Die Satansfalle von Frederic Collins
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Die Satansfalle von Frederic Collins
Der Zimmerkellner im Seafarer Hotel überzeugte sich davon, daß alles in Ordnung war. Er hatte genaue Anweisungen erhalten. Sie stammten nicht von der Hoteldirektion, sondern aus dem Jenseits. Zimmer Nummer 13 war in eine Todesfalle zu verwandeln. Als der Zimmerkellner auf den Korridor trat, war seine Aufgabe erfüllt. Wer in dieser Nacht Zimmer 13 bewohnte, sollte im Jenseits erwachen. Aus dieser Todesfalle gab es kein Entrinnen!
»Ich hatte mich so auf eine ruhige Bahnfahrt gefreut«, sagte Jane leise ihrem Freund ins Ohr. »Und jetzt?« Die zweiundzwanzigjährige Jane Grooper sah sich enttäuscht im Abteil um. Ihr gegenüber saßen zwei füllige Frauen, die sich lautstark über die neuesten Sommerkleider unterhielten. Ihre vier Kinder kletterten inzwischen ungestört über die Sitzbänke und vollführten einen Lärm, der keine zärtliche Stimmung aufkommen ließ. Schräg gegenüber saß ein älterer Herr, der die beiden jungen Leute keine Sekunde aus den Augen ließ. Erst als Aldo Torlato ihm offen ins Gesicht starrte, wandte er sich ab. Auch auf der Seite, auf der Jane Grooper und ihr um sieben Jahre älterer Freund Aldo saßen, war jeder Platz besetzt. Die Luft im Abteil war stickig. Die Enge war das einzige, das Jane und Aldo nicht störte. Sie konnten auf diese Weise wenigstens enger zusammenrücken. »In Brighton wird alles besser«, versprach Aldo leise. »Wir haben ein Zimmer im Seafarer Hotel. Ich habe Prospekte gesehen. Es ist ein schönes Haus direkt am Strand.« »Warum mußten wir aber auch in der Hochsaison verreisen«, klagte Jane. »Weil wir beide zu einem anderen Zeitpunkt keinen Urlaub bekommen hätten«, erwiderte Aldo und küßte Jane lachend auf die Wange. »Sei friedlich, Darling, in einer halben Stunde haben wir es überstanden!« Der ältere Mitreisende starrte schon wieder, und Aldo wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. Jane Grooper und Also Torlato waren nun seit einem halben Jahr miteinander befreundet, und sie waren fest entschlossen, zusammen zu bleiben. Für Jane war nach einigen bitteren Enttäuschungen der junge Italiener endlich die große Liebe. Und Aldo war froh, daß er in dem fremden Land eine Freundin gefunden hatte, die wirklich zu ihm hielt. Er sollte demnächst die britische Staatsbürgerschaft be-
kommen. Dann gab es für sie beide überhaupt keine Hindernisse mehr. »Drei Wochen Brighton«, schwärmte er Jane vor. »Wir werden den ganzen Tag in der Sonne liegen, schwimmen und essen.« »Und …?« fragte Jane lächelnd. »Wären wir jetzt im Abteil allein, würde ich es dir sagen.« Aldo lachte und drückte sie fest an sich. »Ich glaube, wir sind gleich da«, fügte er hinzu, als er einen Blick aus dem Fenster warf. Die beiden Frauen stiegen auch aus. Die Kinder tobten auf den Gang hinaus, und für Sekunden herrschte heilloses Chaos. Endlich standen alle auf dem Bahnsteig von Brighton. Jane und Aldo nahmen sich ein Taxi zum Seafarer Hotel. Der Service im Hotel war ausgezeichnet. Zwei Pagen brachten ihr Gepäck an die Rezeption. Der Empfangschef sah in seiner Liste nach. »Miss Grooper und Mr. Torlato.« Er nickte freundlich. »Ja, hier! Zimmer 13!« Er übergab einem Pagen den Schlüssel. »Angenehmen Aufenthalt«, wünschte er dem jungen Paar. Minuten später waren sie im Zimmer allein. Aldo nahm Jane in die Arme. »Ist es hier nicht wunderbar?« fragte er zärtlich. »Wir haben Blick auf das Meer, auch wenn es nicht die Adria ist.« »Du hast Sehnsucht nach deiner Heimat, ja?« fragte Jane. Er nickte. »Nächstes Jahr fahren wir nach Italien, und ich zeige dir das ganze Land. Einverstanden?« »Einverstanden«, erwiderte Jane lächelnd. »Küß mich, Darling! Jetzt hat unser Urlaub begonnen.« Zur selben Zeit hielt vor dem Seafarer Hotel ein Taxi. Ein älterer Mann stieg aus. Es war jener Mann, der das junge Pärchen im Zug so genau beobachtet hatte. Er ahnte nicht, daß die beiden in diesem Hotel wohnten. Er trat an die Rezeption.
»Solotschenko«, nannte er seinen Namen. »Ich habe Zimmer 13 bestellt.« Der Empfangschef ahnte Unannehmlichkeiten. Zimmer 13 hatte er soeben vergeben. »Einen Moment, Mr. Solotschenko«, bat er und sah seine Liste durch. »Verzeihung, aber Sie sind für Zimmer 19 vorgemerkt.« Der ältere Herr erregte sich. »Ich habe ausdrücklich Nummer 13 verlangt! Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben und auf diesem Zimmer bestanden«, rief er gedämpft. Er sprach mit starkem Akzent. »Ich habe schon einmal in Zimmer 13 gewohnt, und es hat einen ausgezeichneten Meerblick.« Der Empfangschef zog ein Blatt hervor. »Hier habe ich Ihren Brief, Mr. Solotschenko.« Er tippte auf eine Stelle. »Jetzt sehe ich es. Tut mir leid, Sie haben 13 so undeutlich geschrieben, daß ich 19 las. Aber ich kann Sie beruhigen, Nummer 19 hat den gleichen Meeresblick. Ich hoffe, Sie werden zufrieden sein!« »Das hoffe ich auch«, erwiderte der Fremde und folgte einem Pagen in Zimmer Nummer 19. Er hielt den Fehler bei der Buchung für nicht weiter wichtig. Niemand kümmerte sich darum. Jane Grooper und Aldo Torlato ahnten nicht einmal, daß es einen Fehler gegeben hatte. Sie genossen das Alleinsein und den Urlaubsanfang.
* Wenige Meilen von Brighton entfernt lagen hinter den Dünen zwei Herrenhäuser. Sagon Manor und Mortland. Beide waren bewohnt. Beide gehörten der Familie Winslow. Sagon Manor war der Wohnsitz der Winslows. Es handelte sich um keine gewöhnliche Familie. Lord Winslows Sohn, Peter Winslow, war der Großmeister des Ordens der Weißmagier. Dabei handelte es sich um einen losen Zusammenschluß all jener Men-
schen, die der Hölle, Schwarzmagiern, Geistern und Dämonen den Kampf angesagt hatten. Trotz seiner Jugend war Peter Winslow bereits ein sehr erfolgreicher Großmeister. Seine Aufgabe war es, den Mitgliedern des Ordens mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. In schwierigen Fällen griff er selbst ein. Peter Winslow saß vor dem Hauptgebäude von Sagon Manor auf der Terrasse und ließ sich die Sonne auf den muskulösen Körper scheinen. Öffnete er einmal träge die Augen, erblickte er über den Baumwipfeln die Türme des nahen Mortland. Mortland, der Inbegriff des Bösen, Sitz der schwarzmagischen Mächte. Es hatte Peters Großvater mütterlicherseits gehört und war durch Erbschaft an die Familie Winslow gefallen. Aber keiner der Winslows konnte dort drüben leben. Auf Mortland wimmelte es von Geistern und Untoten. Wäre Sagon Manor nicht durch einen mächtigen weißmagischen Bann geschützt gewesen, hätten die Mächte der Finsternis das Haus des Großmeisters schon längst überrannt. Ein Schatten fiel auf Peter. Er strich sich eine Strähne seiner blonden Haare aus der Stirn und richtete seine tiefblauen Augen auf den Störenfried. »Was gibt es, Harvey?« fragte er den Butler. »Und gehen Sie mir bitte aus der Sonne. Sie scheint hier ohnedies selten genug.« Harvey streifte die knappe Bekleidung seines jungen Herrn mit einem tadelnden Blick. Seiner altmodischen Meinung nach stand es dem Großmeister nicht zu, sich so freizügig zu zeigen. Ginge es nach Harvey, hätte sich Peter stets in einem dunklen Anzug zeigen müssen.
* »Ich wollte mir nur erlauben, Sir, Sie darauf hinzuweisen, daß Mr.
Solotschenko inzwischen in Brighton angekommen sein müßte«, erklärte der Butler geschraubt. »Ja, ich weiß«, erwiderte Peter. »Und? Es war nicht ausgemacht, daß ich ihn im Hotel besuche oder abhole. Er wird morgen früh zu uns kommen und über die neuesten Vorfälle in Osteuropa berichten. Deshalb hat er schließlich die weite Reise unternommen.« »Ich weiß, Sir.« Der Butler räusperte sich, als Peter sich einfach auf den Bauch rollte, um auch seinen breiten Rücken bräunen zu lassen. »Darf ich trotzdem darauf hinweisen, daß es vielleicht angebracht wäre, Mr. Solotschenko in dieses Haus zu holen. Auf Sagon Manor wäre er absolut sicher.« »Ist mir bekannt.« Peter wurde langsam ärgerlich. »Vielleicht erinnern Sie sich noch, daß Mr. Solotschenko abgelehnt hat. Er wollte unbedingt direkt am Meer wohnen. Außerdem gehört das Seafarer Hotel Mr. Chapper, und Chapper gehört unserem Orden an. Noch etwas?« »Verzeihen Sie die Störung, Sir!« Der Butler war verärgert, doch Peter konnte es nicht ändern. Sie hatten alles getan, um Mr. Solotschenko nach Sagon Manor zu holen. Wenn der Mann aber nicht wollte, war es seine Sache. »Na, Ärger mit Harvey gehabt?« fragte eine weiche Frauenstimme. Peter blinzelte durch seine Sonnenbrille und grinste. »Du bist ein hübscherer Anblick als der verdrossene Harvey«, sagte er zu Maud, die offiziell als Hausmädchen arbeitete, in Wirklichkeit aber ein wichtiges Mitglied des Bundes war. Das traf übrigens auf das gesamte Personal zu. »Maud, ich bekomme einen Sonnenbrand, wenn du mir den Rücken nicht einölst.« »Du könntest ins Haus gehen«, erwiderte sie lachend. »Da ist mir lieber, du ölst mir den Rücken ein«, murmelte Peter träge. »Du machst das so schön.« »Zu Befehl, Sir!« Maud griff zur Flasche mit dem Sonnenöl und begann ihre Arbeit
mit viel Gefühl. So ungezwungen gingen Peter und die etwas ältere Maud nur miteinander um, wenn keine anderen Mitglieder des Bundes in der Nähe waren. Sonst hielten sie Formen ein. Maud fand das besser, um den Respekt vor dem ohnedies sehr jungen Großmeister zu steigern. »Sehr gut«, murmelte Peter brummend. »Weißt du, was ich jetzt täte, wenn wir allein und ungestört wären?« »Wir sind nicht allein und ungestört, und du solltest dich benehmen«, entgegnete Maud und beendete ihr Werk. »Zufrieden?« »Mit dem Einölen, ja, ansonsten nicht!« Peter drehte den Kopf, daß er sie ansehen konnte. »Hat Harvey dir nicht auch einen bösen Blick zugeschossen, weil du einen Bikini trägst? Und zwar einen knappen Bikini, wie ich feststellen muß?« Maud erwiderte sein Lächeln, aber sie schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Du bist der Großmeister, Peter, vergiß das nicht.« »Nein, wie sollte ich?« meinte Peter verärgert und enttäuscht. »Warum wehrst du mich immer ab, wenn ich mit dir flirte? Magst du mich nicht?« »Peter!« Maud seufzte. »Ich bitte dich! Wir haben schon darüber gesprochen! Du weißt genau, in welch gefährlicher Situation wir alle leben. Wir müssen immer wieder in den Einsatz, und dann dürfen wir aufeinander keine Rücksicht nehmen. Stell dir vor, was wäre …« »Hör auf!« fiel Peter ihr ins Wort. »Ich weiß genau, was du meinst, und ich will es nicht hören.« Sie schwiegen und genossen die Sonne, aber die Türme von Mortland waren immer zu sehen. Sie blieben als stumme Drohung stehen und erinnerten den Großmeister Peter Winslow und seine Kampfgefährtin ständig an die Gefahren der Schwarzen Magie. »Morgen früh kommt Solotschenko, um seinen Bericht abzuliefern«, sagte Peter nach einer halben Stunde. »Aber dieser Abend gehört wenigstens uns.«
Maud antwortete nicht. Sie wollte keine Hoffnungen wecken, die sie sich beide besser nicht machten.
* Das Seafarer Hotel war restlos ausgebucht. Auch das letzte Zimmer war vermietet. Dementsprechend voll war es auch im Speisesaal. »Hier gefällt es mir«, sagte Jane Grooper begeistert. »Du hast ein schönes Hotel ausgesucht, Darling.« Aldo Torlato lächelte zufrieden. »Hauptsache, es gefällt dir. Von London aus ist es nicht so weit hierher. Wenn du möchtest, können wir gelegentlich zu einem Wochenende nach Brighton kommen.« »Das wäre wirklich schön«, meinte Jane. Sie hatten das Abendessen beendet. »Machen wir noch einen Spaziergang am Strand?« Aldo war einverstanden und verließ zusammen mit Jane das Hotel. Es wurde zwar immer wieder davor gewarnt, in der Dunkelheit am Strand spazieren zu gehen, ganz gleich wo, aber Aldo hatte keine Angst. An diesem Abend waren vor allem noch so viele Leute unterwegs, daß es bestimmt keine Gefahren gab. Der Strand von Brigton bot ein buntes Bild. Zahlreiche Leute hatten sich zu Gruppen zusammengeschlossen, die ein Lagerfeuer entzündeten oder im Schein bunter Lampions beisammen saßen. Einige bauten Sandburgen, andere tanzten zu den Klängen von mitgebrachten Radios und Cassettenrecordern. An mehrere Stellen wurde gegrillt. Der Duft von Würstchen und Fleisch mischte sich mit der salzigen Meeresluft. »Das ist richtige Urlaubsstimmung.« Jane hatte sich bei Aldo untergehakt und lief mit ihm über den noch von der Sonne warmen Sand. »Mir gefällt es hier!« »In meinem Heimatland wird es dir auch gefallen«, versprach Aldo. »Du wirst schon sehen. Wenn wir an der Adria entlang wan-
dern, wirst du den Zauber des Südens spüren.« »Den Zauber des Südens spüre ich jetzt schon ganz dicht neben mir«, erwiderte Jane verliebt. Aldo blieb stehen. Es war niemand in ihrer Nähe. Er zog Jane in seine Arme und küßte sie lange. »Gehen wir ins Hotel zurück«, flüsterte er ihr ins Ohr. Jane nickte. Sie kehrten auf kürzestem Weg um und betraten Zimmer 13. Vor dem Hotel waren die Geräusche der an- und abfahrenden Wagen zu hören. Musik drang vom Strand durch das offene Fenster in Zimmer 13. Die beiden jungen Verliebten kümmerten sich nicht darum. Sie nahmen die Geräuschkulisse des Badeortes gar nicht mehr wahr und vergaßen völlig, wo sie waren. Erst weit nach Mitternacht wurde es draußen still. Jane und Aldo lagen nebeneinander, die Augen halb geschlossen. Sie lächelten einander zu. Das Rauschen des Meeres drang ungehindert in ihr Zimmer und hüllte sie wie mit einem Mantel ein. »Ich liebe dich«, flüsterte Jane. Ihre Augen glänzten. »Ich liebe dich«, antwortete Aldo, streckte die Hand nach ihr aus und wollte ihre Schultern berühren. Doch seine Finger erreichten ihr Ziel nicht. Sie drangen durch Jane hindurch und landeten auf dem Laken. Aldo schwamm in einer Woge von Schläfrigkeit und Zufriedenheit. Er lächelte noch immer. Sein Verstand verarbeitete seine Beobachtungen nicht schnell genug. Er griff ein zweites Mal nach seiner Freundin. Diesmal wollte er sie in seinen Arm ziehen. Er fühlte keinen Widerstand. Sein Arm verschwand scheinbar völlig in Jane und traf das Laken! Einen Moment lag Aldo wie erstarrt neben seiner Freundin. Dann fuhr er mit einem Schrei hoch und starrte auf Jane hinunter.
Das heißt, er wollte es tun, aber sie verschwamm vor seinen Augen. Stöhnend griff sich Aldo an die Augen und rieb sie, schüttelte den Kopf und starrte erneut auf das Bett. Es war leer! Niemand lag mehr darin! Das ging über den Verstand des jungen Mannes. »Jane?« flüsterte er und rutschte zu der Stelle, an der seine Freundin eben noch gelegen hatte. Niemand hörte den Schrei. Aldo hatte das Gefühl, unter ihm würde sich eine riesige Schlucht öffnen. Er verlor den Halt und stürzte in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund. Weit vor sich sah er Jane treiben, sah schaurige Gestalten, die sich auf seiner Freundin stürzten. Sekundenlang bildeten alle einen chaotischen Knäuel, bis die Schauergestalten wieder auseinander stoben. Jane stürzte erneut allein in den Abgrund. Aldo versuchte, instinktiv, sie zu erreichen, und näherte sich ihr tatsächlich. Er war in Bereiche eingedrungen, in denen Menschen nicht existieren konnten. Hier funktionierte das normale Wahrnehmungsvermögen nicht. Aldo glaubte, sich seiner Freundin zu nähern und sie genauer zu sehen. Sie trudelte hilflos durch das Nichts und wandte sich ihm zu. Ein Blick in ihr Gesicht ließ Aldo aufschreien. Er hörte seine eigene Stimme nicht. Stille war rings um ihn. Entsetzt starrte er in Janes Gesicht und versuchte zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Ein fürchterlicher Stoß beendete seine verstörten Gedanken. Für einen Moment wurde es blendend hell um ihn herum. Er fühlte Sand unter seinem Körper, krallte die Finger tief in den weichen Boden und wollte schreien. Doch nicht einmal mehr dazu hatte er Kraft … Im Morgengrauen fand ein Polizist an einer einsamen Stelle des Strandes von Brighton einen Mann und eine Frau. Zuerst hielt er
beide für tot. Als die Kollegen eintrafen, die er über sein tragbares Funkgerät alarmiert hatte, begann sich der Mann zu bewegen. Und dann waren auch schon Reporter zur Stelle, um über den sensationellsten Mord seit Jahren zu berichten. Die wahren Hintergründe kannte niemand. Der erste Verdacht fiel auf den jungen Mann. Er wurde als Aldo Torlato identifiziert, der zusammen mit dem Opfer Jane Grooper im Seafarer Hotel gewohnt hatte. Mr. Chapper, der Hotelbesitzer, bekam zum Morgentee eine unangenehme Nachricht serviert. »Ein Mord?« fragte er entsetzt. »Die Leute wohnen in meinem Haus? Das kann doch nicht wahr sein!« »Tut mir leid, es ist aber so«, versicherte der Polizist, der ihn verständigt hatte. »Wir müssen unbedingt Zimmer 13 durchsuchen, Mr. Chapper.« Ein älterer Mann, der sich bisher in der Nähe des Hotelbesitzers aufgehalten hatte, näherte sich jetzt mit hastigen Schritten. »Mr. Solotschenko!« sagte Chapper überrascht. »Was gibt es denn? Ich kann mit Ihnen nicht nach Sagon Manor fahren. Vielleicht haben Sie gehört, was passiert ist.« »Kommen Sie«, sagte Solotschenko. Er zog den Hotelbesitzer auf die Seite und redete leise aber heftig auf ihn ein. Danach lehnte Mr. Chapper energisch eine Durchsuchung von Zimmer 13 ab und ordnete sogar an, daß es bewacht wurde. Der Polizist kündigte einen richterlichen Durchsuchungsbefehl an. »Schnell, kommen Sie«, sagte Chapper zu seinem Gast Solotschenko. »Wir müssen schneller als die Polizei sein!« »Und wohin fahren wir?« erkundigte sich Solotschenko, während er neben dem Hotelbesitzer zum Parkplatz lief. »Nach Sagon Manor, natürlich«, gab Chapper zurück. »Wenn jetzt jemand helfen kann, ist es der Großmeister!«
Sie begannen einen Wettlauf mit der Zeit. Wenn die Polizei das Zimmer vor dem Großmeister betrat, konnte es zu einer Katastrophe kommen.
* Zu den wenigen Lastern, die Peter Winslow sich erlaubte, gehörte es, morgens lange zu schlafen. An diesem Augustmorgen wurde nichts daraus. Heftiges Klopfen an seiner Schlafzimmertür schreckte ihn auf. Er warf einen Blick auf den Radiowecker und seufzte. Es war sieben Uhr morgens. »Was ist?« rief er gähnend. »Verzeihung Sir«, antwortete Butler Harvey, »aber Ihre Anwesenheit ist dringend erforderlich. Es handelt sich um einen absoluten Notfall, Sir!« Peters Morgenmüdigkeit war wie weggeblasen. Er schlüpfte hastig in seine Jeans, zog ein T-Shirt über und fuhr mit nackten Füßen in die Sandalen. Zwei Bürstenstriche durch die widerborstigen blonden Haare, und schon stürmte er auf den Korridor hinaus. Überall im Haus wurde es lebendig. Harvey hatte offenbar bei allen Bewohnern Alarm geschlagen. Auf dem Weg nach unten begegnete Peter seiner Schwester Alicia. Sie wirkte genau so verschlafen und besorgt wie er. Sein Vater, Lord Hubbard Winslow, war schon in der Halle. Er trug nur einen Morgenmantel. »Hallo, Mr. Chapper«, begrüßte Peter den Hotelbesitzer und wandte sich an den Mann an seiner Seite. Der ältere Gentleman sah Peter fest an. Seine dunklen Augen begannen plötzlich, von innen heraus blau aufzuleuchten. Das Phänomen verschwand sofort wieder. Peter nickte und streckte ihm die Hand entgegen. Das geheime Er-
kennungszeichen der Ordensmitglieder hatte ihn davon überzeugt, einem Freund gegenüber zu stehen. »Das ist Mr. Solotschenko«, sagte Mr. Chapper knapp. »Sir, Sie müssen sofort mit uns zum Hotel kommen.« »Ich folge euch«, sagte Lord Hubbard. Peter stellte keine Fragen. Offenbar war es sehr eilig. Chappers Wagen stand vor dem Hauptgebäude von Sagon Manor. Der Hotelbesitzer übernahm das Steuer, Solotschenko stieg hinten ein. »Angeblich hat Aldo Torlato, Gast unseres Hauses, seine Freundin Jane Grooper umgebracht«, erklärte Mr. Chapper, während er in scharfem Tempo nach Brighton zurückfuhr. »Beide wurden am Strand gefunden. Sie haben in Zimmer 13 gewohnt.« »Dieses Zimmer hatte ich bestellt«, fügte Solotschenko hinzu. »Durch einen Irrtum bekam ich aber Zimmer 19.« »Verstehe«, murmelte Peter. »Anzeichen für Schwarze Magie?« »Danach, wie der Polizist die Leiche beschrieb, ja«, bestätigte Chapper. »Ich würde sagen, die junge Frau wurde von Dämonen ermordet. Ich habe die Leiche aber nicht gesehen.« »Ich bin überzeugt, daß in Zimmer 13 für mich eine schwarzmagische Falleaufgebaut war«, versicherte Mr. Solotschenko. »Ich sollte beseitigt werden, ehe ich Ihnen Bericht erstatten konnte, Sir!« »Bringen Sie denn solche Neuigkeiten?« erkundigte sich der junge Großmeister. »Keine Sensationen, aber wertvolle Informationen«, erwiderte der Ordensmann. »Die Gegenseite versucht immer, Mitglieder unseres Bundes auszuschalten«, gab Mr. Chapper zu bedenken. »Jetzt geht es vorerst darum, daß die Polizei nicht auch in diese schwarzmagische Falle läuft. Sir, Sie müssen das Zimmer überprüfen.« Peter nickte. »Okay! Und danach kümmere ich mich um den Mordfall.«
Als sie das Hotel erreichten, traf soeben der Polizeichef von Brighton ein. Er hielt Chapper den Durchsuchungsbefehl unter die Nase. »Ich habe gar nichts dagegen«, erklärte Chapper. »So?« Der Polizeichef, ein stämmiger Mann mit militärischem Haarschnitt, zog die Augenbrauen zusammen. »Und weshalb haben Sie dann meinen Leuten das Betreten des Zimmers untersagt?« »Mr. Chapper vermutet, daß Schwarze Magie im Spiel war«, sagte Peter Winslow ruhig. Aus den eng beisammen stehenden Augen des Polizeichefs traf ihn ein Blick, der Bände sprach. Es störte den Polizeichef, daß sich ein so junger Mann einmischte. »Ach ja?« fragte er mit gespielter Freundlichkeit. »Und was wissen Sie darüber?« »Ich bin Experte«, antwortete Peter. Er ließ sich nicht herausfordern. »Ich verlange nichts, aber ich bitte Sie, bei der Durchsuchung dabei sein zu dürfen.« »Unsinn, kommt gar nicht in Frage«, lehnte der Polizeichef ab. »Sie sind Privatperson und haben bei der Durchsuchung nichts verloren, verstanden?« »Dann nehmen Sie die Verantwortung auf sich, wenn einer Ihrer Männer in Zimmer 13 getötet wird?« fragte Peter Winslow mit der gleichen Ruhe wie vorhin. Der Polizeichef zuckte zusammen. »Ist in Zimmer 13 eine Bombe versteckt?« fragte er scharf. »Nein, aber vielleicht eine schwarzmagische Falle«, entgegnete der Großmeister. »Hören Sie, Mr. Winslow.« Der Polizeichef trat einen Schritt näher und senkte seine Stimme. »Ich weiß, was über Sie und Ihre Familie geredet wird. Ich kenne die Geschichten, die über Sagon Manor und Mortland im Umlauf sind. Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich halte alles für ausgemachten Schwindel, Unsinn und Aberglauben.«
»Das ist Ihr gutes Recht«, sagte Peter Winslow und hielt dem bohrenden Blick stand. »Lassen Sie mich dabei sein, wenn Sie das Zimmer betreten. Sie vergeben sich nichts, und ich kann möglicherweise Menschenleben retten.« Sekundenlang hielten die beiden Männer einander mit Blicken umkrallt. Peters festes Auftreten ließ den Polizeichef das jugendliche Alter seines Gesprächspartners vergessen. Er wandte sich schweigend ab und betrat mit seinen Leuten das Hotel. Peter Winslow nahm das als stillschweigende Erlaubnis. Er schloß sich zusammen mit Chapper und Solotschenko den Polizisten an. Sie fuhren nach oben. Unterwegs begegneten sie beunruhigten oder neugierigen Gästen. Es hatte sich in Windeseile herumgesprochen, daß Gäste aus diesem Hotel in einen Mord verwickelt waren, als Opfer und als Täter. Peter kannte die vier Männer, die vor Zimmer 13 standen. Es waren Chappers Angestellte, gleichzeitig Mitglieder im Orden der Weißmagier. Auf sie konnte Chapper sich verlassen. Sie hielten einen Mann in Kellnerkleidung fest, den Peter nicht kannte. »Er wollte in das Zimmer«, sagte einer der Weißmagier zu seinem Chef. Der Festgenommene preßte die Lippen aufeinander und wich Peters forschendem Blick aus. »Öffnen!« befahl der Polizeichef. Mr. Chapper schloß mit dem einzigen Generalschlüssel auf und ließ die Tür zurückschwingen. Auf den ersten Blick bot das Zimmer einen unverfänglichen Eindruck. »Haben Sie gemerkt, daß von innen abgeschlossen war?« fragte Peter den Polizeichef. »Auch der Schlüssel steckt innen. Das Zimmer hat keinen Balkon und keinen zweiten Ausgang.« »Unmöglich«, murmelte der Polizeichef.
