Altan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 3
Die Savannenreiter von Vinara von Michael Marcus
Im März 1925 Neuer Galaktischer...
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Altan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 3
Die Savannenreiter von Vinara von Michael Marcus
Im März 1925 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können … Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara IV. Dort treffen sie auf Eingeborene, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird ge-
rettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Doch diesem System droht eine vernichtende Katastrophe – und die Menschen müssen um ihr Überleben kämpfen …
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Michael Marcus
Prolog Die Gebisse der Echsen schnappten auf und zu. Langsam kamen die Raubsaurier näher. Der milde Wind trug Übelkeit erregenden Gestank heran. Jorge Javales, mein letzter Begleiter, war heftig atmend auf die Knie gesunken. Er zitterte am ganzen Leib. Der kleine Mann konnte mir keine Unterstützung bieten. Eher war er eine Belastung. Doch gegen die Echsen, die den Raptoren der irdischen Kreidezeit ähnelten, hätte ohnehin nur ein Haluter mit dem Gardemaß eines Icho Tolot helfen können. Die zweieinhalb Meter langen Monster tänzelten auf ihren muskulösen Laufbeinen vor und gleich wieder zurück. Mehr als ein Dutzend der Raubsaurier hatten uns eingekreist. Sie waren ganz offensichtlich Herdentiere, die ihre Angriffe aufeinander abstimmten. Ich drehte mich rasch um. Ein faustgroßer Stein, kräftig in Richtung des frechsten Tieres geworfen, prallte von einem Felsbrocken ab und erzeugte ein lautes Klackern. Die Raptoren zuckten und sprangen trotz ihrer körperlichen Überlegenheit zurück. Sie hatten Respekt! Sie mussten also Zweibeinern wie uns bereits einmal begegnet sein. Ich begann, leise Hoffnung zu hegen …
* Es geschah in einer Zeit, namenlos und äonenweit zurückliegend. Sardaengar, der Dunkle, kam über Litrak, den Ewigen. Kein Sterblicher vermag sich auszumalen, mit welchen Urgewalten der Kampf geführt wurde. Sturmfluten wüteten gegen Feuersbrünste, Orkane gegen Felsgestein. Kraft wurde gegen Schläue eingesetzt, Tugend gegen Verführung, heiße Wut gegen kühle Berechnung. Sardaengar schleuderte schließlich Ster-
ne, die einstmals das Firmament erhellten, in Richtung seines Gegners. Litrak hingegen knackte Planeten wie Nussschalen, schluckte sie und spuckte feurige Lohen auf Sardaengar. Mit einem Mal aber hielt der Ewige Litrak inne, verwirrt und orientierungslos. Denn der Dunkle Sardaengar setzte seine letzte, seine heimtückischste Waffe ein: Er erweckte im Herzen Litraks Zweifel. Zweifel daran, das Richtige zu tun. Nur für einen kurzen Moment war der Ewige abgelenkt im Widerstreit mit sich selbst. Doch dieser Augenblick reichte. Sardaengar umfasste seinen Gegner, zerdrückte ihm den Leib – und besiegte ihn. Töten konnte er den Ewigen jedoch nicht – schließlich war dieser ein Unsterblicher. Und hieß es nicht, dass alles Leben auf Vinara und den anderen Spiegelwelten sterben würde, wenn Litrak eines Tages endet? (Aus den Schatzwolken der Afalharo, gedeutet von der Fetten Dendia)
1. Atlan, 19. März 1225 NGZ »Steh auf, Jorge!«, sagte ich so beherrscht und ruhig wie möglich. »Wir müssen uns Rücken an Rücken stellen. Sonst haben wir keine Chance.« Der hagere Archivar der TOSOMA blickte mich verständnislos an. Er rührte sich keinen Millimeter. Der Schock saß tief. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Die gedankenschnellen Bewegungen, die glühenden Augen, die fürchterlichen Zähne der Raubsaurier – all das weckte eine Urangst in Mensch und Arkonide. »Hoch mit dir!«, schrie ich Jorge an. Ich schleuderte mehrere Steine in alle Himmelsrichtungen. Diesmal ließen sich die Raptoren nicht mehr beeindrucken. Sie engten unseren Handlungskreis weiter ein. Langsam, wie betäubt stand Jorge Javales auf. Ich verabreichte ihm eine klatschende
Die Savannenreiter von Vinara Ohrfeige. Die Behandlung zeigte Erfolg: Als ich ihm zwei der überall umherliegenden Steine in die Hand drückte, ließ er sie nicht fallen. »Reiß dich zusammen, Terraner! Beweise den Stolz, von dem du dauernd sprichst!« Ein Ruck ging durch Jorges ausgemergelten Körper. Endlich reagierte er und wandte mir mit erhobenem Wurfarm den Rücken zu. Ein Laut ertönte; ein Ton, der zwischen Schnalzen und Gurgeln lag. Ich suchte den Verursacher des Geräusches. Es war der größte der Raptoren. Er musterte mich aus Augen, denen ich eine heimtückische Schläue zuschrieb. Dies war der Führer des Rudels! Fast generalstabsmäßig ordnete er durch Schwanzklopfen und Lautfolgen seine Truppen. Wie auf Befehl sprangen die anderen Saurier hin und her, vor und zurück. Es war keine bewusste Intelligenz, die aus seinen Handlungen sprach. Er nutzte schlicht das Recht und die Erfahrungswerte des Stärksten. Wenn du ihn ausschalten könntest, wäre euer Problem schon halb gelöst, meldete sich mein Extrasinn. Mit aller Wucht schleuderte ich den größten Gesteinsbrocken, dessen ich habhaft werden konnte. Und ich traf! Mitten auf die Nüstern des Alpha-Tiers; mit hoher Wahrscheinlichkeit eine der empfindlichsten Stellen seines Körpers. Die Reaktion war gleich null. Unwillig schnaubte der Raptor, schüttelte seinen hässlichen Schädel und gab erneut zischende und klappernde Kommandos. Die Berechnung, mit der dieses widerwärtige Vieh agierte, hätte mich in einer anderen Situation wohl beeindruckt … »Siehst du die Felswand dort hinten, schräg links?«, fragte ich Jorge. Er murmelte ein, mutloses »Ja!« »Wir bewegen uns langsam darauf zu. Nahe aneinander bleiben, nicht mehr als zwei Meter Abstand zueinander, Rücken an Rücken. Die Felsvorsprünge geben uns ein
5 wenig Deckung, und mit etwas Glück finden wir eine Möglichkeit zum Aufstieg – oder eine Höhle …« »Du weißt selbst, dass es sinnlos ist, Atlan«, unterbrach mich Jorge mit monotoner Stimme. Wie zur Bestätigung brach einer der Raptoren nach vorne aus, wischte mit dem Vorderpaar seiner Extremitäten zischend durch die Luft. Es war ein bloßer Reflex, der mich ausweichen ließ. Ich warf mich einfach auf die Seite. Gleichzeitig schleuderte ich einen weiteren Steinbrocken gegen den für einen Moment ungedeckten Unterbauch des Monsters. Quietschend und zornig zog sich der Saurier zurück. Aber nur wenige Schritte. Keuchend rappelte ich mich hoch. Jorge in meinem Rücken hatte erst jetzt mitbekommen, was sich hinter ihm tat. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Rudelführer zu. Er stand schräg vor mir, vielleicht dreißig Meter entfernt. Sein muskulöser Schweif klopfte provokant auf den Boden. Er urinierte mit kräftigem, dunkelgelbem Strahl. Der Rudelführer steckte sein Gebiet ab. Im Halbkreis wanderte er dabei hin und her. Seht, diese zwei lächerlichen Figuren sind mein Abendimbiss, mochte er damit sagen. Und ich hätte schwören können, dass er mich auslachte. Er verhöhnte uns, wollte eine unüberlegte Reaktion herbeiführen, um jede Gefahr für sich und seine Gruppe weiter zu reduzieren. »Den Gefallen tu ich dir nicht«, sagte ich leise. Und, etwas lauter, in Jorges Richtung: »Wir fangen jetzt an, uns zur Felswand hin zu bewegen. Hast du mich verstanden?« Ich interpretierte sein Gestammel als Zustimmung und machte einen kleinen Schritt beiseite. Fünfzig Meter trennten uns von der bescheidenen Deckung, die unsere Aussichten um ein paar Promille erhöhen mochte. Der Anführer der Saurier ließ uns nicht den Hauch einer Chance. Mit einem lang gezogenen Laut gab er den Befehl zum An-
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griff. Vierzehn Muskelpakete auf Beinen stürmten auf uns zu …
2. Lethem, 19. März 1225 NGZ Lethem da Vokoban zwirbelte nervös die Enden seines Schnurrbartes, während er mit langsamen Schritten die bescheidene Residenz der Maghalata verließ. Er hatte sein Bestes gegeben, um Kythara, die wie eine Heilige verehrt wurde, zu überzeugen, eine Expedition auszurüsten. Eine Expedition, um Atlan zu suchen. Lethem wusste, dass der unsterbliche Arkonide wie die Crew der TOSOMA auf einer der fünf Spiegelwelten Vinaras gestrandet war. Sie hatten Transmitteremissionen an Bord der Vergessenen Positronik angemessen. Und nur wenige Augenblicke später einen weiteren Impuls auf einem der fünf nahezu identischen Planeten. Dies war Atlan gewesen, er musste es gewesen sein! Doch Kythara hatte sich ebenso wenig von der Notwendigkeit dieser Expedition überzeugen lassen wie ihre Ratgeber, Freunde und Begleiter Ondaix und Enaa von Amenonter. Die Frau hatte sie gegängelt, falsche Hoffnungen auf Hilfestellung erweckt – und sie ihnen schließlich verweigert. Warum? Lethem vermochte es nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er gescheitert war. Während seiner Ausbildung war er auf vieles vorbereitet worden, und er hatte stets gewusst, wie man ungewöhnliche Situationen richtig einzuschätzen hatte. Doch was ihm und der gesamten Besatzung der TOSOMA widerfahren war, hatte noch in keinem Regelbuch interstellarer Raumfahrt Eingang gefunden. Das Fatale war, dass er nach dem Ausfall der meisten Führungskräfte nominell Ranghöchster der Schiffsbesatzung war. Die Last ruhte auf ihm, und er begann sie zu spüren. Ranghöchster welchen Schiffes?, fragte er
sich und zog unwillkürlich die Stirn in Falten. Die TOSOMA liegt auf einem Raumschiffsfriedhof, unerreichbar weit entfernt. Lethem blickte nach oben. Der riesig wirkende Kristallmond beherrschte den abendlichen Himmel. Immer wieder kollidierten Ausbrecher aus dem Band, das von der Besatzung der TOSOMA längst Obsidian-Ring getauft worden war, mit dem Begleiter des Planeten. Feuer leuchteten auf einmal auf. Feuer, die Ängste in ihm weckten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis größere Gesteinsbrocken aus Obsidian auch Vinara erschüttern würden. Lethem wagte nicht, länger darüber nachzudenken. Die Stadt Viinghodor breitete sich zu seinen Füßen aus. Hier oben, auf der achten und höchsten Terrassenstufe der sonderbaren Metropole, hatte er einen atemberaubenden Blick hinab auf das Meer – und die vielschichtigen Gebäudekomplexe dazwischen. Tranige Fackeln erhellten Viinghodor. Sie sorgten zugleich für Rauchschwaden, die landwärts wehten, und für ungewohnten Gestank. »Beeindruckend, nicht wahr?« Lethem zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. Der Überschwere stand hinter ihm. Umrin Zeles Barbinor. Einer der Vertrauten der Ehrwürdigen Heiligen, wie die attraktive Varganin namens Kythara von großen Teilen der vieltausendköpfigen Stadtbevölkerung ehrfurchtsvoll gerufen wurde. Maghalata war das Wort für ihren Ehrentitel im hiesigen Jargon. Eine Pause entstand, während der Lethem den breiten und schweren Koloss unverhohlen musterte. Umrin brach schließlich das Schweigen: »Was siehst du, wenn du auf die Stadt hinabblickst?« »Ich sehe eigentlich nichts«, gestand Lethem, »sondern ich suche.« »Und wonach suchst du?« Der Überschwere öffnete einen leinenen Sack und
Die Savannenreiter von Vinara zog vorsichtig eine Lyra hervor. Sie war aus dunklem, geöltem Holz. Die ungefähr zwanzig straff gespannten Saiten glänzten hellrot im kristallenen Licht des Mondes. »Ich forsche nach Wegen, Viinghodor zu verlassen. Nach einem Weg, der uns nach Hause führt. Und der uns hilft, unsere verschollenen Gefährten zu finden.« Scheinbar gedankenverloren fuhr der kompakt und gedrungen gebaute Mann über sein Instrument. Die dicken, kurzen Finger zeigten dabei eine außerordentliche Geschmeidigkeit. Geschickt entlockte der Barde der Lyra einige Akkorde, die Lethem ein wenig an heimatliche Volksklänge erinnerten. »Nur wer mit ganzem Herzen sucht, der findet«, interpretierte Umrin mit wohlklingendem Bass, »manches Ziel lässt sich nur unter größten Opfern erreichen.« »Was meinst du damit?«, fragte Lethem misstrauisch. Er tat sich schwer mit Überschweren. Ihre weit zurückreichende Geschichte war von unsäglichen Gewalttaten, Verrat und Betrug gekennzeichnet. »Nichts Besonderes«, entgegnete Umrin. »Ich summe und brumme bloß vor mich hin. Immer auf der Suche nach einem neuen Lied, tatimm, tatamm.« »Ist es Zufall, dass du mir gefolgt bist?« Lethem drehte sich erneut um. Unweit von seinem Aussichtspunkt, auf der siebten Stufe, vielleicht einhundert Meter weiter unten, fand auf einem kleinen, runden Plätzchen ein Fest statt. Wesen jeglicher Couleur feierten dort ausgelassen, tanzten um ein großes Feuer. Schrien, lachten, sangen. Sie hatten keine Ahnung von der Gefahr, die ihnen drohte. Oder sie wollten nichts davon wissen. »Keinesfalls«, entgegnete Umrin Zeles Barbinor so spät, dass Lethem die Frage fast vergessen hatte. Der Barde lebte offensichtlich in einer eigenen, von Musik und Gesang gesteuerten Welt. Zeit schien für ihn eine andere Bedeutung zu besitzen. »Also, warum bist du hier?«, fragte
7 Lethem ungeduldig nach. »Weil die Maghalata darauf bestanden hat.« Diesmal kam die Antwort rasch. »Sie will, dass ich euch bei euren Nachforschungen in Viinghodor helfe und mit Rat und Tat beiseite stehe.« Gut. Sie hatten sich also einen Spion eingefangen.
3. Atlan, 19. März 1225 NGZ Drei der Raptoren fielen nahezu gleichzeitig mit lang gezogenen Schmerzensschreien zu Boden. Schwung und Masse rissen sie nach vorne, nahe an uns heran. Während die anderen Tiere abbremsten und sich irritiert umblickten, schnappten die verwundeten Saurier selbst im Todeskampf noch nach uns. Ich riss Jorge mit mir, raus aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Was war passiert? Wer half uns? Egal. Wir mussten die Chance nutzen, bevor sich die Raptoren wieder an uns erinnerten. Ich sprintete los und zerrte dabei den Terraner mit mir in Richtung der Felswand. Eine kleine Lücke im Rund der Angreifer war entstanden – und ich war wild entschlossen, diese Chance zu nutzen. Ein weiterer Schmerzensschrei ertönte, und noch ein Saurier wälzte sich wild mit dem Schwanz peitschend im Sand. »Sieh nur!«, stammelte Jorge. »Käfer!« Er deutete nach rechts. Ich hatte keine Augen für die Schockfantasien des kleinen Mannes. Wo war der große Velociraptor? Das Alpha-Tier? Da stand er. Unweit von uns. Er hatte den Kopf schief gelegt und blickte uns, seine kleinen Leckerbissen, scheinbar abwägend an. Waren wir ihm weitere Opfer seiner Herde wert? Nein! Er riss das Maul auf, klackerte und fauchte kurz, wandte sich dann ab. Mit weiten Sprungschritten hetzte er davon, gefolgt von den übrigen Sauriern. Ein weiteres Tier, bereits das fünfte, blieb zurück. Während es fiel, erkannte ich lange, schwere Pfeile, die
8 aus dem weichen Bauch des Monsters ragten. Bogen- oder Armbrustschützen waren es also, die uns geholfen hatten! Ich wagte nicht, den Blick von den Raubsauriern abzuwenden, bevor sie nicht hinter der Felswand verschwunden waren. Das Beben der Erde, ausgelöst vom Gewicht der Flüchtenden, ließ nach. Langsam setzte sich die Staubwolke. Ich hustete und spuckte trockenen Schleim. Endlich wagte ich, in dieselbe Richtung zu blicken, in die der Archivar starrte. Er hatte Recht gehabt. Es waren Käfer, die uns zu Hilfe gekommen waren. Drei Meter lange, dem irdischen Hirschkäfer nicht unähnliche Tiere stampften uns entgegen. Die Länge ihrer Geweihe, also ihrer Kiefer, schwankte zwischen einem halben bis eineinhalb Meter. Sie bewegten sich grazil, ja geradezu vorsichtig, und das hatte einen Grund. Auf ihnen saßen humanoide Wesen! Sie schützten sich mit Baldachinen aus Chitinpanzern vor der starken Sonne. Ich wischte mir Tränen der Erregung aus den Augenwinkeln. Es war unser erstes Aufeinandertreffen mit vernunftbegabten Lebewesen dieses Planeten, auf den es uns verschlagen hatte. Auch wenn ich solche Situationen wie diese hier schon hundertfach erlebt hatte, waren Erstbegegnungen mit Angehörigen fremder Rassen immer wieder spannend. Zumal wir erneut eingekreist und misstrauisch begutachtet wurden. Diese Wesen richteten ihre langen Armbrüste, deren Bolzenspitzen grünlich glänzten und mich an Giftextrakte erinnerten, auf Jorge und mich. Ich überwand den Schrecken. Die Raubsaurier waren bereits Vergangenheit. Ich musste den kleingewachsenen Humanoiden mit der dunklen, pergamentenen Haut einen Grund geben, ihre Waffen zu senken. Also hob ich langsam und vorsichtig beide Arme und kehrte die leeren Handflächen nach außen. »Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung«, sagte ich mit fester Stimme. »Vielen Dank
Michael Marcus für die freundliche Unterstützung. Ich bin froh darüber, dass ihr uns gegen die Saurier zu Hilfe gekommen seid.« Es spielte keine Rolle, was ich sagte, sondern wie ich es sagte. Dies war eines der wichtigsten Prinzipien eines Erstkontaktes. Nur keine hastigen Bewegungen, nur nicht zu rasch sprechen. Mit meinem selbstbewussten Auftreten war ich bisher immer gut gefahren. Der Staub hatte sich mittlerweile gelegt. Die riesigen Käfer waren zum Stillstand gekommen. Ihre Mandibeln klapperten aufeinander, doch sonst hatten die kleinen Reiter ihre Transporttiere vollends unter Kontrolle. Es waren insgesamt neun Tiere. Drei von ihnen waren Tragetiere, angehäuft mit leinenen Bahnen, Körben, Wassersäcken und sonstigen Ausrüstungsgegenständen. Ein Ruf erschallte. Seltsam hoch und zitternd. Sofort wurden die Armbrüste gesenkt. Nur die beiden Hirschkäfer ganz in unserer Nähe bewegten ihre überdimensionalen Geweihe bedrohlich hin und her. Jorge neben mir stöhnte leise. »Auf Terra sind diese Viecher ein wenig kleiner«, meinte er. Immerhin. Er hatte zu seinem etwas spröden Humor zurückgefunden. Zwischen den Käfern tat sich etwas. Die Reiter waren von ihren Tieren herabgerutscht und näherten sich uns vorsichtig. Sie wollen euch nichts tun. Sie hätten Jorge und dich schon längst töten können, meinte der Extrasinn mit unbestechlicher Logik. Natürlich hatte er Recht. Aber ich hatte im Laufe meines langen Lebens bereits so viele Überraschungen erlebt, dass ich gut daran tat, misstrauisch zu bleiben. »Siob el Afalharo, ben Gamondio«, sagte der vorderste Mann. Für die anderen seiner Gruppe wirkte er zweifellos übergroß und stattlich. Die Artgenossen in seinem Gefolge waren kleiner und schmaler gebaut; abgesehen vielleicht von dem einen schwerfälligen Wesen im Hintergrund, das ich unwillkürlich als weiblich
Die Savannenreiter von Vinara einschätzte. Alle waren sie nicht größer als 1,70 Meter. Straff gebundene, dunkelgrüne Burnusse bedeckten ihre großen Köpfe. Aus ihren Gesichtern stachen purpurviolette Augen hervor. Sie kauten getrocknete Riegel und spuckten alle paar Sekunden bräunlichen Saft auf die staubige Erde. Ihre Arme waren überlang, die Beine hingegen etwas zu kurz geraten, um als Arkoniden oder Terraner durchzugehen. Die Haut, gegerbt von Wind und Wetter, wirkte an manchen Stellen dunkel, fast schwarz. Ihre Stimmen waren ungewöhnlich schrill. Es schien, als wären ihre Lungen mit Helium gefüllt. »Gamondio«, sagte der größte Mann erneut. Dies war wohl sein Name. Immer wieder sprach er ihn aus und deutete mit den langen Fingern auf seinen Oberkörper. So unbedeutend kleine Gesten auch sein konnten – sie sagten mir viel. Zum Beispiel, dass Gamondio und die Seinen schon Kontakt zu anderen Wesen und zu anderen Rassen gehabt haben mussten. Er agierte bestimmt und selbstbewusst und wusste genau, was er zu tun hatte, um zu einer schnellen Verständigung zu gelangen. Jorge Javales kratzte sich am schütteren Haarschopf. »Kommt dir diese Sprache nicht irgendwie bekannt vor?«, überlegte er. Die dünnen Stimmen machten es schwer, einzelne Wörter herauszufiltern. Doch … Moment! Bei genauem Hinhören konnte ich Wortstämme und Silben erkennen, die eindeutig dem Interkosmo zuzurechnen waren. Dazwischen Wortfetzen sowie grammatikalische Konstruktionen, die auf einen arkonidischen Dialekt schließen ließen. Und schließlich … lemurische Stammsilben! Das Leben bot immer wieder Überraschungen. Sie nannten sich Afalharo vom Stamm der Tulig. Der Planet, auf dem sie lebten, hieß Vinara. Vinara. Ich hatte das Wort schon einmal gehört. In meinen Visionen, die mich während der endlos langen Materialisation auf diesem merkwürdigen Planeten geplagt hat-
9 ten. Ich folgte konzentriert den Ausführungen der Männer. Sie waren Savannenreiter. Nomaden, die seit Ewigkeiten das weite Land entlang jener kerzengeraden, uralten Karawanenwege durchquerten. Auch Jorge und ich waren ihnen gefolgt. Die Afalharo handelten mit Salz, gepökeltem Fleisch und Dörrpflanzen. Wir saßen uns gegenüber und verständigten uns mit Körpersprache. Doch wir erlernten die Sprache problemlos. Die Grammatik war einfach; ungefähr fünfzig Prozent der Wortstämme waren weitgehend identisch mit dem in der Milchstraße gebräuchlichen Interkosmo. Nur die Aussprache war verändert, Betonungen hatten sich verschoben. Ich machte mir momentan keine Gedanken darüber, warum und wieso eine Abart des Interkosmo auf diesem einsamen Planeten gesprochen wurde. Gamondio, der selbstbewusste Häuptling, stellte mir seine Begleiter vor. Adino und Amessio, die Zwillinge, die nahezu zwanzig Zentimeter in der Größe trennten. Eitadoco, genannt die Eisenpratze; der zierliche Rismelo, der mit dem Wurfmesser besser umgehen konnte als irgendjemand anders seines Volkes. Sie alle gemeinsam repräsentierten die Creme de la creme ihres Volksstammes. Kämpfer, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Der Anführer bot Jorge und mir einen Streifen Dörrfleisch an. Dankbar nahmen wir an. Seit dem Betreten dieser Welt durch das monumentale Tor mit jenen seltsamen Obsidian-Einsprengseln vor mehr als vierundzwanzig Stunden hatten wir nur Konzentrate zu uns genommen. »Wer ist sie?«, fragte ich und deutete in Richtung der dicken Afalharo-Frau, die sich als Einzige abseits hielt. »Dendia, die Schamanin«, antwortete Gamondio kurz angebunden. Er spuckte braunen Saft zielsicher in ein Sammelloch für Abfälle in mehr als zwei Metern Entfernung. »Sie bereitet betäubende Säfte für unsere Dendibos.« Er deutete auf die riesigen Hirschkäfer, die im Schatten der Felswand
10 standen. »Warum betäubt ihr sie?« Gamondio lachte breit und entblößte seine bräunlichen, fast schwarzen Zähne. »Weil wir leben wollen«, sagte er schließlich. »Wenn sie nicht täglich eine genau bemessene Ration Nornen-Giftes erhalten, würden sie über uns herfallen und uns zerfleischen.« Mich schauderte. Ich konnte nur hoffen, dass die Künste der Schamanin nicht versagten. Gamondio schien meine Bedenken zu ahnen. »Keine Angst – Dendia versteht ihr Geschäft. Seit mehr als dreißig Jahren hilft sie uns Dendibo-Treibern!« Ich sah zu, wie die dicke Frau mühsam aufstand. Die Glieder schmerzten ihr sichtlich. Sie trug einen armgroßen Tiegel, in dem sie kurz zuvor Kräuter zerstoßen und mit einer grün schillernden Flüssigkeit vermischt hatte. Dendia bewegte sich nur langsam. Sie redete ununterbrochen. Eine Litanei, ein Gebet, das wohl keinerlei Sinn ergab und lediglich die Tiere beruhigen sollte. Ohne Furcht trat sie von der Seite an den ersten, den größten Hirschkäfer heran. Das Tier versuchte, seine rotbraunen Flügeldecken zu heben; diese waren jedoch mit schweren Seilen an den Leib gebunden. Gleichzeitig tänzelte das Tier unruhig auf seinen schwarz gefiederten Beinkeulen hin und her. »Er ist der Leitbulle«, flüsterte mir Gamondio zu, »und er riecht das Nornen-Gift. Ein gutes Tier, in der Blüte seines Lebens.« Der Stammesführer seufzte. »Nur zu schade, dass er es nicht mehr lange machen wird.« »Was soll das heißen?«, fragte Jorge. »Er ist bereits schwer süchtig. Dendia muss die Dosis des Giftes immer weiter steigern, um ihn ruhig zu stellen. Vielleicht noch ein Jahr, dann wird ihn der Saft töten.« »Ihr … ihr macht die Tiere süchtig? Und ihr bringt sie damit um? Nur, damit ihr sie reiten könnt?«, platzte der Archivar heraus, noch bevor ich ihn warnen konnte. Wir hatten kein Recht, über traditionelle
