Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht
Uwe Murmann
Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht
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Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht
Uwe Murmann
Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht
4y Springer
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
ISBN 3-540-23792-5 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vbrtrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Datenformatierung: Jan-Michael Clauss, Heidelberg SPIN 11344438
64/3130-5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier
Für Renate, Mascha und Marek
Vorwort
Die Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. im Wintersemester 2002/03 als Habilitationsschrift angenommen. Später erschienene Literatur wurde noch bis August 2004 beriicksichtigt. Mein Dank richtet sich vor allem an Herrn Professor Dr. Wolfgang Frisch, der nicht nur die vorliegende Untersuchung betreut und durch zahlreiche Diskussionen gefördert, sondern auch meine sonstigen wissenschaftlichen Bemiihungen mit freundlichem Interesse begleitet hat. Weiterhin habe ich Herrn Professor Dr. Hans-Jörg Albrecht fur die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Professor Dr. Andreas Voßkuhle zu danken, der in seinem Drittgutachten insbesondere zu den rechtsphilosophischen und verfassungsrechtlichen Ausfilhrungen der Arbeit Stellung genommen hat. Der Kreis derer, die auf die eine oder andere Weise einen Beitrag zum Entstehen der Arbeit geleistet haben, ist groß. Erwähnen möchte ich hier vor allem meine Kolleginnen und Kollegen am Institut fur Strafrecht und Rechtstheorie, die mir während meiner Assistentenzeit unersetzliche Gesprächspartner waren, alien voran Herr Dr. Matthias Maurer, Herr Richter Gerd Rackwitz und Herr Rechtsanwalt Dr. Stefan Walter. Auch Herr Privatdozent Dr. Jiirgen Rath hat die Arbeit durch konstruktive Kritik gefördert. Besonderer Dank geht an meine Familie, die an manchem Wochenende zuriickstecken mußte; die Widmung der Arbeit an meine Frau und meine Kinder ist sicher nur ein schwacher Ausgleich. Schließlich danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft fur die Gewährung eines Habilitationsstipendiums und eines Druckkostenzuschusses.
Freiburg, im September 2004
Uwe Murmann
Gliederung
Einleitung
1
Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
7
I.
Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers 10 1. Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus und ihre Implikationen für Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung.... 18 a) „Der Mensch ist ein Wolf fur den Menschen" - Thomas Hobbes 19 b) Christian Wolff 26 2. Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung in der kritischen Aufklärungsphilosophie 31 a) John Locke 34 b) Cesare Beccaria 38 c) Rezeption in der deutschen Strafrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 42 d) Zusammenfassung 45 3. Die Entwicklung eines idealistischen Freiheitsbegriffs 46 a) Jean-Jacques Rousseau 46 b) Immanuel Kant - zugleich zur Rechtsverletzungstheorie 56 II. Die Verletzung des Rechts als Recht - der Verbrechensbegriff der Hegelianer und das Prinzip der Opferselbstverantwortung 68 III. Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung im Rechtspositivismus 74 1. Die sogenannte „gemäßigt positivistische Richtung" 75 a) Der Verbrechensbegriff 77 b) Folgerungen fur die Selbstverantwortung des Opfers 79 aa) Selbstverletzungen 79 bb) Zur Einwilligung 80 2. Der „normlogische Positivismus" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Binding) 83 a) Die Rahmenbedingungen, insbesondere das Staatsverständnis 84 b) Karl Binding 89 3. Der naturalistische Positivismus (insb. Franz von Liszt) 93 a) Franz von Liszt 94 b) Die Radikalisierung dieses Ansatzes bei Keßler 102 IV. Der Einfluß des siidwestdeutschen Neukantianismus (Richard Honig) 104
X
Gliederung
1. Vorbemerkung 104 2. Richard Honig 107 V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel) 111 VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken (Nationalsozialismus) 126 1. Das Verhältnis von Volk, Staat und Einzelnem 129 2. Das nationalsozialistische (Straf-) Rechtsverständnis 133 a) Rechtsbegriindung aus Volk und Filhrerprinzip 133 b) Der Gemeinschaftsbezug des (Straf-) Rechts 135 3. Die rechtliche Relevanz selbstverfugender Opferentscheidungen 138 4. Die rechtliche Relevanz einer einen Eingriff ablehnenden Opferentscheidung 141 5. Erträge 143 VII. Die Selbstverantwortung des Opfers im bundesrepublikanischen Recht.... 144 1. Überblick 144 2. Die Begriindung von Freiheit und Selbstverantwortung aus der Verfassung 147 a) Die Begriindung der Selbstverfugungsfreiheit des Opfers aus einem verfassungsorientierten Rechtsgutsverständnis 149 b) Verfassungsrechtliche Verankerungen der Selbstverfugungsfreiheit des Opfers (insb. Sternberg-Lieben) 152 c) Kritik der (nur) verfassungsfundierten Ansätze 155 2. Teil: Rechtsphilosophische Grundlegung I. II. III. IV.
159
Einleitung 159 Person und Gemeinschaft 161 Freiheit als Autonomie 167 Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegriindung 172 1. Die Unabhängigkeitsthese 175 2. Die moralteleologische Rechtsauffassung 178 a) Grundlagen 178 b) Konsequenzen fur das Problem der Ermöglichung oder Realisation fremder selbstverfugender Entscheidungen 179 aa) Die Behandlung des Suizids nach dem Sittengesetz 182 bb) Die Behandlung moralisch neutraler Maximen nach der moralteleologischen Rechtsauffassung 191 c) Kritik 191 3. Der kategorische Imperativ als Grundlage fur die Verbindlichkeit von Recht 193 V. Das Rechtsverhältnis als gegenseitiges Anerkennungsverhältnis und seine Verletzung 196 VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung 198 1. Die grundsätzliche rechtliche Bedeutsamkeit der Opferentscheidung... 198 2. Defizitäre Entscheidungen 202
Gliederung 3. Grenzen der Selbstverfiigungsfreiheit an den Rechten anderer 3. Teil: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
XI 209 215
I. Einleitung 215 II. Das „Menschenbild" des Grundgesetzes 216 III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfugungsfreiheit 226 1. Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich der einzelnen Freiheitsgrundrechte 227 2. Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich solcher Grundrechte, die durch die Entscheidung (zusätzlich) betroffen sind....233 3. Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) 234 IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit 240 1. Der Schutz des (nicht defizitär entscheidenden) Menschen vor sich selbst 240 a) Grenzen aus der Schutzpflichtenlehre? 242 b) Freiheitsschranken aus dem Schutz der Menschenwiirde? 249 aa) Kritik eines materiell-wertethischen Menschenwürdeverständnisses am Beispiel der Peep-Show-Entscheidung des BVerwG (E 64, 274) 252 bb) Wertphilosophische Anklänge in der strafrechtlichen Judikatur und Literatur 257 cc) Wiirde der Menschheit versus Wiirde des Einzelnen? 260 dd) Staatliche Schutzpflichten aus dem Menschenwiirdegehalt der Einzelgrundrechte? 261 c) Zusammenfassung - zugleich zur Anmaßung von Freiheitsschranken zum Schutze des Menschen vor sich selbst 263 2. Schranken der Verfiigungsfreiheit bei defizitären Entscheidungen 264 3. Schranken selbstverfiigenden Verhaltens aus der Sozialbindung 270 a) Die Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung und der Rechte anderer 272 aa) Soziale Sinngehalte, bei deren Verkniipfung mit selbstverfügendem Verhalten dieses grundsätzlich als Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung in Betracht kommt 274 bb) Wesensgehalt - Menschenwiirde - Verhältnismäßigkeit 285 (1) Wesensgehaltsgarantie 285 (2) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) 290 b) Die Schranke des Sittengesetzes 301 4. Zusammenfassung 305 4. Teil: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens I.
Der normative Ausgangspunkt: Die uneingeschränkte Verfügbarkeit liber Individualrechtsgiiter - Die Rechte anderer unberührt lassende, nicht defizitäre selbstverfügende Opferentscheidungen
307
315
XII
II.
Gliederung
Die strafrechtsdogmatisch angemessene Beriicksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen - entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit der Fallgruppenbildung der h.M 1. Die Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung - Die Opferentscheidung modifiziert nicht das konkrete Rechtsverhältnis a) Das Teilnahmeargument der h.M b) Die primäre Frage nach der täterschaftlichen Tatbestandsverwirklichung durch den Außenstehenden aa) Das zur Feststellung täterschaftlicher Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung stehende strafrechtsdogmatische Instrumentarium bb) Die Tatherrschaft als Kriterium zur Feststellung täterschaftlicher Tatbestandsverwirklichung, insbesondere zur Auffassung Schillings cc) Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Tatherrschaftslehre bei der Bestimmung ihres normativen Gegenstandes dd) Das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung in den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung ee) Übergang zu den Fallen der einverständlichen Fremdschädigung 2. Die Fälle der einverständlichen Fremdschädigung - Die Opferentscheidung modifiziert das konkrete Rechtsverhältnis a) Die vorfindlichen (insbesondere im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten diskutierten) Abgrenzungsversuche zur eigenverantwortlichen Selbstschädigung aa) Das Tatherrschaftskriterium der Rechtsprechung bb) Das Tatherrschaftskriterium der Literatur - Die Behandlung der Fälle der „Quasi-Mittäterschaft" b) Die Abgrenzung anhand des Kriteriums der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung c) Die deliktssystematische Verortung der Einwilligung aa) Grundlagen bb) Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund 3. Die Fälle der eigenverantwortlichen Selbst- und der einverständlichen Fremdgefährdung a) Die vorfindlichen Bemiihungen um die Abgrenzung der Fälle der Gefährdung gegen die der Schädigung b) Die Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung - Die Opferentscheidung modifiziert nicht das konkrete Rechtsverhältnis aa) Die Rechtsprechung bb) Die Literatur cc) Das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung c) Die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung — Die Opferentscheidung modifiziert das konkrete Rechtsverhältnis
317
318 319 325
325
327 331 333 336 336
337 338 344 353 368 368 369 379 379
382 383 391 397 403
Gliederung
XIII
aa) Die Rechtsprechung bb) DieLiteratur cc) Fremdgefährdung als (bewilligte) Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr 4. Zusammenfassung III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten 1. Das Defizit als psychischer Sachverhalt 2. Die normative Relevanz von Defiziten - kritische Aufnahme vorfindlicher Bemiihungen a) Die normative Relevanz von Defiziten bei der Einwilligung aa) Die umfassende Relevanz von Defiziten bb) Normative Einschränkungen der Relevanz von Defiziten cc) Die normativ begriindete umfassende Relevanz von Defiziten (Amelung) dd) Zusammenfassung - Zugleich zu den Grenzen der Möglichkeit, allgemeine Aussagen zur strafrechtlichen Relevanz von Entscheidungsdefiziten zu treffen b) Die normative Relevanz von Defiziten, die zu Selbstschädigungen oder-gefährdungen führen können aa) Mittelbare Täterschaft des Außenstehenden und defizitäre Opferentscheidung (1) Die Diskussion um die Qualität der Defizite, die fur die Begrtindung von Tatherrschaft des Außenstehenden in Betracht kommen (2) Die mangelnde Aussagekraft der Figur der mittelbaren Täterschaft fur die normative Bedeutung etwaiger defizitärer Opferentscheidungen bb) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung des Außenstehenden und defizitäre Opferentscheidung cc) Die normative Relevanz von Defiziten, die zu Selbstschädigungen oder -gefährdungen führen können, im Kontext der Verhaltensordnung 3. Voriiberlegungen zur Verantwortlichkeit für (mögliche) defizitäre Entscheidungen bei Einwilligung und Selbstschädigung bzw.-gefährdung 4. Unsicherheiten über den defizitären Charakter einer (möglicherweise bevorstehenden) selbstverfiigenden Entscheidung - zum Hintergrund von § 216 StGB und § 228 StGB a) Unsicherheiten iiber den defizitären Charakter von Einwilligungsentscheidungen und (möglichen) Selbstschädigungs- oder Selbstgefährdungsentscheidungen b) Das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung als ratio von § 216 StGB c) Das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung als ratio von § 228 StGB
403 415 427 433 433 434 443 448 448 450 455
459 461 462
463
466 470
471
473
488
488 493 501
XIV
Gliederung
IV. Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer 506 1. Tatbestände, die (auch) dem Schutz der Rechte anderer dienen 508 2. Tatbestände, bei denen die Gesetzesfassung keinen Bezug auf die Rechte anderer erkennen läßt - insbesondere § 216 StGB und §§ 223 ff. StGB 512 a) §216 StGB 514 aa) Rechte anderer, deren Schutz § 216 StGB dienen könnte 517 (1) Das Tabuargument 517 (2) Die „Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft" ....522 (3) Das Mißbrauchsargument 523 (4) Das allgemeine „Interesse an Klarheit" am Nichtvorliegen von Entscheidungsdefiziten 526 (5) Zusammenfassung 528 bb) Grenzen der Einschränkung der Selbstverfugungsfreiheit aus den Rechten anderer 529 b) § 228 StGB 532 Resiimee
535
Literaturverzeichnis
537
Sachregister
595
Einleitung
Die Diskussion um die Selbstverantwortung des Opfers hat in den letzten Jahrzehnten eine Konjunktur erlebt, die man in den Kontext einer von Kiiper im Jahre 1980 angesprochenen „Wiederentdeckung des Opfers fur die Unrechtslehre" stellen kann1. Freilich konnte die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens eines „Täters" auch zuvor nie auf eine Berilcksichtigung des „Opfers" verzichten2. Aber dessen Rolle war vielfach auf die eines Objekts herabgedriickt, an dem sich lediglich der Ungehorsam des Täters gegen eine Norm in seiner Äußerlichkeit manifestierte. Selbst in der Einwilligungslehre, die in der Entscheidung des Opfers geradezu ihren Gegenstand hat, war diese Entscheidung noch nicht notwendig in ihrer rechtlichen Qualität aufgeklärt, sondern wurde vielfach lediglich als ein - unverbindliches - Argument fur eine Riicknahme (straf-) rechtlicher Normen zu Gunsten des Erklärungsempfängers eingefuhrt. Mit der „Selbstverantwortung des Opfers" ist dagegen - zumindest verbal - der Anspruch verbunden, das Opfer in seiner rechtspersonalen Qualität, als Subjekt in einem Rechtsverhältnis, aufzufassen. Eine rechtlich notwendige Verantwortung fur selbstverfügende Entscheidungen trägt die Person bei dieser Sichtweise jedenfalls deshalb und insoweit, wie diese Entscheidungen zum Selbstbestimmungsrecht der Person gehören und demnach rechtlich den anderen nichts angehen dieser Zusammenhang von Selbstbestimmungsrecht und Selbstverantwortung ist im Fortgang der Arbeit näher aufzuklären. Dagegen zielt die Fillle der in jüngerer Zeit veröffentlichten Stellungnahmen weniger auf eine Begrilndung fur die Berechtigung des Geltungsanspruchs eines Prinzips der Opferselbstverantwortung und der Aufklärung der Bedingungen der 1 2
Küper,GA 1980,217. Zur Terminologie: es ist eine sprachliche Schwierigkeit des vorliegenden Gegenstandes, daß das Verhalten eines „Opfers" und eines „Täters" auf ihre (straf-) rechtliche Relevanz mit dem Ziel untersucht werden, festzustellen, ob überhaupt ein Verhältnis von Täter und Opfer vorliegt. Wenn im Folgenden von Opfer und Täter die Rede ist, so sind damit nur die potentiellen Rollen der Beteiligten umschrieben. Ob es sich tatsächlich um ein Verhältnis von Täter und Opfer in einem technischen Sinn handelt, soil damit nicht vorentschieden sein. Siehe zu einem entsprechenden Sprachgebrauch Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 2 mit Fn. 9. - Die Vorbehalte, die gegen einen solchen Sprachgebrauch aus strafprozessualer Perspektive bestehen (Unschuldsvermutung!), betreffen nicht die materiellrechtliche Erörterung; vgl. Hassemer, in: Hassemer/ Reemtsma,Verbrechensopfer, S. 53.
2
Einleitung
Möglichkeit eines solchen Prinzips3. Vielmehr ist in Rechtsprechung und Wissenschaft eine verbreitete Tendenz zu beobachten, die Selbstverantwortung des Opfers gleichsam als „Topos" einzufuhren, dessen grundsätzliche Berechtigung keiner weiteren Begründung bedarf und der unter gewissen Voraussetzungen der Qualifizierung eines Verhaltens eines Außenstehenden (des potentiellen Täters) als (strafwtirdiges) Unrecht5 entgegengehalten wird. Soil diese Vorgehensweise nicht nur intuitiv bleiben, sondern begriindeter Einsicht entsprechen, dann muß aufgewiesen werden, warum bestimmtes Opferverhalten als selbstverantwortlich qualifiziert werden kann und die normative Qualität des Täterverhaltens berührt oder sogar verändert. Vorausgesetzt ist damit offenbar, daß Unrecht ein interpersonaler Sachverhalt ist, in dessen Konstituierung auch das Opfer in bestimmter Weise vorkommt. Begriindet selbstverantwortliches Opferverhalten das Nichtvorliegen von Unrecht, so setzt dies voraus, daß zum Unrecht eine Verletzung des Opfers gerade in seinem Recht auf Selbstbestimmung (fur dessen Ausilbung die Person Verantwortung trägt) gehört. Derm nur ein Aspekt, der konstitutiv zur Unrechtsbegründung gehört, kann bei seinem Fehlen auch den Ausschluß von Unrecht begründen. Doch auch mit diesen Erwägungen ist der Ableitungszusammenhang, in dem die materiale Qualität des Täterverhaltens zum Selbstbestimmungsrecht und der diesem korrespondierenden Opferselbstverantwortung steht, noch unvollständig. Denn auch das Unrecht ist als Verletzung von Recht lediglich ein sekundäres Phänomen6. Gehört die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers zum Unrecht, dann bedeutet dies, daß die Achtung vor der Selbstbestimmung des anderen bereits den rechtlichen Zustand kennzeichnen muß. Zum Recht gehört danach die Anerkennung der Selbstbestimmung des anderen - nichts anderes ist vorausgesetzt, wenn die Opferselbstverantwortung als Argument fur den Unrechtsausschluß herangezogen wird. Daraus ergibt sich ein weiteres: Das Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer ist nicht - erst - ein strafrechtliches Verhältnis. Tritt das Opfer in seiner personalen Qualität als Rechtssubjekt auf, so erlangt dessen Selbstverantwortung nicht erst Relevanz für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Außenstehenden - wie es in einer geläufigen Interpretation der Einwilligung als des Verzichts auf strafrechtlichen Schutz der Fall ist7 -, sondern Selbstverantwortung ist ein Prinzip, das
Eine Ausnahme stellt insoweit die Arbeit von Zaczyk, Selbstverantwortung, dar. Wobei als „Begrilndung" dieses Prinzips auch kaum die pauschale Berufung auf ein grundgesetzlich verankertes Menschenbild ausreichen kann; so aber Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 1. Stellungnahmen, wonach die Selbstverantwortung des Opfers erst fur die Schuld Relevanz erhält (so RGSt 57, 172 [„Memel-Fall"]), beruhen auf einem überwundenen Verständnis von Unrecht und Schuld. Vgl. zu diesem Zusammenhang - schon bezogen auf das Selbstbestimmungsrecht Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 104; allgemein etwa Zaczyk, Das Unrecht, S. 196; Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 172 und schon Köstlin, Neue Revision, § 2. Siehe vorläufig nur Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 33.
Einleitung
3
schon die Rechtlichkeit des Täterverhaltens zu bestimmen vermag. Prägen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung das Rechtsverhältnis, so ist damit zugleich klar, daß sie in einem ersten Schritt keine spezifisch strafrechtlichen Probleme aufwerfen. Schon im Ansatz unzutreffend ist es demnach, wenn Rönnau schreibt: „Mit dem Rechtsinstitut der Einwilligung gewährt das Strafrecht dem Berechtigten die Möglichkeit, seine Rechtsgüter zu selbstgewählten Zwecken preiszugeben"8. Fonnuliert man diese Einsichten in normentheoretischer Terminologie, so prägt das Selbstbestimmungsrecht und die Verantwortung fur in dessen Geltungsbereich fallende Entscheidungen des Opfers bereits den Inhalt der an den Außenstehenden gerichteten Verhaltensnormen. Soweit selbstverfugende Entscheidungen zur rechtlich geschiltzten Freiheit der Person gehören, ist es ausgeschlossen, diese Entscheidungen förderndes, ermöglichendes oder an diesen Entscheidungen orientiertes (d.h. den Entscheidungsinhalt exekutierendes) Verhalten eines Außenstehenden gerade mit Blick auf diese Förderung, Ermöglichung oder die Verwirklichung einer selbstverfügenden Entscheidung des Opfers rechtlich zu verbieten. Die Konturierung von an den Außenstehenden gerichteten Verhaltensnormen kann also in zweierlei Weise von der Reichweite des Selbstbestimmungsrechts des Opfer abhängen. Zum ersten schließt ein Recht zu selbstverfugendem Verhalten, dessen Ausübung allein in den Verantwortungsbereich des Opfers fällt, es aus, Verhaltensverbote an einen Außenstehenden deshalb auszusprechen, weil bestimmte Verhaltensweisen das Risiko schaffen oder erhöhen, daß es zu solchen selbstverfügenden Entscheidungen kommt. Von diesem Grundsatz betroffen sind die Fälle, die von der h.M. mit den Begriffen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung und der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung umschrieben werden. Zum zweiten besteht aber auch die Möglichkeit, daß dem Außenstehenden durch eine selbstverfugende Entscheidung des Opfers eine sonst nicht zustehende Verhaltensoption eröffnet wird. Das in diesem Sinne ausgeiibte Selbstbestimmungsrecht des Opfers ist also die „Kompetenz"9, durch sein Willensverhalten das konkrete Rechtsverhältnis zum Täter im Sinne der rechtlichen Erlaubtheit eines grundsätzlich verbotenen Verhaltens zu verändem. Dies sind die Fälle der von der h.M. sogenannten einverständlichen Fremdschädigung und einverständlichen Fremdgefährdung. Die Weisen, auf die das Selbstbestimmungsrecht des Opfers gestaltend auf die Verhaltensanforderungen an den Außenstehenden Einfluß nimmt, sind danach zwar unterschiedlich. Vorausgesetzt ist aber immer, daß eine selbstverfugende Entscheidung rechtliche Anerkennung findet und es mit Rilcksicht auf diese rechtliche Anerkennung der Opferentscheidung nicht legitimierbar ware, das Verhalten des Außenstehenden zu untersagen. Die - nicht strafrechtlich zu beurteilende rechtliche Anerkennung einer Opferentscheidung stellt also die erste Weiche fur
Rönnau, Willensmängel, S. 1 (Hervorhebung nur hier), S. 245 ff. Zu diesem Begriff Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 211 ff.
4
Einleitung
die Beurteilung der Strafbarkeit dessen, der das Risiko, das es zu einer selbstverfugenden Entscheidung kommt, erhöht oder eine solche Entscheidung exekutiert. 1st Ausgangspunkt der Bemiihungen das Recht, in dessen interpersonaler Struktur die Selbstverantwortung des Opfers und die Beurteilung des Verhaltens des Außenstehenden gleichsam nur zwei Seiten des einen Gegenstandes sind, so können Grund und Grenzen eines Prinzips der Selbstverantwortung nicht ohne Blick auf die (unterschiedlichen) Begrilndungen von Recht bestimmt werden. Damit wird das Prinzip der Selbstverantwortung zugleich in den staatstheoretischen Zusammenhang eingebunden, in dem die jeweilige Rechtsbegründung steht10. Skizzenhaft11'12: Das Recht eines Staates, der seine Legitimation und damit die Legitimation fur die Verfolgung seiner Zwecke von der Freiheit seiner Burger ableitet, erfährt durch diese Freiheit auch seine Begrenzung. Die Konturen dieser Begrenzung hängen dann freilich immer noch davon ab, wie diese „Freiheit" näher bestimmt wird - Paternalismus ist in solchen Konzeptionen damit noch nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Wird der Legitimationsanspruch eines Staates dagegen auf ein prinzipiell anderes Fundament gestellt und wird dementsprechend auch der Staatszweck nicht von den Bürgern her bestimmt oder wird der Staat gar zum Selbstzweck, so kann diese Zwecksetzung gegen die Verwirklichung der Selbstverantwortung der Burger ausgespielt werden (soweit man von einer „Selbstverantwortung" des Einzelnen in einem solchen Ansatz ilberhaupt sinnvoll sprechen kann). Eine angemessene Aufhahme des Diskussionsstandes iiber die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht macht es also erforderlich, die unterschiedlichen Rechtskonzeptionen danach zu befragen, inwieweit sie einem Prinzip der Opferselbstverantwortung als einem Rechtsprinzip überhaupt einen - von ihren Vertretern in Anspruch genommenen - Platz einräumen können. Neben dieser, noch innerhalb der jeweiligen Konzeptionen bleibenden kritischen Würdigung, muß auch immer schon die Frage mitgefuhrt werden, ob das jeweilige Rechts- und Unrechtsverständnis überhaupt angemessen begründet ist. Diese letztgenannte - theorieexterne - Kritik bereitet gleichzeitig die Begriindung des eigenen Standpunktes
10
11 12
Vgl. Amelung, Rechtsgiiterschutz, S. 3. Zur Vernachlässigung staatstheoretischer Einsichten in der Strafrechtswissenschaft; ders., Vorwort zu: Die Einwilligung; Jung, GA 1993, 535 ff.; ders., JuS 1999, 217 ff.; Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, S. 34 ff. Zur verfassungsrechtlichen Dimension des Strafrechts - insbesondere zur Bedeutung der Grundrechte - vgl. neuerdings Appel, Verfassung und Strafe; Lagodny, Grundrechte; kritisch zu den Erträgen der Grundrechte fur das Strafrecht Naucke, Einfuhrung, § 2 Rn. 83 ff, insb. 99 ff. Vgl. auch Klee, GA 48 (1901), 184 ff. Vgl. zum Zusammenhang von Staatszweck und der Begrenzung staatlicher Macht etwa Brugger, Staatszwecke, S. 357 ff; Hillgruber, Der Schutz, S. 6; Lorz, Modemes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 175 ff.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 357 ff. Eine Konzeption, die freilich in der neueren Staatslehre nicht unangefochten ist, vgl. Scheuner, Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, S. 468 mit Anm. 5, 487 f.
Einleitung
5
vor, bleibt aber bis zu dessen Ausarbeitung - im 2. (rechtsphilosophischen) und 3. (verfassungsrechtlichen) Teil der Arbeit - freilich noch vorläufig. 1st die Opferselbstverantwortung auch in einem ersten Schritt ein das Recht nicht erst das Strafrecht - bestimmendes Prinzip, so ist dieses Prinzip freilich doch auch fllr die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens des Außenstehenden weichenstellend. Denn ein das Rechtsverhältnis zum Opfer nicht verletzendes Verhalten des Außenstehenden kann auch (genauer: erst recht) einen strafrechtlichen Vorwurf nicht begründen. Ob umgekehrt freilich die (unter bestimmten Aspekten) fehlende rechtliche Beachtlichkeit der Opferentscheidung letztlich auch zur Strafbarkeit des Außenstehenden fuhrt, ist damit noch nicht entschieden. Dies hängt von den spezifisch strafrechtlichen Haftungsvoraussetzungen ab. So mag etwa die rechtliche Unwirksamkeit einer Entscheidung aus Erwägungen folgen, die nicht auch zugleich Griinde fur eine Strafbarkeit aus einem bestimmten Tatbestand sind. Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen aus dem hier vorgetragenen Ansatz werden im 4. Teil gezogen. Da die vorfmdlichen Stellungnahmen zum Prinzip der Opferselbstverantwortung oftmals unmittelbar an der strafrechtlichen Beurteilung des Täterverhaltens ansetzen, ist es vielfach unumgänglich, den Überblick liber Gang und Stand der Diskussion an solchen Stellungnahmen aufzunehmen, die das Problem der Opferselbstverantwortung gleichsam als dem Verbrechensbegriff inzident behandeln. Mit der Begriindung strafbaren Verhaltens des Außenstehenden ist dann notwendig behauptet, die Opferentscheidung stehe dem rechtsverletzenden Charakter des Täterverhaltens (schon nach der Primärordnung) nicht entgegen. Da sich schließlich auch schon bei der Aufhahme des Diskussionsstandes die spezifisch strafrechtliche Frage danach stellt, inwieweit solche Verhaltensweisen eines Außenstehenden, deren Qualifizierung als (dem Strafrecht vorausliegendes) Unrecht nicht schon durch das Prinzip der Opferselbstverantwortung ausgeschlossen ist, auch als Strafixxnecht erfaßbar sind, erscheint es fllr eine Arbeit, die das Prinzip der Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht zu ihrem Gegenstand hat, als berechtigt weil die genannten Vorfragen umfassend und einer vielfach in der Diskussion vorfmdlichen Art der Behandlung dieses Gegenstandes Rechnung tragend -, wenn die nachfolgenden Bemiihungen um die Aufhahme des Diskussionsstandes unter der Überschrift stehen:
1. Teil: Verbrechen und Opferselbstverantwortung moderne Entwicklungen
Es geht bei den nachfolgenden Bemühungen um die kritische Aufhahme des Diskussionsstandes nicht darum, eine dogmengeschichtliche oder gar philosophiegeschichtliche Untersuchung vorzulegen1, die den Streit zwischen den verschiedenen Rechts- und Unrechtslehren und deren Behandlung selbstverfiigender Opferentscheidungen bis in seine Einzelheiten verfolgt2 - ein solches Unterfangen müßte schon an der Fülle des Materials scheitern. Geboten werden kann also nur eine Auswahl, deren Rechtfertigung sich zum einen aus der Wirkmacht der jeweiligen Autoren bzw. der von ihnen vertretenen Konzeptionen bis in die heutige Zeit und zum anderen daraus ergeben soil, daß die jeweils vorgestellten Konzeptionen Verständnisse von Recht, Unrecht, Verbrechen und der Selbstverantwortung des Opfers vorbereitet oder entwickelt haben, mit denen gleichsam modellhaft Möglichkeiten des Denkens aufgezeigt werden. Die Untersuchung wird insoweit zeigen, daß eine Reihe von extremen wie auch von vermittelnden Positionen schon gedacht worden sind, so daß die Stärken und Schwächen bestimmter Standpunkte bereits in diesem Teil der Untersuchung herausgearbeitet werden können. Die jüngst in seiner Habilitationsschrift iiber „Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht" vertretene Auffassung Sternberg-Liebens, eine dogmengeschichtliche Untersuchung zu diesem Gegenstand verspreche keinen Erkenntnisgewinn, da filr seine Behandlung allein die fur unserer heutige Gemeinschaftsordnung verbindlichen Vorgaben des Grundgesetzes maßgeblich seien3, greift danach zu kurz. Sie wird auch von Sternberg-Lieben nicht konsequent durchgehalten, wenn er etwa - zur Interpretation des Grundgesetzes - auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus verweist4. Die verschiedenen Hinweise auf die Ideengeschichte sind von Zu den Schwierigkeiten solcher dogmengeschichtlichen Untersuchungen, insbesondere zu den wirkmächtigen - mehr oder minder reflektierten - politischen Einflilssen auf den Gang der Dogmengeschichte Hassemer, Theorie, S. 25 ff. Vgl. zu einzelnen Aspekten dieser Diskussion etwa Lampe, Das personale Unrecht, S. 13 ff; Honig, Einwilligung, und die verschiedenen Arbeiten zum Rechtsgutsbegriff etwa Amelung, Rechtsgilterschutz. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 10. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 16, 375.
Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen Sternberg-Lieben locker eingestreut und eher zufällig5. Doch das Verständnis des Grundgesetzes und des heute erreichten Standes des Verständnisses personaler Freiheit ist in einem weit tlber solche Andeutungen hinausgehenden Umfang durch (philosophische und andere) Traditionen geprägt 6 . Diese Traditionen sind vielfältig und erlauben partiell durchaus gegenläufige Interpretationen der Verfassung. Durch den Hinweis auf „die Vorgaben des Grundgesetzes" wird der - unzutreffende7 - Eindruck vermittelt, es gebe ein konsentiertes Bild dieser Gemeinschaftsordnung, aus dem fur den untersuchten Teilbereich nur noch die Konsequenzen gezogen werden müßten 8 . Schließlich und vor allem vergibt ein solcher Verfassungspositi-
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Von seinem Verständnis für dogmengeschichtliche Dimensionen her betrachtet müßten sie fur den Erkenntnisfortschritt ohnedies ohne Bedeutung sein; vgl. fur solche „Einstreuungen" etwa Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15 f. mit Anm. 3, 22 f., 34, 358. Um so erstaunlicher ist es, daß das Grundrechtsverständnis, von dem Sternberg-Liebens Untersuchung ihren „nicht weiter hinterfragte(n) Ausgangspunkt" nimmt {Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15), den Ansatz einer Begriindung nicht zuletzt dadurch erfahrt, daß es „mit dem historischen Kontext des Aufkommens der Grundrechte im Rechtsstaat des ausgehenden 19. Jahrhunderts" in Einklang stehe {Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15 f. in Anm. 3). Schließlich überrascht es, wenn Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 405 mit Anm. 349, einen vorpositiven Freiheitsbegriff in Anspruch nimmt, den der Staat zu respektieren habe. Dann fragt sich aber, warum die - doch notwendig philosophische - Begriindung dieser Freiheit ausgespart werden kann, obwohl sie offenbar gegenilber dem positivierten (Verfassungs-) Recht primär ist. Vgl. etwa Würtenberger, in: FS für Hollerbach, S. 225 ff. Gerade die fur die Reichweite der Freiheit zur Bewilligung verletzenden Verhaltens bedeutsame Frage, ob der Freiheitsbegriff des Art. 2 Abs. 1 GG i.S. einer allgemeinen Handlungsfreiheit aufzufassen ist (BVerfG 6, 32, 36 f. [Elfes]; 9, 83, 88; 80, 137, 152 f.) oder ob die Freiheitsgarantie an eine bestimmte Qualität ihrer Ausiibung gebunden ist (etwa zur „echten Menschwerdung"; Persönlichkeitskerntheorie; dazu Peters, in: FS fur Laun, S. 671; zusammenfassend Hillgruber, Der Schutz, S. 112 ff.) kann ohne Einbeziehung gewisser Vorfragen - deren Geltungsanspruch nicht einfach aus dem Grundgesetz herausgeholt werden kann - nicht beantwortet werden. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15 f. erkennt freilich die Weite des Spektrums möglicher Ansätze zur Grundrechtsinterpretation und wählt als „nicht weiter hinterfragte(n) Ausgangspunkt" eine „liberal-rechtsstaatliche Interpretation der Grundreche", die er durch die „vorrangige Funktion der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte, die dem einzelnen Grundrechtsträger die ihm bereits vorstaatlich zustehenden Freiheitsrechte solange zur beliebigen Ausiibung iiberantworten, als nicht ho'herrangige Interessen Dritter oder der Allgemeinheit dem Grundrechtsgebrauch entgegenstehen". Diese Festlegung hat eine fur die nachfolgende Untersuchung kaum zu unterschätzende präjudizielle Wirkung. Die beiläufige Einführung von dem Menschen vorstaatlich zustehenden Freiheitsrechten iibersteigt den verfassungspositivistischen Ausgangspunkt. Wenn er (Die objektiven Schranken, S. 37 f.) schließlich sogar davon spricht, daß der „Geltungsgrund fur die Ausbildung der bürgerlichen Freiheitssphäre aus ihrer naturrechtlichen, vorstaatlichen Verortung in einen verfassungstextlich aus-
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vismus - der freilich angesichts des Abstraktionsniveaus der Verfassungsartikel nicht auskommt, ohne eine ganze Welt an Vorverständnissen als geltendes Recht auszugeben - das kritische Potential, das in dem nach den Grenzen der Staatstätigkeit fragenden Individuum selbst begriindet sein muß9. Es lohnt sich also durchaus auch von der hohen Warte des Grundgesetzes, dessen positivistische Wirklichkeit kritisch einzuholen - nicht zuletzt, um so gewonnene Einsichten fur die Interpretation der Verfassung fruchtbar zu machen. An die geistesgeschichtliche Entwicklung des erreichten - und eines partiell möglicherweise schon wieder verlorenen Standes zu erinnern, ist ein Teil dieser Leistung. Erschwert wird diese Aufgabe dadurch, daß es quer zur ilblichen Diskussion um den Unrechtsbegriff liegt, die verschiedenen Lehren danach zu unterscheiden, welche Bedeutung sie jeweils der Opferselbstverantwortung im Verhältnis zum Täterverhalten beimessen. Die gängigen Unrechtskonzeptionen orientieren sich weniger an einem interpersonalen, die Selbstverantwortung aufhehmenden Verhältnis von Täter und Opfer, sondern stellen eine Relation von einem - in seiner Komplexität unterschiedlich bestimmten - Täterverhalten zu einem - ebenfalls uneinheitlich begriffenen - Objekt der Verletzung her. Meist wird zudem einseitig entweder das Täterverhalten10 oder aber das Objekt der Verletzung in den Buck genommen". Jede dieser Sichtweisen ist verkürzt (und wird freilich bei genauerem Hinsehen auch nicht durchgehalten); der Gegensatz der Zugänge zum Problem kann letztlich nur ein scheinbarer sein12. Erinnert man an den oben skizzierten Anspruch, den ein rechtlich begrilndetes Prinzip der Opferselbstverantwortung an die personale Stellung des über sich selbst verfugenden Opfers erheben muß, so bietet es sich an, die Diskussion an der Stelle aufzunehmen, an der fur die Neuzeit die Qualität der Person als Rechtssubjekt Gestalt angenommen hat. Es waren die Gedanken der Aufklärung (wenn auch teilweise nur Wiederentdeckungen und Weiterfuhrungen13), die es ilberhaupt erst ermöglicht haben, das Individuum als Verbrechensopfer in den Blick zu nehmen14.
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gewiesenen Grundsatz staatlicher Ordnung verlagert" worden sei, dann tiberrascht es umso mehr, daß er dem offenbar doch historisch entwickelten Verständnis einer solchen naturrechtlichen Freiheitssphäre keine Beachtung schenken will, obwohl sie doch ersichtlich fur die Grundrechtsinterpretation von erheblicher Bedeutung sein muß. Siehe auch Kahlo, KritV 1997, 195. Etwa bei der dogmengeschichtlich mit dem Streit zwischen kausalem und finalem Handlungsbegriff verkniipften Diskussion um einen objektiven oder einen personalen Unrechtsbegriff, siehe etwa Lampe, Das personale Unrecht; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert. Insbesondere in der Diskussion um den Rechtsgutsbegriff. So - zum Gegensatz von Rechtgüter- und Pflichtenstrafrecht - Jäger, Strafgesetzgebung, S. 23 f., 26 f. Vgl. etwa zur Freiheit des Individuums in der Renaissance, Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 72 ff. Zur Bedeutung der Aufklärung für das Strafrecht vgl. nur Hassemer, ARSP Beiheft 44, S. 136 ff.
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I.
Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmilndigkeit. Unmiindigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmiindigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung." 15 Diese Bestimmung zeigt schon, daß fur diesen Ansatz bei der Aufklärungsphilosophie nicht bloß die Befriedigung ideengeschichtlicher Interessen spricht. Die Aufklärungsphilosophie kennzeichnet mit ihrem von den Bilrgern zu erhebenden wie auch einzulösenden Anspruch an rationale Begründungen einen gegenwärtig gültigen Anspruch 16 . Unser Dialog mit der Aufklärungsphilosophie steht auf dem gemeinsamen Boden der Kantischcn Definition. Die zentrale, heute noch giiltige Leistung der Aufklärung liegt in der Betonung der menschlichen Vernunft und der damit zusammenhängenden Stärkung der Stellung des Individuums 17 . Die Aufklärung wendet sich damit gegen Reste mittelalterlichen Denkens, das die sozialen Verhältnisse wesentlich durch göttliche Autorität geprägt sah18 und das Verbrechen als Stinde - als Auflehnung wider Gott - begrif15 16
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Kant, Aufklärung, S. 55. Hartung, Einleitung zu Cassirer, Philosophic der Aufklärung, S. XIX; Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 67; Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 175 ff.; ders., Das Zeitalter der Aufldärung, S. 131 ff.; Schwartländer, Der Mensch ist Person, S. 7 ff. Vgl. etwa Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 44 ff.; Hasso Hofmann, in: GS für Küchenhoff, S. 237; Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 14 ff, 19 ff. Freilich ist der Anspruch des Selbstdenkens philosophiegeschichtlich nicht wirklich neu; siehe etwa Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 33 zu Sokrates und Platon und dort, S. 74 f. zu noch früheren Ansätzen und schließlich eingehend S. 110 ff; Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 11 zur Bedeutung der Aufklärung im Verhältnis zur Renaissance. Ihre herausgehobene Behandlung rechtfertigt sich aber mit ihrer grundlegenden Bedeutung fur die Moderne. Siehe dazu zusammenfassend etwaAmelung, Rechtsgüterschutz, S. 17 f; Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 11 ff; Loening, ZStW 3 (1883), 248 ff; Ryffel, ARSP 70 (1984), 401 ff; dens., Zur Begründung der Menschenrechte, S. 56 ff.; Zippelius, JZ 1999, 1125 ff. und eingehend Fischl, Aufklärungsphilosophie, S. 1 ff. Beispielhaft fur eine theokratische Rechtsauffassung Carpzov, dessen Wirken bis weit in das 18. Jahrhundert einflußreich war {Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 56; v. Weber, in: FS fur Rosenfeld, S. 30 und zu dessen theokratischem Verständnis S. 43 f); siehe zu dessen Verständnis des Verbrechens als Verstoß gegen die göttliche Ordnung Carpzov, Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achtsprozeß, S. 3: die Bestrafung des Verbrechens sei deshalb bedeutsam, „alldieweil hierduch die Frommen bey ihren Haab und
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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fen hatte19. Im theokratisch orientierten Staat war eine vom Individuum selbst abgeleitete Berücksichtigung des Opferwillens nicht denkbar. Deren Rahmen wurde vielmehr durch göttliche Vorgaben gezogen. Dies wird plastisch vor allem an der Behandlung der Selbsttötung, die als Verstoß gegen das fiinfte Gebot angesehen wurde20. Der Suizident darf sein Leben nicht nach seinem Willen beenden, derm es ist ihm von Gott anvertraut und unterliegt nur dessen Verfugungsmacht. Demnach konnte auch die Möglichkeit, die Selbstverletzung als Verbrechen zu erfassen, nicht bezweifelt werden21. Auch die Einwilligung des Opfers konnte nach theokratisch geprägtem Rechtsverständnis einem Verhalten den Verbrechenscharakter nicht nehmen, wenn unabhängig vom Verhalten des Opfers eine Verletzung des göttlichen Willens anzunehmen war22. Im theokratischen Staat konnten diese Vorstellungen Recht und Praxis maßgeblich beeinflussen23. Diese Hinweise auf das theokratisch geprägte Rechtsverständnis haben ihre Bedeutung noch nicht verloren, da gewisse religiose Vorverständnisse gerade auch hinsichtlich der Verfügungen über das Leben - den Wegfall des theoretischen Fundaments fur ihren Geltungsanspruch iiberlebt haben und bis in die moderne Diskussion eine nicht zu unterschätzende - freilich meist nicht offengelegte - Bedeutung behalten haben. Fur das Recht bedeutet also die aufklärerische Wende zum Individuum, daß seine Verbindlichkeit nicht mehr (unvermittelt) auf göttliche Autorität gestützt werden
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Gütern/auch Leib und Leben geschiitzet/hingegen die Bösen hinweg und aus dem Mittel gereumet/andere von dergleichen Übelthaten und Verbrechungen abgeschrecket/ und also Fried und Einigkeit allenthalben erhalten/zuforderst aber des lieben Gottes Ehre gesuchet/und sein ernster Wille vollbracht wird/dann in Wahrheit kein besseres Opfer dem beleidigten Gott geleistet/noch derselbe anderer Gestalt/als durch Hinrichtung und gebürlicher Bestrafung der Missetäter versöhnet werden mag." Zu Carpzov siehe Sellert, Studien und Quellenbuch, S. 253 f.; Ranfl, Individualschutz, S. 10 ff. Zum Wiederaufleben der Vorstellung, dem Staat komme eine göttliche Mission zu, im 19. Jahrhundert siehe Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 245. Zusammenfassend Hippel, Deutsches Strafrecht I, S. 258 ff. Vgl. Hobbing, Strafwiirdigkeit der Selbstverletzung, S. 23 f, 29; Klimpel, Bevormundung, S. 47 f.; Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 634 ff. V g l . etwa Beckert, Strafrechtliche Probleme u m Suizidbeteiligung u n d Sterbehilfe, S. 6 3 ; Hälschner, System, § 63 Anmerk; Eb. Schmidt, Einfuhrung, § 237; eingehend Wächter, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 6 3 4 ff., insb. 646 ff, der allerdings die A n n a h m e der Strafbarkeit des (versuchten) Suizids durch die Praxis in einem Spannungsverhältnis zum positiven Recht, insbesondere auch zur Carolina sieht. Vgl. Beckert, Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 6 3 f; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren, S. 92. Siehe im Einzelnen Beckert, Strafrechtliche Probleme u m Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 46 ff.
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kann, sondera sich nach Vernunftgründen erweisen lassen muß24. Mit dem Primat des Individuums geraten Gemeinschaft und Staat in ihrer Nachträglichkeit und Abgeleitetheit unter den Zwang einer Rechtfertigung25, die nur vom Individuum her geleistet werden kann. Das Gesetz ist nicht mehr von der Obrigkeit nur vermittelte Offenbarung, sondern es beruht auf menschlicher Entscheidung und ist im Gesellschaftsvertrag an das Individuum riickgebunden26. Mit dem von vielen Aufklärern vertretenen Deismus wird Gott zum jenseitigen Gott, der die Welt zwar erschaffen hat, aber auf den weiteren Fortgang keinen Einfiuß nimmt und demnach menschliche Freiheit nicht bindet und nicht beschränkt27'28. Die Aufklärung unternimmt also nichts geringeres, als die Legitimation des Staates aus dem Jenseits in das Diesseits zu verlagern. Die verschiedenen Ausprägungen staatlicher Machtausübung - unter ihnen die Strafrechtspflege - erhalten Grand und Grenzen aus den jeweils anerkannten Staatszwecken. Das Strafrecht wird in dieser engen Beziehung mit der Staatstheorie auch wirklich diskutiert. Die Philosophic (freilich eine politisch keineswegs orientierungslose Philosophie) erhält so bestimmenden Einfluß auf die (Straf-) rechtswissenschaft - ein in dem MaBe notwendiger Einfluß, wie das Recht den Anspruch der Vernunftgegriindetheit erhebt und die Erhebung dieses Anspruchs wie auch seine Einlösung als philosophische Probleme diskutiert werden. Der Zentralbegriff der Vernunft wird in der Aufklärung nicht als ohne weiteres verfugbarer Bestand ewiger Wahrheiten aufgefaßt, die dem Individuum vor Augen stehen, sondern ihre Leistung entfaltet sich im Erwerb der Wahrheit. Die Vernunft „ist nicht das Ärar, nicht die Schatzkammer des Geistes, in der die Wahrheit, gleich einer geprägten Münze, wohlverwahrt liegt; sie ist vielmehr die geistige Grand- und Urkraft, die zur Entdeckung der Wahrheit und zu ihrer Bestimmung und Sicherung hinführt"29. Dieser Übergang von „vorgegebener" zu „aufgegebener" Normativität30 als Leistung der Vernunft ist nun kein bloß innerer Vorgang, sondern die Vernunfter24
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Vgl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 35. Siehe zusammenfassend zum Strafrecht im Lichte aufklärerischer Gedanken etwa Sellert, Studien- und Quellenbuch, S. 347 ff. Dazu Forschner, Rousseau, S. 90. Vgl. etwa Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 47. Siehe Coreth, in: Coreth/Schöndorf, Philosophie, Rn. 127; Störig, Philosophie, S. 360. Auch soweit in Deutschland zunächst noch viele Auflärer christlich orientiert sind (Coreth, in: Coreth/Schöndorf, Philosophie, Rn. 148 ff.; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 66; Schneiders, Hoffhung auf Vernunft, S. 10 ff; Wundt, Die deusche Schulphilosophie, S. 1 f ) , fußt ihr Vernunftrecht nicht auf diesem Glauben (Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 62, 66; allgemein zum Verhältnis von Vernunft und Theologie in der Aufklärung Schneiders, Hoffhung auf Vernunft, S. 22 f ) . Freilich verlieren christliche Einfliisse nicht schlechthin ihre Macht, sondern das Bemilhen richtet sich vielmehr darauf, die als „berechtigt" empfundenen religiösen Inhalte auch als verniinftig zu erweisen (vgl. dazu anhand der Menschenwürde Starck, J Z 1981, 460). Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 16; vgl. auch Brandt, Einfuhrung, S. 4 ff. Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, S. 56 ff.
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kenntnis bedarf der Phänomene. Die Aufklärungsphilosophie orientiert sich methodisch am Beispiel der machtvoll vorwärtsstrebenden Naturwissenschaften, die ihre Erfolge der analytischen Methode verdanken31. Sie setzt an der Fiille der Phänomene an, um von dort zu den diese verbindenden Gesetzen vorzudringen. Dazu bedarf es einer Auflösung der Phänomene in ihre Einzelheiten, einer Zurückverfolgung in den Prozeß ihrer Entstehung, einer Zergliederung komplexer Zusammenhänge. Von den Einzelteilen ausgehend wird wiederum das Gesamte nach einer durch die Vernunft bestimmten Regel (die zunächst nur Hypothese sein kann) neu konstruiert und so schließlich in seiner Gesetzlichkeit erkannt. Das damit neu entstehende Ganze hat nun im Prozeß der Vernunftanwendung eine durchsichtige Struktur erhalten32. Dieses Verfahren wendet die Aufklärungsphilosophie auch auf das gesellschaftliche Sein an33. So werden auch das gesellschaftliche Sein und der Staat - und damit auch das staatliche Recht - „vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht"34 und dort „nach ihren Rechtstiteln, nach ihrem Wahrheits- und Geltungsgrund" befragt35. Das analytische Verfahren der Aufklärungsphilosophie muß bei den Phänomenen - der bestehenden Gesellschaft und dem bestehenden Staat - ansetzen. Diese Phänomene sind freilich durch eine weiter auflösbare Komplexität gekennzeichnet, so daß es gilt, die Gemeinschaft in die vielen Einzelnen, den Gemeinschaftswillen in die Einzelwillen aufzulösen36. Erst von einem anthropologischen Bild der ohne gesellschaftliche Bindungen gedachten Einzelnen - dem sogenannten „Naturzustand" - läßt sich die Motivation der Individuen zum Zusammenschluß in Gesellschaft und Staat freilegen und damit auch Zweck und Leistungsfähigkeit von Gesellschaft und Staat erschließen37. Grundlage jeder wissenschaftlichen Beurteilung der rechtlichen Ordnung einer staatlichen Gemeinschaft ist also der empirische Mensch. Die „Natur des Menschen" ist damit materialer Bezugspunkt des Rechtsverständnisses38 der Aufklärungsphilosophie. 31
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Dazu und zum Folgenden Cassirer, Philosophie der Aufldärung, S. 7 ff.; vgl. ferner Baruzzi, Einfuhrung in die politische Philosophie, S. 174 ff.; Rtiping, Strafrechtsgeschichte, Rn. 150. Siehe Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 16. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 23 ff.; Wiirtenberger, Erinnerungsgabe fur Max Griinhut, S. 200; Kersting, Die politische Philosophie, S. 63 f. (zu Hobbes). Mann, Deutsche Geschichte, S. 48. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 2 3 . Siehe aber noch zur auf Legitimation bestehender Macht zielenden Philosophie des aufgeklärten Absolutismus unten 1. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 23, 342 f. Vgl. Hasso Hofmann, Rechtstheorie 13 (1982), 233 ff. Welzel, Naturrecht, S. 113. Freilich sind auch andere Bezugspunkte fur die Begriindung natiirlichen Rechts denkbar, wie etwa die verniinftige oder die göttliche Weltordnung, siehe Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 91 ff; auch kann der Mensch nicht nur nach seiner physischen oder psychischen Natur, sondern auch nach einer ideell verstandenen Natur, im Sinne einer „metaphysische(n) Idee vom Menschen und von der Gesellschaft" zum Ausgangspunkt eines Naturrechts gemacht werden (vgl. Rosen-
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Freilich kann schon an dieser Stelle festgehalten werden, daß Anspruch und Inhalt einer auf diesem Weg entwickelten Naturrechtslehre durch den Vemunftbegriff der Aufklärung insoweit begrenzt bleiben milssen, wie sich diese Vernunft auf Ableitungszusammenhänge aus empirischen Befunden beschränkt. Das reduzierte Vernunftverständnis muß auch auf die auf seiner Grundlage gewonnenen Ergebnisse durchschlagen. Weiter kann das zugrundegelegte naturzuständliche Bild des Menschen nicht dessen gesamte Komplexität - insbesondere nicht seine soziale Dimension - angemessen erfassen, so daß es auch bei der Verarbeitung des empirischen Materials zu gewissen Verkürzungen, insbesondere um das Moment der Geschichtlichkeit, kommen muß39. Die Vernunftgegriindetheit des Rechts in Verbindung mit der Annahme, daß die Vernunft alle Menschen auszeichnet, schließt die Inanspruchnahme eines prinzipiell gegeniiber den Mitmenschen privilegierten Zugangs zum Recht aus40. Grundsätzlich hat jeder Mensch qua seiner Vernunft das Vermögen, Einsicht in das Recht zu erlangen. Die Vernunftgegriindetheit von Recht ist damit die Grundlage der Gleichheit aller Menschen als Rechtspersonen41. Die skizzierte Methode läßt sich bei alien Vertretern der Aufklärungsphilosophie nachweisen42. In den inhaltlichen Konsequenzen ftihrt der mit der „Natur des Menschen" gewählte Ausgangspunkt aber zu weitreichenden Unterschieden. Dabei besteht noch insoweit Einigkeit, als die Befindlichkeit der Menschen in dem vorstaatlichen Naturzustand so geartet ist, daß eine Vereinigung in einer staatlichen Gemeinschaft angestrebt wird. Der Naturzustand treibt gewissermaßen zu seiner eigenen Auflösung. Die im Naturzustand vorhandene - freilich mit unterschiedlichen Inhalten vorgestellte - Freiheit und Gleichheit der Menschen führt dazu, daß sich der Übergang vom Naturzustand zum Staat nur auf vertraglicher Grundlage vollziehen kann43. Da jedes Gesellschaftsmitglied als vernünftige Person die rechtlichen Regeln mitträgt oder zumindest mittragen müßte, wird so auch das Problem der Legitimation von staatlichem Zwang gegen den Abweichler gelöst. Die Unterschiede betreffen die jeweils angenommenen Bedingungen des Zusammenschlusses. Sie ergeben sich daraus, daß die Vorstellungen über die anthropologischen Vorgaben weit auseinandergehen. Unterschiedliche Menschenbilder implizieren aber unterschiedliche Motivationslagen fur den Zusammenschluß der
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baum, Naturrecht, S. 15); damit ware der naturwissenschaftlich orientierte Ansatzpunkt der Aufklärungsphilosophie aber verlassen. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 185. Vgl. Hasso Hofmann, Rechtstheorie 13 (1982), 234. Womit noch nicht die Auffassung ausgeschlossen ist, daß die Menschen tatsächlich von ihrer Vernunft in unterschiedlichem Umfange Gebrauch machen (können). Vgl. Forschner, Mensch und Gesellschaft, S. 14 f. Eine gewisse Sonderstellung nimmt allerdings Rousseau ein, dazu näher unten 3. a). Eingehend - und fur das ältere Naturrecht: kritisch - zur Leistungsfähigkeit des Freiheitsbegriffs Klippel, Politische Freiheit.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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Einzelnen in Gesellschaften und fur die Griindung von Staaten und dementsprechend unterschiedliche Vertragsinhalte. Folglich divergieren auch die Anforderungen, die an diese Zusammenschltlsse gestellt werden - die Staatszwecke und mit ihnen das zu ihrer Verwirklichung erforderliche (Straf-) Recht hängen also von der je unterschiedlich vorgestellten menschlichen Natur ab44. Grob45: Ein negatives Menschenbild, das den Menschen im Naturzustand in einem ständigen Krieg aller gegen alle sieht, verlangt nach einem starken Staat, der durch ein mit Macht durchgesetztes Recht Sicherheit und Ordnung schafft; der Naturzustand - und ein in diesem Zustand geltendes Naturrecht - muß durch staatliche, mit Macht durchsetzbare Gesetze ilberwunden werden (z.B.: Thomas Hobbes46). Weniger Stärke als vielmehr Weisheit wird hingegen von einer Regierung verlangt, wenn die Menschen zwar im Naturzustand auf positive Ziele angelegt sind, sie aber nach ihrer je individuellen Einsicht diese Ziele nicht erkennen oder ihnen die Kraft zu deren Verfolgung fehlt (Christian Wolff). Werden die Menschen schließlich im Naturzustand als mit gewissen Rechten ausgestattet, frei und gleichberechtigt vorgestellt, so beschränkt sich die Aufgabe des staatlichen Rechts darauf, die in der Gesellschaft konfligierenden Freiheitssphären in eine positivrechtlich gesicherte Ordnung zu bringen und Freiheiten zu schiitzen (z.B.: John Locke41). Fehlt es endlich im Naturzustand an einer Beziehung der Menschen zueinander sowohl im Guten wie im Bösen, weil jeder nur auf seine eigene Erhaltung bedacht ist, begegnet der Mensch seinem Artgenossen also gleichsam emotionslos, dann muß das Recht eine Sozialbeziehung iiberhaupt erst begriinden, den sozialen Menschen also gewissermaßen erst schaffen (Jean-Jacques Rousseau). Die Philosophie der Aufklärung schafft demnach auch nicht die Grundlage zu einem einheitlichen Rechtsbegriff und folglich auch nicht die Grundlage zu einem einheitlichen Verbrechensbegriff. Es ist deshalb verkilrzt, wenn als „das" Objekt der Verletzung auf der Grundlage aufklärerischer Philosophie ausschließlich subjektive Rechte des Opfers angesehen werden48. Die Aufklärungsphilosophie muß nicht notwendig zu einer solchen sogenannten „Rechtsverletzungstheorie" fuhren, wie sie schließlich Feuerbach - freilich ebenfalls auf der Grundlage der AufkläHinter dem vom Naturzustand gezeichneten Bild und den daraus gefolgerten Ableitungen werden sich freilich vielfach handfeste politische Zielsetzungen verborgen haben. So gesehen kleiden sich politische Zielvorstellungen in zeitgemäße rationale Argumentationsformen; man könnte von einer „Verrechtlichung" der politischen Debatte sprechen; vgl. Klippel, Naturrecht als politische Theorie, S. 267 ff. Siehe auch die Skizze bei Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rn. 138 ff.; ferner Forschner, Rousseau, S. 92; Häberle, Das Menschenbild, S. 36 ff.; Kersting, Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), 482 f.; Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 172; M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, S. 8 f; Welzel, Naturrecht, S. 116 f; vgl. auch Jellinek, Adam in der Staatslehre, S. 23 ff. Vgl. insb. Hobbes, Leviathan, 13. Kapitel, S. 112 ff, 17. u. 18. Kapitel, S. 151 ff. Prägnante Zusammenfassung bei Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rn. 118 ff. Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen, Zweite Abhandlung, insb. §§ 4 ff, 123 ff.; siehe aber zu gewissen Grenzen dieser positiven Einschätzung Euchner, Einleitung zu: Locke, Zwei Abhandlungen, S. 31. Diese Tendenz zeigt sich aber bei Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 18 ff.