»Es ist so«, bestätigte Chapper, und daraufhin wurde der Polizeichef sehr nachdenklich. »Halt«, sagte Peter scharf, als zwei Constables eintreten wollten. Seine Stimme nahm einen so harten, befehlenden Ton an, daß die Männer tatsächlich zurückwichen. Peter Winslow nahm den festgenommenen Kellner am Arm und lächelte ihm kalt ins Gesicht. »Nun, mein Freund«, sagte er leise, »ich schlage vor, daß wir beide dieses Zimmer durchsuchen. Das wollten Sie doch ohnedies tun, nicht wahr?« »Es gehört zu meinen Pflichten«, sagte der Mann verstört. »Ich bin schließlich Zimmerkellner.« »Ja, natürlich!« Peters Freundlichkeit ließ den anderen einen kalten Schauer über den Rücken laufen. »Und ich helfe Ihnen bei Ihren Pflichten. Gehen wir!« Er nahm den Kellner am Arm und hielt ihn so fest, daß der Mann nicht entkommen konnte. Peters Blicke schweiften hastig durch das Zimmer. Es gab nur das benutzte Bett, einen Schrank, Tisch, zwei Sessel, zwei Stühle, die kleine Naßzelle. Auf den ersten Blick war alles in Ordnung. »Was wollten Sie sich denn ansehen?« fragte er den Kellner und führte ihn weiter in das Zimmer. »Haben Sie den Raum auch gestern abend kontrolliert? Haben Sie bei dieser Gelegenheit für Mr. Solotschenko die Falle aufgebaut? Wer hat Ihnen den Befehl dazu gegeben? Sprechen Sie! Ein Geständnis kann Ihre Lage verbessern.« »Meinen Sie nicht, daß das meine Sache ist, Mr. Winslow?« mischte sich der Polizeichef ein. Er trat näher und drängte sich zwischen Peter und den Kellner. Der Festgenommene nutzte die Gelegenheit. »Vorsicht!« schrie Peter Winslow, doch es war schon zu spät. Der Kellner rammte dem Polizeichef den Ellbogen in den Magen und schleuderte ihn gegen Peter Winslow. Er selbst riß sich von Peter los und warf sich mit einem weiten Sprung auf das Bett.
Peter wollte nachsetzen und ihn wieder packen, doch der Kellner löste sich vor ihm auf. Das Letzte, was Peter von dem Mann sah, war das höhnisch lachende Gesicht, das schlagartig namenloses Entsetzen zeigte. Dann war der Kellner restlos verschwunden. »Zurück!« schrie Peter, packte den Polizeichef und zerrte ihn zur Tür. »Raus! Alle raus!« Die Polizisten wichen zurück. Chapper hatte schon Mr. Solotschenko am Arm aus dem Zimmer gezerrt. Peters Warnung hatte einen guten Grund. Innerhalb von Sekundenbruchteilen erkannte er, daß das Bett die Falle war. Der Kellner hatte auf diesem Weg fliehen wollen. Es war jedoch anders abgelaufen, als er sich das dachte. »Vermutlich haben ihn die Dämonen für sein Versagen bestraft«, sagte Peter leise zu Chapper und dem Polizeichef. Sie standen an der Tür und starrten in den Raum. »Und jetzt?« fragte der Polizeichef. Das spurlose Verschwinden des Kellners hatte ihn schwer erschüttert. Scheinbar aus unendlichen Fernen gellte ein Schrei an ihre Ohren. »Um Himmels willen«, murmelte ein Constable und hielt sich entsetzt die Ohren zu. Im nächsten Moment schoß aus dem Bett eine Feuersäule, erfüllte Zimmer 13 und fiel sofort wieder in sich zusammen. Nichts war versengt, nicht einmal die Gardinen. Das Bett war jedoch spurlos verschwunden. »Okay«, sagte Peter Winslow trocken und klopfte dem Polizeichef auf die Schulter. »Jetzt können Sie das Zimmer durchsuchen. Den verschwundenen Kellner wird man vermutlich bald irgendwo finden. Ich möchte mit dem verhafteten jungen Mann sprechen, der angeblich seine Freundin umgebracht hat. Was halten Sie jetzt von den Geschichten über mich und Sagon Manor?« Der Polizeichef war kreidebleich. Auf seiner Stirn standen
Schweißtropfen. Er suchte vergeblich nach einer Antwort. Von unten kam ein aufgeregter Polizist. Er erstattete Meldung, daß man unweit der Stelle, an der Jane Grooper und Aldo Torlato gefunden worden waren, die Leiche eines Mannes in Kellnerkleidung entdeckt hatte. Aus den Augen des Polizeichefs traf Peter ein Blick voll Angst und Hochachtung, Verwirrung und Hoffnung. »Ich lasse Sie zu Aldo Torlato bringen, Mr. Winslow«, sagte der Polizeichef. »Jetzt gleich!«
* »Ich muß im Hotel bleiben«, sagte Mr. Chapper zu seinem Gast aus Osteuropa. »Das verstehen Sie sicher.« »Natürlich«, versicherte Solotschenko. »Ich bin froh, daß der Großmeister die Falle entlarvt hat. Ohne sein Eingreifen hätte es bestimmt ein Unglück gegeben.« »Ohne Ihren Hinweis aber auch«, versicherte Mr. Chapper. »Ich bin von dem jungen Großmeister ehrlich beeindruckt.« Solotschenko schüttelte den Kopf. »Als ich ihn zuerst sah, dachte ich … Nun, lassen wir das. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein junger Mann, der nur Sport, Vergnügen und Mädchen im Kopf hat. In seinem Alter wäre das nur natürlich.« »Seine Gegner haben längst eine andere Meinung von ihm bekommen«, erklärte Chapper. »Sie fürchten und hassen ihn, weil er so erfolgreich ist.« Solotschenko lächelte. »Ich merke schon, daß Sie nur noch aus Höflichkeit mit mir sprechen, Mr. Chapper. Sie möchten sich um Ihr Hotel und die Polizei kümmern. Ich nehme Sie nicht weiter in Anspruch. Ich werde mir ein Taxi nehmen und nach Sagon Manor fahren. Lord Hubbard Winslow wollte auch nach Brighton kommen, aber es ist sicher jemand im Haus, der sich meine Meldungen über
den Osten anhören kann, nicht wahr?« »Jedermann auf Sagon Manor gehört zum Orden«, entgegnete Chapper. »Da kommt übrigens der Lord schon.« Der Hotelbesitzer ging Peters Vater entgegen. Der Lord war vor seinem Sohn Großmeister gewesen, war aber zurückgetreten, als er sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlte. Es hatte sehr an seinen Kräften gezehrt, daß seine Frau vor fast zwanzig Jahren Opfer von Schwarzmagiern geworden war. Und es hatte ihn restlos vernichtend getroffen, daß seine zweite Tochter Marthe in das Lager der Schwarzmagier übergewechselt war. Seither hielt er sich weitgehend im Hintergrund. Solotschenko wollte sich nicht einmischen. Er verließ das Seafarer Hotel. Der Tag versprach, heiß zu werden. Solotschenko warf einen bedauernden Blick auf das tiefblaue Meer. Nahm sich jedoch vor, stark zu bleiben. Er war nicht zu seinem Vergnügen gekommen, sondern um schwer zu arbeiten. Und dafür mußte er nach Sagon Manor fahren. Vor dem Hotel standen die Taxis in einer langen Reihe. Sie hatten Hochbetrieb. Ehe sich Solotschenko zu der Fahrt entschließen konnte, waren alle Wagen weg. Er stellte sich an den Straßenrand. Ein Taxi hielt. Die Fahrerin öffnete ihm die Tür. »Nach Sagon Manor«, sagte Solotschenko. Die Frau am Steuer nickte und fuhr zügig an, wendete und nahm die Straße in die Dünen. Die Frau fuhr schnell und geschickt. Der Wagen schwang sich mit pfeifenden Reifen durch die Kurven der schmalen Straße. Dünen verdeckten nach allen Seiten die Sicht. »Ich habe es nicht so eilig«, wandte Solotschenko ein. Der ältere Mann klammerte sich besorgt an dem Seitengriff fest. »Sie brauchen nicht so zu rasen.« Die Taxifahrerin antwortete nicht.
Solotschenko schob es auf Unhöflichkeit. Vielleicht mochte sie auch keine Ausländer oder hatte mit jemandem Streit gehabt. Bei der Fahrt mit Mr. Chapper hatte er nicht besonders auf den Weg geachtet. Er wußte jedoch, daß eine Weggabelung gab. Rechts ging es nach Mortland, links nach Sagon Manor. Der Wagen raste durch die nächste Kurve, dann hatten sie die Gabelung vor sich. Der Wagen jagte nach rechts. »Halt!« schrie Solotschenko. »Das ist die falsche Strecke!« Die Fahrerin reagierte nicht. Die Straße war mit Schlaglöchern übersät. Unkraut wucherte in den Ritzen des geborstenen Asphalts. Der Wagen holperte und stieß und schlingerte. Solotschenko wurde hin und her geworfen. »Halt!« schrie er verzweifelt. Viel zu spät erkannte er die Falle. Er befand sich auf dem Boden von Mortland. Seine Feinde hatten doch nicht erreicht, was sie wollten. Die magische Falle von Zimmer 13 hatte ihn nicht erwischt. Diese falsche Taxifahrerin lieferte ihn jedoch seinen Feinden direkt ans Messer. Der entsetzte Mann sah das ausgebrannte Herrenhaus von Mortland vor sich auftauchen. Der Wagen hielt vor der breiten Freitreppe. Im nächsten Moment wurde das Auto von den Bewohnern Mortlands umringt. Solotschenko wollte sich wehren. Sein Versuch war vergeblich. Drüben auf Sagon Manor schlug die Glocke im Turm an. Es war das Letzte, was Solotschenko hörte.
* »Wir haben ihm Kleider gegeben«, erklärte der Polizeichef, der Peter Winslow persönlich zu dem verhafteten Aldo Torlato führte. »Ein
Arzt hat sich um ihn gekümmert, aber er konnte nicht viel machen. Er hat Torlato Beruhigungsmittel gegeben. Ansonsten ist ihm nichts passiert. Der Schock, wissen Sie, Mr. Winslow?« Jetzt behandelte der Polizeichef den jungen Großmeister wie einen Gleichgestellten. In seiner Stimme schwang sogar ein hochachtungsvoller Ton mit. »Bleiben Sie bei dem Gespräch«, bat Peter, »damit Sie Torlato hinterher gleich entlassen können.« Sie brachten den Verhafteten in einen Verhörraum. Also Torlato machte einen verstörten und völlig gebrochenen Eindruck. »Warum glaubt ihr, daß ich Jane umgebracht habe?« fragte er, bevor jemand etwas sagen konnte. »Ich habe sie geliebt. Wir wollten zusammen leben. Nächstes Jahr wollten wir in meine Heimat fahren. Ich wollte Jane Italien zeigen.« »Ich bin Peter Winslow«, sagte der junge Großmeister und nahm sich zusammen, um sich nicht von Aldo Torlatos Schmerz anstecken zu lassen. Er mußte sich wie ein Arzt verhalten, der seine Kräfte nicht mit Mitleid zerstören durfte, da er seinen Patienten sonst nicht helfen konnte. »Sie können Peter zu mir sagen! Und ich sage Aldo! Ich bin nicht von der Polizei.« Aldo Torlato brauchte eine Weile, ehe er das verarbeitete. »Was sind Sie dann, Peter?« fragte er leise. »Das erklärte ich Ihnen später«, wehrte der Großmeister ab. »Sie haben bisher nur beteuert, daß Sie es nicht waren. Schildern Sie, was geschehen ist.« »Das kann ich nicht«, murmelte der Verhaftete. »Warum nicht, Aldo?« bohrte Peter. »Weil mir diese Geschichte niemand glauben würde!« rief Aldo Torlato verzweifelt. »Sie ist so verrückt, daß ich selbst sie nicht glaube!« »Versuchen Sie es trotzdem!« forderte Peter Winslow ihn auf. »Kommen Sie, Aldo! Etwas Mut! Was ist passiert?«
Aldo sah Peter lange in die Augen. Er schien langsam Zutrauen zu dem blonden Mann zu fassen, der sogar noch jünger als er selbst war. Stockend schilderte er die Ereignisse seit der Ankunft. Er ließ nichts aus, beschrieb auch den scheinbaren Sturz in einen Abgrund und die entsetzlichen Gestalten, die sich auf Jane gestürzt hatten. »Und dann fand ich mich plötzlich mit Jane zusammen am Strand wieder«, berichtete Aldo schluchzend. »Sie … sie war tot … und sah aus, als ob …« »Schon gut«, fuhr Peter dazwischen. Er befürchtete, Aldo könne restlos zusammenbrechen, wenn er sich auch daran erinnerte. Er wandte sich an den Polizeichef. »Sie wissen, was wir im Zimmer 13 beobachtet haben. Es paßt alles zusammen. Ich glaube Mr. Torlatos Geschichte.« Der Polizeichef schüttelte den Kopf. »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich das eines Tages erleben würde, das können Sie mir glauben«, versicherte er. »Also gut, Mr. Torlato, Sie können gehen. Aber verlassen Sie Brighton vorläufig nicht.« Aldo sah die beiden so ungleichen Männer verzweifelt an. »Wohin soll ich denn gehen?« flüsterte er. »Ich kann doch ohne Jane …« »Okay, Sie kommen mit mir«, entschied Peter. »Ich nehme ihn nach Sagon Manor mit. Dort können Sie mit ihm jederzeit sprechen.« Peter fiel auf, daß er nicht einmal den Namen des Polizeichefs kannte. Das störte ihn jedoch nicht weiter. Er hatte zwar nichts gegen die Polizei, sondern unterstützte sie sogar, wo er konnte. Am liebsten aber arbeitete er selbständig. Ein Taxi brachte Peter und Aldo nach Sagon Manor. Maud Orwell kam ihnen entgegen. Peter erklärte ihr, wen er mitgebracht hatte. »Mr. Solotschenko hat angerufen«, sagte Maud. »Er möchte doch lieber in Brighton bleiben. Er meint, in seiner Heimat habe er keine Gelegenheit, das Strandleben zu genießen. Wenn wir etwas von ihm
wollen, sollen wir nach Brighton kommen.« »Verständlich, daß er es sich bei diesem Wetter gut gehen läßt.« Peter nickte Aldo aufmunternd zu. »Ich kann Sie nicht trösten«, sagte er leise. »Ich kann Ihnen Ihre Jane auch nicht wiederbringen. Ich kann Ihnen nur raten, ein paar Tage auf Sagon Manor zu bleiben. Hier sind Sie in Sicherheit. Maud wird sich um Sie kümmern und Ihnen erklären, was Sie jetzt noch nicht verstehen. Vielleicht wird Ihnen das helfen. Und später werden Sie Ihr Leben weiterführen müssen. Maud, du klärst ihn über alles auf.« »Keine Geheimnisse«, bestätigte der junge Großmeister. »Aldo und seine Freundin sind das Opfer einer schrecklichen Verwechslung geworden. Er hat wenigstens das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Das ist das Mindeste.« Peter ging zu dem Geländewagen, den er selbst am liebsten benutzte, und fuhr nach Brighton zurück. Er mußte mit Mr. Solotschenko sprechen. Die Informationen dieses Weißmagiers waren wichtig. Während der Fahrt dachte Peter nach. Und er erkannte, was an seiner schweren Arbeit das Enttäuschendste war. Wenn ein Kriminalist Erfolg hatte, nahm er den Täter fest und brachte ihn vor Gericht. Bei ihm war das anders. Seine Gegner waren meistens nicht zu fassen. Schnappte er wirklich einen von ihnen, war es meistens ein Geist oder Dämon, den er nur bannen konnte. Eine Bestrafung dieser Wesen kam nicht in Frage. Und an die eigentlich Schuldigen kam er nie heran, denn sie waren nicht von dieser Welt. Er führte nur einen ständigen Kampf gegen die Handlanger des Bösen. Aber auch dieser Kampf war nötig, sonst nahm das Böse auf der Welt überhand. Peter beschloß, auch in diesem Fall sein Bestes zu geben und möglichst wenig nachzudenken. Nur so schaffte er es, trotz allem ein ei-
nigermaßen normales Leben zu führen und nicht zu verzweifeln.
* Abends versammelte sich die Familie Winslow zum Essen. Maud nahm daran wie immer teil. Neu am Tisch war Aldo Torlato. Peter hatte ihm sein Gepäck aus dem Seafarer Hotel bringen lassen. Aldo hatte sich umgezogen. Unter seinen dunklen Augen lagen tiefe Schatten. Seine Pupillen wirkten verschleiert. Butler Harvey servierte unaufdringlich, und Mrs. Applegast, die Köchin, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. »Maud«, wandte sich Lord Hubbard an das Hausmädchen, »haben Sie unseren Gast über alles aufgeklärt?« »Ohne Vorbehalte, Sir«, erwiderte Maud Orwell. »Wie Ihr Sohn es wünschte.« Aldo Torlato hob den Blick von seinem Teller. »Ich bin völlig fassungslos. Ich habe heute Dinge gehört, von denen ich nichts ahnte! Aber ich glaube jedes Wort, Miss Orwell.« »Sie brauchen nicht bloß aus Höflichkeit so zu tun«, sagte Maud. »Nein, ich glaube es wirklich.« Aldo lächelte bitter. »Ich habe schließlich am eigenen Leib erfahren, daß alles stimmt.« »Sie sind zwischen zwei Fronten geraten«, meinte Lord Hubbard. »Hoffentlich sind Sie auf uns nicht wütend. Schließlich sind wir die eine Front.« »Wir versuchen«, fuhr Peter anstelle seines Vaters fort. »Unschuldige so weit wie möglich aus allem herauszuhalten. Wir selbst beginnen nie einen Kampf, wenn sich Unbeteiligte in der Nähe aufhalten. Die Gegenseite ist da keineswegs so rücksichtsvoll.« »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, versicherte Aldo. »Was hast du bei Solotschenko erfahren?« erkundigte sich Lord Hubbard bei seinem Sohn. »Dad«, wandte sich Peters ältere Schwester Alicia an den Lord.
»Laß Peter wenigstens in Ruhe essen.« »Danke, Alicia, ist aber nicht nötig«, sagte Peter lächelnd. »Es gibt nichts zu berichten. Ich bin sehr enttäuscht. Solotschenko hat nur einige Geschichten aus dem Osten erzählt, die ich schon kannte. Er tat sehr erstaunt, als ich ihm sagte, sie wären für mich nichts Neues.« Aldo Torlato zuckte zusammen. »Dann handelt es sich doch um Spionage?« rief er. »Damit will ich nichts zu tun haben.« Als er aufsprang, zog Peter ihn am Arm wieder auf seinen Stuhl. »Bleiben Sie sitzen, Aldo«, sagte der Großmeister. »Wir haben Ihnen nichts vorgemacht. Wären wir eine Spionageorganisation, hätte ich Sie gar nicht nach Sagon Manor geholt.« »Was sind das dann für Geschichten aus Osteuropa?« fragte Aldo Torlato mißtrauisch. »Überall auf der Welt gibt es Spukschlösser, Friedhöfe der Schwarzmagier und Höhlen oder andere Stellen, an denen Geister und Dämonen in diese Welt gelangen«, erklärte Peter. »Die Schwarze Magie und die Hölle halten sich nicht an politische Lager und Grenzen. Also gibt es solche Stützpunkte des Bösen im Ostblock genau so wie in Asien oder Afrika oder Australien oder Amerika. Solotschenko sollte uns neue Erkenntnisse darüber liefern. Naturgemäß ist es besonders schwierig, aus diesen Ländern Informationen zu erhalten. Die dortigen Behörden denken nämlich gleich dasselbe wie Sie eben. Spionage! Wir sind aber nur an Nachrichten über Schwarze Magie interessiert.« »So ist das«, murmelte Aldo Torlato. Er schüttelte den Kopf. »Dieser Mr. Solotschenko … er konnte nichts berichten?« »Nein«, erklärte Peter. »Und dafür machte er die weite Reise?« wunderte sich Aldo. »Wahrscheinlich hielt er seine Informationen für wichtig«, meinte Lord Hubbard. »Solche Fehler kommen in jeder Organisation einmal vor.« Peter wunderte sich zwar auch über Solotschenko, sagte jedoch
nichts mehr. Er freute sich, daß Aldo schon Interesse für andere Dinge zeigte und nicht ausschließlich seinem Schmerz nachhing. Dennoch beauftragte Peter Maud, sich ausschließlich um Aldo Torlato zu kümmern. »Meinst du«, fragte Maud, als sie allein waren, »daß er sich etwas antun könnte?« »Nicht nur.« Peter seufzte. »Ich habe die Leiche seiner Freundin gesehen. Es muß für den armen Kerl ein entsetzlicher Schock gewesen sein. Ein gewöhnlicher Mord ist schon schrecklich, aber das …! Ich fürchte, er könnte auf den Gedanken kommen, für seine Freundin Rache zu nehmen. Und das wäre für ihn bei seiner fehlenden Erfahrung das sichere Todesurteil.« »Verstehe!« Maud sah Peter fragend in die Augen. »Und was machst du? Wie ich dich kenne, hältst du es heute abend nicht auf Sagon Manor aus.« »Du kennst mich gut«, erwiderte Peter lächelnd. »Ich fahre nach Brighton und stürze mich kopfüber ins Nachtleben.« Maud wußte, wie er es meinte. Er wollte sich in Brighton umsehen. Es mußte Verantwortliche geben, die hinter dem Anschlag auf Zimmer 13 des Seafarer Hotels standen. Sie planten vielleicht weitere Attentate. Nicht nur Solotschenko befand sich in Brighton. Das nahe Sagon Manor zog immer wieder Weißmagier nach Brighton, und meistens stiegen sie im Seafarer Hotel ab. »Sei vorsichtig«, bat Maud, als Peter in seinen Geländewagen stieg. »Ich werde schon blindlings in die nächste Falle tappen«, erwiderte er mit einem bitteren Lachen und gab Gas. Nachts war es in der Umgebung von Mortland nicht geheuer. Sagon Manor war durch einen Bann geschützt, aber die Straße nach Brighton nicht. Doch Peter Winslow lebte mit dem Risiko. Und er wußte, wie er sich seiner Haut zu wehren hatte.
Als er losfuhr, läutete die Glocke von Sagon Manor die zehnte Abendstunde ein.
* In der Hochsaison bot Brighton an einem schönen Abend wie diesem ein südliches Bild. Auf der breiten Uferpromenade gingen die Leute spazieren. Aus vielen Häusern drang Musik und mischte sich mit Lachen und angeregter Unterhaltung. Autos fuhren langsam. Viele hatten offenes Verdeck. Junge Männer sahen sich nach Mädchen um, Mädchen musterten junge Männer. Am Strand waren noch viele, vorwiegend junge Leute in Badekleidung unterwegs. Sie tobten sich aus. Einige ganz Mutige gingen sogar ins Wasser. Peter Winslow schien nur einer von vielen jungen Männern zu sein, die ein harmloses Vergnügen suchten. Er schlenderte in weißen Tennisschuhen, Jeansshorts mit ausgefransten Beinen und einem an Brust und Rücken tief ausgeschnittenen weißen T-Shirt an der Strandpromenade entlang. Diese lässige Kleidung entsprach nicht nur der sommerlichen Temperatur und dem Geschmack des jungen Großmeisters. Sie war gleichzeitig auch Tarnung. Wer Peter Winslow nicht persönlich kannte, vermutete in diesem Aufzug keinen Großmeister eines weißmagischen Ordens. Der Seewind zerzauste seine blonden Haare. Viele Mädchen drehten sich nach dem blendend aussehenden jungen Mann um, der elastisch und kraftvoll ausschritt. Das T-Shirt betonte seine breit ausladenden Schultern und seine schlanke Gestalt. Peter seufzte in sich hinein. Ohne eingebildet zu sein, wußte er, daß er fast frei wählen konnte. Nur wenige Mädchen und Frauen hätten sein Angebot abgelehnt. Das waren jene, die sich in festen
Händen befanden. Die anderen hätten gern ihren Urlaub mit ihm verbracht. Aber das paßte nicht in sein Konzept. Er war nicht in Brighton, um jemanden kennenzulernen. Er wollte feststellen, ob die schwarzmagischen Aktivitäten in diesem Seebad verstärkt auftraten oder nicht. An der Brücke, die zu der Spiel- und Restaurantinsel vor dem Strand hinaus führte, blieb er stehen. Er stellte ein Bein auf das Geländer und stützte sich auf sein Knie. Jetzt war ihm so richtig danach zumute, aus den Kleidern zu schlüpfen und über den Strand zu laufen. Unter den Shorts trug er eine Badehose. Die Verlockung war groß. Er wollte seine Kräfte mit den Wellen messen und sich abkühlen, und er war fast schon so weit, als ihm eine Schwarzhaarige auffiel. Sie kam von der anderen Seite. Im Gegensatz zu den Urlaubern ging sie sehr rasch und blickte sich immer wieder um. Zweiundzwanzig, höchstens dreiundzwanzig. Sie war eine rassige Mischung, schulterlange schimmernde schwarze Haare, ganz glatt und weich. Dazu leicht schräg stehende, geheimnisvolle dunkle Augen einer Asiatin, aber der braune Teint und die vollen, sinnlichen Lippen der Südländerin. Sie war fast so groß wie Peter, und das wollte etwas heißen. Ihre Gestalt war schlank und biegsam. Ein gelbes T-Shirt schmiegte sich wie eine zweite Haut um sie. Sie trug keinen BH. Ihre langen schlanken Beine steckten in einer eng anliegenden schwarzen Hose aus glänzendem Stoff. An den kleinen Füßen trug sie glitzernde Goldsandalen. Sie sah aus, als habe sie sich für einen Besuch in einer Disco angezogen. Ihr Gesicht paßte nicht dazu. Es war von Angst gezeichnet. Sie entdeckte Peter und zuckte zurück. Er lächelte ihr zu und rührte sich nicht von der Stelle. Sie blieb stehen, sah sich noch einmal um, sah Peter an, schien zu überlegen. Ihre weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe.
