu bestellen." „Sie haben es über unsere Köpfe hinweg ent schieden." „Sie gingen davon aus, daß es sich bei den Leuten am Radar, wo auch immer, um Russen handelt." „Es heißt, ihr Radarsystem im Kaukasus und am Meer sei Schrott." „Um so besser." „Wenn wir bloß keiner MiG in die Quere kommen." „Nicht auf zwanzig Meter Flughöhe." „Und wennschon, dann haben wir einen schö nen roten fünfzackigen Stern aufgemalt, wenn ich nicht irre." Die Triebwerke sprangen an. Die Turbinen jaul ten auf Leistung. Der Hauptrotor begann sich zu drehen. Noch eine Minute bis zur Startzeit. Es war stockdunkel. Nur der Westhorizont zeigte noch ein rotes Glühen. Der Startoffizier schwenkte seine Signallampe, schaltete auf Weiß, dann auf Rot, dann auf Grün. Der Pilot, der den ersten MIL flog, zog am Pitch und gab Vollgas. Mit leicht getretenem Pedal brachte er den schweren Hubschrauber in den Nachthimmel. Kaum war er außer Sicht, wurde der zweite MIL unter der Tarnplane hervor zum Startpunkt gezogen. Die gleiche Prozedur lief an. Letzte Checks, Kontrollen, dann der Start. Aber die zwei Piloten sprachen über andere 146
Dinge. Sie waren jünger. Bei ihnen ging es um Geld und Weiber. „Wenn ich zurückkomme", sagte der zweite Pilot, ein Leutnant, „werde ich meine Schwieger mutter vögeln." „Warum nicht deine Braut?" Der Pilot grinste. „Sie muß als Jungfrau in die Ehe gehen." „Und was sagt dein Schwiegervater dazu?" „Nichts. Er liegt auf dem Friedhof." „Und deine Schwiegermutter? Ahnt sie etwas von ihrem Glück?" „Klar", sagte der junge Pilot. „Wir sind uns einig. Sie opfert sich für ihre Tochter." „Gern?" „Worauf du dich verlassen kannst." Doch dann war der Copilot ganz bei der Sache, bei Turbinendrehzahl, bei Turbinenausgangstem peratur, bei Öldruck und Treibstoffdurchfluß. Dann hoben sie ab. Nach wenigen Minuten hatten sie das Territo rium des Iran verlassen. Zunächst flogen sie am Aras-Nehri entlang, der hier genau den Grenzver lauf zwischen der Türkei und der UdSSR bildete. Von Kheivbeklu ab war es ein anderer Nebenfluß der Arash, der die Grenze zeichnete. Sein Lauf, wie ein dünnes Bleikabel schimmernd, führte sie zum Gildir-See. Nun hatten sie noch hundert zwanzig Kilometer bis zum Schwarzen Meer. Aber die Grenze schlängelte sich durchs Gebirge wie die Girlande beim Fest zur Geburt des Propheten. Es war ruhig. Keine Reaktion von beiden Sei ten. Also kürzten sie hie und da einen der Grenz mäander ab. 147
Unbemerkt, wie sie annahmen, erreichten sie die Küste. Das Meer glänzte tiefblau mit einem Stich ins Dunkelgrüne.