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rung - vertreten hat. Auch dies hängt mit den unterschiedlichen Menschenbildern der Aufklärungsphilosophen und deren gesellschaftsvertraglich vermitteltem Rechtsverständnis zusammen. Je defizitärer der Naturzustand hinsichtlich des Bestandes normativ-freiheitseinschränkender Regelungen gedacht wird und je dominanter damit die Sicherungsfunktion des Staates wird (wie bei Hobbes), desto größer ist die Neigung, das Verbrechen vorrangig oder ausschließlich als Verletzung des Staates zu begreifen49. Die Rechtsverletzungstheorie basiert dagegen auf einer Konzeption, in der die naturzuständliche Freiheit bereits ein Verständnis dafür verlangt, daß sich der Friedenszustand nicht durch umfassende Übertragung der Freiheit auf den Staat herstellen läßt, sondern die gesellschaftsvertragliche Vereinbarung gibt auch inhaltlich den normativen Rahmen, innerhalb dessen sich die bereits fur den Naturzustand begründete, im Staat zu positivrechtlicher Geltung gelangte Freiheit der Rechtsgenossen bewegt. Jeder hat danach einen gesellschaftsvertraglichen Anspruch auf Einhaltung der vertraglich gezogenen Grenzen; das Verbrechen ist Verletzung der subjektiven Rechte aus dem Gesellschaftsvertrag50. Die Errichtung des Staates durch einen weiteren Vertrag dient in dieser Konzeption der Sicherung der Rechte aus dem Gesellschaftsvertrag u.a. durch Unterwerfung der Burger unter die staatliche Strafgewalt. Da die Sicherung des Friedenszustandes vom Bestehen des Staates abhängt, werden diesem selbst Rechte eingeräumt, deren Verletzung Verbrechen sein kann; insoweit lassen sich auch Staatsverbrechen als Verletzungen subjektiver Rechte (des Staates) begreifen. Aber auch die Verletzung subjektiver Rechte der Burger entbehrt nicht des Bezuges zum Staat: Die durch staatliche Gesetze verbotene und unter Strafe gestellte Verletzung des Gesellschaftsvertrages verletzt zugleich den Staat; zum einen formell als Verstoß gegen das gesetzte Recht, aber auch materiell, derm der Bestand des Staates und die Erfullung von dessen Sicherungsfunktion hängt auch von der Einhaltung des Friedenszustandes unter den Btirgern ab. Dem Staat wird folglich ein eigenes Recht auf Einhaltung der Gesetze zuerkannt, so daß die Verletzung des subjektiven Rechtes eines Burgers den Staat zumindest mittelbar ebenfalls verletzt. Auch in einer solchen Konzeption bleibt es also je nach der Bedeutung, die entweder der Sicherungsfunktion des Staates oder dem individualistischen Ausgangspunkt beigemessen wird, möglich, den Verbrechensbegriff starker mit der Verletzung des Staates oder mit der Verletzung von subjektiven Rechten der Burger zu begrilnden51. Beide Konzeptionen finden sich auf aufklärerischer Grundlage; durchgesetzt hat sich (zumindest vordergrilndig52) die starker individualistische Konzep-
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Siehe Moos, Der Verbrechensbegriff, S. 7 1 ; zu solchen Tendenzen bei Christian Wolff siehe Moos, a.a.O., S. 92. Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 19 f. Vgl. Moos, Der Verbrechensbegriff, S. 71 f., 92 f. Der den Verbrechensbegriff einschränkenden Rechtsverletzungstheorie korrespondiert eine zunächst vielfach ausufernde Ausdehnung der Polizei-Strafgewalt, die dann aber durch Feuerbach Einschränkungen unterworfen wurde, vgl. dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 22 ff, 34.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufldärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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tion, wie sie schließlich in der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs vertreten und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur herrschenden Lehre avanciert ist53. Die hinsichtlich ihres Verletzungsobjekts unterschiedlichen Verbrechensbegriffe implizieren auch fur die Behandlung des Opferwillens unterschiedliche Sichtweisen. Dient der Staat nicht nur dem Schutz vor den Mitmenschen, sondern ermöglicht er erst die sittliche Entfaltung des Einzelnen, so hängt die Relevanz des Willensverhaltens des Opfers von dessen Vereinbarkeit mit dieser Zwecksetzung ab {Christian Wolff, Rousseau). Bei den meisten Vertretern der Aufklärung geht es hingegen bei der Verlagerung der Macht auf den Staat um den Schutz vor den anderen (und dann auch vor dem Staat selbst)54. Der Schutz vor sich selbst bzw. vor in Bezug auf die eigene Person bewilligten Verletzungen durch andere ist danach nichts, was (nach der subjektiven Zwecksetzung der einzelnen) durch den Übergang zum Staat besser gewährleistet werden könnte, als es bereits im Naturzustand gewährleistet war. Fehlt es gesellschaftsvertraglich an einer entsprechenden Vereinbarung, so legt es eine Rechtsverletzungslehre nahe, bewilligte Eingriffe bereits nicht als Verletzungen des Gesellschaftsvertrages - und damit nicht als Verletzungen eines subjektiven Rechts - anzusehen. Demnach scheint ein mit dem Ziel des Schutzes vor den anderen vertraglich fundierter Staat auf den ersten Blick nicht mit der Aufgabe betraut, den Einzelnen vor Selbstverletzungen oder bewilligten Verletzungen zu bewahren55. Tatsächlich wurde diese Konsequenz aus einem individualistisch begrenzten Staatszweck verschiedentlich gezogen (anfangs etwa von Feuerbach). Werden von verschiedenen Vertretern eines solchen Ansatzes dennoch Grenzen der Verfugbarkeit tiber eigene Rechte behauptet, so werden diese entweder aus dem Naturzustand in den staatlichen Zustand transportiert, was freilich normative Vorgaben im Naturzustand voraussetzt, durch die dessen Kennzeichnung allein durch empirische Befunde nicht mehr zutrifft {Locke; der spate Feuerbach). Dieser Weg wurde vor allem unter Berufung auf unverfügbare Rechte des Einzelnen gegangen. Oder aber der (strafrechtliche) Schutz des Menschen vor sich selbst stellt ein Bestreben des Staates dar, das durch die subjektive Zwecksetzung der Burger bei Abschluß des Gesellschaftsvertrages nicht gedeckt ist. Dem Staat wird also die Machtvollkommenheit eingeräumt, sich in der inhaltlichen Gestaltung des Rechts von der individualistischen Begründung zu lösen {Hobbes). Schließlich besteht die Möglichkeit, von der individualistischen Begründung ausgehend dem Staat zur Erreichung der erstrebten Sicherheit fur die Allgemeinheit ein eigenes Recht am Unterbleiben von - auch in concreto bewilligten - Verletzungen einzuräumen {Beccaria). Die von der Aufklärungsphilosophie in Anspruch genommene Vernünftigkeit des Rechts, die damit einhergehende Säkularisierung und gesellschaftsvertragliche Fundierung des Staates, haben also zu unterschiedlichen Verbrechensbegriffen und unterschiedlichen Konsequenzen fur die Behandlung selbstverfügenden Op53 54 55
Dazu etwa Hirschberg, Die Schutzobjekte der Verbrechen, S. 48. Vgl. zusammenfassend Hassemer, ARSP Beiheft 44, S. 137. So auch Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 274.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
ferverhaltens geführt. Diese, bislang nur modellhaft skizzierte Einsicht bedarf der Verdeutlichung und Konkretisierung an einzelnen Autoren. Die Einteilung ist durch die - auch fur das behandelte Thema bedeutsame - Unterscheidung in die ältere Philosophic des aufgeklärten Absolutismus (1.) und die neuere, kritische oder politische Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts (2.) vorgegeben56. Rousseau (3.a) nimmt eine Sonderstellung ein, die bereits auf den Übergang zu einem absoluten Verständnis von Freiheit weist.
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Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus und ihre Implikationen fiir Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung
Die eingangs zitierte Kantische Aufklärungsdefinition zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Vernunftleistung grundsätzlich jedem Menschen zutraut; sie zielt auf eine Gesellschaft mündiger Burger". Das Zutrauen in den tatsächlichen Gebrauch dieser Vernunft fehlte insbesondere der älteren Aufklärungsphilosophie noch58'59. Zwar wurden Recht und Staat rational, insbesondere nicht mehr theokratisch und insofern aufklärerisch begründet, aber die vernilnftige Regierung war Sache der Regierenden. Die Geltung des Gesetzes war auf den Herrscher zurUckzuflihren60. Als ideal gait der aufgeklärte Herrscher - der Philosophenkönig - oder zumindest ein von aufgeklärten Philosophen beratener Herrscher61. Freilich war hier nicht weltabgewandte philosophische Einsicht, sondern vor allem auch politischer Wille am Werk62. Die theokratische Begründung 56
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Siehe Klippel, Politische Freiheit, S. 14 f., 31 ff., 178 ff.; skizzenhaft Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie, S. 36 ff.; ferner Bödeker, „Menschenrechte", S. 395; Link, Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens, S. 232 f. Siehe Schneiders, Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus, S. 45. Siehe - auch zur Entwicklung im 18. Jahrhundert - Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 25. W o m i t freilich nicht der - von Harzer, Der Naturzustand, S. 26 ff. betonte - individualistische Ansatz bei Hobbes bestritten werden soil. Nur ist mit dem Recht aller auf alles, das nach Hobbes im Naturzustand gelte {Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 119), gerade noch nicht die Vernünftigkeit erreicht, die ein friedliches Zusammenleben erlaubt. Das ändert sich auch nicht, wenn man mit Harzer, aaO, S. 4 9 ff. das „Recht auf alles" in fur den einzelnen bestehende „Moglichkeiten auf alles" umdeutet. Wenn die Vernunftleistung schließlich im Friedensschluß zu erblicken ist (Harzer, aaO, S. 55), so ist diese Leistung zur Begriindung des staatlichen Zustandes gerade noch nicht ausreichend. Im Unterwerfungsvertrag endlich geht individuelle Freiheit verloren (zutreffend Harzer, aaO, S 70 f ) . Thomann, Christian Wolff, S. 270; Wiirtenberger, Erinnerungsgabe fur Max Griinhut, S. 204. Schneiders, Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus, S. 38 ff. Vgl. - auch zum folgenden - Klippel, Politische Freiheit, S. 92 ff. Zu Hobbes als „publizistische(m) Vertreter der Stuartschen Restauration" siehe Voltelini, Historische Zeit-
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der Staatsgewalt war - nicht zuletzt durch religiose Vielfalt63 - brilchig geworden; ein säkularer Staat konnte sich zwar nicht mehr auf göttliche Autorität stützen, war aber auch nicht auf sie angewiesen. Die ältere Aufklärungsphilosophie lieferte ein neues Fundament fur absolute Herrschaftsstrukturen. Einem solchen Verständnis liegt es fern, dem Naturrecht eine kritische, gegen den Staat gerichtete Wendung zu geben64. Die im Naturzustand vorhandene natürliche Freiheit muß mit dem Naturzustand Uberwunden werden. Freiheit bedeutet so vor allem Freiheit zur Unterwerfung65. Die Burger sind in solchen Konzeptionen nicht mit unverfugbaren Rechten ausgestattet, die gegen Machtansprüche des Staates ausgespielt werden könnten, sondern der Umfang rechtlicher Regelung ist selbst Gegenstand staatlicher Entscheidung. Wird dem Volk der Gebrauch seiner Vernunft allenfalls sehr begrenzt zugetraut, dann liegt es nahe, je nach zugrundegelegtem Menschenbild, entweder - bei einem negativen Menschenbild - den Staat zu einer Schutzanstalt auszubauen oder - bei einem eher positiven Menschenbild die Bevölkerung paternalistisch zum Guten zu geleiten. Das zuerst genannte Verständnis läßt sich an der Staatstheorie von Hobbes exemplifizieren (a), das zweite Verständnis wird anhand der Lehre Christian Wolffs (b) nachgewiesen.
a) „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen"6* - Thomas Hobbes Hobbes geht in seiner Staatstheorie von einem negativen Menschenbild aus67. Für ihn ist jeder Mensch des anderen Feind im Kampf um die Selbsterhaltung. Im Naturzustand herrsche ein „Krieg aller gegen alle", der das Leben der Menschen freudlos und gefährlich mache68. In diesem Krieg sei nichts ungerecht; Gewalt und
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schrift, Bd. 105 (1910), 75 f., 85; ferner Kriele, Staatsphilosophische Lehren, S. 219 f; Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 40. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 15; Grimm, Verfassung, S. 14; ders., Entstehungs- und Wirkungsbedingungen, S. 32. Eingehend Klippel, Naturrecht als politische Theorie, S. 267 ff.; ders., Politische Freiheit, S. 31 ff.; ferner Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie, S. 36 f.; Bödeker, „Menschenrechte", S. 393 f. Klippel, Politische Freiheit, S. 36 ff. Hobbes, V o m Burger, Widmung. Vgl. dazu Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rn. 119, 140; Nida-Rümelin, Bellum omnium contra omnes, S. I l l ff; Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, S. 329 f. Kritisch dagegen Harzer, Der Naturzustand, S. 19 ff, der insoweit zuzustimmen ist, als es Hobbes nicht „um die gesonderte Feststellung" geht, daß der Mensch des Menschen Wolf sei {Harzer, aaO, S. 20). Gleichwohl bleibt diese Auffassung der Ausgangspunkt für Hobbes Staatslehre, denn erst von hier aus läßt sich die Notwendigkeit erklären, den Menschen „aus diesem fiktiven Bündel grausamer Zustände" herauszureißen {Harzer, aaO, S. 2 1 ; vgl. auch S. 53 f ) . Hobbes, Leviathan, 13. Kapitel, S. 115; zum Naturzustand eingehend Kersting, Die politische Philosophie, S. 64 ff.
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List seien die Haupttugenden69. „Das Naturrecht ist die Freiheit, nach welcher ein jeder zur Erhaltung seiner selbst seine Rräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint, tun kann." Freiheit ist in diesem Verständnis „die Abwesenheit aller äußeren Hindernisse"70. Der Stand einer solchen Freiheit ist danach dem Menschen wegen seiner Gefährlichkeit nutzlos; Freiheit als schrankenlose Willkür, die jedem zusteht, hebt sich selbst auf'. Jedoch streben die menschlichen Leidenschaften, vor allem die Furcht - insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod - und das Verlangen nach einem glücklichen Leben auf Überwindung des Kriegszustandes. „Die Vernunft aber liefert uns einige zum Frieden fuhrende Grundsätze, und das sind die natürlichen Gesetze"72. Das erste dieser Gesetze laute: „suche Frieden und jage ihm nach"73. Doch dieser Frieden könne nur gesichert werden, wenn jeder auf sein Naturrecht, alles zu tun, was in seiner Freiheit steht, verzichte. Das zweite nattlrliche Gesetz laute daher: „sobald seine Ruhe und Selbsterhaltung gesichert ist, muß auch jeder von seinem Rechte auf alles - vorausgesetzt, daß andere dazu auch bereit sind - abgehen und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den iibrigen eingeräumt wissen will."74 Jeder verpflichte sich also durch Vertrag, die den anderen im Friedenszustand eingeräumte Freiheitsausübung nicht zu hindern75. Die Pflicht zur Einhaltung von Verträgen sei demnach das dritte natiirliche Gesetz76. Da mit dem Vertrag das Recht aller auf alles ende, sei Ungerechtigkeit die „Nichterfiillung des geschlossenen vertraglichen Abkommens"77. Aus der rechtlich ungebundenen Freiheit im Naturzustand folgt die Veräußerlichkeit aller Rechte73. „Was jemandem mit seiner Einwilligung geschieht, ist kein Unrecht. Derm gesetzt, es gibt gar keinen Vertrag, nach welchem eine Handlung unterlassen werden muß, kann keine Ungerechtigkeit stattfinden; ist aber ein solcher Vertrag vorhanden, so wird die Verpflichtung zur Unterlassung durch den neuen Vertrag auf-
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Hobbes, Leviathan, 13. Kapitel, S. 117. Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 118; vgl. dazu auch Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 20 f. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 29; Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 274. Hobbes, Leviathan, 13. Kapitel, S. 118. Siehe dazu auch Harzer, Der Naturzustand, S. 40 ff. Freilich sind die „natilrlichen Gesetze" bei Hobbes keine kategorischen, die Freiheit einschränkenden Normen. Die traditionelle Terminologie verschleiert den Bruch, der sich im Denken Hobbes mit der Vorstellung der Geltung ewiger Gesetze vollzieht. Fiir ihn geht es lediglich u m pragmatische Regeln, die das Leben der Individuen sichern sollen; siehe dazu Kersting, Die politische Philosophie, S. 73, 75 ff. Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 119 (im Original kursiv). Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 119 (im Original kursiv). Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 120 f. Hobbes, Leviathan, 15. Kapitel, S. 129. Hobbes, Leviathan, 15. Kapitel, S. 129 (im Original kursiv). Siehe auch Gysin, Die unveräußerlichen Rechte, S. 308 f; Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 274.
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gehoben"79. Das natiirliche Gesetz stehe der Veräußerlichkeit selbst des Lebensrechts nicht entgegen. Grenzen ergeben sich insoweit allerdings aus dem Vertragsgedanken: Ein über das Lebensrecht verfiigender Vertrag ware auf eine unmögliche Leistung gerichtet, denn der so Verpflichtete würde mit der Nichteinhaltung des Vertrages stets das gegenliber der Einhaltung kleinere Übel wählen80. Damit ist freilich auch nur der Fall einer bindenden vertraglichen Verfugung getroffen, die nicht schon vom Todeswunsch getragen ist, sondern deren Einhaltung in concreto dem Selbsterhaltungstrieb der Vertragspartei zuwiderläuft. Die Tötung auf Verlangen, bei der das Tötungsverlangen den Sterbewilligen ohnedies nicht bindet, ist von der vertragsrechtlichen Überlegung also nicht getroffen. Jedoch hindert Hobbes Menschenbild die Annahme, mit der Einsicht in die natürlichen Gesetze sei der Friedenszustand bereits erreicht. Die Forderungen der natilrlichen Gesetze sind vielmehr, „wenn die Furcht vor einer Zwangsmacht wegfällt, den nattlrlichen Leidenschaften, Zorn, Stolz und den Begierden aller Art, gänzlich zuwider. Gesetze und Verträge können an und fur sich den Zustand des Krieges aller gegen alle nicht aufheben; denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine Furcht erregen; daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne Hilfe der Waffen nicht"81. Die ursprüngliche Freiheit wird also durch die nattlrlichen Gesetze nicht etwa normativ beschränkt, sondern die Einhaltung dieser Gesetze entspricht lediglich einem hypothetischen, der menschlichen Selbsterhaltung dienenden Imperativ82. In Befolgung eben dieses Imperativs könne es dem einzelnen auch geboten sein, sich unter Zuhilfenahme aller erdenklichen Mittel mit Gewalt gegen die anderen durchzusetzen, wenn Frieden nicht erreichbar ist83. Sicherheit entstehe also erst durch Begriindung einer Macht, die ihre Gewährleistung garantieren kann. Diese Macht werde durch den Vertrag**1 eines jeden Menschen mit jedem anderen in der Weise begründet, daß jeder sein natürliches Recht, sich selbst zu beherrschen, einem einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen unter der Bedingung überträgt, daß auch jeder andere in gleicher 79 80 81 82 83 84
Hobbes, Leviathan, 15. Kapitel, S. 134. Hobbes, V o m Burger, 2. Kapitel, Abschn. 18; siehe dazu auch Gysin, Die unveräußerlichen Rechte, S. 309. Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel, S. 151; ders., Vom Burger, 5. Kapitel, Abschn. 1; 6. Kapitel, Abschn. 4; vgl. auch Kersting, Die politische Philosophic, S. 73. Siehe Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 31 f; Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, S. 65 ff. Hobbes, Leviathan, 14. Kapitel, S. 119. Der Vertrag, mit dem die Burger wechselseitig auf ihr Recht verzichten und die oberste Zwangsgewalt zum Entstehen kommt, ist also ein einziger (siehe Jellineck, Allgemeine Staatslehre, S. 208, dort in Anm. 3 auch zu abweichenden Auffassungen; eingehend Kersing, Die politische Philosophie, S. 81 ff.)
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Weise verfahrt85. „Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben"86. Der Staat werde also durch den Unterwerfungsvertrag87 gegrilndet. Wechselseitige vertragliche Bindungen bestünden nur unter den Bilrgern; der Inhaber der Macht sei seinen Untertanen vertraglich nicht verpflichtet, ihm unterwerfen sich die Untertanen durch Schenkung ihres Rechts88. Damit könne der Oberherr seinen Untertanen kein Unrecht antun; seine Herrschaft sei absolut. „Denn wer seinen Willen so dem Willen des Staates unterworfen hat, daß dieser alles ungestraft tun, Gesetze geben, Rechtsstreitigkeiten entscheiden, Strafen auferlegen und die Kräfte und das Vermögen aller nach seinem Ermessen gebrauchen kann, und zwar dies alles mit Recht, der hat diesem sicherlich die höchstmögliche Herrschaft eingeräumt"89. Der Gesetzgeber iibt also die naturzuständliche Freiheit auf alles aus, fur ihn gilt das Naturrecht fort90: auctoritas non veritas facit legem91. Der Hobbessche Rechtspositivismus92 erhält seine Legitimation aus der Annahme, die naturzuständliche Freiheit lasse sich nur ilberwinden d. h.: Sicherheit lasse sich nur herstellen — durch die machtvoll durchgesetzte Verbindlichkeit von Recht. Die Machtvollkommenheit des Herrschers wird also letztlich durch die Hobbessche Konzeption des Naturzustandes ermöglicht93. Zu dieser Konzeption gehört es auch, daß der Einzelne über sein natürliches, nur durch naturhafte Widerstände gebremstes Recht frei verfügen kann. Aus dieser umfassenden Freiheit erwächst also die Möglichkeit umfassender Übertragung dieser Freiheit und damit umfassender Freiheit des Herrschers. Hobbes sieht selbst den Einwand, man könnte „auf den Gedanken kommen, die Burger seien in einem bedauernswerten Zustande, weil sie von der Willkiir und den Leidenschaften der Oberherren abhängen"94, aber gemessen an den Verhältnissen im Narurzustand seien selbst die größten Unannehmlichkeiten im Staate kaum merklich95. Zur Überwindung des Naturzustandes aber sei 85 86 87
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Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel, S. 155; ders., V o m Burger, 6. Kapitel, Abschn. 20. Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel, S. 155. Damit ist freilich kein Vertrag zwischen Herrscher und sich Unterwerfenden gemeint (siehe dazu den Text). Mit dieser Klarstellung wird die von Kersting, Die politische Philosophie, S. 82 f. verworfene Bezeichnung hier verwendet. Hobbes, Leviathan, 18. Kapitel, S. 158; ders., V o m Burger, 6. Kapitel, Abschn. 20. Dazu etwa Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 35 f. Hobbes, Vom Burger, 6. Kapitel, Abschn. 13; siehe zu Spannungen dieses absoluten Herrschaftsanspruchs zu den von Hobbes gezogenen Grenzen möglicher Vertragsinhalte (Leviathan, 14. Kapitel, S. 121, 2 1 . Kapitel, S. 194) Welzel, Naturrecht, S. 122 f. Kersting, Die politische Philosophie, S. 85. Hobbes, Leviathan, 26. Kapitel, S. 228 ff.; ders., Vom Burger, 6. Kapitel, Abschn. 13 mit Anm. Vgl. Kersting, Die politische Philosophie, S. 73. Siehe Hasso Hofmann, Rechtstheorie 13 (1982), 235. Ein später gängiger Einwand, vgl. Ebbinghaus, Die Idee des Rechts, S. 163; Kersting, Die politische Philosophie, S. 101. Hobbes, Leviathan, 18. Kapitel, S. 166.
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es unvermeidlich, dem Oberherrn die absolute Herrschaft einzuräumen96. Eine Lockerung der Unterwerfting wiirde den Staat selbst in Frage stellen; sie ist fur Hobbes damit logisch unmöglich97. Die Annahme, die Überwindung des Naturzustandes mit dem Ziel der Schaffung von Sicherheit - insbesondere fur das Leben des Einzelnen - sei das höchste Ziel der Menschen und die Betonung, dies sei nur durch ein mit Macht durchgesetztes positives Recht zu erreichen, sind die Voraussetzungen dieses Rechtsverständnisses, das die inhaltliche Ausgestaltung einer Rechtsordnung gegenüber deren Ordnungsfunktion in den Hintergrund treten läßt98. Das Strafrecht ergibt sich fur Hobbes geradezu aus dem Begriff des Gesetzes selbst: Alle menschlichen Gesetze sind biirgerliche Gesetze", d.h. „eine durch den Staatswillen festgelegte Rede, welche das einzelne, was geschehen soil, gebietet"100. Jedes bürgerliche Gesetz enthalte zwei Teile: ein verteilendes und ein rächendes Gesetz. Das erstgenannte teile jedem sein Recht zu; das zweitgenannte bestimme, welche Strafen den treffen, der das verteilende Gesetz übertritt101. Die Notwendigkeit einer Strafandrohung hängt wiederum mit Hobbes Sozialanthropologie zusammen: Da ein verteilendes Gesetz gerade auf den Ausschluß der Rechte anderer ziele, beinhalte es stets ein an diese gerichtetes Verbot, in das Recht einzugreifen. Ein solches Verbot ist aber fur Hobbes ohne die Androhung von Strafe vergeblich. Ein „Gesetz, das ungestraft verletzt werden kann, ist ohne Bedeutung"102. Eine Beschränkung des dem Gesetzgeber erlaubten Strafeinsatzes kommt danach ebenso wenig in Betracht wie eine Beschränkung gesetzgeberischer Macht bei der Regelung der Rechtsverhältnisse. Was das staatliche Gesetz erlaubt, kann kein Unrecht sein. Dies folgert Hobbes daraus, daß der Unterwerfungsvertrag bereits eine Gehorsamspflicht bezogen auf die künftig vom Staat erlassenen Gesetze einschließe. Da die Einhaltung von Verträgen ein natiirliches Gesetz darstelle, ergebe sich die Gehorsamspflicht gegeniiber jedem staatlichen Gesetz aus dem natiirlichen Gesetz. Daraus folge, „daß kein Staatsgesetz (...) gegen das nattlrliche Gesetz verstoßen kann. Denn wenn dieses auch den Diebstahl, den Ehebruch usw. 96 97 98
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Hobbes, Leviathan, 18. Kapitel, S. 158 f.; ders., Vom Burger, 6. Kapitel, Abschn. 13 mit Anm. Siehe Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 343. Welzel, Naturrecht, S. 118 ff. Zur Antinomie von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit etwa Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 169 (ergänzend S. 180 ff.): „Daß dem Streite der Rechtsansichten ein Ende gesetzt werde, ist wichtiger, als daß ihm ein gerechtes und zweckmäßiges Ende gesetzt werde, das Dasein einer Rechtsordnung wichtiger als ihre Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, diese die zweite große Aufgabe des Rechts, die erste, von Allen gleichermaßen gebilligte aber die Rechtssicherheit, d.h. die Ordnung, der Friede". Hobbes, Vom Burger, 14. Kapitel, Abschn. 5. Hobbes, Vom Burger, 14. Kapitel, Abschn. 2; siehe auch 6. Kapitel, Abschn. 9; ders., Leviathan, 2 1 . Kapitel, S. 189. Hobbes, V o m Burger, 14. Kapitel, Abschn. 6. Hobbes, V o m Burger, 14. Kapitel, Abschn. 7 f.
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verbietet, das Staatsgesetz aber gebietet, liber etwas herzufallen, so ist dies dam kein Diebstahl oder Ehebruch usw."103. Durch den Unterwerfungsvertrag erreicht Hobbes also auf der einen Seite ein Höchstmaß an Funktionsfähigkeit des staatlichen Rechts und damit an Sicherheit vor dem Riickfall in den Naturzustand. Der - nach Hobbes Auffassung: nicht zu hohe - Preis fur diese Sicherheit ist der Verzicht auf inhaltliche Anspriiche an das positivierte Recht. Ein individueller Anspruch der Vertragsschließenden auf bestimmte inhaltliche Garantien wird durch den Unterwerfungsvertrag, mit dem die Burger dem Inhaber der Staatsgewalt ihr Recht schenkungsweise iibertragen, gerade ausgeschlossen104. Damit ist auch ausgeschlossen, das Verbrechen durch die Verletzung subjektiver Rechte der Mitbürger zu kennzeichnen - Hobbes begrilndet keine Rechtsverletzungslehre -, sondern entscheidend ist der Vertragsbruch zuungunsten des Herrschers105. Das Verbrechen wird durch den Widerspruch zur staatlichen Rechtsordnung - positivistisch - definiert; aber diesem Verständnis wird wegen der herausragenden Funktion dieser Rechtsordnung - Verhinderung des Rückfalls in den Naturzustand - unabhängig von konkreter Inhaltlichkeit ein materialer Gehalt beigelegt106. Das Verbrechen greift das Recht als Ordnungsfunktion überhaupt an: „In der Übertretung eines Gesetzes liegt nicht nur eine Versiindigung, sondern auch eine gewisse Verachtung des Gesetzgebers, welche als eine Verletzung seiner sämtlichen Gesetze anzusehen ist"107. Deshalb stehe es auch nicht in der Macht des Einzelnen, durch sein Willensverhalten staatlich gesetztes Recht zu dispensieren. „So können auch Privatpersonen in einem Staate dieses oder jenes erlassen; bei einem Straßenraube kann dies jedoch nicht geschehen, denn dergleichen ist eine öffentliche Schuld, weil dem ganzen Staat dabei Unrecht zugefiigt wird"108. Das positive Recht ist - auch im Rahmen der natürlichen Gesetze, die der Verfugbarkeit von Rechten nicht entgegenstehen109 - in der Regelung der Beachtlichkeit zustimmenden Opferverhaltens frei. Der fur die Rechtsetzungsmacht des Gesetzgebers maßgebliche Unterwerfungsvertrag spricht aber auch nicht gegen die Positivierung von Gesetzen, die Verletzungen von Bürgern unabhängig von deren Willensverhalten unter Strafe stellen. Obwohl die Gefahren im Naturzustand von den anderen drohen und der Unterwerfungsvertrag deshalb geschlossen wird, um 103
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Hobbes, Vom Burger, 14. Kapitel, Abschn. 10. Danach kann es nicht tiberzeugen, wenn Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 121 „entgegen allem bis heute vorherrschenden Anschein" im Modell Hobbes eine „prinzipielle Vorordnung der Freiheit vor der Sicherheit" erblickt. Vgl. Hillgruber, Der Schutz, S. 7; Hobbes, Vom Burger, 6. Kapitel, Abschn. 20. Moos, Verbrechensbegriff, S. 71. Zur Bedeutung Hobbes für eine Theorie des Positivismus Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, S. 329 f. Hobbes, Leviathan, 27. Kapitel, S. 2 4 3 ; vgl. auch S. 258: alien Verbrechen liege eine Ungerechtigkeit zugrunde, „worunter nicht bloß einzelne Burger, sondern auch der ganze Staat leidet". Hobbes, Leviathan, 15. Kapitel, S. 134. Siehe dazu oben.
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sich gegen die feindlichen Bestrebungen der Mitmenschen zu schützen, sind doch auch solche Gesetze gerecht, die offenbar von diesem Sinn des Unterwerfungsvertrags nicht gedeckt sind. 1st der im Unterwerfungsvertrag vorgestellte Zweck auch fur den positivrechtlichen Anspruch des Gesetzgebers ohne Bedeutung, so kann sich doch „auch Hobbes den notwendigen Schlußfolgerungen aus der Zweckbindung der staatlichen Gewalt nicht völlig entziehen"110. Den Inhaber der höchsten Gewalt treffen nämlich Pflichten gegenüber den Biirgern, deren Verletzung freilich ohne rechtliche Konsequenzen bleibt. „Alle Pflichten der Herrschenden lassen sich in den einen Satz zusammenfassen, daß das Wohl des Volkes das höchste Gesetz ist"111. Auch wenn ein Gesetz, mit dem diese Pflicht mißachtet wird, nicht ungerecht ist, so ist es doch ein schlechtes Gesetz112. Ein gutes Gesetz hingegen ist nur eines, das zum Wohle des Volkes nötig ist. „Kein Gesetz hat das Ziel, des Volkes unschädliche Freiheit einzuschränken, sondern es soil es vor Gefahr und Schaden bewahren, wozu es durch heftige Leidenschaften, Unbesonnenheit und Torheit kommen könnte (...). Ein überflüssiges, zweckwidriges Gesetz ist nicht gut"113. Überflüssige Freiheitseinschränkungen114 - wie sie auch das Verbot der Verletzung eines Zustimmenden sein könnten und in einem auf den Zweck der Sicherheit begrenzten Staat auch sein müßten - sind also zwar nicht ungerecht, aber schlecht115. Zur Aktualität von Hobbes fur das Problem der Selbstverfugungsfreiheit: In neuerer Zeit findet sich - abweichend von dem vorstehend entwickelten Gedankengang - auch der Versuch, bestimmte Grenzen der Selbstverfugungsfreiheit aus einem in Anlehnung an Hobbes bestimmten Begriff des Rechts zu begründen. Ein solcher Versuch ist das Plädoyer von Hans Joachim Hirsch fur eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen116. Nach Hirsch ist die Rechtsordnung „ihrem Wesen nach eine Schutz- und Friedensordnung fur die Mitglieder der Gesellschaft". Sie solle „dazu dienen, ein bellum omnium contra omnes zu verhindern" und so „dem einzelnen ein Existieren in der Gesellschaft zu ermöglichen". Daraus folge, daß die Anerkennung eines Rechts auf Vernichtung der eigenen Existenz in einen Wider110
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Hillgruber, Der Schutz, S. 8 f.; vgl. ferner Hespe, ARSP 2000, 300 f. Dazu, daß die nachfolgend eingeflihrten Wertstrukturen in Hobbes Naturrechtslehre einen Fremdkörper darstellen Welzel, Naturrecht, S. 121 f. Hobbes, Vom Burger, 13. Kapitel, Abschn. 2. Hobbes, Leviathan, 30. Kapitel, S. 288 f., 18. Kapitel, S. 160; ders., Vom Burger, 6. Kapitel, Abschn. 13, Anm. Dagegen verkehrt es die Verhältnisse, wenn Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 124 f., die Anforderungen des Gesetzes als eines „guten" Gesetzes gleichsam als Steigerung der Forderung nach einem gerechten Gesetz interpretiert. Hobbes, Leviathan, 30. Kapitel, S. 288 f.; ders., Vom Burger, 13. Kapitel, Abschn. 15. „Freiheit" ist fur Hobbes, Vom Burger, 13. Kapitel, Abschn. 15, „der Teil des natiirlichen Rechts, den die Gesetze den Biirgern gestattet und iibriggelassen haben". Siehe auch Hillgruber, Der Schutz, S. 9. Siehe zum Folgenden Hirsch, in: FS fiür Lackner, S. 611.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen spruch in sich, eben in eine Negation der Aufgabe der Rechtsordnung, flihre. - Aber diese Argumentation ist nicht schliissig und kann nicht an die Stringenz der Hobbesschen Leistung anschließen. Denn Hirsch will mit seinen Überlegungen nicht etwa behaupten, die Selbstvemichtung hebe den Friedenszustand auf, sondern nur, daß ein Recht zur Selbstverfugung in Form des Tötungsverlangens die Aufgabe der Rechtsordnung nicht befördert. Damit geht Hirsch zu Unrecht davon aus, daß verboten sein muß, was nicht in einem positiven Zusammenhang zum Zweck des Rechts steht. Diese Überlegung kann sich nicht auf Hobbes berufen, demzufolge zu verbieten ist, was zum Zweck des Rechts - der Herstellung von Sicherheit - in einem Widerspruch steht. Wenn das Recht dem einzelnen ein Existieren in der Gesellschaft nach Hirsch „ermöglichen" soil, dann wird daran schon deutlich, daß die Selbstvemichtung (als solche) gerade nicht mit dem so bestimmten Wesen der Rechtsordnung in Widerspruch steht - denn möglich bleibt dem Einzelnen das Existieren in der Gesellschaft allemal auch dort, wo er auf diese Option verzichtet.