Peter hatte keine Ahnung, wovor die Schwarzhaarige Angst hatte. Dennoch interessierte es ihn. Selbst wenn es nichts mit Magie zu tun hatte, mußte er ihr helfen. Und verteufelt hübsch war sie auch. Nicht nur hübsch, sie hatte auch Rasse und Klasse. Hübsch waren viele, aber sie zog Peter an. Er stieß sich vor dem Geländer ab und ging auf sie zu, doch sie wirbelte herum und tauchte im Strom der Passanten unter. Verwirrt blieb der Großmeister stehen. Sonst liefen die Frauen nicht vor ihm davon. Selbst wenn sie Angst hatte, gab es keinen Grund, vor ihm zu fliehen. Er wirkte vertrauenerweckend. Und was sollte ihr schon unter all diesen Leuten passieren? Sie war offenbar in Panik, dachte Peter. Er sah sich vergeblich nach ihr um. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er ging rascher weiter. Die Schwarzhaarige ließ ihn nicht mehr los. Er hätte gern gewußt, was mit ihr war. Trotzdem vernachlässigte er seine Pflichten nicht. Er hielt die Augen offen und bemerkte einige Gestalten, die seinen Verdacht erregten. Es waren Männer und Frauen, die düstere Gesichter machten und die Passanten aufmerksam musterten. Natürlich konnten das ebenfalls harmlose Urlauber sein, die sich über irgend etwas geärgert hatten oder die einfach enttäuscht waren, weil sie keinen Anschluß fanden. Dennoch beobachtete Peter sie eine Weile, ehe er weiterging. Erst wenn sie sich unverdächtig benahmen, beachtete er sie nicht mehr. Er fand keine konkreten Hinweise, und doch schlich ihm das Mißtrauen nach. Dieses sommerliche Bild des Strandlebens und der vergnügten Urlauber war einfach zu perfekt, nur durchbrochen durch die ängstliche Schwarzhaarige. Einmal die Promenade rauf und runter, dann hörte Peter Winslow auf. Er konnte im Moment nichts mehr erreichen. Dennoch war er unzufrieden. Er blieb vor dem mächtigen Bau des Seafarer Hotels stehen. Dieser
Kellner hatte wohl die schwarzmagische Falle gestellt, aber er war bestimmt nicht allein gewesen. Hinter jedem Helfer des Bösen stand ein anderer, der einspringen konnte, wenn der Erste versagte. Der Anschlag hatte Mr. Solotschenko gegolten. Er war fehlgegangen. Inzwischen hatte Peter mit Solotschenko gesprochen. Der Großmeister hatte erfahren, daß der Mann aus dem Osten letztlich gar nichts wußte. Doch Solotschenko war noch hier, und er gehörte ins Lager der Weißmagier. Er würde nach einem kurzen Urlaub in seine Heimat zurückkehren und dort weiter die Aktivitäten des Bösen beobachten. Es war ein Gewinn für die Gegenseite, wenn sie Solotschenko aus dem Verkehr zog. Und dafür hatte die Gegenseite nur eine Methode. Mord. Peters Nervosität stieg, je länger er das Seafarer Hotel betrachtete. Weshalb hatte Solotschenko darauf bestanden, im Hotel zu wohnen? Weshalb war er nicht nach Sagon Manor gekommen? Es gab keine Verdachtsmomente, und doch fühlte Peter, daß irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht hing das auch damit zusammen, daß sich seine Sinne und Fähigkeiten verdoppelten, sogar vervielfachten, wenn es um seine Arbeit als Großmeister ging. Das brachte seine Stellung mit sich, ohne daß jemand sagen konnte, wieso das so war. »Hallo, Peter«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihm. Er drehte sich rasch um und stand Mr. Chapper gegenüber. Der Hotelbesitzer musterte ihn lächelnd vom Scheitel bis zur Sohle. »Verzeihung, Sir«, korrigierte er sich selbst. »Ich kenne Sie nun schon von Kindheit an. Manchmal verfalle ich noch in diese vertrauliche Anrede.« »Schon gut«, winkte Peter Winslow ab. »Sind Sie auf Mädchenfang aus?« fragte der Hotelbesitzer.
»Ich wollte, ich wäre es.« Peter seufzte. »Was macht Solotschenko? Ist er in seinem Zimmer?« »Ja!« Chapper deutete zu den erleuchteten Fenstern seines Hotels. »Nach dem Abendessen hat er sich zurückgezogen. Für einen älteren Gentleman ist wohl der Trubel hier unten auf der Straße nicht mehr Interessant. Wie war es heute mit ihm? Hat er viel berichtet? Wie hat ihm Sagon Manor gefallen?« »Sagon Manor gefallen?« echote Peter. »Er war nicht da. Er wollte mich am Strand sprechen.« »Er wollte sich ein Taxi nach Sagon Manor nehmen«, widersprach Mr. Chapper. »Er rief an und behauptete, er habe es sich anders überlegt.« Peter schüttelte den Kopf. »Er sagte, er wolle das Meer genießen.« »Verständlich«, meinte Mr. Chapper. »In seiner Heimat hat er es nicht so komfortabel wie hier in Brighton.« »Mag sein.« Peter zuckte leicht zusammen. »Sehen Sie dort hinüber! Dort zu dem Cafe! Kennen Sie die Schwarzhaarige? Die in den langen schwarzen Hosen?« »Mit den Goldsandalen?« Mr. Chapper nickte. »Das ist Sue Fenn. Sie wohnt in meinem Hotel.« »Was ist mit ihr?« forschte Peter. »Was soll sein? Eine Sekretärin, die in Brighton ihren Urlaub verlebt. Sie ist gestern angekommen.« »Und heute schon auf der Flucht«, stellte Peter fest und ließ den Hotelbesitzer stehen. Jetzt wollte er wissen, was mit dieser Sue Fenn los war. Er überquerte die Straße und ging mit federnden Schritten direkt auf sie zu. Sie sah ihm entgegen. Ihre Augen weiteten sich. Sie stieß einen leichten Schrei aus, wandte sich zur Flucht und hetzt davon!
* Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Sue Fenn geriet vor ein Auto, als sie blindlings über die Straße floh. Der Fahrer bremste geistesgegenwärtig. Trotzdem wurde sie vom Kotflügel gestreift und stürzte. Peter hetzte hinter Sue Fenn her. Aus den Augenwinkeln sah er vier Männer, die sich von verschiedenen Seiten der Gestürzten näherten. Sue Fenn stieß einen markerschütternden Schrei aus und jagte vom Boden hoch, schlängelte sich zwischen den inzwischen haltenden Autos durch und erreichte die Brücke zur Restaurant- und Spielinsel. Die vier Männer schwenkten ab und versuchten, ihr den Weg abzuschneiden. Peter flankte über die dicht an dicht stehenden Wagen hinweg, sprang bei drei Wagen über die Motorhauben und erreichte den Bürgersteig auf der Seeseite. Die zahlreichen Passanten hatten nur das Mädchen und Peter gesehen. Sie wichen schreiend vor ihm zurück, weil sie ihn für den Verfolger hielten. Das war ihm nur recht. Auf diese Weise hatte er wenigstens freie Bahn. Sue Fenn war schon ein Stück über die Brücke gelaufen, als sie sich umdrehte. Sie entdeckte hinter sich zwei Verfolger, die gefährlich nahe rückten. Die beiden anderen blieben am Geländer der Uferpromenade stehen. Peter kam an einem vorbei. Der Mann starrte ihm entgegen. In seinen Augen schimmerte Haß. Er bewegte die Lippen. Im nächsten Moment fühlte Peter, wie seine Beine schwer wurden. Ein Schwarzmagier, der einen Bann sprach! Wenn Peter ihn seinen
Fluch zu Ende führen ließ, blieb er womöglich bewegungsunfähig auf der Promenade liegen. Mit dem letzten Rest an Kraft warf er sich dem Mann entgegen und riß seine Faust hoch. Der Bann bezog sich nicht auf Peters Arme. Das war ein Fehler des Schwarzmagiers. Er mußte den Schlag voll einstecken, und Peter Winslow hatte Kraft. Seine Faust fegte den Schwarzmagier rückwärts über das Geländer, daß der Mann sich in der Luft überschlug, ehe er unten auf den Sand prallte. Spitze Schreie von unten bewiesen, daß der Platz schon besetzt gewesen war. Peter war nur wichtig, daß er seine Beine wieder voll gebrauchen konnte. Er spannte sich und hetzte auf die Brücke hinaus. Der zweite Schwarzmagier auf der Promenade lief hinter ihm her, hatte aber keine Chance, den jungen Großmeister einzuholen. Die Restaurantinsel war weit draußen im Meer auf Stelzen gebaut. Das war möglich, weil der Strand an dieser Stelle ganz langsam ansank. Sue Fenn erreichte jetzt die Wasserlinie, blieb und klammerte sich am Geländer fest. Die Kräfte schienen sie zu verlassen. Sie sah sich um. Die beiden Schwarzmagier waren nur noch zehn Meter von ihr entfernt. Mit einem verzweifelten Schrei ließ sie sich über das Geländer kippen und stürzte in die Tiefe. Peter Winslow reagierte blitzschnell, flankte über das Geländer und sah den Sandstrand auf sich zurasen. Er prallte auf, federte den Sturz ab und überschlug sich einmal, kam sofort wieder auf die Beine und rannte auf Sue zu. »Ich will dir helfen!« schrie er der jungen Frau entgegen. »Bleib stehen!« Sie war jedoch so in Panik, daß sie weiter floh. Bei dem Fall hatte sie sich wahrscheinlich den Knöchel verstaucht. Sie hinkte schwer
und kam nur langsam voran. Die beiden Schwarzmagier von der Brücke sprangen hinterher. Der dritte hatte eine Leiter gefunden, die seitlich an der Brücke befestigt war. Der Mann, den Peter mit einem Faustschlag in die Tiefe befördert hatte, beteiligte sich auch wieder an der Jagd, kam quer über den Strand, war jedoch ziemlich langsam. Die Faust des Großmeisters hatte seine Einsatzfreudigkeit reichlich gedämpft. »Bleib stehen!« rief Peter noch einmal und schnitt Sue Fenn den Weg ab. Sie dachte gar nicht daran, sich an seinen Zuruf zu halten. Dicht an der Wasserlinie humpelte sie weiter. Oben auf der Uferpromenade gellten die Pfiffe der Constables. Peter konnte nicht auf sie warten. Bis sie am Strand waren, hätten die Schwarzmagier ihr Opfer längst gefangen. Mit einem weiten Sprung erreichte Peter das Mädchen. Er hielt Sue am Arm fest. Schreiend wehrte sie sich gegen ihn und versuchte, ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen. Seine Hände schlossen sich mit einem unüberwindlichen Griff um ihre Gelenke. »Sei vernünftig«, zischte er ihr zu. »Ich will dir helfen! Bleib bei mir, sonst erwischen sie dich!« Die Panik in ihrem Gesicht lockerte sich. Verstehen blitzte in ihren dunklen Augen auf. Ihr Widerstand erlahmte. »Na also«, murmelte Peter und gab ihre Hände frei. »Bleib vernünftig. Lauf nicht weg, ganz gleich, was auch geschieht! Du mußt mir vertrauen!« »Okay«, sagte sie leise und nickte. Zu mehr hatten sie nicht Zeit, denn die beiden Schwarzmagier waren heran. Sie glaubten, ihrer überzahl wegen leichtes Spiel zu haben, und rannten gegen den Großmeister an. Sie wollten ihn einfach niederwalzen.
Peter wich im letzten Moment geschmeidig aus, ließ den einen ins Leere und den anderen voll in seine Rechte laufen. Der Getroffene richtete sich steil auf und sackte in den Sand. Der andere hoffte, durch Überrumpelung ans Ziel zu kommen. Er nutzte seinen eigenen Schwung, der ihn am Großmeister vorbei führte, und warf sich auf Sue Fenn, packte sie und wollte mit ihr weiter am Strand entlang fliehen. Sue hatte noch gar nicht vor Schreck geschrien, als Peter sich schon von hinten auf den Angreifer warf. Seine Finger schlossen sich um den Hals des Schwarzmagiers. Mit einem Ruck hob er den schweren Mann vom Boden hoch, ließ ihn einen Moment hilflos in seinem Griff hängen und öffnete die Finger. Der Schwarzmagier taumelte, nahm die Fäuste hoch und steckte zwei harte Schläge ein. Er versuchte eine Konterattacke, doch der junge Großmeister gab ihm keine Chance. Mit einigen mächtigen Schlägen trieb er den Schwarzmagier von Sue weg und auf das Meer zu. Der Mann versuchte eine Finte, sprang zur Seite, ließ den Großmeister an sich vorbei laufen und schlug hinterrücks nach Peters Nacken. Der Großmeister fühlte den Schlag kommen, ließ sich fallen, rollte sich im Sand ab und schlug kraftvoll mit dem rechten Bein einen Halbkreis. Dem Schwarzmagier wurden die Beine unter dem Körper weggerissen. Er prallte in den Sand. Im nächsten Moment war Peter über ihm und erledigte ihn. »Hilfe!« schrie Sue auf. Peter jagte hoch. Sie wurde von den beiden übrigen Schwarzmagiern angegriffen, und diesmal verließen sie sich nicht auf ihre Fäuste. In ihren Händen blitzte und flackerte es. Peter stürmte auf das Mädchen zu. Er packte Sue und drängte sie hinter sich.
Ungläubig blickte er auf die Hände der Schwarzmagier. Dieses Phänomen kannte er noch nicht. Er fühlte nur die Bedrohung, die von den flackernden Gegenständen in den Händen der Schwarzmagier ausging. Etwas in seinen Gedanken regte sich, als flüstere ihm eine unhörbare Stimme etwas zu. Er kannte das. Als Großmeister wurde er von rätselhaften Kräften unterstützt, die im Dienst des Goten standen. Er wußte nicht, woher sie kamen und wer sie steuerte. Manchmal mischte sich der Geist seiner ermordeten Mutter ein, aber diesmal war sie es nicht. Magische Flammendolche! Plötzlich wußte er, was das Flackern zu bedeuten hatte. Die Schwarzmagier erzeugten mit ihren Kräften Dolche, bei denen die kleinste Berührung genügte, um den Gegner zu töten. Kaum hatte er das erkannt, als die beiden Schwarzmagier angriffen.
* Die Frage des Großmeisters nach Sue Fenn weckte Mr. Chappers Interesse. Deshalb beobachtete er den Großmeister, als er auf Sue Fenn zuging. Er bekam auch ihre Reaktion mit. Mr. Chapper war nicht mehr der Jüngste und wußte, daß er mit Peter Winslow nicht im entferntesten mithalten konnte. Deshalb versuchte er erst gar nicht, sich an der Verfolgungsjagd zu beteiligen. Statt dessen lief er in sein Hotel und rief auf Sagon Manor an. Er bekam Maud Orwell an den Apparat und berichtete knapp, was er gesehen hatte. »Sue Fenn«, wiederholte Maud. »In Ordnung, wir überprüfen, ob wir etwas über sie wissen. Ich werde mich persönlich um die Sache am Strand kümmern!«
Sie legte auf und lief zu ihrem Wagen, während sie Butler Harvey das Stichwort Sue Fenn gab und ihn beauftragte, in den umfangreichen Unterlagen von Sagon Manor nachzusehen. Über die wichtigsten Vertreter der Schwarzen Magie und Anhänger des Bösen führten sie genau Kartei. Maud fuhr, als wäre Satan persönlich hinter ihr her. Sie wußte nicht genau, was sich unten am Strand von Brighton abspielte, aber sie ahnte, daß es sich um eine Falle handelte. Vielleicht wollte man nur den Großmeister an eine einsame Stelle locken, um ihn dort zu töten. Als sie die Uferpromenade von Brighton erreichte, war so viel Zeit vergangen, daß sie sich kaum noch Hoffnungen machte. Vermutlich war der Kampf schon so oder so entschieden worden. Sie bemerkte die Menschenmenge, die sich an der Brücke zur Restaurantinsel staute. Die Leute redeten aufgeregt durcheinander. Niemand wußte etwas Genaues. Polizisten kletterten auf den Strand hinunter. Ziemlich weit entfernt an der Wasserlinie entdeckte Maud zwei leuchtende Punkte, die sich ruckartig hin und her bewegten. Während Maud Orwell in diesen Kampf eingriff, stellte Butler Harvey auf Sagon Manor fest, daß nichts über eine gewisse Sue Fenn bekannt war. »Was nicht viel zu bedeuten hat, Sir«, sagte er zu Lord Hubbard Winslow, der sich ebenfalls für die Auskunft interessierte. »Schwarzmagier und ihre Helfer wechseln die Namen wie Hemden.« »Das ist mir bekannt, Harvey«, entgegnete der Lord. »Wo ist übrigens unser Gast?« Harvey wußte nicht, wo sich der junge Italiener aufhielt, den sie im Haus aufgenommen hatten. Lord Hubbard selbst machte sich auf die Suche nach ihm und war beruhigt, als er von seiner Tochter Alicia erfuhr, daß Aldo Torlato mit ihr nach Brighton fahren wollte. »Versteh das, Dad«, meinte sie. »Er hält es hier nicht aus. Er muß
unter Menschen. Ich kümmere mich ein wenig um ihn.« »Schon gut«, stimmte Lord Hubbard zu. »Ich habe nichts dagegen.« Alicia Winslow übernahm das Steuer. Aldo saß schweigend neben ihr. Auf Sagon Manor gab es so viele Autos, daß stets alle Personen im Herrenhaus motorisiert waren. Das war nötig, falls es einen Großeinsatz gab und sie getrennt aber gleichzeitig starten mußten. »Wahrscheinlich ist es eine dumme Frage«, meinte Alicia Winslow, als sie die Abzweigung nach Mortland erreichten, »aber wie fühlen Sie sich, Aldo?« Er schreckte aus seinen Gedanken auf. »Wie ich mich fühle? Das ist zwar keine dumme, aber eine seltsame Frage. Ich komme mir wie ein Kind vor, das bisher mit verbundenen Augen gelebt hat und alles ertasten mußte. Jetzt hat mir jemand die Augenbinde abgenommen, und ich sehe die Welt.« »Vorsicht«, warnte Alicia. »Wir haben Sie bei uns aufgenommen, um sie ein wenig seelisch zu betreuen und Ihnen über den ersten Schock hinwegzuhelfen. Lassen Sie sich nicht in unsere Auseinandersetzungen hineinziehen.« »Warum nicht?« fragte er aufbegehrend. »Ich bin doch schon mitten drinnen.« »Nein«, widersprach Alicia heftig. »Wir haben Ihnen so genaue Informationen gegeben, damit Sie die Gefährlichkeit unserer Gegner erkennen. Wir wollten Sie von unüberlegten Handlungen abhalten. Das war der einzige Grund. Sie sollen sich aber nicht einmischen.« »Alicia!« Er wandte sich während der Fahrt zu ihr und gestikulierte heftig. »Alicia! Meine Freundin Jane wurde von Schwarzmagiern ermordet. Es war ein Irrtum, gut! Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen! Und da sagen Sie, ich hätte mit dem allem nichts zu tun?« »Wir erledigen das«, fuhr sie ihn an. »Wir suchen die Schuldigen und ziehen sie zur Rechenschaft! Wir, nicht Sie!«
»Machen Sie doch, was Sie wollen«, murmelte er wütend und wandte sich ab. Schweigend legten sie den Rest der Strecke nach Brighton zurück und hielten auf der Strandpromenade. »Die Straße ist blockiert«, stellte Alicia Winslow fest und beugte sich aus dem Fenster. »Scheint ein Unfall zu sein. Kommen Sie, Aldo, wir steigen aus!« Sie waren einander optisch sehr ähnlich. Alicia hatte von ihrer Mutter schwarze Haare und schwarze Augen geerbt. Nur ihr Teint war englisch blaß. Man hätte sie und Aldo Torlato für Geschwister halten können. Als sie außen um den Menschenpulk herum gingen, ahnte Alicia nicht, daß unten am Strand ihr Bruder um sein Leben kämpfte und Maud versuchte, ihm zu helfen, sonst hätte sie auch eingegriffen. »Sehen wir uns nach einem Lokal um, in dem wir uns ungestört weiter unterhalten können«, meinte Alicia, damit wenigstens einer von ihnen sprach. Aldo schwieg seit ihrer kurzen Auseinandersetzung verbissen. Plötzlich blieb sie stehen. »Da ist ja Mr. Solotschenko«, sagte sie und bereute es im nächsten Moment, den Namen genannt zu haben. Seinetwegen war letztlich Jane gestorben, denn die magische Falle hatte ihm gegolten. Aldo betrachtete überrascht den älteren Mann, der sich über das Geländer der Uferpromenade beugte. »Den kenne ich«, sagte er. »Tatsächlich?« staunte Alicia. »Woher?« »Er saß im selben Abteil wie Jane und ich.« Aldo schluckte. Seine Augen wurden feucht. »Er hat uns ständig so merkwürdig angestarrt. Es war schon richtig peinlich und unverschämt. Ich habe mich sehr über ihn geärgert.« »Ich habe Mr. Solotschenko kennengelernt«, widersprach Alicia. »Er ist ein feiner Gentleman, der niemanden aufdringlich anstarren
würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht fühlte er, daß mit Ihnen und Jane etwas nicht stimmte. Viele Weißmagier haben Vorahnungen kommenden Unheils.« »Das will ich jetzt wissen!« Aldo hatte jemanden gefunden, an dem er seine aufgestaute Verzweiflung und seinen ohnmächtigen Zorn auf die Mörder seiner Freundin auslassen konnte. Er überquerte die Straße und tippte dem älteren Mann auf die Schulter. Solotschenko drehte sich um und sah den jungen Italiener forschend an. Er lächelte erleichtert, als er Alicia erkannte. Aldo ließ ihn jedoch nicht zu Wort kommen. »Weshalb haben Sie meine Freundin und mich so angestarrt?« fragte er scharf. Solotschenko hob die Augenbrauen. »Verzeihung, ich kann Ihnen nicht folgen, Mister. Sind Sie und Miss Alicia Winslow befreundet? Ich habe Sie nicht angestarrt!« »Nein, ich meine im Zug!« fuhr Aldo ihn an. »Im Zug?« Mr. Solotschenko runzelte die Stirn. »Ich bin mit dem Zug nach Brighton gekommen, das ist richtig, aber …« »Schon gut, Mr. Solotschenko, verzeihen Sie«, sagte Alicia Winslow rasch und hakte sich bei Aldo Torlato unter. »Nehmen Sie es nicht so wichtig, Mr. Solotschenko. Er steht unter Schockeinwirkung.« Aldo war so verblüfft, daß er nicht widersprach und sich von Alicia wegziehen ließ. Hinter ihrem Griff lag auch erstaunliche Kraft. »Was soll das?« protestierte er, als sie die Parallelstraße erreichten. Hier konnte Solotschenko sie nicht mehr sehen. »Haben Sie den Verstand verloren?« Alicia ließ ihn los. Sie sah ihm ernst in die Augen. »Ich mag Sie, Aldo«, sagte sie leise. »Und Sie tun mir leid! Aber Sie sind ein verdammter Narr!« Aldo Torlato schluckte bei ihren Worten. Sie paßten so gar nicht zu dieser hübschen und scheinbar so zarten Frau. »Wieso?« stam-
melte er nur. »Weil Sie noch immer nicht begriffen haben, daß Sie es hier nicht mit normalen Menschen zu tun haben«, erklärte Alicia rätselhaft. »Hier gelten andere Maßstäbe! Und Sie waren soeben auf dem besten Weg, uns beide umzubringen!« »Uns beide?« wiederholte er fassungslos. »Ja, Sie und mich«, bestätigte Alicia, »wenn Sie das besser verstehen! Noch ein Wort, und unser Todesurteil hätte festgestanden! Kommen Sie jetzt! Wir wollen so schnell wie möglich verschwinden!«
* Die Schwarzmagier wußten, daß sie dem Großmeister überlegen waren. Sie lachten gehässig. »So, du kleiner Playboy!« zischte der eine. »Jetzt ist es aus mit dir!« »Jetzt rasieren wir dir deine blonden Haare!« geiferte der andere. »Sieh her! Damit schicken wir dich in die Hölle, damit sich dort unsere Verbündeten weiter mit dir beschäftigen können!« Peter Winslow ließ sich auf keine Wortgefechte ein. Sie konnten ihn nicht herausfordern und zu einer Unvorsichtigkeit verleiten. So leicht ließ er sich nicht übertölpeln. Es war schwer, beide Schwarzmagier gleichzeitig im Auge zu behalten. Sie trennten sich, um es ihm noch mehr zu erschweren. Peter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung, stieß einen Angriffsschrei aus, rannte auf den einen Schwarzmagier zu, scheinbar direkt in den Flammendolch hinein. Unmittelbar vor seinem Feind warf er sich zu Boden, schnellte sich zur Seite und brachte den Mann mit einem Tritt zu Fall. Der Flammendolch bohrte sich in den Sand. Zischend verdampfte die Feuchtigkeit des Strandes unter der enormen Hitze des Dolches. Der aufsteigende Wasserdampf verbrühte den Magier. Er schrie
wütend auf und wirbelte zu Peter herum, doch der Großmeister schnellte sich zur Seite, grub die Hände in den weichen Boden und schleuderte dem Angreifer Sand ins Gesicht. Der Schwarzmagier war geblendet. Er torkelte ziellos über den Strand und sah Peter nicht kommen. Mit einem Fußtritt beförderte der Großmeister den Flammendolch aus der Hand des Magiers und setzte die Faust hinterher. Der Mann brach zusammen. Der Dolch flog in hohem Bogen durch die Luft und fiel ins Meer. Es gab eine gewaltige Dampfexplosion. Eine weiße Säule stieg zischend und fauchend in den nächtlichen Himmel. Peter konnte sich keine Atempause gönnen. Sue Fenn war vorläufig in Sicherheit. Die beiden zuerst niedergeschlagenen Magier regten sich zwar langsam, aber sie waren noch lange nicht einsatzfähig. Blieb nur noch der zweite Mann mit Flammendolch, und der war wesentlich vorsichtiger als sein Vorgänger. Er unterschätzte den Großmeister nicht mehr. Er nannte ihn auch nicht Playboy, da er ihn als stahlharten Kämpfer kennengelernt hatte. Peter schlich geduckt auf den Mann zu und stellte sich dabei stets zwischen ihn und Sue. Peter mußte immerhin mit der Möglichkeit rechnen, daß die Magier Sue lieber töteten, als sie ihm zu überlassen. Noch wußte der Großmeister nicht, weshalb die Magier hinter dem Mädchen her waren, aber es mußte schon einen ernsten Grund geben. Ansonsten hätten sie es nicht gewagt, unter so vielen Menschen auf der Strandpromenade anzugreifen. »Na, komm schon!« lockte Peter. »Komm! Sei nicht so feige!« Der Schwarzmagier umkreiste ihn weiter langsam und ließ ihn nicht aus den Augen. Peter durchschaute die Taktik des Mannes. Er wollte Zeit gewinnen, damit seine Komplizen wieder zu sich kamen und den Großmeister in die Zange nahmen.