Michael Marcus Lebensgewohnheiten dieses Nomadenvolkes zu urteilen. Möglicherweise waren die Käfer ihre einzige Chance, in der endlosen Savanne eine bescheidene Existenz zu bestreiten. Jorge Javales besaß keine ausreichende Lebenserfahrung, um dies zu erkennen. Woher auch? Ich hatte immerhin ein paar Jahrtausende Wissensvorsprung. »So ist es«, antwortete Gamondio seelenruhig. Ich atmete erleichtert auf. Er hatte Jorges Gefühlsausbruch nicht als beleidigend empfunden. Noch bevor mein Begleiter erneut etwas entgegnen wollte, trat ich ihm unauffällig auf den linken Fuß. Er wirbelte herum und sah mich wütend aus nächster Nähe an. Sein Zorn verflog schnell. Er hatte verstanden, wen er vor sich hatte. »Schon gut«, murmelte der Archivar der TOSOMA und blickte verdrießlich zu Boden. Nein, wir beide waren keineswegs ein ideales Paar. Ein merkwürdiges und trauriges Schicksal hatte uns aneinander gekettet. Zwei Männer, der Soldat Horgald Massarem und der arkonidische Historiker Veloz da Metztat, waren im Verlauf einer eigentlich harmlosen Expedition, die uns zur Kharba-Station hätte bringen sollen, umgekommen. Geblieben war mir nur der dürre Terra-Nostalgiker, der gebetsmühlenartig auf seine Herkunft hinwies. Jorge war weder als Partner im Kampf noch in seinem diplomatischen Verhalten eine große Hilfe. Ich hätte mir viel lieber einen Mann wie Cisoph Tonk, den Leiter der Schiffsverteidigung, an meine Seite gewünscht. Dendia hatte den Leitbullen mittlerweile beruhigen können. Sie hieb ihm rhythmisch mit einer knöchernen Keule auf das mit allerlei Zierrat versehene Horngeweih. Dann streichelte sie ihm über die Mandibeln, ohne ihre Litanei zu unterbrechen. Der Bulle stand nun ganz ruhig da, das vordere Beinpaar leicht gesenkt, erwartungsfroh. Er kannte diese Prozedur, und er wus-
Die Savannenreiter von Vinara ste, dass die Frau hier war, um seine Schmerzen zu lindern. Schmerzen, die einer körperlichen Abhängigkeit entsprangen. Dendia tunkte einen breiten Pinsel in ihren Topf und fuhr dem Hirschkäfer damit in das geöffnete Maul. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper. Die Haare an den Beinen und an der Unterseite seines Körpers richteten sich steil auf, und ich hätte schwören können, dass ich ein wollüstiges Seufzen vernahm. Ich spürte, wie Jorge neben mir erneut steif wurde. »Bleib bloß ruhig«, murmelte ich, »sonst werden wir an die Käfer verfüttert.« Die Afalharo waren ein stolzes Volk, und sie hatten uns in höchster Not geholfen. Aber ich spürte, dass wir nicht allzu sehr an ihren Lebensgewohnheiten rütteln durften. Das Schauspiel der Fütterung dauerte eine knappe Stunde. Erst als das letzte Tier getränkt war und seine Giftration erhalten hatte, setzte sich Dendia zu uns. Die Krieger hatten ihr mittlerweile eine große Portion Getreidebrei aufgewärmt. Als sie den Mund öffnete und zu löffeln begann, war deutlich zu sehen, warum sie kein Dörrfleisch wie die anderen aß. Zwei schwarze Zahnstumpen waren ihr noch geblieben. Gierig schaufelte die Frau den Brei in sich hinein. Bereitwillig gehorchten die Krieger, als sie mehrere Befehle erteilte. Selbst Gamondio folgte ohne Murren ihrer Aufforderung, den Topf, der das Nornen-Gift enthalten hatte, zu säubern. Erst als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, sah sie hoch und blickte mich an. Bislang hatte sie uns mit Missachtung gestraft. Sie rülpste und sprang mit erstaunlicher Vitalität hoch. »Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?«, keifte sie die Krieger an. »Seid ihr denn blind und taub? Seht, hört und fühlt ihr denn nicht, wen ihr da vor euch habt? Spürt ihr nicht seine besondere Aura?« Sie schlug die Arme vor der Brust übereinander und verneigte sich genau viermal
11 ächzend vor mir. Gamondio und seine Männer waren bleich geworden. Mit einiger Verzögerung folgten sie dem Vorbild der Schamanin und erwiesen mir auf diese merkwürdige Art und Weise ihre Ehre. »Du bist ein Angehöriger des Ordens«, sang die alte Frau leise. »Du gehörst den Wächtern der Eisgruft an! Du bist derjenige, der uns helfen wird, unseren Auftrag zu erfüllen.«
4. Lethem, 19. März 1225 NGZ Umrin Zeles Barbinor war keineswegs ein unangenehmer Zeitgenosse. Lethem musste sich nur an den wuchtigen Schritt des Überschweren gewöhnen. Unauffälliges Anschleichen war wohl keine Stärke des Kraftund Muskelpaketes, dessen Vorfahren auf einer Hochgravitationswelt geboren worden waren. Der Barde brachte gut und gerne das Siebenfache von Lethems Körpergewicht auf die Waage. Und das, obwohl er einen Kopf kleiner war. Nun gut – dafür ist er fast so breit wie hoch, dachte der Arkonide, und auf der Straße macht ihm jedermann Platz. Genau diesen Faktor machte sich Lethem zunutze. Im Fahrwasser des Barden stieg er die grob ins Gestein gemeißelten Treppen zur untersten Ebene der Felsenstadt Viinghodor hinab. Er wollte zur Unterkunft der Schiffsbesatzung der TOSOMA, das mehr einem Lazarett ähnelte. Die Notlandung auf diesem rätselhaften Planeten hatte zwar keine Leben gefordert, doch die Liste der verletzten Mannschaftsmitglieder war ellenlang. January Khemo-Massai, der terranische Kommandant, sowie Zuunarik, der zalitische Erste Pilot, waren mit Gehirnerschütterung ausgefallen. Beide lagen in verdunkelten Zimmern und waren für längere Zeit nicht dienstbereit. Lethems Landsfrau und Stellvertretende
12 Kommandantin, Cayry, ging es ebenfalls nicht gut. Sie hatte eine komplizierte Fraktur des linken Unterarmes erlitten. Der Arkonide schob die trüben Gedanken beiseite. Er musste an die Zukunft denken. Pläne schmieden. Trotz der späten Stunde herrschte Hochbetrieb in den Straßen. Der Arkonide blickte über den Rücken des Barden hinab auf den Hafen. Zwei große Feuer erleuchteten die weit ins Meer hinauswachsenden Kaimauern. Eine bunt gemischte Vielzahl von Katamaranen, Koggen, Rudergaleeren, schmalen Seglern und einigen Dampfschiffen schaukelte sanft im Wasser. Sie lockten. Sie boten die einzige Möglichkeit, die Insel der Verdammten zu verlassen und nach Atlan zu suchen. »Fernweh?«, fragte Umrin. Er fuhr erneut über seine Lyra und brummte gedankenverloren ein paar Akkorde. Wie konnte ein Wesen, dessen kurze Arme, Hände und Finger so grobschlächtig wirkten, dem Saiteninstrument derart feine Töne entlocken? »Viinghodor ist nicht unsere Heimat«, entgegnete Lethem. »Sie war niemandes Heimat. Wir, die Gestrandeten, haben sie erst dazu gemacht. Einer Saga nach stamme ich von den Überlebenden eines Schiffes namens TOL III ab, das vor mehreren Jahrtausenden hier gestrandet ist.« Eine Gruppe johlender Akonen drängte sich an ihnen vorbei. Jugendliche, die keine Sorgen kannten. Ihr Leben lief hier so gänzlich anders ab als im straffen Gefüge ihres heimatlichen Einflussbereiches, über das sie wahrscheinlich nur wenig wussten. Sie waren ungebunden und frei. Aber wie lange noch? »Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, mein Leben hier zu beenden«, sagte Lethem. »Selbst wenn du und die meisten anderen es nicht glauben wollen – diese Welt hat keine Zukunft. Der mysteriöse Schlauch, der im Weltraum Obsidianfragmente in diese Richtung zieht, wird vor Vinara keinesfalls Halt
Michael Marcus machen. Die Bombardements des Kristallmondes, die man von hier aus mit bloßem Auge bereits beobachten kann, sind nur der Anfang.« »Vielleicht hast du Recht, vielleicht auch nicht …« »Wir haben Fakten«, brauste Lethem auf. »Schließlich sind diese Gesteinsmassen mitschuld am Absturz unseres Raumschiffes. Umso mehr, als eine Strahlung von ihnen ausgeht, die …« Der Barde blieb plötzlich auf einer breiten Plattform zwischen zwei Treppenabsätzen stehen, so dass Lethem in seinen Rücken lief. Umrin klimperte melodiös über seine Lyra. Sofort verstummten ringsherum alle Geräusche. Akonen, Arkoniden, Springer und ein paar echsenähnliche Wesen unbekannter Herkunft sammelten sich im Halbkreis. Der Barde war eine Berühmtheit in der Stadt. Ein Original und ein Kenner der Geschichte des Planeten. »Hört mir gut zu, Viinghodorer«, rief er, »unsere Neuankömmlinge glauben, dass Vinara dem Untergang geweiht sei, wo doch Sardaengar und Litrak über unser Schicksal wachen.« Ungläubiges Lachen erklang von allen Seiten. »Sie meinen, dass die Naturerscheinungen, die Feuer, die wir derzeit auf dem Kristallmond beobachten können, eines Tages auch uns treffen werden.« Der Barde blickte wild umher, rollte mit den Augen und zog an seinen länglichen Ohrläppchen. Er hob einen Kieselstein auf und ließ ihn auf den kantigen, haarlosen Kopf fallen. »Auweia und Ojammerundnot!«, brüllte der Überschwere. Er drehte sich zweimal um die eigene Achse, streckte eines seiner kurzen Säulenbeine waagerecht in die Luft und ließ sich mit voller Wucht auf seinen Hintern fallen. Das Lachen wurde lauter. »Mit mir, da geht's zu Ende«, sang Umrin im Liegen, »so reicht mir nun die Hände, und sie soll'n sein voll Lithras, sonst garantiert es gibt was!«
Die Savannenreiter von Vinara Nach einer kurzen Pause sprang Umrin hoch in die Luft und drehte eine Pirouette. Er ließ eine wie aus dem Nichts erschienene Dose im Kreise wandern. Und hatte damit die Lacher auf seiner Seite. Über die Gefahren, die Umrin angedeutet hatte, machte sich offensichtlich niemand Sorgen. Jedermann warf kleine, dunkle Perlen mit winzigen weißen Einschlüssen in das Gefäß. Möglicherweise handelte es sich um das hiesige Zahlungsmittel. »Entschuldige mein Auftreten«, sagte Umrin, als sich die Leute verlaufen hatten, »aber ich muss schließlich von etwas leben.« Grinsend deutete er auf einen halb gefüllten Ledersack, in den er den Inhalt seiner Dose geleert hatte. »Mein Magen verlangt nach etwas mehr Nahrung als der von euch Menschlingen. Ein kleines Saurierviertelchen könnte als Abendessen nicht schaden.« Lethem seufzte. »Mein lieber Umrin, ich gönne dir deinen Imbiss. Es könnte eine deiner letzten Mahlzeiten sein. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Aber bitte führ mich zuerst zu meinen Leuten. Ich habe mittlerweile vollends die Orientierung verloren.« »Kein Problem. Ich erzähle dir auf dem Weg ein wenig mehr über Viinghodor.« Er nahm seine Lyra, strich nochmals liebevoll über die Saiten und steckte sie schließlich zurück in den Leinensack … Eine Saite riss. Umrin hatte offensichtlich zu heftig daran gezupft. »Seltsam«, murmelte er verstört, »so etwas ist mir seit meinen Jugendtagen nicht mehr passiert. Das ist kein gutes Omen …«
5. Atlan, 19. März 1225 NGZ Dendia blickte mir in die Augen. Es war, als ob sie tief in mich eindringen könnte. Tiefer, als es jemals einem Wesen zuvor gelungen war. All meine Erinnerungen an Entitäten, Superintelligenzen, personifizierte Kosmokraten, Sagengestalten, Herrscher ganzer Sterneninseln und Unsterbliche lagen
13 mit einem Mal bloß. Endlich wandte die Schamanin ihren Blick ab und erhob keuchend ihren fetten Leib. Sie griff in einen der Beutel, die sie an ihrem breiten, das Wams umspannenden Ledergurt trug. Mit ihren wulstigen, dunklen Fingern holte sie eine Prise Pulver heraus und schleuderte es hoch in die Luft. Ganz langsam senkten sich die Pulverkörner und glitzerten dabei in der nachmittäglichen Sonne. Fasziniert beobachtete ich das Glitzern, verlor mein Sehen in den Partikeln, die von leichtem Wind getragen umhertanzten. Meine Sinne stumpften mit einem Mal mehr und mehr ab. Ich spürte meinen Körper nicht, konnte weder riechen noch hören. »Sieh in die Schatzwolke der Afalharo, Atlan! Die Geschichte vom Kampf der Götter«, begann die Schamanin mit ruhiger, tiefer Stimme zu erzählen, »ist ebenso die Geschichte unseres Volkes …« Der Anblick der Glitterpartikel machte mich müde. Endlos lange schienen sie sich in der Luft zu halten. Trotz des aufkommenden Windes wollten sie nicht zu Boden sinken. Nur für einen kurzen Moment schreckte ich hoch. Der Reflex – oder sollte ich sagen, die Paranoia eines Unsterblichen, hinter jedem Unerklärbaren eine Falle zu vermuten – schlug an. Es ist alles in Ordnung, sagte mein Extrasinn. Du unterliegst keiner Beeinflussung. Beruhigt entspannte ich mich wieder, sackte in mich zusammen. Es handelte sich um keine körperliche Reaktion – es war lediglich das Hinübergleiten in eine Art Trance. Ich ließ mich treiben …
* … Sardaengar hatte also gesiegt. Sein Gegner, der Ewige Litrak, lag gefangen unter den Gebirgen, gebunden vom Sand der Savannen, gefesselt durch einen Strang, der aus dem verfestigten grünen Drüsenschleim,
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von Abermillionen Nornen-Schlangen bestand. Sardaengar würde seinen Widersacher nicht auf ewig unter der Masse des Planeten begraben halten können, das war ihm bewusst. Er musste ihn dorthin verbannen – und bannen –, wo die Kräfte des Ewigen am wenigsten wirken konnten. So ersann er eine wahrhaft heimtückische List, die seinem Beinamen alle Ehre machte: Sardaengar legte ihn sich in einer atemberaubenden Anstrengung über die Schulter und tat den Sprung über die Tiefen Abgründe. Er verbrachte Litrak ins verhasste Element, ins ewige Eis, in das Eis des Casoreen-Gletschers, begrub ihn dort auf dem dritten der fünf sich spiegelnden Erdklumpen. Sardaengar machte aus Litrak den Untoten Gott im Eis.
* Zäh und unendlich langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Jorge Javales saß mir wie paralysiert gegenüber. Er blickte auf die kreisrunde Fläche. Die Glitterpartikel lagen zwischen uns auf dem Boden. Sand, ewig vom Savannenwind vor sich hergetriebener Sand, vertrieb oder verdeckte die Teilchen binnen weniger Sekunden. So schien es mir zumindest, denn mein Zeitmaß war mir längst abhanden gekommen. Jemand klatschte in die Hände. Dendia, die Fette. Und endlich konnte ich mich wieder bewegen. »Was war das?«, fragte Jorge. »Eine Vision? Eine Halluzination?« Dendia lachte meckernd. Sie hatte sich als Einzige der Afalharo zu uns gesetzt. »Nein«, antwortete sie. »Es ist die Erinnerung hunderter Generationen von Savannentöchtern. Wir tragen sie mit uns, und wir geben sie weiter. Wir erzählen die Geschichten, übermitteln sie von Mutter auf die Tochter. Nichts kann verloren gehen, nichts gerät in Vergessenheit.« Ich war verwirrt. Meine Gemütsverfas-
sung konnte nicht nur von der langsam abklingenden Paralyse herrühren. Was hatte das glitzernde Pulver mit den Erinnerungen früherer Generationen zu tun? War es ein Halluzinogen, das auf uns eingewirkt hatte, während Dendia ihre Geschichte erzählt hatte? – Nein, sagte der Extrasinn. So war es nicht. Aber ist es klug, alles wissen zu wollen? Und dennoch fragte ich nach. Dendia blickte mich sonderbar an. »Du bist ein merkwürdiger Ordensbote«, sagte sie schließlich. »So ganz ohne Erinnerung an das Volk der Afalharo und so voller Fragen.« Ich schwieg und setzte mein bestes Pokerface auf. Ein falsches Wort konnte Jorge und mich in die Bredouille bringen. Die überdimensionalen Käfer sahen ganz so aus, als könnten sie noch einen Happen frisch ertappter Schein-Heiliger vertragen. Schließlich, nach einer endlos langen Pause, setzte Dendia fort: »Afalharo sterben, und sie werden im Sand der Wüste oder unter den Gräsern der Steppe begraben. So nähren sie das Land und tragen selbst im Tod noch dazu bei, die Savanne fruchtbar zu erhalten.« Sie holte tief Luft. Ihr breiter Brustkorb mit den gut sichtbaren, flachen Hängebrüsten hob und senkte sich. »Aber nicht alles darf Mutter Vinara überantwortet werden. Die Erinnerungen, die in unseren Köpfen stecken, müssen erhalten bleiben. Deshalb öffnen wir Schamaninnen die Schädel der Verstorbenen. Wir entnehmen die graue Substanz, die uns steuert und die unser Wesen ausmacht. Danach entwässern wir sie in dunklen Höhlen und räuchern sie mehr als fünfzig Tage. Mit eisernen Mörsern zerstoßen wir das Übriggebliebene in eisernen Gefäßen. Wir fügen kleine Mengen metallener Substanzen wie Kupfer, Zinn, Zink, Gold und Quecksilber hinzu. Über drei Tage hinweg mischen wir und wachen über die Reste der Erinnerung der Toten, die somit für alle Ewigkeit haften bleiben. Wir Schamaninnen, die Ratgeber und Herrscher über das Volk
Die Savannenreiter von Vinara der Afalharo, sprechen mit den gebundenen Toten, indem wir winzigste Teile von ihnen essen. So sorgen wir dafür, dass ihr Geist nicht zu entfliehen vermag. Denn es ist ihre Pflicht, uns in die Zukunft zu geleiten.« Die Frau deutete vielsagend auf die Hornbehälter, die sie um den Leib gebunden trug. »Und zwar so lange, bis ihre Substanz an all den Abenden der Erzählungen endgültig verbraucht ist und im ewigen Wind davongewirbelt wird.« Sie schwieg, und ich befürchtete, dass ich ziemlich blass geworden war. Die Savannenreiter hatten während der letzten Stunden den fünf getöteten Sauriern die Häute abgezogen und sie ausgenommen. Ein Teil der Innereien kochte in einem tiefen Kupferkessel, während breite Fleischbahnen über einem rasterförmigen Holzgestell geräuchert wurden. Auch Krallen, Zähne, Augen und Knochen waren sorgsam sortiert worden. Sie würden unter Garantie eine Verwendung bei den Nomaden finden. Wandervölker verschwendeten niemals etwas. Nach getaner Arbeit lagerten die Männer in der Nähe ihrer käferförmigen Reittiere. »Wir sind hier unter Angehörigen eines naturnahen Nomadenvolkes«, sagte ich zu meinem Begleiter. »Und sie sehen etwas in mir, was wir ihnen besser nicht nehmen. Wer weiß, ob ihre Stimmung umschlägt, wenn sie herausfinden, dass ich nicht dieser so genannte Ordenswächter bin.« »Warum hast du sie überhaupt in diesem Glauben gelassen?«, fragte mich Jorge leicht vorwurfsvoll. »Um unsere Situation zu verbessern«, antwortete ich. »So erhalten wir viel eher Informationen.« »Und was hilft uns das?« »Einen Ausweg zu finden«, erwiderte ich ungehalten. »Um zur TOSOMA zurückkehren zu können. Um das Rätsel der Obsidiantore zu lösen. Und jetzt sei still!« Ich deutete mit dem Kopf auf Dendia, die angehumpelt kam. Jorge kniff den Mund verbittert zusammen. Die feinen, aber tiefen Fältchen rund
15 um seine ausgeprägte Hakennase wurden noch deutlicher sichtbar. Er stand abrupt auf und ging davon. Ich verstand ihn. Sein Leben hatte bislang aus Datenblöcken und positronischen Expansionsgefäßen, hyperinmetronischen Lapidareffekten oder binären Koagulationswachstumsverstärkern bestanden. Begriffe, die hier auf dieser Welt keine Bewandtnis hatten. Er war ein brillanter Theoretiker und kannte sich zweifelsohne in der Geschichte meines und des lemurischen Volkes aus – doch ohne technische Gerätschaften fühlte er sich zu einem Nichts reduziert. »Wer ist er?«, fragte Dendia. »Dein Sklave?« Sie ließ sich ächzend fallen und kratzte sich am Kopf. »Ein Untergebener – und ein Freund«, antwortete ich. »Aber reden wir von euch. Ich sehe, dass ihr ohne Waren unterwegs seid.« Ich deutete auf die neun Reitkäfer, die zwar beladen waren, aber keinesfalls so aussahen, als könnten sie nicht noch mehr Gepäck vertragen. »Dies ist kein normaler Ritt, auf dem ihr euch befindet, nicht wahr?« Dendia kicherte. »So ist es, Bote.« Sie winkte die Männer des TuligStammes heran. Zögerlich kamen die kräftigen Männer näher. Sie setzten sich in gehörigem Abstand respektvoll nieder. Eitadoco, genannt die Eisenpratze, sammelte trockenes Buschholz und machte sich daran, ein Feuer für die Nacht vorzubereiten. Die Dunkelheit brach rasch herein, sie würde erneut Kälte mit sich bringen. »Erzähle, warum wir unterwegs sind«, forderte die alte Vettel Häuptling Gamondio auf. Dann ließ sie sich schwer auf den Rücken fallen. Als ihr Eitadoco ein Tuch über den Körper legte, grunzte sie zufrieden. Der Häuptling räusperte sich vernehmlich und sah dann schüchtern zu mir. Es mutete seltsam an, diesen starken, selbstbewussten Krieger, der ohne zu zögern die Velociraptoren angegriffen hatte, in einer derart devoten Haltung zu sehen. Was war es, das die Schamanin gespürt
16 hatte? Meine Aura? Die eines Ritters der Tiefe? Oder die Strahlung des Zellaktivators, der seit Ewigkeiten meinen Körper am Leben erhielt? »Wir haben unseren Stamm der Tulig verlassen, weil wir auf der Suche sind«, begann Gamondio zögernd. Mit einem dünnen Stab stocherte er im Sand umher, als suche er etwas. »Dendia, die Schamanin, hatte sich vor wenigen Tageswechseln in ihr Reisezelt zurückgezogen, um Eksasi-Wurzeln zu kauen. So, wie sie es immer macht, wenn die Jagdsaison beginnt. Schlangen- und Drachenhäute sind in den Städten und Karawansereien immer gefragt, musst du wissen. Mit ihrem Inneren Auge sucht und findet sie die besten Jagdgründe, und sie hat uns noch niemals fehlgeleitet.« »Was ich nicht alles für euch mache«, murmelte die Alte mit leidender Stimme, »und dennoch vernachlässigt ihr mich, wo ihr nur könnt.« »Hol ihr die Milch!«, forderte Gamondio einen seiner Krieger auf und fuhr dann fort: »Doch in dieser Nacht wurden wir von ihrem Schreien und Zetern aufgeschreckt. Wir wagten es kaum, uns ihrem Zelt zu nähern, so furchtbar war ihr Wehklagen. Drei meiner Männer waren vonnöten – und es waren beileibe nicht die schwächsten Männer –, sie zu bändigen und aus ihrer Trance zurückzuholen.« »Rede nicht so lange um den heißen Brei herum«, forderte die Schamanin und grunzte wiederum zufrieden, als ihr ein dampfender Becher mit heißer Milch an die Lippen gehalten wurde. »Nachdem wir also Dendia beruhigt hatten, erzählte sie uns von ihrer Vision. Von bedrohlichen Zeichen, die am Himmel standen. Von einer unheiligen, dunklen Schlange, so dunkel wie eine giftige Norne, die sich um die Sonne Verdran schlängelte. Zischelnd und geifernd umwarb sie Vater Sonne, um ihn mit einem einzigen, raschen Biss zu töten. Aber nicht nur, dass dieses Schnappen nach dem Vatergestirn für kurze Zeit al-
Michael Marcus les um uns verdunkelte – die Schlange übernahm sich an ihrem gierigen Biss. Wie eine zu heftig aufgeblasene Drachengallenblase zerplatzte die schwarze Norne, wurde in Tausende und Abertausende Stücke zerrissen. Diese Bruchstücke, in der Schwärze des Himmels zu Eis und Stahl gefroren, regneten auf unsere Welt herab – und brachten Tod und Verderben über uns.« Wie auf Kommando brach Dunkelheit über das Land herein. Dunkelheit, die durch kein Licht der Sterne durchbrochen wurde. »Wir schlafen jetzt«, sagte Häuptling Gamondio bestimmt. »Es ist nicht gut, des Nachts über Geister und Dämonen zu sprechen. Sie könnten geweckt und herbeigerufen werden. Wir reden morgen weiter.« Zwei Lagerfeuer brannten. Eitadoco, der offensichtlich Nachtdienst hatte, befestigte mehrere Leinenbahnen quer zwischen den Felsen und schützte uns so vor dem pfeifenden Wind. Das Schlaflager befand sich nahe der steil hochragenden Felswand, zu der wir uns vor den angreifenden Raptoren hatten retten wollen. Ich hatte mich längst an den feinen Sand gewöhnt, der in die kleinste Öffnung meines leichten Anzugs gekrochen war und selbst zwischen den Zähnen knirschte. Auch das Brennen, Schmirgeln und Jucken auf der Kopfhaut und im Gesicht empfand ich mittlerweile als nicht mehr so lästig wie noch am Tage zuvor. »Adino!«, rief Dendia mit heiserer, lockender Stimme in die Dunkelheit. »Adino, komm zu mir. Komm jetzt, komm!« Unwilliges Brummen. »Adino, du bist heute dran! Komm und wärme mich.« Stille. Und leises, offensichtlich vorgetäuschtes Schnarchen. »Adino!« Die Stimme der Schamanin wurde laut und schneidend. Daraufhin stand der kleinere der Zwillinge auf. Leise fluchend ging er zu Dendia, während seine Kameraden schadenfroh kicherten.