Zusammenfassend: Bei Hobbes nimmt die Begriindung von Recht und Staat zwar ihren Ausgang von den individuellen Willen der Einzelnen. Doch die sozialanthropologischen Vorgaben ftihren in ein Recht, dessen Machtgebundenheit einer Begrenzung auf den Schutz vor den anderen unter Sicherung individueller Entscheidungsfreiheit entgegenläuft1".
b) Christian Wolff Das von Hobbes prinzipiell abweichende Verständnis von Staat und Recht bei Christian Wolff hat seinen Grand in einem anderen Bild von der Natur des Menschen. Wahrend bei Hobbes an bestimmte anthropologische Annahmen naturhafte Bedürfnisse anschließen und das normative Prinzip gleichsam unter dem Druck dieser Wirklichkeit einer expliziten Thematisierung nicht mehr bedürftig, es sich vielmehr im empirischen Befund aufzulösen scheint, sieht Wolff das Prinzip des Rechts selbst in der Natur des Menschen angelegt. Das Sollen wird nicht einer schlechten Wirklichkeit konfrontiert, sondern die Gesetze des Seins sind auch die des Sollens118. Inhaltlicher Ausgangspunkt dieser, aus der Natur des Menschen abgeleiteten119 Naturrechtslehre ist das Vollkommenheitsprinzip als Grundnorm der gesamten Wolffschen Ethik120: „Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet"121. Diese Forderung wird 117 118 119 120
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Vgl. Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 274. Bissinger, Zur metaphysischen Begründung, S. 151; Hasso Hofmann, JZ 2004, 641; vgl. auch Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, S. 161 f. Vgl. Christian Wolff, Natur- und Völckerrecht, §§ 39, 43. Dazu Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 78 ff.; Reinhard Frank, D i e Wollf sche Strafrechtsphilosophie, S. 6 f.; Schröer, Naturbegriff, S. 25, 80 ff. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 12; ders., Natur- und Völckerrecht, § 43.
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nicht etwa durch die menschliche Veraunft begrtindet, sondern sie ist als Forderung des Gesetzes der Natur der Vernunfterkenntnis vorgegeben - sie ist sowohl natürlich als auch göttlich122. Grundpflicht des Menschen ist demnach die Selbstvervollkommnung123; aus dieser Pflicht werden alle besonderen natilrlichen Pflichten und die den jeweiligen Pflichten korrespondierenden Rechte abgeleitet124. Da diese Pflichten und Rechte ursprilnglich aus der Natur des Menschen abgeleitet werden, läßt sich womöglich von unveräußerlichen Menschenrechten sprechen125. Aber diese werden nicht primär126 als Abwehrrechte dem Staat konfrontiert, sondern die Korrespondenz von Rechten und Pflichten führt zu einer Vereinnahmung der Individualrechte durch den Staatszweck127. Denn schon der Zusammenschluß der Menschen im Staat steht im Zeichen der Verwirklichung des Vollkommenheitsprinzips128 und die gewährten Rechte stehen im Dienste der Erfullung der Pflicht zur Selbstvervollkommnung129. Daraus folgt, daß nicht nur die Vermeidung von Auseinandersetzung etwa im Sinne einer Beendigung des Hobbesschen Krieges jedes gegen jeden der Zweck des Staates ist, sondern er geht hervor aus einem „ethische(n) Aufeinanderangewiesensein"130: Da der Einzelne allein seine Vervoll122 123 124
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Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 18. Christian Wolff, Natur- und Völckerrecht, §§ 36, 43; ders., Deutsche Ethik, §§ 19, 40. Vgl. Christian Wolff Natur- und Völckerrecht, §§ 43, 46. Dazu Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 96 ff.; Hillgruber, Der Schutz, S. 27. Der Hinweis auf die Forderung, sich auch um die Vollkommenheit anderer zu bemühen, soil nicht im Sinne einer zweiten Grundnorm verstanden werden, sondern es ist die Selbstvervollkommnung, die auch nach der Erfullung von Pflichten gegen den anderen verlangt; siehe Christian Wolff, Natur- und Völckerrecht, § 44; vgl. ferner Schröer, Naturbegriff, S. 159 f. Siehe Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, S. 162 f.; Cassirer, Freiheit und Form, S. 314 ff.; Garber, Vom „ius connatum" zum „Menschenrecht", S. 109 ff.; Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 51 f. Dezidiert ablehnend- insbesondere gegen Garber - Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 278 ff. Zusammenfassend mit Nachweisen Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 171. Freilich bleibt eine kritische Funktion des natürlichen Gesetzes im Verhältnis zum staatlichen (siehe allgemein Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, S. 164; Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 176 und beispielhaft Wolff, Deutsche Politik § 370). Aber das ändert nichts daran, daß die Forderung der Vervollkommnung dem einzelnen keinen prinzipiell staatsfreien Bereich zu eigener Gestaltung läßt: „Für den Gedanken, daß es neben der von der Gemeinschaft erzwingbaren Verhaltensordnung auch einen Raum freier sittlicher Lebensgestaltung gebem miisse (...), ist bei ihm kein Platz" (Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 184). Siehe Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 278 ff. ; Link, Grundlagen des Grundrechtsdenkens, S. 228 ff.; vgl. aber auch Garber, Vom „ius connatum" zum „Menschenrecht", S. 109 ff. Christian Wolff, Deutsche Politik, § 2 ff. Siehe Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 118 ff. Hasso Hofmann, Rechtstheorie 13 (1982), 250; ders., JZ 1992, 169; ders., JZ 2004, 640. Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 173.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
kommnung nicht hinreichend verwirklichen kann, dient der gesellschaftsvertraglich begrtlndete Staat dazu, Wohlfahrt und Sicherheit der Burger zu garantieren131. Damit ist der aus dem Gesellschaftsvertrag verpflichtete Herrscher - anders als bei Hobbes - zwar durch den Zweck des Staates in seinen Kompetenzen begrenzt132. Doch umfaßt der Staatszweck der Wohlfahrt all das, was der Mensch zur Notdurft, zur Bequemlichkeit und zur Glückseligkeit benötigt133. Der Staat ist bei Wolff folglich „eine moralische Anstalt zur Erfullung der alien Menschen obliegenden Pflicht zur Vervollkommnung"134. Er hat „auf alles zu sehen, wozu der Mensch durch das Gesetz der Natur verbunden wird, und also so wohl auf die Pflichten gegen sich selbst, als gegen Gott und andere Menschen, die wir in der Sitten-Lehre ausgeführet"135. Entsprechend weitreichend sind die staatlichen - auch die strafrechtlichen136 - Regelungsbefugnisse. Da das Gesetz der Natur „in einem jeden vorkommenden Falle (befiehlet), was der Mensch unter denen sich ereignenden Umständen thun oder lassen soil"137 und die dargestellte Ableitung des Staates aus dem Vollkommenheitsprinzip es ausschließt, den Staatszweck im Verhältnis zu den Forderungen des Gesetzes der Natur zu beschränken, so umfassen die staatlichen Gesetze all das, wozu die Burger bereits nach dem natürlichen Gesetz verpflichtet sind. Der Zweck der staatlichen Gesetze liegt dann vornehmlich darin, eine „neue Verbindlichkeit" - insbesondere durch Strafe und Zwang - dort zu begriinden, wo die „natürliche Verbindlichkeit" zur Befolgung des natiirlichen Gesetzes nicht ausreicht138. Freilich ist die Verletzung der staatlichen Gesetze nicht notwendig Kriminalunrecht, zu dessen Bekämpfung die Mittel des Strafrechts einzusetzen sind. Aber in dem durch die Omnipotenz des Staates gekennzeichneten Polizeistaat des aufgeklärten Absolutismus „lost die Wohlfahrtsidee den Rechtsgedanken auf'139. Da die Zwecke des Strafrechts und des Verwaltungsstrafrechts im Dienste staatlicher Wohlfahrt grundsätzlich gleichgerichtet sind, läßt sich in dieser Staatskonzeption eine scharfe Unterscheidung von bloßem Verwaltungsunrecht und kriminellem Unrecht nicht durchführen140. Inhaltlich hängen die rechtlichen Regelungsbefugnisse des Staates nach alledem davon ab, was der Einzelne zur Erzielung seiner Vollkommenheit nach dem Gesetz der Natur zu unternehmen verpflichtet ist. Dies läßt sich anhand der - im 131 132 133 134 135 136
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Siehe Christian Wolff, Natur- und Völkerrecht, § 972; näher dazu Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 123 ff. Dazu Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 176, 180. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 123 f. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 126; vgl. auch Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 174. Christian Wolff, Deutsche Politik, § 224. Christian Wolff, Deutsche Politik, § 340. Vgl. auch Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre, S. 227 f; Hillgruber, Der Schutz, S. 29 ff; Moos, Verbrechensbegriff, S. 91 f. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 27. Christian Wolff, Deutsche Ethik, §§ 341, 4 0 1 . Erik Wolf, in: FS fur Honig II, S. 527. Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, S. 77 ff.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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vorliegenden Zusammenhang praktisch besonders bedeutsamen - Pflichten des Menschen gegen seinen eigenen Leib illustrieren. Unter „Vollkommenheit" versteht Wolff die „Zusammenstimmung des mannigfaltigen"141. Dem Leib als einem „zusammengesetzten Ding"142 kommt dann seine spezifische Vollkommenheit zu, wenn die verschiedenen Körperllinktionen in ihrem Zusammenspiel sich wechselseitig ihrer Natur gemäß befördern143. Zur Vollkommenheit des Leibes gehört danach insbesondere die Gesundheit144. Weil nun „der Mensch alles dasjenige thun soil, was seinen Leib vollkommener machet, und alles hingegen unterlassen, was ihn unvollkommener machet; die Gesundheit aber und Geschicklichkeit Vollkommenheit des Leibes, hingegen Kranckheit und Ungeschicklichkeit Unvollkommenheit desselben sind (...): so ist der Mensch verbunden, alles zu thun, wodurch seine Gesundheit erhalten und sein Leib geschickt wird; hingegen zu unterlassen, was die Gesundheit stöhret, das ist, den Leib kranck, oder auch was ihn ungeschickt macht"145. Die Bewilligung von Eingriffen in die körperliche Integrität ist damit soweit sie nicht etwa als Heileingriff der Wiederherstellung der Gesundheit dient - dem Gesetz der Natur und damit auch dem diesem eine zusätzliche Verbindlichkeit schaffenden staatlichen Gesetz zuwider. Die Erhaltung der leiblichen Vollkommenheit hängt schließlich weiter davon ab, daß sich die Person am Leben erhält. Folglich muß jeder „sein Leben so lange zu erhalten suchen als möglich ist, folgends alles meiden, was es verktlrzen kan"146. Diese Lebenserhaltungpflicht (und zusätzlich eine Pflicht, sich zur Fortpflanzung instand zu halten) begrilndet Wolff an anderer Stelle zusätzlich aus der Teleologie, auf die das Zusammenstimmen der körperlichen Funktionen hin ausgerichtet ist. Dienen nämlich bestimmte Bestandteile des Körpers der Erhaltung des Lebens und der Fortpflanzung, so besteht die Vollkommenheit des Leibes „in der Geschicklichkeit, sich zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen"147. So gehört es zu den Aufgaben des Staates, Eingriffe in die Fortpflanzungsfähigkeit zu verbieten. Nach dem Gesetz der Natur verboten - und damit nach dem Gesetz des Staates zu verbieten - ist danach weiter der Suizid148, den Wolff zudem in einer 141 142 143 144
145 146 147 148
Christian Wolff, Deutsche Metaphysik, § 152. Eingehend dazu Schröer, Naturbegriff, S. 80 ff. Dazu Schröer, Naturbegriff, S. 63 ff. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 444 f.; Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 111. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 445. Da die Forderung der Vollkommenheit das Streben nach höheren Graden der Vollkommenheit iiber den naturhaften Zustand hinaus einschließt, ist der Mensch auch dazu verpflichtet, „seine Gliedmaßen zu vielen Bewegungen und Stellungen geschickt" zu machen. Neben der Gesundheit ist also auch die Mehrung der Geschicklichkeit Pflicht des Menschen (Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 446). Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 447. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 437. Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 112. Christian Wolff Deutsche Ethik, §§ 441 ff; ders., Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 112; ders., Deutsche Politik, § 370. Die aufgezeigten, in der Konzeption Wolffs durchaus stringenten Begründungen eines Selbsttötungsverbots, werden bei Ja-
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Weise bestraft sehen will, die mitunter ilber die Praxis hinausgeht149. Es liegt auf der Hand, daß der Bewilligung entsprechender Eingriffe keine rechtliche Wirkung zukommen kann. Die Lehre Wolffs ist aufgeklärt, weil sie dem Menschen zutraut, allein durch seine Vernunft das nattlrliche Recht zu erkennen: „Da nun die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge die Vernunfft ist; so wird das Gute und Böse durch die Vernunfft erkannt. Und demnach lehret die Vernunfft, was wir thun und lassen sollen, das ist, die Vernunfft ist die Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur1'150. Der christliche Glaube hat bei Wolff seine konstituierende Funktion verloren; das nattirliche Gesetz und Gottes Wille sind identisch: „Weil nun Gott die Menschen eben dazu verbindet, wozu sie die Natur verbindet (...), so ist der Wille Gottes von der Einrichtung der freyen Handlungen mit dem Gesetze der Natur einerley, und wer sein Leben nach dem Gesetze der Natur einrichtet, der richtet es auch nach Gottes Willen ein, und lebet nach seinem Willen; und hinwiederum, wer sein Leben nach Gottes Willen einrichtet, der richtet es nach dem Gesetze der Natur ein."151 Eine solche Sichtweise begründet aber ein absolutistisches Staatswesen152, weil sie es dem Staat zur Aufgabe macht, die Gliickseligkeit153 seiner Untertanen zu befördern. In den Worten Radbruchs: „Aufgeklärter Despotismus ist diejenige
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150 151
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kobs, Tötung aufVerlangen, S. 6 f. nicht ausgeschöpft. Sowohl dessen Kritik als auch sein Interpretationsversuch können deshalb nicht ilberzeugen. Christian Wolff, Deutsche Politik, § 370. Das natürliche Gesetz erweist sich hier in seiner kritischen Funktion (vgl. dazu im Allgemeinen auch Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, S. 164 f.); es wird also von Wolff, der sich als „Weltweiser" versteht, als Maßstab an das geltende Recht angelegt. So fordert er entgegen damaligem Brauch, den Suizidenten in bestimmten Fallen („wofern der Selbst-Mord sehr gemein wird") wie einen Mörder auf das Rad zu flechten. Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 23 (Hervorhebung nur hier); vgl. auch Schröer, Naturbegriff, S. 156 f. Christian Wolff Deutsche Ethik, § 34; ders., Natur- und Völckerrecht, § 41; siehe auch Schröer, Naturbegriff, S. 143 f. Die Staatszwecklehre des aufgeklärten Absolutismus fußte dementsprechend auf der Lehre Christian Wolffs; vgl. Hillgruber, Der Schutz, S. 27; Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 276 ff; Moos, Verbrechensbegriff, S. 85; Volenti, Historische Zeitschrift, Bd. 105 (1910), 77. Freilich ist das Verhältnis Wolffs zum Absolutismus umstritten; vgl. dazu m.w.N. Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, S. 171; siehe auch Thomann, Christian Wolff, S. 259, 272, der Wolff als liberalen Staatsdenker einordnet; dazu wiederum Klippel, a.a.O., S. 278 mit Fn. 41. Die Glückseligkeit ist ein „Zustand einer beständigen Freude", der mit dem Besitz des höchsten Gutes verbunden ist {Christian Wolff Deutsche Ethik, § 52). „Da nun das hochste Gut durch die Erfullung des natiirlichen Gesetzes erhalten wird (§ 45); so ist auch die Beobachtung dieses Gesetzes das Mittel, wodurch man seine Gliickseligkeit erhält" (Christian Wolff, Deutsche Ethik, § 53). Die Gliickseligkeit reflektiert in diesem Sinne das Bemühen um Vollkommenheit in der subjektiven Befindlichkeit des Einzelnen.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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Form des Individualismus, die sich Sittlichkeit und Vernunft der Einzelnen zum Ziele unmittelbaren Zwanges setzt"154. Ein (in heutiger Terminologie sogenannter: „harter"155) Paternalismus, der dem Einzelnen zu seinem eigenen Schutz die Befugnis zu selbstbestimmter Entscheidung unter Berufung auf eine bessere Einsicht in sein persönliches Bestes abspricht, bewegt sich bis in die Gegenwart in diesen Barmen. Freilich wird ein staatlicher Anspruch auf Bevormundung des Einzelnen unter Berufung auf bessere Einsicht allenfalls noch für exzeptionelle Fälle geltend gemacht. Darauf wird zurückzukommen sein.
2.
Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung in der kritischen Aufklärungsphifosophie
Der bis in das Privatleben hinein reglementierende Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus wurde ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend als Last empfunden; der Gedanke individueller Freiheit gewann an Kraft156. Denn mit der Einsicht, daß Glück sich nicht staatlich verordnen läßt, mußte die Suche nach dem Gliick der Freiheit des Einzelnen iiberantwortet werden"7. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Möglichkeit des Mißbrauchs von staatlicher Macht zunehmend thematisiert158. Die Wende vom Absolutismus Wolffscher Prägung zur kritischen Aufklärungsphilosophie bedeutet vor allem, daß die Verwirklichung individueller Perfektibilitätspflichten gegen sich selbst nicht mehr Bestandteil der Staatszwecklehre sein kann. So muß ein staatlich verordneter und geförderter „Staatszweck der Glilckseligkeit" der Kritik verfallen159. Der Gesellschaftsvertrag soil Sicherheit garantieren, ohne die Freiheit iiber das erforderliche Maß einzuschränken. Dem Staat werden unverfugbare Freiheits- und Menschenrechte entgegengesetzt160; das Natur154 155 156
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Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 158. Vgl. Feinberg, Legal Paternalism, S. 17. Vgl. Link, in: FS für Willi Geiger, S. 282, 289 ff., 296; Scheuner, in: Gedächtnisschrift fur Hermann Conrad, S. 486; Schwartländer, Staatsbürgerliche und sittlich-institutionelle Menschenrechte, S. 88; Voltelini, Historische Zeitschrift Bd. 105 (1910), 102 f. Freilich wurde diese Entwicklung nicht wie in anderen europäischen Ländern von einem erstarkenden Btirgertum getragen, denn dieses entwickelte sich in Deutschland, vor allem in Preußen, längst nicht so kraftvoll wie in anderen Teilen Europas, vgl. Mann, Deutsche Geschichte, S. 48 f.; Rosenbaum, Naturrecht, S. 19, 20 f., 22 ff.; Voltelini, Historische Zeitschrift, Bd. 105 (1910), 95; Gerd H. Wächter, Strafrechtliche Aufklärung, S. 188 ff. Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 26. Siehe Klippel, Politische Freiheit, S. 67 ff; ferner Bödeker, „Menschenrechte", S. 394, 400. Siehe Klippel, Politische Freiheit, S. 131 ff.; ders., Persönlichkeit und Freiheit, S. 287. Vgl. aber auch Garber, Vom „ius connatum" zum „Menschenrecht", S. 109 ff, der den Unterschied der Wolffschcn Konzeption gegenüber der kritischen Aufklärungsphilosophie vor allem darin erblickt, daß bei Wolff die - inhaltlich den Menschenrechten ver-
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
recht wird in seiner kritischen, die Macht des Staates begrenzenden Funktion entdeckt161. Dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Gesellschaftsvertrags werden subjektive Rechte des Einzelnen im Verhältnis zum Staat entnommen. Schließlich muß das Vertrauen in die eigene Vernunft in Verbindung mit dem Streben nach größtmöglicher Freiheit bei gleichzeitiger Sicherheit vor staatlicher Willkiir zu einer Verlagerung der Gesetzgebungsgewalt auf das Volk - jedenfalls auf die Teile des Volkes, denen der Vernunftgebrauch zugetraut wird - führen162. Die kritische Wende der Aufklärung erfolgt in Deutschland verhältnismäßig spät und hat wesentliche Anregungen durch ausländische Vorläufer erhalten163. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts existierten zwei unterschiedliche Literaturgattungen nebeneinander, ohne einander maßgeblich zu beeinflussen: auf der einen Seite die am positiven Recht orientierte dogmatische Literatur und auf der anderen Seite die aufklärerisch geprägte Literatur mit ihren philosophischen Ansprüchen und politischen Zielsetzungen164. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts untemahm Kleinschrod den Versuch, „das positive Recht in Verbindung mit den allgemeinen philosophischen Wahrheiten vorzutragen"165 - ein Versuch, der später von Feuerbach auf Kantischer Grundlage fortgefuhrt wurde'66. Bei der Behandlung der Frage der Reichweite staatlicher Freiheitseinschränkungen envies sich die Wolffsche Philosophie als ilberaus langlebig, so daß bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach wohl tiberwiegender Auffassung die Verletzung einer Pflicht zur Selbstvervollkommnung der rechtlichen Relevanz einer Bewilligung von verletzendem oder gefährdendem Verhalten entgegenstehen konnte167. Freilich findet der allgemeine Verbrechensbegriff keine eingehende Darstellung und erst recht findet die Frage der Opferselbstverantwortung kaum explizite Thematisierung in den philosophisch geprägten Systemen der Aufklärung. Das hängt damit zusammen, daß die Behandlung des Strafrechts durch die aufklärerisch orientierten Autoren vor allem durch ihre Kritik am überkommenen System, vor allem am Strafensystem, geprägt war168. Gegenstand der Diskussion waren die aus Sicht der politischen Auf-
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164 165 166 167 168
gleichbaren - Individualrechte durch eine Verklammerung mit der Staatszwecklehre geschtitzt worden seien. Vgl. Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie, S. 37 f. Vgl. Klippel, Politische Freiheit, S. 150 ff.; Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 26; Wiirtenberger, in: Erinnerungsgabe fur Max Grünhut, S. 204. Vgl. Link, in: FS fur Willi Geiger, S. 278. Siehe zur „Rezeption der französischen Menschen- und Bürgerechtserklärung von 1789/1791" die Untersuchung Bödeckers, S. 272 ff. Siehe Schaffstein, Die allgemeinen Lehren, S. 21 f. Kleinschrod, Grundbegriffe, 1. Teil Vorrede. Dazu Maiwald, in: FS fur Sellert, S. 427 ff; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren, S. 21; Sina, Dogmengeschichte, S. 8. Schaffstein, Die allgemeinen Lehren, S. 22. Vgl. Ranft, Individualschutz, S. 140 ff. Vgl. Fischl, Aufklärungsphilosophie, S. 139 f; L. Giinther, Archiv fur Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, Bd. 28 (1907), 119 f, 132 f; Stephani Schmidt, Die Ab-
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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klärung augenfälligen Mißstände, etwa grausame Strafen und die Folter; dogmatische Durchdringung war demgegenüber zunächst nachrangig169. Allgemeine Fragen des Verbrechensbegriffs wurden vor allem dort (zumindest: mit-) behandelt, wo es darum ging, theokratisch geprägte Delikte zu bekämpfen. Daraus erklärt sich auch, daß die Bedeutung der Opferselbstverantwortung fur den Verbrechensbegriff vor allem bei der Frage der Strafbarkeit des Suizids berührt wurde. Die kritische Aufklärungsphilosophie soil hier zum einen anhand des Denkens von John Locke aufgenommen werden (dazu a), der eine Begriindung des Staates vom Individuum her leistet, dessen natürliche Freiheit und dessen Menschenrechte die Staatsgewalt begrenzen. Damit schafft Locke die Voraussetzungen für einen Staat, in dem der mit Rechten versehene Mensch im Mittelpunkt steht. Obwohl die Menschenrechte bei Locke primär in ihrer Abwehrfunktion gegen den Staat konzipiert sind, wird die Frage des Bestehens unverfugbarer Rechte bei ihm - wie in der deutschen Strafrechtswissenschaft schließlich auch - unter dem Aspekt der Verftigungsbefugnis gegenilber dem Mitbilrger thematisiert. Einschränkungen der Freiheit, Eingriffe zu bewilligen, geraten damit (auch) in Abhängigkeit vom Bestand gewisser vorstaatlicher Rechte. Freilich beschränken sich die Grenzen der Verftigbarkeit auf einen Kernbereich von Rechten. Ein zweiter Gedankenstrom hat seine Quelle in der französischen Aufklärungsphilosophie, die etwa durch Montesquieu, Voltaire und die Encyclopädisten wesentliche kritische Beiträge zur Anwendung aufklärerischen Gedankengutes gerade auch auf das Strafrecht geleistet hat. Deren Gedanken aufzunehmen, eigenständig zu entwickeln und in auch für Deutschland wirkmächtiger Form zu formulieren, ist das Verdienst Beccarias (dazu b). In grundsätzlichem Unterschied zu Locke sieht Beccaria die Kompetenzen zu selbstverfugenden Entscheidungen nicht durch die bereits vorstaatlich begriindete Unverfugbarkeit gewisser Güter beschränkt, sondern die staatliche Kompetenz zur Beschränkung einer vorstaatlich vorausgesetzten Freiheit zur Verfügung über eigene Güter hängt davon ab, ob und inwieweit der Staat in seiner Leistungsfähigkeit von der Kompetenz zur Regelung dieser Frage abhängig ist. So läßt sich von diesem Ansatz keine prinzipielle, sondern nur eine von den Aufgaben des Staates abhängige Unverfugbarkeit eigener Güter begründen. Die von Beccaria ausgehende Bewegung prägt wesentlich die kritisch aufklärerische Strafrechtsliteratur im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts (dazu c). Im engsten Anschluß an Beccaria steht Karl Ferdinand Hommel; bei anderen der Aufklärungsbewegung zuzurechnenden Autoren bleiben paternalistische Bestrebungen starker wirkmächtig. Die menschenrechtliche Konzeption in der Philosophie, wie sie sich bei Locke findet, ist dagegen weniger schnell und intensiv übernommen worden. Bödeker schreibt: „Es ist nahezu unmöglich, Elemente einer
169
handlung von der Criminal-Gesetzgebung, S. 98 f. Ferner - allgemeiner - Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 44. Vgl. Sina, Dogmengeschichte, S. 7.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Diskussion iiber im Staate fortbestehende Rechte in der deutschen Literatur vor 1790zufinden"170. Auf aufklärerischen Gedanken gründend, zugleich aber iiber sie hinausweisend, vollzieht sich die Entwicklung eines idealistischen Freiheitsbegriffs bei Rousseau und schließlich bei Kant (dazu 3.).
a) John Locke Auf dem Weg zu unverfllgbaren, das Individuum vor staatlichen Zugriffen schiitzenden Menschenrechten, hat Locke einen Meilenstein gesetzt171. Für Locke ist der Naturzustand kein Zustand ungeziigelter Freiheit172 - kein Krieg aller gegen alle'73 -, sondern schon im Naturzustand „herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufugen soil"174. Innerhalb dieser Grenzen des Gesetzes der Natur herrscht im Naturzustand vollkommene Freiheit der Menschen „ihre Handlungen zu regeln und tlber ihren Besitz zu verfugen, wie es ihnen am besten erscheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein"175. Schon in vorvertraglichem Zustand sind die Menschen also mit gewissen natilrlichen Rechten ausgestattet176. Der Verbleib im auf diese Weise bereits normativ imprägnierten Naturzustand177 erscheint bei Locke längst nicht so indiskutabel wie bei Hobbes. Doch neben den normativ charakterisierten Naturzustand tritt ein deskriptiver Naturzustand178, den der Mensch zu verlassen bereit ist, obwohl er so seine Selbständigkeit verliert. Denn in diesem deskriptiven Naturzustand sei des Menschen „Freude an diesem Recht sehr ungewiß", „da er fortwährend den Übergriffen anderer ausgesetzt ist. Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, 170 171
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Bödeker, „Menschenrechte", S. 395. Vgl. zu seiner Bedeutung etwa Gysin, Die unveräußerlichen Rechte, S. 307 ff.; Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 40 f.; Willoweit, in: FS fur Johannes Schwartländer, S. 258 f. Siehe aber auch die Darstellung der Schwächen des Lockeschen Begriffs der Menschenrechte bei Ryffel, ARSP 70 (1984), 408 ff., für den deshalb der gesetzte Meilenstein einen Irrweg markiert, der erst durch Rousseau und Kant verlassen wird - ein sachlich zutreffender, aber wohl unhistorischer Vorwurf. Zum Freiheitsbegriff bei Locke sehr gut Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 53 ff. Der Kriegszustand ist vielmehr gewissermaßen ein „Ausnahmezustand", der vom Naturzustand zu unterscheiden ist, siehe Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, §19. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 6. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 4. Dazu Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 334 f. Vgl. Kersting, Die politische Philosophie, S. 110. Dazu Kersting, Die politische Philosophie, S. 118 ff; ferner Ryffel, ARSP 70 (1984), 408 f.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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da alle Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht genau die Billigkeit und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt inn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist"179. Es geht im Gesellschaftsvertrag also nicht darum, das Naturrecht außer Kraft zu setzen - so wie Hobbes im Staat den Naturzustand ilberwinden wollte -, sondern es geht darum, gewisse Sicherheiten und Garantien fur die Einhaltung der Naturgesetze einzuflihren, an denen es im Naturzustand - zum Schaden der erstrebten Erhaltung des Eigentums - fehlt180. Derm obwohl „das Gesetz der Natur fur alle vernunftbegabten Wesen klar und verständlich ist", werde die Einsicht in dieses Gesetz durch eigene Interessen und fehlendes Nachdenken verdunkelt181. Es fehle im Naturzustand - erstens - „an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, das durch allgemeine Zustimmung als die Norm fur Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten von ihnen alien angenommen und anerkannt ist". Es fehle - zweitens - „an einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit der Autorität, alle Zwistigkeiten nach dem feststehenden Gesetz zu entscheiden" und es fehle - drittens - „oft an einer Gewalt, dem gerechten Urteil einen Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern". Die Gründe für das Verlassen des Naturzustandes sind also nicht normative, sondern utilitaristische, auf die Verwirklichung des an sich bereits verbindlichen normativen Zustandes gerichtete Grtinde182. Dementsprechend ist das Fundament des Staates nicht normativ, sondern utilitaristisch183: „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stelle, ist also die Erhaltung ihres Eigentums"n4, wobei Locke in diesem Zusammenhang einen weiten Begriff des „Eigentums" gebraucht, der Leben, Freiheiten und Vermögen umfaßt'85. Der Austritt aus dem Naturzustand und die Anlegung der „Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft" kann freilich wegen der nattlrlichen Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit der Menschen nur 179
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183 184 185
Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, §§ 123, 127. An anderer Stelle (§ 128) wird die Notwendigkeit, den Naturzustand zu iiberwinden, mit der „Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen" - also wohl eher mit empfindlich störenden Einzelerscheinungen - begrilndet. Eingehend zu den Argumenten, die ftir das Verlassen des Naturzustandes sprechen Kersing, Die politische Philosophie, S. 119 ff. Dazu und zum Folgenden Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, §§ 124-126. Kritisch zur Vereinbarkeit dieser Argumentation mit der Bedeutung, die Locke der Legislative einräumt, Kersting, Die politische Philosophie, S. 123. Siehe Hasso Hofmann, in: GS für Küchenhoff, S. 236: die „bürgerliche Gesellschaft" bei Locke sei „keine prinzipielle Neuschöpfung, kein total anderer Status wie bei Hobbes oder Rousseau, sondern Fassung und Sicherung der natiirlichen Rechtsform der Gesellschaft im Naturzustand". Siehe Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 60 ff. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 124. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 123; vgl. auch Kersting, Die politische Philosophie, S. 126.