Das Kommandounternehmen der Täbris-Einheit lief mit beängstigender Präzision weiter. Die Hub schrauber nahmen auf der angegebenen Frequenz den Peilton des Tankers wahr, flogen ihn an, fanden die Argos und landeten auf dem vorberei teten Mittelschiff. Auftanken, Wartungsarbeiten, der Einstieg der Nahkämpfer, des Arztes, der Scharfschützen ver lief wie geschmiert und nahezu lautlos. Der Weiterstart erfolgte auf die Minute pünkt lich. Die MIL-Helikopter flogen auf kürzestem Weg die Küste an. Sie fanden die angekündigten Sichtbedingungen ebenso vor wie die Flußmün dung, den Leuchtturm und die Villenkolonie. Der erste MIL landete am Strand, der zweite im Park der Villa. Dort gab es erste Schwierigkeiten. Die Palmen und Kastanien hatten ziemlich weit ausladende Kronen. Der Pilot mußte den Hubschrauber seit lich davon aufsetzen. Während die Turbinen im Leerlauf drehten, sprangen die Nahkampfspezialisten heraus. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Zwei sicherten das Haus an den Flanken und von der Straße her. Zwei betraten das Untergeschoß, die anderen arbeiteten sich zum Balkon hoch. Die Tür war offen. Sie fanden einen schlafenden alten Mann. Er erwachte erst, als sie ihn auf die Trage legten. Offenbar hatte er ein Schlafmittel genommen. 148
Einer der Offiziere leuchtete ihm ins Gesicht und fragte auf englisch: „Doktor Parker?" „Ich bin Elias Parker", antwortete der Mann. „Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor, schla fen Sie ruhig weiter." Sie brachten ihn über die Treppe nach unten. Als sie mit der Trage das Haus verlassen wollten, sah einer von ihnen einen Schatten. Es war der Rundengänger mit seinem Hund. Da er gewiß nicht blind und taub war, würde er das Abheben des Hubschraubers bemerken. Sie warteten, bis er vorbeikam. Dann packten sie ihn. Er leistete keinen Widerstand. Sie fesselten und knebelten ihn und warfen ihn ins Gebüsch, Dem bissigen bellenden Hund jagten sie eine schallge dämpfte Kugel ins Maul. „Rückzug!" wurde über Sprechfunk befohlen. Sie bestiegen den Helikopter. Der Arzt küm merte sich um Dr. Parker, maß seinen Puls und kontrollierte den Blutdruck. Er war zufrieden. Als der Hubschrauber abhob, sahen sie auf der Straße vom Kap her zwei Autoscheinwerfer. Aber da flogen die Helikopter schon mit 225 Stunden kilometern auf ihre schwimmende Basis, den Tan ker, zu. Die Soldaten wischten sich die schwarze Tarn farbe aus den Gesichtern.
Der Helikopter Nr. l, der auf dem Rückflug die Aufmerksamkeit der Küstenverteidigung auf sich lenken sollte, verlor Treibstoff. Einer der Druck schläuche der Kerosinpumpen zwischen Tank und 149
Turbine war undicht. Sie hatten keinen Ersatz an Bord, denn zu solchen Defekten kam es äußerst selten. Sie versuchten, den Riß mit dem üblichen Dich tungsmaterial zu flicken. Aber der Druck betrug mehrere Atü, und der Treibstoff rieselte weiter aus der Leitung. Der Tanker nahm Funkkontakt mit der Basis in Nordkurdistan auf. Der General überlegte nicht lange. „Längs der Grenze schlafen sie alle. Helikopter zwei operiert weiter nach Plan. Ohne Risiko geht es einfach nicht." Mit wenigen Minuten Verspätung hob der zweite MIL-MI-8-Helikopter ab, aufgetankt und technisch überprüft. An Bord befanden sich neben den Piloten Dr. Parker, der Armeearzt, ein Fun ker, ein Mechaniker und zwei MG-Schützen. Er flog den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Vom Tanker zur Küste nach Batumi, dort hart an der Grenze entlang zwischen dreitausend Meter hohen Bergen hindurch bis zum Gildir-See. Die Sicht wurde schlechter. In den Tälern breitete sich der Dunst aus, wie vorhergesagt. Sonst war es ruhig. Ein ruhiger Nachtflug wie durch dünne Watte. Im Bordradar zeichneten sich nur die Konturen der Steilwände ab. Der Helikopter folgte, so tief es ging, den Tälern des Grenzgebirges. Noch 280 Kilometer zur Basis auf iranischem Territorium. Ungefähr hundert Minuten Flugzeit. Über Funk gaben sie ihre Position durch. Der General wollte wissen, in welchem Zustand sich Dr. Parker befand. 150