Die Savannenreiter von Vinara »Den Göttern sei Dank«, murmelte ich. »Als Bote der Ordenswächter bin ich hoffentlich von dieser Pflicht befreit.« »Und ich«, jammerte Jorge leise, »was ist mit mir?« »Du bist mein Helfer und hast zu tun, was ich dir befehle.« »Du wirst mich doch nicht dieser alten Vettel vorwerfen?« Ich blickte Jorge an, wie er dalag, eingemummelt in eine alte, kratzige Decke, mit weit aufgerissenen Augen, die den Schein des Feuers widerspiegelten. »Nicht wahr, Atlan?«, flehte er mit wachsender Panik in der Stimme. »Gute Nacht, Jorge«, wünschte ich ihm und drehte mich zur Seite. Ich konnte mir das Lachen kaum verbeißen. Ich fand einfach keinen Schlaf. Zu viele Dinge geisterten in meinem Kopf umher. Erzählungen, Visionen, Begriffe und fremdartige Eindrücke schwebten unsortiert durcheinander. Während des unheimlichen, schmerzlich langen Überganges von der Vergessenen Positronik durch das blaue Leuchten des Hoagh hierher war ich von Bildern geradezu überschwemmt worden. Vielleicht mochten es die Lebenserinnerungen des Tamrates Nevus Mercova-Ban gewesen sein, die mir eine mögliche Geschichte des Kugelsternhaufens Omega Centauri gezeigt hatten; vielleicht waren es aber nur meine überreizten Synapsen gewesen, die mich halluzinieren ließen. Doch eine orange, düstere Sonne hatte sich mir eingeprägt. Eine Sonne wie diejenige, die uns während des Tages wärmte. Dann die fünf Planeten. Alle auf derselben Umlaufbahn, in genau gleichem Abstand zueinander und zur Sonne – auch im Aussehen identisch. Dieses Bild hatte ich bereits beim Verlassen des Obsidiantores gesehen. Einfache, in das Gestein gekratzte Symbole hatten auf die fünf Planeten hingewiesen. Der Kristallmond. Namen wie Vinara, Viin, Vadolon – und
17 Verdran. Die Obsidian-Kluft: ein Begriff, bedrohlich wirkend und kaum greifbar. Sardaengar. Eine unendlich vertraute Person, die mir dennoch abgrundtief fremd erschien. Damit nicht genug. In der ersten Nacht auf diesem merkwürdigen Planeten hatten mich Alpträume geplagt. Wiederum hatten sich mögliche Erinnerungssprengsel des Tamrates Nevus Mercova-Ban in meinem Kopf eingenistet. Dass es keine Alpträume oder Schimären waren, hatte mir der Extrasinn am nächsten Morgen bestätigt. Irgendetwas war von außen auf mich übergeflossen. Diesmal waren es Geschichten, die den Begriff Obsidian-Kluft als eine möglicherweise im Halbraum eingelagerte Enklave darstellten. Und die die Person Sardaengar als Hohen Tamrat bezeichneten, der bei einem groß angelegten Selbstversuch vor mehr als 50.000 irdischen Jahren in genau diese Enklave gestürzt war. Irgendwie ergaben die Informationen, jede für sich, einen Sinn. Aber die Puzzlestücke wollten sich einfach nicht zusammenfügen. Zumal ich mich unendlich müde fühlte.
Zwischenspiel: Li da Zoltral Li da Zoltral konstatierte nüchtern, dass die Plattform erneut zu entmaterialisieren drohte. Sie nahm einen halb stofflichen, ungreifbaren und unbegreifbaren Zustand an – und fiel schließlich wieder ins vierdimensionale Kontinuum zurück. Die Abstände zwischen den Entstofflichungsvorgängen gehorchten keinem Muster. Die Veränderungen kamen und gingen, passierten scheinbar willkürlich. An ein Verlassen der riesigen Plattform war nicht zu denken; ihre diesbezüglichen Versuche hatten keinen Erfolg gezeitigt. Umso mehr, als die Systeme ihres Anzuges größtenteils ausgefallen waren. Li da Zoltral strich mit den Händen über
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die fingernagelgroßen, golden schimmernden Pailletten, die die sichtbare Außenhaut ihres Gewandes ausmachten. Sie klimperten leise, metallisch, erzeugten eine kleine Melodie, die nur für sie eine Bedeutung besaß. Die Arkonidin griff in einige der pechschwarzen Aggregatetuis, die Bestandteil des breiten Hüftgurtes waren. Vergeblich. Nichts änderte sich, keines der Aggregate funktionierte. Die Warnungen erfüllten sich also. Man hatte ihr mitgeteilt, dass es so kommen würde. Sie würde ihr Ziel, den Kristallmond, ohne überragende technische Hilfsmittel erreichen müssen. Li machte sich auf die Suche nach einer Zentrale oder einem Schaltraum der Plattform.
6. Lethem, 26. März 1225 NGZ Umrin Zeles Barbinor marschierte wie gewohnt vorneweg, Lethem und Cisoph Tonk hinterher. »… Lithras können unabhängig von ihrer Größe unglaubliche Schönheit besitzen. Auch dies wird in ihren Wert mit einbezogen«, erzählte er und deutete auf eine münzgroße, polierte Obsidian-Kugel in seiner Pranke. »Diese hier, sauber und schön, aber nicht sonderlich stark gefleckt, ist unsere kleinste Recheneinheit. Dürre Figuren wie ihr erhalten dafür eine ausreichende Mahlzeit in einer unserer Tavernen.« Er zog einen weiteren der Steine aus seinem Beutel. Länglich war er und bedeutend schwerer, wie sich Lethem überzeugen konnte. »Diese Perle hier entspräche fünf kleinen, runden – wenn sie nicht einen Schaden hätte. Siehst du den langen Riss, der den Lithras nahezu auf der ganzen Länge teilt?« Missmutig, fast zornig wühlte Umrin in seinem feuerroten Bart und löste dabei seine schlampig gebundenen Zöpfe. »Kment, der alte Betrüger des Blauen Cafe, hat mich reingelegt. Letzte Nacht, als ich einen
Streckwalhappen mit ein paar Bierfässchen hinunterspülte. Dass mir so etwas passiert, ausgerechnet mir! Ich muss wohl ein wenig … hm … indisponiert gewesen sein.« Lethem und Cisoph grinsten sich an. Der Barde war erst vor einer knappen Stunde von einer durchzechten Nachttour zurückgekehrt und stank nach Schweiß, Rauch und säuerlichem Fusel. »Zurück zum Unterricht«, sagte Umrin. »Für ungefähr zweihundert der kleinen oder vierzig der länglichen Lithras könntet ihr eine Reitechse ergattern.« »Warum mussten wir eigentlich bislang nichts für unseren Aufenthalt und die Mahlzeiten bezahlen?«, unterbrach ihn Cisoph Tonk. Der breitschultrige Terraner hatte darauf gedrängt, Lethem auf seinem Ausflug zu begleiten. »Grundnahrungsmittel, Arzneien und Bekleidung werden von den Robotern herangeschafft und sind somit umsonst. Außerdem steht ihr unter dem Schutz der Maghalata«, fügte Umrin knapp hinzu, als wäre damit alles gesagt. Der Morgennebel hatte sich verzogen. Die orangefarbige Sonne war bereits aufgegangen, versteckte sich aber noch hinter dem Stadthügel. Sie befanden sich auf der dritten Ebene und genossen die prachtvolle Aussicht Richtung Süden und Westen. Das Meer war ruhig, es herrschte Ebbe. An das rote und dunkle Tageslicht konnte sich Lethem nicht gewöhnen. Es war wenig los in den Straßen – mit Ausnahme des Hafenviertels. Dort herrschte lebhafte Betriebsamkeit, und genau dort wollte Lethem hin. Kleine Schiffe und Boote näherten sich voll beladen dem etwas abseits gelegenen Fischerhafen. Die Fischer, unter ihnen mehrere Springer und Überschwere, die an ihrer roten Haarpracht leicht zu erkennen waren, entluden ihren Fang. Möwenähnliche, dunkelgraue Vögel umlagerten die Seeleute und ihre Boote. Sie kreischten ihren Hunger lauthals hinaus. Hellrote Krebse, giftgrüne, achtbeinige Kriecher mit langen Fühlern, Fi-
Die Savannenreiter von Vinara sche jeder Größe und Farbe wurden ausgeladen, getrennt, sortiert und an Ort und Stelle verkauft. Es war ein Bild, wie man es von einer Unzahl bewohnter Welten des Universums kannte. Waren die fünf Vinara-Planeten überhaupt Bestandteil des Universums? Lethem da Vokoban drängte den Gedanken mühsam beiseite. Zügle deine Fantasie, Arkonide, dachte er und rief sich Gelerntes in Erinnerung. Immer einen Schritt nach dem anderen machen. Von unten nach oben emporarbeiten. Der Barde brachte sie durch schmale Gässchen weiter hinab bis auf Meeresniveau. Sie hatten die unterste Plattform der Stadt Viinghodor – und damit das Hafenviertel – erreicht. Flache, einstöckige Häuser versperrten die Sicht aufs Meer. Der Überschwere hatte immer wieder Probleme, zwischen den eng beisammenstehenden Häusern durchzugehen, doch er nahm es mit Humor. Scheinbar nichts konnte seine gute Laune erschüttern. »Prägt euch den Weg ganz genau ein«, sagte er. »Sonst werdet ihr es schwer haben, die Route zurückzufinden, sollten wir uns verlieren.« Ein schier unglaublicher Irrgarten erwartete sie. Lehmhütten, Holzhäuser sowie bescheidene Ziegelbauten standen kreuz und quer. Leinen, an denen Meerestiere zum Trocknen neben verschlissener Bekleidung aufgehängt waren, beschränkten die Sicht auf wenige Meter. Handkarren, von stämmigen Männern gezogen und geschoben, waren mit leckeren Obst- und Gemüsesorten beladen. Es war sicherlich mühsam, die Nahrungsmittel in die höheren Ebenen der Stadt zu transportieren. Umrin nahm da und dort eine kleine Anleihe, wie er es nannte. Er zupfte sich geräuchertes Meeresgetier von den Leinen, schnappte sich volle, prächtige Früchte oder löffelte aus großen Kesseln. Er stahl Nahrung, soviel er nur konnte, und ließ sie gierig in seinem Schlund verschwinden.
19 Protestgeschrei zänkischer Weiber beantwortete er stets mit einem kleinen Liedchen, Marke »Ode an die strahlend schöne Springer-Maid«, so dass es einige Zeit benötigte, bis sie das Labyrinth hinter sich gebracht hatten. »Schaut dorthin!«, sagte Umrin plötzlich. »Das sind die Schlangen im Paradies!« Er verwendete überraschenderweise eine altterranische Redensart. Sein freundliches Lächeln gefror mit einem Mal, und er ließ ein schauderliches Zähneknirschen hören. Der Barde deutete auf zwei messingfarbene, unterschiedlich große Roboter, die scheinbar sinnlose Tätigkeiten verrichteten. Sie bauten an einer Balustrade, die sie an ein einstöckiges Gebäude anpfropften. Sie hatte eine Höhe von vielleicht fünf oder sechs Handbreit. »Viele Viinghodorer mögen sich mit der Anwesenheit dieser Maschinen abfinden. Sie gehören so sehr zur Stadt, dass sie gar nicht mehr auffallen. Aber für mich bedeuten sie mehr. Sie zeigen, welche technischen Möglichkeiten wir alle hätten oder einmal gehabt haben. Sie sind Errungenschaften und Segnungen einer modernen Welt, die wir nie erreichen können.« Er seufzte. »Alle Technologien werden uns vorenthalten.« Lethem hatte bereits so seine Erfahrungen mit den vielfältigen Maschinen gemacht. Sie stellten die Primärversorgung der Stadt sicher, schafften aus Kavernen Nahrung, Bekleidung und einfache Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens heran. Doch sie mieden jeglichen Kontakt. Ein weiteres Rätsel dieser Stadt. »Lassen wir das erst einmal«, sagte der Arkonide zum Barden. Es gab Wichtigeres. »Ich möchte endlich mit einigen Schiffseignern reden.« »Wie du willst, Lethem. Ich kann dir aber jetzt schon sagen, dass kein Kapitän dich und deine Freunde an Bord nehmen wird, solange ihr nicht ausreichend Lithras vorweisen könnt. Und die Passagen von der Insel weg sind verdammt teuer …« »Das soll unser Problem sein«, erwiderte
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Lethem schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Die ständigen Beschwichtigungsbemühungen des Barden, der Widerstand der Maghalata gegen die Ausrüstung einer Expedition ans Festland und die weinerliche Resignation, die überall hier spürbar war – dies alles zehrte an seinen Nerven. Mehr, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. »Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich in der Zwischenzeit ein paar Lithras in meinen Sack spiele? Irgendwo muss ein Loch im Beutel sein – oder kann es sein, dass ich ein klein wenig zu viel esse und trinke?« »Geh nur, Umrin. Wir treffen uns wieder hier, wenn die Sonne am höchsten steht. Einverstanden?« Der Barde nickte kurz und war wenige Augenblicke später im morgendlichen Gewirr der Fischer und Früheinkäufer verschwunden. »Also los«, meinte Lethem und deutete auf die abseits im Wasser dümpelnden Transportschiffe. »Schaffst du es, möglichst bemitleidenswert, liebreizend oder hilflos dreinzuschauen, Cisoph?« »Genauso wenig wie du, Arkonide. Wir müssen wohl mit offenen Karten spielen.« »Und was, bitte schön, sollen wir sagen? Dass wir unseren Anführer auf einer der fünf Welten dieser merkwürdigen Sonne zu finden hoffen? Dass wir deshalb eine Überfahrt aufs Festland benötigen? Damit wir zu einem der mythenumwobenen Obsidiantore gelangen?« Der kleine, bronzehäutige Terraner lachte kurz auf. »Hören wir uns einmal an, was die Seeleute so zu sagen haben.«
* »Verschwindet von Bord der Windschnake, sonst ersäufe ich euch eigenhändig im Brackwasser«, schimpfte der Vorschoter des abgewirtschafteten Seglers. Er ließ seine Oberarmmuskeln unter dem Gelächter seiner Matrosen auf und ab hüpfen, so dass Lethem bereits vom Zusehen
schwindlig wurde. Cisoph Tonk warf dem rotblonden Umweltangepassten – vermutlich ein Mischling mit akonischen und überschweren Vorfahren – einen undeutbaren Blick zu. Seine Kiefer mahlten aufeinander. Lethem bemerkte nur allzu deutlich, dass sein Begleiter knapp davor war, die Beherrschung zu verlieren. Die Demütigungen, die sie in den letzten Stunden über sich hatten ergehen lassen müssen, waren nicht spurlos an dem sonst so beherrschten Mann vorübergegangen. »Ruhig bleiben«, beschwichtigte Lethem hastig und zog Cisoph mit sich. Nur widerwillig bewegte sich der Terraner. Trotz einer gediegenen DagorAusbildung, bei der besonders viel Wert auf innere Sammlung, Ausgeglichenheit und Ruhe gelegt wurde, glich die kleine Kampfmaschine einem Dampfkessel kurz vor dem Überdruck. Apropos Dampfkessel … »Wir probieren es ein allerletztes Mal«, seufzte Lethem, »dort, bei dem Schaufelraddampfer.« Er lenkte Cisophs Blick nach vorne. An dem Seelenverkäufer Verdrans Glut prangte der Namen in roten altarkonidischen Schriftzeichen über dem Bugspitz. Ungefähr ein Dutzend, überwiegend arkonidisch aussehende Matrosen luden Feuerholz oder polierten lustlos die blasse Messingreling. Die verrotteten Holzplanken, zerbrochenen Bullaugen und vom Salz gezeichneten Eisenbeschläge wirkten nicht besonders vertrauenerweckend. »Ganz schön wuchtig«, bemerkte Cisoph Tonk, »auch die breiten und tiefen Schaufeln. Keine besonders ökonomische Bauweise und für Fahrten auf hoher See nicht unbedingt geeignet.« »Wer weiß …«, sagte Lethem daraufhin. »Hier in Viinghodor gibt es ohnehin keinen einheitlichen Baustil. Alle Erfahrungen dieses Vielvölkergemischs spiegeln sich in der Schiffsbautechnik wider …« »Was wollt ihr?«, schnauzte sie ein bär-
Die Savannenreiter von Vinara beißiger Mann von der Reling her an. Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner halb vollen Flasche. »Wir suchen den Kapitän dieses … Schiffes«, sagte Lethem. »Ihr habt ihn gefunden. Koejoe mein Name«, entgegnete der Mann und rülpste laut. »Dürfen wir an Bord kommen?« »Nein!«, brüllte Koejoe. Er spuckte ins Wasser. »Eure Suche nach einem Schiff, das euch kostenfrei ans Festland bringt, hat sich bereits herumgesprochen. Jedermann amüsiert sich über euch.« »Na, dann nichts für ungut«, meinte Lethem und wandte sich ab. »Außer …« »Ja?«, hakte Lethem sofort nach. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung. »Der abgezwickte Riese hier«, Kapitän Koejoe deutete auf Cisoph Tonk, »könnte sich als Lustsklave bei mir an Bord verdingen. Ich habe manchmal weibliche Gäste, die während der langen Tage der Überfahrt auf etwas Besonderes aus sind.« »Wie bitte? Wiederhole das noch einmal!« Cisoph war blass geworden. »Lustsklave. Oder noch besser: Lustzwerg!« Die Matrosen der VERDRANS GLUT brüllten vor Lachen. Ein Junge mit einer schrecklichen Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog, warf gar einen halb verfaulten Salatkopf in ihre Richtung. »Na wartet …« »Cisoph – nicht!« Lethem packte den sonst so besonnenen Leiter der Schiffsverteidigung am Arm. Vergeblich, es war, als versuchte er, einen Vulkan am Ausbruch zu hindern. Der Terraner schob seine Hand beiseite, nahm einige Schritte Anlauf, stieß sich an der Molenkante ab und übersprang die Distanz von sicherlich fünf Metern zum Dampfer. Er griff nach der Reling, schwang sich mit einer fließenden Bewegung darüber hinweg, packte den Schiffskapitän am Kragen, noch bevor irgendeiner seiner Matrosen reagieren konnte.
21 »Verdammt!«, zischte Lethem. Er war mehr besorgt als verärgert. »Das hat uns gerade noch gefehlt …« Lethem konnte den Terraner nicht im Stich lassen. Messer blitzten auf; der Junge mit dem Makel im Gesicht zog eine primitive Schusswaffe aus dem Hosenbund und richtete den Lauf auf Cisoph Tonk. Es blieb keine Zeit für weitere Überlegungen. Es galt nur noch, den Terraner möglichst unbeschadet vom Schiff zu bekommen – und anschließend zu verschwinden. Mit federnden Schritten nahm Lethem Anlauf und hechtete an Bord des Dampfschiffes. Die Matrosen griffen ihn sofort an. In seiner Wut stieß er den ersten Matrosen einfach beiseite, den zweiten warf er kurzerhand über Bord ins flache Wasser. Ein gezielter Handkantenschlag lähmte den Schussarm des jungen Burschen mit der Narbe. Aus den Augenwinkeln sah Lethem, wie Cisoph den viel größeren Kapitän am Hals umklammert hielt, vor sich herschob und währenddessen wilde Fußtritte nach links und rechts austeilte. Die Lage war hoffnungslos. Immer mehr der Matrosen kamen herangestürmt, wie Ratten drangen sie aus ihren Löchern … »Vorsicht!«, schrie das Narbengesicht. Der Matrose deutete in die Richtung der großen Lagerhallen. In deren polierten Eisentüren spiegelte sich die Sonne grell wider. Lethem konnte nichts erkennen. Was meinte der Bursche? Lange Tentakel drangen aus dem Sonnenreflex hervor – gefolgt vom ovalen Körper eines der bereits bekannten facettierten Schweberoboter. Die übermannslangen, flexiblen Greifarme peitschten durch die Luft, erzeugten ein unheimliches Zischen und Pfeifen, so dass die Matrosen und Cisoph Tonk augenblicklich aufhörten, aufeinander einzuprügeln. Alle Seeleute gingen in Deckung, wo auch immer sie die Möglichkeit sahen; der Terraner jedoch wischte Kapitän Koejoe einfach beiseite und stellte sich breitbeinig dem neuen Gegner.