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durch eine „Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen", erfolgen186. Der damit erforderliche Vertrag ist aber nicht der Hobbessche Unterwerfungsvertrag'87, sondern der Zweck des Vertrages — die Erhaltung des Eigentums - wird zum den Machthaber bindenden Vertragsgegenstand188: „Man kann deshalb auch nie annehmen, daß sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr eingesetzten Legislative weiter erstrecken soil als aufdas gemeinsame Wohl"m. Der Gesetzgeber wird also inhaltlich gebunden; die Einräumung absoluter Gewalt hieße fur Locke, sich „in eine schlimmere Lage begeben als es der Naturzustand war"190. Die Ableitung der höchsten Gewalt im Staate aus der natilrlichen Gewalt der Menschen im Naturzustand ftihrt weiter dazu, daß die Grenzen der Freiheitsausübung, die bereits im Naturzustand Geltung beanspruchen, auch die Macht des Gesetzgebers begrenzen191. „Die Verpflichtungen des natilrlichen Gesetzes hören nicht etwa in der Gesellschaft auf, sondern werden in vielen Fallen nur enger gezogen. Man hat ihnen durch menschliche Gesetze bekannte Strafen hinzugefugt, urn ihre Beachtung zu erfullen. So steht das Gesetz der Natur als Symbol einer ewigen Regel fur alle Menschen, fur Gesetzgeber wie auch fur alle anderen. Die Vorschriften, die sie fur die Handlungen anderer Menschen geben, miissen ebenso wie ihre eigenen Handlungen und die der anderen mit dem Gesetz der Natur, d. h. mit dem Willen Gottes, der in ihnen zum Ausdruck kommt, vereinbar sein, und da das fundamentale Gesetz der Natur die Erhaltung der Menschheit ist, kann keine menschliche Zwangsmaßnahme gut oder giiltig sein, die diesem Gesetz widerspricht"192. Nicht die Legitimation, wohl aber die Schranken des Staates sind damit normativ begrilndet193. Die Straftat im Staat ist durch gesetzliche Vorschriften konkretisierte Verletzung des natilrlichen Gesetzes. Da dieses dem Menschen verbietet, einem anderen an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zuzufugen194, sind solche Verletzungen auch der Gegenstand der strafrechtlichen Verbote. Verletzt wird also durch das Verbrechen ein auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrags durch Gesetze geschtitztes Recht des Mitbiirgers. Dabei ist gemäß dem Abwehrcharakter unverfugbarer Rechte freilich vor allem an Verletzungen gedacht, die dem Willen des Opfers zuwiderlaufen. Aber die unverfugbaren Rechte erhalten nach Locke auch Begrenzungen des Rechtsträgers. Das Naturgesetz verbiete in gewissen Fallen die Verfugung ilber eigene Rechte. Dies ergibt sich daraus, daß das natürliche Gesetz der Vernunft zwar
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Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 95. Dagegen Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 137. Vgl. dazu Kersting, Die politische Philosophie, S. 133. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 131. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 137. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 135. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 135. Dazu Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 60 ff. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 6.
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entspreche, aber nicht durch diese hervorgebracht wird195. Die Freiheit ist nicht das normative Prinzip der Rechtsbegründung - sie ist nicht Autonomie -, sondern sie steht auf einer Stufe neben den anderen materialen Individualrechten (Leben und Vermögen). Die Rechtsbegriindimg erfolgt heteronom durch die vorgegebene Ordnung der Natur als görtlicher Schöpfungsordnung196. Von daher bezieht das Sollen, das mit dem Sein der Natur zusammenfällt, seine Verbindlichkeit fur den Menschen, der seinerseits Geschöpf Gottes ist. Das Recht kommt also bei Locke nicht ohne ein religiöses Fundament aus197. Die Menschen seien Gottes „Eigentum, da sie sein Werk sind, und er sie geschaffen hat, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt"198. Für das Leben folge demnach aus der Geschöpflichkeit des Menschen eine naturgesetzliche Pflicht, „sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen"199. Niemand habe „eine absolute, willkiirliche Gewalt", sein eigenes Leben zu vernichten200. Der Suizid ist demnach naturgesetzwidrig. Zudem ergibt sich fur Locke daraus auch das naturgesetzliche Verbot, sich in Sklaverei zu begeben. Die Freiheit von absoluter oder willkilrlicher Gewalt könne nicht aufgegeben werden, ohne dabei gleichzeitig die Erhaltung und das Leben zu verwirken. „Denn da der Mensch keine Gewalt ilber sein eigenes Leben hat, kann er sich weder durch einen Vertrag noch durch seine eigene Zustimmung zum Sklaven eines anderen machen"201. Aus den Grenzen naturgesetzlicher Freiheit folgen auch die Grenzen vertraglicher Bindungen im Staat. Die Unterwerfung unter absolute oder willkiirliche Gewalt und die Einräumung von Gewalt liber das eigene Leben bleiben auch im Staat gesetzwidrig. Es ist nicht zu übersehen, daß sich der Übergang von der Begriindung unverfligbarer Menschenrechte als Begrenzungen staatlicher Gewalt zur Begrenzung der Verfugungsbefugnis der Person ilber sich selbst nicht ohne Bruch vollzieht. So bewegt sich die Begriindung des Suizidverbots noch ganz im Rahmen des theokratischen, voraufklärerischen Rechtsverständnisses. Die Tragkraft der Argumentation hängt damit von Prämissen ab, die die Säkularisation des Staates nicht iiberdauern konnten. Damit liegt auf den ersten Blick die Annahme nahe, daß diese Wendung der Unverfugbarkeit von Giitern gegen den Rechtsgutsträger selbst an der Wirkmächtigkeit der kritischen Aufklärungsphilosophie auf Dauer keinen Anteil nehmen konnte. Tatsächlich wird sich aber zeigen, daß die sich durchsetzende Anerkennung der Unverfugbarkeit gewisser Güter auch in der weiteren Diskussion vielfach aus dem Kontext eines Schutzes gegen Übergriffe anderer und des 195 196 197
198 199 200 201
Dazu und zum folgenden Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 49 ff. Eingehend Brocker, Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates, S. 209 ff. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 58 f; Brocker, Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates, S. 209 f; Ryffel, A R S P 70 (1984), 408; siehe auch Gysin, Die unveräußerlichen Rechte, S. 310. U m diesen Aspekt verkiirzt ist dagegen die Darstellung bei Baruzzi, Einfuhrung in die politische Philosophic, S. 130 ff. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 6. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, §§ 6, 135. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 135. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 23.
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Staates herausgelöst und als umfassende, auch gegen den Gutsträger gerichtete, Unverfugbarkeit von Giitern interpretiert wurde.
b) Cesare Beccaria Eine spezifisch strafrechtliche Arbeit von nachhaltigem gesamteuropäischen Einfluß ist das Buch „Über Verbrechen und Strafen" des Mailänders Cesare Beccaria202. Beccaria ist offenbar nicht von Locke, sondern vor allem Montesquieu und Rousseau beeinflußt203. Auch er entwickelt sein Verbrechensverständnis in einem Ableitungszusammenhang, der vom menschlichen Naturzustand ausgehend über Gesellschaft und Staat zur Notwendigkeit des Strafrechts fuhrt204. Mit Hobbes teilt Beccaria das pessimistische Menschenbild. Die menschliche Natur sei verderbt205, so daß die Menschen im Naturzustand in einem ständigen Zustand des Krieges leben206. In ausdrücklichem Gegensatz zu Hobbes sei dies jedoch nicht auf das Fehlen von Verpflichtungen im Naturzustand, sondern auf die besagte „Verderbtheit der menschlichen Natur" und den „Mangel einer ausdriicklichen Sanktion" zurückzuführen207. Die ihrer Freiheit im Kriegszustand unsicheren Menschen entschließen sich dazu, einen Teil ihrer Freiheit zu opfern „um sich des Restes in Sicherheit und Ruhe zu erfreuen. Die Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche fur das Wohl eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter"208. An dieser Stelle weicht Beccaria in entscheidender Weise vom Hobbesschen Unterwerfungsvertrag209, aber auch vom Inhalt des Gesellschaftsvertrags bei Rousseau 202
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Cesare Beccaria, dei delitti e delle pene, 1764; hier zitiert nach der Übersetzung von Wilhelm A Iff der Ausgabe von 1766. Z u m Einfluß des Werkes vgl. etwa Deimling, Cesare Beccaria, S. 11 ff.; L. Gilnther, Archiv fur Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, B d . 2 8 (1907), 124 ff.; Kreutziger, Das achtzehnte Jahrhundert, Jg. 12 (1988), 89 ff.; Küper, JuS 1968, 547; Stübel, System, Bd. 1 § 134 A b ) ; Gerd H. Wächter, Strafrechtliche Aufklärung, S. 155, 161; Weis, Cesare Beccaria, S. 3 ff.; Wiirtenberger, in: Erinnerungsgabe fur M a x Grünhut, S. 199 ff. Vgl. Radbruch, Isaak Iselin iiber Cesare Beccaria, S. 184; Renter, D i e Ansichten des Marchese von Beccaria, S. 6 1 ; z u m Einfluß anderer Autoren, insbesondere v o n E n zyklpädisten Alff, Z u r Einfilhrung, S. 11, 19; Fischl, Aufklärungsphilosophie, S. 3 7 ; Weis, Cesare Beccaria, S. 9; eingehend v. Overbeck, D a s Strafrecht der französischen Encyclopädie, S. 114 ff. Z u diesem Ableitungszusammenhang bei Beccaria Naucke, Der materielle Verbrechensbegriff, S. 270. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, An den Leser (S. 46); siehe auch Deimling, Der gesellschaftskritische Ansatz, S. 167; Naucke, Der materielle Verbrechensbegriff, S. 270. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, An den Leser (S. 45 f ) , § I. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, A n den Leser (S. 46). Allerdings steht die Annahme von Verpflichtungen im Naturzustand in einem gewissen Widerspruch zu § I, wo der Mensch im Naturzustand als „unabhängig" und „isoliert" beschrieben wird. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § I. Siehe v. Bar, Geschichte, S. § 82; Ranft, Individualschutz, S. 102.
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ab210. Da jeder nur einen Teil - und zwar den geringstmöglichen Teil2" — seiner privaten Freiheit dem Souverän opfert, bleibt ihm ein Rest von Freiheit, auf den Gesellschaft und Staat keinen Anspruch haben. Es ist also nicht - wie bei Locke — die Unverfugbarkeit von Rechten, die den Menschen an deren Übertragung auf die Staatsgewalt hindert, sondern ein rationalistischer Schluß von der fehlenden Notwendigkeit zur Erreichung des Staatszweckes auf das Unterbleiben unnötiger Freiheitseinschränkung. Nicht Unmöglichkeit, sondern Unnötigkeit steht der umfassenden Übertragung von Rechten entgegen212. Die rechtliche Anerkennung selbstverfugender Entscheidungen hängt demnach davon ab, ob die Übertragung dieser Freiheit notwendig ist, um Sicherheit im Staat herzustellen. Dient der Staat zur Herstellung von Sicherheit vor den anderen, so ist der Schutz der iiber sich selbst verfugenden Person vor sich selbst offenbar kein Argument dafur, die vorstaatlich bestehende Freiheit zu selbstverfugendem Verhalten auf den Staat zu übertragen. Beschränkungen der Selbstverfügungsfreiheit kommen danach nur insoweit in Betracht, wie daran iiberindividuelle Interessen des Gemeinwesens bestehen. Diese Möglichkeit behandelt Beccaria im Zusammenhang mit dem Strafrecht: Das Strafrecht griindet auf der Annahme, daß der „despotische Geist eines jeden Menschen" der Einhaltung des Gesellschaftsvertrages gefährlich bleibe213. Es genüge also nicht, beim Souverän die Verwahrung der „Summe kleinster Teile der privaten Freiheit eines jeden"214 einzurichten, sondern man müsse dieses Verwahrnis „im einzelnen Falle gegen die private Anmaßung eines jeden Menschen verteidigen"215. Das Recht zu strafen folge aus der Notwendigkeit dieses Mittels zum Schutz vor privater Anmaßung216. Das Verbrechen wird damit durch die private Anmaßung gegenüber dem Souverän und das von ihm gegebene Gesetz, das die Bedingungen des gesellschaft210
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Näher dazu unten 3 . a): während Rousseau ein vollständiges Aufgehen der Freiheit in der Gesellschaft mit dem Abschluß des Gesellschaftsvertrages vereinbart sieht, bemtiht sich Beccaria u m eine Einschränkung, die zur Begrenzung staatlicher Macht eingesetzt wird A u f diesen Unterschied wird vielfach hingewiesen, vgl. Deimling, D e r gesellschaftskritische Ansatz, S. 168; Küper, JuS 1968, 552. Praktisch wird diese Machtbeschränkung für Beccaria vor allem bei seiner ablehnenden Haltung zur Todesstrafe {Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XXVIII). Vgl. zu älteren Versuchen, die aufgeopferte Freiheit aus d e m Zweck d e s Gesellschaftsvertrags zu begrenzen, Link, Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens, S. 219. Siehe Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, §§ II, XXVIII. Zur Unbestimmtheit der dem Einzelnen verbleibenden Freiheit vgl. Deimling, D e r gesellschaftskritische A n satz, S. 168. Zur Bedeutung des Kriteriums der „Effektivität" in Beccarias Strafrecht grundlegend Naucke, D i e Modernisierung des Strafrechts, S. 4 0 ff. Kritisch zu dieser Sichtweise Weis, Cesare Beccaria, Anm. 3 6 ; stärkere Betonung des Gedankens der Humanität auch bei Cattaneo, Menschenwtirde und Strafrechtsphilosophie, S. 322 f. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § I. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XXVIII. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § I. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § II.
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lichen Zusammenlebens regelt217, gekennzeich.net. Nicht der einzelne Mitbilrger wird durch ungerechte Freiheitsanmaßung verletzt, sondern die Gesellschaft bzw. - von Beccaria synonym verwendet - das öffentliche Wohl218. Die Reichweite des Verbrechensbegriffs hängt in dieser Konzeption offenbar vom Umfang der dem Souverän überantworteten Freiheit ab. Beccaria unterscheidet drei Arten von Verbrechen: solche, die unmittelbar die Gesellschaft zermtten (die Majestätsverbrechen), solche, die gegen die private Sicherheit eines einzelnen Burgers verstoßen und damit nur mittelbar gegen die Gesellschaft gerichtet sind und schließlich solche, die dem zuwider sind, „was ein jeder nach dem Gesetz im Hinblick auf das öffentliche Wohl zu tun oder zu lassen hat"219. Zu dieser letzten Gruppe gehören insbesondere Störungen der öffentlichen Ruhe, „wie Lärm und Lustbarkeit auf den öffentlichen, fur den Verkehr und den zu Fuß gehenden Burger bestimmten Wegen (...)"22°. Wenn auch solche Verhaltensweisen unter die privaten Anmaßungen fallen, also den verbleibenden Freiheitsspielraum überschreiten und in diesem Sinne Verbrechen sind, will Beccaria doch durch die Erfordernisse der Ntltzlichkeit und Notwendigkeit der Strafe das geringere Maß des Gesellschaftsschädlichkeit berücksichtigen. Selbstverfügendes Verhalten läßt sich in diese Trias kaum einordnen. Das „Recht auf Sicherheit" soil die im Naturzustand bestehenden Gefahren, die von den anderen Menschen ausgehen, eindämmen. Es zielt also nicht auf eine Pflicht zum Erhalt eigener Güter, sondern auf den Schutz dieser Giiter vor nicht bewilligten Angriffen221. Selbstverfugende Entscheidungen und ihre Realisierung können also nur als Angriffe auf das öffentliche Wohl erfaßt werden, etwa weil der Verletzte physisch oder wirtschaftlich geschwächt wird und daraus ein Nachteil fur die Gesellschaft erwachsen könnte. Auf dieser Linie liegen die Erwägungen Beccarias zur Strafbarkeit des Suizids222. Der Maßstab, an dem er überprüft ob die Selbsttötung als Verbrechen strafbar sein könne, ist allein die Gesellschaftsschädlichkeit dieses Verhaltens223. Es geht also nicht um den Schutz des (eigenen) Lebens als solchen, sondern allein um die Frage, welchen Nutzen dieses Leben fur die Gesellschaft hat. So kann Beccaria den Suizid mit der Auswanderung vergleichen - mit dem Ergebnis, daß die Auswanderung wegen der Mitnahme des Vermögens und der personellen Stärkung des fremden Staates die Gesellschaft starker schädige als die Selbsttötung. Die Beantwortung der Frage, ob die Auswanderung ein Verbrechen sein könne, ist wegen des damit bestehenden Stufenverhältnisses der Gesellschaftsschädlichkeit präjudiziell dafür, ob dem Suizid Verbrechenscharakter zu217 218 219 220 221 222 223
Vgl. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, §§ I, III. Siehe Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, §§ VI, VIII. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § VIII. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XI. Vgl. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § VIII. Siehe - auch zum folgenden - Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XXXII. Die Frage, ob der Suizid als Verbrechen strafbar ist, ist zu unterscheiden von der Frage, ob es ein Recht des einzelnen zur Verfugung iiber sein Leben gibt, die Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XXVIII verneint.
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kommen kann. Auch die Auswanderung sei nicht per se kraft der Freiheit des Einzelnen einer Sanktionierung als Verbrechen entzogen, denn es bleibe ja möglich, daß diese Freiheit mit Blick auf das Gemeinwohl dem Einzelnen gerade nicht mehr offensteht. Die Auswanderung sei vielmehr deshalb kein Verbrechen, weil „ein Gesetz, welches die Untertanen in ihrem Lande gefangen halt, unnütz und ungerecht" 224 ware - es fehle also an der Notwendigkeit, die die Rechtmäßigkeit der Strafe verlange225. Dies gelte auch fur den Suizid, der „kein Verbrechen vor den Menschen" sei, „denn start des Schuldigen trifft die Strafe seine Familie". Die Nützlichkeit einer (die Familie des Täters treffenden) Strafe lasse sich auch nicht mit der abschreckenden Wirkung einer entsprechenden Androhung begriinden, denn wer sich durch den Verlust seines Lebens nicht von der Tat abschrecken lasse, „der dilrfte kaum durch den minder wirksamen und ferner liegenden Gedanken an seine Kinder oder Verwandten angefochten werden". Auch wenn der Einzelne kein Recht habe, über sein Leben zu verfügen226, fehle es also an der Niltzlichkeit einer Strafreaktion, die fur Beccaria neben der Gesellschaftsschädlichkeit zum Begriff des strafbaren Verbrechens gehört. Auf die bewilligte Fremdtötung, die Beccaria freilich nicht thematisiert, lassen sich diese Erwägungen nicht tlbertragen: Neben dem Schaden fur die Gesellschaft, der mit dem Verlust eines Burgers eintrete, hat hier das strafbewehrte Verbot die Chance einer Durchsetzung und die Strafdrohung könnte abschreckend wirken - Strafe dilrfte hier also auch notwendig sein. Der zweckrationale Ansatz begründet also keine prinzipielle Hürde fur ein Verbot selbstverfügender Entscheidungen und fur eine Bestrafung bewilligter Verletzungen oder Gefährdungen. Die Frage des Verbrechenscharakters hat aber nichts mit der Verletzung des Individuums als solcher zu tun, sondern hängt zunächst davon ab, ob die selbstverfiigende Entscheidung einen gemeinschaftsschädlichen Reflex aufweist. Die Forderung, private Freiheit nur in dem Umfang einzuschränken, wie dies die Freiheitssicherung durch den Zusammenschluß im Staat verlangt, wird hier also durchgehalten. Die Legitimation des Strafeinsatzes gegen gemeinschaftsschädliches Verhalten hängt dann weiter von deren Niitzlichkeit fur den Schutz der Gesellschaft ab. Da der Rang dieses Erfordernisses nicht durch unverfügbare Freiheiten begrenzt wird, dilrfte seine Erfüllung außerhalb des von Beccaria behandelten Suizids keine Schwierigkeiten aufwerfen. Auch die Begrilndung eines (strafbewehrten) Verbots selbstverfligenden Verhaltens mit Blick auf die Verletzung gewisser Interessen der Allgemeinheit ist bis heute bedeutsam. Darauf wird zuriickzukommen sein.
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Es ist darauf hinzuweisen, daß Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § II, Gerechtigkeit als „das unvermeidliche Band, um die partikularen Interessen vereint zu halten" defmiert. Gerechtigkeit verlangt also nicht mehr als die Notwendigkeit zur Wahrung dieses Bandes; dariiberhinausgehende materiale Gehalte weist Beccaria zuriick. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § II. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § XXVIII.
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c) Rezeption in der deutschen Strafrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte es 18. Jahrhunderts Die Konzeptionen Lockes und Beccarias stimmen darin überein, daß sie dem Einzelnen Freiheitsrechte zubilligen, die durch den Eintritt in die Gesellschaft nicht angetastet werden. Unterschiedlich ist die Begründung für diesen Umstand: Während bei Locke die ursprüngliche Unverfügbarkeit eine prinzipielle Resistenz gegen gesellschaftliche Inanspruchnahme bedingt, ist es bei Beccaria die fehlende gesellschaftliche Notwendigkeit, die zum Verzicht auf Inanspruchnahme fllhrt. Beccarias „Verbrechen und Strafen" wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen übersetzt und fand vor allem in Karl Ferdinand Hommel einen begeisterten Verfechter in Deutschland227. Dabei darf man freilich nicht übersehen, daß die Aufhahme des Werkes und seine anregende Kraft kaum etwas mit der von Beccaria vertretenen allgemeinen Verbrechenslehre zu tun hatte, sondern vor allem mit seinen Forderungen nach Strafproportonialität und der (weitgehenden) Abschaffiing der Todesstrafe in Zusammenhang stand. Hommel grilndet den Staat auf vertraglicher Grundlage228 und schließt sich eng an Beccarias Lehre an229. Auch er kennzeichnet den Verbrechensbegriff durch seine Sozialschädlichkeit: „Das Wesen und die Größe des Verbrechens, ist bloß nach dem Schaden fur die Gesellschaft zu beurtheilen"230. Wenn Hommel an anderer Stelle schreibt, ein Verbrechen sei ein Verhalten, „wodurch ich jemanden beleidige"231 und schließlich fur die Bestimmung des Strafmaßes neben dem Nachteil fur den Staat auch den Nachteil fur den einzelnen Burger heranziehen will232, so läßt sich dies wohl damit erklären, daß die Beleidigung oder die Nachteilszufugung gegemiber dem einzelnen Mitbürger immer auch eine Anmaßung verwahrter Freiheiten gegeniiber dem Herrscher ist. Maßgeblich bleibt demnach der Gesichtspunktes der Sozialschädlichkeit233. Jedenfalls bemiiht Hommel sich um eine Unterscheidung von Verbrechen, Silnde und verächtlichen Handlungen234. Durch die Einführung eines Unmittelbarkeitserfordernisses kommt er zu einer Präzisierung 227
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Siehe dessen mit Anmerkungen und einer Vorrede versehene Übersetzung von Beccarias Buch; ferner Hommel, Philosophische Gedanken. Hommel, Beccaria, § 1 Anm. c), wobei er dessen fiktiven Charakter betont. Vgl. eingehend v. Zahn, Karl Ferdinand Hommel, S. 52 ff. Siehe dazu im einzelnen v. Zahn, Karl Ferdinand Hommel, S. 82 ff. Hommel, Philosophische Gedanken, § 67; ders., Beccaria, S. 15. Hommel, Philsophische Gedanken, § 20, ebenso ders., Beccaria, S. 2. Hommel, Philosophische Gedanken, § 5 3 ; siehe auch ders., Beccaria, § X X X I I Anm. p) a. E. Siehe Ranft, Individualschutz, S. 118; Riiping, Vorwort zu Hommel, Philosophische Gedanken, S. X I f. (a.A. aber wohl Rudolphi, in: F S fur Honig, S. 155). Diese Sichtweise erlaubt eine widerspruchsfreie Interpretation der unterschiedlichen Defmitionen. Freilich konnte das in den unterschiedlichen Defmitionen liegende Spannungsverhältnis auch Ausdruck eines inkonsistenten Systems sein. Hommels Lehre ist insgesamt weder geschlossen noch frei v o n Widersprtichen, vgl. v. Zahn, Karl Ferdinand H o m mel, S. 74 f. Hommel, Philosophische Gedanken, §§ 20, 2 1 .
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und Einschränkung des Verbrechensbegriffs, die sich bei Beccaria nicht fmdet. Das Verbrechen milsse dem Mitmenschen oder dem Staat etwas unmittelbar entziehen235. „Derm wenn man das Wort mittelbar einwebt, so finden Moralisten, welche die ganze Welt nach ihrem System regieren wollen und gleichwohl die drei Worte: Mensch, Burger und Christ nicht zu unterscheiden wissen, ein offenes Feld, nach eigenem Belieben, was sie nur wollen, auch unschuldige, auch niitzliche Handlungen in Verbrechen umzugießen und durch verflochtene Dunkelheit überall sogenannte mittelbare Nachteile und Verletzungen der Republik heraus zu künsteln."236 Dieses Unmittelbarkeitserfordernis legt es nahe, es für unzulässig zu halten, bewilligte Gefährdungen oder Verletzungen von Mitbürgern als mittelbare Nachteilszufligungen zu Lasten von Gesellschaft und Staat zu deuten. Sie hätten demnach entweder ungeachtet des zustimmenden Opferverhaltens als unmittelbare Nachteilszuftigungen zu Lasten des Mitbürgers aufgefaßt werden miissen237 oder sie wären nicht als Verbrechen erfaßbar gewesen. Soweit ersichtlich, hat Hommel sich zu dieser Frage nicht geäußert. Immerhin halt Hommel den Suizid deshalb nicht fur ein Verbrechen, weil er „die Sicherheit des Nebenmenschen nicht stört" und „niemand beleidigt wird"238. Diese Argumentation ließe sich ohne weiteres auf die Tötung auf Verlangen übertragen, ohne daß deshalb zuverlässig angenommen werden kann, daß Hommel diese Konsequenz gezogen hätte. Hätte Hommel mit dem Unmittelbarkeitserfordernis in seinem Verbrechensbegriff ernst gemacht, so hätte er freilich die Fälle bewilligter Verletzung immer noch der Polizeistrafe unterstellen können, die der Einschränkung des Verbrechensbegriffs korrespondierend in seinem System eine starke Ausdehnung erhielt239, obwohl sich Hommel auch hier gegen einen „gesetzgebenden Mückenfänger" wendet, „welcher die Unterthanen in Schulknaben verwandeln will"240. Weiter ist zu beachten, daß bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weder in der Staatslehre noch in der Strafrechtswissenschaft das von Wolff geprägte Denken iiberwunden war. Nach wie vor beherrschte es nicht nur die Praxis241, sondern weithin auch die Wissenschaft. Hommel kam eine geradezu radikale Rolle zu242. Beispielhaft fur das Fortwirken wohlfahrtsstaatlichen Gedankengutes sind die von der kritischen Aufklärungsphilosophie bewegten, zugleich aber 235 236 237
238 239 240 241
242
Hommel, Beccaria, § VI Anm. m). Hommel, Beccaria, § VI Anm. m). Was allerdings mit Blick auf die unten dargestellte Behandlung des Suizids, bei dem Hommel den Verbrechenscharakter trotz äußerlicher Beeinträchtigung mit Blick auf die Respektierung des Willensverhaltens verneint, nicht konsequent erscheint. Hommel, Beccaria, § XXXII Anm. p). V. Zahn, Karl Ferdinand Hommel, S. 86. Hommel, Philosophische Gedanken, §§ 22, 71. Auch das Allgemeine Landrecht fur die Preußischen Staaten bleibt - trotz gewisser Relativierungen - urn die Glilckseligkeit der Untertanen bemiiht; vgl. dazu Hillgruber, Der Schutz, S. 36 ff. Siehe GerdH. Wächter, Strafrechtliche Aufklärung, S. 190 f.
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auch von Wolffscher Philosophic geprägten Standpunkte243 Gmelins in seiner Schrift „Grundsätze der Gesetzgebung ilber Verbrechen und Strafen". Gmelin gründet seinen Verbrechensbegriff auf ein triviales Bild von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag: „Die Menschen sahen es bald ein, daß sie ohne Gesellschaft, oder in kleineren Familiengesellschaften nicht hinlänglich im Stande, sich gegen Beleidigungen und Unterdrückungen anderer zu schützen, und also beständigen Gefahren ausgesetzt wären; sie traten daher in größere Gesellschaften zusammen, deren Hauptzweck dieser war, sich mit zusammengesetzten Kräften in eine solche Verfassung zu bringen, welche sie vor alien Beleidigungen, Unterdriickungen, und vor aller Gefahr sicher stellte"244. Zur Erreichung dieses Zweckes setzten sie eine Regierung ein, deren Aufgabe die Erhaltung und Beförderung des Wohlstandes und der Sicherheit des Staates und seiner einzelnen Mitglieder sei245. Verbrechen seien danach solche Handlungen, „durch welche Wohl und Sicherheit des Staates und seiner Burger verletzt wird"246. Der Verletzung der Burger kommt aber fur sich genommen noch kein Verbrechenscharakter zu, sondern Gmelin unterscheidet unmittelbar gegen des Staat gerichtete Verbrechen von solchen, bei denen „der Staat mittelbar durch Stoning der Wohlfahrt und Sicherheit seiner Burger beleidigt" wird247. Alle Delikte, die sich nicht unmittelbar gegen den Staat, sondern z.B. gegen das Leben, die körperliche Integrität und das Vermögen richten, sind danach mittelbare Beleidigungen des Staates. Eine solche Beleidigung (Verletzung) des Staates wird durch zustimmendes Opferverhalten nicht ausgeschlossen. So halt Gmelin den Suizid wegen dessen Schädlichkeit fur den Staat fur strafbar, „weil er ihm einen brauchbaren Mitbürger entzieht"248. Folgerichtig bleibt auch die Tötung auf Verlangen strafbar, „derm auch in diesem Fall wiirde dem Staat ein brauchbares Mitglied entzogen, der Getödtete konnte dazu nicht Erlaubnis geben, und diese Ausnahme wiirde oft mißbraucht werden"249. Mit der mittelbaren Beleidigung des Staates wird auch die Strafbarkeit zahlreicher „Verbrechen der Unkeuschheit" unabhängig vom Opferwillen begrilndet. So sollen „Selbstbefleckung, Onanie und Masturba-
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249
Vgi. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, S. IV ff. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 1. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 1. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 7; an anderer Stelle (§ 1) ist von „beleidigt" statt von „verletzt" die Rede. Gmelin benutzt diese Begriffe offenbar gleichsinnig. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 12 (Hervorhebung nur hier). Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 79. Gegen Beccarias Vergleich mit der Auswanderung wendet Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 7 8 mit Anm. r) ein, der Suizident fuge dem Staat größeren Schaden zu, da er nicht rnehr zurückkommen könne. N e b e n der Schädlichkeit fur den Staat steht eine paternalistische Überlegung: der Mensch sei vor sich selbst zu schützen, damit er „nicht durch eine bald vorilbergehende triibe Stunde sich verleiten lassen, etwas zu thun, was er bei hinlänglicher Überlegung niemals thun wiirde" (a.a.O. und § 79). Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 66.