„Kann nicht besser sein für einen Siebzigjähri gen", meldete der Armeearzt nach Süden. Der Copilot wandte sich nach links zu dem Major. „Meine schöne Witwe wartet", sagte er. „Wird wohl nichts", antwortete der Major, „mit einem Begräbnis in Täbris." 15. Vierundzwanzig Stunden, nach dem Robert Urban den Fall Galakta abgeschlossen und abgelegt hatte, holten die Ereignisse ihn wieder ein. Die türkische Luftbildauswertung definierte das iranische Camp im Grenzzipfel als eine vorgescho bene Einsatzbasis. Unter Tarnnetzen standen zwei schwere Transporthubschrauber, vermutlich MIL MI-8. Und in dem Hornissennest summte es schon. So war Urban als zweiter Mann in einem Tor nado die 3500 Kilometer vom Bundeswehrflug platz Erding nach Ostanatolien gerast. Jetzt saß er im überhitzten Befehlsbunker auf einer der östlichsten NATO-Basen. Verantwortlich für die Sicherheit dieses Berei ches war die 3. Türkische Luftflotte sowie die Radarstationen und Raketenbatterien der anatoli schen Grenzdivision. Die türkischen Waffengefährten, erfahrene und ruhige Leute, hervorragende Soldaten wie alle Türken, ließen es gelassen angehen. Der Bunker war vergleichbar mit ähnlichen Kommandostellen in Nordeuropa. Telefone klingelten, Fernschreiber hämmerten, Radarschirme flimmerten, Funkgeräte 151
quakten oder piepten. Mal kam einer herein, mal ging ein anderer hinaus. Lichtpfeile standen oder bewegten sich auf der wandhohen Lagekarte. Nur eines war anders: Unmengen von süßem Tee wur den konsumiert, und aus schwarzen Zigaretten quoll mehr Rauch, als die Lüftung verkraftete. So wurde der Mief immer dicker. Aber die Leute hier brauchten das wohl. Ein Oberst wandte sich wieder an Urban. „Es ist nicht so, daß der Geheimdienst in Ankara Sie uns nur aufs Auge gedrückt hätte, Commander. Wir brauchen Sie wirklich. Mögli cherweise sind in den nächsten Stunden Entschei dungen zu treffen, die. . . aus einer größeren Dimension betrachtet werden müssen." Urban setzte den Stabsoffizier ins Bild und endete: „Deshalb benutzen die Perser Mi-Helikopter. Mit hochmodernen Radargeräten sind sie durch aus als solche zu identifizieren." „Als Russen, meinen Sie, Commander." „Und sie werden jede notwendige Bemalung vornehmen", ergänzte Urban. „Weiße Sterne, rote Sterne, grüne Halbmonde, was Sie wollen." „Davon dürfen wir uns nicht irritieren lassen. Ich meine unsere Beobachter auf den Bergen und unsere Abfangjägerpiloten." Urban trat an die Karte. „Wann kamen sie durch?" „Vor etwa drei Stunden. Um ganz genau zu sein, zwei nicht identifizierbare Objekte, vermut lich Hubschrauber, flogen tief an der Grenze entlang Richtung Schwarzes Meer. Ob es sich um die Perser handelte, ließ sich jetzt bei Dunkelheit nicht eindeutig feststellen. Weder durch Nacht 152
aufklärer im persischen Kurdistan, noch durch unsere Beobachter in der Nähe des Tankers." „Ich bin ziemlich sicher", sagte Urban, „sie waren es." Sie rechneten die Operation der Iraner hoch. Nach der letzten Position des Tankers in der Nähe der sowjetischen Hoheitsgewässer ließ sich schie ßen, wo das Ziel lag. „Bei Sotschi", schätzte Urban. Er hatte noch keine Bestätigung von sowjeti scher Seite und würde sie auch nie erhalten. Trotzdem hatte er seine Nummer in München hinterlassen. Die Minuten verstrichen zäh. Das Warten war entnervend. Normalerweise sangen Soldaten Lie der, um das Warten abzukürzen und die Span nung zu nehmen. Aber Offiziere vom Hauptmann aufwärts sangen selten. In Bunkern fast nie, erst recht nicht nahezu ohne Sauerstoff. Der Oberst wandte sich wieder einmal an Urban. „Ob man die Russen verständigen sollte?" „Warum?" „Nun, wenn die Perser uns entwischen, holen die Russen sie garantiert herunter." „Niemand soll sie abschießen", sagte Urban. „Zur Landung zwingen, ja. Aber wenn, dann nur so, daß nichts kaputtgeht. Ihr Transportgut ist zu wertvoll." „Wertvoll für wen?" fragte der Türke. „Vielleicht für uns alle, eines Tages. Sie und mich nicht ausgeschlossen." Der Türke lächelte ironisch. Was dieser Geheimagent von sich gab, lag außerhalb seines militärischen Denkvermögens. — Grenzverletzun 153
gen waren zu verhindern. So lautete der NATOAuftrag. Es ging auf 1.00 Uhr. . . es wurde 1.30 Uhr. Ein Telefon schrillte. Niemand hob ab. Es hörte auf. Dann läutete es erneut. Endlich ging einer hin, sprach mit einem anderen, und der Mann winkte Urban. „Für Sie, Commander." Urban übernahm. Er dachte, es wäre München, und sie wollten wissen, was lief. Es war ein ganz anderer. Ein Russe. - General Igor Krischnin. „Die Leitung ist lang", sagte Igor, „aber die Welt ist klein. Nur soviel, Urbanski. Sie haben ihn."