22 War diese Maschine denn ein Gegner? Warum schritt sie gerade jetzt ein, nachdem sich die Roboter seit dem Transport der TOSOMA-Besatzung in die Stadt Viinghodor nicht mehr um sie gekümmert hatten? Einer der Tentakelarme fuhr gegen den kastenförmigen Deckaufbau, zersplitterte ihn mit gehörigem Krach. Holzteile und metallene Bruchstücke flogen wie Geschosse durch die Luft. Langsam, geradezu behutsam näherte sich der Roboter Cisoph. Als wäre er sich seiner Beute sicher. Ein einziger, schnalzender Hieb – und der Terraner war Geschichte. Lethem musste etwas tun – nur was? Er sah die Waffe des Jungen, direkt neben der Reling. Hastig griff er nach ihr, nestelte unbeholfen am Spannhahn herum – und löste den Abzug. Sofort ertönte ein lauter Knall. Lethem glaubte, seine Trommelfelle würden platzen. Eine Feuerlohe schoss aus dem Lauf. Mehrere dumpfe Geräusche folgten, die das Klingeln in seinen Ohren kaum übertönen konnten. Eine Schrotladung war ins Holz eingedrungen, knapp neben dem Roboter. Und wieder fuhr der Roboter seine Tentakel aus. Es zischte. Nur wenige Zentimeter oberhalb Cisophs Kopf schlug einer ins Holz. Hätte sich der Terraner nicht blitzschnell fallen lassen, wäre es wohl um ihn geschehen gewesen. Der nächste Hieb, das stand unweigerlich fest, würde jedoch sein Ziel nicht mehr verfehlen und den Leiter der Schiffsverteidigung töten. Zwei der Tentakel holten aus, schnalzten nach hinten, noch bevor Cisoph hochspringen und davonlaufen konnte. Es war keine Zeit mehr für Lethem, länger nachzudenken. Er musste etwas unternehmen, also begann er zu laufen, auf die Maschine zu. Mit einem Mal entbrannte in dem Arkoniden ein unglaublicher Hass gegen den Roboter. In seiner Wut sprang er die Maschine an, griff nach ihrem rundlichen Körper, wollte sich an ihr festkrallen, sie beiseite drücken mit seinem Körpergewicht … … und fuhr ins Leere.
Michael Marcus Der Roboter löste sich einfach auf. »Was, bei allen Sternengeistern, war das?« Langsam richtete sich Lethem da Vokoban auf und wischte sich Tränen der Erregung aus seinen Augen. Sein rechter Arm schmerzte. Er war mit voller Wucht höchst unsanft auf den Deckplanken gelandet. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Cisoph Tonk. Er ordnete hastig sein schwarzes Haar mit einem einfachen Lederband. Dann nahm er Lethem am Arm. »Wir sollten uns aber woanders darüber Gedanken machen. Ich habe nicht vor, nochmals mit den Matrosen anzubändeln. Wahrscheinlich werden sie uns das alles hier« – er zeigte mit dem Finger auf das zerstörte Schiffsdeck – »auch noch ankreiden. Komm!« »War es das wert?«, fragte Lethem mit kritischem Unterton. »Ich konnte nicht absehen, dass das geschehen würde«, verteidigte sich der Terraner, während sie die Planken zum Hafen hinabeilten. »Ich habe nur noch rotgesehen. Wenn's um meine Größe geht, vertrage ich keinen Spaß. Dann noch diese miesen, schmutzigen Andeutungen …« Zufrieden putzte sich Cisoph die Hände ab. »Ich habe zumindest bekommen, was ich wollte. Der Bursche wird noch lange an mich denken.« »Und wir werden uns hier lange Zeit nicht mehr blicken lassen können«, klagte Lethem. »Ich glaube, die Chance, ans Festland zu gelangen, ist soeben auf ein Minimum gesunken.« Überall standen kleine Gruppen von Seeleuten, Händlern und Fischern zusammen. Sie blickten erschrocken, aber auch böse zu ihnen. Die Geschehnisse waren im ganzen Hafen verfolgt worden. Cisoph Tonk schaute betroffen zu Boden. »Hm … zumindest das Klinkenputzen können wir abhaken«, sagte Lethem mit breitem Grinsen. »Aber es gibt für alles ein Hintertürchen.« Der Terraner bekam große Augen. »Du willst doch nicht …« »Vielleicht.« Das Lächeln des Arkoniden verschwand. »Zuerst sollten wir Umrin fin-
Die Savannenreiter von Vinara den, uns still und heimlich zurückziehen und in Ruhe darüber nachdenken, was das Verschwinden des Roboters zu bedeuten hat. Oder war dieses Ding gar eine optische Täuschung?«
7. Atlan, 20. März 1225 NGZ Der Morgen kam ebenso rasch, wie Stunden zuvor die Dunkelheit hereingebrochen war. Trotz der Wirkung des Zellaktivators fühlte ich mich wie gerädert. Ich fand einfach nicht zu gesundem Schlaf. Mein Unterbewusstsein arbeitete ständig, drehte und wälzte die Vielzahl der Probleme, die sich wie Gebirge vor uns auftaten. Jorge hingegen schlief tief und fest. Ich gönnte ihm diese Atempause. Wer wusste schon, was die nächsten Tage für uns bereithielten? Dendia war bereits aufgestanden und hatte die Hornkäfer auf die bekannte Weise gefüttert. Während Eitadoco, der kaum ein Wort sprach, Frühstück zubereitete, setzte sich Häuptling Gamondio zu mir, um den Bericht des Vortages zu vervollständigen. Leise sprach er: »Den Visionen Dendias ist unbedingt Glauben zu schenken. Alles, was sie sagt und was sie tut, hat Bedeutung.« Er senkte die Stimme abermals. »Selbst die Nachtlager, die wir abwechselnd und manchmal nur widerwillig mit ihr teilen, tragen schlussendlich dazu bei, für Ruhe unter den Männern zu sorgen.« Gamondio hustete und spuckte braunen Sud in die Asche. Es zischte. Der Extrakt, den die Savannenreiter ständig kauten, stammte von hart gepressten Kräuterriegeln. Er ähnelte altterranischem Kautabak, schmeckte jedoch weitaus schärfer. »Die Vision von der schwarzen Schlange«, fuhr der Häuptling schließlich fort, »die unser Vatergestirn zu verschlingen droht, versetzte die Frauen und Männer des Stammes der Tulig natürlich in Angst und Schrecken. Noch in derselben Nacht be-
23 schlossen wir, die fähigsten und stärksten Krieger unter meiner Führung auszuschicken. Es galt, den Richtigen zu finden, der dieser drohenden Gefahr zu begegnen imstande ist. Es musste ein nahezu gottgleiches Wesen sein, um das Unheil abwenden zu können. Ein Geschöpf, das länger auf Vinara lebt als irgendein anderes und das Kräfte besitzt, die über alles Denkbare hinausgehen. Wir mussten ihn suchen und warnen.« In mir keimte ein Verdacht. Er verdichtete sich rasch zur Gewissheit, so unglaublich es auch klingen mochte. »Ihr sucht Sardaengar?«, fragte ich und konnte nicht vermeiden, dass trotz aller Vorsicht den Nomaden gegenüber Zweifel in meiner Stimme mitschwang. Der Häuptling spuckte erneut einen Schwall bräunlicher Flüssigkeit in das glosende Feuer. »Sardaengar? Ha! Es kann nur einen geben, der der namenlosen Gefahr aus der Schwärze des Himmels begegnen kann – und das ist der Ewige Litrak!« Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Schließlich war mir dank des mir zugeflossenen Wissens bekannt, dass in den alten Geschichten mehr als bloß ein Körnchen Wahrheit enthalten war. Sollte ich die Sprache darauf bringen, dass der Ewige Litrak die Auseinandersetzung mit Sardaengar nur als zweiter Sieger überstanden hatte und eingefroren an einem unbekannten Ort in scheintotem Zustand lagerte? An einem Ort, den die Tulig Casoreen-Gletscher nennen! Ich würde die Nomaden völlig vor den Kopf stoßen und meine Position nur schwächen. Schon aus Eigennutz und Überlebenswillen durfte ich das nicht tun. Es gab noch ein weiteres Argument, vorerst nicht auf diese haarsträubende Geschichte der Afalharo vom Stamm der Tulig einzugehen: Mein Gefühl, mein Bauch, sagte mir, dass wesentlich mehr hinter diesen Mythen und den Visionen der Fetten Dendia steckte, als vordergründig zu erkennen war. Unbestimmte, unzusammenhängende Ge-
24 danken beschäftigten mich. Immer wieder tauchte in meinen Gedanken der Begriff »Obsidian-Kluft« auf, stellte sich als Hort der Bedrohung dar. Was noch viel bedeutender erschien: Die heftige Transition der »Vergessenen Positronik«, an der Jorge und ich teilgehabt hatten, konnte möglicherweise durch hyperdimensionale Schockwellen Strukturschäden im System der fünf Planeten ausgelöst haben. Vielleicht wurde das Sonnensystem deshalb instabil. Ich schwieg also und nickte Häuptling Gamondio zu, in seinen Erzählungen fortzufahren. »Dendia bestimmte die Krieger, die sie und mich zu begleiten hatten. Ich selbst hätte keine bessere Wahl treffen können. Diese Männer sind wahrlich die Besten meines Stammes.« Stolz blickte er mich an, und ich schnalzte mit der Zunge. Dies war ein Zeichen der Zustimmung, wie ich mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte. »So sammelten wir uns«, fuhr er fort, »und ritten entlang der alten Handelspfade in Richtung Zarband, der Karawanserei. Nach einem Tagesritt trafen wir auf euch. Wenn wir in der Handelsstation angekommen sind, werden wir den nördlichen Weg einschlagen, durch das Land der Stämme der Nathals und der Shanums, hinauf zum geheiligten Obsidiantor, das zur dritten der fünf Welten führt …« Ich horchte auf. Ein Transmittertor? So wie jenes, durch das wir auf diese Welt gekommen waren? War es noch funktionstüchtig? »Das Obsidiantor – habt ihr es schon einmal durchschritten?«, fragte ich, möglichst unverfänglich. »Niemand unseres Stammes, der noch lebt«, antwortete Gamondio. Mit Stolz fügte er hinzu: »Aber der Cousin dritten Grades meines Urgroßvaters väterlicherseits soll jemanden gekannt haben, der das Tor passiert hat.« Dendia, die ihre morgendliche Arbeit be-
Michael Marcus endet hatte, setzte sich ächzend und schwitzend zu uns. Die Krieger waren währenddessen damit beschäftigt, das Nachtlager abzubauen. Nichts, was verwertbar war, wurde zurückgelassen. Sogar der Dung der Dendibos wanderte in riesige Säcke. Die Schamanin hatte die letzten Worte offensichtlich mitgehört. Sie nickte dem Häuptling zu und fuhr fort: »Es spielt letztlich keine Rolle, ob jemand unseres Stammes bereits einmal durch das Tor gegangen ist. Denn die Visionen, die ich hatte, weisen uns den Weg.« »Und was, Dendia, haben dir diese Bilder gesagt?« Die Blicke aus den violetten Augen der alten, fetten Frau schienen mich zu durchdringen. Mit entrückter Stimme antwortete sie: »Mir wurde geheißen, die Wächter des Ewigen Litrak zu suchen. Hywalcir, den Schmetterer. Caryelin, den Finsteren. Narmasar Tarnon, den Tobenden. Milanta Vandor, den Gebietenden. Einen von ihnen sollte ich vor dem Unheil, das uns alle auf den fünf Welten bedroht, warnen. Einen Einzigen … Alles Weitere würde sich von selbst ergeben, und unsere Aufgabe wäre erfüllt.« Durch Dendias Erzählung hatte der Begriff Wächter der Eisgruft endlich eine Bedeutung für mich ergeben. Doch dies waren Namen, die mir nichts sagten. Nichts regte sich in den Schubladen und Kisten meines Gedächtnishorts, der seit mehr als zwanzigtausend Jahren mit Daten und Fakten angefüllt wurde – und dennoch nicht das geringste Detail vergessen konnte. Der Blick der Schamanin wurde wieder, klar. Sie fixierte mich. »Du bist die letzte Bestätigung dafür, dass ich alles richtig erkannt und gedeutet habe.« »Ich?« Das konnte unangenehm werden. »Ich sah, dass ein großer weißer Mann kommen würde. Ein Bote des Wächterordens. Wir sollten ihn beschützen, so, wie er uns beschützt.« Kurz unterbrach sie, stieß auf und fuhr dann fort: »Wir befinden uns in der Nähe der Ruinen von Aziin mit all ihren unerklärlichen Riesenbauten. Ihr habt ganz
Die Savannenreiter von Vinara offensichtlich das Tor dort benutzt.« Aziin ist also der Name für den Ort, an dem Jorge und du strandeten, meinte der Extrasinn. »Es ist weithin bekannt«, führte Dendia weiter aus, »dass sich Ordensmitglieder in der Nähe der unerklärlichen Relikte aufhalten – und in der Nähe der Obsidiantore. So wie du und dein Begleiter. Es war zudem ein Leichtes, dich anhand deiner Aura zu identifizieren.« Aha. Und was erwartete die Schamanin nun von mir? Irgendetwas Salbungsvolles? Dass ich zugab, jener erwartete Bote des Wächterordens zu sein? »Aber sag mir: Wo ist dein Kristallstab?«, fragte sie mich. »Mein Kristallstab?« Die Schamanin kniff die Augen zusammen und überlegte. Für einen kurzen Moment zeigte sie ein wenig Unsicherheit. »Es mag sein, dass ich mich irre. Geschichten und Legenden verändern sich im Laufe der Zeit. Soviel ich weiß, benötigt jeder Bote, der die gesperrten Tore bereist, einen Kristallstab. Einen Schlüssel, bestehend aus Mondsplittern, der ihn als Wächter oder Boten ausweist.« Ein Schlüssel also. Ein Aktivator, ein Kodegeber oder etwas, das uns als autorisierte Benutzer der Transmittertore legitimierte. Diese Sicherheitsmaßnahme war für ein technisiertes Volk nur allzu verständlich. Und den Erbauern des Obsidiantores, durch das wir hierher gelangt waren, gestand ich einen hohen Grad an technischem Verständnis und Wissen zu. Aber warum hatten Jorge und ich die Passage hierher geschafft, ohne einen Kristallstab zu benutzen oder zu besitzen? War dies ein weiteres symbolisches und verklärtes Bild? Eine Allegorie, die sich im Laufe vieler Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gebildet hatte? Oder gab es einen Faktor namens Zufall? Energieemissionen, die aus der Vergessenen Plattform oder dem blauen Leuchten des Hoagh stammten? Hyperenergetische Kaskaden, die zu einer Aktivierung
25 des Obsidiantores geführt hatten? Ich wusste es nicht, und selbst ein Universalgenie wie Myles Kantor hätte mangels Informationen keine schlüssigen Antworten finden können. Es war eine Mischung aus Mythen, Halbwahrheiten und Fakten, die ich Schritt für Schritt entschlüsseln musste. Meinem rationalen Ich widerstrebte es, Botschaften zu glauben, die durch Träume übermittelt wurden. Und ebenso, Sagen und Märchen als realitätsnah zu akzeptieren. Und dennoch war in diesem verwobenen Durcheinander weitaus mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Die Nomaden, gewiss ehrenhafte Männer, würden zwei Wesen in Not keinesfalls im Stich lassen. Würden sie uns genauso bedingungslos unterstützten, wenn sie wüssten, dass wir im Grunde nur nach Hause wollten? Am besten wich ich jeder unangenehmen Frage aus. Ich stand auf, weckte Jorge und sorgte dafür, dass er ein Frühstück erhielt. »Was passiert jetzt? Wohin geht es?«, erkundigte sich Jorge bei mir. Seine Blicke suchten die ihn sonst stets umgebenden positronischen Aufzeichnungsgeräte. Für ihn war die fehlende Technik auf Vinara besonders hart. »Vierhundertfünfzig Kilometer östlich liegt eine Karawanserei, Zarband genannt. Eine Oase, in der sich die Angehörigen der unterschiedlichen Nomadenstämme treffen. Neutraler Boden, auf dem Handel mit Außenstehenden getrieben werden darf. Dorthin werden wir reiten, und dann sehen wir weiter.« »Vierhundertundfünfzig Kilometer? Reiten?« Jorge rieb sich die Augen und blickte irritiert umher. »Wo sind die Pferde?« Ein aufgeregtes Klappern erklang. Zwei der Dendibos scheuerten ihre Hirschgeweihe aneinander. Sie spürten, dass es bald losging. Ich beobachtete den Terraner amüsiert. Es war immer wieder bewundernswert. Diese Barbaren von Larsaf III konnten binnen we-
26 niger Sekunden unglaublich blass werden. »Die Afalharo haben zwei der Lastentiere für uns vorbereitet. Wir werden mit den Dendibos unseren Spaß haben«, sagte ich locker. Aber ich war mir meiner Sache keineswegs sicher. Die Zeiten, da ich auf Reittieren umhergezogen war, ja praktisch mit und auf ihnen gelebt hatte, waren lange vorbei. Nur Erinnerungen waren mir geblieben. Gamondio führte uns näher an einen Dendibo-Käfer heran. So nahe, dass ich mein Ebenbild in den drei Facettenaugen tausendfach gespiegelt sah. »Das ist Arara«, meinte der Häuptling der Afalharo. »Ein gutmütiges, aber auch ein tumbes Tier. Es hat kein Feuer, keinen Antrieb und trabt den ganzen Tag dem Leitkäfer hinterher. Es gibt nicht viel zu tun.« Er blickte Jorge an. »Du musst dich einfach festhalten und den Dendibo ab und zu mit ein paar festen Schlägen aufmuntern.« Gamondio deutete auf eine schorfige Stelle am Hinterkopf des drei Meter langen Monsterkäfers. »Hier.« Jorge war völlig überrascht. Er registrierte kaum, dass ihn die Zwillinge Adino und Amessio auf das geduldige Tier hievten. Bei allen Sternengöttern, was stanken die Viecher aus der Nähe! Warzige Drüsen an den Ansätzen der Vorderbeine sonderten stetig einen strengen Geruch ab. Ich konnte mich kaum konzentrieren, als mir Gamondio die Bauchgurtung, Schnürung und Zügelsteuerung anhand von Jorges Tier erklärte. »Wie kommt es eigentlich, dass du und dein Gehilfe keine Ahnung von der Behandlung der Dendibos haben?«, fragte der Häuptling. »Ich dachte stets, die Tiere seien überall bekannt.« Verdammt, was sollte ich nur sagen? Dass wir fremd auf dieser Welt waren, schien er eindeutig zu erkennen. »Wir waren lange Zeit … entrückt«, improvisierte ich rasch. Der Häuptling schwieg. Keimte erstes Misstrauen auf? Ich wusste es nicht, konnte es anhand der Blicke aus diesen dunklen Augen nicht deuten. Wir wa-
Michael Marcus ren einander einfach zu fremd. Trotz der mit ziemlicher Sicherheit gleichen Abstammung trennten mich und die Nomaden räumliche und kulturelle Welten. Es hätte wahrscheinlich mehrerer Monate oder Jahre bedurft, um einander kennen zu lernen. Dies war eine Zeitspanne, die ich keinesfalls gewillt war, auf Vinara zu verbringen. Gamondio führte mich zu einem anderen Tier, das unruhig auf seinen stämmigen Beinen hoch- und niederwippte. »Das ist Gantschula. Das einzige Weibchen.« Man konnte den Unterschied sofort ausmachen. Das Horngeweih war lediglich vierzig, fünfzig Zentimeter lang. »Sie scheint mir ein wenig unruhig«, bemerkte ich. »Das stimmt«, bestätigte mir Gamondio. »Sie ist heißblütig und nicht leicht zu handhaben. Aber unser dritter Lasten-Dendibo lahmt. Wir müssen ihn schonen. Du musst mit dem Weibchen vorlieb nehmen.« Es war dem Häuptling sichtlich unangenehm, dass er mir kein zahmeres Tier zur Verfügung stellen konnte. Ich verstand seine Lage. Wir konnten uns nicht zu einem der Krieger dazusetzen, selbst wenn die Dendibos die zusätzliche Last getragen hätten. Seine Krieger waren auf ihre Käfer eingeschworen, bildeten eine Einheit und standen neuen Wesen und Gerüchen stets misstrauisch gegenüber. Die Hirschkäfer waren zudem schlachterprobte Tiere. Wenn ich den Andeutungen des Häuptlings Glauben schenken konnte, würden wir sehr bald auf die Kampfkraft der Käfer und ihrer Reiter zurückgreifen müssen. Der Weg zur Nomadenstadt war lange und gefährlich. Rismelo, der kleinste der Krieger, half mir auf den Rücken des Käfers. Das Tier ließ eine Art Schnauben hören und blähte seinen haarigen Unterkörper auf, so dass er fast über den Boden schliff. Gantschula fühlte und roch meine Unerfahrenheit. »Jetzt die Flügelriemen lockern«, forderte uns Gamondio auf und deutete auf zwei grobe Stricke links und rechts des hornigen Sat-
Die Savannenreiter von Vinara tels, auf dem ich saß. Der Baldachin, der bogenförmig über meinem Kopf schwankte, bestand ebenfalls aus Chitin. Er war geschmückt, verziert und mit mystisch anmutenden Schnitzereien versehen. Ich löste die Schnürung – und sofort tat das Biest einen mächtigen Satz nach vorne. »Ho!«, rief ich und zog verzweifelt an den Seilen. »Nicht so grob!«, rief mir Gamondio hinterher. Der hatte gut reden! Wie sollte man bei den Bocksprüngen, die Gantschula tat, ein Gefühl für Steuerung und Befehlsgebung erhalten? »Nachlassen! Links mehr Riemen geben! Schlag ihr auf beide Flügel! Mehr Schenkeldruck! Mehr Zug auf die Mundzügel!«, waren nur einige Befehle, die ich so schnell wie möglich verinnerlichen musste. Die Sonne stand bereits hoch am Horizont, als ich absteigen durfte. Trotz meines zweifelsohne hohen Status, den ich als vermeintlicher Bote der Ordenswächter genoss, spürte ich die amüsierten Blicke der Afalharo. Ich hatte mich wahrscheinlich ziemlich ungeschickt angestellt. »Wie war ich?«, fragte ich schweißüberströmt und mit klappernden Zähnen. Die Umgebung präsentierte sich als sehr buntes, sehr unruhiges Bild, in dem alles doppelt und dreifach vorhanden war. Die drei Gamondios schwankten zwischen Verzweiflung und Erheiterung, während Dendia lauthals draufloslachte. Die Schamanin war eine äußerst despektierliche Dame, und sie kannte keine Achtung vor meinem hohen Alter. »Eitadoco und ich werden dich in die Mitte nehmen, Bote«, sagte der Häuptling schließlich. »Du wirst es schon noch lernen.« Auch Gamondio vermochte sich sehr diplomatisch auszudrücken. Es war eine Qual sondergleichen. Gantschula war sehr unruhig, und die Nähe der beiden Käferbullen tat ihr Übriges, um sie verrückt spielen zu lassen.