»Wenn du zu lange wartest, kommt die Polizei schneller als deine Gefährten«, spottete Peter. »Du bist feige!« Auch der Schwarzmagier kannte alle Tricks, genau wie Peter. Er fintete, sprang auf den Großmeister zu, wich aus, wollte seitlich mit dem Dolch kommen und fand den Platz leer, an dem Peter gestanden hatte. Das reizte seine Wut. Wie ein wildes Tier fauchend, rief er einen der zahlreichen Namen Satans und sprang Peter erneut an. Peter wich zurück und ließ den Mann ins Leere stolpern, wich noch weiter zurück und lockte ihn damit von Sue weg. Aber das wollte er nicht ständig machen. Er mußte den Magier ausschalten, damit er Sue endlich vom Strand wegschaffen konnte. Jederzeit konnte hier noch etwas passieren. Wo blieben nur die Polizisten? Peter wußte nicht, daß sie von den Schaulustigen aufgehalten wurden und von niemandem erfuhren, daß am Strand ein Kampf tobte. Sie wurden außerdem durch einige Auffahrunfälle auf der Promenade blockiert. Peter bückte sich und hob Sand auf. »Den Trick kenne ich bereits«, höhnte der Schwarzmagier. Peter ging, den Sand in beiden Händen, auf ihn zu und tat, als wolle er ihn werfen. Der Schwarzmagier durchschaute die Finte nicht. Er dachte, Peter wolle ihn wie seinen Komplizen blenden, schloß die Augen und wandte den Kopf ab. Genau das beabsichtigte Peter. Er ließ den Sand fallen. Er durfte niemals zweimal den gleichen Trick anwenden. Deshalb warf er sich mit einem Hechtsprung seinem Gegner entgegen. Als dieser die Augen wieder öffnete, war es für ihn schon zu spät. Peters Finger gruben sich in seine Schenkel, und mit einem ungemein kraftvollen Ruck hob der junge Großmeister seinen Feind
hoch, stemmte sich mit den Knien in den Sand und schleuderte den Schwarzmagier von sich. Der Magier prallte rücklings auf den Strand, überschlug sich und rollte noch ein Stück weiter. Dann blieb er schlaff liegen. Keuchend und schweißüberströmt, über und über mit Sand verklebt, kam Peter Winslow auf die Beine. Sein Feind rührte sich nicht. Dabei war der Aufprall nicht so stark gewesen, daß er davon betäubt sein konnte. Peter betrachtete die gespreizten Beine und Arme des Magiers. Der Mann lag auf dem Gesicht. Wo war der Flammendolch? Peter ging vorsichtig näher, alle Sinne angespannt. Er konnte jederzeit zurückspringen, falls es sich um eine Falle handelte. Doch dieser Schwarzmagier würde niemandem mehr eine Falle stellen. Als Peter ihn an der Schulter berührte, bewegte er sich nicht. Mit einem kurzen Stoß rollte der Großmeister ihn auf den Rücken und sah den Dolch. Der Schwarzmagier war ein Opfer seiner eigenen Waffe geworden. Keuchend ging Peter zu Sue und legte einen Arm um ihre Schultern. »Los! Ich stütze dich!« Sie wollte in gerader Linie zur Straße gehen, doch Peter zog sie am Wasser entlang. »Mein Fuß tut weh«, beklagte sie sich. »Ich will nicht spazieren gehen.« »Wir machen einen Umweg«, erklärte er. »Beeil dich, die anderen kommen wieder zu sich.« »Was ist mit dem Mann, den du zuletzt erledigt hast?« fragte sie. »Er ist tot, in seinen eigenen Dolch gestürzt.« Peter schob sie kräftiger neben sich her. »Du sollst schneller gehen! Ich will mich nicht noch einmal mit den Magiern herumschlagen, und ich will jetzt
nicht mit der Polizei sprechen. Das regle ich später mit dem Polizeichef unter vier Augen.« Sue blieb stehen. »Wer bist du?« fragte sie erstaunt. »Was weißt du von Magiern?« »Komm endlich!« fuhr er sie an und versetzte ihr einen leichten Stoß. Daraufhin schwieg sie und humpelte neben ihm, so schnell sie konnte. »Es geht schon besser«, sagte sie nach einer Weile. »Die Bewegung tut meinem Fuß gut.« »Dann geh schneller!« Peter war im Moment nicht zum Flirten aufgelegt, obwohl sie sich eng um ihn schmiegte und einen Arm um seine schmalen Hüften schlang. Er fühlte die Bewegungen ihres schlanken Körpers. Trotzdem war er in Gedanken noch bei den Schwarzmagiern. »Peter!« erklang eine helle Frauenstimme über den dunklen Strand. Der Großmeister drehte sich um. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Lichtverhältnisse auf dem Strand gewöhnt. Die Nacht war zwar hereingebrochen, aber von der Promenade fiel genügend Licht herunter, um Einzelheiten zu erkennen. Polizisten waren jetzt bei den Schwarzmagiern. Er konnte jedoch nicht erkennen, ob sie außer dem Toten noch jemanden fanden. Schräg über den Strand kam eine Frau auf ihn zu. Der Stimme nach hielt er sie für Maud, war sich jedoch nicht sicher. »He, Peter, warte!« rief das Hausmädchen von Sagon Manor und lief schneller. »Peter?« fragte Sue Fenn. »Wenn du nichts dagegen hast, heiße ich so.« Er gab sie frei, doch sie ließ ihren Arm um seine Hüften liegen und schmiegte sich weiterhin schutzsuchend an ihn.
Es war tatsächlich Maud. Sie blieb heftig atmend vor dem Großmeister stehen. Ihr Blick zuckte zu der Schwarzhaarigen. Wenn Peter sich nicht täuschte, war Maud in diesem Moment eifersüchtig. »Ich konnte nicht mehr in den Kampf eingreifen«, sagte Maud. »Tut mir leid. Der Weg von Sagon Manor war zu weit.« Jetzt wich Sue einen Schritt zurück. »Sagon Manor? Peter? Bist du etwa Peter Winslow, der Großmeister?« Peter wandte sich überrascht an sie. »Gehörst du zum Orden?« fragte er. »Dann kannst du dich auch ausweisen!« Er meinte damit, daß die Augen der Ordensmitglieder für Momente eine strahlend blaue Farbe annehmen konnten. »Nein, ich gehöre nicht zu euch«, gab Sue sofort zu. »Wie interessant«, bemerkte Maud bissig, während sie weitergingen. Peter trieb die beiden Frauen zur Eile an. »Sie gehören nicht zum Orden, wissen aber sehr gut Bescheid. Können Sie mir das erklären?« »Vier Schwarzmagier waren hinter Sue her«, sagte Peter. »Maud, das ist Sue Fenn. Und das ist Maud Orwell, eine treue Helferin.« Die beiden Frauen maßen einander mit giftigen Blicken. »Freut mich, Sue«, sagte Maud mit der Freundlichkeit einer sauren Zitrone. »Wie nett«, sagte Sue grimmig. »Fein, daß ihr euch so gut versteht«, sagte Peter grinsend. »Also, Sue, wieso waren die vier Kerle hinter dir her? Wieso kennst du mich und unseren Orden, gehörst aber nicht zu uns?« »Ich bin Sekretärin in Stratford on Avon«, berichtete Sue, während sie sich der Strandpromenade näherten. »Ich verbringe hier meinen Urlaub und wohne im Seafarer Hotel.« »Weiß ich«, warf Peter ein. »Ihr kennt euch wohl schon sehr gut?« fragte Maud. »Wir haben zusammen im Sandkasten gespielt«, konterte Peter lachend. »Sei friedlich, Maud! Weiter, Sue!«
»Ich wollte heute abend in eine Disco gehen und einen netten Jungen kennenlernen.« Dabei schweifte ihr Blick über Peter, daß es Maud das Blut ins Gesicht trieb. »Vorher aber habe ich noch einen Strandspaziergang gemacht. Du weißt doch, Peter, in Discos ist immer erst spätabends etwas los.« »Weiter«, bat er ungeduldig. »Vier Männer standen beisammen und unterhielten sich«, fuhr Sue fort. »Sie hörten mich nicht, und ich schnappte auf, daß sie Peter Winslow, den Großmeister eines Ordens von Weißmagiern, umbringen wollten. Sie sagten, der Großmeister würde heute abend bestimmt nach Brighton kommen. Am Strand wollten sie ihm auflauern und ihn kaltmachen! Das waren genau ihre Worte. Ich beschloß, den Großmeister zu warnen.« »Wie rührend«, murmelte Maud. »Sie haben auch von Sagon Manor gesprochen, wo der Großmeister wohnt«, erzählte Sue und tat, als wäre Maud gar nicht vorhanden. »Ich wollte dort anrufen, aber dann sah ich vor der Telefonzelle einen der vier Männer auftauchen. Wahrscheinlich habe sie mich zuletzt doch bemerkt und verfolgt. Und seither war ich auf der Flucht – bis Peter mich gerettet hat.« Sie hakte sich wieder bei ihm unter, und sie tat es enger, als nötig war, um ihren angeknacksten Knöchel zu entlasten. »Und jetzt?« fragte Maud. »Aus dem Discobesuch wird es wohl nichts, oder?« Peter sah sie strafend an. »Ich bringe Sue ins Hotel und sorge dafür, daß ihr nichts mehr passieren kann.« »Sie ist doch ohnedies in Sicherheit«, widersprach Maud heftig. »Die vier Magier wollten sie nur umbringen, damit sie dich nicht warnen konnte. Ihre Chance ist verpaßt. Sue kann ihnen nicht mehr schaden.« »Aber Sue wollte mich warnen, und deshalb bin ich ihr dankbar«, sagte Peter verärgert. »Was dagegen?«
Maud schwieg. Sie war eingeschnappt. »Du mußt mir viel über euren Orden erzählen«, sagte Sue und tat, als habe sie von der kurzen Auseinandersetzung nichts mitbekommen. »Ich bin sehr gespannt, Peter.« »Ja, gern«, stimmte er zu. Der Orden der Weißmagier war kein Geheimbund, auch wenn sie nicht in Zeitungen für sich Reklame machten. Jeder, der danach fragte, erhielt Auskunft, wenn es sich nicht gerade um Dinge handelte, die mit der Sicherheit der Ordensmitglieder zu tun hatten. »Ich habe mir den Großmeister als würdigen, älteren Herrn vorgestellt.« Sue lachte leise, während sie eine steinerne Treppe zur Promenade hinauf stiegen. »Womöglich gar noch mit einem weißen Bart und weißen Haaren. Auf keinen Fall habe ich gedacht, daß der Großmeister noch so jung ist und so toll aussieht.« »Sie flirtet mit dir, Peter, falls du es nicht merkst«, sagte Maud. »Hast du nichts auf Sagon Manor zu tun?« erwiderte Peter gereizt. »Die Arbeit hört nie auf.« Mauds grüne Augen funkelten, als sie ihm einen letzten Blick zuschoß. Sie wandte sich ab und hastete davon. »Habt ihr zwei etwas miteinander, daß sie so sauer ist?« erkundigte sich Sue. »Nein«, antwortete Peter und verschwieg, daß es zwischen ihm und Maud immer knisterte. Er verschwieg auch die Gründe, die ein Näherkommen verhinderten. Sie gingen Sue nichts an. Er war schließlich ein unabhängiger Mann, der tun konnte, was er wollte. »Gehen wir durch den Hintereingang ins Hotel. Wir sehen beide nicht so aus, daß wir uns einem eleganten Publikum zeigen könnten.« »Du kannst dich immer und überall zeigen«, sagte Sue mit einer Stimme, die ihm unter die Haut ging. »Weißt du, daß du mir sogar ganz besonders gefällst, wie du jetzt aussiehst? Zerzauste Haare, klatschnasses T-Shirt, sandverschmierte Shorts!«
Ehe Peter begriff, wie ihm geschah, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Sie standen hinter Büschen, die rings um das Hotel wuchsen. Das Licht der Laternen reichte nicht bis hierher. Die Hitze ihres Körpers drang durch seine nassen Kleider. Ihre schwarzen Augen verschwammen vor seinem Gesicht. Ihre Lippen waren warm und weich und fordernd. Was der Kampf am Strand noch von Peters Frisur übrig gelassen hatte, zerstörten Sues Finger. Und Peter vergaß endlich einmal, daß er Großmeister war und Verantwortung zu tragen hatte. »Ich wohne auf Nummer 27«, flüsterte Sue, und ihr Atem strich über sein Gesicht. »Mein Knöchel schmerzt ganz höllisch. Du mußt mich schon hinaufbringen, Peter!« Sie sahen einander lange in die Augen, ehe sie das Seafarer Hotel durch die Hintertür betraten.
* Erst als sie wieder in ihrem Wagen saßen, fühlte sich Alicia Winslow einigermaßen sicher. »Willst du mir nicht verraten, was das alles soll?« erkundigte sich Aldo Torlato. »Sei still, du Narr!« fuhr Alicia ihn an. Ihre Finger trommelten nervös auf das Lenkrad. Sie zermarterte sich den Kopf, was sie jetzt tun sollte. »Rutsch ans Steuer«, befahl sie. »Ich klettere über dich.« »Ich kann doch aussteigen«, wandte Aldo ein. »Tu, was ich dir sage!« fauchte sie. Aldo Torlato war von so viel Energie einfach erschlagen. Er rutschte unter ihr ans Steuer und startete. Alicia dirigierte ihn durch die Stadt.
»Ich steige doch nicht mehr aus meinem Wagen«, sagte sie während der Fahrt. »Die Wagen von Sagon Manor sind bis zu einem gewissen Grad geschützt, genau wie das Herrenhaus selbst. Sie sind nicht perfekt von einem weißmagischen Bann umgeben, aber immer noch sicherer als der öffentliche Bürgersteig.« »Wovor hast du denn solche Angst?« rief Aldo. »Du behauptest«, erklärte sie, »daß Solotschenko euch beide im Zug so aufdringlich angestarrt hat, daß es schon peinlich war. Und jetzt kann er sich nicht mehr daran erinnern! Da stimmt doch etwas nicht!« »Du meinst, er hat sein Gedächtnis verloren?« fragte Aldo Torlato zögernd. »Nein, mein Lieber, an solche Zufälle glaube ich nicht!« Alicia tippte mit den Fingern auf das Armaturenbrett. »Solotschenko wollte plötzlich nicht nach Sagon Manor kommen. Sagon Manor ist mit einem weißmagischen Bann belegt. Sagon Manor ist für jeden Schwarzmagier ein Greuel.« »Aber ich denke, Solotschenko ist euer Mann«, wunderte sich Aldo Torlato. »Der richtige Solotschenko ist unser Mann, aber der Solotschenko, mit dem Peter in Brighton gesprochen hat, wußte nichts zu berichten.« Alicia wandte sich an Aldo. »Funkt es endlich bei dir?« »Er sieht aber genau so aus wie der Mann im Abteil«, wandte Aldo ein. »Keine zwei Menschen sehen einander so ähnlich. Oder hat er einen Zwillingsbruder?« »Hat er nicht.« Alicia deutete auf eine einsam stehende Telefonzelle. »Stehenbleiben! Du weißt noch viel nicht, Aldo. Schwarzmagier können Menschen perfekt kopieren. Wahrscheinlich lebt der echte Solotschenko gar nicht mehr.« Sie zwang sich zu einem nervösen Lächeln. »Wir Weißmagier können übrigens auch Menschen kopieren. Das nur so nebenbei, damit du uns nicht ganz für unfähig hältst.«
Aldo blieb wie betäubt am Steuer sitzen, während Alicia telefonierte. Sie sah sich dabei ununterbrochen nach allen Seiten um und steckte ihn damit an. Er ertappte sich dabei, daß er jeden zufällig vorbeikommenden Passanten mißtrauisch musterte. Kam der Mann dort drüben gar nicht zufällig? Oder führte diese Frau dort gar nicht ihren Hund spazieren, sondern wollte Alicia und ihn umbringen? Alicia kehrte in den Wagen zurück. »Ich habe mit Sagon Manor telefoniert«, sagte sie. »Maud ist in Brighton. Peter ist in einen Kampf verwickelt. Fahr zum Seafarer.« Aldo zuckte zusammen. Dort war seine Freundin gestorben. Trotzdem tat er es. Vor dem Hotel stellte er den Wagen halb auf dem Bürgersteig ab. Sie stiegen aus. »Da ist Maud«, sagte Alicia. »Bleib beim Wagen.« Sie winkte Maud zu und traf mit ihr auf halbem Weg zusammen. Von dem Hausmädchen erfuhr Alicia Winslow, was am Strand geschehen war. »Peter ist wie verwandelt«, sagte Maud niedergeschlagen. »Sue Fenn ist ihm total unter die Haut gegangen. Er ist nicht mehr er selbst.« »Gönnen Sie ihm das Vergnügen nicht?« fragte Alicia lächelnd. »Miss Alicia, Sie wissen ganz genau, wie gern ich Peter mag«, sagte Maud offen. »Sie wissen auch, wie er zu mir steht. Und Sie wissen, daß seine Position als Großmeister trennend zwischen uns steht.« »Eifersüchtig?« fragte Alicia. »Nein … ja!« gab Maud zu. »Aber es ist mehr. Ich habe Angst um ihn. Er scheint bei dieser Frau den Verstand verloren zu haben. Sie hat ihn auf ihr Zimmer gelotst.« »Was nicht bedeutet, daß sie auf der Gegenseite steht«, wehrte Alicia ab. »Ich glaube, Maud, Sie lassen sich zu weit treiben.« »Ich bleibe jedenfalls hier und halte Wache«, erklärte Maud hastig.
»Die ganze Nacht?« fragte Alicia. »Wenn es sein muß, auch noch den ganzen morgigen Tag!« versicherte Maud. »Gut, wie Sie wollen. Ich sage meinem Vater Bescheid.« Alicia deutete auf Aldo und erklärte Maud, was sie beide mit dem angeblichen Mr. Solotschenko erlebt hatten. »Es ist klar, daß Peter das auf schnellstem Weg erfahren muß«, schloß Alicia. »Es wäre mehr als rücksichtslos, jetzt ins Hotel zu gehen und es ihm zu berichten. Wenn Sie ohnedies hierbleiben wollen, können Sie es ihm sagen, sobald er wieder aus dem Hotel kommt.« Maud preßte die Lippen zusammen und nickte. Alicia wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber noch einmal zu Maud um. »Tut mir leid für Sie, Maud«, sagte sie aufrichtig. »Damit müssen Sie sich abfinden. Er ist eben nicht nur Großmeister.« »Ich weiß!« sagte Maud schroff, überwand sich und lächelte Peters Schwester zu. »Danke!« Alicia ging zu Aldo, der sie schon ungeduldig erwartete, und fuhr mit ihm nach Sagon Manor zurück. Sie hatten in Brighton in dieser Nacht nichts mehr zu tun. Aldo war noch dabei, als Alicia ihrem Vater Bericht erstattete und auch den Butler Harvey und die Köchin, Mrs. Applegast, unterrichtete. Alle Mitglieder des Haushaltes auf Sagon Manor mußten stets auf dem Laufenden sein. Hinterher fragte Aldo seine neue Betreuerin: »War es wirklich nötig, Alicia, daß du allen von Peter und dieser Sue erzählt hast? Ich meine, ein wenig mehr Diskretion wäre schon angebracht gewesen, oder etwa nicht?« Maud lächelte schwach. »Glaube mir, Aldo, ich hätte liebend gern geschwiegen. Aber alle müssen wissen, wo der Großmeister zu finden ist.« »Dann soll er selbst es bekanntgeben«, wandte Aldo ein.
»Das müßte er.« Alicia seufzte. »Es scheint Peter schwer erwischt zu haben, daß er sich nicht an diese Grundregel hält. Da er es nicht tut, mußte ich es übernehmen. Im übrigen kümmert sich niemand hier im Haus darum, was der andere macht. Jeder lebt sein Leben. Nur durch die besonderen Umstände müssen wir einander informieren.« Sie lächelte schmerzlich. »Wir alle haben uns darauf eingerichtet, daß wir nie ein normales Leben führen können. Meine Mutter wurde von Schwarzmagiern ermordet. Deshalb scheut Peter jetzt vor einer Verbindung zurück. Er hat Angst, eine Frau an seiner Seite zu gefährden. Meine Schwester Marthe ist spurlos verschwunden. Sie ist in das Lager der Schwarzmagier übergewechselt. Und ich darf mir auch keine Hoffnungen machen, einmal eine Familie zu gründen und zufrieden zu leben. Mein Mann wäre Zielscheibe für die Gegenseite. So ist es auf Sagon Manor! Wir sind reich, wir sind einflußreich, wir sind die führende Familie des Ordens der Weißmagier. Mein Bruder ist der Großmeister. Trotzdem … Nun ja, lassen wir das! Gute Nacht, Aldo! Bis morgen!« »Gute Nacht, Alicia«, murmelte er und blickte hinter ihr her, als sie in ihr Zimmer eilte. Die verschiedensten Gedanken schossen dem jungen Italiener durch den Kopf. Nun verstand er diese Familie besser. Und er erkannte, daß es ihm letztlich ähnlich ergangen war. Auch er hatte durch Schwarzmagier seine Freundin verloren. Vor allem deshalb begriff er sehr genau, was in den einzelnen Familienmitgliedern vor sich ging. Und er fühlte sich ihnen auf sonderbare Weise verwandt und verbunden.
* Der fröhliche Lärm der Strandpromenade drang in das Zimmer herein. Peter lag auf dem Rücken und blickte zur Decke, an der sich
Lichtmuster abzeichneten. »Woran denkst du?« fragte Sue Fenn leise. »An nichts«, murmelte er schläfrig. »Das gibt es nicht«, widersprach sie lachend. »Jeder Mensch denkt ständig irgend etwas.« »Ich nicht«, sagte er und mußte lachen. Sue stürzte sich auf die Ellbogen und sah aufmerksam in sein Gesicht. »Du bist ein Rätsel«, behauptete sie. »Anderen Männern sehe ich immer an, was sie denken und fühlen. Dir nicht! Du bist verschlossen wie eine Auster.« »Kann schon sein«, wich er aus. »Und deine Antworten sind so klar wie Milch«, behauptete sie. »Das ist ein sonderbarer Vergleich«, fand er. »Aber ein zutreffender. Hast du schon einmal versucht, durch Milch hindurchzusehen? Es wird dir kaum gelingen. Genau so undurchsichtig bist du.« »Ich bin eben kein Mann wie andere«, sagte Peter und dachte an seine Stellung als Großmeister. Sues schimmernde Lippen formten ein Lächeln. »Nein«, sagte sie leise. »Du bist wirklich kein Mann wie andere«, bestätigte sie. Er sah ihr in die schwarzen Augen, die wie polierte Steine wirkten. »Du bist aber auch kein Mädchen wie andere«, erwiderte er. Sues Fingerspitzen spielten mit seinen Haaren. »Erzähle mir mehr von dir«, bat sie. »Nein«, lehnte er so schroff ab, daß sie es nicht wieder versuchte. »Erzähle lieber von dir!« »Ich führe ein so durchschnittliches, langweiliges Leben, daß es sich nicht lohnt«, behauptete Sue lächelnd. »Nur in Stunden wie diesen erlebe ich etwas Außergewöhnliches. Aber Männer wie dich gibt es eben nur sehr, sehr spärlich. Solche Gelegenheiten muß man nutzen.«
»Geht mir genau so«, murmelte Peter und drohte, traurig zu werden. Sue verhinderte es rechtzeitig. Sie sorgte dafür, daß er überhaupt nicht mehr zum Nachdenken kam. Der Morgen dämmerte. Peter Winslow trat an das Fenster und blickte auf das Meer hinaus. Es wäre schön, dachte er, sich in ein Boot zu setzen und einfach wegzufahren, alles hinter sich zurückzulassen … »Warum schläfst du nicht?« murmelte Sue müde. »Komm doch, Peter! Steh nicht am Fenster herum!« »Laß mich«, antwortete er tonlos. Er drehte sich langsam um. Ihr Blick war auf ihn gerichtet und brannte auf der Haut. Sie räkelte und streckte sich. »Ich werde nicht wiederkommen, Sue«, sagte Peter. Sie richtete sich ruckartig auf. »Das darfst du nicht sagen!« rief sie ängstlich. »Peter! Ich habe noch drei Wochen Urlaub! Ich bleibe drei Wochen in Brighton, verstehst du? Wir können uns jeden Tag sehen. So lange ich dich kenne, gibt es für mich keine anderen Männer.« »Das hat keine Zukunft«, sagte er und schob sie von sich. »Peter!« bettelte sie. »Ich sehe ein, daß du eine ganz besondere Verantwortung im Leben hast. Ich will dir da gar nicht dreinreden! Du mußt dein Leben leben, ich das meine. Keiner darf den anderen fesseln. Aber wir können ein Stück zusammen gehen! Peter, ich will nicht sagen, daß ich dich liebe! Nicht nach so kurzer Zeit. Aber du bist für mich mehr als ein flüchtiges Erlebnis. Ich sehe nicht schlecht aus und finde jederzeit einen Partner. Du siehst toll aus und findest jederzeit eine Partnerin. Das allein ist es nicht!« »Bemühe dich nicht«, wehrte er ab, so schwer es ihm auch fiel. »Es hat keinen Sinn!« »Es hat Sinn!« rief sie und klammerte sich an ihn. »Peter, du darfst nicht egoistisch sein!« »Ich und egoistisch?« rief er aus. »Du machst mir vielleicht Spaß! Glaubst du, ich lebe gern wie ein Einsiedler? Ich gehe den meisten
Mädchen aus dem Weg, weil ich keine in mein Leben hineinziehen will. Du hast selbst gestern abend erfahren, wie gefährlich es ist, mit mir zusammen zu sein. Du hast mich noch gar nicht gekannt und wolltest mich nur warnen, und schon hätte es dich fast das Leben gekostet! Es war Schwäche von mir, daß ich mit dir gegangen bin. Ich hätte dich wegschicken müssen.« »Also, das ist es!« Sue nickte. »Ich verstehe! Endlich begreife ich dich, Peter. Das stört mich alles nicht. Ich weiß, wer du bist. Ich weiß auch, daß es gefährlich sein kann, mit dir zusammen zu sein. Ich will es trotzdem. Schenk mir nur diese drei Wochen. Danach verschwinde ich für immer, und du hörst nie wieder etwas von mir!« »Und wenn dir in diesen drei Wochen etwas zustößt?« fragte er zögernd. »Betriebsrisiko.« Sue lachte unbeschwert. »Mach dir um mich keine Sorgen! Vor allem mach kein so finsteres Gesicht! Komm, lächle und gib mir einen Kuß!« Peter konnte nicht widerstehen. Dafür war Sue Fenn zu hübsch, zu verführerisch und zu verlockend. Außerdem merkte er, daß er sich in dieses Mädchen ernsthaft verliebt hatte. Er ließ sich von ihr zum Bleiben überreden. »Sehr vernünftig«, lobte sie kichernd, als er endlich zustimmte. »Vor allem sind deine Kleider noch gar nicht trocken. Oder willst du so durch das Hotel laufen?« Peter grinste. »Hoffentlich werden sie überhaupt fertig, sonst muß ich bei dir bleiben.« »Das wäre gar nicht schlecht.« Sue schlang seine blonden Haare vielfach um ihre Finger und zog seinen Kopf zu sich herunter. »Soll ich dir zeigen, wieso das nicht schlecht wäre?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern zeigte ihm, wie sie es meinte. Viel später klopfte es. »Wer ist da?« rief Peter.