„Parker?" „Wir gingen der Sache nach. Es war umständ lich und kompliziert. Die wenigen, die von ihm wußten, sind tot. Und die Lebenden wußten wenig bis nichts. Aber wir fanden seine Spur. Sie lief nach Süden, Richtung Schwarzmeerküste. Sot schi." „Er lebt also." „Im großen und ganzen stimmt alles. Das mit der Galakta und mit Stalin. Als man Dr. Parker dreiundvierzig nicht nach Hause in die USA zurückließ, schaltete er auf stur. Zwar schwor er, über die Vorgänge im Nordmeer Schweigen zu bewahren, aber man traute ihm nicht. - Als er sich dann weigerte, die Rezeptur seines Präparates offenzulegen oder eine Großproduktion aufzuneh men . . . von da ab war er Staatsgefangener. — Dafür, daß er Stalin behandelte, hielten sie sich jedoch an die Abmachung: ein sorgloses, angeneh 154
mes Leben, eine elegante Villa in einer Gegend, in der es sich leben läßt, aber als Staatsgefangener. — Natürlich hoffte man auch, er würde irgendwann zur Vernunft kommen und der Menschheit sein Präparat zur Rettung von der Krebsgeißel schenken. Aber man kennt schließlich die Sturheit solcher Männer. Parker wurde alt und hart wie ein Fels. Er hat uns wohl nie verziehen." „Und jetzt haben die Perser ihn." „Die Gitter seines Gefängnisses sind zerbro chen. Er ist fort", bestätigte der KGB-General. Urban informierte Krischnin, wie die Operation der Perser sich von hier aus gesehen darstellte. „Natürlich versuchen wir, ihn wiederzukrie gen", sagte der Russe. „Tot oder lebend." „Was nützt er uns tot?" „Das Prinzip bleibt gewahrt." „Fabelhaftes Prinzip", spottete Urban. „Das wär's", sagte der KGB-General. „Dies nur der Ordnung und der Höflichkeit halber. Und noch etwas, Urbanski. Ich wollte, es wäre schon heller Tag." Kaum hatte der General aufgelegt, schrillten die Alarmglocken. Alle eilten auf ihre Plätze an den Mikrofonen, Telefonen, Radarschirmen, Funkgeräten und Schaltpulten. Urban stand vor der großen Lageprojektion neben dem Oberst. Der wirkte erwartungsfroh wie vor dem Auftritt einer Bauchtänzerin. „Sie kommen", frohlockte der Türke.
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Wie sich zeigte, konnte ein so tieffliegender Heli kopter von türkischen Nachtjägern nicht rechtzei tig abgefangen werden. Es blieb nur der Abschuß. Urban warnte, beschwor, flehte den türkischen Befehlshaber geradezu an, den Helikopter durch kommen zu lassen. Doch der Oberst fällte seine Entscheidung. Die Befehle gingen hinaus. Sie lauteten: Auf tieffliegendes Objekt, Kurs 145 Grad, ver mutlich Hubschrauber des sowjetischen Typs MIL-MI-8, bei Grenzverletzung Freuer frei! Um 2.56 Uhr war der Helikopter im Bereich der türkischen Raketenstellungen. Die Starterrohre schwenkten über den Nacht himmel. Automatisch wurden sie vom Zielradar auf das Objekt gerichtet. Die Raketen lagen schußklar in den Rohren. Diese teuflisch tödlichen Boden-Luft-Raketen vom NATO-Typ Stinger II oder Roland würden ihre Ladung schallschnell in den Himmel tragen. Ihre Sprengköpfe, durch Infrarot oder Laser gesteuert, würden den Helikopter suchen, finden und zur Explosion bringen. Die Meldungen kamen kurz und zackig. Es war immer nur ein Wort. Die Batterien meldeten den Abschuß der Ra keten. Gespannt zählten sie jede Sekunde. Die Stopp uhren liefen. Dann eine Durchsage: „Fehlschuß!" Vermutlich hatte der Helikopter sich in Dek kung einer Felswand begeben, war weggetaucht oder hatte die Raketen kreiselnd ausmanövriert. Nicht eine einzige der hunderttausend Dollar teuren Dinger hatte getroffen. 156