27 Vergeblich bemühten sich die Afalharo, mein Reittier zu beruhigen. Selbst die Beschwörungen Dendias nutzten nicht allzu viel. Jorge hatte weniger Probleme. Sein Tier war in der Tat lammfromm und folgte den anderen auf Schritt und Tritt. Der Tag wollte kein Ende nehmen. Wir kamen in den Augen der Nomaden vergleichsweise langsam voran; ich konnte es an ihrer Ungeduld erkennen. Doch sie wagten nicht, mir gegenüber ein böses Wort zu verlieren. Ich tat mein Bestes, ignorierte das Brennen meines Hinterns und bemühte mich, Gantschula wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu halten. Wir ritten entlang des nahezu kerzengeraden Karawanenweges. Das Land wurde immer trockener. Sand, Geröll und riesige Felsbrocken, die wie Murmeln ausgestreut herumlagen, bestimmten das Bild. Die messerscharfen Gräser, die uns am Tage unserer Ankunft auf Vinara enorm zugesetzt hatten, verschwanden allmählich. Sie wären für die hornigen Beine der Dendibos ohnehin kein Problem gewesen. Auch Hügel und Erhebungen, die Trockenheit, Sandverwehungen, Stürme und lästige Insektenschwärme behinderten die Reittiere kaum. Als wir riesigen Termitenstöcken begegneten, gab Gamondio allerdings den Befehl zum Ausweichen. »Genjis!«, rief er mir zu, als sei damit alles gesagt. Endlich gab Gamondio den Befehl zum Halten. Inmitten einer Senke, in der sich die Tageshitze gestaut hatte. »Warum stoppen wir gerade hier?«, fragte ich Gamondio. »Spürst du es nicht?« Der Häuptling blickte mich enttäuscht an. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und verneinte. Die Zwillinge waren von ihren Reitkäfern herabgerutscht. Sie schlichen umher wie auf der Pirsch. Mit bloßen Händen gruben sie da und dort kleine Löcher, schnüffelten, schoben Steine beiseite, rissen Sträucher mitsamt
28 ihren Wurzeln heraus. Nach einiger Zeit, der Häuptling wurde bereits ungeduldig, rief Adino: »Ssu!« Wasser! Das war es also, was sie gesucht hatten! Die beiden Nomaden schaufelten Lehm und Sand an einer ganz bestimmten Stelle beiseite, gleichmäßig, in einem einschläfernden Rhythmus. Ich sah fasziniert zu, während Dendia Jorges Reitkäfer und meinen beiseite nahm, um sie anzupflocken. Die Zwillinge waren sich vollkommen sicher, dass sie Wasser gefunden hatten. Die Grube war bereits mehr als einen Meter tief, und jeder vernünftige Arkonide hätte längst abgebrochen. Nicht jedoch die Nomaden. Sie schaufelten und schaufelten. Rhythmisch und selbstsicher. In einer Tiefe von nahezu zwei Metern wurden sie tatsächlich fündig. Zuerst tröpfelte das kühle Nass langsam, feuchtete die Erde lediglich ein wenig an. Erst als Gamondio einen runden, langen Stecken tief in den Boden rammte, sprudelte es heftig empor. Mit einer Selbstverständlichkeit, so als wäre es alltäglich, inmitten einer trockenen Savannenlandschaft Wasser gefunden zu haben, wandten sich die Nomaden anderen Aufgaben zu. »Wie haben sie das gemacht?«, fragte ich den Häuptling. »Woher konnten sie wissen, dass ausgerechnet an dieser Stelle Wasser sein würde?« »Es ist hier überall«, antwortete Gamondio, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er trieb lange Pflöcke mit einer Art Vorschlaghammer in die Erde. »In riesigen, unterirdischen Kavernen. Manche Mythen erzählen, dass die Savanne vor undenklichen Zeiten ein riesiger See gewesen sei. Weil manche Vinaraner vom Glauben an den Ewigen Litrak abgefallen seien, habe dieser sie bestraft. Er versteckte das Ssu. Doch es gibt Anzeichen wie bestimmte Büsche und Sträucher. Sie gedeihen nur an den Stellen, wo das Wasservorkommen knapp unter der
Michael Marcus Erde liegt. Tierwechsel. Änderungen im Gestein.« Gamondio zögerte kurz. »Außerdem riechen wir es. Deine Nase muss schon sehr verdorben sein, dass du den Geruch nicht wahrnehmen kannst.« Diesmal täuschte ich mich nicht. Es lag Bedauern in der Stimme des Nomaden. Bedauern und Enttäuschung. Mein Ruf als Bote des Wächterordens hatte erneut ein paar unschöne Kratzer erhalten. Ich musste vorsichtiger sein und verfängliche Fragen vermeiden. Mein Extrasinn riet mir, mich in den Schatten mehrerer Felsbrocken zurückzuziehen. Warum waren alle Sagen, Erzählungen, Mythen und Geschichten dieses einfachen Nomadenvolkes derart auf ein duales Prinzip fixiert? Der Ewige Litrak und der Dunkle Sardaengar – standen sie stellvertretend für Gut und Böse? Der eine konnte anscheinend ohne den anderen nicht auskommen. So wie Yin und Yang in der irdisch-chinesischen Philosophie, wie Positiv und Negativ. Ich brach meine Gedanken ab. Sardaengar mochte vielleicht mit jenem Tamrat identisch sein, der durch ein missglücktes Experiment in dieser kleinen Enklave gelandet war. Dennoch existierte er, so wie Litrak, nur noch in nebulösen Erzählungen.
Zwischenspiel: Sardaengar Sardaengar hatte Unendlichkeiten zur Verfügung gehabt – und dennoch war er in seinen Bestrebungen lediglich kleine Schritte vorangekommen. Das Ziel, das große, hoch gesteckte Ziel – es rückte kaum näher. Veränderungen, die er als positiv erachten konnte, waren selten und bloß in seinem eigenen, besonderen Zeitmaßstab zu erkennen. Er hielt kurz in seiner Konzentration inne und rief sich nochmals ins Gedächtnis, was er seit Äonen kannte: Grataar. Die Bastion.
Die Savannenreiter von Vinara Die Festung im Herzen des Ograhan-Obsidian-Gebirges. In Mertras, dem Land der Silbersäulen. Sardaengar stand in der hohen Kuppel des Westturms. Ornamentale Strukturen, über die er kaum einen Gedanken verlor, umgaben ihn. Schmale, hohe Fenster erlaubten den Blick auf die anderen vier Türme. Die Außenhaut der schlanken Gebäude wirkte metallisch. Von Wind, Sand und Niederschlägen über Jahrtausende hinweg angegriffen. Was einmal silbern geglänzt hatte, war nun dunkel und stumpf. An manchen Stellen auch schartig und wie mit einem primitiven Reibeisen aufgeraut. Bei Tageslicht hätte Sardaengar die vielen haarfeinen Risse erkennen können, die die Struktur der Außenhaut wie ein gewobenes Spinnennetz durchzogen. Ihm blieb nur der fahle Widerschein mehrerer Beleuchtungskörper aus den unteren Bereichen der Türme. Sardaengar ließ den Blick über die markanten, dünnen Spitzen der Türme wandern. Jedes Gebäude hatte eine zentrale und vier weitere, etwas tiefer als Quadrat angeordnete, filigran wirkende Nadeln, die in den Himmel ragten. Nur der Südostturm unterschied sich mit seiner abgeschnittenen Terrassenplattform von den restlichen Türmen. Alle Gebäude waren unterschiedlich hoch. Dennoch war eine gewisse Symmetrie zu erkennen. Die Anordnung der Türme ergab ein gleichseitiges Fünfeck. Über dem Innenhof wallte der Nebeldom, eine Nebelwolke. Die grauweißen Schwaden waren mit Blicken kaum zu durchdringen. Nur wenn im Inneren der Wolke jener kleine, reichlich facettierte Kristall aufleuchtete – Sardaengars Mondsplitter –, blitzte blauweißes Licht hoch hinauf in den Himmel und erhellte für kurze Momente die Außenfront der Türme. Erhabenheit und Kühnheit war allerorten zu spüren; architektonisch gewagt war die Konstruktion der Gebirgsstation. Sosehr sich der Uralte bemühte – er konnte sich einfach nicht am Anblick der Festung erfreuen. Seufzend wandte sich Sardaengar seinen
29 selbst auferlegten Pflichten zu; den alten und den neuen. Das Problem mit Litrak würde er auch heute nicht lösen können. Doch es gab weitere Dinge, die seiner Aufmerksamkeit bedurften. Mit seinen Sinnen griff er, der Herr der Welten, hinaus in das Reich der ObsidianKluft. Es gab Neuankömmlinge. Grundsätzlich war das keine Sensation. Schon seit Jahrhunderttausenden wurden immer wieder Vertreter unterschiedlichster Völker hierher verschlagen, auf der Insel Viingh abgesetzt und ihrer technischen Hilfsmittel beraubt. Aus ihm unbekannten Gründen war die Barriere der Obsidian-Kluft in letzter Zeit jedoch löchrig geworden. Das Objekt, das vor kurzem hier aufgetaucht war, war Sardaengar wohl bekannt. Die Vergessene Positronik leitete einen scheinbar unumkehrbaren Prozess ein. Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes bahnte sich an. Trotz all seiner Macht und Weisheit, Eigenschaften eines langen Lebens, wusste Sardaengar nicht, was er diesen Vorgängen entgegensetzen sollte. Sein Alter hatte Sardaengar Ruhe und Besonnenheit gelehrt. Manchmal bargen Probleme die Lösungen bereits in sich. Es galt, in erster Linie den Kern des Problems freizulegen. Er wandte sich dem schlichten Spiegel im Inneren des vierbeinigen Obsidiantores zu, das aus gutem Grund in der Kuppel des Westturms untergebracht war. Konzentriert warf er Gedanken und geistige Substanz in das reflektierende Gefäß seines Ichs. Übergangslos fühlte Sardaengar seine Kräfte wachsen, ja überproportional steigen. Der Spiegel reflektierte die Energien und warf sie gebündelt auf ihn zurück. Solcherart gestärkt, griff er neuerlich hinaus. Vergaß seine Festung auf dem schroffen Felsenwerk, vergaß den Turm, vergaß alles. Sardaengar wurde Geist und Seele. Er reiste umher. Er suchte.
30
Michael Marcus
Und er fand. Erschrocken fuhr er zusammen. Eine Regung, die er schon seit Äonen nicht mehr gespürt hatte. Auf der Vergessenen Positronik hatte er die Präsenz eines Wesens mit der Ausstrahlung eines Imaginären entdeckt. Damit nicht genug; auf Vinara IV, einer der vier Spiegelwelten, spürte er an einem Neuankömmling die Aura eines Ritters der Tiefe. Es war eine Person, die er kannte. Atlan, der Arkonide.
8. Lethem, 27. März 1225 NGZ »Warum willst du ausgerechnet die VERDRANS GLUT stehlen, Lethem?«, fragte Cisoph Tonk. »Ich habe den Eindruck, dass der Kapitän des Schaufelraddampfers nicht besonders beliebt unter seinen Kollegen ist«, argumentierte der Arkonide. »Folglich werden ihm nur wenige helfen, sein Eigentum zurückzubekommen. Außerdem scheint das Schiff auslaufbereit zu sein. Feuerholz wurde gerade gebunkert, als wir dort auftauchten. Die Matrosen haben bestimmt zusätzliche Schichten einlegen müssen, um die Schäden am Schiff zu beheben. Dementsprechend müde werden sie sein. Zudem liegt die VERDRANS GLUT ein wenig abseits.« Lethem hastete mit seiner Gruppe zum Hafen hinunter. Sie nahmen den gleichen Weg wie am Tag zuvor. »Was hat der Alte zu deiner Idee gemeint? War er tatsächlich mit deinem Plan einverstanden?«, wollte Cisoph Tonk wissen. »Ja«, log Lethem. Er verschwieg bewusst, dass January Khemo-Massai weit davon entfernt war, Entscheidungen treffen zu können. Nur ungern erinnerte er sich an das Gespräch mit dem TOSOMA-Kommandanten. Der Raum war abgedunkelt gewesen, und es hatte stechend nach Arzneien gerochen. Lethem hatte nur kurz von seinem Plan
berichtet. Mit sehr viel Fantasie konnte man die Reaktion des Kommandanten als Zustimmung interpretieren. Die Medo-Assistentin Tasia Oduriam war während des kurzen Gespräches ebenfalls anwesend. Sie war die einzige Mitwisserin seiner eigenwilligen Interpretation. Und da es einer ungeschriebenen Tradition entsprach, dass bei einer Außenexpedition, wie er sie vorhatte, ein Bauchaufschneider mit dabei sein musste, hatte er sie kurzerhand für seinen Trupp eingeteilt. Ihre vorwurfsvollen Blicke verfolgten ihn – aber sie sagte nichts. Er wusste, dass er der jungen untersetzten Arkonidin gefiel. Lethem ließ seinen Blick über die Mitglieder seines kleinen, aber feinen Trupps wandern. Cisoph Tonk war geradezu eine Perle unter den Schiffsoffizieren. Auf ihn konnte er sich immer und jederzeit verlassen. Hinter ihm trabte Scaul Rellum Falk, ein tapsiger, gutmütiger Terraner. Es gab eigentlich keinen besonderen Grund, warum er den Stellvertretenden Leiter der Funk- und Ortungsabteilung mitgenommen hatte. Er war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen – und Lethem mochte den Kerl. Der Arkonide Hurakin, technischer Mathematiker, war auf den ersten Blick eine Fehlbesetzung für ihre Expedition. Da er ein hervorragender Stratege war und sich in der Handhabung von Primitivwaffen wie Schwertern und Säbeln bestens auskannte, wählte Lethem ihn dennoch aus. Letzter in der Gruppe war der umweltangepasste Zanargun. Ein Kraftpaket. Der Leiter der Abteilung Außenoperationen an Bord der TOSOMA war Stratege und eine Kämpfernatur. Eine äußerst seltene Kombination. »Leise jetzt«, flüsterte Lethem. Sie hatten die niedrigen Bauten des unteren Hafenviertels erreicht. Zu dieser Zeit war es am ruhigsten in der Nacht. Ab und zu torkelte ein Betrunkener durch die Gassen. An einigen Gebäuden arbeiteten immer noch die Schweberoboter.
Die Savannenreiter von Vinara Die Fischer waren bereits auf See, vor Sonnenaufgang kehrten sie nicht zurück. Lethem und seine Leute hatten etwas mehr als zwei Stunden Zeit, um den gewagten Plan in die Tat umzusetzen. Für einen kurzen Moment dachte Lethem an Umrin, den Barden. Cisoph und er hatten mit dem schwatzhaften, durchaus sympathischen Kerl eine ausgedehnte Sauftour durch die unzähligen Tavernen auf der vierten Ebene unternommen. Der Spion der Maghalata hatte mit seinen Gesängen ihre Fantasie angeregt. Technostädte, Orte der Kraft, Juwelen der Obsidian-Kluft waren nur einige der Schlagwörter gewesen, die er in kleinen Versen verpackt wiedergegeben hatte. Ständig hatte Lethem das Gefühl gehabt, dass Umrin weitaus mehr über die Welt Vinara wusste, als er zuzugeben bereit war. Oder konnte er nur gut bluffen? Ein Name war besonders in Lethems Erinnerung hängen geblieben: der Uralte Sardaengar. Eine Sagengestalt, die aber gleichzeitig einen durchaus realen Hintergrund zu haben schien. Einerlei. Sie hatten den Überschweren durch die Kneipen geschleppt und dafür gesorgt, dass er ausgiebig dem sauren Wein zusprach. Cisoph und er bekämpften ihre Trunkenheit mit Ausnüchterungstabletten. Der Arkonide fühlte sich seitdem ausgezeichnet. Er wusste, dass sein Körper irgendwann in den nächsten vierundzwanzig Stunden sein Recht auf Erholung einfordern würde. Der Hafen lag vor ihnen. Das Viertel mit seinen kleinen Häusern und Hütten hatte ohne seine geschäftig umhereilenden Bewohner den labyrinthartigen Charakter verloren. Lethem brachte sich den Plan, den sie geschmiedet hatten, nochmals in Erinnerung. Das Dampfschiff, an das sie heranwollten, lag rechter Hand im sanften Wasser, ungefähr einhundert Meter entfernt. Die Lagerflächen dazwischen waren voll geräumt – bis auf den Platz direkt vor dem Schiff. Der zweite Pilot der TOSOMA fluchte. Die hoch gestapelten Ballen waren verschwunden.
31 Cisoph blickte ihn fragend an. »Wir probieren es trotzdem«, flüsterte Lethem. »Es wird auf unsere Schnelligkeit ankommen.« Es gab für den Arkoniden kein Zurück mehr. »Nach vorne«, zischte er schließlich und deutete auf mehrere markante Punkte. Fässer, Kisten und aufgehäufte Schleppnetze boten ausreichend Deckung. Leise huschten die nahkampferfahrenen Zanargun und Cisoph vorneweg, gefolgt von Lethem und Falk. Der Mathematiker und die Bauchaufschneiderin kamen als Letzte. Abgesehen von den beiden großen Leuchtfeuern, die einlaufenden Schiffen den Weg zur sicheren Fahrrinne aufzeigten, brannten um diese Uhrzeit nur wenige Fackeln. Die Wachen auf den Schiffen, an denen sie vorbeihuschten, dösten vor sich hin. Lediglich vom Deck eines Seglers drang das Lachen zweier Männer zu der Gruppe herüber. »Verd …!« Lethem rutschte auf dem glitschigen, nassen Pflaster aus. Unsanft fiel er nach vorne. Das Heft der kurzen Stichwaffe, die er in der Nähe ihrer Unterkunft gefunden hatte, klapperte über den Boden. Hastig rappelte er sich hoch, hechtete nach vorne und suchte Deckung hinter einem hohen Netz mit Stoffballen. »Wer ist da?«, ertönte eine tiefe, schläfrige Stimme von einer der Rudergaleeren. »Schlaf weiter, Ambiant«, erklang eine andere Stimme vom Nebenschiff, »Käpten Demruhin und sein Maat vergnügen sich ein wenig lauter als sonst.« »Noch lauter?« Beide Männer lachten, dann kehrte erneut Ruhe ein. Lethem atmete tief durch. »Weiter, du Tölpel«, feuerte er sich selbst an. Er bedeutete den anderen weiterzugehen. Die VERDRANS GLUT war nur noch wenige Dutzend Meter entfernt. Wo war die Wache? Ein Matrose war an Deck. Er saß auf einem Schaukelstuhl hinter dem notdürftig in Stand gesetzten Vorbau und trank hin und
32 wieder aus einer Flasche. Das Windlicht, das neben ihm hing, leuchtete ihn gut aus. Lethem winkte Zanargun, der links neben ihm kauerte. Er sollte die Wache ausschalten. Der Luccianer wartete einen geeigneten Moment ab und spurtete los. Der Umweltangepasste war an eine Schwerkraft von eineinhalb Gravos gewöhnt. Mit sechs, sieben weiten Schrittsprüngen erreichte er den Molenrand, setzte mühelos zum Schiff über, landete und federte sich ab. Alles ging geräuschlos vor sich. Der Matrose an Bord des Dampfers hatte nichts bemerkt. Als ihm Zanargun sanft auf die Schulter klopfte, erschrak der Mann heftig. Mit einem gezielten Handkantenschlag schickte der Luccianer ihn ins Land der Träume. Der Matrose sackte zusammen, als ob er eingeschlafen wäre. Zanargun eilte zurück zur Reling und schob unendlich langsam und leise eine Planke hinüber an Land. Dann gab er Lethem Zeichen. Der Arkonide winkte erleichtert zurück. Der erste Teil des Planes war erfolgreich verlaufen. Nun galt es für ihn und die anderen, unbemerkt an Bord zu kommen, den Rest der Schiffsbesatzung auszuschalten, den Kessel anzufeuern und mit Vollschub aus dem Hafen auszulaufen. Lethem gab das Zeichen, an Bord zu gehen. Cisoph rannte los. Er schleppte zwei schwere Rucksäcke mit sich, in denen sich Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittelkonzentrate aus der TOSOMA befanden. Die anderen folgten in kurzem Abstand. Lethem schlich als Letzter an Bord. Niemand hatte sie bemerkt. Er hakte einen weiteren Punkt auf seiner Liste als erledigt ab. Oduriam kümmerte sich bereits um den Gesundheitszustand des bewusstlosen Matrosen. Zanargun hatte wohl dosiert zugeschlagen. Nur ein heftiges Schädelbrummen würde den Mann an die heutige Nacht erinnern. »Zanargun und Cisoph, ihr geht hinab in die Mannschaftskabinen«, flüsterte Lethem
Michael Marcus seinen beiden kampfkräftigsten Begleitern zu. »Alles absperren. Sollte jemand aufwachen und Radau schlagen, sofort außer Gefecht setzen. Falk«, er nickte dem bulligen Terraner kurz zu, »ab in den Maschinenraum. Mach dich mit dem Kessel und der Fütterung vertraut.« Der Funker nickte; er sträubte sich keinen Moment gegen die völlig fremde Aufgabe. Diese Flexibilität schätzte Lethem ungemein an dem Terraner. »Hurakin, du gehst vorerst ans Steuerruder. Ich werde dich später dort ablösen.« Auch der schlanke, schweigsame Arkonide gehorchte ohne Widerspruch. »Und du?«, fragte Falk. »Ich werde Kapitän Koejoe in seiner Kajüte aufsuchen und in aller Freundlichkeit ein paar Worte mit ihm wechseln«, entgegnete Lethem. Lethem schlich heckwärts. Er blickte sich sichernd um. Die VERDRANS GLUT lag tatsächlich so abgelegen, dass man die Wächter der anderen Schiffe kaum noch erkennen konnte. Umgekehrt musste es genauso sein. Niemand würde die sechs Piraten bei ihrer Nachtarbeit sehen. Alles lief wie am Schnürchen, alles würde gelingen. In einer Stunde waren sie auf hoher See, auf dem Weg zum Festland und weiter zu einem der Obsidiantore. Weit weg von dieser verfluchten Insel. Er öffnete leise die Bordtür zu den Heckkabinen. Zanargun und Cisoph stiegen durch eine Falltür. Man hörte bereits laut und deutlich das Schnarchen der Seeleute. Die Matrosen ruhten in einfachen Hängematten. Hölzerne Stufen knarrten leise, als Lethem langsam in den Bauch des Schiffes hinabstieg. Sicherlich kein ungewöhnliches Geräusch an Bord dieses Schiffes. Drei Türen zweigten von einem schmalen und kurzen Gang ab. Vermutlich lagen dahinter die Kabinen des Steuermanns und der anderen Offiziere. Wenn alles einer Logik folgte, dann war die Tür geradeaus der Eingang in die Kabine des Kapitäns.
Die Savannenreiter von Vinara Zwei Schritte nach vorne, kurz am Eingang gelauscht – und dann die Klinke mit einem raschen Druck nach unten geöffnet. Ein regelmäßiges Schnarchen ertönte. Lethem erkannte das leicht geschwollene Gesicht des Kapitäns. Im fahlen Licht des Kristallmondes, das durch mehrere heckwärtige Butzenscheiben in die Kabine drang, orientierte sich der Arkonide. Lethem triumphierte. Es war alles so einfach. Nun ein paar klärende Worte mit dem unglückseligen Mann, dann … Licht flammte auf. Licht aus mehreren Quellen. Geblendet schloss Lethem da Vokoban die Augen. »Willkommen an Bord, Arkonide«, sagte eine tiefe, kräftige Stimme. »Wir haben euch schon ein wenig früher erwartet.« Die Stimme war ihm nur allzu gut bekannt. Dem Zweiten Piloten der TOSOMA wurde schwindlig. Er blinzelte müde und ließ sich schließlich in den einzigen freien Stuhl fallen. »Das habe ich ganz schön versaut, nicht wahr?«, sagte er kleinlaut zu Umrin, dem Barden, der an einem riesigen Stück Fleisch knabberte.