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tion" „äußerst verderbliche Folgen für den Staat" haben und die Schädlichkeit der Sodomie sei darin zu erblicken, „daß, wenn diese Handlung nicht sehr bestraft wiirde, die Neigung zu derselben bald einreißen, und dem Staat durch gehemmte Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts unwiederbringlichen Schaden zufügen würde"250. Schließlich sei auch der einverständliche außereheliche Geschlechtsverkehr mit einer „ehrbare(n) unverheiratete(n) Weibsperson, Wittwe oder Jungfrau" wegen des dem Staat zugefligten Nachteil ein Verbrechen251. Die großzügige Ausdehnung des Verbrechensbegriffs auf mittelbare Beleidigungen des Staates zeigt, wie der „Geist des polizeistaatlichen Absolutismus"252 auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch mächtig war. Doch geben sich die moralisierenden Erwägungen rational, aus dem Staatszweck abgeleitet, und zeigen so gesehen, in welche Richtung der von Beccaria gewiesene zweckrationale Weg beschritten werden kann. Die Staatstheorie Lockes wurde - obwohl alter als Beccarias Werk - erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland rezipiert253. Der Gedanke unverfugbarer Menschenrechte wurde nicht unmittelbar von Locke iibernommen, sondern iiber verschiedene Zwischenschritte schließlich durch die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 nach Deutschland getragen254. Die menschenrechtliche Konzeption ist grandsätzlich widerstandsfähiger gegen Gemeininteressen oder Interessen des Staates als die zweckrationale Konzeption Beccarias. Die Reichweite staatlicher Freiheitsbeschränkungen mußte auf solcher Grundlage starker vom Individuum her bestimmt werden. Doch die staatsmachtbegrenzende Abwehrfunktion ist nicht der einzige Effekt der Menschenrechte. Ihr Anspruch als „unveräußerlich", „heilig" oder „absolut"255 wendet sich letztlich nicht nur gegen den Staat und verbietet gesellschaftsvertraglichen Verzicht, sondern er wird auch gegen die Möglichkeit des Verzichts auf die so geadelten Rechte unter den Bilrgern gewendet. Darauf wird zuriickzukommen sein.
d) Zusammenfassung Die kritische Aufklärungsphilosophie legt es bei konsequenter Fortfuhrung ihres Ansatzes - Schutz der Freiheit des Einzelnen vor den anderen und vor dem Staat durch die Anerkennung unverfugbarer Rechte bzw. durch wechselseitige Freiheitsbindung - eigentlich nahe, den Schutz des Menschen vor sich selbst aus dem Kreis zulässiger Staatszwecke auszuschließen. Tatsächlich erfolgt die rechtliche Freigabe selbstverfugender Entscheidungen aber bei vielen Autoren nicht. Das 250 251 252 253
254 255
Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, §§ 135, 137. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung, § 145. So Ranft, Individualschutz, S. 139, 122 zu Gmelin. Vgl. Klippel, Politische Freiheit, S. 8 1 , 88 f., 9 1 , 129, 134; dens., Persönlichkeit und Freiheit, S. 282 ff. Scheuner, in: FS fur Ernst Rudolf Huber, S. 142. Siehe Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 287 m. Nachw.
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läßt sich insofern ohne Widerspruch begriinden, als nicht der Schutz der Person vor sich selbst, sondern der Schutz von durch selbstverfligende Entscheidungen tangierten Belangen der anderen bzw. der G erne ins chaft den Grund fur entsprechende Verhaltensverbote abgeben soil. Freilich ist die so begrilndete rechtliche Unwirksamkeit einer selbstverfügenden Entscheidung bzw. die Rechtswidrigkeit von Verhaltensweisen, die sich auf eine selbstverfligende Entscheidung beziehen (also etwa die Vornahme einer vom Opfer bewilligten Verletzungshandlung) zusätzlich — ebenfalls am Maßstab des Zwecks des gesellschafitsvertraglich konstituierten Staates - auf ihre Strafrechtswidrigkeit zu priifen. Rechtliche Vorschriften, die die Selbstverfugungsfreiheit des Einzelnen ohne Blick auf die Belange der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft reglementieren, müssen dagegen Fremdkörper im Konzept der kritischen Aufklärungsphilosophie bleiben. Die UnverfUgbarkeit von Gütern, die gegen den Gutsträger selbst gewendet wird, weist zuriick auf das voraufklärerische Bild eines theokratischen Staates.
3.
Die Entwicklung eines idealistischen Freiheitsbegriffs
a) Jean-Jacques Rousseau Rousseau steht in mancherlei Hinsicht Hobbes und Locke nahe256; überwindet sie aber an - auch für den hier behandelten Gegenstand - entscheidender Stelle und weist so schon den Weg zu Kant251. Zwar kennzeichnet Rousseau - in Abweichung zu Hobbes — den urspriinglichen Naturzustand auch durch das MitleicP5*, welches „ein natilrliches Gefiihl ist, das, da es in jedem Individuum die Aktivität der Selbstliebe mäßigt, zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Art beiträgt"259. Aber dieses Gefühl gehe im Gang der Geschichte zunehmend verloren260; der Naturzustand, an dem die Rousseausche Rechts- und Staatslehre ansetzt, ist dann zwar nicht der Hobbessche „Krieg aller gegen alle", aber Rousseau leugnet wie dieser eine positive Verbundenheit 256
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Siehe dazu etwa Cassirer, Philosophic der Aufklärung, S. 3 4 6 f.; Forschner, R o u s seau, S. 110; Welzel, Naturrecht, S. 156 f. Zur Bedeutung Rousseaus fur Kant erhellend Cassirer, Kant und Rousseau, S. 3 ff., zu „Recht und Staat" S. 2 7 ff.; ferner Ebbinghaus, Die Idee des Rechtes, S. 164 ff.; Willhelm Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 59 f.; Prauss, Kant über Freiheit, S. 4 0 ff. - Freilich ist die im Text behauptete N ä h e zu Kant auch bereits Ausdruck einer bestimmten, v o m Neukantianismus vertretenen Interpretation d e s Rousseauschzn Freiheitsbegriffs; vgl. Oberparleiter-Lorke, Der Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 12 f, 19. Eingehend dazu Oberparleiter-Lorke, Der Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 2 9 , 4 9 , 109 ff. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 141 ff, Zitat von S. 149 f. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 7 0 f; Forschner, Rousseau, S. 79; Oberparleiter-Lorke, Der Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 227 ff.
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unter den Menschen. Nur setzt er an die Stelle von Hobbes „aktiven" einen „passiven Egoismus", einen Zustand der Isoliertheit der Einzelnen und der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen261. „Die alien gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Dessen oberstes Gesetz ist es, iiber seine Selbsterhaltung zu wachen, seine erste Sorge ist diejenige, die er sich selber schuldet (...)"262. Die Interessen der vielen einzelnen fallen also auseinander: „Im Stande der Natur kann es eine Harmonie zwischen dem Eigeninteresse und dem Gesamtinteresse nicht geben"263. Es gibt also im Naturzustand keine rechtliche Verbundenheit unter den Menschen264. Wenn auch Rousseau das Verlassen des urspriinglichen Naturzustandes als Fehlentwicklung beschreibt, wenn er auch meint, „daß die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind und daß wir sie beinahe alle vermieden hätten, wenn wir die einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise beibehalten hätten, die uns von der Natur vorgeschrieben wurde"265, so verlangt er doch keine Riickkehr zu diesem Zustand. Nachdem der Mensch sich einmal von dem urspriinglichen Naturzustand entfernt hat, ist ihm der Weg zuriick versperrt266. Wenn also Rousseau der so unheilvoll beschriebenen Gesellschaft in seinem „Gesellschaftsvertrag" ihr Gesetzbuch schreibt, so sollen damit die Fehlentwicklungen der wirklichen Gesellschaft nicht fur rechtens erklärt, sondern gerade iiberwunden werden267. Der urspriing-
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Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 4. Kapitel; eingehend ders., Diskurs ilber die Ungleichheit, S. 77 ff., gegen Hobbes S. 137 ff.; dazu Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 347; Maier, Rousseau, S. 91 f.; Welzel, Naturrecht, S. 157. Dazu, daß dieses Bild sachgerechter ist als das Hobbessche Jakobs, ZStW 107 (1995), 872; ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 22 f. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 2. Kapitel. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 348. Vgl. Maier, Rousseau, S. 89. Rousseau, Diskurs iiber die Ungleichheit, S. 89; eingehend in Anm. IX zu S. 105 auf S. 299 ff. Rousseau, Rousseau richtet ilber Jean-Jacques, III. Dialog, S. 569: „Aber die menschliche Natur geht nicht rückwärts, und nie kommt man in die Zeiten der Unschuld und der Gleichheit zurtick, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat. Dieses ist noch einer der Grundsätze, auf welchen er [Rousseau] am meisten bestanden hat." Siehe auch Rousseau, Diskurs ilber die Ungleichheit, Anm. IX zu S. 105 (S. 319 ff.) Dazu und zu den Schwierigkeiten der /touxyeaw-Interpretation an dieser Stelle Cassirer, Archiv fur Geschichte der Philosophie, Bd. 41 (1932), S. 191 f; ders., Kant und Rousseau, S. 27 ff.; ders., Philosophie der Aufklärung, S. 363 ff. Eine - nicht nur in diesem Punkt — einäugige und die Bemiihungen Rousseaus verfehlende Darstellung findet sich bei Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 83 ff. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 71 f.; Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 365; Hasso Hofmann, Rechtstheorie 13 (1982), 239; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 211.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
liche, als „gut" charakterisierte Naturzustand behält damit einen idealen Charakter, der auf das Recht im Staat letztlich nicht ohne Einfluß bleibt268. Genügen die Kräfte, die jedes Individuum zum Erhalt des Naturzustandes einsetzen kann, nicht um die Schwierigkeiten eines Lebens im Naturzustand zu meistern, so fordert die Selbsterhaltung eine Änderung der Daseinsart - es bedarf eines Zusammenschlusses der Kräfte der Einzelnen269. Die Rechtfertigung der damit erforderlichen Herrschaftsverhältnisse270 ist die Ausgangsfrage von Rousseaus staatstheoretischem Hauptwerk. Rousseau diagnostiziert: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten". Es geht ihm nicht um eine historische Erklärung: „Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht". Ihm geht es um die Frage: „Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen?" und er meint: „Diese Frage glaube ich beantworten zu können"271. Dabei schließt Rousseau ein auf Macht gegrilndetes Recht aus: „Stärke ist ein natürliches Vermögen; ich sehe überhaupt nicht, welche sittliche Verpflichtung sich aus ihren Wirkungen ergeben kann"272. Eine rechtmäßige Herrschaft unter Menschen könne folglich nur auf Vereinbarungen griinden273. Doch kommt für Rousseau ein Unterwerfungsvertrag, der dem Herrscher absolute Macht ohne jede Gegenleistung einräumt, nicht in Betracht. Das folgt nun aber nicht - wie bei Locke - aus einer Zusammenschau von Naturzustand und dem mit der Staatsgriindung verfolgten Ziel seiner Überwindung, bei der sich zeige, daß die Einräumung absoluter Gewalt bedeuten wilrde, sich „in eine schlimmere Lage (zu) begeben als es der Naturzustand war"274. Die Begriindung Rousseaus ist prinzipieller und weist auf ein neues Verständnis von Freiheit. Er verlangt, daß die Freiheit der Vertragsschließenden im Staat bewahrt werden müsse275. Denn: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, fur den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen"276. Rousseaus Problem liegt also darin, Kraft und Freiheit der Menschen zu vereinen und doch ihre individuel-
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Siehe Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S.69 ff. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch. 6. Kapitel. Zu möglichen Gründen hierfür Rousseau, Diskurs liber die Ungleichheit, S. 113 ff. U n d zwar nicht der vorfindlichen Herrschaftsverhältnisse, sondern einer rechtlichen Herrschaft (siehe Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 2 1 1 ; eingehend Cassirer, Archiv fur Geschichte der Philosophie, Bd. 41 [1932], S. 191 ff.). Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch 1. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 3. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 4. Kapitel. Locke, Zwei Abhandlungen, 2. Abhandlung, § 137. Siehe Forschner, Rousseau, S. 113: „Für Rousseau ist der Wille (anders als bei H o b bes, der Verf.) nicht ilbertragbar u n d repräsentierbar, ohne sich selbst als Wille zu zerstören" (im Original kursiv). Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 4. Kapitel.
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le Freiheit zu erhalten. Diese Schwierigkeit des Gesellschaftsvertrages hat er selbst formuliert; sie lautet: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, inderh er sich mit alien vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor"277. Die Lösung liegt fur inn darin, daß er das staatlich gesetzte Recht, dem die Burger unterworfen sind, selbst als Ausdruck von deren Freiheit begreift, so daß jeder im Gehorsam gegen das Gesetz seine Freiheit verwirklicht278. Biirgerliche Freiheit ist also nicht Freiheit vom Gesetz, sondern sie ist auf die Verwirklichung des Allgemeinen - des Gesetzes - gerichtete Freiheit; sie verwirklicht sich also gerade in der Anerkennung dieser Herrschaft, d.h. der Herrschaft des Gesetzes279. Das Gesetz schränkt also Freiheit nicht ein, sondern ermöglicht sie erst und es dient so — anders als bei Hobbes - nicht nur durch seine Verbindlichkeit der Herstellung einer äußeren Sicherheit280, sondern es kommt zu materialer Qualität dadurch, daß es auf ein Prinzip gleicher (weil jedem Menschen zukommender) Freiheit zuriickgeht281. Der Staat ist damit nicht mehr bloß Garant fur die Befriedigung von Sicherheitsbedilrfnissen seiner Burger, sondern seine Aufgabe ist die Herstellung von Gerechtigkeit282; man kann sagen, der Gesellschaftsvertrag ist bei Rousseau „die Darstellung einer Gerechtigkeitsidee"283. Soil in der Freiheit der Einzelne mit dem Allgemeinen und damit mit sich selbst zur Übereinstimmung kommen, so verbietet sich jede Entgegensetzung von Individual- und Gesellschaftsinteressen. Nur in der Aufhebung dieses Gegensatzes können Freiheit und Gerechtigkeit wirklich werden. Der Wille des Einzelnen muß eins werden mit dem Willen der Gesellschaft. So lassen sich die durch die Natur vorgegebenen Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages auf eine einzige zurückführen, „nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit alien seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes"284. Im Gesellschaftsvertrag findet sich also geregelt, daß jeder „seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens" stelle285. Damit schaffe der Gesellschaftsvertrag „anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft"286. Jenes „Gesamtwesen", das den Gemeinwillen ausübt, sei der Souverän287.
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Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel, 8. Kapitel. Prägnant Cassirer, Kant und Rousseau, S. 32. Ebbinghaus, Die Idee des Rechtes, S. 163. Siehe Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 78 ff. Das formale Prinzip gleicher Freiheit bedarf freilich seiner Konkretisierung in materialen Rechten; siehe dazu den weiteren Text. Cassirer, Kant und Rousseau, S. 28. Vgl. zum Zusammenhang von Gemeinwille und Gerechtigkeit auch Rousseau, Politische Ökonomie, S. 47. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 83. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kapitel (im Original vollständig kursiv). Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kapitel, 4. Kapitel.
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Die sittliche Qualität, die der Staat bei Rousseau erhält, erklärt zugleich, daß der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand fur ihn einen tiefgreifenden Wandel des Menschen, gewissermaßen eine Änderung der menschlichen Natur oder gar den Schritt zum Menschsein selbst bedeutet288. Für die preisgegebene „natiirliche Freiheit" oder „Unabhängigkeit", die jedem Menschen im Naturzustand zukommt, erhält er die „bürgerliche Freiheit" (die Rousseau vielfach - als Pendant zur „Unabhängigkeit" - einfach „Freiheit" nennt), die eine neue sittliche Stufe des Menschseins kennzeichnet289. Durch diesen Übergang tritt im menschlichen „Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts" und den menschlichen Handlungen wird „die Sittlichkeit verliehen (...), die ihnen zuvor mangelte. Erst jetzt, wo die Stimme der Pflicht an die Stelle des körperlichen Triebs und das Recht an die des Begehrens tritt, sieht sich der Mensch gezwungen, der bislang nur sich selbst im Auge hatte, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu befragen, bevor er seinen Neigungen Gehör schenkt"290. Da die Entfaltung von Freiheit und Recht das Allgemeine zum Gegenstand hat, wird der „ Gemeinwille " (bzw. - dem korrespondierend - die „Souveränität" als Ausiibung des Gemeinwillens291) zum Zentralbegriff von Rousseaus Rechtsphilosophie. Diesem Gemeinwillen traut Rousseau Gewaltiges zu: Er ist „immer auf dem rechten Weg" (er hat „immer recht") und zielt stets auf das öffentliche Wohl292. Der Gemeinwille ist „unzerstörbar", „er ist immer gleichbleibend, unveränderlich und rein"293. Die Garantie fur die Richtigkeit und Zeitlosigkeit des Gemeinwillens folge aus der Gleichheit der Burger und aus der Allgemeinheit des Gesetzes: „Gleichheit und der von ihr erzeugte Begriff der Gerechtigkeit rühren von dem Vorzug her, den jeder sich selbst gibt, und folglich von der Natur des Menschen; der Gemeinwille, um wahrhaft ein solcher zu sein, muß in seiner Auswirkung nicht weniger als in seinem Wesen allgemein sein; er muß von alien ausgehen, um sich auf alle zu beziehen; und er verliert seine natürliche Richtigkeit, sobald er auf einen einzelnen und festumrissenen Gegenstand gerichtet ist, weil wir, wenn wir iiber etwas uns Fremdes urteilen, keinen wahren Grundsatz der Billigkeit mehr haben, der uns leitet"294. Als Burger - d.h. als freie, sittliche Person - faßt der Mensch keinen anderen Willen als den Gemeinwillen295. Der einzelne Mensch mag freilich einen vom Ge-
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Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 8. Kapitel, 2. Buch, 7. Kapitel. Siehe auch Oberparleiter-Lorke, D e r Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 160, die zu Recht darauf hinweist, daß Tugend als Moralbegriff das Bestehen interpersonaler Verhältnisse unter den Menschen voraussetzt und damit nicht das ungesellige Nebeneinander der Menschen im Naturzustand kennzeichnen kann. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 8. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kapitel, 4. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, 1. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 4. Kapitel. Der Burger „hat" den Gemeinwillen; siehe Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel; erläuternd 4. Buch, 1. Kapitel.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufldarung und die Selbstverantwortung des Opfers
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meinwillen abweichenden Sonderwillen fassen296. Doch damit wird das unabänderlich vorhandene gesellschaftliche Band gleichsam vergessen oder geleugnet. Im Sonderwillen kommt des Menschen „selbständiges und natürlicherweise unabhängiges Dasein" - also das Dasein im Naturzustand - zum Ausdruck297 - sein Ergreifen ist damit Rückfall in ein Willensverhalten, dem Freiheit und Recht noch fremd sind. Der einen Sonderwillen fassende Mensch kann deshalb nicht nur im Interesse der Gesellschaft zum Gehorsam gegenilber dem Gemeinwillen gezwungen werden, sondern der gegen ihn gerichtete Zwang zur Befolgung des Gemeinwillens heißt nichts anderes, „als daß man ihn zwingt, frei zu sein"298. Nun hängt freilich die Verwirklichung bürgerlicher Freiheit im Staat davon ab, inwieweit der Gemeinwille erkannt wird und sich in den Entscheidungen des Souveräns durchsetzt. Auch wenn der Gemeinwille „unzerstörbar" sei, sieht Rousseau doch die Möglichkeit, daß er unter ungiinstigen Bedingungen (wenn der Staat seinem Untergang nahe ist) anderen Willen untergeordnet sein kann, die starker werden können als der Gemeinwille299. Der wegen der Einheit von Staat und Individuum vielfach als „total" apostrophierte Rousseausche Staat300 droht bei Verfehlung des Gemeinwillens in dem Maße individuelle bürgerliche Freiheit zu verletzen, wie das Dasein bürgerlicher Freiheit vom Dasein des am Gemeinwillen orientierten Staates abhängt. Die zentrale Schwierigkeit Rousseaus liegt demnach in der Ermittlung des Gemeinwillens, der sich in empirischen Aussagen iiber die Summe der Willen der Einzelnen - die Summe der Sonderwillen als „Gesamtwillen"301 nicht erschöpfen kann302. Trotz der auch bei Rousseau erkennbaren Verzweiflung ilber die Schwierigkeit dieser Aufgabe303, mußte ihm ihre Bewältigung doch unter geeigneten äußeren Verhältnissen als möglich erscheinen304. Freilich hat Rousseau selbst die Schaffung solcher Verhältnisse in seiner „Politischen Ökonomie" mit totalitären Zügen gezeichnet. Denn die praktische Verwirklichung des Gemeinwillens vollziehe sich dadurch, daß sich alle Sonderwillen auf ihn beziehen305. Die Schaffung dieser Übereinstimmung des besonderen mit dem allgemeinen Willen - das ist der Tugend des Burgers - sei Aufgabe der Regierung306. Die Formung der Menschen „wie man sie braucht" verlange die „umfassendste Autorität", das sei diejenige, 296 297 298 299 300 301 302 303
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Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel; 4. Buch, 1. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel; siehe auch 4. Buch, 2. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, 1. Kapitel. Siehe etwa Hillgruber, Der Schutz, S. 19; Maier, Rousseau, S. 96. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kapitel. Vgl. etwa Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rn. 131. Siehe Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 6. Kapitel am Ende, 7. Kapitel; siehe auch M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, S. 73: „hoffhungslose Aufgabe"; zum Ganzen Maier, Rousseau, S. 97 ff. Siehe Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kapitel; 4. Buch. Rousseau, Politische Ökonomie, S. 49. Rousseau, Politische Ökonomie, S. 49, 55, 57 ff.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen „welche bis ins Innere der Menschen dringt und nicht weniger auf seinen Willen als auf seine Handlungen einwirkt"307. Daraus leitet Rousseau z.B. die Forderung nach öffentlicher Erziehung bereits der Kinder im Sinne der Herausbildung tugendhafter Menschen - d.h. der Erziehung zu Staatsbiirgern - ab308.
Jedenfalls entspricht die Verfehlung des Gemeinwillens nicht dem theoretischen Modell, das Rousseau entworfen hat309. Wichtiger als die Möglichkeiten der Pervertierung seines Ansatzes ist es deshalb, dessen Konsequenzen fur den hier erörterten Gegenstand zu ziehen. Diese Konsequenzen zeigen sich zunächst - noch unabhängig vom Inhalt des Gemeinwillens - daran, daß die Orientierung am Gemeinwillen - und damit am Gemeinwohl - im Unterschied zum Hobbesschen Staat kein Gegenstand unverbindlicher moralischer Zielvorgaben, sondern Kennzeichen des Rechts Uberhaupt ist. „Recht" kann nur sein, was dem Gemeinwillen entspricht. Daß dieses Recht in Gesetze gegossen werden muß, ist fur Rousseau nur eine selbstverständliche Folge des Erfordernisses der Durchsetzbarkeit der Gerechtigkeit310. Mit der Bindung der Rechtsinhalte an den Gemeinwillen wird dieser nicht nur fur das staatliche Recht maßgeblich, sondern es wird auch erreicht, daß die Kluft zwischen Recht und Person, die der Unterwerfungsvertrag bei Hobbes reißt, vom Gesellschaftsvertrag Rousseaus geschlossen wird. Denn der Gemeinwille wird nicht etwa erst — prozedural - durch die Willen der Vielen hergestellt, sondern er ist in jedem einzelnen Burger vorhanden311. „Niemand, und sei er noch so uneigenniitzig und verniinftig, kann deshalb fur einen einzelnen oder fur ein Volk als Gesetzgeber fungieren"312. Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit. In dem Bemiihen um autonome Rechtsbegriindung erweist sich Rousseau als Vorläufer Kantsm. Das Verbrechen ist danach auch nicht Verletzung individueller Freiheitsrechte, sondern der Täter greift mit der Tat „das gesellschaftliche Recht" an314. Er verletzt also den Gemeinwillen in der Person des Opfers. Dieser Ansatz eröffhet die völlig neue Möglichkeit, die Nichtbeachtung des empirischen Willens des Einzelnen nicht nur mit dessen Freiheit in Einklang zu bringen, sondern geradezu mit dieser Freiheit zu begrilnden - ein ersichtlich fur das Problem der rechtlichen Bedeutung selbstverfügender Opferentscheidungen bedeutsamer Schritt. Die Unbeachtlichkeit des konkreten Einzelwillens des über sich selbst verfugenden, insbesondere der Verletzung oder Gefährdung zustim307 308 309
310 311 312 313 314
Rousseau, Politische Ökonomie, S. 47 f. Rousseau, Politische Ökonomie, S. 67 ff. Haverkate, Verfassungslehre, S. 176 spricht deshalb von einem „Gedankenexperiment". Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 6. Kapitel. Rousseau, Politische Ökonomie, S. 4 1 . Forschner, Rousseau, S. 125. Siehe Cassirer, Kant und Rousseau, S. 33 ff. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kapitel.
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menden Opfers ist nicht mehr notwendig ein - wenn auch u.U. gesetzmäßiger Eingriff in dessen Freiheit, sondern diese Unbeachtlichkeit kann - wenn die Zustimmung in Widerspruch zum Gemeinwillen steht - sich geradezu aus der Freiheit des Opfers ergeben. Derm die erteilte Zustimmung ist dann so wenig Ausdruck der Freiheit des Menschen als Burger wie es die Orientierung an der selbstverftigenden Entscheidung ist. Aus diesem Grand - nicht (nur) aus positivistischen Erwägungen - steht es dann auch mit dem (gesetzten) Recht in Einklang, wenn dem geäußerten Willen seine gestaltende Bedeutung abgesprochen wird. Umgekehrt kann es aber auch die rechtliche Bedeutsamkeit des tatsächlichen Opferwillens begründen, wenn es dem Gemeinwillen entspricht, den vom Opfer gefaßten Willen bei bestimmten Sachverhalten zu respektieren. Diese Abhängigkeit der Bedeutsamkeit des tatsächlichen Opferwillens von dessen Anerkennung durch den Gemeinwillen bedeutet in Rousseaus Konzeption keinen Freiheitsverlust, sondern die freie Person (der Burger) wird ohnedies keinen vom Gemeinwillen abweichenden Willen fassen und eine selbstverfugende Entscheidung folglich nur treffen, wenn dies nicht in Widerspruch zum Gemeinwillen steht. 1st die Unbeachtlichkeit des vom Gemeinwillen abweichenden Opferwillens gerade Ausfluß seiner Freiheit, dann bleibt es auch eine Verletzung dieser Freiheit, wenn der Täter sich in seinem Verhalten an der Zustimmung des Opfers orientiert. Ein Verhalten kann also den Gemeinwillen - und folglich auch die Freiheit des anderen - auch dann verletzen, wenn es von dessen empirischen Willen gedeckt ist. Der Täter handelt so freilich nicht nur der Freiheit des Opfers zuwider, sondern er ist - weil er dem Gesetz zuwider handelt - selbst nicht frei. Das an ihn - trotz der Zustimmung des Opfers - gerichtete Verletzungsverbot schränkt also auch nicht die Freiheit des Täters ein, sondern es ist gerade Ausdruck seiner Freiheit, sich an diesem Verbot und nicht am tatsächlichen Willensverhalten des Opfers zu orientieren. Der durch seine Orientierung am Gemeinwillen idealisierte Freiheitsbegriff Rousseaus eröffhet also prinzipiell die Möglichkeit, von einer Verletzung der Freiheit auch dort zu sprechen, wo der empirische Wille des Opfers zustimmt. Eine zusätzliche Frage ist nun freilich, ob (oder: inwieweit) es dem Gemeinwillen iiberhaupt entspricht, dem tatsächlich gefaßten Willen des Opfers seine Beachtlichkeit abzusprechen. Dabei erschließt sich die Kompetenz des Staates zu entsprechenden rechtlichen Einschränkungen der Willkiirfreiheit nicht schon daraus, daß man sich den gegen Rosseau erhobenen Totalitarismusvorwurf15 in dem Sinne zu eigen macht, daß sich der Rousseausche Staat nicht mit äußerlich legalem Verhalten zufrieden geben kann, sondern an seine Burger die Forderung nach Tugend im Sinne der Übereinstimmung von Sonderwillen und Gemeinwillen316 richten muß und er es zur
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Vgl. dazu Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht, S. 67 mit Nachw. zu den verschiedenen Positioner! und etwa S. 88 zu seiner eigenen Position; Forschner, Rousseau, S. 107 ff. (insb. S. 116 f), S. 131 ff. Rousseau, Polititsche Ökonomie, S. 49, 55.
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Verwirlichung dieses Zieles deshalb unternimmt, den individuellen Sonderwillen zum Gemeinwillen zu formen317. Doch mit dieser Versittlichung des Rechts ist das Bestehen individueller, die Staatstätigkeit beschränkender Rechte noch nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Nicht möglich ist freilich ein Geltungsanspruch individueller Rechte, die gleichsam über dem Staat stehen318, denn Rousseau begreift das Recht des Einzelnen nicht etwa als staatsfreies Derivat einer natilrlichen Freiheit, sondern er verlangt fur seine Begriindung „die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit alien seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes" 319. Rechte des Individuums können sich aber immerhin noch aus der Logik des Gesellschaftsvertrags und des diesen begründenden Staates selbst ergeben320. Für ein insoweit liberales Rechtsverständnis - gekennzeichnet dadurch, daß der Staat in den Dienst der Burger gestellt und aus diesem Zweck immanent begrenzt ist -, läßt sich nämlich geltend machen, daß der Gemeinwille niemals etwas zum Gegenstand haben kann, was allein den Einzelnen ohne jeden Bezug zum Staat oder zur Gesellschaft angeht; der Gemeinwille betrifft den Menschen allein in seinem Sozialbezug; er zielt auf das allgemeine Wohl321. Das folgt schon daraus, daß von der Rousseauschen Anthropologie, die den Menschen im Naturzustand als isoliertes Einzelwesen beschreibt, kein Weg zur Bildung eines Gemeinwillens fuhren kann, der sich auf anderes richtet als auf das Gemeinsame. Es sind also die Sachverhalte, die den Übertritt in den staatlichen Zustands und dessen Erhalt erfordern, deren Regelung Gegenstand des Gemeinwillens sind322. Dementsprechend hat der Einzelne schon „durch den Gesellschaftsvertrag von seiner Macht, seinen Giitern und seiner Freiheit" nur jeweils den Teil veräußert, „dessen Gebrauch fur die Gemeinschaft von Bedeutung ist" - das läßt sich mit dem Postulat der „völlige(n) Entäußerung" wohl noch insoweit zur Deckung bringen, als es allein dem Souverän obliegt, über diese Bedeutung fur die Gemeinschaft zu entscheiden323. In dieser Kompetenz des Souveräns liegt filr Rousseau keine Gefahr, denn da der Souverän „nur aus den Einzelnen besteht, aus denen er sich zusammensetzt, hat er kein und kann auch kein dem ihren widersprechendes Interesse haben"324. Der Souverän kann „von sich aus die Untertanen nicht mit einer fur die Gemeinschaft unnötigen Kette belasten; er kann es nicht einmal wollen: denn unter dem Gesetz der Vernunft geschieht nichts ohne Grund, ebensowenig wie unter dem der Natur"325. Kriterium filr eine Begrenzung staatlicher Einschränkung von Willkürfreiheit ist danach allein das der Erforderlichkeit am Maßstab des gemeinen Wohls326.
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Rousseau, Polititsche Ökonomie, S. 47 f., 67 ff. Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität, S. 89. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kapitel. Siehe Forschner, Rousseau, S. 117. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 4. Kapitel. Siehe Rousseau, Politische Ökonomie, S. 39; Forschner, Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 4. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kapitel. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 4. Kapitel. Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität, S. 93.