»Der Page mit den Kleidern«, kam die Antwort. Peter lief ins Bad, schlang sich ein Handtuch um die Hüften und öffnete. Er hatte gestern abend seine nassen und schmutzigen Kleider Mr. Chapper übergeben mit der Bitte, sie bis heute morgen zu reinigen und zu trocknen. Nun stand ein uniformierter Page vor der Tür, starrte auf Peter, starrte auf Sue, die unter die Bettdecke gerutscht war, und starrte wieder auf Peter. »Hast du noch nie einen nackten Mann gesehen?« fragte der Großmeister grinsend. »Doch, doch, Sir!« stotterte der Page, streckte ihm die Kleider entgegen und hastete davon. »Mußt du wirklich schon gehen?« fragte Sue, als Peter unter die Dusche stieg. Sie trat ins Badezimmer und kam langsam auf die Duschkabine zu. »Bleib weg!« rief Peter lachend. »Ich komme hier sonst nie raus! Ja, ich muß gehen! Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein! Wer weiß, was sich in der Zwischenzeit alles getan hat.« »Du bist so schrecklich pflichtbewußt«, murmelte Sue und glitt in die Duschkabine. Sie schloß die Glaswände. Als Peter Winslow endlich auf die Straße vor dem Hotel trat, gab es noch kein einziges Auto und keinen einzigen Fußgänger. Er fröstelte. Shorts und ein tief ausgeschnittenes T-Shirt waren bei dem kühlen Morgenwind keine ideale Bekleidung. Auf der anderen Straßenseite ertönte kurz eine Autohupe, Peter erkannte einen der Wagen von Sagon Manor. Die Fahrertür öffnete sich. Er wußte nicht, ob er sich über Mauds Anblick freuen oder ärgern sollte. Jedenfalls überquerte er die Straße und setzte sich neben Maud. »Guten Morgen, Sir«, sagte sie förmlich. »Ich muß Ihnen eine Mitteilung machen.«
»Bleib auf dem Teppich«, sagte Peter verärgert. »Ich heiße immer noch Peter, und wir sind nicht zum Empfang bei Hof.« »Dafür wärst du sicher nicht richtig angezogen«, konnte Maud sich nicht verkneifen. »Wieso?« Peter reckte und streckte sich auf dem Sitz und stieß mit dem Kopf gegen das Wagendach. »Vielleicht würde gerade mein Aufzug bei Hof gefallen! Aber jetzt im Ernst. Warum bist du hier?« »Der Orden muß immer wissen, wo der Großmeister ist«, zitierte Maud. Peters blaue Augen verdunkelten sich. »Hör mir jetzt genau zu, Maud«, sagte er gefährlich leise. »Ich mag dich, du magst mich. Okay? Du genießt im Orden eine ganz besondere Stellung, und auf Sagon Manor hast du eine Vertrauensposition. Das gibt dir aber nicht das Recht, mir Vorschriften zu machen. Es gibt dir auch nicht das Recht, mir meine privaten Vergnügungen durch spitze Bemerkungen und saure Miene zu verderben. Wenn du das begriffen hast, können wir zum Kern der Sache kommen. Warum bist du hier?« Mauds Hände krampften sich um das Lenkrad. Sie blickte starr durch die Windschutzscheibe. Peter störte sie nicht. Sie mußte mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie eine Entscheidung treffen konnte. Endlich holte sie tief Luft und legte den Kopf in den Nacken. »Tut mir ehrlich leid, Peter«, sagte sie leise. »Ich bin hier, um dich zu bewachen. Zweitens sollte das Seafarer Hotel unter Beobachtung stehen. Es scheint zunehmend Ziel schwarzmagischer Angriffe zu werden. Und drittens mußt du erfahren, daß Mr. Solotschenko vermutlich ein Opfer der Gegenseite wurde.« »Ist er verschwunden?« fuhr Peter erschrocken auf. »Das nicht«, erwiderte Maud. »Er wohnt nach wie vor im Seafarer und läuft in Brighton herum, aber es scheint sich nur um eine Kopie des echten Solotschenko zu handeln.« Sie schilderte das Wiedersehen zwischen Aldo Torlato und dem
angeblichen weißmagischen Vertrauensmann aus Osteuropa. »Du hast recht«, stimmte Peter zu. »Das ist bestimmt nicht mehr der richtige Solotschenko. Okay, ich werde mich darum kümmern. Hat sich sonst noch etwas getan?« »Nein.« Maud seufzte. »So, für mich ist der Dienst zu Ende. Ich bin hundemüde.« Es war Peter unangenehm, daß Maud die ganze Nacht hier unten im Wagen gesessen hatte, während er oben bei Sue gewesen war. Es ließ sich jedoch nicht ändern. »Fahr zurück«, sagte er freundlich und legte seine Hand auf ihren Arm. »Ich bleibe noch eine Weile in Brighton.« »Du wirst dich erkälten«, sagte Maud und lächelte verkrampft. »Mir gefällst du übrigens so auch sehr gut.« Sie wollte noch etwas sagen, verkniff es sich. Peter nickte nur und stieg aus. Er wartete, bis Maud abgefahren war. Dann kehrte er ins Seafarer Hotel zurück und verlangte an der Rezeption Mr. Chapper. Der Hotelbesitzer kam fünf Minuten später in den Speisesaal, in dem Peter sich ein Frühstück servieren ließ. »Gut geschlafen, Sir?« fragte er, als er sich zu dem Großmeister an den Tisch setzte. »Tun Sie nicht so harmlos«, sagte Peter grinsend. »Als ob Sie nicht genau wüßten.« Chapper zuckte die Schultern. »Ich bin diskret. Das bringt schon mein Beruf mit sich. Außerdem war ich auch einmal jung, Sir! Ich habe Verständnis.« »Wie schön«, gab Peter bissig zurück. »Warum kümmern sich alle um mein Privatleben? Es geht niemanden etwas an.« Mr. Chapper schüttelte den Kopf. »Verzeihung, Sir, Sie haben damit angefangen, nicht ich.« Peter sah ein, daß er seine Unzufriedenheit über die ganze Situation nicht an einem alten Freund auslassen durfte.
»Tut mir leid, Mr. Chapper«, lenkte er daher sofort ein. »Solotschenko ist vermutlich nur noch eine Kopie. Das wissen Sie sicher bereits.« »Ihr Vater hat mich verständigt, ja«, bestätigte Chapper. »Seither lasse ich Solotschenko unauffällig beobachten. Wo könnte der Echte sein?« Peter zuckte die breiten Schultern. »Keine Ahnung. Wurden nicht identifizierte Leichen gefunden? Vielleicht irgendwo an der Küste angeschwemmt?« Chapper schüttelte den Kopf. »Auch nicht in Frankreich?« fuhr Peter fort. »Ich habe mich sofort mit unseren Leuten auf der anderen Seite des Kanals in Verbindung gesetzt«, erklärte der Hotelbesitzer. »Keine Hinweise.« »Mortland«, murmelte Peter. »Möglicherweise haben sie ihn nach Mortland verschleppt. Er wollte mit einem Taxi nach Sagon Manor, hat es sich angeblich aber anders überlegt. Nun gut, dem echten Solotschenko können wir wahrscheinlich nicht mehr helfen. Jetzt zu einem anderen Thema. Sie brauchen einen neuen Hoteldetektiv, Mr. Chapper.« »Ich habe einen tüchtigen Mann«, widersprach der Hotelbesitzer, der nicht sofort begriff, worauf der Großmeister hinaus wollte. »Er ist seit vielen Jahren bei mir.« »Sie brauchen einen zweiten Hoteldetektiv.« Peter zeigte auf seine nackte Brust. »Mich!« Verstehen leuchtete in Mr. Chappers Augen auf. »Okay, Sie sind engagiert.« Er schüttelte den Kopf. »Damit werden Sie der Gegenseite aber keinen Sand in die Augen streuen können. Man weiß, wer Sie sind!« »Ich will diesen Job auch nur offiziell, damit ich den harmlosen Gästen gegenüber eine Begründung habe«, erklärte Peter. »Ich will nicht, daß es zu Schwierigkeiten kommt, wenn ich im Hotel herum-
schnüffle.« »Einverstanden.« Chapper zögerte. »Soll ich Ihnen eine Unterkunft zuweisen?« Peter dachte an Sue und schüttelte den Kopf. »Vorläufig habe ich ein Quartier.« Chapper nickte. »Über das Gehalt werden wir uns schon einigen, nicht wahr?« sagte er. »Frühstück ab sofort in den Räumen für das Personal.« Er grinste. Peter grinste zurück. »Ich frühstücke grundsätzlich im Bett«, antwortete er. »Beneidenswert«, sagte Chapper seufzend und kehrte an seine Arbeit zurück. Peter ging an die Rezeption und ließ sich mit Sue verbinden. Er sagte ihr, was er soeben beschlossen hatte. »Wunderbar!« rief sie lachend. »Einen Hoteldetektiv kannte ich noch nie.« »Man lernt eben nicht aus«, sagte Peter und legte auf. Er verließ das Seafarer Hotel und machte sich auf den Rückweg nach Sagon Manor. An der Abzweigung nach Mortland hielt er seinen Geländewagen an. Er überlegte, ob er dem Geburtshaus seiner ermordeten Mutter wieder einmal einen Besucht abstatten sollte. Ein solcher Besuch war stets ein Kampf auf Leben und Tod. Der Gegenseite wäre es nur recht gewesen, ein führendes Mitglied des Bundes auf Mortland töten zu können. Peter wollte nach Spuren von Mr. Solotschenko suchen. Wenn Solotschenko aber bereits auf Mortland war, lebte er nicht mehr. Die Gegenseite machte keine Gefangenen. Sie tötete. Er fuhr weiter in Richtung Sagon Manor und wurde von seinem Vater vor dem Herrenhaus begrüßt. Lord Hubbard Winslow war nach allen Schicksalsschlägen ein stiller, in sich zurückgezogen lebender Mann geworden. Er zeigte sel-
ten Gefühle, doch jetzt erkannte Peter die Freude in den Augen seines Vaters. Lord Hubbard war froh, seinen Sohn wiederzusehen. »Gehen wir ins Haus, Dad«, sagte Peter. »Ich habe mit dir einiges zu besprechen.« »Ja, ich weiß«, sagte sein Vater nur. Peter war ihm dankbar, daß er sich in nichts einmischte. Und er fühlte in diesen Minuten, daß Sagon Manor für immer sein Zuhause war, wohin es ihn auch verschlagen sollte. Sagon Manor – und damit zwangsläufig auch Mortland …
* Lord Hubbard hörte sich die Schilderungen seines Sohnes ohne jeden Kommentar an. Er nickte nur gelegentlich. »Ich werde Mr. Solotschenko im Seafarer Hotel anrufen, wenn es dir recht ist, Peter«, schlug der Lord vor, als der Großmeister geendet hatte. »Ich werde Mr. Solotschenko hierher nach Sagon Manor einladen. Wenn er es ausschlägt, haben wir den Beweis. Kein Schwarzmagier kann Sagon Manor betreten, schon gar nicht die schwarzmagische Kopie eines Menschen.« Peter nickte, und der Lord griff zum Telefon. Er ließ sich mit Mr. Solotschenko verbinden und trug die Einladung vor. »Heute haben Sie keine Ausrede, es wäre am Strand schöner als hier bei uns«, sagte Lord Hubbard abschließend lachend. »Das Wetter ist umgeschlagen. Es sieht nach Regen aus. Dafür sind Sie in England mein Bester!« Peter wartete gespannt auf die Antwort. Sein Vater legte auf und nickte. »Er kommt, aber nur, wenn du ihn abholst und herbringst.« Der Lord lächelte andeutungsweise. »Er meint, er würde sonst keinem trauen.« »Okay, ich hole diesen Mr. Solotschenko gern ab«, sagte Peter. Vater und Sohn brauchten nicht viele Worte zu machen. Sie wußten
beide, daß der echte Mr. Solotschenko durchaus diesen Wunsch äußern konnte. Handelte es sich aber um eine Kopie, war es eine Falle. »Ich schicke Harvey an die Wegkreuzung«, schlug der Lord vor. »Nicht nötig, ich erledige das allein«, entgegnete Peter. »Alles andere könnte den Gegner warnen. Dad, hast du mit dem Polizeichef wegen des toten Schwarzmagiers am Strand gesprochen?« Der Lord nickte. »Es ist alles geregelt. Es wird keine Fragen geben. Sei vorsichtig, Peter!« Der junge Großmeister nickte. Er betrachtete seinen Vater, der auch sein Amtsvorgänger war. »Ist noch etwas, mein Junge?« fragte Lord Hubbard mit plötzlich aufkommender Wärme. »Ich habe soeben überlegt«, antwortete Peter leise, »wie du dreißig Jahre lang Großmeister sein konntest.« Der Lord lächelte wehmütig. »Ich habe es mir genau so wenig wie du ausgesucht, Peter. Aber einmal im Amt, bleibt man, und man hält es irgendwie durch. Es verändert einen. Es macht aus einem einen anderen Menschen. Ich kann es dir nicht erklären. Du wirst es am eigenen Leib spüren. Zuletzt bricht es dich. Aber vielleicht bist du aus einem härteren Holz geschnitzt als ich. Das weiß ich nicht. Ich wünsche es nur für dich.« Peter nickte, ging nach oben in seine Räume und zog sich um. In einem kompletten Jeansanzug und einem blüten-weißen hochgeschlossenen T-Shirt sowie kräftigen schwarzen Stiefeletten kam er wieder. In den Taschen des Anzugs hatte er einige Kleinigkeiten versteckt, mit denen er seine Gegner überraschen wollte. »Harvey!« rief Peter den Butler an, der soeben die Halle durchquerte. »Packen Sie mir bitte für eine Woche Kleider ein. Ich arbeite ab sofort als Hoteldetektiv im Seafarer. Bringen Sie mir den Koffer dorthin.« »Sehr wohl, Sir!« Harvey ließ nicht erkennen, ob er auch nur im mindesten überrascht war.
»Wo ist Maud?« erkundigte sich der Großmeister, während er seine Frisur noch einmal im Spiegel überprüfte. »Sie schläft, Sir. Ich möchte sagen, sie war übermüdet, als sie hier eintraf.« »Okay, danke!« Peter wollte das Haus verlassen, als Mrs. Applegast auf der Bildfläche erschien. Die beleibte Köchin von Sagon Manor ließ sich nur selten im Hauptgebäude blicken. Ihr Reich waren Küche und Vorratsräume. Wenn sie einmal auftauchte, hatte sie etwas Wichtiges auf dem Herzen. Sie war fast so lange auf Sagon Manor, wie Peter auf der Welt war. Daraus hatte sich eine unnachahmliche Vertrauensstellung zwischen den beiden herausgebildet, nicht zuletzt, weil Peters Mutter kurz nach seiner Geburt ermordet worden war. »Na, Mrs. Applegast, was haben Sie denn heute auf dem Herzen?« Peter nahm die wesentlich kleinere Köchin freundschaftlich an den Schultern und hielt sie fest, als sie vor ihm zurückweichen wollte. »Seit wann so schreckhaft?« »Ich bin nicht schreckhaft, Peter, und das weißt du auch sehr genau!« sagte sie grollend. Sie zog ihre ohnedies kleinen Augen noch enger zusammen. »Ich wollte nur sehen, ob das noch immer derselbe Peter ist, den ich schon so lange Zeit kenne!« »So lange Zeit?« scherzte Peter Winslow. »Ich habe dich Giftmischerin und Breikocherin immer für ein elfengleiches, junges Mädchen gehalten!« Sein Scherz kam nicht an. »Ich lache später, wenn du nichts dagegen hast«, erklärte Mrs. Applegast ernst. Peter ließ die Arme sinken. »Also, was ist los?« fragte er gedämpft. »Jeder in diesem Haus verhält sich anders, aber alle drehen irgendwie durch. Gibst du mir vielleicht eine Erklärung? Oder muß ich unaufgeklärt das Haus verlassen?«
»Na gut, wenn du es unbedingt hören willst!« Mrs. Applegast stemmte ihre Fäuste dorthin, wo schlankere Frauen die Taille hatten, und beugte sich kampflustig vor. »Hör mir gut zu, Junge! Du hast den Verstand verloren, du bist verrückt geworden! Du läufst einem Mädchen nach, das du nicht kennst, das keiner von uns kennt, von dem wir nichts wissen! Du verknallst dich Hals über Kopf in sie und lieferst dich ihr ganz aus!« »Das darf doch nicht wahr sein!« rief Peter halb lachend, halb ärgerlich. »Du fetter Küchendrache schnüffelst auch schon hinter mir her?« »Als Mitglied des Ordens habe ich die Pflicht, über den Großmeister zu wachen«, erklärte Mrs. Applegast. »Und als deine langjährige Vertraute hätte ich gute Lust, dich übers Knie zu legen und dir den Hintern zu versohlen, Großmeister oder nicht Großmeister! Als kleiner Junge bist du immer zu mir in die Küche gekommen und hast dich bei mir verkrochen, wenn du etwas ausgefressen hast. Heute frißt du ununterbrochen etwas aus und kommst nicht in meine Küche!« »Jetzt ist es genug«, sagte Peter schroff. »Ich erfülle meine Pflichten und verbitte mir jede weitere Einmischung. Ich hoffe, Mrs. Applegast, wir haben uns verstanden!« Damit wandte er sich ab und verließ mit weiten Schritten das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr mit kreischenden Reifen ab. Mrs. Applegast aber blieb vor dem Haus stehen, die Hände in die Taschen ihrer blütenweißen Schürze geschoben, den Kopf schüttelnd. »Der Junge ist wirklich verrückt geworden«, sagte sie halblaut. »Ich habe es geahnt!«
* Peter Winslow war schwer verärgert. Er reagierte sich durch eine ra-
sche Fahrt ab, stellte seinen Wagen auf den Parkplatz des Seafarers und erkundigte sich an der Rezeption nach Miss Fenn. Sie hatte ihr Zimmer noch nicht verlassen. Peter hinterließ ihr eine Nachricht, daß er sich später am Tag bei ihr melden würde, und telefonierte kurz mit Mr. Chapper in dessen Büro. »Ich habe noch zu tun, bevor ich meinen Job bei Ihnen antrete«, sagte er kurz angebunden. »Sie brauchen mich nicht zu unterrichten, Sir«, antwortete der Hotelbesitzer. »Sie sind selbstverständlich in ihren Entscheidungen völlig frei. Das wissen Sie!« Chapper räusperte sich. »Ist etwas vorgefallen? Sie klingen so verändert.« »Nein, alles in schönster Ordnung, wirklich«, antwortete Peter gereizt. Danach fragte er an der Rezeption nach Mr. Solotschenko und erfuhr, daß der Gast aus Osteuropa auf der Terrasse frühstückte. Peter suchte ihn auf. »Ah, mein lieber Freund!« Solotschenko blieb sitzen, streckte Peter jedoch einladend die Hand entgegen und deutete auf einen freien Stuhl. »Setzen Sie sich, leisten Sie mir Gesellschaft! Wie Sie sehen, genieße ich die Vorzüge des Westens und der freien Marktwirtschaft. Ich frühstücke heute schon zum zweiten Mal.« »Lassen Sie sich nicht stören.« Peter setzte sich, rückte seine modische Sonnenbrille zurecht und blinzelte auf das Meer hinaus. Die Sonne schien noch immer nicht, die grauen Wolken hingen tief. Dennoch herrschte eine fast unerträgliche Helligkeit, die von dem Meer zurückgeworfen und verstärkt wurde. Der Wind war schwach und mild und erlaubte es, im Freien zu sitzen. »Sie sprechen heute so wenig«, stellte Solotschenko nach einer Weile fest. »Ich habe Sorgen, tut mir leid«, antwortete Peter knapp. »Das tut mir erst recht leid«, versicherte der Gast aus dem Osten.
»Wie kann ich Ihre Laune verbessern?« »Indem Sie mir interessantere Neuigkeiten aus Ihrem Heimatland erzählen«, sagte Peter verdrossen. »Was Sie mir berichtet haben, steht in jedem Lexikon.« »Sie übertreiben«, wehrte Solotschenko ab. »Ja, sicher«, gab Peter zu, »aber viel Neues haben Sie nicht erzählt. Sie können mir doch nicht einreden, daß die Schwarzmagier im Osten weniger werden und ihre Tätigkeit ausschließlich in den Westen verlagern.« »Nein, das tun sie nicht.« Solotschenko beugte sich zu Peter und senkte seine Stimme. »Aber in meiner Heimat wird es immer schwerer, im Geheimen zu arbeiten. Das gilt für mich, das gilt aber auch für die Gegenseite, für die Schwarzmagier. Treffen an verborgenen Orten, Beschwörungen und Anrufungen werden immer häufiger durch Polizei gestört. Kein Wunder, daß nur wenige neue Zentren der schwarzen Magie entstehen.« Peter Winslow war sogar gewillt, Solotschenko diese Erklärung abzukaufen. Vielleicht war doch alles ganz harmlos und er hatte es wirklich mit dem echten Solotschenko zu tun. Wer wunderte sich, wenn der Mann das Meer genießen wollte? So anziehend war Sagon Manor für Fremde bestimmt nicht. »Mein Vater möchte noch einmal mit Ihnen sprechen«, sagte Peter nach einer Weile. »Ich bin in fünf Minuten fertig«, versprach Solotschenko und beugte sich erneut zu Peter. »Sie wissen, Sir, daß ich seit vielen Jahren für Ihren Vater arbeite. Jetzt stehe ich in Ihren Diensten. Ich bin dem jeweiligen Großmeister stets ergeben.« »Warum erzählen Sie mir das?« fragte Peter nicht gerade freundlich. »Weil ich Sie um einen Gefallen bitten möchte.« Solotschenko flüsterte nur noch. »Ich wollte nicht mit Ihrem Vater darüber sprechen,
weil er meines Wissens nach schlechte Erinnerungen daran hat.« »Woran?« drängte Peter, der an diesem Morgen wirklich keine Lust zum Rätselraten verspürte. »Mortland«, hauchte Solotschenko. »Ich möchte einmal Mortland sehen. Wenn ich recht informiert bin, ist es der Sitz des Bösen schlechthin.« »Wir wollen nicht übertreiben«, wehrte Peter ab, »aber Mortland ist auf jeden Fall einer der wichtigsten Stützpunkte des Bösen auf der Welt.« »Warum haben Sie es dann nicht schon längst ausgelöscht?« fragte Solotschenko begierig. »Das geht niemanden etwas an«, sagte Peter grob. »Können wir endlich gehen, oder soll ich Ihnen noch eine Portion Frühstück kommen lassen?« Solotschenkos Gesicht verschloß sich. Er war beleidigt, doch das störte Peter nicht. Wer dumm fragte, erhielt dumme Antworten. Außerdem ärgerte es Peter Winslow, an Mortland erinnert zu werden. Obwohl dieses Gut in Sichtweite von Sagon Manor lag, gelang es den Weißmagiern nicht, es zu vernichten. Mehrere Versuche waren fehlgeschlagen, weil die Kämpfer von Mortland über scheinbar unerschöpfliche Reserven verfügten, die direkt aus der Hölle kommen mochten. Löschte man zehn Untote aus, erstanden an anderer Stelle zwanzig. Vernichtete man zwanzig Dämonen, strömten aus den Kellergewölben von Mortland zweihundert. Die Gegenseite war offenbar fest entschlossen, Mortland für immer zu behalten und eine Eroberung durch die Kämpfer des Guten mit allen Mitteln zu verhindern. »Ich bin fertig«, verkündete Mr. Solotschenko und erhob sich. »Können wir gehen?« Peter schritt wortlos voran. Auf dem Parkplatz ließ er seinen Gast in den Geländewagen steigen und setzte sich ans Steuer. Vor der Abfahrt blickte er sich noch einmal um, ob er vielleicht ein bekann-
tes Gesicht entdeckte. Es zeigte sich jedoch niemand. »Hören Sie«, meinte Solotschenko, als sie die Stadt verließen, »vergessen Sie, was ich vorhin sagte. Offenbar war es ungeschickt von mir.« »Sie wollen nach Mortland?« erkundigte sich Peter grimmig. »Nun ja, ich dachte …«, sagte Solotschenko zögernd. »Wollen Sie oder wollen Sie nicht?« »Ja«, entschied Solotschenko. »Ist es denn nicht zu gefährlich?« »Wenn Sie Angst haben, machen Sie keine solchen Vorschläge«, sagte Peter grinsend. »Wir machen einen Ausflug nach Mortland. Sie sind offenbar ein Liebhaber englischer Landsitze, nicht wahr?« »Sir, ich verstehe Ihren Zynismus nicht«, wandte Solotschenko ein. »Wie meinen Sie das?« »Lassen Sie sich überraschen«, kündigte Peter Winslow an und trat das Gaspedal tiefer durch. »Lassen Sie sich überraschen!« Er fuhr in die Dünen hinauf und gelangte an die Wegkreuzung. Tatsächlich! Sein Vater hatte ihm trotz seiner Ablehnung Harvey entgegen geschickt. Der Butler stand auf dem Gebiet von Sagon Manor und stieß einen erschrockenen Ruf aus, als Peter nach rechts in Richtung Mortland abbog.
* Es klopfte an der Tür des Gästezimmers, das man Aldo Torlato zugewiesen hatte. »Ja, bitte?« rief er und wandte sich vom Fenster ab. Alicia Winslow trat ein. »Guten Morgen, Aldo! Du bist nicht zum Frühstück herunter gekommen«, sagte sie und blieb bei dem vertraulichen Ton des Vorabends. »Ich hatte keinen Appetit«, erwiderte der junge Italiener. »So.« Sie kam näher. »Warum stehst du am Fenster?« »Ich habe nach Mortland hinüber gesehen«, murmelte er.