9. Atlan, 24. März 1225 NGZ Vier Tage waren sie bereits unterwegs. Der Marsch der Savannenkäfer wollte kein Ende nehmen. Ich verfluchte meinen weit ausladenden Sattel mit aller Inbrunst. Wann immer ich konnte, stand ich weit in den Steigbügeln auf und entlastete so für kurze Momente mein Hinterteil. Doch Gantschula, meine störrische Dame, reagierte auf jede Körperverlagerung. Scheinbar mit Vergnügen hüpfte sie dann beiseite, legte sich schief oder wackelte unruhig mit ihrem Geweih. »Weibchen sind einfach launischer«, hatte mir Gamondio zugeflüstert und gleichzeitig einen ängstlichen Blick Richtung Dendia ge-
33 worfen, die angeblich über ein sehr gutes Gehör verfügte. Die Hitze setzte Jorge und mir zu. Ich war zwar an höhere Temperaturen als der Terraner gewöhnt – doch zur Mittagszeit erwärmte sich die Luft auf fünfundvierzig Grad Celsius. Da begann selbst ich, mich unwohl zu fühlen. »Dort vorne!«, rief Gamondio mir lächelnd zu und deutete in Richtung der untergehenden Sonne. Ich konnte nichts erkennen. Vom Wind hochgewirbelter Staub behinderte meine Sicht. Nicht nur meine Pupillen waren rot, auch beide Augen waren mittlerweile vom feinen Sand entzündet. »Was siehst du?«, schrie ich hinüber zum Häuptling der Afalharo. Die Dendibos erzeugten durch das beständige charakteristische Knacksen ihrer Chitingelenke und ihren nicht gerade eleganten Schritt eine Geräuschkulisse, die uns ständig umgab. »Die Karawanserei Zarband«, antwortete er und drängte gleichzeitig sein Käfermännchen mit einer eleganten Hüftbewegung gegen Gantschula, die wieder einmal ausreißen wollte. Endlich war es so weit! Das erste Etappenziel war in Sichtweite. Mit etwas Glück würden Jorge und ich weitere Informationen sammeln – und etwas Abwechslung in unseren Speiseplan bringen. Wir hatten es bitter nötig. Beide waren wir abgemagert und hatten uns nur mit rebellierenden Mägen an die Brei-Wasser-Fleisch-Diät der Nomaden gewöhnen können. Mein Zellaktivator arbeitete im Gegensatz zu allem anderen technischen Gerät ausgezeichnet; er konnte aber nicht verhindern, dass mir die gewohnte und für Arkoniden gesunde Mischkost fehlte. Wir stoppten. Gamondio und der rechts von mir reitende Rismelo nahmen mich in die Zange, so dass Gantschula gezwungenermaßen stehen bleiben musste.
34 Der Staub setzte sich langsam. Wir standen auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Eine bretterebene Landschaft breitete sich vor uns aus. Sandig, gelb, orange. Mit einem wunderschönen grünen Farbtupfer versehen. Nahezu kreisrund war dieser Fleck, mit palmenähnlichen Gewächsen im Zentrum und dem herrlichen Blau eines Sees, an dessen flachem Ufer große, dunkelrote Laufvögel dahinstaksten. Farben in einer Pracht, die ich seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. »Es ist … wunderschön«, meinte Jorge, der sein zahmes Tier zu uns gedrängt hatte. Waren es Tränen, die ich in seinen Augenwinkeln sah? Terraner weinten aus verschiedenen Gründen; ich hatte mich lange genug mit ihren seltsamen Verhaltensmustern auseinander setzen müssen. »Du hast Recht«, bestätigte ich. Auch die Savannenreiter blickten ergriffen hinab in die Ebene. Ihnen erging es offenbar nicht anders als uns. »Die Karawanserei ist ein wahres Schmuckstück dieses Landes«, sagte ich. »Ein Schmuckstück – ja«, entgegnete Gamondio. »Leider gibt es einige falsche Edelsteine in der Fassung.« »Was meinst du damit?«, fragte ich irritiert. »Du wirst es früh genug erfahren«, sagte der Mann schroff. Dann erst bemerkte er, mit wem er gesprochen hatte, und deutete mit einer Hand eine entschuldigende Geste an. Ich akzeptierte. Die Gestik der Savannenreiter war kompliziert und vielschichtig. Schließlich ritten die Männer tage- oder wochenlang nebeneinanderher. Zu ihrer Verständigung hatten sie über Jahrhunderte hinweg eine Art Gestensprache entwickelt. »Weiter!«, rief Gamondio und deutete mit der Hand hinab in die Ebene. Er nahm seinen Reitkäfer an die kurzen Zügel. Jorge bemühte sich indes verzweifelt, sein Tier zu kontrollieren. Jetzt, da es Wasser und Grünpflanzen roch, wurde es lebhafter.
Michael Marcus Ich konnte mich nicht um Jorge kümmern, denn Gantschula hegte ihre eigenen Absichten. Sie wollte auf dem schnellsten Weg hinunter in die Karawanserei Zarband gelangen. Und mich, den lästigen Gast auf ihrem Rücken, dabei nach Möglichkeit abwerfen. »Endlich«, stöhnte Jorge und rieb sich den Hintern. Dendia hatte ihn Abend für Abend gepflegt, wohltätige Kräuter aufgelegt und dabei das »prächtige volle, weiche Fleisch« seines Hinterteils immer wieder lobend erwähnt. Nur mit Mühe hatte sich der Terraner der Aufmerksamkeit der Schamanin erwehren können. Ja, endlich. Wir hatten die Dendibos am Rande der Savanne ausgebildeten Pflegern überlassen. Männern mit weißen Burnussen. Weiß war die Farbe der Neutralität, hatte mir Gamondio erklärt. Er stapfte neben mir einher. Die Klinge seines kurzen, schartigen Messers trug er offen. So wie alle anderen Männer, denen wir im Getümmel der Straßen begegneten. Jorge und ich erregten durch unsere Körpergröße einiges Aufsehen. In der Trockenzeit hielten sich keine Fremden in der Stadt auf. Es waren sehr viele Frauen anzutreffen. Sie spielten in diesem Teil des Landes eine dominante Rolle. Sowohl in gesellschaftlicher Hinsicht, als auch was den Führungsanspruch betraf. Sie waren kleinwüchsig, nicht mehr als 1,50 Meter groß, gut proportioniert, charmant und begegneten uns stets mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Doch sobald es die Notwendigkeit ergab, wurden sie resolut und bestimmend. »Früchte! Gemüse!« Jorge deutete mit der Hand auf eine Reihe von Marktständen. »Was würde ich für ein wenig Obst geben!« Mir lief ebenfalls das Wasser im Mund zusammen. Händler zerschlugen riesengroße, melonenförmige Früchte. Das giftgrüne Fleisch, kernlos und sehr wässrig, wurde mit den
Die Savannenreiter von Vinara Händen ausgepresst, der Saft getrunken. »Pentrolas«, erklärte Gamondio ungefragt, der meine neugierigen Blicke wohl zu deuten wusste. »Das Wasser ist fruchtig und belebt die Sinne. Man sagt, dass es auch den Verstand schärft.« »Hat deine verlauste Sippe Zuwachs erhalten, Gamondio?«, erklang plötzlich eine helle Stimme aus dem Hintergrund. »Große Männer, die du an die Fette Dendia verfüttern möchtest, um selbst ihren Reizen entgehen zu können?« Der Häuptling blieb zunächst wie erstarrt stehen und drehte sich schließlich langsam um. Ein kleiner Savannenreiter stand vor uns. Er war stark gebaut, doch keineswegs korpulent. Ein zernarbtes Gesicht lugte unter dem rotfarbenen Burnus hervor. Hasserfüllt starrte er Gamondio an. Umringt war er von Männern, die die gleiche Stammesfarbe wie er trugen. »Kanzemon«, sagte Gamondio leise. »Ich hoffte, auf das Glück verzichten zu können, dir zu begegnen.« »Du weißt, dass ich jederzeit genau informiert bin, was in der Karawanserei vor sich geht.« Der Mann zeigte ein maskenhaftes Lächeln. »Willst du mir deine Begleiter nicht vorstellen? Fremde sind selten in dieser Jahreszeit.« »Es geht dich nichts an, wer sie sind und was sie wollen, Häuptling der Nathals. Dies ist nicht deine Stadt.« Ringsumher wurde es schlagartig still. »Diese Männer stehen unter dem Schutz der Tulig. Was sie tun oder lassen, soll euch nicht interessieren.« Eine mutige Ansage, und ich konnte sehen, wie sich der Kanzemon genannte Mann nur mühsam beherrschte. Vermutlich handelte es sich um eine Stammesrivalität. Eine von der Art, die sich über Generationen hielt. »Diese Stadt gehört noch nicht mir«, entgegnete Kanzemon. »Noch ist sie neutraler Boden. Es kann sich alles ändern, wie du weißt. Selbst Götter können sterben.« Gamondios Hand umkrampfte seine lose
35 in den Gürtel gebundene Stoßwaffe. Der Häuptling der Nathals hatte offensichtlich einen wunden Punkt angesprochen. »Genug geredet«, ächzte Dendia, die rücksichtslos ihren Körper einsetzte, um zu den beiden Streithähnen vorzudringen. »Gamondio, beherrsche dich«, flüsterte sie dem Afalharo zu. »Und du, Kanzemon, sparst dir deine spöttischen Bemerkungen für die Speichellecker an deinem Lagerfeuer auf. Wer den neutralen Boden Zarbands mit Blut besudelt, dessen Stamm ist vogelfrei. Habt ihr das vergessen, ihr Narren?« Sie deutete mit ihren schmutzigen Fingern auf eine junge, zierliche Frau mit dunkelblonden Haaren. Sie stand im Schatten des etwas größeren Nathal-Häuptlings. »Und du, Kreosan, junge Schamanin, hast du deine Männer nicht im Griff? Rufe sie gefälligst zur Ordnung. Sorge dafür, dass sie uns fernbleiben. Ich wünsche, dass sich unsere beiden Gruppen nicht mehr über den Weg laufen. Die Stadt ist groß genug.« Die junge Schamanin wollte etwas erwidern; ihr Gesicht verzerrte sich, und mir war, als würde ich eine Schlange sehen, die soeben zum tödlichen Biss ansetzte. Doch sie beherrschte sich und gab ihrem Häuptling ein kurzes, stummes Zeichen. »Bete zu deinem alten, sterbenden Gott, dass wir uns nicht außerhalb der Stadt begegnen«, sagte Kanzemon im Weggehen. »Denn in den Steppen wird es keine Gnade mehr geben. Dein Tod und der aller, die mit dir reiten, werden lange und schmerzhaft sein.« Gamondio wollte antworten. Dendia fiel ihm in den Arm. »Lass es bleiben«, sagte sie. »Jedes Wort in diese Richtung ist vergeudet.« Der Häuptling nickte schließlich und ließ langsam die Hand von seiner Waffe gleiten. Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir äußerst knapp einer Katastrophe entgangen waren. Dendia und Gamondio beantworteten meine Fragen bezüglich der Auseinandersetzung mit Kanzemon nur ausweichend. Ich
36 musste wohl auf den richtigen Moment warten, um meine Neugierde zu stillen. Am späten Nachmittag saßen wir in einem Vorgarten eines einfachen, aber sauberen Wirtshauses und genossen die Kühle, die uns der Schatten der vielen Pflanzen und Gewächse schenkte. Ab und zu drang eine leichte Windböe zwischen den Efeuranken zu uns durch. Jorge und ich labten uns an der abwechslungsreichen Mahlzeit. Gemüsesuppe, pikant gewürztes Fleisch, Fisch, Obst. Dazu frisches Weißbrot, Käse und herrlich kühlen Wein, der gelb schimmerte. Jorge strich mit der Hand über seinen Bauch und meinte: »Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass das die beste Mahlzeit war, die ich jemals zu mir genommen habe.« Sein Gesicht wirkte glückselig, als hätte er soeben das Himmelreich betreten. Ich lächelte still in mich hinein. Kein Wunder. Mein Begleiter hatte wohl noch nie so lange eine anständige Mahlzeit entbehrt. »Ich danke dir für die Einladung, Gamondio«, wandte ich mich an den Häuptling, der mir mit düsterem Gesicht gegenübersaß. »Und auch für euren Schutz in den letzten Tagen. Wie können wir das wieder gutmachen?« Ich beobachtete, wie er mit kleinen runden und länglichen Lithras die Zeche für uns alle beglich. Er hatte mich bereits auf dem Markt über die Werteverhältnisse dieser Obsidiansteine aufgeklärt. »Indem ihr wie versprochen bei uns bleibt und uns das Geleit zum Obsidiantor im Norden gebt.« Ich dachte kurz nach. Jorge und ich konnten noch ein paar Tage in der Karawanserei verbringen. In einer Handelsstadt wie dieser brodelten immer Gerüchte. Ein Streifzug durch die Straßen und Märkte würde nicht schaden. Ich erhoffte mir Auskünfte, einen Weg zurück in unseren Kosmos zu finden. Andererseits – was hatten wir zu verlieren, wenn wir die Savannenreiter zum so genannten Obsidiantor begleiteten? Transmit-
Michael Marcus tertore bedeuteten Technik. Technik, wie sie sonst nicht existierte. Und damit möglicherweise Zugang zu mehr Wissen, als wir in dieser Stadt jemals sammeln konnten. Abgesehen davon – wir verdankten den Nomaden unser Leben! »Nein, bitte nicht!«, flehte der Archivar. »Sag nicht, dass du vorhast, die Afalharo zu begleiten. Sollten wir uns nicht erst einmal in der Karawanserei umsehen?« »Wir sind den Nomaden verpflichtet«, entgegnete ich. »Aber …« Er brach ab. »Was aber?« »Schon gut«, murmelte Jorge und blickte tief in den leeren Weinkrug. »Du solltest dich im Spiegel betrachten, wenn die Abenteuerlust in dir erwacht.« War es denn so deutlich zu sehen, dass mich die Neugierde gepackt hatte? »Ich habe keine Ahnung, wie du so alt werden konntest«, sagte Jorge, »Du strapazierst dein Glück immer bis aufs Äußerste.« »Das ist wohl meine Bestimmung«, antwortete ich kurz angebunden. »Und was ist mit meiner Bestimmung?«, fragte er bitter. Ich musterte ihn. Der Mann hatte viel durchgemacht in den letzten Tagen; er war dem Tod in vielfältiger Form begegnet, hatte Freunde an seiner Seite sterben sehen. »Ich werde alles unternehmen, um dich heil von dieser Welt zu schaffen«, versprach ich. Es war mit bitterernst. Ich drehte mich zu Gamondio um, der unsere Unterhaltung zwar gehört, aber nicht verstanden hatte. »Hör zu, Gamonio: Jorge und ich haben eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Wir möchten sie gerne bei einer weiteren Karaffe dieses ausgezeichneten Weines besiegeln.« Dendia hatte in der Zwischenzeit in ihrer unnachahmlich charmanten Art mehrere Stöße ledriger Echsenhäute für einen außergewöhnlich guten Preis an den Mann gebracht. Mit dem erzielten Gewinn kauften die Nomaden Lebensmittelvorräte, gepresstes
Die Savannenreiter von Vinara Kraftfutter für die Dendibos, Gegenstände des täglichen Gebrauchs sowie mehrere melonengroße, vitaminreiche Pentrola-Früchte für mich und den Archivar. Einerseits war ich dankbar dafür, andererseits fühlte ich, dass wir tief in der Schuld der Nomaden standen. Würden wir dieses Entgegenkommen jemals abbezahlen können? Bislang waren Jorge und ich nur totes Kapital für die Afalharo. Gamondio verzichtete darauf, uns in einer der sündhaft teuren Unterkünfte der Stadt einzumieten. Trotz Dendias gutem Handel war die Barschaft der Nomaden bescheiden. Wir übernachteten auf Strohmatten in Massenunterkünften. Sie lagen an der Stadtgrenze und ganz in der Nähe unserer Tiere. Die Nacht war kurz. Bereits vor dem Morgengrauen weckten mich die Afalharo. Ich trank eine Tasse eines schwarzen, bitteren Gebräus, das meine Sinne belebte. Mit den ersten Sonnenstrahlen beluden wir die Dendibos und machten uns auf den Weg. Gantschula war zu meinem Bedauern ein Morgenmuffel. Sie ließ mich ein ums andere Mal spüren, was sie von meinen Reitkünsten hielt. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um mich im Sattel zu halten. Während die Sonne langsam höher stieg, warf ich einen letzten Blick zurück, in das weite Tal, aus dem die Karawanserei Zarband wie ein grünes Juwel hervorstach. Dann blickte ich nach vorne; das gelbe, graue Einerlei der trockenen Savannenlandschaft hatte uns wieder. Wir ritten langsam eine einsame, kaum ausgetretene Passstraße bergauf. Nomadenwege. Fluchend und schwitzend lenkte ich Gantschula an die Seite von Gamondios Reitkäfer. »Nehmen wir einen Umweg?«, fragte ich. »Wir müssen ausweichen«, antwortete der Häuptling knapp. »Warum?« »Dieser Teil der Afal-Savanne gehört zum Stammesgebiet der Nathals«, sagte Gamondio.
37 Ich verstand. Die Drohung von Kanzemon, dem Häuptling der Nathals, war mehr als deutlich gewesen. Er würde uns verfolgen, sobald er bemerkte, dass wir sein Land betreten hatten. Der kleine Umweg war also durchaus gerechtfertigt. »Was steht zwischen den Stämmen der Tulig und Nathals?«, fragte ich erneut. Und erhielt keine Antwort. Diesmal wollte ich es nicht darauf beruhen lassen. »Gamondio – ich verlange, dass du mit offenen Karten spielst! Ich muss wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir mit dir, Dendia und den anderen Kriegern reiten. Sonst kehre ich mit meinem Begleiter um.« Ich zog kräftig an den Vorderzügeln und stoppte Gantschula. Der Riemen riss ihre sehnigen Mundwinkel blutig. Anders war sie einfach nicht zum Halten zu bewegen. »Na schön«, sagte der Häuptling schroff und gab Zeichen für eine Rast. Mit elegantem Schwung rutschte er seitwärts von seinem Dendibo herab und kam zu mir herüber. Dendia humpelte zu uns. Ihr kleines, rundliches Gesicht wirkte verkniffen, fast verbittert. »Also gut, Ordensbote«, sagte Gamondio. »Es ist ohnehin an der Zeit, dass wir uns aussprechen.« »Gut.« Ich ahnte, was kommen würde. »Ihr verdankt es lediglich Dendias Fürsprache, dass wir Tulig euch Schutz gewähren. Und seid froh, dass ihr nicht in der Karawanserei geblieben seid. Denn wenn wir euch hätten gehen lassen, wärt ihr binnen weniger Stunden als Vogelfreie, ohne Bindung an einen Stamm oder Clan, ausgeraubt und getötet worden. Fremde werden nur in der Regenzeit, wenn Händler ihre Waren anbieten, ohne Schutz eines Nomadenvolkes geduldet.« »Wir sind froh über den Beistand, den ihr uns gewährt«, sagte ich formell und beglückwünschte mich zu meinem Instinkt, der mir geraten hatte, bei den Nomaden zu bleiben.
38 »Dendia ist weiterhin der Meinung, dass ihr Ordensboten der Wächter Litraks seid, obwohl ich den Glauben daran längst verloren habe.« Er starrte mich an; seine dunklen Augen glänzten in der Sonne. »Kein Bote oder höheres Wesen besäße derart wenig Wissen über diese Welt. Ihr könnt weder reiten noch euch selbst ernähren, würdet wahrscheinlich keinen Tag in der Savanne überleben. Nichts deutet darauf hin, dass du der versprochene Sendbote bist, der uns den Weg zu den Wächtern weisen wird.« Er spuckte braunen Brei aus. Es war dies kein Zeichen der Verachtung, es war bloße Gewohnheit. »Ich achte eure Bereitschaft, uns beim Erreichen unseres Zieles zu helfen. Ich schätze es, dass ihr bei uns geblieben seid, denn ich hoffe auf eure Hilfe bei den Auseinandersetzungen, die uns mit den Nathals drohen …« »Er ist der Richtige«, mischte sich Dendia ein und blickte böse zu Gamondio. »Ich spüre es. Auch wenn er selbst es nicht weiß.« »Mag sein.« »Zweifelst du an meinen Fähigkeiten, Gamondio?« Dendia schien zu wachsen. Ihre Stimme wurde volltönender, ihr Auftreten ehrfurchtheischend. Gamondio war verzweifelt, man konnte es ihm ansehen. Er wagte es nicht, sich offen gegen die Schamanin zu stellen. Andererseits war er überzeugt, dass wir keineswegs die waren, die wir vorgaben zu sein. Ich musste die drohende Auseinandersetzung abwenden. »Warum herrscht Krieg zwischen den Nathals und den Tulig? Handelt es sich um Grenzstreitereien? Ist es eine Blutfehde?« Die Afalharo fixierten mich mit ihren Blicken. Sie blickten mich lange an. »Weder das eine noch das andere«, sagte Dendia schließlich. »Es sitzt viel tiefer.« Sie machte eine lange Pause. Die Schamanin musste mehrmals ansetzen, bevor sie zu klaren, deutlichen Worten fand. »Die Nathals und Tulig«, erzählte sie schließlich, »sind zwei der ältesten und ruhmreichsten Stämme, deren Männer und
Michael Marcus Frauen durch die Große Savanne ziehen. Tausende Jahre müssen es bereits sein, dass sie die geraden Wege entlangmarschieren. Ewigkeiten lebten wir friedlich nebeneinander; tauschten Wissen, Nahrung und das Blut aus. Natürlich gab es ab und zu Grenzstreitigkeiten, auch unterschiedliche Ansichten über die Nutzungsrechte der Oasen sind in unseren Geschichten überliefert. Aber all dies wurde an den Lagerfeuern beigelegt. Wir alle vertrauten auf den Ewigen Litrak. Beteten zu ihm, dankten ihm für die Fürsorge und die Gnade des Lebens, die er uns gewährt hatte. Doch wie ihr wisst, tauchte eines Tages der Dunkle Sardaengar auf. Er eroberte nicht nur das Land, sondern er säte in den Herzen der Frauen und Männer Vinaras falsche Gedanken. Machtgier, Neid und Unersättlichkeit gehörten zu den Eigenschaften, denen die Angehörigen des Stammes Nathal verfielen. Als der Dunkle den scheinbaren Sieg über Litrak errang, wandten sie sich schließlich vollends vom wahren Glauben ab und warfen sich dem Sieger der Auseinandersetzung an den Hals. Sie verrieten ihre Heimat!« Eine religiöse Fehde also, warf mein Extrasinn ein. Es geht um den fürchterlichsten aller Gründe, einander zu hassen – und auch um den sinnlosesten. Ich war mir da längst nicht mehr sicher. Man konnte nicht alles mit mythologischer Verbrämung erklären, was uns Dendia in den letzten Tagen und Nächten erzählt hatte. Es schien, als existierte ein realer Hintergrund. Nicht umsonst tauchte immer wieder der Name Sardaengar auf; ein lemurischer Tamrat, der vor fünfzigtausend Jahren hier gestrandet war, wenn ich den Erinnerungen Nevus Mercova-Bans Glauben schenken konnte. Ohne greifbare Substanz hielten sich Dogmen nicht über so lange Zeit. Das war in meinen Augen ausgeschlossen. Vorsichtig formulierte ich eine Frage: »Sagen eure Mythen, warum sich mit der Ankunft des neuen Gottes alles änderte? Und was die Nathals von da an anders
Die Savannenreiter von Vinara machten?« »Manche Legenden besagen, dass sie vom Dunklen kraft seines Willens unterworfen wurden. Mit bloßen Gedanken soll er sie zum Verrat überredet haben. Pah!« Sie stampfte zornig mit den Füßen auf. »Doch die Gier ist das schlimmste Geschenk, das Sardaengar ihnen machte. Und es ist die unendliche Schuld der Nathals, dass sie diese Gabe widerspruchslos akzeptierten.« Die Schamanin öffnete die Kordel an einem der vielen Leinensäcke ihres togaähnlichen Gewandes. Ein paar Obsidiankugeln fielen in ihre Hand. Sie glänzten matt in der immer stärker werdenden vormittäglichen Sonne. Wegen der hellen Einsprengsel nannten sie die Steine Schneeflockenobsidiane. »Man sagt, dass der Dunkle uns dies hier brachte. Geld, verfluchtes Geld!« Ich verstand. Sardaengar hatte nach Ansicht der Tulig-Nomaden die Schlange ins Paradies gebracht. »Aber dabei blieb es nicht«, fuhr Dendia fort. »Wir sind keineswegs so rückständig, wie du vielleicht annimmst. Für Neues und Praktisches sind wir immer offen. Wir akzeptieren die Errungenschaften moderner Technik.« Sie deutete an die Seite ihres Reitkäfers, an dem zwei neue, in der Karawanserei erworbene Petroleumlampen sowie fünf steife Blasen aus gegerbten Tierhäuten mit Brennstoff hingen. Für die Nomaden stellten sie eine Sensation dar. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte diese Form der Beleuchtung auf Larsaf III, meiner zweiten Heimat, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erstmalig Verbreitung gefunden. Dann sagte sie: »Sardaengar ist ein arglistiges Wesen. Er verteilte die so genannten Geschenke, die er mit sich führte, ungerecht. Wer sich seinem Glauben unterordnete, erhielt mehr Lithras als die anderen. Sie wurden und werden in seinem Auftrag von den Perlenträgern ausgegeben.« »Perlenträger?« »So heißen die Wesen mit gebieterischem Gehabe, prunkhaftem Gefolge und arrogan-
39 tem Auftreten, die durch die Welten ziehen.« »Woher kommen denn die Lithras eigentlich?« Eine Frage, die mir schon geraume Zeit auf der Zunge brannte. »Wir wissen es nicht. Es gibt so viele Geschichten und Legenden … Möglicherweise stammen sie aus der sagenhaften Stadt Helmdor.« Die Schamanin blickte zum Häuptling, der nervös neben uns gestanden und mit überkreuzten Armen zugehört hatte. Immer wieder schaute er sich um. »Wir müssen rasch weiter«, sagte er schließlich. »Dies ist gefährliches Terrain für uns. Das Volk der Tulig ist zwar stolz, aber es ist klein geworden. Die Krieger der Nathals bekamen während der Auseinandersetzungen nach Sardaengars Kommen oftmals Unterstützung durch gekaufte Söldner.« Hasserfüllt ballte er seine Hände zu Fäusten. »Wie Vieh wurden unsere Leute zusammengetrieben und getötet. Unser Stamm überlebte, weil wir uns immer tiefer ins Landesinnere abseits der Karawanenwege zurückzogen hatten. Nur einmal im Jahr, während der Regenzeit, machen wir uns noch auf den Weg, um in der neutralen Karawanserei unsere Waren anzubieten.« »Wegen Dendias Visionen musstet ihr euren Schlupfwinkel vorzeitig verlassen …« »… um durch das Land der Feinde, der Nathals, nach Norden zu reiten.« Langsam verstand ich. Die Mythenwelt der Nomaden schien mir derart gefestigt, dass ich zu glauben gewillt war, es handle sich bei Sardaengar und Litrak um reale Personen. Ich musste nur einen Umkehrschluss bezüglich meiner Person ziehen: Hätten die Terraner damals, als sie mich im Jahre 2040 an der Flucht nach Arkon hinderten, geglaubt, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits 10.000 Jahre alt war? Hätte ich es darauf angelegt, hätte ich durch mein stetiges Wirken während der Jahrtausende meines Exils auf der Erde durchaus zum Mythos werden können. So,
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wie es mit Sardaengar und Litrak offensichtlich passiert war. Was mich zu einer weiteren Vermutung führte. Bei beiden handelte es sich um Unsterbliche.