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Als Gegenstand rechtlicher Beschränkung kommen danach selbstverfligende Entscheidungen und auf sie bezogene Verletzungs- oder Gefährdungshandlungen nur dann in Betracht, wenn sie fur die Gesellschaft oder den Staat bedeutsam sind. Es ist damit ausgeschlossen, dem Einzelnen eine Verpflichtung zum Erhalt seiner Gilter allein in seinem eigenen Interesse aufzuerlegen. Ein Verbot selbstverfugenden Verhaltens und als dessen Kehrseite ein Verbot, solches Verhalten zu fordern oder sich an entsprechenden Bewilligungen zu orientieren, ist damit ausgeschlossen, wenn es nur dem Schutz des Einzelnen vor sich selbst zu dienen bestimmt ist. In diesen Bahnen bewegen sich auch die Überlegungen Rousseaus, der freilich fur die hier aufgeworfenen inhaltlichen Fragen an den Gemeinwillen wenig Antworten formuliert hat. Lediglich fur die Selbstverletzung - und hier wiederum nur fur die Selbsttötung, die er eher beiläufig behandelt - hat er die Auffassung vertreten, der Einzelne sei nicht berechtigt, ilber sein eigenes Leben zu verfugen; den Selbstmord bezeichnet er als Verbrechen327. Der Grund für diese Sichtweise ist offenbar vor allem (neben möglicherweise religiösen Erwägungen328) darin zu erblicken, daß der Gemeinwille auf den Erhalt der Gesellschaft zielt und deshalb auch die Existenz jedes Einzelnen zum Gegenstand hat329. Daraus folgt dann auch, daß die vom Opfer bewilligte Fremdtötung ebenfalls im Widerspruch zum Gemeinwillen steht. Die Grenzen dieses Grundsatzes werden freilich dort gezogen, wo die Tötung ausnahmsweise im Interesse des Gemeinwillens liegt. So ergibt sich eine Aufopferungspflicht des Einzelnen, sein Leben zu geben, wenn es dem Staat dienlich ist: „derm einzig unter dieser Bedingung hat er bisher in Sicherheit gelebt, und sein Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates"330. Dabei geht es aber nicht um im Belieben des Einzelnen stehende Verfugungen liber sein Leben, sondern um die Abwehr - regelmäßig externer - Gefahren fur die Gemeinschaft. Als (in einem weiten Sinn, s.u.) bewilligte Fremdtötung begreift Rousseau hingegen die Todesstrafe. Mit deren Androhung sei jeder Burger zum eigenen Schutz einverstanden. „Weit entfernt davon, iiber sein eigenes Leben zu verfugen, versucht man durch diesen Vertrag nur, es sicherzustellen, und es ist nicht anzunehmen, daß dabei einer der Vertragsschließenden
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Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kapitel. Vgl. Rousseau, Julie, S. 402 ff., 407 f.: „Sage also auch nicht, es sei Dir erlaubt zu sterben; denn es ließe sich ebensogut sagen, es sei Dir erlaubt, nicht mehr Mensch zu sein, erlaubt, Dich wider Deinen Schöpfer zu empören und Deine Bestimmung zu hintergehen". Vgl. Rousseau, Julie, S. 408: „Du redest von den Pflichten des Staatsbeamten und eines Hausvaters; und weil Du sie nicht erfiillen mußt, so hältst Du Dich fur von allem befreit. Und die Gesellschaft, welcher Du Deine Erhaltung, Deine Fähigkeiten, Deine Einsichten zu danken hast; das Vaterland, dem Du angehörst, die Ungliicklichen, die Deiner bediirfen - bist Du denen nichts schuldig?" Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kapitel.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen die Absicht hat, sich hängen zu lassen"331. Auch hier geht es also nicht erst um die Einwilligung des Straftäters in die konkret gegen ihn verhängte Todesstrafe, sondern seine Einwilligung bezieht sich auf die abstrakte Regelung - auf das Gesetz - dessen Vollzug er wegen dieser einmal erteilten Einwilligung hinnehmen muß (was, weil es dem Gesetz - und damit auch dem Gemeinwillen in seiner Person - entspricht, seine Freiheit nicht verletzt). Auch dieses Problem liegt, weil es nicht um die Bewilligung des einzelnen Eingriffs geht, außerhalb des hier behandelten Themas.
Insgesamt liegt der Ertrag der Rousseauschen Philosophie weniger in den fur die Behandlung selbstverfugenden Opferverhaltens erzielten Einzelergebnissen, als in dessen Konzeption rechtlicher Freiheit, die den Weg zu Kant weist.
b) Immanuel Kant - zugleich zur Rechtsverletzungstheorie Kant stellt sich zwar mit seinem Rekurs auf die Vernunft in die Tradition der Aufklärung, übersteigt aber deren Leistungen dadurch, daß er einerseits die empiristische Verkürzung der Vernunft auf die Erfahrung überwindet und andererseits die rationalistische Überschätzung der Vernunft, wie sie in Wolffs Schulphilosophie auftritt, zuriickweist332. Beides unternimmt Kant in seiner Vernunftkritik. Die Vernunft verlangt - zunächst als Vermögen zur Erkenntnis, dann aber auch als praktisches Vermögen - eine gewisse Unabhängigkeit von der Erfahrung333. Derin wären die Erkenntnisse der Vernunft ausschließlich Produkt von Erfahrung und damit immer bedingt und zufällig, so ware sie als Grundlage von Recht - und das heißt eben auch: von Allgemeinheit und Verbindlichkeit - von vornherein ausgeschlossen. Dabei weist Kant fur die theoretische Vernunft die Vorstellung als Anmaßung zurück, die Vernunft sei von der Erfahrung schlechterdings unabhängig; vielmehr sieht er sie auf die Gegenstände möglicher Erfahrung begrenzt. So kann der Anspruch der Notwendigkeit und Allgemeinheit, den objektive Erkenntnis geltend machen muß, nur dadurch begründet werden, daß diese Objektivität der Erkenntnis im erkennenden Subjekt selbst ihren Grund haben muß. Diese berühmte „kopernikanische Wende" auf das Subjekt der Erkenntnis muß offenbar sonst bliebe objektive Erkenntnis unmöglich - auf die vor-empirische Verfaßtheit des Subjekts gehen. Liegt das Vermögen zu objektiver Erkenntnis in der vernünftigen Person selbst, so ist das Seiende fiir die Erkenntnis nicht als „Ding an sich", sondern immer nur als „Erscheinung", d.h. „fur uns"334.
331
332 333 334
Außerdem stelle sich der Straftäter außerhalb der Gesellschaft; die Todesstrafe treffe ihn „weniger als Burger denn als Feind". Siehe Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kapitel. Zusammenfassend dazu Anzenbacher, Einfuhrung, S. 136 ff. Vgl. zum Folgenden Murmann, Nebentäterschaft, S. 162 ff. Der Begriff „Ding an sich" weist nochmals auf die Erfahrungsabhängigkeit der Erkenntnis hin, nämlich „auf den Umstand, daß das, was erkannt wird, sich nicht den subjektiven Erkenntnisbestimmungen allein verdankt" (Höffe, Immanuel Kant, S. 133).
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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Mit dieser, die Gegenstände transzendierenden Selbstständigkeit der Erkenntnis bleibt Freiheit immerhin möglich. Und „da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche, und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nötig zu haben, sie weiter einzusehen, daß sie also dem Naturmechanism eben derselben (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hindernis in den Weg lege: so behauptet die Lehre von der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte. (...) Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen (,..)"335. Die Freiheit der Person wird von Kant vor diesem Hintergrund als reiner Vernunftbegriff gedeutet. Die kopernikanische Wende wird also von Kant auch fur die praktische Vernunft vollzogen. Die Begriindung fur die Sittlichkeit und schließlich fur ein Recht, das mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Verbindlichkeit auftritt, kann nicht vom empirischen Besonderen ausgehen, sondern muß in der Vernunft selbst liegen. Dieser Anspruch muß in der praktischen Vernunft sogar zu größerer Radikalität kommen als in der theoretischen. Derm als theoretisches Erkenntnisvermögen hat die Vernunft zwar Zugang zu den „Rationalitätsbedingungen des Freiheitsgebrauchs", aber in ihr kann nicht die dem Sittengesetz notwendig eignende absolute Verbindlichkeit, die ethische Qualität eines Verhaltens überhaupt, begrilndet liegen336. Nur wenn die Vernunft den „zur Willensbestimmung hinreichenden" Grund in sich selbst trägt, kann sie die Grundlage einer unbedingten - also von vernunftfremden (empirischen) Einflilssen freien - vernünftigen Gesetzgebung sein337. Diese Ableitung des Sittengesetzes aus der reinen, von den Gegenständen möglicher Erfahrung unabhängigen praktischen Vernunft ist zugleich die Grundlage dafur, daß das Sittengesetz nicht nur als Erscheinung fur uns Giiltigkeit hat, sondern wirklich, d.h. „an sich" ist, was Kant in seiner Lehre vom „Faktum der Vernunft"338 zum Ausdruck bringen will339. Nur eine Erkenntnis a priori erlaubt es, den kategorischen Imperativ, der nicht von einem Zweck abhängt, als den Imperativ der Sittlichkeit (und dann auch das Rechtsgesetz) aufzufmden. Dieser Imperativ muß jeden empirischen Zwecks entkleidet sein, er enthält nur das Sollen und dessen Allgemeinheit schlechthin. Dieser kategorische Imperativ lautet also: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde"340. Dieser kategorische Imperativ als Prinzip der durch den unbedingt guten Willen gekennzeichneten Sittlichkeit341 kann freilich nicht unvermittelt auf das Recht, das 335 336 337 338 339 340 341
Kant, KrV, B X X I X f. (= W W III/IV, S. 32 f.) Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 121 f. Kant, KpV, A 35 f. (= W W VII, S. 125). Kant, KpV, A 56 (= W W VII, S. 141). Höffe, Immanuel Kant, S. 202 f. Kant, GMS, S. 421. Siehe Kant, GMS, S. 393.
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auf die Regelung äußerer Verhältnisse beschränkt ist, übertragen werden. Es ist durch den Charakter des Rechts als einer durch äußeren Zwang durchsetzbaren Ordnung342 ausgeschlossen, daß es den guten Willen zu seinem Gegenstand hat. Denn dieser ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß er seinen Bestimmungsgrund in sich trägt. Der Vernunftbegriff eines Rechts, das die äußeren Verhältnisse der Menschen zum Gegenstand hat, umfaßt lediglich die Bedingungen, „unter denen die Willkiir des einen mit der Willkiir des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"343. Daraus folgt als „allgemeines Prinzip des Rechts": „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkiir eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann"344'345. Fur das Recht zeigt sich die Überwindung des Empirismus darin, daß auch Kant zwar ein - eher negatives - sozialanthropologisches Bild des Menschen hat346, er aber die Begründung von Zwangsrechten zu Lasten von Minderheiten aus Sicherheitsbediirfhissen von Mehrheiten als naturalistischen Fehlschluß entlarvt347. Im Unterschied zu den vorkantischen Modellen verliert die Auseinandersetzung um das sozialanthropologische Menschenbild und um die Verhältnisse im Naturzustand ihre begründende Bedeutung. Für Kant genügt nicht mehr der Rekurs auf eine Vernunft, die lediglich noch danach fragt, mit welchen Instrumenten der als selbstverständlich (vernünftigerweise) zu erstrebende Friedenszustand zu erreichen ist348. Auf diese Weise ließe sich keine absolute Verbindlichkeit erzielen, sondera es ware nur die Begründung hypothetischer Imperative möglich, die einen bereits gesetzten Zweck voraussetzen und dann nur angeben, was getan werden soil, um diesen Zweck zu erreichen. Ob Gesetze, die dieses Ziel verwirklichen, sein sollen, hängt dann aber davon ab, ob das Ziel sein soil; dessen Richtigkeit bleibt nur behauptet. Die Behauptung grilndet auf Erfahrung; die Plausibilität der Behauptung auf dem Umstand, daß die Erfahrung vieler in diesem Punkt Ubereinstimmt. Allgemeine Giiltigkeit kann so aber nicht erzielt werden, denn die abwei342 343 344 345
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Kant, M d S , Rechtslehre, Einleitung § E ( W W VIII, S. 339 f.). Kant, M d S , Rechtslehre, Einleitung § B ( W W VIII, S. 337). Kant, M d S , Rechtslehre, Einleitung § C ( W W VIII, S. 337). D i e konkrete Ausgestaltung eines Rechtssystems bedarf freilich d e s Erfahrungswissens, etwa der Einsicht in die Verletzlichkeit des Menschen usw.; deshalb nennt Kant der den ersten Teil der Metaphysik der Sitten auch „metaphysische Anfangsgriinde Rechtslehre". Siehe auch Radbruch, Grundzüge, S. 2 4 ; ders., Rechtsphilosophie, S. 107 der darauf hinweist, daß nicht inhaltlich bestimmte Erkenntnisse oder Bewertungen das Produkt der reinen Vernunft, sondern immer nur das Produkt ihrer A n w e n d u n g auf bestimmte Gegebenheiten seien. „Allgemeingültig, gegenüber j e d e m gegebenen Rechtszustande anwendbar, ist nur die Methode, sich zum Recht nicht nur deskriptiv zu verhalten, aber nicht irgend eines ihrer Ergebnisse". Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, insb. vierter und sechster Satz ( W W XI, S. 37 ff., 40 f.). Vgl. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. I l l f.; Höffe, Einführung, S. 8; Naucke, Kant, S. 12 f.; Scholz, Das Problem des Rechts, S. 1 ff. Siehe Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 121 f.
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chende Haltung ist als bloße Tatsache nicht von der Mehrheitsmeinung unterschieden und auch die Tatsache, daß eine Einschätzung die der Mehrheit ist, kann ein Sollen fur den Abweichler nicht begründen. Der vielfach vorhandene Wunsch nach einem schiitzenden und den Abweichler zwingenden Recht kann also keine verpflichtende Wirkung entfalten. Aus tatsächlichen Verhältnissen kann sich ein Recht nicht ergeben349' 35°. Es ist deshalb jede voluntaristische Begriindung des Gesellschaftsvertrags ausgeschlossen. Der Gesellschaftsvertrag kommt bei Kant aber als Denkfigur, als Idee 351 der reinen praktischen Vernunft vor352. Die Idee des Staates entspringt folglich aus der Vernunft353 und der Gesellschaftsvertrag steht nur als Chiffre fur die Befugnis des Menschen, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können" 354 . Für das Problem der Selbstverantwortung des Opfers wird damit die bei Rousseau anfangende Linie weitergezogen, wonach die bestehende Konnexität von Täter- und Opfererklärung sich nicht mehr ohne weiteres als ein Argument dafür aufdrängt, einverständliche Verletzungen umfassend rechtlich freizustellen. Derm der empirische Wille der Einzelnen, im staatlichen Zustand vor den anderen sicher zu sein, ist gerade nicht mehr das staatsbegriindende Element.
Das wird auch deutlich daran, daß Kant die Geltung des Satzes von der ausschließlichen Gutheit allein des guten Willens nicht auf die Welt beschränkt, sondern auch fur den Bereich außerhalb derselben behauptet; siehe Kant, GMS, S. 393. Freilich kann der Sein-Sollens-Fehlschluß in seiner Unzulänglichkeit lediglich in seiner planen Unvermitteltheit eines Schlusses von bestimmten empirischen Umständen auf ein Sollen angesprochen sein. Die Ableitung eines Sollen aus einem Sein bleibt gleichwohl möglich und auch nötig, denn wollte man sie prinzipiell negieren, so ließe sich ein Sollen entweder iiberhaupt nicht begrilnden oder es ware - wenn nicht aus einem Sein - nur noch aus einem Nichts ableitbar; siehe Gerhardt, Individualität, S. 188 f.; ders., Selbstbestimmung, S. 360; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 72 f.; Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, S. 386, 398, 419 f., 432 ff. „Idee" hier nicht im Sinne einer zu realisierenden Aufgabe, sondern eben nur als Denkfigur oder Hilfsbegriff; siehe Wilhelm Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 102. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 48 f.; Hcffe, Immanuel Kant, S. 226 f.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 23 ff, 44 f, 325 (der auf die neuen systematischen Funktionen des Gesellschaftsvertrags hinweist, insb. S. 34 f); Lisser, Der Begriff des Rechts bei Kant, S. 18 ff; Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 150 ff.; Sinner, Der Vertragsgedanke, S. 44 f; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 150 f Zur Bedeutsamkeit dieses Umstands Harzer, Rechtstheorie 30 (1999), 127 ff. Eingehend zur Notwendigkeit des Staates und zum Staatsvertrag Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, S. 85 -157. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204.
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Der bevormundende Wohlfahrtsstaat Wolffscher Prägung wird auf der Grundlage der Kantischen Konzeption endgültig überwunden. Es werden die theoretischen Grundlagen dafür geschaffen, die Aufgaben des Staates auf das zum rechtlichen Zusammenleben Erforderliche zuriickschneiden und die Suche nach seinem Glück dem Einzelnen zu ilberlassen. „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet ware, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmiindige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glilcklich sein sollen, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus"KS. Und umgekehrt: „Die beste Regierungsform ist nicht die worinnen am bequemsten ist zu leben (Eudämonie), sondern worinnen dem Burger sein Recht am meisten gesichert ist"356. 1st Recht ein Inbegriff äußerer Freiheit, so gehört zum Begriff des Verbrechens die (wenn auch vermittelte) Verletzung von Freiheit. Der Inhalt des subjektiven Rechts ist „Freiheit von außervernünftigen Zwecken", so daß man von niemandem gezwungen werden darf, auf dessen Art glücklich zu sein357. So gelangt Kant auf neuer, erkenntniskritisch gesicherter Position zu einer Rechtsverletzungslehre, die zugleich aus ihrem Ableitungszusammenhang nicht nur den Verbrechensbegriff des Strafrechts auf die Verletzung subjektiver Rechte festlegt, sondern fur die eingreifende Staatstätigkeit insgesamt Beachtung verlangt, also auch den Umfang des Polizeistrafrechts zuriickschneidet3S8. Beschränkt sich das Recht auf Regeln zur Herstellung der Kompatibilität von Willkiirfreiheit, so liegt es auf den ersten Blick nahe, selbstverfugende Entscheidungen der Person nicht dem Bereich des Rechts zuzuschlagen, soweit das selbstverfugende Verhalten nur als solches - also gerade in seinem Selbstverfiigungssinn - Gegenstand der Beurteilung ist. Die damit schon angedeutete Sichtweise, die unten (2. Teil) auf der Grundlage der ATanrischen Überlegungen entwickelt wird, entspricht freilich in wesentlichen Teilen nicht der Position Kants. Da die Auseinandersetzung mit dessen Auffassung noch erfolgt, kann sich die Untersuchung an dieser Stelle damit zufrieden geben, Kants Rechtsverständnis skizziert zu haben. Kant hat allerdings die Frage der rechtlichen Bedeutsamkeit selbstverfügender Entscheidungen fur die (straf-) rechtliche Beurteilung des Verhaltens von Außenstehenden, das sich auf solche selbstverfugende Entscheidungen bezieht, nicht explizit behandelt. Die als naheliegend angedeuteten Konsequenzen der Kantischen Rechtsverletzungslehre wurden aber gerade auch fur das Strafrecht von anderen Autoren gezogen. 355 356 357 358
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 4 1 . Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Akademieausgabe, Bd. XXII S. 257. Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht, S. 15; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 92 f. Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 31.
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Das gilt zunächst fur Wilhelm von Humboldt, dessen 1792 verfaßte „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen"359, gerade auch darauf zielen, die Reichweite des Strafrechts aus Erwägungen zum Zweck des Staates zu begrenzen. V. Humboldt geht in diesem Bemühen weiter als die meisten Strafrechtler seiner Zeit360 und er stellt sich dabei in bewußte Nähe zu der liberalen, das Recht auf die Sicherung äußerer Freiheit beschränkenden Rechtsphilosophie Kants36'. Die „wahre Vemunft" könne dem Menschen keinen anderen Zustand wiinschen als einen solchen, „in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentiimlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne nach dem Maße seines Bediirfhisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt"362. Deshalb sei nicht die Förderung des Wohlstandes, sondern allein die Gewährung von Sicherheit der Burger gegen Angriffe der Mitbiirger oder gegen Angriffe von außen Zweck des Staates363. Die damit gewonnene Einschränkung ist aber, wie v. Humboldt erkennt, ohne genauere Kennzeichnung der zu erstrebenden Sicherheit364 und der zu ihrer Erreichung dem Staate zur Verftlgung stehenden Mittel noch unzureichend365. So sei es denkbar, die „Sorgfalt des Staats fur die innere Sicherheit der Burger untereinander" darauf zu beschränken, „begangene Unordnungen wiederherzustellen und zu bestrafen"; es sei aber auch denkbar, präventiv auf die Verhiitung von Störungen der Sicherheit hinzuwirken oder den Charakter der Burger zu diesem Zweck zu beeinflussen. Schließlich könne der Staat auf die Ahndung von „Beleidigungen der Rechte der Burger und unmittelbarer Rechte des Staates" beschränkt werden; „oder man kann, indem man den Burger als ein Wesen ansieht, das dem Staate die Anwendung seiner Kräfte schuldig ist und also durch Zerstörung oder Schwächung dieser Kräfte ihn gleichsam seines Eigentums beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben, deren Folgen sich nur auf den Handelnden selbst erstrecken". V. Humboldt wendet sich gegen gesetzliche Bemilhungen um eine Verbesserung der Sitten. Dabei ist er - wie Christian Wolff- der Auffassung, daß der End359
Vgl. dazu Cassirer, Freiheit und Form, S. 327 ff.; Schaffstein, Das Strafrecht in Willhelm v. Humbodts Schrift, S. 246 ff. Allerdings konnte das Werk auf seine Zeit kaum Wirkung entfalten, weil es zunächst nur in kleineren Teilen - zu denen der Abschnitt über „Kriminalgesetze" nicht gehörte - veröffentlicht worden ist; siehe dazu in d e m Abschnitt „ Z u m Text" bei W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 2 1 1 ; Schaffstein, Das Strafrecht in Wilhelm v. Humboldts Schrift, S. 266. in: F S fur 360 p r e j i ; c n auch weiter als die Staatsrechtler seiner Zeit, vgl. Böckenförde, Adolf Arndt, S. 55. 361 Vgl. zu dieser N ä h e Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 117 ff; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 55 ff. 362 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 2 8 (im Original kursiv). 363 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 52 57 ff. 364 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 115 ff. 365 Siehe, auch zum Folgenden, W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 66 ff.
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zweck des Menschen im Streben nach immer höherer Vollkommenheit bestehe; er wendet sich aber entschieden gegen die Vorstellung, daß der Staat dieses Ziel durch Gesetze erreichen könne366. Würden Gesetze der Sittenverderbnis auch wirksam entgegensteuem, so ware ein solcher Staat doch „immer ein Haufe ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur wo sie die Grenze des Rechts ilbertreten, gebundener Menschen"367. Die zu gewährleistende Sicherheit sei „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit"368. „Gestört wird die Sicherheit entweder durch Handlungen, welche an und fur sich in fremdes Recht eingreifen, oder durch solche, von deren Folgen nur dies zu besorgen ist"369. Mit dem Erfordernis einer Verletzung subjektiver Rechte kommt v. Humboldt also zu einer die gesamte Staatstätigkeit beschränkenden Rechtsverletzungstheorie, die auch den Umfang strafbaren Verhaltens - den Begriff des Verbrechens - auf solche Handlungen einschränkt, die der Sicherheit in dem genannten Sinn zuwiderlaufen370. Selbstverfugendes Verhalten, insbesondere auch die Bewilligung äußerlich verletzenden Verhaltens, greife in die Freiheit des Opfers nicht ein. So seien „Handlungen, welche sich allein auf den Handelnden beziehen oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen", nicht strafbar; „und es diirfte daher nicht nur keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Notzucht ausgenommen), sie möchten Ärgernis geben oder nicht, unternommener Selbstmord usf. bestraft werden, sondern sogar die Ermordung eines andren mit Bewilligung desselben müßte ungestraft bleiben (...)"371. Doch gelte fur die bewilligte Tötung deshalb eine Ausnahme, weil „die zu leichte Möglichkeit eines gefährlichen Mißbrauchs ein Strafgesetz notwendig" mache372. Die Beschränkung des Verbrechensbegriffs auf die Verletzung eines subjektiven Rechts auf Willkiirfreiheit wird damit auch fur die bewilligte Totung durchgehalten, denn nicht die Vornahme der bewilligten Verletzung soil das Strafunrecht begründen, sondern eine entsprechende Strafvorschrift wird als Gefährdungstatbestand zur Eindämmung des Risikos von Mißbräuchen interpretiert. Es ist weiter - und fur die Entwicklung des Strafrechts sicher bedeutsamer vor allem Paul Johann Anselm von Feuerbach, der aus der von ihm - in engem Anschluß an die Aufklärungsphilosophie und an Kantm - vertretenen, in der Fol-
366 367 368 369 370 371 372
373
Siehe W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 111 f., 22 ff. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 112. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 118 (im Original kursiv). W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 119. Siehe W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 153 ff. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 154 (Hervorhebung nur hier). W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, S. 154. Hier findet sich also bereits das „Mißbrauchs-Argument", das heute noch zur Legitimierung von § 216 StGB angeführt wird; siehe dazu insbesondere noch 4. Teil, IV, 2., a), aa), (3). Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 29 ff.; Blühdorn, Kant-Studien 64 (1973), 376 ff; Hälschner, System, § 62 Anmerk 1; Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff, S. 223 ff; eingehend Naucke, Kant, S. 62 ff.
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gezeit wirkmächtigen374 Rechtsverletzungslehre die Konsequenz der Straflosigkeit bewilligter Verletzungen gezogen hat. Fur Feuerbach ist der Naturzustand zwar kein Zustand der Rechtlosigkeit, aber der „Stand einer völligen äußern Gesetzlosigkeit, in welchem der Mensch nur zu dem Gehorsam gegen seine ihm von ihm selbst gegebenen Gesetze der Vernunft und Freiheit verpflichtet ist"375. In einem solchen Stand ist keiner - auch wenn kein ständiger Krieg aller gegen alle gefuhrt werden sollte - vor Attentaten der anderen sicher376. Um als verniinftiges Wesen zu existieren, miisse der Mensch aber im ungestörten Genuß seiner Rechte sein377. Die Schwierigkeit liege also darin, einen „Stand der Sicherheit" aufzufmden, „in welchem der Mensch so frei ist, als er es seiner vernünftigen Natur gemäß sein soil"378. Dieser Zustand ist bei Feuerbach - im Gefolge von Kant - nicht lediglich wiinschenswert, sondern seine Herbeiflihrung sei ein Gebot der reinen Vernunft. Das aus reiner Vernunft stammende379 „letzte Gesetz der Gerechtigkeit" laute: „Der Gebrauch der Freiheit eines vernilnftigen Wesens darf dem Gebrauche der Freiheit jedes andern vernünftigen Wesens nicht widersprechen"380. Da die Behauptung dieser (äußeren381) Freiheit fur den Menschen Pflicht sei, so sei es auch seine Pflicht, in den Stand einzutreten, in dem die Behauptung der Freiheit möglich sei382. Auch die Errichtung der biirgerlichen Gesellschaft und des Staates als „organisierte biirgerliche Gesellschaft" seien mithin Pflicht383. Daraus folge zugleich der Zweck des Staates, nämlich „die Errichtung eines rechtlichen Zustandes, der Schutz der wechselseitigen Freyheit Aller"384. Die nach dem „letzte(n) Gesetz der Gerechtigkeit" beschränkte äußere Freiheit ist fur Feuerbach mit dem Recht identisch385. Hat der Staat die Aufgabe, den Rechtszustand - also die dem Burger zustehende äußere Freiheit - zu sichern, so widersprechen Verletzungen dieser Freiheit dem Staatszweck386. Dementsprechend werde der Begriff des Verbrechens erst im 374
375 376 377 378 379 380
381
382 383
384 385 386
Zusammenfassend dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 2 8 ff.; Sina, D o g m e n g e schichte, S. 9 ff.; Olaf Hohmann, Das Rechtsgut, S. 10 f; ferner Birnbaum, N e u e s Archiv des Criminalrechts 1834, 156. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 17 f. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 16 ff. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl. § 9. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 19 f. (im Original kursiv). Siehe dazu auch Gallas, P.J.A. Feuerbach, S. 18 f. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 13 f. (im Original kursiv); ders., Revision, 1. Teil, S. 2 6 : „Das höchste Prinzip fur alles, was äußerlich recht ist, ist nur, daß die Freiheit eines j e d e n mit der Freiheit aller bestehe, daß jeder die freye Ausiibung seines Rechts habe, und keiner die Rechte des andern beeinträchtige". Daß die „äußere" Freiheit gemeint ist, folgt aus Feuerbachs Rechtsverständnis, siehe Naucke, Kant, S. 45 f. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 14 f. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 9. Ausfuhrlich zur Unterscheidung in bürgerlichen Vertrag und Unterwerfungsvertrag Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 2 0 ff. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 9; ders., Revision, 1. Teil, S. 39. Siehe Naucke, Kant, S. 46. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 10.