»Ich weiß«, bestätigte Alicia. »Ich weiß, daß man von diesem Zimmer die Türme von Mortland sieht. Warum starrst du da hinüber? Was interessiert dich an Mortland?« »Von dort kamen Janes Mörder«, sagte er tonlos. Alicia hatte befürchtet, daß er so denken würde. »Wer weiß«, erwiderte sie. »Vielleicht reisten sie aus London an? Oder aus New York? Oder aus der Provence?« »Willst du mich auf den Arm nehmen?« fragte Aldo nervös. »Keineswegs.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sah an ihm vorbei auf die alten Bäume des Parks. »Die Schwarzmagier der ganzen Welt halten Verbindung. Sie fordern Verstärkung an, wenn sie sie brauchen, und erhalten sie von irgendwoher. Der eigentliche Täter war der falsche Zimmerkellner, der die magische Falle in Zimmer 13 präparierte. Er lebt nicht mehr. Seine eigenen Verbündeten haben ihn gerichtet. Was willst du also noch?« »Ich will Mortland aus der Nähe sehen«, antwortete Aldo. Alicia erschrak, packte ihn an den Armen und drehte ihn mit überraschender Kraft so, daß er sie ansehen mußte. »Das darfst du nicht!« rief sie beschwörend. »Aldo, du bist eigentlich für mich ein Fremder, der mich nichts angeht! Aber ich bin für dich verantwortlich, weil mein Bruder dich hierher gebracht hat. Nach Maud habe ich dich in unsere Geheimnisse eingeweiht. Wenn du etwas machst, das dich das Leben kostet, bin ich daran schuld.« »Nein, so ist das nicht«, wehrte er ab. »Doch, natürlich ist es so«, bekräftigte sie. »Und du weißt es. Also, hör auf mich! Vergiß Mortland!« Diesmal blieb Aldo Torlato hart. »Ich will es sehen.« »Dort drüben sind Zombies und wandelnde Skelette, Geister und Dämonen«, warnte Alicia. »Vielleicht halten sich auch Schwarzmagier auf Mortland auf. Ich weiß es nicht. Sie kommen und gehen, wie sie wollen, und wir wissen nicht einmal, wie sie das anstellen. Wir haben noch nie einen von ihnen auf der Straße gesehen. Viel-
leicht haben sie einen unterirdischen Zugang. Vielleicht kommen sie aus einer anderen Dimension. Aldo, das alles übersteigt bei weitem die Kräfte eines gewöhnlichen Menschen! Sogar wir Angehörige des Ordens werden nicht damit fertig! Nicht einmal mein Bruder, der Großmeister, kann Mortland ausräuchern! Und du willst dir das Gebäude ansehen! Du weißt nicht, was du da redest.« Er schwieg. »Aldo, komm zum Frühstück«, bat Alicia leise. »Ich habe dir etwas aufgehoben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte Spazieren gehen.« »Dann komme ich mit«, sagte sie hastig. »Nein, ich möchte …« »Ich komme mit!« bestimmte Alicia. »Bin ich der Gefangene eurer Familie?« fragte Aldo gereizt. »Nein, mein persönlicher Gefangener!« Alicia öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung. »Darf ich bitten?« Zum ersten Mal brachte Aldo ein Lächeln zustande, als er an ihr vorbei auf den Korridor hinaus ging. »Ich beuge mich der Gewalt«, sagte er und stieg die Treppe hinunter. Als sie vor das Haus traten, verdüsterte sich der Himmel. Alicia sah sich aufmerksam um. »Wir sollten doch lieber wieder hineingehen«, riet sie. »Meinst du, daß es Regen geben wird?« erkundigte sich Aldo Torlato und blickte prüfend zum Himmel. »Die Wolken haben sich nicht verändert. Das Licht ist nur etwas düsterer geworden.« »Eben«, sagte Alicia besorgt. »Was ist denn los?« Aldo ging unbekümmert weiter. »Seit wann schreckt es dich, wenn das Licht wechselt?« Alicia blieb an seiner Seite. »Drüben auf Mortland tut sich etwas«, behauptete sie. »Wenn die bösen Mächte aktiv werden, trübt sich der Himmel. Das kennen wir hier schon. Normalerweise kümmern
wir uns nicht darum, weil sie nicht zu uns herüber kommen können.« »Du meinst«, fragte Aldo aufgeregt, »daß auf Mortland eine Zusammenkunft oder etwas ähnliches stattfindet?« »Ich weiß nicht, was es ist, aber irgend etwas braut sich zusammen«, entgegnete Alicia. »Deshalb möchte ich zurückgehen.« Ungeachtet ihrer Warnung schritt Aldo Torlato weiter auf die Grenze von Mortland zu. Alicia blieb dicht hinter ihm. »Es war ein Fehler von Peter, dich zu uns zu bringen!« schimpfte sie dabei. »Du bist dumm wie Schlachtvieh und rennst deinem Verderben entgegen!« »Hör auf, ich will sehen was los ist«, antwortete er. Alicia überholte ihn und versperrte ihm den Weg. »Jetzt ist es genug, Aldo!« rief sie wütend. »Du wirst nicht nach Mortland gehen! Nicht, so lange ich hier bin!« Aber diesmal hatte sie ihn unterschätzt. Er schlug plötzlich einen Haken und rannte auf die Grenze zwischen den beiden Herrenhäusern zu. Sie war nicht deutlich gekennzeichnet. Der Rasen des Parks von Mortland wurde durch eine lockere Hecke begrenzt. Dahinter wucherten Büsche, hinter denen wiederum mächtige alte Bäume aufragten. Durchbrach man die lose Hecke, wie Aldo dies soeben tat, merkte man den Wildwuchs auf der anderen Seite. Dort hatte seit Jahrzehnten niemand mehr in die Natur eingegriffen. »Aldo!« schrie Alicia noch einmal, doch der junge Italiener war wie besessen. Er brach durch das Gestrüpp und drang auf das urwaldähnliche Grundstück vor. Noch war nichts Ungewöhnliches zu sehen, aber zwischen den Blättern schimmerten schwarze Mauern durch. Dort war Mortland, der Sitz des Bösen, der Zufluchtsort der Mörder seiner Freundin Jane!
Blinde Rachsucht trieb ihn voran, mitten in die Arme der lauernden Bestien von Mortland.
* Der Geländewagen tanzte auf der schlechten Zufahrtsstraße. Peter ließ den Fuß auf dem Gaspedal und klammerte sich am Lenkrad fest. »Zufrieden?« überschrie er den Lärm des röhrenden Motors. Solotschenko wurde hin und her geschleudert. Er ließ nicht erkennen, was er von dieser rasenden Fahrt hielt. »Sie wollten mich doch nach Mortland locken, nicht wahr?« Peter rammte ohne Vorwarnung den Fuß auf die Bremse. Der Geländewagen kam schleudernd zum Stehen. »Das war von Anfang an Ihr Plan – oder der Plan Ihrer Auftraggeber. Wie heißen Sie eigentlich? Oder haben Sie gar keinen Namen, weil es Sie schon längst nicht mehr gibt? Sind Sie aus einer anderen Dimension über Mortland eingeschleust worden, um den armen Solotschenko zu ersetzen?« Er wandte sich mit einem spöttischen Lächeln an seinen Fahrgast. Peters abfälliges Gesicht war nur eine Maske. In Wirklichkeit war er bis in die letzte Faser angespannt. »Seit wann wissen Sie es?« murmelte der falsche Solotschenko. »Ist das noch wichtig?« Peter wies durch die Windschutzscheibe. »Dort vorne steht Mortland.« Im Ton eines Fremdenführers setzte er hinzu: »Sie sehen das durch einen Brand und durch den Zahn der Zeit zerstörte Hauptgebäude. Fenster und Türen fehlen, die Mauern sind rußgeschwärzt. Beachten Sie die riesigen Gruben vor dem Gebäude. Die weitläufigen unterirdischen Gewölbe von Mortland sind bei einem Kampf eingestürzt. Von ihnen gelangt man in die Unterwelt des Herrenhauses. In den Seitengebäuden verbergen sich mit Vorliebe Untote, die aber jetzt rings um uns in den Büschen verteilt sind. Man könnte sagen, die Falle ist zugeschnappt. Richtig so?«
»Richtig!« zischte der falsche Solotschenko. Seine Hand schnellte auf Peters Brust zu. In den Fingern des Angreifers flackerte ein Flammendolch, eine jener tödlichen Waffen, die Peter schon am Strand kennengelernt hatte. Die Spitze zielte genau auf sein Herz. Doch der junge Großmeister hatte damit gerechnet. Mit einem kaum merklichen Ruck zog er die Jeansjacke über der Brust auseinander. Über seinem weißen T-Shirt hing ein leuchtendes goldenes Medaillon in Form einer Sonne. Im Mittelpunkt der schweren Scheibe waren rätselhafte Schriftzeichen angebracht. Der Angreifer schrie auf, aber es war zu spät. Er wollte dem Flammendolch eine andere Richtung geben, doch die Sonnenscheibe zog ihn magisch an. Die Spitze des Dolches traf die Schriftzeichen im Mittelpunkt des Medaillons. Der Schrei des falschen Solotschenko war weithin zu hören. Die gesamte schwarzmagische Energie, die in dem Flammendolch steckte, schlug auf ihn zurück. Er bäumte sich auf und kippte seitlich aus dem Geländewagen. Noch bevor er den Erdboden berührte, verwandelte er sich in ein rauchendes Skelett, das beim Aufprall in unzählige Einzelteile zerbrach. Peter ließ den Motor aufröhren. Er hatte keine Lust, gegen die zahlreichen Zombies zu kämpfen, die ringsum lauerten. Sie hatten die Ankunft des Feindes sehr genau beobachtet und warteten nur ab, ob ihr Sendbote in Gestalt des Mr. Solotschenko Erfolg haben würde. Da er versagte, wollten sie eingreifen. Lautlos brachen sie aus ihren Verstecken hervor, lebende Leichen, die hier auf Mortland ihr zweites Dasein fristeten. Sie waren die primitivsten Handlanger des Bösen, ohne eigenen Willen und ohne
Verstand, nur auf Mord programmiert. Schon rammte Peter den Rückwärtsgang hinein, um zu wenden und auf der Straße zu fliehen, als er zwischen den Büschen noch eine Bewegung bemerkte. Seine Augen weiteten sich, als er Aldo Torlato erkannte. Dicht hinter dem jungen Italiener tauchte Alicia auf. Peter kombinierte blitzschnell, wie sich alles zugetragen hatte. Anstelle des Rückwärtsganges legte er den ersten Gang ein, ließ die Kupplung hart kommen und rammte zwei Untote, die ihm den Weg versperren wollten. Er schleuderte sie zur Seite und durchbrach die Linie der Angreifer. Aldo blieb wie betäubt stehen, als er die Leichen entdeckte. Er stand direkt neben einer der riesigen Gruben. Eine skelettierte Hand tauchte daraus auf und packte ihn am Bein, Schreiend kippte er zur Seite. Alicia war im letzten Moment bei ihm und zerrte ihn zurück. Sie zog ihn auch zur Seite, als aus einer anderen Grube ein Monster auftauchte, das einem riesigen Tintenfisch ähnelte und versuchte, seine schwarze, schleimige Masse über Aldo zu stülpen. Der Italiener war nicht mehr fähig, von sich aus etwas zu unternehmen. Zitternd hing er in Alicias Griff, die ihn energisch dem heranrasenden Geländewagen ihres Bruders entgegenzerrte. Peter wich einem Erdloch aus, das vor ihm aufplatzte. Die herausquellende schwarze Flüssigkeit verschmorte das Gras und sandte giftige Dämpfe aus. Wenn sie die Reifen seines Wagens erreichte, zerfraß sie den Gummi! Peter griff in die Innentasche seiner Jacke. Er hatte für seine Gegner noch mehr böse Überraschungen bereit. Eine Handvoll Schrotkörner entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Silberkugeln. Er schlenderte sie in die breiige, schwarze Säuremasse. Ein leichtes Erdbeben war die Folge. Aus der Tiefe drang Grollen. Die Erde schloß sich an dieser Stelle wieder.
Im Rückspiegel erkannte der Großmeister einen Untoten, der sich im Gegensatz zu den anderen Zombies rasend schnell bewegte. Er versuchte, den Geländewagen zu überholen und Alicia und Aldo den Weg abzuschneiden. Wieder platzte ein Erdloch vor Peter auf und spuckte schwarze todbringende Flüssigkeit aus. Das brachte den Großmeister auf eine Idee. Er wich nur wenig aus und ließ den Untoten an seiner linken Seite vorbei laufen. Der Zombie kümmerte sich nicht um Peter. Er war nur auf Alicia und ihren Begleiter fixiert. Er ging in die Falle und blieb dicht neben dem Geländewagen, als er überholte. Peter zog das Lenkrad herum und gab kurz Gas. Der vordere Kotflügel des Wagens versetzte dem Zombie einen Stoß, den dieser nicht mehr abfangen konnte. Er stürzte kopfüber in die schwarze Flüssigkeit und wurde von dieser völlig aufgelöst. Peter schleuderte noch eine Handvoll silberner Schrotkugeln hinterher und wendete. Inzwischen hatte Alicia seinen Wagen erreicht. Sie versetzt Aldo einen Stoß, der ihn auf den Nebensitz schleuderte. Peter packte den jungen Italiener an der Hemdbrust und wuchtete ihn restlos auf den Sitz. »Fahr!« schrie Alicia. Sie hechtete auf die Notsitze und klammerte sich fest. Peter gab Vollgas und rammte wieder zwei Zombies, wich einem Säureloch aus und erreichte die Zufahrtsstraße. Noch hatten sie ein ganzes Stück zu fahren, als sich eine Mauer vor ihnen erhob. Sie war von einer Sekunde auf die andere da, bestand aus unruhig zuckenden Leibern verschiedenster Form und war völlig undurchdringlich. Eine Mauer aus Dämonen! Peter rammte den Fuß auf die Bremse. Hier kam er nicht durch. Es
handelte sich um Dämonen niedrigster Stufe, die kaum feste Gestalt annahmen. Aber er sah genügend gierig aufgerissene Mäuler, tödliche Krallen und messerscharfe Zackenkämme von drachenähnlichen Würmern. Eine Berührung mit dieser Mauer brachte den sofortigen Tod. Seitlich konnte er auch nicht ausweichen. Zu beiden Seiten der Straße regten sich Untote in den Büschen. Sie waren als Grenzwächter von Mortland darauf eingerichtet, niemanden durchzulassen, weder herein, noch hinaus. Und zurück konnte Peter auch nicht, weil sich mitten auf der Straße ein Säureloch öffnete. Die schwarze, nach Pech und Schwefel stinkende Flüssigkeit überflutete die Straße und rückte näher auf den Geländewagen zu. In dieser verzweifelten Situation tauchte jenseits der Grenze Butler Harvey auf. Er richtete ein schweres Jagdgewehr auf die Dämonenmauer. Schuß um Schuß jagte der Butler gegen die Mauer, und wo er traf, lösten sich die Dämonen kreischend auf. »Silberschrot, Sir!« rief der Butler. »Sie haben gleich freie Fahrt!« Es wurde auch höchste Zeit, da die Säure fast schon die Reifen erreicht hatte. Butler Harvey lud nach, jagte die restlichen Silberladungen in die Mauer und brachte sie völlig zum Verschwinden. Keine Sekunde zu früh! Peter gab Vollgas und entkam gerade noch einmal der tödlichen Falle. Schweigend jagte er nach Sagon Manor zurück und hielt auf dem Vorplatz. Sie stiegen aus. »Wie kam denn das?« fragte er seine Schwester. Alicia war kreidebleich und zitterte ebenfalls am ganzen Körper. »Aldo wollte unbedingt sehen, wie es auf Mortland zugeht«, sagte sie scharf und baute sich vor dem schlotternden jungen Mann auf. »Er wollte ja nicht auf mich hören!«
Ehe Peter eingreifen konnte, flog ihre Hand durch die Luft. Aldo schüttelte verstört den Kopf und hielt sich die Wangen, auf der ihn Alicias Hand getroffen hatte. Alcia lief ins Haus. Peter klopfte Aldo auf die Schulter. »So ist sie eben, meine Schwester«, sagte er grinsend. »Das wird Ihnen bestimmt eine Lehre sein, nie wieder nach Mortland zu gehen.« »Nie wieder«, flüsterte Aldo und rieb sich die Wange. Butler Harvey trat auf ihn zu. »Wenn Sie mir folgen wollen, Mr. Torlato. Eis ist in der Küche. Ich darf vorangehen.« Peter nickte ihm aufmunternd zu. »Gehen Sie nur, Aldo! Eis ist in Ihrer Situation am besten. Und dann kommen Sie auf die Terrasse. Dort gibt es noch einmal Eis mit einem Schuß Whisky. Den haben wir uns alle verdient!« Aldo nickte und folgte, noch immer verstört, dem Butler in die Küche. Dabei streifte er mit einem scheuen Blick die Spitzen der Türme von Mortland.
* Trotz aller Möglichkeiten der Ablenkung nahm Peter Winslow seinen Job als Hoteldetektiv ernst. »Ich vermute«, sagte er zu Mr. Chapper, »daß die Gegenseite Ihr Hotel für einen großen Schlag ausgesucht hat. Mr. Solotschenkos Ermordung auf Mortland war erst der Anfang.« Chapper seufzte. »Ich hätte vielleicht kein Hotel eröffnen sollen«, meinte er. »Es bietet zu viele Angriffspunkte.« »Sie haben Ihr Hotel seit so vielen Jahren«, widersprach der Großmeister, »daß es keinen Sinn mehr hat, heute darüber zu jammern. Überlegen wir lieber, was wir tun können.« »Nichts«, sagte Mr. Chapper dumpf. »Seit wann so pessimistisch?« Peter lächelte ihm aufmunternd zu.
»Hören Sie, Mr. Chapper. Wir können uns nicht gegen Gäste schützen, die Sie nicht kennen. Jedermann kann sich in das Hotel schleichen. Okay, das ist ein Risiko. Aber wir können auf jeden Fall das Personal durchleuchten.« Chapper nickte. Er holte eine Liste seines Personals und ging sie durch. Dabei tippte er auf die Namen jener Personen, die auch Mitglieder im Bund der Weißmagier waren. »Sie scheiden aus«, sagte Peter. »Bleiben immerhin noch ein Dutzend Angestellte. Kennen Sie diese Leute von früher?« »Saisonarbeiter«, erwiderte Chapper. »Ich werde sie genauer unter die Lupe nehmen«, versprach Peter. »Und verständigen Sie mich von jetzt an laufend, wenn Gäste abreisen und neue Gäste einziehen. Ich möchte mir auch diese Leute ansehen.« Obwohl er sich voll seiner Aufgabe widmete, bekam er keine Anhaltspunkte. »Es ist wie verhext«, sagte er beim Mittagessen zu Sue Fenn. »Ich arbeite hier völlig umsonst.« »Du bist wenigstens in meiner Nähe«, antwortete sie und sah ihn verliebt an. »Ja, das ist ein Pluspunkt.« Peter wirkte müde und enttäuscht. Es gefiel ihm gar nicht, daß das Seafarer ausgebucht war und von Menschen nur so wimmelte. Wenn sich die Schwarzmagier zu einem wirklich großen Schlag entschieden, mußte es zahlreiche Opfer geben. Er hoffte, daß sie sich auf die Mitglieder des Bundes beschränken würden. »Du bist heute mittag gar nicht unterhaltsam«, beklagte sich Sue. Sie saßen auf der Terrasse. Die Sonne hatte sich schließlich doch noch Bahn gebrochen. Peter kaute lustlos auf einem Steak herum und musterte die Leute durch seine Sonnenbrille. »Du bist nicht unterhaltsam, habe ich gesagt«, wiederholte Sue Fenn.
»Nein, wahrscheinlich nicht«, murmelte er geistesabwesend. »Wenn du einen Clown möchtest, mußt du in den Zirkus gehen.« »Das war aber nicht sehr nett von dir«, sagte Sue ernüchtert. »Warum behandelst du mich so schlecht?« Er sah sie an, und langsam erkannte er, daß er schon wieder jemanden unter seiner schlechten Laune leiden ließ. Hastig griff er nach Sues Hand. »Entschuldige, Darling, es tut mir leid«, sagte er und lächelte so, daß keine Frau widerstehen konnte. »Ich habe eben Sorgen. Mit dir hat das nichts zu tun.« »Dann ist es ja gut.« Vor allen Leuten beugte sich Sue über den Tisch und hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen. »Es ist schön hier mit dir.« »Ja, es ist wirklich schön«, bestätigte Peter und nahm sich vor, für einige Zeit seine Aufgaben zu vergessen. »Und hier der Nachtisch«, sagte der Kellner, der sie an diesem Tisch bediente. Es handelte sich um einen netten Spanier, der schon seit drei Jahren im Sommer im Seafarer arbeitete und Ordensmitglied war. »Guten Appetit.« »Moment«, wandte Peter ein. »Wir haben keinen Nachtisch bestellt, Pedro.« »Ich weiß, Sir«, sagte der Kellner mit einem verschmitzten Lächeln. »Mit besten Empfehlungen unsere Hauses.« »Das kommt mir spanisch vor«, sagte Peter und blickte hinter dem lachenden Kellner her. »Was ist das?« fragte Sue und betrachtete die Glasschale mit der braunen Creme. »Keine Sorge«, beruhigte Peter seine neue Freundin. »Wenn Pedro etwas serviert, ist es auf jeden Fall in Ordnung. Du kannst es unbesorgt essen.« Sue kostete und verdrehte verzückt die Augen. »Das schmeckt ja himmlisch!« rief sie aus. »Schokoladencreme! Aber was für eine! So
etwas habe ich noch nie gegessen!« Peters blaue Augen zogen sich zusammen. Ein Verdacht stieg in ihm auf. Er kostete hastig und legte den Löffel sofort wieder weg. »Schmeckt es dir nicht?« fragte Sue überrascht. »Ich bin gleich wieder hier, warte auf mich«, sagte er und eilte in das Hotel hinein. Diese Creme hatte er schon oft gegessen! Er kannte den Weg zur Küche, stieß die Schwingtür auf und sah sich in dem großen Raum um. Peter entdeckte sie sofort. Klein und breit und füllig hantierte sie mit Kraft und Energie in einer Ecke. »Dieser alte Küchendrache«, sagte Peter laut, als er hinter sie getreten war. »Ha!« schrie Mrs. Applegast erschrocken auf und fuhr mit erhobener Schöpfkelle herum. Hätte Peter sich nicht blitzschnell gebückt, wäre die Kelle auf seiner Stirn gelandet. Mrs. Applegast faßte sich an die gewaltige Brust und atmete schwer. »Mach das nicht noch einmal, Junge, sonst bereust du es!« rief sie keuchend. »Mich hätte fast der Schlag getroffen.« »Emily Applegast, die Spionin!« Peter grinste. »Was machst du hier in der Küche des Seafarers? Solltest du deinen Kochlöffel nicht auf Sanon Manor schwingen?« »Butler Harvey macht kalte Platten für die Herrschaft«, erwiderte sie. »Ich bin auf unbestimmte Zeit beurlaubt.« »Wieso?« Peter stellte sich ahnungslos. »Hat mein Vater, dich erwischt, als du drei Hähnchen auf einmal gegessen hast?« »Unsinn!« Emily Applegast winkte schroff ab. »Wenn der Großmeister schon den Verstand verloren hat, muß jemand in seiner Nähe sein, der seinen Verstand noch beisammen hat.« Peter sah sich suchend um. »Sehr gut! Und wer ist das?« »Raus aus meiner Küche!« schrie Mrs. Applegast empört. »Ich werde dich lehren, mich auf den Arm zu nehmen!«
»Geht nicht, du bist zu schwer!« rief Peter und ergriff die Flucht. Mrs. Applegast hatte vor dem Großmeister ehrlich Respekt, doch wenn sie gereizt wurde, vergaß sie schon auch einmal, daß Peter der Großmeister war. Grinsend kehrte er auf die Terrasse zurück und setzte sich zu Sue, die ihm neugierig entgegen sah. »Wo warst du denn?« erkundigte sie sich. »Und wieso kannst du auf einmal lachen?« »Nicht weiter wichtig«, wehrte er ab. Er wußte selbst nicht, warum er Sue nichts von Mrs. Applegast erzählte. »Ich habe diese Schokoladencreme nur schon einmal gegessen und wußte sofort, wer sie gemacht hat. Das war alles.« »Sonderbar.« Sue ließ ihn nicht aus den Augen und war sichtlich mit seiner Erklärung nicht zufrieden. Mehr sagte Peter aber nicht. Sie beendeten das Essen. Es begann zu regnen. »Schade«, meinte Sue seufzend. »Ich dachte, wir könnten einen Spaziergang am Strand unternehmen. Macht nichts. Gehen wir nach oben!« Peter wollte widersprechen und sie an seine Arbeit als Hoteldetektiv erinnern, aber ihr Blick stimmte ihn um. Auf dem Weg zu den Aufzügen beugte sich Sue zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mr. Chapper, der die Szene beobachtete, schwor hinterher, der Großmeister wäre rot geworden. Später am Nachmittag fand Peter vor sich selbst keine Rechtfertigung mehr, noch länger bei Sue zu bleiben. Er verließ sie, obwohl sie sich beklagte und ihn nicht gehen lassen wollte. Mr. Chapper kam ihm in der Halle entgegen. Der Hotelbesitzer machte ihm aufgeregt Zeichen. »Erwarten Sie auf Sagon Manor Besuch?« erkundigte er sich gedämpft. »Ich meine, Sie persönlich! Ihre Verwandten habe ich schon angerufen. Niemand weiß etwas von Besuchern.« »Ich auch nicht«, erwiderte Peter. »Worum geht es?«
»Vor einer Viertelstunde haben Mr. und Mrs. Pleshette aus Newcastle einen Plan der Umgebung an der Rezeption verlangt und sich nach dem Weg in die Dünen zu diesem Herrenhaus erkundigt, wie sie sich ausdrückten.« »Der Weg zu diesem Herrenhaus in den Dünen.« Peter überlegte. »Das braucht nicht der Weg nach Sagon Manor zu sein. Die beiden können auch Mortland meinen.« Mr. Chapper wurde noch einen Schein blasser. »Glauben Sie wirklich, Sir?« flüsterte er. »Ich weiß es nicht«, antwortete Peter wahrheitsgemäß. »Aber ich werde mich darum kümmern.« Er verließ zusammen mit Mr. Chapper das Hotel und wartete, bis das Ehepaar Pleshette aus dem Hotel kam und Chapper ihm die Leute zeigte. Sie wirkten völlig normal, eben wie Touristen, waren um die Vierzig und fuhren einen unauffälligen roten Wagen. »Okay, ich übernehme«, sagte Peter, ließ Mr. Chapper stehen und überquerte den Parkplatz. In diesem Moment griff die Gegenseite an.