10. Lethem, 27. März 1225 NGZ Als Lethem da Vokoban mit Umrin und drei weiteren Überschweren an Deck der VERDRANS GLUT zurückkehrte, leuchteten dutzende Fackeln hell auf. Mit Messern, Armbrüsten und Säbeln bewaffnete Männer standen im Kreis und blickten ihn grimmig an. Lethems Mitverschwörer hatte man zusammengetrieben. Zanargu's Auge war rot angeschwollen. Er hatte sich offensichtlich als Einziger der Festnahme widersetzt. »Hast du uns denn tatsächlich an den Kapitän dieses Seelenverkäufers verraten?«, fragte Lethem Umrin mit Bitternis. »Du verdrehst die Tatsachen, Arkonide«, sagte Umrin. Er warf einen großen Knochen über Bord und rülpste ein paar Takte einer kleinen Melodie. »Nicht ich sollte ein schlechtes Gewissen haben, sondern du, Lethem. Du wolltest schließlich das Schiff stehlen.« »Ich versuche schon die ganze Zeit, euch klar zu machen, wie wichtig es für uns ist, von hier wegzukommen.« Zornig riss er sich von seinem stummen Begleiter los, der ihn am Oberarm festhielt. »Die Katastrophe, die Vinara in naher Zukunft treffen wird, ist schließlich kein Produkt meiner Fantasie, sondern Realität, der ihr nicht ins Auge schauen wollt. Seitdem wir angekommen sind, will uns keiner zuhören. Weder du noch die Maghalata …« »Wer sagt, dass ich dir nicht zuhöre und glaube?« Lethem schwieg überrascht. Dass die groß gewachsene Frau, die heimliche Führerin der Stadt Viinghodor, hinter dieser konzertierten Aktion stand, die zu ihrer Festnahme geführt hatte, war ihm in dem Moment klar
gewesen, als er die Kabine des Kapitäns betreten hatte. Er hätte allerdings nicht gedacht, dass Kythara sich persönlich blicken lassen würde. »Natürlich glaube ich dir«, bekräftigte die Frau. »Doch zwischen Glaube und Wissen liegen Welten.« Langsam ging sie um ihn herum, so nahe, dass ihre langen, gelockten Haare sein Gesicht kitzelten. Der herbe Duft ihres Parfüms irritierte ihn, lenkte ihn ab. Unwillig schüttelte Lethem den Kopf. »Sprich nicht in Rätseln zu mir«, entgegnete er. »Sag mir lieber, was dieses Schauspiel hier soll.« »Nun, betrachte es als kleinen Test.« Sie lächelte unverbindlich. Es war das Lächeln einer außergewöhnlichen Schönheit – die sich unvermittelt in ein todbringendes Raubtier verwandeln konnte. »Dank dieses kleinen Versteckspiels weiß ich nun, dass ihr euch eurer Sache sehr sicher seid«, fuhr sie fort, und jegliche Gefühlsregung verschwand aus ihrem Gesicht. »Dass ihr auch daran glaubt, was ihr sagt.« »Das soll heißen?« »Das soll heißen, dass wir heute gegen Mittag mit der VERDRANS GLUT aufbrechen werden. Richtung Osten, über das Meer. So, wie ihr es wolltet. Ondaix, Enaa von Amenonter und ich begleiten euch« Die Pläne der Maghalata blieben weitgehend im Dunkeln. Sie verweigerte jegliche Auskunft darüber, weshalb sie die Stadt Viinghodor, die dank ihrer Klugheit und Weisheit ein Hort des Friedens war, gerade jetzt verlassen wollte. Und warum gerade mit ihm, Lethem da Vokoban.
* Der Kommandant der TOSOMA gab zähneknirschend sein Einverständnis zur Expedition ans Festland. Für Lethems eigenwillige Interpretation hatte er kaum Worte. »Betrachte dich vom Dienst suspendiert, ebenso wie der Rest deines Trupp.« Lethem konnte es nicht fassen. Nun gut, er hatte den Kommandanten im Grunde
Die Savannenreiter von Vinara übergangen, aber rechtfertigte das seine Entlassung? »Die Suspendierung hat aufschiebende Wirkung und kommt nur zum Tragen, wenn ihr Atlan nicht herbeischaffen könnt«, fügte Khemo-Massai nach einer endlos langen Weile hinzu. Er grinste, zeigte ein strahlend weißes Lächeln. »Jetzt schieb gefälligst deinen kleinen Arkonidenhintern hier raus und tu dein Bestes!« Der Zweite Pilot der TOSOMA war froh, doch noch glimpflich davongekommen zu sein. Die Verabschiedung von den anderen Besatzungsmitgliedern ging schnell vonstatten. Lethem grüßte nach links und rechts, schüttelte einigen Leuten an ihrer Liegestatt die Hände. Man wünschte ihm viel Glück. Schließlich machte er sich auf den Weg zum Hafen hinunter. Cisoph Tonk, Scaul Rellum Falk, Hurakin, Zanargun und Tasia Oduriam waren wiederum an seiner Seite. Es hatte sich rasch herumgesprochen, dass Kythara abreiste. Viele Bürger standen Spalier. Die wenigen schmalen Zugangswege zum Hafen waren nahezu versperrt. Zanargun und Cisoph Tonk mussten all ihre Kräfte aufbieten, um der Gruppe einen Weg zum Schiff zu bahnen. Die VERDRANS GLUT stand bereits unter Dampf. Heller Rauch quoll aus dem messingverzierten Schlot. Das Fauchen des Druckkessels und das Stampfen der Kolben waren von weitem hörbar. Die Maghalata erwartete sie bereits. Sie wirkte frisch und ausgeruht. An ihrer Seite stand Ondaix, der bullige, groß gewachsene Springer, der sich in der Stadt von wilden Abenteuern am Festland erholt hatte. Seine beidseitig geschliffene, beeindruckend große Axt hing am breiten Gürtel. Welches Verhältnis er und Kythara pflegten, wusste Lethem nicht. Enaa von Amenonter, die Akonin, stand ein wenig abseits. Die schmale Frau mit der dunklen Hautfarbe blickte stolz auf die Neuankömmlinge herab. Sie war eine der wenigen Bewohnerinnen von Viinghodor, die
41 sich danach sehnten, die Spiegelwelten verlassen zu können. Eine willkommene Helferin also und wohl aus dem richtigen Holz geschnitzt für ihre Suche nach Atlan. Was, bei Tran-Atlan, suchte Kythara bei ihnen? Warum wollte sie unbedingt mitkommen? Die Frau war rätselhaft – wie so vieles auf dieser Welt. Koejoe, der Kapitän der VERDRANS GLUT, sah mit aller Arroganz über sie hinweg. Er war sichtlich gekränkt und seine Nase noch mehr geschwollen. Mit auffälliger Ergebenheit folgte er der Maghalata auf Schritt und Tritt. Er würde Lethem und seinen Männern nicht in die Quere kommen. »Seid ihr bereit?«, empfing sie Kythara. »Es wird Zeit.« Mit einem Fingerzeig entließ sie den Kapitän, der dienstbeflissen davonhetzte. »Wo ist Umrin?«, fragte Lethem. »Er wollte nicht mitkommen«, antwortete die Frau. Klang Bedauern in ihrer tiefen Stimme mit? Sie zeigte hinüber ans Ufer. Der Barde stand am anderen Ende der Mole und klimperte auf seiner Lyra. Die Leute ringsum lachten; er gab wohl wieder derbe Zoten aus seinem Repertoire zum Besten. Als ob der Überschwere die Blicke Lethems gespürt hatte, erwiderte er Lethems Blick. Umrin winkte mit seiner Pranke und grinste. Der Barde brüllte: »Nehmt euch vor den Frühjahrsstürmen in Acht! Und pass gut auf Kythara auf, Großer! Ihr Schicksal liegt in deiner Hand!« Lethem nickte automatisch. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Maghalata auf seine Hilfe angewiesen wäre. Zu selbstbewusst und selbstsicher wirkte die Frau. Der Lärm an Bord des Schiffes verstärkte sich. Große, breite Wasserräder begannen sich zu drehen. Langsam tauchten die Schaufeln ins ruhige Wasser. Vertäute Seile wurden gelöst und aufs Schiffsdeck geworfen. Das Wummern der Kolben wurde lauter
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und deutlich spürbar. Ein schrilles Pfeifen ertönte. Dreimal hintereinander. Ein Zeichen des Abschieds. Die Viinghodorer winkten und schrien dem auslaufenden Schiff hinterher. Lethem sah manch besorgtes Gesicht in der Menge. Kythara war sehr beliebt in der Stadt. »Sorgen?«, fragte Cisoph Tonk, der leise an Lethem herangetreten war. Der Arkonide zuckte zusammen und presste ein verkrampftes Lächeln hervor. »Es ist ein Aufbruch ins Unbekannte, Cisoph. Ich fühle mich wie meine Vorfahren, als sie sich aufmachten, den Weltraum zu erobern.« »Wir Terraner kennen dieses Gefühl nur zu gut«, erwiderte Cisoph. »Es ist keine Schande, Angst zu haben.« Angst. Das war das Wort, das Lethem passend erschien. Die VERDRANS GLUT verließ laut vor sich hin stampfend den Hafen.
11. Atlan, 25. März bis 1. April 1225 NGZ In den ersten vier Tagen ging alles glatt. Die Nomaden wirkten dennoch angespannt und reagierten nervös auf jedes Geräusch. Von den Nathals war keine Spur zu sehen. »Und eben das ist ein schlechtes Zeichen, Atlan«, meinte Gamondio, als ich ihn darauf ansprach. »Wir meiden die traditionellen Karawanenwege, wo immer es geht, aber selbst der größte Tollpatsch unter den Fährtenlesern müsste mittlerweile unsere Spur aufgenommen haben.« »Vielleicht haben Kanzemons Männer gar nicht bemerkt, dass wir die Karawanserei verlassen haben?« Gamondio sah mich an, als würde ich hinter dem Mond leben. Bravo, Arkonide, rührte sich mein Extrasinn, noch ein paar von diesen klugen Bemerkungen, und er verfüttert dich an Gantschula. Natürlich wusste Kanzemon, dass wir
aufgebrochen waren. Nichts geschah ohne sein Wissen. »Wir werden beobachtet«, sagte Gamondio schließlich bestimmt. »Sie reiten bestimmt parallel zu unserem Kurs.« Er deutete nach Westen zu den Hügeln. »Wenn wir mehr Männer hätten, könnten wir ausschwärmen und den Gegner suchen.« »Was würde uns das nützen?«, fragte ich. »Nichts! Wir müssen den Nachteil in einen Vorteil umwandeln«, überlegte ich laut. »Wie meinst du das?« »Wir sind zwar weniger Reiter, aber dafür viel flexibler. Unsere Vorräte sind ausreichend, so dass wir nicht jeden Tag wie die Nathals auf die Jagd gehen müssen. Ein Tross von dreißig oder mehr Mannen braucht größere Nachtlager, hat also mehr Arbeit. Die Nathals benötigen mehr Wasser, das gefunden werden muss. Sie gehen zudem sehr vorsichtig vor, damit wir sie nicht entdecken. Die Männer werden also viele Umwege reiten.« Gamondio sah mich nun wohl mit neuen Augen. So etwas wie Anerkennung drückte sich in seinen Blicken aus. »Was empfiehlst du?« »Es ist sinnlos, Nebenrouten zu wählen. Wir werden auf dem geraden Karawanenweg, auf dem wir schneller vorankommen, reiten. Damit setzen wir die Nathals noch weiter unter Druck.« »Sie werden unsere Absicht durchschauen.« »Keine Frage, aber das mag ein oder zwei Tage dauern. Zeit ist ein wichtiger Faktor bei diesem Spiel.« Ich dachte nach. »Sag, Gamondio, warum hat Kanzemon noch nicht angegriffen? Worauf wartet er, wenn uns die Nathals so überlegen sind?« »Sie fürchten mich und meine Männer«, sagte der Afalharo stolz. »Diese Leute sind die besten Krieger, die du in der AfalSavanne finden wirst. Und wir besitzen noch dazu die erfahrenste Schamanin.« »Du meinst also, sie werden nur dann angreifen, wenn sie einen perfekten Platz für einen Hinterhalt gefunden haben? Wenn al-
Die Savannenreiter von Vinara les für sie spricht?« »So ist es. Kanzemon ist der feigste Savannensohn unter der Sonne. Wenn er nicht von mehreren seiner Männer umringt wird, ist er ein Nichts.« »Wo könnte die Stelle sein, an der er uns überfallen wollte?« »Drei Tagesritte entfernt. Ich kenne diesen Teil der Wüste zwar nicht so gut – aber auf Höhe der Stadt Azdahan überqueren wir ein Vorgebirge mit nur wenigen Passagemöglichkeiten. Die so genannten Unsichtbaren Schluchten. Ein Hinterhalt dort erscheint mir aus Sicht der Nathals am wahrscheinlichsten.« »Gut. Dann werden wir sie bis dahin ein wenig nervös machen. Wir erhöhen das Tempo und werden bis in die Nacht hineinreiten.« Gamondio zog scharf die Luft ein. »Es ist gefährlich bei Dunkelheit. Die Nacht ist pechschwarz, und es gibt haufenweise Jäger, die selbst uns Nomaden nicht fürchten.« Ich musste unwillkürlich lächeln. Die Tulig mochten sich dem Fortschritt zwar nicht verweigern – aber sie erkannten noch lange nicht alle seine Vorteile. »Habt ihr nicht zwei Lampen in der Karawanserei erstanden, um eure Nachtlager zu erhellen? Ist euch nie der Gedanke gekommen, dass man damit auch den Weg ausleuchten kann? Und gleichzeitig gefährliche Tiere damit verscheucht?« Der Häuptling der Afalharo war verwirrt – und musste schließlich lauthals lachen. »Atlan«, sagte er, »mein Glaube an den Boten des Wächterordens kehrt langsam zurück!« Wir holten aus unseren Tieren das Letzte heraus. Selbst Gantschula schien den Ernst der Lage erkannt zu haben. Dank der Petroleumlampen konnten wir den Nächten zwei Stunden am Morgen und zwei am Abend abringen. Ich war mir sicher, dass wir die Nathals damit unter Druck setzten. Sie mussten untertags vier Stunden aufholen, das waren mehr als dreißig Kilometer. Die gleichmäßige Gangart, mit der
43 wir die Dendibos bewegten, war ihnen sicherlich zuträglicher als das erhöhte Spitzentempo, das die Verfolger gehen mussten. Es war ein merkwürdiges Spiel. Ein Spiel, bei dem man den Gegner nicht sah. Es wäre vermessen zu sagen, dass ich die Jagd angesichts der ernsten Situation genoss – aber ich fühlte mich herausgefordert. Wie würde der Gegner reagieren? Die Nomaden dachten in eingefahrenen Bahnen und waren von neuen taktischen Schachzügen offensichtlich überfordert. »Dort vorne!«, rief Gamondio und deutete auf schroffe, parallel stehende Hügelketten. Mindestens zehn nebeneinander. Äonenlang mussten Wind und Sand an dem Gebirge gearbeitet haben, bis nur noch wenige Reste spitz und schmal hochragten. Die Berge wirkten wie Haare, die mit einem Kamm kerzengerade nach oben gezogen worden waren. »Es gibt kein Ausweichen«, meinte der Afalharo. »Wir müssen die dritte Schlucht von Westen her nehmen. Sie bietet die schnellste Passage. Alle anderen Wege sind für die Tiere viel zu mühsam und würden uns Tage kosten.« Dendia schloss zu uns auf. Sie wirkte übernächtigt. Kein Wunder – sie fand am wenigsten Schlaf. Schließlich oblag ihr die Pflege und Fütterung der Hirschkäfer. »Wir müssen eine Ruhepause einlegen«, rief sie über den Lärm der Tiere hinweg. »Die Dendibos benötigen dringend Erholung. Vor allem deines, Gamondio …« Der Häuptling nickte knapp. Sein Hirschkäfer, eigentlich der Leitbulle, hatte in den letzten Tagen enorm an Substanz verloren. Seine Chitingelenke knackten bei jedem Schritt, und er zitterte immer häufiger. »Hast du etwas gesehen, Frau?«, fragte Gamondio die Schamanin. »Ja«, antwortete Dendia. Sie hatte sich am Morgen eine besondere Kräutermischung zubereitet und hatte dann während der ersten Stunden der Tagesetappe nahezu bewusstlos auf ihrem Tier gesessen. Es war mir ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, während ihrer
44 Trance den Dendibo im Zaum zu halten. »Mein Geist war bei den Nathals«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie sind einen halben Tagesritt hinter uns zurückgefallen. Kanzemon ist außer sich vor Zorn. Er hat einen seiner Männer fast zu Tode gepeitscht.« »Diesmal hat er endgültig den Verstand verloren«, meinte Gamondio. »Das bedeutet, dass wir sicher durch die Unsichtbaren Schluchten kommen. Danach muss der Wahnsinnige alles riskieren – und das wird er, wenn er sein Gesicht wenigstens halbwegs wahren möchte.« »Ich habe einen Plan«, sagte ich an Häuptling und Schamanin gerichtet. »Es wird einige Stunden in Anspruch nehmen. Unsere Tiere könnten sich erholen – dennoch werden wir wertvolle Zeit gewinnen.« »Du machst mich neugierig, Atlan«, meinte Gamondio. Er ließ sein Tier anhalten; langsam kam der ganze Zug zum Stillstand. »Was hast du vor?« Ich erklärte es ihm. Die Unsichtbaren Schluchten waren genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Schmal und mit steil nach oben ragenden Seitenwänden. Seitlich führten mehrere schmale Passagen zum Hauptdurchgang hin. Es hätte hunderte Möglichkeiten für einen Hinterhalt gegeben, und wir hätten keine Chance gehabt, wären wir nach den Nathals hier angelangt. Aber nun waren wir im Vorteil. Wir dachten sogar kurz darüber nach, selbst einen Hinterhalt zu legen. Doch die Übermacht, die uns Dendia aus ihren Visionen beschrieb, war einfach zu groß. Es mussten mehr als fünfzig Männer und Frauen sein. »Sie kommen!«, rief der ansonsten schweigsame Rismelo. Er rutschte von einem der Felsen herunter. Unser bester Kletterer hatte die Verfolger erspäht. »Gut. Wir sind fertig.« »Aufsitzen!«, befahl Gamondio. Wir eilten nach vorne zu unseren wartenden Dendibos. Sie waren äußerst unruhig und konnten von der Schamanin kaum noch
Michael Marcus beruhigt werden. Ich wusste, warum. »Beeilung!«, befahl der Häuptling. Wir sprangen auf die Tiere und trieben sie an. Die Hirschkäfer folgten anfänglich nur widerwillig unseren Befehlen, doch nach wenigen hundert Metern legte sich ihre Unruhe. Wir folgten der schmalen Passage nach Norden. Hinter uns wurde es lauter. Die Nathals mussten unsere Gegenwart gespürt haben. Als ich mich umdrehte, glaubte ich, eine Sandwolke zu sehen, hinter der sich die Gegner verbargen. »Schneller!«, herrschte Gamondio, der vor mir ritt, sein Tier an. Es wurde immer bockiger und unberechenbarer. Der Häuptling fluchte unbeherrscht im rauen Dialekt der Savannenreiter. Plötzlich hörten wir einen lauten zornigen Aufschrei. Dann ein weiterer Wutschrei … »Es funktioniert!«, rief ich. Wir blieben trotz aller Nervosität für einen kurzen Moment stehen und lauschten den Geräuschen, die unser Gehör erreichten. Die Dendibos der Nathals waren stehen geblieben, und sie würden sich wohl in den nächsten Stunden nicht aus dem Labyrinth bewegen lassen. »Weiter!«, befahl Gamondio schließlich und zeigte mir eine Geste, die Anerkennung bedeutete. Dendia hingegen grinste mich frech an. Wir hatten kleine Tümpel mit aufgekochtem Nornen-Gift in allen Teilen des Labyrinths hinterlassen. Mehr als die Hälfte unserer Vorräte hatten wir dafür geopfert. Die süchtigen Dendibos würden nicht zu bändigen sein, bis sie alles ausgetrunken hatten.