Und schon war der Hubschrauber außerhalb des Raketenabwehrgürtels. Der Oberst fluchte leise. „In Aralik an der Nehri haben wir noch Flak stehen. Aber wenn die Stinger ihn nicht trafen, hat die Flak keine Chance." Der Türke wurde fast weinerlich, so schmerzte der Fehlschlag ihn. Er fühlte sich blamiert. Als Japaner hätte er vielleicht Harakiri begangen. Da wurde er an einen der Radarmonitore geru fen, dessen Antenne hoch auf dem Ararat stand. „Sehen Sie das, Oberst?" fragte der Kontrolleur. „Der große fette Punkt ist der Perser." Nun deutete er zum oberen Schirmrand. „Und dieser noch blasse stecknadelkleine Punkt mit dem Kometenschweif ist eine MiG." „Sie versuchen es mit Nachtjägern", bemerkte der Oberst. „Aber sie halten sich strikt an den Grenzverlauf." „Er fliegt parallel dazu", sagte der Beobachter. Der Abfangjäger, vermutlich eine MiG-29, kam dem Perser schnell näher. Sie war viermal so schnell. Wenn er schlau ist, dachte Urban, und meinte damit den persischen Piloten, hat er nicht nur die Raketen erkannt, sondern nimmt an, daß die Raketenexplosionen die Russen anlocken. Wenn er jetzt nur einen Kilometer auf türkisches Gebiet ausweicht, was ihm keiner je nachweisen kann, sofern er seinen Kopf durchbringt, dann hat er die Russen ausmanövriert. Aber der Helikopter blieb scharf auf der Grenz linie. Offenbar hatte er eindeutige Befehle. „Der Russe", rief der Oberst fasziniert. „Sehen Sie, Commander!" 157
„Er kriegt ihn", kommentierte Urban fast ton los. „Herr, vergib ihnen." „Soldaten führen nur Befehle aus." „Aber die wenigsten wissen, was sie tun." „Sie sind unschuldig. Der Stab denkt für sie." Offenbar war der russische MiG-Pilot einer von diesen Robotern. „Schußdistanz!" meldete der Radarkontrolleur. Urban blieb das Herz stehen, als der Offizier am Radar fortfuhr: „Er hat zwei Raketen abgefeuert." Nicht nur für den Fachmann war der Rest eindeutig. Bei dem grünen Punkt blitzte es auf. Er blähte sich auf, wuchs, zerplatzte und war dann weg. Jetzt geriet der Hubschrauber wohl ins Trudeln, sackte, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, ab, prallte mit voller Wucht gegen eine der Fels wände und brach in brennende Wrackteile ausein ander.
„Gute Arbeit", sagte der Türke anerkennend. „Hoffentlich ist er auf unser Gebiet gefallen. Dann finden wir die Trümmer und kriegen die Herren von der roten Feldpostnummer an den Kanthaken. Diplomatisch, meine ich, mit Protest noten und was da so alles läuft." Wenigstens diesen Trumpf wollten sie genießen. Der Alarm wurde aufgehoben. Die Geräte wurden abgeschaltet. Bis auf den Routinenachtdienst verließen die Offiziere und Soldaten den Bunker. Die Offiziere gingen ins 158
Casino hinüber zu einer kleinen Feier. - Denn totale Verlierer waren sie ja nicht. „Immerhin", äußerte der türkische Oberst, „haben unsere Raketen der MiG den Weg ge wiesen." Es war späte Nacht, eigentlich schon früher Morgen. Zweifellos waren sie alle Moslems, aber Allah war nicht nur groß, sondern auch großher zig. Es wurde getrunken und geprahlt und auf die Schultern geklopft. Nur Urban stand stumm dabei. Er kippte einen Bourbon nach dem anderen. Er blieb nicht stumm, weil er zu wenig Türkisch verstand. Er hatte andere Gründe. Er hatte wirklich sein Bestes getan. Alle hatten es verstanden, aber keiner hatte sich drange halten. Immer wieder kam der Oberst vorbei. „Was ist mit Ihnen, Commander?" „Nichts, mir geht es gut." „Feiern Sie doch mit uns." „Was, bitte?" „Unseren Teilerfolg. Freuen Sie sich darüber." Urban leerte sein Glas, schaute sich um und nickte, ohne die Spur seines angeborenen Grin sens im Gesicht. „Hab' schon mal mehr gelacht", sagte er.
Es war die alte Leier. Ein deprimierender Job unter unerträglichen Bedingungen. Nie hatte man das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Zum Teufel, er hätte gern etwas anderes 159
gemacht. Schuhe besohlt, Autos repariert. Egal was und wo. Fast alles wäre ihm lieber gewesen als das. Einer muß es ja machen, hieß es immer.
Bald glaubte er nicht mehr daran, daß das
zutraf. Am Ende kam doch noch etwas dabei heraus. Monate später, im Frühjahr 1989 starb Kho meini, der Ayatollah. - Es hatte keine Rettung für ihn gegeben. In einem silberfarbenen Metallsarg wurde er auf dem Friedhof Behescht-e-Sahra südlich von Teheran begraben. ENDE
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