* Vielleicht war es Zufall, daß die Schwarzmagier ausgerechnet jetzt auftauchten. Peter wußte es nicht. Er mußte sich jedoch gegen sie wehren und konnte sich nicht um das Ehepaar Pleshette kümmern. Es waren die drei Männer, die Sue über den Strand gejagt hatten. Der vierte Mann lebte nicht mehr. Sie hielten die Hände in den Taschen versenkt und kreisten den Großmeister ein. Bisher hatten sie hinter geparkten Autos gelauert. Chapper lief quer über den Parkplatz. Einer der Schwarzmagier stellte sich ihm in den Weg. Chapper kam nicht an seinen Großmeister heran, doch Peter
brauchte sich vorläufig nur noch mit zwei Schwarzmagiern herumzuschlagen. Das Ehepaar Pleshette fuhr ab, ohne etwas von dem Kampf zu merken. Peter flankte über einen flachen Sportwagen und griff in die Innentasche seiner Jeansjacke. Er trug eine Luftpistole bei sich, die mit besonders präparierten Geschossen geladen war. Die Schwarzmagier sahen seine Handbewegung und zögerten einen Moment. Bei ihrem letzten Zusammentreffen war der Großmeister unbewaffnet gewesen. Jetzt wußten sie nicht, was sie erwartete. Chapper war in ein Handgemenge mit dem dritten Mann verwickelt. Peter konnte ihm im Moment nicht helfen. Beide Gegner griffen an, und sie kamen von verschiedenen Seiten. Er sah wieder die Flammendolche und wunderte sich, daß sie sich nichts Neues hatten einfallen lassen. Seine Luftpistole flog hoch. Er zielte auf den Schwarzmagier links von sich und drückte ab. Der Mann bückte sich hastig, doch es half ihm nichts. Die winzige Kugel traf ihn. Der Druck der Pistole war so schwach, daß das Geschoß nicht einmal die Haut durchdrang. Butler Harvey, Waffenspezialist von Sagon Manor, hatte die Kugeln jedoch mit wirkungsvollen weißmagischen Bannsprüchen behandelt. Der Schwarzmagier richtete sich erstaunt auf. Er hatte vergeblich auf den Einschlag einer Kugel gewartet. Peter flankte über den Sportwagen zurück. Der Flammendolch des zweiten Mannes traf die Karosserie und brannte ein Loch in das Auto. Der Besitzer wird sich freuen, dachte Peter und schoß auch auf den zweiten Mann.
Dem Magier erging es wie seinem Komplizen. Auch er wußte nicht, was er von der scheinbar sinnlosen Aktion des Großmeisters halten sollte. Erst als beide erneut versuchten, den Großmeister in die Zange zu nehmen, erkannten sie seine Taktik. Sie streckten ihm nämlich die leeren Fäuste entgegen. »Wo bleiben denn die Flammen?« fragte Peter leise, ehe er sich auf die beiden Angreifer stürzte und sie kampfunfähig machte. Als sie am Boden lagen, wandte er sich zu Mr. Chapper um, der noch immer Schwierigkeiten mit seinem Gegner hatte. Peter schoß aus größerer Entfernung, daß der Getroffene überhaupt nichts spürte, aber gleich darauf schwand auch sein Flammendolch, und Mr. Chapper machte mit ihm kurzen Prozeß. »Übergeben Sie die Kerle der Polizei«, rief Peter dem Hotelbesitzer zu. »Für die nächsten drei Monate haben sie keine schwarzmagischen Fähigkeiten mehr. Das dürfte genügen!« Er lief zu seinem Wagen und startete mit Vollgas. Das Ehepaar Pleshette war nicht mehr zu sehen. Jetzt kam Peter der Angriff mit den Flammendolchen reichlich sinnlos vor. Die Magier mußten wissen, daß er sich auf diese Waffe inzwischen eingestellt hatte. Sein Verdacht wuchs, daß sie ihn nur hatten aufhalten wollen, damit die Pleshettes ungehindert wegkamen. Aber warum nur? Standen diese Leute auf Seiten der Schwarzmagier? Oder waren sie gar Mitglieder des Ordens der Weißmagier? Es gab so viele Mitglieder, daß Peter Winslow nicht einmal einen winzigen Bruchteil von ihnen kannte. Schon möglich, daß sie gehört hatten, wo der Großmeister wohnte, und ihm einen Besuch abstatten wollten. Ebenfalls möglich, daß Schwarzmagier sie deshalb nach Mortland locken wollten. Peter jagte aus Brighton hinaus und nahm die Dünenstraße. Er hätte sich gewünscht, einen weiteren Ausblick zu haben, doch die weit geschwungenen Sandhügel mit dem kurzen, harten Gras ver-
sperrten ihm die Sicht. Es schaltete ständig, um die Leistung des Motors voll auszunutzen, und radierte gut ein Millimeter Profil von den Reifen, aber es nutzte alles nichts. Er holte die Pleshettes nicht mehr vor der Straßengabelung ein. »Laß sie nach Sagon Manor gefahren sein«, murmelte er. Eigentlich gab es nur die Straße nach Sagon Manor. Die Stichstraße nach Mortland glich eher einem verwucherten Feldweg. Die Straßengabelung lag leer vor Peter. Er starrte nach rechts in Richtung Mortland. Dort war nichts zu sehen. Peter legte wieder den Gang ein und raste nach Sagon Manor, bremste jedoch schon nach der nächsten Kurve. Rechts von ihm schimmerte es rot zwischen den Büschen durch. Und das Ehepaar Pleshette hatte einen roten Wagen gefahren. Der Großmeister sprang mit einer Verwünschung auf den Lippen aus dem Wagen. Die kleine Luftdruckpistole hätte ihm jetzt nicht geholfen. Er ließ sie auf dem Sitz liegen, öffnete das Handschuhfach und holte ein größeres Kaliber heraus. Auch diese Pistole hatte er von Harvey erhalten. Der Butler hatte die Waffe so präpariert, daß sie kleine, weißmagisch besprochene Kugeln verschoß. Dies tat sie jedoch mit solcher Wucht, daß sie einen Zombie durchschlagen konnte. Genau das war nötig, denn als Peter sich der Grenze zu dem Besitz von Mortland näherte, raschelte es in den Büschen. Er schoß. Ein Untoter bäumte sich auf und kippte zur Seite. Der Großmeister wartete nicht, bis sich die Bestie in ihre Bestandteile auflöste. Er übersprang den Graben, der an der Grenze entlang lief. Vor ihm tauchte eine Frau auf, im ersten Moment wie ein normaler Mensch wirkend. Er sah jedoch ihre Augen, erloschen und tot, und schoß, hetzte an dem Zombie vorbei und erreichte eine freie Wiese.
Die Bewohner von Mortland rechneten offenbar nicht mit einem Angriff, sonst hätten sie an dieser Stelle mehr Wächter zusammengezogen. Ungehindert erreichte der Großmeister die Straße. Jetzt befand er sich schon zum zweiten Mal auf Mortland, ohne es wirklich zu wollen. Er haßte diese sinnlosen Kämpfe gegen seine unmittelbaren Nachbarn. Peter nahm nur Dinge in Angriff, die Aussicht auf Erfolg boten. Mortland war ein Faß ohne Boden. Hier verzettelte er nur seine Kräfte. Endlich sah er das Auto und gleich darauf Mr. und Mrs. Pleshette. Sie standen in geringer Entfernung von ihrem Wagen und betrachteten staunend das ausgebrannte Herrenhaus. Mr. Pleshette hob soeben seine Kamera. »Hallo!« rief Peter und winkte mit beiden Armen. Sie dachten offenbar an keine Gefahr, winkten ihm zu und wandten sich wieder zu Mortland um. Der Großmeister lief schneller. Das konnte einfach nicht gut gehen! Mr. Pleshette machte eine Serie von Aufnahmen, während Mrs. Pleshette Peter interessiert entgegen blickte. »Sind Sie hier Verwalter?« rief sie ihm zu. »Können Sie uns etwas über dieses herrliche Haus sagen? Wir würden es vielleicht kaufen, wissen Sie? Kaufen und herrichten lassen!« Peter stöhnte in sich hinein. Sonst kamen nie Fremde hierher. Mortland erschien in keinem Reiseführer und auf keinem Plan. »Was machen Sie hier?« fuhr er die Touristen an. »Wissen Sie nicht, wie gefährlich es hier ist?« »Gefährlich?« Mr. Pleshette, der mit Schirmmütze und Bermuda-Shorts der Karikatur eines Touristen glich, lachte. »Was soll schon gefährlich sein?« Peters Blick fiel auf die riesigen Gruben rings um Mortland. »Alles unter uns ist ausgehöhlt und kann jederzeit einstürzen«, warnte er.
»Ihr Wagen wird vielleicht schon in wenigen Sekunden in der Tiefe verschwinden.« Er konnte nicht von Untoten und Dämonen sprechen. Die Leute hätten ihn für verrückt gehalten. Warum griffen die Bewohner von Mortland nicht an? Wollten sie ihre Opfer zappeln lassen? Mr. Pleshette stampfte auf. »Klingt nicht hohl«, stellte er fest. »Kommen Sie, fahren Sie zurück!« warnte Peter. »Ich bin der Hoteldetektiv des Seafarers. Ich kenne mich hier aus.« »Wir wollen uns auch noch Sagon Manor ansehen«, entgegnete Mrs. Pleshette und hielt ihren Strohhut fest. »Das liegt doch gleich da drüben, nicht wahr? Können wir quer durch den Wald gehen?« Peter schauderte. An der Grenze warteten die Zombies! »Sagon Manor gehört mir!« fuhr er die Leute an. »Und Mortland gehört auch mir!« »Moment!« Mr. Pleshette warf sich in die Brust. »Sie haben eben gesagt, daß Sie der Hoteldetektiv vom Seafarer sind! Und da gehören Ihnen zwei Herrenhäuser? Erzählen Sie keinen Unsinn, Mann! Außerdem sind Sie für so etwas viel zu jung!« Peter riß die Geduld. »Schluß jetzt!« befahl er und packte Mrs. Pleshette am Arm. Sein Blick schweifte ununterbrochen über das Gelände von Mortland. Es war mehr als verdächtig, daß sich nichts rührte. Irgend etwas ging hier vor sich, das er noch nicht durchschaute. Etwas Unheimliches. Er schob die Frau in den Wagen und schlug die Tür auf ihrer Seite zu. »Was erlauben Sie sich?« erregte sich Mrs. Pleshette. »Sie könnten altersmäßig mein Sohn sein! Wie behandeln Sie mich? Ich werde mich über Sie beschweren!« »Dazu werden Sie kaum noch Gelegenheit haben«, erwiderte Peter. Er hatte in den Büschen eine Bewegung gesehen. »Mr. Pleshette, steigen Sie ein!« »Nein, Sie Flegel!« schrie der Mann ihn an. »Ich werde …!«
Peters Hand schoß vor. Seine scharfen Augen hatten die Angreifer entdeckt. Seine Finger krallten sich in Mrs. Pleshettes buntes Hemd. Der Mann schrie und tobte, aber gegen Peters weit überlegene Kräfte kam er nicht an. Mrs. Pleshette kreischte entsetzt, als Peter die hintere Tür aufriß, Mr. Pleshette auf die Rücksitze stieß und die Tür zuschlug. »Sitzenbleiben!« brüllte Peter die ahnungslosen Touristen an. Sie kamen von allen Seiten, und diesmal hatte Mortland aufgeboten, was es an höllischen Handlangern überhaupt besaß. Das Erdbeben setzte so unvermittelt ein, daß Peter gegen den Wagen geschleudert wurde. Er allein gegen alle diese Zombies und Dämonen, Schlangen und Riesenspinnen war machtlos. Er griff zu dem einzigen Mittel, das ihm im Moment überhaupt blieb. Seine Hand tauchte wieder in die Innentaschen seiner Jeansjacke. Er holte ein unzerbrechliches Fläschchen heraus, öffnete es und kippte den öligen Inhalt über das Wagendach. Dann warf er sich hinter das Steuer und knallte die Tür zu. »Ich verprügle dich, du grüner Junge du!« tobte Mr. Pleshette. »Ich werde …« Er verstummte. Peter sah sein Gesicht im Rückspiegel. Es lief vor Entsetzen rot und blau an. Mrs. Pleshette schlug mit einem leisen Wimmern die Hände vor das Gesicht. »Wer aussteigt, ist tot«, sagte Peter mit schneidender Stimme. Sie sahen die Ungeheuer, die lebenden Leichen, die formlosen Schlangen, die Spinnen, die einen Durchmesser von mehr als zwei Metern erreichten. Sie sahen die fischähnlichen Körper der Dämonen und die walzenförmigen Drachenwürmer mit den Köpfen, die nur aus Gebiß und Giftzähnen bestanden. Von allen Seiten rückten sie gegen den Touristenwagen. Die ersten Angreifer berührten das Fahrzeug und wichen mit schauerlichem
Gebrüll zurück. Peter verzichtete auf Erklärungen. Die Leute waren im Moment unansprechbar. Hoffentlich, dachte er, steigen sie nicht aus. In diesem Fall hätte er ihnen nicht helfen können. Er wußte auch nicht, wie lange das weißmagische Öl wirken würde, das er über dem Wagen verteilt hatte. Es gehörte zu Butler Harveys Waffen und konnte die Angreifer wenigstens für einige Zeit von dem Auto fernhalten. Aber wie lange! Immer mehr Dämonen und Zombies versuchten, in das Auto einzubrechen. Das Öl hatte sich zu einem gleichmäßigen Film über das ganze Auto verteilt. Dennoch gab es einige Stellen, die noch nicht geschützt waren. Dort schlugen und kratzten Krallen gegen das Blech und bohrten sich Zähne in die Karosserie. Wenn dann der Ölfilm auch diese Stellen erreichte, prallten die Angreifer kreischend, fauchend und schreiend zurück. »Oh Gott, oh Gott, ich halte das nicht aus!« kreischte Mrs. Pleshette. Sie tastete nach dem Türgriff. Peter sah keine andere Möglichkeit. Er packte ihre Hände und fesselte sie mit ihrem eigenen Halstuch. Er wirbelte zu Mr. Pleshette herum. »Sitzenbleiben!« schrie er den Mann an, der ebenfalls fliehen wollte. »Die da draußen reißen Sie augenblicklich in Stücke!« »Ich kann keine Spinnen sehen!« brüllte Pleshette verzweifelt. Gerade in diesem Moment kroch ein besonders großes Exemplar auf die Kühlerhaube. Das weißmagische Öl wirkte zwar sofort und ließ die Riesenspinne zu einem kleinen Klumpen Pech zusammenschmoren, aber Pleshette verlor die Beherrschung. Er rüttelte an seiner Tür.
Peters Faust schoß nach hinten und traf den Touristen genau am Punkt. Benommen sackte Mr. Pleshette in sich zusammen. Jetzt war Peter alles klar. Der Plan der Schwarzmagier war teuflisch. Sie lockten ein harmloses Touristenehepaar nach Mortland und zwar so, daß der Großmeister den beiden auf dem Boden von Mortland helfen mußte. Und nun rückte die gesamte Streitmacht dieses Höllenforts an, um alle umzubringen und in das Reich des Bösen zu zerren! Peter saß mitten in der Falle. Wahrscheinlich hatten sie aber gedacht, leichteres Spiel zu haben. Das weißmagische Öl kannten sie noch nicht. In ihrer Wut unternahmen sie immer heftigere Angriffe auf den Wagen, ohne sich selbst zu schonen. Ein über zwei Meter großer Zombie warf sich gegen die Windschutzscheibe. Sie sprang, hielt aber, und der Zombies wurde von dem Öl zerstört. Wenn das so weitergeht, dachte Peter entsetzt, zerquetschen sie uns mitsamt dem Wagen. Wenn irgendwo eine Lücke in der Karosserie entstand, konnten dort die Feinde eindringen. Und in diesem beengten Raum mußten sie ihre Opfer finden, ganz gleich, was der Großmeister auch tat. Das Beispiel des Zombies machte Schule. Eine Riesenspinne warf sich aus vollem Lauf gegen den Wagen und ließ die Seitentür bei Mrs. Pleshette gefährlich knacken. Und dann kam der nächste Untote und zielte auf die Windschutzscheibe. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Bestien das Auto wie eine Konservendose knackten.
* Aldo Torlato zuckte leicht zusammen, als Alicia Winslow die Terras-
se hinter Sagon Manor betrat. Er machte sofort ein schuldbewußtes Gesicht und faßte sich an die Wange. »Aldo, es tut mir leid«, sagte Alicia und lächelte. »Aber ich war so wütend, daß ich …« »Schon gut, ich verstehe dich vollkommen«, winkte der junge Italiener ab. »Ich weiß jetzt, was für ein Wahnsinn es war, nach Mortland zu gehen. Du hast mich gerettet.« »Und Peter und Harvey«, schwächte Alicia ab. »Wir sind ein gut aufeinander eingespieltes Team. Ohne die anderen ist der Einzelne ziemlich hilflos. Versprich mir aber, daß du nie wieder nach Mortland gehst.« »Nie wieder!« schwor Aldo. »Ich spüre deine fünf Finger noch jetzt an meiner Wange.« »Hat das Eis nicht geholfen?« erkundigte sich Alicia mitleidig. »Hatte ich tatsächlich solche Kraft in der Hand?« »Und wie!« Aldo lächelte. »Ich hätte nie gedacht, daß eine Frau so viel Temperament entwickeln könnte. Du erinnerst mich an die Frauen in meiner Heimat.« »Du hast Heimweh?« fragte Alicia. Seine Augen trübten sich, und sie bereute ihre Frage. In seiner Lage war vermutlich jede Frage nach seinen Lebensumständen falsch. Aldo kam zu keiner Antwort. Schauerliches Gebrüll erscholl, als wäre in der Nähe ein Zoo mit reißenden Bestien. Es hörte sich an, als schrien hundert Elefanten gleichzeitig mit unzähligen Raubtieren um die Wette. »Was war das?« rief Aldo und wurde blaß. »Still!« Alicia winkte ab. Sie lauschte konzentriert. Wieder erklang ein Schrei, diesmal nur ein einzelner. Er hatte nichts Menschliches an sich. »Ein Kampf auf Mortland!« rief Alicia. »Du bleibst hier, verstanden?«
Sie rannte davon, und Aldo folgte ihr. Alicia hatte es so eilig, daß sie sich nicht weiter um ihn kümmerte. Sie lief ins Haus, prallte mit Butler Harvey und ihrem Vater zusammen und riß dem Butler ein Gewehr aus der Hand. Harvey bewaffnete sich mit einem anderen Gewehr. Auch der Lord hielt eine Waffe in den Händen. »Bleiben Sie!« befahl Lord Hubbard Winslow, während er zusammen mit seiner Tochter und seinem Butler den Vorplatz überquerte. Sie hielten auf die Grenze von Mortland zu. Diesmal befolgte Aldo die Befehle. Er blieb vor dem Herrenhaus stehen, ballte die Fäuste so fest, daß sich die Fingernägel in die Handballen gruben, und starrte schreckensbleich nach Mortland hinüber. Die dichten Bäume und Büsche verhinderten die direkte Sicht auf das Herrenhaus. Aldos Blick zuckte nach oben. Der Glockenturm von Sagon Manor. Von dort oben sah man bestimmt mehr. Hastig suchte er einen Zugang nach oben. Er erreichte den Turm, als die drei Helfer von Sagon Manor die Grenze überschritten. Wild um sich schießend brachen sie durch die Büsche an der Trennlinie. Aldo entdeckte eine sonderbare Erscheinung, auf die er sich keinen Reim machen konnte. An einer Stelle der Straße quollen Körper übereinander und tobten durcheinander. Es schien keinen Sinn zu ergeben. Er konnte auch kaum einzelne Wesen unterscheiden, bis auf die Riesenspinnen, die allein schon durch ihre meterlangen Beine auffielen und aufgeregt hin und her liefen. Manchmal blitzte es unter dem Haufen schwarzer Leiber rot auf. Aldo keuchte vor Aufregung. Instinktiv ahnte er, daß dort drüben jemand um sein Leben kämpfte. Endlich tauchten der Lord, sein Butler und Alicia auf. Sie näherten
sich dem Haufen von drei Seiten und schossen ununterbrochen, luden ihre Gewehre nach und feuerten eine Salve nach der anderen. Jeder Schuß riß eine Bresche in die Schar der Gegner. Allmählich kam unter den Leibern der Untoten und Dämonen, der Riesenspinnen und quallenähnlichen Wesen ein rotes Auto zum Vorschein – oder besser die Überreste eines roten Autos. Der Wagen war von allen Seiten verbeult. Das Dach war tief eingedrückt, Kofferraum und Motorhaube liefen schräg nach unten zum Boden, als wären Straßenwalzen darüber hinweggefahren. Die Türen hingen schief an dem Wrack. Die drei Helfer griffen in das Wrack und zogen drei Personen heraus. Diese goldblonden Haare kannte Aldo. Das war der junge Großmeister. Er bewegte sich als Einziger aus eigener Kraft, richtete sich auf und hielt sich an dem Wrack fest. Er hatte offenbar mit letztem Einsatz gekämpft. Die beiden anderen Personen, ein Mann und eine Frau, konnten nicht stehen, geschweige denn gehen. Der Großmeister packte zusammen mit seinem Vater den Mann, Alicia führte gemeinsam mit dem Butler die Frau in Richtung Sagon Manor. Aldo hatte genug gesehen. Er verließ seinen Beobachtungsposten und lief der Gruppe entgegen. Bis an die Grenze wagte er sich vor. Wieder fielen Schüsse. Es raschelte in den Büschen. Dicht vor ihm tauchte ein breit gebauter Untoter auf, die erloschenen Augen auf Aldo gerichtet. Der Zombie hatte sichtlich die Orientierung verloren, entdeckte Aldo, streckte die Hände nach ihm aus und trat auf ihn zu. Aldo wich zurück, stolperte und stürzte. Er schrie entsetzt auf, als der Zombie den Fuß für den letzten Schritt hob, doch im nächsten Augenblick zuckte ein greller bläulicher Lichtblitz über die Gestalt
des Zombies. Der Untote löste sich zu Staub auf. Aldo erinnerte sich an den weißmagischen Bann, der Sagon Manor umgab. Daran war der Untote gescheitert. Dann kamen die Bewohner von Sagon Manor. Sie führten das Paar mit sich. Der Großmeister und die beiden anderen Geretteten sahen schlimm aus und bluteten aus zahlreichen Wunden, waren aber nicht ernstlich verletzt. Es handelte sich nur um Kratzer. Anders war es mit der seelischen Verfassung der beiden Überfallenen. Ihre Augen standen weit offen und blickten ins Leere, ihre Lippen zuckten unkontrolliert, als sie unzusammenhängendes Zeug stammelten. Sie hatten einen schweren Schock erlitten. »Soll ich einen Arzt rufen?« fragte Aldo aufgeregt. »Nein«, antwortete Lord Hubbard. »Wir machen das schon!« Aldo Torlato konnte sich zwar nicht vorstellen, wie sie das anstellen wollten, widersprach jedoch nicht. Sie ließen ihn nicht zusehen, aber eine Stunde später kamen der Fremde und die Frau gelassen auf die Terrasse. »Nehmen Sie noch einen Drink mit uns«, bot Peter Winslow an. Er machte Aldo mit dem Ehepaar Pleshette bekannt. »Was ist mit ihnen geschehen?« fragte Aldo den Großmeister leise, als sie einen Moment unbeobachtet waren. »Wir haben ihnen mit einer Beschwörung einen Teil ihrer Erinnerung genommen«, erwiderte Peter leise. »Sie wissen zwar, was vorgefallen ist, erinnern sich aber an keine Einzelheiten. Daher ist es im Rückblick nicht so schrecklich. Es genügt aber, daß sie nie wieder nach Mortland fahren werden.« »Apropos fahren«, sagte der Lord, als er die letzten Worte seines Sohnes aufschnappte. »Mr. und Mrs. Pleshette, ich werde Ihnen Ihren Wagen ersetzen. Sie sind zu Schaden gekommen, weil unsere Feinde meinen Sohn fangen wollten, Deshalb erhalten Sie den neuen Wagen von uns. Sie werden außerdem im Seafarer frei wohnen, so
lange Sie wollen.« Die Pleshettes bedankten sich. Sie sprachen noch eine Weile über ihr Erlebnis. Ihre oberflächlichen Wunden waren sachgerecht behandelt worden. Auch Peter hatte neue Kleider angezogen und sich frisch gemacht. Nur einige Schrammen an der Stirn zeugten von dem Kampf. Als Aldo Torlato Einzelheiten erfuhr, schauderte er. In seinen Augen war es ein glattes Wunder, daß der junge Großmeister den Anschlag überlebt hatte. Harvey holte Peters Wagen. Der Großmeister brachte anschließend das Ehepaar Pleshette nach Brighton zurück. »Wieso wußten Sie überhaupt, daß es Mortland gibt?«, fragte er unterwegs. »Der Kellner Pedro hat es uns empfohlen«, erklärte Mr. Pleshette. »Er schwärmte uns von Mortland vor und meinte, es wäre preiswert zu kaufen. Wir sollten es uns unbedingt ansehen.« »Pedro?« Peter konnte kaum seine Überraschung verbergen. Pedro war einer seiner Anhänger. Aber vielleicht war auch er inzwischen von der Gegenseite ausgetauscht worden. Mr. Chapper hörte mit Entsetzen, was geschehen war. Er löste schließlich das Rätsel. »Ich habe in dieser Saison einen zweiten Kellern namens Pedro eingestellt«, berichtete er. »Der Mann ist übrigens spurlos verschwunden.« »Den können Sie abschreiben«, sagte Peter düster. »Ein Schwarzmagier. Er kommt nicht wieder.« »Die drei Magier, die Sie auf dem Parkplatz erledigt haben, Sir«, fügte Mr. Chapper noch hinzu, ehe Peter ihn wieder verließ, »sitzen hinter Gittern.« Peter nickte bloß. Er war nicht weiter an diesen Männern interessiert. Viel wichtiger war für ihn, endlich herauszufinden, worauf alles
hinaus lief. Die Anschläge gegen das Hotel häuften sich. Sein Freund Chapper wurde durch diese Attacken regelrecht in einem Höllenkäfig gefangen, aus dem er sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Peter Winslow mußte ihm dabei helfen. Er tat es gern. »Aber wozu das alles?« Das war die Frage, die ungelöst im Raum stand.