12. Lethem, 3. April 1225 NGZ Tagelang fuhren sie nach Westen. Ihr Ziel war die Stadt Narador in zirka zweitausend Kilometern Entfernung gewesen. Einmal mussten sie ihre Fahrt für kurze Zeit unterbrechen, um ihre Frischwasser- und Feuerholzvorräte wieder aufzufüllen. Auf Höhe
Die Savannenreiter von Vinara der Insel Pelilara begegneten sie mehreren Schwärmen von Hybridfischen. Mit ihren langen, insektenähnlichen Beinchen stießen sie sich immer wieder an der Wasseroberfläche ab und hüpften regelrecht übers Meer. Riesenhafte Wasserläufer, jeder mehr als fünf Meter breit, waren ebenfalls unterwegs. Sie ließen sich durch das Dröhnen der VERDRANS GLUT nicht stören. An einem anderen Tag musste das Dampfschiff riesigen feuerroten Tangteppichen ausweichen, an deren Oberfläche eine Kolonie Eier legender Flugechsen nistete. Lethem hatte die ruhigen Tage genossen. Die lauen Nächte, die er im Gespräch mit den Viinghodorern und speziell mit Khytara, Ondaix und der Akonin Enaa von Amenonter verbringen durfte, waren ganz anders als das Leben an Bord eines sterilen Raumschiffes. Selbst das Verhältnis zum bärbeißigen Kapitän Koejoe hatte sich normalisiert. Plötzlich, mit Urgewalt und ohne Ankündigung, war ein Sturm über sie hereingebrochen. Sie befanden sich in der Meeresenge zwischen den Inseln Karan und Salan. »Ich kann das Schiff nicht auf Kurs halten!«, schrie Koejoe. »Wir müssen nach Süden ausweichen. Das Meer entlang der Insel Salan ist ruhiger, alles andere wäre Selbstmord!« »Und wenn wir dort an Land gehen und den Sturm abwarten?«, schlug Lethem vor. »Unmöglich! Die Westseite der Insel besteht nur aus Steilküste.« Die Sicht reichte keine zehn Meter weit. Ständig brachen meterhohe Wellen über das Deck. Mit primitiven Pumpen und Eimern schöpfte die Besatzung Wasser aus dem Schiffsinneren. Kapitän Koejoe ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das Wichtigste an Bord des Schiffes war, den Kessel trocken zu halten. Kythara kämpfte sich gegen den Sturm näher an Lethem heran. Die Frau trug einen gewachsten, steifen Leinenumhang. Ihre Haare hingen ihr wild ins Gesicht. Selbst bei Sturm strahlte die Maghalata Würde aus. »Wir müssen uns auf das Schlimmste ge-
45 fasst machen«, rief sie, während sie sich an einem der gespannten Taue festhielt. »Die Stürme um diese Jahreszeit sind unberechenbar.« »Achtung!«, schrie Lethem. Eine haushohe Welle kam auf die VERDRANS GLUT zu. Instinktiv griff der Arkonide nach Kythara und hielt sie fest. Das Wasser schwappte über beide hinweg, nahm Lethem für mehrere Sekunden den Atem. Das Schiff kippte spürbar zur Seite. Der Sog der Welle riss sie mit sich, leewärts. Er suchte mit den Händen nach irgendetwas, an dem er sich festhalten konnte. Langsam ließ der Druck der Welle nach. Als Lethem die Augen öffnete, lag er inmitten eines Wirrwarrs aus Seilen, gesplitterten Planken und den Überresten eines geborstenen Mastes. Kythara lag in seinen Armen. Für einen Moment war es ruhig. Die VERDRANS GLUT kippte in Zeitlupentempo wieder in die Waagrechte zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte Lethem, während er sich hastig zu befreien versuchte. Kythara lag auf seinem Schoß und blickte in die Schwärze des Himmels. »Ja«, sagte sie. »Wir sind verloren.« Lethem hielt inne. »Was meinst du?« »Merkst du es nicht? Es ist ruhig geworden. Die Kolben bewegen sich nicht mehr. Das Feuer ist ausgegangen.« Dann kam die nächste Welle. Die VERDRANS GLUT wurde zum Spielball der Elemente. Als hätten sich alle Götter gegen sie verschworen, schwankte das antriebslose Schiff hin und her. Der Kapitän setzte Not- und Treibanker, die Besatzung und Passagiere pumpten permanent Wasser aus dem Schiff. Es nutzte alles nichts. Nach Stunden schlug die VERDRANS GLUT an einem vorgelagerten Riff der Insel Salan leck. Koejoe taumelte auf dem völlig zerstörten Oberdeck umher, läutete wie wild eine Glocke, die im ohrenbetäubenden Sturm kaum zu hören war. »In die Beiboote!«,
46 schrie er. »Das Schiff ist verloren!« Die Matrosen hörten auf zupumpen und folgten ihrem Kapitän. »Zwei Bootsmänner kommen zu euch!«, schrie er Lethem ins Ohr. Er drehte sich um und versuchte, sein eigenes Boot zu erreichen. Hier galten wohl andere Gesetze. Er kümmerte sich weder um seine Passagiere und Besatzung, noch blieb er als Letzter an Bord. Zwei Matrosen blieben tatsächlich bei den Passagieren. Mit sicheren Handgriffen halfen sie der Gruppe nacheinander ins kleine Ruderboot und ließen es zu Wasser. »Kythara, Ondaix, Enaa, Cisoph, Rellum, Hurakin, Zanargun, Tasia. Alle da«, vergewisserte sich der Arkonide, bevor er als Letzter die VERDRANS GLUT verließ. Der Dampfer hatte bereits schwere Schlagseite; es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis er endgültig in den Fluten verschwand. Wie sollten sie in ihrer kleinen Nussschale überleben? Es war aussichtslos. Ein hässliches Knirschen ertönte. Der Rumpf des Dampfers brach auseinander. »Schnell! Rudern!«, rief einer der Matrosen. »Nur weg vom Schiff!« Sie alle legten sich in die Riemen, ruderten quer zu den haushohen Wellen. Durchstachen sie, wurden hochgehoben und in einen endlos scheinenden Abgrund hinabgeworfen. Weg vom Dampfschiff, weg vom Riff. Es blieb keine Zeit, den Untergang des Schiffes zu beobachten. Sie ruderten um ihr Leben. Einstechen. Durchziehen. Anheben. Endlos lange. »Aufhören!«, befahl Zanargun. Der Sturm hatte allmählich nachgelassen. Lethem hatte es nicht einmal bemerkt. Sein Überlebenswille ließ ihn die Ruderbewegungen endlos fortführen. Cisoph hielt ihn grob an der Schulter fest. »Es ist vorbei, Lethem.« Diffuses Licht umgab sie. Viele der Männer und Frauen waren erschöpft. Das kleine
Michael Marcus Boot stand gut einen halben Meter unter Wasser. Kythara schöpfte mit lahmen Bewegungen. Tasia Oduriam, die arkonidische Medikerin, half ihr dabei. Endlich konnte Lethem seinen Griff lösen. Er betrachtete seine Hände. Sie waren schwielig und voller Blasen. »Wo sind wir?«, fragte er den Matrosen, der neben ihm saß. »Keine Ahnung«, antwortete der Seemann kraftlos. »Die Strömung hat uns wahrscheinlich weit in den Süden abgetrieben. Zur Halbinsel Maun.« »Heißt das, dass wir möglicherweise Land vor uns haben?« »Kann sein. Die Küstenlinie ist stark zerklüftet. Wir könnten uns in einer der breiten Buchten befinden. Solange es so diesig ist, kann ich nichts erkennen.« Lethems Oberarme begannen mit einem Mal unkontrolliert zu zittern. Die Erschöpfung und die ungewohnten Ruderbewegungen wurden spürbar. »Los, Leute«, sagte er halblaut, »schaufeln wir das Wasser aus dem Boot. Dann machen wir eine Bestandsaufnahme.« Binnen kurzer Zeit hatten sie das Wasser aus dem Boot entfernt. Die Sonne setzte sich allmählich gegen den Nebel durch – letzte Wasserreste verdampften. Die Sicht klarte kurz danach endgültig auf. »Tatsächlich«, sagte Zanargun. Er war aufgestanden. »Dort vorne ist Land. Wir treiben direkt darauf zu.« »Das ist eine gute Nachricht«, sagte Lethem erleichtert und blickte in die angezeigte Richtung. Er konnte lediglich einen schmalen grauen Streifen erahnen. Der umweltangepasste Luccianer sah viel besser als er. »Wir haben noch keinen Grund zur Freude«, meinte Zanargun nach kurzer Pause. »Ich sehe nur Felsklippen. Dort können wir unmöglich landen.« In den letzten zwei Stunden hatten sie Ruhe und konnten frische Kraft schöpfen. Sie aßen von den unverdorbenen Notrationen
Die Savannenreiter von Vinara und teilten die kargen Süßwasservorräte auf. Die Strömung trieb sie mit Gewalt auf das Festland zu. Das Krachen der Brecher gegen das hochragende Gestein war kilometerweit zu hören. Es war kein Landen möglich. Immer wieder mussten sie mit aller Gewalt rudern, um nicht an der Küste mit ihrem Boot zu zerschellen. Sie fuhren an einer Küste entlang, wie sie wilder und lebensbedrohlicher kaum sein konnte. »Eine kleine Bucht«, rief Zanargun. Er kniete im Boot und blickte nach Süden. »Wenn wir es durch die vorgelagerten Riffe hinweg schaffen, sind wir in Sicherheit.« Der zweite Pilot der TOSOMA spürte seine blutigen Hände nicht mehr. Das Salz hatte die Haut aufgerieben. Sie steuerten das kleine Boot gegen die Strömung trotz aller Widrigkeiten. Die Gruppe hatte nur noch ihr Ziel vor Augen – die kleine Sandbucht. Fünfzig Meter vor der Bucht ragten einige spitze Felsen aus dem Wasser. Sie waren das letzte Hindernis, das es noch zu überwinden galt. Zanargun lenkte mit kräftigen Schlägen seines Ruders, gab den Kurs vor, korrigierte mit seinen Bärenkräften, wo auch immer es notwendig war. »Wir schaffen es!«, schrie er. »Wir sind gleich durch! Ein wenig nach Backbord, mehr noch … mehr, sage ich!« Ein Knirschen und Scharren erklang. Ein Geräusch, so hässlich, dass es durch Mark und Bein ging. In weniger als einer Sekunde war das Boot aufgeschlitzt, von einem Felsen, so spitz wie eine Nadel. Die scharfe Kante des Felsens trennte einem der Matrosen ein Bein ab. Blut. Schreie. Wasser. Lethem wurde emporgeschleudert. Er flog meterweit durch die Luft und fiel ins Wasser. Ihm blieb keine Zeit, Luft zu holen. Der Arkonide spürte, wie ihn ein Sog packte und hinabzog. Dann war nichts mehr.
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Zwischenspiel: Li da Zoltral Tagelang war sie auf ihrer Suche durch die unendlich scheinenden Gänge der Plattform geirrt. Gefahren hatten an allen Ecken und Enden gelauert. Täuschungen, Trugbilder, Irritationen hatten sie mehrmals vom Ziel abgehalten. Es handelte sich, wie sie wusste, um mehrdimensionale Einflüsse, die sich dem Verstand entzogen. Li da Zoltral wurde von Spinnenrobotern angegriffen und von mutierten, verkrüppelten Gestalten gejagt. Alle waren ihr feindlich gesinnt, versuchten sie, den Fremdkörper, von der Plattform zu vertreiben. Doch Li da Zoltral besaß etwas, das ihre Gegner nur zu geringem Teil oder gar nicht zur Verfügung hatten: Verstand. Immer wieder hatte sie sich wehren oder entwischen können. Sie hatte sich von ihren Nahrungsmittelkonzentraten ernährt, hatte in Löchern geschlafen und war allen Gefahren ausgewichen, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätte. Völlig unerwartet hatte sie den Schaltraum der Plattform ausfindig gemacht und mit Hilfe ihres Gürtel-Zubehörs geöffnet. Sie loggte sich in den Speicher der Plattform ein und begann, Daten auf einen winzigen Datenträger zu überspielen: Ortungsinformationen über den so genannten Kristallmond und seine Beschaffenheit. Ihr Wissen wurde bestätigt, der Kristallmond bestand nahezu komplett aus kristallisierter, erstarrter Psi-Materie. Einige wenige Fakten über psimaterielle Kristallsplitter, die aus dem Mond herausgeschlagen und ins All beschleunigt wurden. Daten über den Kurs der Plattform. Sie näherte sich dem Mond, würde ihn scheinbar unausweichlich treffen. Bilder von mysteriösen, grellweißen Lichtsäulen, die vom Kristallmond hinab auf seinen Planeten zuckten. Nach zehn Sekunden brach die Datenübertragung ab, ihr Zugriff wurde bemerkt! Li da Zoltral hörte etwas. Jemand näherte
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Michael Marcus
sich. Schleifende, unheimliche Töne wurden immer lauter …
13. Atlan, 3. April 1225 NGZ Die Tage vergingen, und unser Vorsprung schmolz erneut dahin. Ich musste zugeben, dass ich unsere Verfolger unterschätzt hatte. Kanzemon blieb uns zäh auf den Fersen. Er schonte weder sich noch seine Begleiter. Hass war die Triebfeder des Savannenreiters. Hass – und das Faktum, dass er und seine Männer religiöse Eiferer waren. Die Unerfahrenheit, mit der ich und der Archivar unsere Dendibos dirigierten, machte sich bei zunehmender Erschöpfung von Tier und Reiter bemerkbar. Immer wieder verloren wir wertvolle Minuten, wenn einer der Afalharo uns in die Zügel fahren musste. Minuten summierten sich rasch zu Stunden. Die Afal-Savanne war eben wie ein Brett. Kein Hügel oder Berg beschränkte die Sicht über die trockene Ebene. Die Monotonie der Landschaft war zu unserem ständigen Begleiter geworden. Seit geraumer Zeit konnten wir unsere Verfolger am südlichen Horizont ausmachen. Das bedeutete, dass die Nathal-Nomaden auch uns entdeckt hatten. Die Tulig-Nomaden wurden langsam nervös. Es waren noch zwei Tagesetappen bis zum Obsidiantor. Ich trieb Gantschula mühselig neben Gamondios Reitkäfer. »Wir müssen uns trennen«, rief ich dem Häuptling zu. »Jorge und ich halten euch nur auf.« Der kleine Mann machte eine eindeutige, verneinende Geste. »Wenn wir uns trennen, müssen die Nathals ihre Streitmacht aufteilen«, versuchte ich ihm das Angebot schmackhaft zu machen. »Das erhöht eure Chancen im Nahkampf. Außerdem sind wir kein unnötiger Ballast mehr für euch. Selbst wenn die Nathals uns einholen, bedeutet das noch lange
nicht, dass sie uns etwas antun werden …« »Spare dir die Worte«, sagte der Häuptling gereizt. »Kommt nicht in Frage. Ihr reitet mit uns, also seid ihr Tulig. Ihr gehört nun zum Stamm. So sieht es auch Kanzemon. Er wird euch die Haut bei lebendigem Leibe abziehen, sobald er euer habhaft wird.« Der Häuptling dieses stolzen Volkes würde uns niemals schutzlos in der Wüste zurücklassen. »Weißt du, ob es in der Nähe einen Ort gibt, an dem wir uns verschanzen und verteidigen können?« Ich trank aus meinem schmal gewordenen Wassersack. In den letzten Tagen war keine Zeit geblieben, nach kostbarem Nass zu suchen. Die Vorräte gingen langsam zur Neige. »Nein«, entgegnete Gamondio zögernd. »Doch!«, sagte Dendia, die nunmehr auf gleicher Höhe mit uns ritt. »Lüge den Boten nicht an!« »Die Ruinen sind gefährlich, Schamanin …« »Was für Ruinen?«, fragte ich, neugierig geworden. »Die Ruinenstadt. Einen knappen Tagesritt von hier entfernt.« »Dendia, bitte …« »Halte du dich da raus, Gamondio! Atlan hat das Recht, zu erfahren, was wir wissen.« Sie hustete laut und sprach schließlich an meine Adresse gewandt weiter: »Die Ruinenstadt von Ardaclak. Sie liegt kurz vor dem Obsidiantor. Man sagt, dass dort schreckliche Dinge passieren. Es gibt Geschichten und Legenden, die so abstoßend sind, dass ich es noch nie wagte, meinen Geist dorthin zu schicken.« »Dann werden auch die Nathals diesen Ort meiden«, überlegte ich. »Vermutlich …« »Gut. Können wir es bis dorthin schaffen, bevor uns die Nathals einholen?« Gamondio rang bewegt nach Worten. Der sonst so bodenstämmige Mann hatte panische Angst. Er schaute nach unseren Verfolgern. »Mit etwas Glück. Der Ewige Litrak
Die Savannenreiter von Vinara muss uns gewogen sein.« »Dann wollen wir ihm nicht die ganze Arbeit alleine überlassen. Machen wir Tempo! Vorwärts!« Mit einer Mischung aus Furcht und neu erweckter Hoffnung folgten mir die Nomadenreiter. Das Glück war nicht auf unserer Seite. Nach wenigen Kilometern begann Gantschula einseitig zu lahmen. Ihre Chitinbeine knirschten mit jedem Schritt. Sie zirpte laut. Ein Schmerzenslaut, der mich immer wieder zusammenzucken ließ. Wenig später brach Gamondios Tier zusammen. Das Tier war bis zum letzten Moment seines Lebens gegangen und schließlich im Stehen gestorben. Gamondio sprang hinab, ballte die Hand. Es sah aus, als wolle er gegen den gepanzerten Leib des toten Dendibos schlagen – stattdessen ließ er sich zu Boden fallen. Er weinte. Jorge blickte betreten zur Seite, während die anderen Afalharo abstiegen und dem Häuptling tröstend zur Seite standen. Wie schon so oft in meinem langen Leben fühlte ich mich hilflos. Minutenlang trauerten die Tulig. Plötzlich zuckte Dendia zusammen. »Seht da vorne!«, rief sie. Ich folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger mit meinem Blick. Schmale, zwanzig Meter hohe Felsen ragten ungeschützt in die Höhe. Und davor wogte die Erde, wie das Wasser des Ozeans. Termiten! Acht bis zehn Zentimeter lange Wesen, denen wir bereits einmal begegnet waren. »Genjis!«, schrie Dendia. Ihr lauter Ruf weckte die anderen Afalharo aus der Starre. »Schnell weg von hier!« Die Dendibos, die bislang ruhig waren und scheinbar das Schicksal ihres Artgenossen mit betrauert hatten, reagierten von einem Moment zum nächsten panisch. Ein einziger Moment der Unachtsamkeit konnte in dieser lebensfeindlichen Landschaft über Leben und Tod entscheiden.
49 Gantschula stieg auf den Hinterläufen hoch, zirpte erneut voller Schmerz. Ich hielt mich fest, klammerte mich an das Geschirr. Es nutzte alles nichts. Das HirschkäferWeibchen gebärdete sich wie wild. Das Näherkommen der Termiten weckte in ihr und ihren Artgenossen Instinkte, denen mit meinen bescheidenen Dressurfähigkeiten nicht beizukommen war. Mein Griff lockerte sich zusehends. Mit aller Mühe klammerte ich mich fest, bis Gantschula zumindest für einen Moment wieder auf allen Beinen stand – und ließ mich fallen. Ich rollte ab, sprang zur Seite, aus der direkten Gefahrenzone des umherbockenden Dendibo-Weibchens. Hochgewirbelter Sand versperrte mir die Sicht. Ein brauner, wogender Teppich kam schnell auf mich zu. Die Tiere kletterten übereinander, schoben sich in eine Stoßrichtung vorwärts, als ob sie mit einem Gehirn dächten. »Jorge!«, rief ich. »Dendia! Gamondio!« Gleichzeitig begann ich zu laufen, so schnell ich nur konnte. Mit Schrecken dachte ich an die Ereignisse wenige Tage zuvor. An die hundeähnlichen Scaffrans, die von den Termiten binnen weniger Augenblicke besiegt und davongeschleppt worden waren. »Atlan!« Ein Hilferuf. Rechts von mir. Es klang wie Jorges Stimme. Ich änderte die Laufrichtung und stolperte fast über den Terraner, der sich vor Panik nicht bewegen konnte. Es blieb keine Zeit. Ich riss ihn nach oben und zog ihn mit mir. Ich spürte, dass er selbst zu laufen begann, und lockerte meinen Griff. Ein kurzer Blick zurück ließ mich fast erstarren. Das braune Meer schwappte wie die Flut über das Land hinweg. Ein markerschütternder, hoher Schrei ertönte. Es hatte einen der Dendibos erwischt. Mein Atem wurde kürzer. Der Terraner neben mir war ebenso ausgebrannt. Ich mus-
50 ste ihn wieder mit mir ziehen. Ein Sprint über zweihundert Meter in glühender Hitze raubte auch der kräftigsten Natur alle Kräfte. Wohin nur? Nirgendwo gab es Schutz vor den Termiten. Unmittelbar vor uns ragten Felsen. Nur wenige Meter hoch – vielleicht war das unsere Rettung. Ich zerrte und schleppte Jorge mit mir, schob ihn über das rutschige Gestein hinauf. Die Geräusche hinter uns wurden ohrenbetäubend laut. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, sondern kämpfte mich die Felsen hinauf. In einer Höhe von zirka vier Metern erreichten wir eine flache Kuppe. Ich rang um Atem, spürte, wie der Zellaktivator-Chip heftig arbeitete. Wir waren in Sicherheit. Nicht ganz, meinte der Extrasinn lapidar, und ich hasste ihn dafür. Langsam senkte sich der aufgewirbelte Sand. Von allen Seiten näherten sich Termiten. Sie bedeckten eine Fläche von gut und gern fünfhundert Quadratmetern, und immer noch strömten Heerscharen der Insekten nach. Sie gehorchten einem einzigen Befehl. Sie stapelten sich übereinander, krabbelten aufeinander, immer höher; verwendeten ihre fragil wirkenden Leiber, um sich an uns heranzuschieben. »Ihr Mistviecher!«, schrie Jorge neben mir, völlig außer sich. Er packte einen flachen Stein, sicherlich mehr als vierzig Kilogramm schwer, und stieß ihn hinab ins braune Meer. Wie ein Wahnsinniger warf er alles hinunter, dessen er habhaft werden konnte. Er tötete vielleicht eine Hundertschaft von ihnen, möglicherweise gar tausend. Eine Million rückte nach. Der Archivar gab auf, ließ die Schulter hängen und blickte mich an. »Du hast mir etwas versprochen!«, sagte er anklagend. Was sollte ich nur machen? Was sollte ich nur sagen? Dass ich versagt hatte?
Michael Marcus Jorge drehte mir den Rücken zu. Dann kamen sie – die Termiten … Sie töteten uns im Gegensatz zu den Dendibos nicht sofort. Weiße Kokonfäden umfingen uns. Sosehr wir uns auch wehrten, die Sekretbänder spannten sich immer enger um Arme und Beine. Hundertschaften klammerten sich an uns fest, krabbelten über unsere Körper. Jorge erwischte es zuerst. Er stürzte mitten hinein in das Gewirr der Termiten. Ein letzter, erstickter Schrei, dann war von ihm nichts mehr zu hören. Wenige Sekunden später brachten die Genjis auch mich zu Fall. Ich plumpste in eine weiche und dennoch kratzige Masse. Ich verlor jegliches Gefühl, als ich sekundenschnell eingepuppt wurde. War es das? Das Ende? Die Termiten transportierten mich über ihre Rücken hinweg zu ihrem Bau. Tausendfach knackte es unter mir, als Insekten unter meiner Last zerbrachen. Mund, Nase und Augen waren frei geblieben. Warum, konnte ich nicht sagen. Ich schwebte über den braunen Wellenteppich hinweg, in einer Stimmung, die ich einfach nicht zu beschreiben vermochte. Der Gedanke, in einer Vorratskammer als Nahrung aufbewahrt zu werden, hatte etwas Groteskes an sich. Kurz bevor ich in den größten Bau geleitet und in Seitenlage gedreht wurde, glaubte ich für einen kurzen Moment mehrere Dutzend Savannenkrieger aufeinander einschlagen zu sehen. Vielleicht waren es die Tulig und die Nathals, die ihren letzten Glaubenskrieg untereinander ausfochten. Eigentlich war es egal. Ich wurde nach unten getragen, hinab durch enge Gänge, bis ich in einem zwei Meter hohen Raum zu liegen kam. Ein trügerisches Halbdunkel umgab mich. Mörderischer Gestank durchzog die künstliche Höhle. Am anderen Ende des Raumes lag eine Gestalt, die sich bewegte. Jorge! Daneben Knochen, Fleischreste, aufgebrochene Schalen – und ein weiterer, großer Kokon.
Die Savannenreiter von Vinara
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Die Termiten zogen sich zurück. Ehrerbietig und respektvoll – so hatte es zumindest den Anschein. Es näherte sich die Königin. Ihre Körpergröße maß über einen Meter. Sie sonderte permanent grünen Schleim aus ihren Mundwinkeln ab. Sie war hungrig, sehr hungrig …
Epilog: Sardaengar Die Katastrophe war nahe. Sehr nahe. Zu nahe. Er wusste zudem nicht, wie er das Auftauchen Atlans deuten sollte. Auch mit dem anderen Wesen, das er mit seinen Sinnen erfasst hatte, konnte er nichts anfangen. Immer wieder sah der Uralte Sardaengar nach oben. Hinauf in den Himmel. Beobach-
tete die Explosionen und Einschläge, fühlte allumfassende Verzweiflung. Plötzlich ein neuer Sinneseindruck: grellweißes Licht, das aus dem Mond wuchs, mühelos eine Brücke zum Planeten schlug und irgendwo in der Ferne endete. Zwischen den Gipfeln des Ograhan-Gebirges blieb die Lichtsäule bestehen. Für lange Zeit. Sardaengar konnte den Blick nicht lösen. Etwas schlich sich in sein Wesen, hüllte ihn in Licht und Hitze. Der Kristallmond schien von einem Augenblick zum nächsten zum Greifen nah. So nah, als füllte er ihn aus, befände sich in seinem Kopf … Die Silbersäulen im Land Mertras glommen plötzlich auf …
ENDE
Atlan und sein Begleiter versuchen die Geheimnisse der Obsidian-Welten zu entschlüsseln. Auf ihrer gefahrvollen Reise zum Obsidiantor begegnen sie dem rätselhaften Tamiljon, der sich ihnen anschließt. TAMILJON … so heißt der Roman über die weiteren Abenteuer Atlans und seiner Begleiter aus der Feder von Susan Schwartz. Band vier dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.