* Diesmal ließ sich Peter Winslow nur ungern von Sue ablenken. »Du läufst seit Stunden durch die Hotelkorridore«, beklagte sie sich. »Für mich hast du kein einziges Auge.« »Sue«, antwortete er nervös. »Wenn du wüßtest, was sich alles ereignet hat, würdest du nicht so sprechen. Ich muß mich nun einmal um die Sicherheit dieses Hotels und seiner Gäste kümmern. Daran ist nichts zu ändern.« »Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?« sagte sie traurig. »Hast du kein Vertrauen zu mir?« »Daran liegt es nicht«, wich Peter aus. »Ich möchte nicht, daß du in diese Dinge verwickelt wirst. Das weißt du.« »Meinst du nicht, daß es mich auch interessiert?« fragte sie gereizt. »Ich bin für dich wohl irgendein Mädchen, das du kennengelernt hast und wieder vergessen wirst. Wie viele von mir haben das schon erlebt?« Peter sah sie verärgert an. »Wenn es dich reut, daß du dich mit mir eingelassen hast, bitte, dieser Fehler läßt sich jederzeit rückgängig machen. Du brauchst es nur zu sagen. Mr. Chapper gibt mir für die Zeit meiner Arbeit im Hotel ein eigenes Zimmer im Flügel für die Angestellten.« »Aber Peter!« lenkte sie erschrocken ein. »Sei nicht gleich eingeschnappt! Ich habe es nicht so gemeint. Versteh mich! Ich habe
Angst um dich!« »Genau das habe ich befürchtet«, sagte er seufzend und nahm sie in seine Arme. Sie standen in einem menschenleeren Korridor des riesigen Gebäudekomplexes. »Das ist auch genau der Grund, warum ich nie eine Frau enger an mich binden möchte. Entweder gerät sie selbst in Gefahr, oder sie hat ständig Angst um mich.« »Das ist doch nur zu verständlich.« Sue streichelte sein Gesicht. »Peter, dich muß man einfach lieb haben. Und dann hat man natürlich auch Angst um dich!« »Sue, du sollst keine Angst haben«, bat er und wußte im selben Moment, daß es vergeblich war. »Komm, Peter, es ist schon zehn Uhr abends.« Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du hast noch nichts gegessen, und müde bist du auch.« Ihre Fingerspitzen strichen über die Kratzer an seiner Stirn. »Was hast du denn da? War sie so wild?« »Sie?« Er verstand nicht gleich. »Ach, du meinst, eine andere Frau? Nein, ich hatte eine kleine Auseinandersetzung, nichts Angenehmes.« Sue schüttelte seufzend den Kopf. »Wir gehen jetzt nach unten und essen eine Kleinigkeit«, bestimmte sie. »Anschließend gehen wir wieder, nach oben, aber du stellst für heute deine Rundgänge ein. Du kannst nicht vierundzwanzig Stunden am Tag durch das Hotel laufen. Das hält der stärkste Mann nicht aus.« Peter fügte sich, weil er wirklich schon müde war. Er hatte schließlich nicht nur Kontrollrunden durch das Seafarer gedreht, sondern auch einige lebensgefährliche Kämpfe bestanden. Sie setzten sich in die Rotisserie und griffen zu den Speisekarten. »Hoffentlich bekommen wir überhaupt um diese Zeit noch etwas«, meinte Sue. Pedro, der echte Kellner, kam an den Tisch und stellte einen Servierwagen daneben ab. »Wir haben doch noch gar nicht bestellt«, wunderte sich Sue.
»Mit besten Empfehlungen des Hauses«, sagte Pedro, kniff seinem Großmeister verschwörerisch ein Auge zu und verschwand wieder. »Das ist bloß das übliche Essen für Angestellte«, scherzte Peter. Sue glaubte ihm kein Wort, aber sie ließ es sich schmecken. Peter wußte genau, wer hinter diesem Abendessen steckte. Mrs. Emily Applegast hatte in der Hotelküche gearbeitet, als wäre sie auf Sagon Manor. Sie hatte alles aufgefahren, was gut und teuer war, und die Schokoladencreme als Nachspeise fehlte auch nicht. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Sue, als sie endlich fertig waren. »So gut habe ich noch nie in einem Hotel gegessen.« »Das ist wirklich nur der Sonderservice für Hausangestellte«, wiederholte Peter und klärte sie auch jetzt nicht darüber auf, daß seine eigene Köchin speziell für ihn kochte. Er verschwieg ihr auch, weshalb diese Köchin überhaupt im Hotel war. »Machen wir noch einen – Spaziergang?« Sue schüttelte den Kopf. »Oh nein, Peter! Ich schaffe es gerade bis in unser Zimmer! Komm!« Sie wurden von einem scharfen, wachsamen Augenpaar beobachtet. Mrs. Applegast hatte sich mittlerweile so mit dem Hotel vertraut gemacht, daß sie sich ständig in der Nähe ihres Großmeisters und Schützlings aufhalten konnte, ohne daß er sie bemerkte. Hilfe von Sagon Manor hatte sie strikt abgelehnt, und Maud Orwell war froh darüber gewesen. So lange Peter mit dieser Sue zusammen war, zeigte sie sich lieber nicht in seiner Nähe. Es wäre ihr zu schwer gefallen, die Unbeteiligte zu spielen. Dafür fraß die Eifersucht zu heftig in ihr. »Ich möchte gern einmal beim Hochseefischen dabei sein«, sagte Sue irgendwann im Lauf der Nacht. »Hier gibt es kein Hochseefischen«, murmelte Peter schläfrig. »Aber ich habe selbst die Fischkutter gesehen, die morgens auslaufen und Leute mitnehmen«, wandte Sue ein. »Fährst du mit mir hinaus, Peter? Bitte, ich möchte so gern einen Tag auf See verbringen.«
»Ich habe einen Job«, murmelte er. »Job! Ich höre immer nur Job!« Sue drehte sich enttäuscht auf die Seite. »Ich bin dir völlig gleichgültig.« »Das darfst du nicht sagen«, widersprach Peter heftig und war sofort hellwach. Er rückte näher und legte zärtlich seinen Arm um das Mädchen. »Sue, ich mag dich sehr! Ich glaube, ich liebe dich sogar! Aber ich habe nun einmal die Aufgabe übernommen …« »Das Hotel und seine Gäste zu schützen, ich weiß«, vollendete sie für ihn den Satz. »Peter, es ist alles so enttäuschend. Wir haben nur noch knapp drei Wochen füreinander, danach trennen sich unsere Wege für immer. Ich werde dich bestimmt nicht wiedersehen, das weiß ich. Ich bin ja auch damit einverstanden, aber diese drei Wochen möchte ich mit dir verbringen. Was kann schon ein Tag auf dem Meer schaden?« »Und wenn ausgerechnet an diesem Tag etwas passiert?« wandte Peter ein. »Dieses Hotel steht, seit weiß ich wie vielen Jahren«, schmeichelte Sue. »Es steht noch immer! Wenn du einen Tag nicht hier bist, wird es nicht zusammenstürzen. Meinst du nicht auch?« Sie überzeugte ihn mit allen Mitteln, und im Morgengrauen hatte sie seine Einwilligung. »Also gut, fahren wir heute aufs Meer«, sagte Peter lächelnd. »Ehrlich gesagt, ich möchte es ja auch!« »Dieses ewige Pflichtbewußtsein bringt dich eines Tages noch um«, sagte Sue. »Aber jetzt müssen wir noch eine Weile schlafen, sonst haben wir nichts von unserem Ausflug. Ich möchte nicht, daß wir auf hoher See einschlafen.« Peter nickte, und im nächsten Moment fielen ihm die Augen zu.
* Die ganze Nacht schloß Alicia Winslow kein Auge. In den letzten
Tagen hatte sich so viel ereignet, daß sie nicht zur Ruhe kam. Irgendwann im Lauf der Nacht gestand sie sich endlich den wahren Grund für ihre Unruhe ein. Sie hatte sich in Aldo Torlato verliebt! So sehr sie sich dagegen wehrte, es war doch eine Tatsache. Sie und ihre Schwester Marthe hatten früh erkannt, daß ihr Leben nicht in normalen Bahnen verlaufen würde. Zogen sie von Sagon Manor weg, währen sie immer Zielscheibe für Angriffe der Schwarzmagier gewesen. Blieben sie auf Sagon Manor, konnten sie nur abgeschieden leben oder sich am Kampf gegen das Böse beteiligen. Diese Beteiligung hatte ihr Vater aus Sorge abgelehnt. Heirat? Das war nie in Betracht gekommen. Sie hätten ihren jeweiligen Ehemann mit in die Kämpfe gegen das Böse hineingezogen. Und gar Kinder … Diese scheinbar ausweglose Situation hatte Marthe zu einem entsetzlichen Schritt veranlaßt. Sie war in das Lager der Schwarzmagier übergewechselt. Seufzend starrte Alicia zur Decke. Marthe hatte mit ihrem Schritt etwas erreicht. Sie konnte sich immer und überall frei bewegen und brauchte keine Angst mehr vor heimtückischen Anschlägen zu haben. Weißmagier waren nicht heimtückisch. Sie stellten sich stets in einem offenen Kampf. Aber um welchen Preis hatte Marthe ihre scheinbare Freiheit erkauft! Sie war nun auf immer an das Böse gebunden, mußte dem Bösen dienen. Letztlich war sie nach wie vor eine Gefangene, nur jetzt eine Gefangene der Gegenseite. Aldo … Alicia sah sein Gesicht vor sich, als säße er an ihrem Bett. Und wieder seufzte sie tief auf. Es gab zwei Gründe, weshalb sie nicht über ihre Gefühle sprechen durfte.
Erstens die üblichen Gründe. Sie durfte ihn nicht in Gefahr bringen, indem sie ihn an sich band. Zweitens hatte er erst vor wenigen Tagen seine Freundin Jane verloren. Aus jedem seiner Worte hatte Alicia deutlich herausgehört, wie sehr er Jane geliebt hatte. Es wäre von Alicia mehr als geschmacklos gewesen, zu Aldo von Liebe zu sprechen. Sie hatten einander unter stürmischen, unter ungünstigen Vorzeichen kennengelernt. Eine Verbindung kam nicht in Frage, alles sprach dagegen. Als die Müdigkeit so groß wurde, daß Alicia fast schon einschlief, hörte sie leise Schritte im Haus. Sofort war sie auf den Beinen, schlüpfte in einen Morgenmantel und lief ins Treppenhaus. Mit einem Feind brauchte sie auf Sagon Manor nicht zu rechnen, höchstens mit einem gewöhnlichen Einbrecher. Und mit dem wäre sie schon ohne Waffen fertig geworden. Schwarzmagier und alle ihre Verbündeten konnten Sagon Manor nicht betreten. Es war aber auch kein gewöhnlicher Einbrecher, sondern Aldo. Er war vollständig angezogen und schleppte soeben sein Gepäck nach unten in die Halle. »Was soll das bedeuten?« fragte Alicia überrascht und hastete hinter ihm her. Aldo Torlato erschrak so heftig, daß er fast die Koffer fallen ließ. »Hast du mich erschreckt!« rief er unterdrückt und setzte sein Gepäck in der Halle ab. »Wieso schläfst du nicht, Alicia?« Sie blieb vor ihm stehen. »Hast du das Familiensilber geklaut, daß du dich so klammheimlich davonmachst?« fragte sie und versuchte, durch einen scherzhaften Ton ihre bittere Enttäuschung zu überspielen. Er sollte nicht merken, wie es in ihr aussah und wie sehr sie sein Weggang traf. Obwohl von Anfang an klar gewesen war, daß er einmal gehen würde!
»Alicia!« Er streckte ihr beide Hände entgegen und ergriff ihre Hände. »Alicia, ich danke dir für alles. Nicht nur dir, auch deinen Angehörigen. Ich kann mich jetzt nicht von ihnen verabschieden.« Sie fühlte den festen Druck seiner Hände und schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum gehst du eigentlich?« fragte sie. »Wir haben dich eingeladen, so lange zu bleiben, wie du willst. Du bist jederzeit auf Sagon Manor willkommen!« Aldo ließ sich nicht umstimmen. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Alicia, ich kann es dir nicht so genau erklären.« Er sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich habe in Brighton einen schönen Urlaub verleben wollen. Es ist reinster Horror geworden. Ich habe Entsetzliches gesehen. Dann habt ihr mich nach Sagon Manor geholt, und ich habe eine andere Welt kennengelernt. Eure Welt und die von Mortland.« Ein Lächeln geisterte über sein, eingefallenes Gesicht. »Du hast mir zwar eine Ohrfeige dafür gegeben, und was für eine! Aber ich bin trotzdem froh, daß ich nach Mortland gegangen bin. Ich habe jetzt mit eigenen Augen gesehen, was es alles gibt. Ich habe euch alle kennengelernt, und ich mag euch ohne Ausnahme.« »Dann verstehe ich erst recht nicht, weshalb du heimlich im Morgengrauen wegschleichst.« Alicia schüttelte den Kopf. Er ließ ihre Hände noch immer nicht los. »Ich habe in mein Zimmer eine kurze Notiz gelegt«, antwortete Aldo. »Darin schreibe ich, daß ich es nicht erklären kann und daß ich euch danke. Ich kann es wirklich nicht erklären. Ich muß erst mit mir ins Reine kommen, Alicia. Ich brauche Zeit. Verstehst du das? Sag ehrlich, ob du es begreifst! Ich brauche Abstand!« Sie nickte. »Ja, Aldo, ich verstehe es.« Er atmete erleichtert auf. »Ich habe ein Taxi gerufen. Es bringt mich zum Bahnhof. Ich fahre sofort nach London zurück.« »Melde dich«, bat sie.
»Ja, irgendwann«, versprach er. »Ich weiß noch nicht, wann! Ich brauche Zeit.« »Ja!« Sie nickte und nahm sich zusammen. Nur jetzt nicht zeigen, was sie dachte und fühlte. Ein Wagen fuhr vor Sagon Manor vor. »Dein Taxi.« Er zögerte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie lächelnd. »Der Fahrer kann nicht zur Gegenseite gehören, sonst wäre er nicht nach Sagon Manor gekommen. Er hätte an der Grenze eine sehr böse Überraschung erlebt.« »Gut!« Aldo lächelte verlegen. Er schien noch etwas sagen oder tun zu wollen, gab jedoch abrupt ihre Hände frei, packte seine Koffer und hastete ins Freie. Alicia lehnte im Türrahmen, während Aldo zusammen mit dem Fahrer das Gepäck im Wagen verstaute. Der Fahrer setzte sich ans Steuer. Aldo blieb noch einen Moment neben dem Wagen stehen. Er blickte unverwandt zu Alicia. Und sie sah unverwandt zu ihm hinüber. Endlich gab er sich einen Ruck und stieg ein. Die Tür schlug zu, und der Wagen fuhr an. Sie wollte winken, aber sie schlang die Arme fest um ihren Körper, als friere sie. Die roten Rücklichter des Taxis verschwanden rasch im Morgennebel. Der Nebel schluckte auch die Motorengeräusche. Es war auf einmal sehr still auf Sagon Manor. Alicia ging in ihr Zimmer zurück, legte sich in ihr Bett und starrte wieder zur Decke. So einsam wie an diesem Morgen hatte sie sich noch nie gefühlt.
*
»Peter, aufwachen!« Sues weiche Lippen glitten über sein Gesicht. Als er nicht gleich reagierte, pustete sie ihm in die Nase. Er wandte sich brummend ab, aber sie setzte ihr Spiel lachend fort, bis er die Nase kraus zog und niesen mußte. Davon erwachte er endlich. »Guten Morgen«, sagte Sue fröhlich. »aufstehen! Die See ruft!« »Um alles in der Welt, ich fühle mich müde, als hätte ich nur zwei Stunden geschlafen!« jammerte Peter, der alles andere als ein Frühaufsteher war. »Kein Wunder, Peter, du hast nur zwei Stunden geschlafen«, erwiderte Sue fröhlich. »Komm, eine kalte Dusche bringt dich auf die Beine!« »Kalte Dusche?« rief er entsetzt. »Ich bin ein verwöhnter Millionärssohn, der nur warm duscht! Kaltes Wasser würde mich umbringen! Schauerlicher Gedanke!« Sue trieb ihn lachend aus dem Bett und ins Bad und war schneller als er fertig. Als er aus der Duschkabine kam, stand schon ein reichliches Frühstück auf dem Tisch. »Roomservice«, sagte Sue strahlend. »Ich mag das Seafarer von Tag zu Tag mehr!« Peter nickte nur und setzte sich schweigend an den Tisch. Er mußte sich Mühe geben, daß ihm nicht die Augen zufielen. Nach dem Frühstück, das sie in tiefster Stille in sich hineinschlangen, zogen sie sich entsprechend an. Sie schlüpften in Ölzeug und Stiefel und lachten über die Südwester, die ihnen komisch standen. »Du bist in diesem Zeug eine absolute Schönheit«, zog Peter Sue auf. »Hätte ich dich am ersten Abend in diesen Klamotten gesehen, wäre ich vor dir davongelaufen«, versicherte Sue. »Das bist du ja auch«, konterte er grinsend. »Aber nicht wegen deines Aussehens.« Sie pfiff anerkennend. »Ich dachte noch, warum müssen meine
Verfolger so teuflisch gut aussehen! Hast du eine Ahnung, wie froh ich war, daß du mir geholfen hast.« »Ich habe es gemerkt!« Peter gab ihr einen langen Kuß, ehe sie sich endlich auf den Weg machten. Der junge Großmeister hatte das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, und einmal meinte er sogar, ein rundes Gesicht mit dicken Hamsterbacken hinter einem Pfeiler zu entdecken, aber als er nachsah, war da niemand. Sie traten vor das Hotel und rangen nach Luft. Eiskalter, feuchter Wind sprang ihnen entgegen. »Hoffentlich fährt der Fischkutter bei diesem Wetter überhaupt aus dem Hafen!« rief Peter. »Ich habe den Wetterbericht gehört«, versicherte Sue. »Es wird heute schön! Und der Kutter läuft auf jeden Fall aus!« Peter lief mit ihr zum Fischerhafen. Noch immer glaubte er sich beobachtet, ohne einen Verfolger zu bemerken. »Das ist das Schiff!« sagte Sue und deutete auf ein dunkelgraues Boot. Es gefiel Peter nicht. Es hatte etwas Unheimliches an sich. Aber er rief sich zur Ordnung. Nur weil er einen ungewöhnlichen Job hatte, durfte er nicht alles daran messen. »Wo ist die Mannschaft?« fragte er. Wie auf Stichwort erschienen acht Männer an Deck. Sie trugen alle schwarzes Ölzeug und winkten Sue und Peter zu. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Sue. »Komm!« Die Männer an Bord des Kutters trugen schwarze Südwester, die tief in die Gesichter hingen. Sie arbeiteten unbeirrt weiter, als ihre Passagiere an Bord gingen. Peter vermißte etwas, ohne sagen zu können, was es war. »Ach, du liebe Zeit!« rief Sue. »Ich habe meine Tasche im Hotel vergessen!« »Brauchst du sie denn?« fragte Peter und hielt sich an der Reling
fest. »Unbedingt!« Sue wandte sich an die Fischer. »Kann ich noch einmal zum Hotel zurück?« Einer der Fischer nickte und arbeitete weiter an seinem Netz. »Ich bin gleich wieder hier, Darling! Sie lassen inzwischen den Motor warmlaufen!« Sue hauchte ihm einen Kuß auf die kalten Lippen und sprang von Bord. Irgend etwas vermißte Peter! Er kam nicht dahinter, was es war! Und plötzlich sah er seinen Verfolger. Es war eine Verfolgerin, und sie trug einen weiten, fast bodenlangen wetterfesten Mantel. Mrs. Emily Applegast, die Köchin von Sagon Manor. Sie stand auf der Promenade und versuchte, sich hinter einem Baum zu verstecken. Peter grinste. Bei ihrer Leibesfülle gab es nur wenige Bäume in Großbritannien, die sie verbargen. Sue Fenn lief leichtfüßig auf die Uferpromenade zu. Der Motor des Kutters brummte auf vollen Touren. Der Mann am Steuer fuhr ihn hoch. Das Boot hing nur an einem einzigen Tau, um jederzeit ablegen zu können. Sue verschwand hinter Büschen, die in einer kleinen Parkanlage wuchsen. Es war der kürzeste Weg zum Hotel. Danach konnte Peter sie nicht mehr sehen. Ihre schlanke Gestalt, die durch das Ölzeug plump wirkte, blieb außer Sicht. Mrs. Applegast rührte sich nicht hinter ihrem Baum. Peter fragte sich, ob sie ihm auch auf hohe See folgen würde. Er war neugierig, wie sie das anstellte. Sie war schon eine treue Seele, dachte er. Und er überlegte, was ihm an diesem Schiff so ungemein fehlte! Er wartete ungeduldig auf Sues Rückkehr. Ohne sie machte es ihm
an Bord des Fischkutters keinen Spaß. Fischkutter … Es hatte etwas damit zu tun! Etwas fehlte! Da tauchte Sue wieder aus der Parkanlage auf. Peter atmete erleichtert auf. Er war sich ohne Sue entsetzlich allein vorgekommen. Sie winkte schon von weitem. Das Ölzeug ließ sie bestimmt nicht so schlank und grazil erscheinen, wie sie wirklich war. Peter lächelte. Dieses Mädchen war ihm toll unter die Haut gegangen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie wieder abreisen würde. Da kam auf einmal Leben in Mrs. Applegast. Sie löste sich von dem Baum und rannte los. Niemand hätte ihr bei ihrer Leibesfülle eine solche Gewandtheit und Geschwindigkeit zugetraut. »Vorsicht, Peter!« schrie sie dabei. »Falle!« Sie rannte nicht auf den Fischerkai zu, sondern auf die Parkanlage, in der Sue verschwunden und aus der sie wieder aufgetaucht war. Sue war schon dicht am Kutter. Jetzt blieb sie stehen. Im selben Moment wußte Peter, was ihm an Bord dieses Fischkutters fehlte. Fischgeruch! Es roch nicht im geringsten nach Fisch! In die Besatzung des Kutters kam Leben. Sie schleuderten das Ölzeug von sich. »Mortland, ahoi!« schrien sie. Peter starrte auf die Skelette, die sich bisher unter dem Ölzeug verborgen hatten. Sie griffen sofort an. Auch Sue Fenn am Kai streifte das Ölzeug ab. Ihr Anblick ließ Peters Blut in den Adern erstarren. Vor ihm stand am Kai ein mit schwarzen Schuppen bedeckter Dämon, nach Pech und Schwefel stinkend, die rotglühenden Augen haßerfüllt auf Peter gerichtet. Ohne Mrs. Applegasts Warnung wäre er verloren gewesen. Er wäre ahnungslos auf diesem Satanskutter aus dem Hafen gefahren, und draußen auf hoher See hätte er gegen diese Bestien keine Chan-
ce gehabt! So aber triumphierten seine Feinde zu früh! Gerade als sich der Dämon an Bord schwang, riß Peter ein Fläschchen mit weißmagischem Öl aus der Tasche, schraubte den Verschluß ab und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. Er hielt die Flamme an die Öffnung. Dann warf er die Flasche. Sie wirkte wie ein Brandsatz, platzte beim Aufprall und hüllte den Kutter in brüllende Flammen. Peter war zu diesem Zeitpunkt schon tief im Hafenwasser untergetaucht. Es war kein richtiges Feuer, sondern eine weißmagische Entladung. Sie zeigte sich nur dem Betrachter als Flammenhölle, die den Kutter mitsamt seiner schaurigen Besatzung verzehrte. Innerhalb weniger Sekunden war nichts als ein glosendes Gerippe von der Falle übrig. Peter kletterte an Land. Noch war niemand auf den Zwischenfall aufmerksam geworden. Zitternd und frierend und triefend stieg er zur Uferpromenade hinauf und blieb betroffen stehen. Unten im Hafenbecken lösten sich die allerletzten Überreste der Falle auf. Und vor ihm stand Mrs. Applegast. In ihrem eisernen Griff hielt sie – Sue. »Ich war zum Glück nicht verliebt, Sir«, sagte die Köchin und Mitglied des Ordens. »Ich habe die Augen offen gehalten. Dieses nette Mädchen hier lief in den Park und versteckte sich hinter den Büschen. Und nach einer gewissen Zeit kam sie scheinbar wieder hervor, aber da war es dieses schwarze Schuppenmonster. Und Sue, die Helferin der Gegenseite, wollte im Park seelenruhig abwarten, bis der Großmeister mit der Mörderbesatzung auf dem schwarzmagischen Kutter ausgelaufen war. Ist es nicht so, mein liebes Kind?« Sue nickte. In ihren schwarzen Augen schimmerten Tränen. »Ich weiß«, sagt sie mit erstickter Stimme, »daß mir niemand mehr glauben wird. Ja, ich bin Schwarzmagierin und hatte den Auftrag,
den Großmeister in eine Falle zu locken. Zum Schein wurde ich am Strand gejagt. Ich sollte den Großmeister in mich verliebt machen und zu dieser Kutterfahrt überreden. Es wäre eine todsichere Falle gewesen.« »Allerdings«, bestätigte Mrs. Applegast grimmig. Peter stand wie betäubt vor Sue. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er dachte an die gemeinsamen Stunden. »Aber dann verliebte ich mich tatsächlich in dich, Peter«, fuhr Sue Fenn leise fort. »Das war nicht eingeplant. Ich wollte dich warnen, aber ich konnte es nicht. Sie hätten mich sofort umgebracht.« »Lieber hast du zugelassen, daß sie Peter umbringen«, schimpfte Mrs. Applegast. »Ich war zu feige, um die Wahrheit zu sagen«, gestand Sue. »Ich nehme jede Strafe auf mich.« Sie streckte Peter die Hände entgegen. »Aber glaube mir, ich habe dich wirklich geliebt.« Peter schluckte schwer. »Lassen Sie sie gehen, Mrs. Applegast«, sagte er rauh. »Was?« rief die Köchin fassungslos. »Dieses Miststück wollte Sie in den Tod schicken, Sir!« »Lassen Sie Sue gehen«, befahl Peter Winslow. »Sie soll gehen und nie wiederkommen!« Sue lächelte traurig. »Danke, Peter! Du glaubst mir! Danke, ich werde …« Sie konnte nicht weitersprechen. Ihre Gestalt verschwamm plötzlich, wurde durchscheinend, dann durchsichtig, dann unsichtbar. Im selben Moment zitterte über die Strandpromenade Sues Schrei aus unendlichen Fernen … Mrs. Applegast wollte den jungen Großmeister stützen, als der letzte Blutstropfen aus seinem Gesicht wich. Doch Peter schob sie schroff von sich. »Gehen wir!« sagte er erstickt. Die Köchin hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Vor dem Seafarer Hotel stieg er in seinen Wagen. Mrs. Applegast kletterte schwerfällig auf den Nebensitz. Peter startete soeben den Wagen, als Mr. Chapper aus dem Hotel kam. »Sir! Sir!« rief er. »Man hat soeben unten am Strand eine Frauenleiche gefunden! Wollen Sie …!« Peter hörte nicht weiter hin. Er gab Gas und schlug die Straße nach Sagon Manor ein. Mrs. Applegast saß schweigend neben ihm. »Danke«, sagte er, als sie die Dünen erreichten. »Sie haben mir das Leben gerettet, Mrs. Applegast.« Sie winkte müde ab. »Schon gut, mein Junge, schon gut«, murmelte sie. »Ich wollte, es wäre anders ausgegangen.« Plötzlich konnte Peter Winslow nicht mehr. Er trat hart auf die Bremse und würgte den Motor ab. Mrs. Winslow nahm ihn mütterlich in ihre Arme. Sie sprach nie darüber, was sie in diesen Minuten sah und hörte. ENDE
Im Niemandsland des Bösen von A. F. Morland Ein rotes, pulsierendes Leuchten kündigte das Grauen an. Dann schälten sich monströse, ghoulartige Wesen aus dem wabernden Dunst. Und eine hochgewachsene, furchteinflößende Gestalt: Mago, der Schwarzmagier. Der Jäger der abtrünnigen Hexen. Ein Höllenwesen, mit unvorstellbarer Macht ausgerüstet. Was er hier in London suchte, war klar: Er wollte Roxane, die weiße Hexe und Mr. Silvers Freundin, bestrafen. Alles, was sich ihm in den Weg stellte, verwandelte er in lebende Skelette. Und so griff das Grauen bereits um sich, bevor Mago Roxane überhaupt gefunden hatte …