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Staat möglich, „wo der Burger, durch eine einem Strafgesetz unterworfene Rechtsverletzung den Wechselvertrag zwischen ihm und dem Staate bricht"387. Aus dem Zweck des Staates folge, daß es „nicht das Pflichwidrige und Sündige, sondern allein die Gefährlichkeit und Schädlichkeit der That, (fur den rechtlichen Zustand)" sei, „welche der Staat bestraft"388. Verbrechen sei danach „eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem vollkommenen Recht widersprechende Handlung"389. Damit sei aber erst ein Begriff des Verbrechens im weitesten Sinne gewonnen. Das Verbrechen im engeren Sinne (das Kriminalunrecht) verlange die Verletzung einer unmittelbar durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Verbindlichkeit des Burgers, während das Vergehen (Polizeiverbrechen) zwar ebenfalls vollkommene, aber erst durch Polizeigesetze begriindete Verbindlichkeiten gegen den Staat verletze390. Also: „Durch Verbrechen werden die ursprünglichen Rechte des Staats oder des Burgers; durch Vergehen wird nur das Recht des Staats, fur ein bestimmtes gegebenes Polizeygesetz Gehorsam zu fordern, verletzt"391. Unmittelbarer Gegenstand eines Verbrechens könne das Recht eines anderen entweder in Form staatsvertraglich gesicherter Freiheit zur Disposition iiber Naturkräfte (persönliche Verbrechen) oder ein Sachenrecht sein392. Nach dieser Rechtsverletzungslehre ist das Verbrechen also durch die Verletzung subjektiver dem Einzelnen nach dem Staatsvertrag zustehender - Rechte gekennzeichnet. Oder gleichbedeutend: Das Verbrechen verletzt die nach dem Staatsvertrag dem anderen zustehende äußere Freiheit. Aus diesem Verständnis des Verbrechens hat Feuerbach die Konsequenzen gezogen: es sei „kein Verbrechen vorhanden, wenn der Berechtigte die seinem Recht widersprechende und durch ein Strafgesetz bedrohte Handlung ausdriicklich erlaubt (Volenti non fit injuria)"393. Diesen Ansatz halt Feuerbach zunächst sogar fur das Lebensrecht durch: Das Verbrechen der Tötung setze voraus, daß „die Totung eine wirkliche Rechtsverletzung des Burgers enthalte. Totung mit Einwilligung des andern ist daher kein Verbrechen"394. Ebenso395 urteilt Sttibel, der ebenfalls - entsprechend der Kantischen Bestimmung - jede Handlung fur Recht halt, welche „mit der äußeren Freiheit 387 388 389
390 391 392 393 394 395
Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 26. Feuerbach, Revision, 1. Teil, S. 66. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 2 6 . Später (Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 2 1 ) formuliert er schon in einem engeren Sinne: Verbrechen sei „eine unter einem Strafgesetze enthaltene Beleidigung oder eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Rechte eines Anderen widersprechende Handlung". Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 27. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 27. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., §§ 37 f. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 40. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 245, § 4 0 Anm.*. A u c h fur Tittmann folgt aus dem Charakter der Straftat als Freiheitsverletzung, daß ein solcher Eingriff nicht vorliegt, wenn er mit Bewilligung des Rechtsgutsinhaber vorgen o m m e n wird: „Entziehung eines Rechtes nach gegebener Erlaubnis dazu von Seiten
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keines Menschen streitet"396 und deshalb eine Rechtsverletzung zu Lasten eines Einwilligenden - auch wo die Einwilligung sich auf einen Eingriff in das Leben bezieht - fur ausgeschlossen halt397. Dabei ist Stiibel allerdings durchaus der Auffassung, daß bestimmte Rechte, zu denen auch das Lebensrecht gehöre, unveräußerlich seien. Anders als später Feuerbach (dazu sogleich) folgert er daraus aber nicht die Irrelevanz von selbstverftigenden Entscheidungen, die sich auf unverfugbare Güter beziehen. Jedoch kniipft er die unrechtsausschließende Wirkung nicht unmittelbar an die Einwilligung an, denn diese sei als Verfugung über ein unverfugbares Gut ungiiltig39S. Die Einwilligung sei aber nicht bloß (unwirksame) Verfugung, sondera sie entfalte „mittelbare rechtliche Wirkungen" in dem Sinne, als der Einwilligende auf die Ausilbung eines Rechts verzichte. Da nun die Verletzung eines Rechts gerade in der Verhinderung von dessen Ausiibung liege, stehe dieser Ausiibungsverzicht einer Rechtsverletzung entgegen399. - Nun ist freilich nicht zu bestreiten, daß die Einwilligung bei Verfugungen etwa ilber das Leben keinen „Anspruch" des Einwilligungsempfängers schafft, den Einwilligenden zu töten400. Auch wächst dem Einwilligungsempfanger nicht gleichsam das verfügte Recht als eigenes zu401. Mit „Verfugung" ist hier nichts anderes gemeint, als die Aufhebung eines sonst entgegenstehenden rechtlichen Verbots - in diesem Sinne läßt sich aber auch nach den Ausführungen Stiibels nicht von einer Unverfugbarkeit etwa des Lebens sprechen. Halt man bestimmte Rechte fur unverfugbar, dann ist es konsequenter, die später von Feuerbach gezogenen Schlußfolgerungen zu ziehen:
396 397
398 399 400 401
des Rechtsinhabers kann in dem Staate wohl für unerlaubt erklärt werden (etwa wegen der daraus entstehenden Unsicherheit, weil der Beweis der Einwilligung nicht allemal leicht ist,) allein der Begriff eines Verbrechens oder Vergehens wird dadurch nothwendig aufgehoben. Die Behauptung des Gegentheiles kann sich nur auf die Vorschrift des Sittengesetzes griinden, welches aber bei der Entscheidung nach dem Rechte keine Stimme hat" (Tittmann, Grundlinien, § 28 Anm. c). Das gelte auch fur eine Tötung mit Einwilligung des Getöteten, die nur als Polizeivergehen gestraft werden könne (Tittmann, Grundlinien, § 120 Anm. b). Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 5 73. Stiibel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 570 ff. Der Umstand, daß selbstverletzende Handlungen nach Stiibels Auffassung (Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 [1827], 568 ff, 577) Polizeivergehen - und das Verhalten eines Außenstehenden Teilnahme hieran - sein können, wird dagegen nicht mit der bewilligten Rechtsverletzung begründet, sondfirn damit, daß bestimmte Eingriffe Rechte anderer mittelbar verletzen oder auf die Wohlfahrt des Staates nachteiligen Einfluß nehmen können. So hänge z. B. das Wohl des Staates davon ab, „daß die Mitglieder desselben nicht als an Leib und Seele geschwächte und ungesunde oder verkriippelte Menschen herumschleichen". Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 560 f, 570 ff. Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 571. Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 558. Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 559.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
In späteren Auflagen seines Lehrbuchs hat Feuerbach seine anfänglich vertretene Auffassung eingeschränkt. Zwar bleibt er bei dem Grundsatz, die Person könne „durch erklärten Willensakt Rechte aufheben", weshalb „die Erlaubnis zur That von Seite des Verletzten den Begriff des Verbrechens" aufhebe402. Neu ist aber die Einschränkung: „Nur muß das Recht, gegen welches der Erlaubnis gemäß die Handlung gerichtet ist, der (rechtlich) möglichen Verfugimg des Verletzten unterworfen sein. 1st das Recht an sich der freien Willkür des Berechtigten entzogen (...), so ist die Erlaubnis onne rechtliche Wirkung"403. Die frliher vertretene Straflosigkeit der bewilligten Fremdtötung nimmt er vor diesem Hintergrund ausdriicklich zuriick404. Freilich bleibt undeutlich, wie sich diese Unverfugbarkeit iiber gewisse Rechte in Feuerbachs Rechtsbegriff einfugt, derm um den Nachweis, daß die Realisierung bestimmter selbstverfugender Entscheidungen durch einen Außenstehenden die Kompatibilität der Willkilrfreiheiten der Beteiligten beeinträchtige, bemüht sich Feuerbach an dieser Stelle nicht. Ein Verständnis von „Unverfugbarkeit", das sich in verwandtem Zusammenhang andeutet, bezieht sich nicht auf das individuelle Recht des Menschen, sondern auf Interessen des Staates, die durch eine selbstverfugende Entscheidung tangiert sein können. Ein solches Verständnis liegt offenbar Feuerbachs Ausfiihrungen zur Selbsttötung zugrunde405: „Das Recht der freien Disposition selbst ilber das Leben hört auf mit dem Eintritt in den Staat. Der Burger verpflichtet seine Kräfte und sein Leben zur Mitwirkung fur den öffentlichen Zweck. Er darf daher so wenig dem Staate durch Selbstmord sich entziehen, als er sonst einseitig seinen Bilrgervertrag aufheben kann"406. Eine Bestrafung lehnt er jedoch wegen der Sinnlosigkeit der Strafandrohung einerseits407 und wegen des Fehlens eines gesetzlichen Tatbestandes andererseits ab408. Freilich riihren diese pragmatischen und rechtsstaatlichen Einwände nicht an der konstruktiven Möglichkeit, die Selbsttötung als Verbrechen zu begründen. Die Unvereinbarkeit dieser, bereits in der ersten Auflage seines Lehrbuchs vertretenen Auffassung, mit der anfänglichen Behandlung der bewilligten Fremdtötung ist offensichtlich409. Die Änderung der Auffassung zur bewilligten Fremdtötung läßt sich vor diesem Hintergrund als Bemti-
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Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 35. Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 35. Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 35 Anm. 2. Zur Behandlung der Selbsttötung in der französischen Aufklärung Beckert, Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 68 ff.; allgemein zur Behandlung der Selbstverletzung in der Aufklärung Mobbing, Strafwiirdigkeit der Selbstverletzung, S. 31 ff. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 276; siehe auch Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 2 4 1 . Dagegen Hepp, Lehren der Strafrechtswissenschaft, S. 194 f. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 656 f. So auch schon Beccaria, fiber Verbrechen, XXXII. Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 276 f. In diesem Sinne denn auch Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 Bd. (1830), 75.
I. Der Verbrechensbegriff der Aufklärung und die Selbstverantwortung des Opfers
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hen um die Aufhebung dieses Widerspruchs lesen. Jedenfalls ist dieses Verständnis von „Unverfligbarkeit" mit der Rechtsverletzungstheorie Feuerbachs deshalb kompatibel, weil nicht die Selbstverfiigung als solche, sondern die Beeinträchtigung gewisser staatlicher Interessen Grund der Freiheitseinschränkung ist. Freilich läßt sich auch ein von der Aufklärungsphilosophie im Gefolge von Locke geprägtes410 oder ein auf Kant zurückgehendes Verständnis von Unverfligbarkeit bezogen auf das jeweilige Individualrecht als solches (also nicht um bestimmter Belange der Allgemeinheit willen) denken. Für eine solche, den Schutz der Rechte des Einzelnen um seiner selbst willen in den Blick nehmende Interpretation spricht die Regelung zur Einwilligung in dem stark von Feuerbach geprägten Bayehschen Strafgesetzbuch von 1813. Dort heißt es (Art. 123): „Eine unter Strafe verbotene Handlung wird wegen einer von dem Beschädigten dazu erteilten stillschweigenden oder ausdriicklichen Erlaubnis weder straflos, noch in minderem Grade strafbar. Handlungen, welche bloß auf Verlust oder nicht gemeingefahrliche Beschädigung des Eigentums gerichtet sind, werden durch die von dem Beschädigten dazu erteilte Erlaubnis unsträflich". In den Anmerkungen zum Bayerischen Strafgesetzbuch heißt es dazu: Die Erlaubnis des Beschädigten kann eine Handlung nicht weiter straflos machen als der Beschädigte die Macht hat, ilber den Gegenstand nach Willkiir zu verfligen. Niemand kann willkürlich über sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre verfügen; die Erlaubnis des Entleibten macht daher den Todschlag weder unsträflich noch minder strafbar"411. Die Verfugbarkeit sollte hier wohl unabhängig von staatlichen Interessen mit Blick auf die Bedeutung der genannten Rechte für die Person selbst ausgeschlossen werden. Schließlich ist es auch möglich, daß Feuerbach den in den meisten deutschen Rechtsordnungen der Zeit vorfmdlichen Normen zur Strafbarkeit der bewilligten Fremdtötung eine gesetzgeberische Entscheidung zugunsten der Unverfligbarkeit des Lebensrechts entnommen hat und mit seinem Hinweis auf die Unverfligbarkeit dieses Rechts lediglich diese positivrechtliche Festlegung beriicksichtigen wollte. Derm wenn auch Feuerbach der Philosophie eine gewisse Leitfunktion fur die Schaffung und die Auslegung des positiven Rechts zugebilligt hat412, sah er deren Bedeutung doch durch die positiven gesetzlichen Besimmungen beschränkt413. Die rechtsphilosophische Begrtindung von Grenzen der Verfligbarkeit über solche Rechte, die allein der individuellen Person zustehen, ist Feuerbach jedenfalls letztlich schuldig geblieben. Nachdem die Lockesche Konzeption unverfügbarer Rechte - insbesondere in ihrer Wendung gegen den Träger der Rechte selbst Freilich schon in dem oben (2. a) skizzierten, nicht mehr nur gegen des Staat, sondern auch gegen den Rechtsträger selbst gewendeten Verständnis von Unverfugbarkeit. Anmerkungen zu Art. 125; das Spannungsverhältnis zur Begrilndung der Straflosigkeit des Selbstmordes (Anmerkungen zu Art. 142; dazu oben) ist nicht zu übersehen. Kritisch zu Art. 123 BayStGB Stübel, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 9 (1827), 578 f. Siehe dazu Blühdorn, Kant-Studien 64 (1973), 376 ff.; Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff, S. 223 ff.; Mittermaier, in: Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., Note I zu § 2. Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch, 14. Aufl., § 5.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
keine tragfähige Grundlage aufweist (sich vielmehr auf jenseitige Verbindlichkeiten berufen muß), hängt alles davon ab, ob die bei Kant angesprochenen Grenzen der Verfligungsmacht tragfahig sind. Darauf wird zuriickzukommen sein.
II.
Die Verletzung des Rechts als Recht - der Verbrechensbegriff der Hegelianer und das Prinzip der Opferselbstverantwortung
Recht ist fur Hegel das „Dasein des freien Willens"414. Ein Moment dieses freien Willens, nämlich soweit er abstrakter Wille bleibt, kennzeichnet die Person415. Als allgemeines Rechtsgebot kann Hegel deshalb formulieren: „sei eine Person und respektiere die anderen ah Personen"416. Das Verbrechen verletzt nach Hegel „das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht"417. Gegenstand der Verletzung ist damit das Recht selbst, aber - nach der Begründung des allgemeinen Rechtsgebots zwingend - in Gestalt des je konkreten allgemeinen Willens (das „Unendliche im Prädikate des Meinigen"418). Die Hegelianer haben sich diesen Verbrechensbegriff zu eigen gemacht419. Im Unterschied zur Konzeption Feuerbachs geht es den Hegelianern nicht mehr um die Verletzung eines subjektiven Rechts420, sondern um den „Bruch des Rechts" überhaupt (Abegg)421, um „die Verletzung des Rechts als Recht" (Köstlin)422 und bei Hälschner heißt es, daß das Verbrechen „das Recht an sich, als eine das menschliche Wollen und Handeln bestimmende sittliche Macht zu seinem Objecte hat"423.
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Hegel, Grundlinien, § 29. Z u m freien Willen als „Einzelheit", die Allgemeinheit und Besonderheit in sich vereint, a.a.O., § 5-7. Hegel, Grundlinien, § 35 mit Zusatz: „Die Person ist also das Subjekt, fur d a s diese Subjektivität ist, denn in der Person bin ich schlechthin fur mich: sie ist die Einzelheit der Freiheit im reinen Flirsichsein". Hegel, Grundlinien, § 36. Hegel, Grundlinien, § 95. Hegel, Grundlinien, § 95. Zur Rezeption //ege/ianischer Philosophic im Strafrecht vgl. Loening, Z S t W 3 (1883), 349 ff. (Anm. 11). Siehe zu Kritik an der ilberkommenen Rechtsverletzungslehre etwa Abegg, Untersuchungen, S. 60; Hälschner, System, § 57 Anmerk. Abegg, Lehrbuch, § 6 3 ; ders., System, § 6 1 ; ders., Untersuchungen, S. 57 f.: Das Charakteristische eines Verbrechens sei, daß „ein Individuum sich mit subjektiver Gesinnung der Objektivität des allgemeinen Rechts und Gesetzes entgegen, und über dasselbe hinwegsetze, u m seine verwerfliche Willkür an die Stelle des allgemeinen gesetzlichen Willens in die Erscheinung treten zu lassen". Köstlin, N e u e Revision, § 6; ders., System, § 5. Hälschner, System, § 57.
II. Die Verletzung des Rechts als Recht - der Verbrechensbegriff der Hegelianer
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Als „Dasein des freien Willens" ist das Recht freilich nicht auf das abstrakte Recht als einer ersten „Weise der Freiheit"424, soweit es nämlich die Erlaubtheit bestimmter Handlungen betrifft425, beschränkt, sondern es ist - wie in dem Zitat von Hälschner auch angedeutet - erst in der Sittlichkeit angemessen begriffen. Dieser Zusammenhang läßt sich von Hegels Staatsverständnis her entwickeln. Hegel weist das Modell eines Gesellschaftsvertrages ab; die Mitgliedschaft in einem Staat sei nicht von der Willkiir des Einzelnen abhängig, sondern entspreche der „verniinftigen Bestimmung des Menschen"426. Der Gesellschaftsvertrag wird auch nicht mehr - wie bei Kant - als Idee der Vernunfit anerkannt, durch die das Erfordernis plastisch wird, daß das Recht auf die Vernunft jedes Einzelnen rückführbar sein muß. Bei Hegel hat iiberhaupt ein Denken sein Ende, in dem der Staat als eine potentielle Bedrohung der Freiheit begriffen wird, die durch eine Begrenzung seiner Aufgaben und des staatlichen Rechts auf die Gewährung von Sicherheit und Selbsterhaltung der Burger gemeistert werden soil. Vielmehr sei „der Schutz und die Sicherung des Lebens und Eigentums der Individuen als einzelner" nicht „unbedingt sein (des Staates, der Verf.) substanzielles Wesen"427. „Der Staat an und fur sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei"428. Der Staat sei „das Höhere"429, das nicht um der je Einzelnen willen da ist, sondern er sei „das an und fur sich Verniinfiige"430. Der Staat geht auf das Sittliche iiberhaupt und er ergreift den Menschen entsprechend umfassend431. „Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur darin sein Wesen. Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat"432. Abweichende Selbstorientierung des Einzelnen ist in seiner Besonderheit von vornherein kein Argument filr eine Begrenzung staatlicher Rechtsmacht. Das besondere Interesse soil „mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden"; im Staat kommen Allgemeinheit und Besonderheit zur Einheit433. Als das Allgemeine geht es im Recht nicht um den Schutz individueller Willkiir im Rahmen ihrer Kompatibilität, wie es dem Konzept eines „Not- und Verstandesstaates" entspricht434. Die Selbstdefmition des 424 425 426 427 428
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Hegel, Grundlinien, § 33 Zusatz. Hegel, Grundlinien, § 38. Hegel, Grundlinien, § 75 Zusatz, § 100, § 258. Hegel, Grundlinien, § 100, 258; siehe dazu auch Baruzzi, Einfuhrung in die politische Philosophie, S. 216. Hegel, Grundlinien, § 258 Zusatz. Dabei ist freilich zu beachten, daß Hegel damit nicht jedem einzelnen Staat diese Qualität zusprechen wollte, sondern eine Idee des Staates charakterisiert, siehe ebenda; ferner Baruzzi, Einfuhrung in die politische Philosophie, S. 221 f.; Hösle, Hegels System, S. 556 f. Hegel, Grundlinien, § 100. Hegel, Grundlinien, § 258. Siehe auch Baruzzi, Einfuhrung in die politische Philosophie, S. 222 f. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 111. Hegel, Grundlinien, § 261 mit Zusatz. Der fur Hegel, Grundlinien, § 183 nur der „äußere Staat", die bilrgerliche Gesellschaft ist. Deren Einrichtung ist lediglich eine Forderung des Verstandes, nicht schon der Vernunft.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Einzelnen kann einen rechtlichen Anspruch auf Anerkennung nur dann einfordern, wenn sie auf das Allgemeine geht. „Worauf es ankommt ist, daß sich das Gesetz der Vernunft und der besonderen Freiheit durchdringe und mein besonderer Zweck identisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft"435. Henrich formuliert vor diesem Hintergrund treffend: „Der einzelne Wille, den Hegel den 'subjektiven' nennt, ist in die Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und tlberhaupt nur insofern gerechtfertigt, als diese selbst es sind"436. Begreiflich wird diese Überhöhung der Institutionen, insbesondere des Staates, nur aus dem Gesamtsystem Hegels. Dessen Programm ist die Aufhebung der Kantischen Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit, von theoretischer und praktischer Vernunft, von Sein und Sollen437. Diese Aufhebung kann nur gelingen, wenn die Vernunft in der äußeren Wirklichkeit nicht auf das unübersteigbar Andere (das Ding an sich) und damit an ihre Schranken stößt, sondern sich gleichsam selbst fmdet. Diese Einheit der Vernunft - das Wahre als das Ganze438 bedeutet die Existenz einer absoluten Vernunft oder: des Geistes439. Die von Hegel gedachte Vernunft der (geschichtlichen) Wirklichkeit ist freilich nicht in allem Vorhandenen in gleichem Maße anwesend; allein das Geistige ist das Wirkliche440. Das Absolute ist „wesentlich Resultat", es ist „erst am Ende das (...), was es in Wahrheit ist"441. Es gibt also eine Teleologie der (dialektisch verlaufenden) Entwicklung auf das Absolute, den Geist hin. Fiir das Recht ist das telos dieser Entwicklung die Idee des Rechts. Denn die Vernunft eines Gegenstandes ist als Idee442. Und weil diese Vernunft die Wirklichkeit des Gegenstandes ist, ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft als eines Teils der Philosophie, „der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen", was bedeute, die Idee „aus dem Begriffe zu entwickeln"443. Das Recht als Dasein der Freiheit hat seine Wirklichkeit weder allein im abstrakten (oder gleichbedeutend: formellen) Recht, das auf die Besonderheit des Willens noch keine Riicksicht nimmt und nur die äußere Seite der Freiheit betrifft444, noch allein in der Moralität als der Sphäre subjektiver Einzelheit445. Zur
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Hegel, Grundlinien, § 265 Zusatz. Henrich, Vernunft in Verwirklichung, S. 3 1 . Z u diesem Programm insgesamt Hegel, Phänomenologie, Vorrede; zur Kritik an einer Auffassung, die das Erkennen gleichsam auf die eine Seite und das Absolute auf die andere Seite stellt, siehe a.a.O., S. 68 ff. In der bekannten Formulierung aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie (S. 24) hat Hegel diese Einheit angesprochen: „Was verniinftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernilnftig". Hegel, Phänomenologie, S. 24. Hegel, Phänomenologie, S. 28. Hegel, Phänomenoiogie, S. 28. Hegel, Phänomenologie, S. 24. Hegel, Grundlinien, § 2. Hegel, Grundlinien, § 2. Hegel, Grundlinien, § 3 4 ff., auch § 33 Zusatz. Hegel, Grundlinien, § 105 ff, auch § 33 Zusatz.
II. Die Verletzung des Rechts als Recht - der Verbrechensbegriff der Hegelianer
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Einheit und Wahrheit - oder: zur „Idee der Freiheit"446 - kommen diese Momente erst in der Sittlichkeit447. Der sittliche Geist nun findet im Staat gleichsam seinen höchsten Punkt. Die Freiheit, die das Recht ist, kann folglich nicht dem Staat konfrontiert werden, weil sie nur im Staat wirklich ist448 - „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee"449. Im so in seiner Stärke begründeten Staat als Institution sind freilich seine Momente enthalten450. Die Besonderheit ist ihm wesentlich, weshalb das Individuum „in seiner Pflichterflillung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden" müsse451. Aber dies eben immer in der schon aufgezeigten Weise, daß das Besondere im Staat mit dem Allgemeinen zur Übereinstimmung gebracht und damit im //ege/schen Sinne „aufgehoben" wird. Diese Übereinstimmung des Besonderen mit dem Allgemeinen ist nun in gewissen selbstverfugenden Entscheidungen nicht herzustellen. Hegel hat solche „substanziellen Bestimmungen" fur „unveräußerlich" gehalten, „welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion"452. Filr das Leben hat er ausgefuhrt: „Die Entäußerung oder Aufopferung desselben ist vielmehr das Gegenteil, als das Dasein dieser Persönlichkeit"453. Dazu gebe es kein Recht. Die Annahme eines solchen Rechts fuhre auch in einen Widerspruch, denn es wiirde bedeuten, „die Person habe ein Recht iiber sich. Dieses hat sie aber nicht, denn sie steht nicht liber sich und kann sich nicht richten". Hösle hat den Gedanken, daß die Preisgabe von die Person konstituierenden Giitern das Rechtsgebot des Selbst-Versonseins verletzen, sogar in dem Sinne weiter geführt, daß ihm eine Strafbarkeit des Suizids im Rahmen von Hegels Philosophie zumindest möglich erscheint454. Tatsächlich bejaht Hegel gegeniiber Strafgefangenen ein Recht des Staates, deren Leben durch Zwangsgewalt zu erhalten455. Doch dies fmdet seine Begründung in der Notwendigkeit der Strafe selbst, hängt also mit dem Be-
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Hegel, Grundlinien, § 142. Hegel, Grundlinien, § 33. Henrich, Vernunft in Verwirklichung, S. 31. Hegel, Grundlinien, § 257. Hegel, Grundlinien, § 260. Hegel, Grundlinien, § 261; siehe dazu auch Hösle, Hegels System, S. 559 f.; Isensee, in: FS für Heckel, S. 749. Hegel, Grundlinien, § 66. So auch fur das „Verbot zur völligen Selbstaufhebung des Freiheitsvermögens (z. B. Selbsttötung, Selbstversklavung etc.)" Michael Köhler, AT, S. 14. Dazu und zum Folgenden Hegel, Grundlinien, § 70 mit Zusatz; siehe auch Jakobs, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 463 f. Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 27 f. Hegel, Grundlinien, zu § 95.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen griff des Verbrechens zusammen, durch den die Stellung als Strafgefangener begründet ist456.
Doch ist zu beachten, daß die Begründung der rechtlichen Unerlaubtheit bestimmter selbstverfügender Entscheidungen im Vorstehenden in den Kontext des Staates und damit der Sittlichkeit gestellt wurde, während Hegel die zitierten Überlegungen bereits zum abstrakten Recht anstellt457. Doch allein im Kontext der Sittlichkeit läßt sich das Unrecht der Selbsttötung mit den von Hegel vorgetragenen Argumenten systemimmanent überzeugend begründen. Wenn nämlich der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee ist, dann wird es einsichtig, daß sich der Einzelne in seiner Besonderheit dem weder partiell (etwa durch Selbstverstiimmelung) noch vollständig (durch Suizid) entziehen kann, ohne von dieser Wirklichkeit abzufallen458. Hiermit in Übereinstimmung haben die Hegelianer die dem Allgemeinen widersprechende Selbstverfilgung als unsittlich charakterisiert459. Für das abstrakte Recht dagegen, das die äußeren Verhältnisse der Menschen untereinander betrifft460, haben sie festgehalten, daß Selbstverfligungen als solche nicht die Sphäre des Rechts erreichen. So schreibt Hälschner: „eine Beschädigung der als unveräußerliche Wesensbestimmtheiten der Person erscheinenden Rechte ist, vom Beschädigten selbst veriibt, nie eine strafbare Rechtsverletzung, weil eine solche an sich unsittliche Handlung ilberhaupt nicht in die eigenthümliche Sphäre des Rechtes, das sociale Leben der Menschen, bestimmend eingreift"461. Die Selbsttötung sei danach zwar eine unsittliche, aber keine verbrecherische Handlung462. Diese Beschränkung des abstrakten Rechts auf das Soziale greift aber freilich dort nicht ein, wo die Verletzung im interpersonalen Verhältnis stattfindet, also Fremdverletzung auf der Grundlage einer zustimmenden Erklärung des Opfers ist. Die zustimmende Erklärung kann hier das Verhalten des Außenstehenden nicht zu einem rechtlich erlaubten machen, wenn sie nur im Besonderen bleibt, also nicht freiem Willen, sondern bloßer Willkür463 entspringt464. Nun ist die Verfügung über 456
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Deshalb ist es auch verfehlt, wenn Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 27, das Recht zur Zwangsernährung von Strafgefangenen als Ausdruck allgemeiner und zwar auch rechtlicher Mißbilligung des Suizids interpretiert. Vgl. zu diesem „Vorgriff' auch Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 463 ff. Die von Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 464 f. vorgetragene Überlegung, im modernen Staat sei Sittlichkeit kein Staatsinhalt mehr, steht außerhalb der Konzeption Hegels. Siehe Abegg, Lehrbuch, § 103; Köstlin, System, § 36; Hälschner, System, § 63. Siehe dazu auch Seelmann, JuS 1979, 688. Hälschner, System, § 63. Ähnlich Abegg, Lehrbuch, § 103; ders., Untersuchungen, S. 72 ff.; Köstlin, System, § 36; Siehe Abegg, Lehrbuch, § 103; ders., Untersuchungen, S. 72 ff; Köstlin, System, § 36; Hälschner, System, § 63. Hegel, Grundlinien, § 15. Was freilich umgekehrt immer bedeutet, daß es an einer Verletzung des Rechts dort fehlt, w o eine Einwilligung sittlich gerechtfertigt ist, wie dies etwa bei der Einwilli-
II. Die Verletzung des Rechts als Recht - der Verbrechensbegriff der Hegelianer
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die die Person konstituierenden „substantiellen Bedingungen"465 nach den oben bereits zitierten Ausflihrungen Hegels gerade nicht Ausdruck eines freien Willens, zu dem es gehört, daß er „das über seinen Gegenstand übergreifende, durch seine Bestimmung hindurchgehende Allgemeine" ist466. Weicht er von der Allgemeinheit ab, so kann die Erklärung des Opfers nichts daran ändern (sie ist unfrei), so daß die Person - und in ihr das Recht - verletzt wird. Filr das Lebensrecht heißt es in einer Anmerkung zu § 66: „Auch das Recht zu leben ist unveräußerlich, d.i. fur die Willkür. Es verkauft sich einer, zum Tode; - Geld fur seine Familie oder sonstige Verwendung. - Der ihn kauft und tötet, verstümmelt, [ist] Mörder"467. Die Auffassungen der Hegelianer bewegen sich in diesem Rahmen. Nachdem die „Verletzung des individuellen Willens" nicht „das wesentlich Verbrecherische"468 bilde, könne der individuelle Wille als solcher den Verbrechenscharakter des bewilligten Eingriffs noch nicht ausschließen. Nur wo die Verfugung der Sittlichkeit nicht zuwiderläuft, etwa bei der Verfugung über einzelne Gegenstände des Vermögens, komme ihr Relevanz deshalb zu, weil sie mit dem Allgemeinen in Einklang stehe469. „Diejenigen Rechte dagegen, welche sich wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und auch die Vermögensberechtigung selbst, sofern sie in ihrer Allgemeinheit aufgefaßt wird, als Wesensbestimmtheit der Person darstellen, sind einer jeden rechtlichen Verfugung durch den Berechtigten selbst entzogen, und darum kann durch dessen Einwilligung eine rechtliche Dispositionsbefugnis über diese Giiter nicht iibertragen werden"470. Trotz Einwilligung bleibt hier also die „Verletzung gleichwohl Unrecht gegen den dem unverniinftig wollenden Individuum immanenten Begriff der Persönlichkeit"471. Im Gefolge der Hegelschen Philosophie hat also die Unterscheidung von verfugbaren und unverfugbaren Rechten der Person, die im Ausgang von der Kanhschen Rechtslehre nicht überzeugend zu begriinden war, einen Sinn dadurch erhalten, daß das Allgemeine im Recht nicht Kompatibilität von Willkürfreiheit, sondern die Wirklichkeit der sittlichen Idee im Staate ist. Fragt man nach der Tragfahigkeit dieses Konzepts fur das Recht der Gegenwart, so kann man mit gutem Grund bestreiten, daß fur den Staat unter dem Grundgesetz Sittlichkeit ein Staatsinhalt ist472. Aber den zentralen Punkt der Hegelschen Philosophie trifft dies nicht. Denn unabhängig davon, ob und welche Antworten der moderne Staat auf Fragen der Sittlichkeit gibt: jedenfalls kann er nach den Hegelschen Vorgaben die Antworten geben. Der Einzelne bleibt im Prinzip von der Ordnung der Institutio-
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gung in einen Heileingriff der Fall ist; siehe dazu etwa Hälschner, System, § 62 Anmerk. 2 (S. 237). Hegel, Grundlinien, § 66. Hegel, Grundlinien, § 24. Hegel, Grundlinien, § 66 Anm. Entsprechende Erwägungen unter Berufung auf Hegel bei Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 50 ff. Köstlin, System, § 36; dazu schon oben. Siehe Abegg, Lehrbuch, § 102; Hälschner, System, § 62; Köstlin, System, § 36. Hälschner, System, § 62; siehe auch Abegg, Lehrbuch, § 102; Köstlin, System, § 36. Köstlin, System, § 36. Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 464 f., 468 f.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
nen ergriffen. Die Wendung Hegels gegen einen Staat, der allein Not- und Verstandesstaat ist, schließt es gerade aus, die Selbstbestimmung der Person dem Zugriff staatlicher Reglementierung zu entziehen - gerade darin liegt das Problematische dieser Auffassung.
III. Verbrechensbegriff und Opferselbstverantwortung im Rechtspositivismus Gegen die Feuerbachsche, stark philosophisch geprägte Rechtsverletzungstheorie werden bereits Anfang des 19. Jahrhunderts verschiedentlich starker positivistisch orientierte Lehren gesetzt. Dabei hat Feuerbach selbst in seiner „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts" die „Tendenz" seines „ganzen Systems" betont, „die Anmaßungen der Philosophie in dem peinlichen Rechte einzuschränken, der Herrschaft jener launenhaften Tyrannin in dem positiven Rechte entgegen zu arbeiten und ihr in der Jurisprudenz nichts weiter iibrig zu lassen, als das Geschäft und die Ehre, eine unterthänige Dienerin der Gesetze zu sein"473. Doch soil diese Verhältnisbestimmung von Vernunftrecht und positivem Gesetz nicht den vorpositiven Anspruch des Vernunftrechts iiberhaupt diskreditieren474, sondern sie ist Ausdruck der Einsicht, daß ein philosophisch begrilndetes Recht keine allgemeine Anerkennung und damit Geltung erlangen kann: „damit ein rechtlicher Zustand unter den Menschen sei, muß das Recht gewiß sein unter ihnen"475. Mit der Positivierung von Gesetzen soil also die Geltung des Rechts gesichert werden, aber das Gesetz „soil freilich kein anderes Prinzip seines Daseins haben als das Prinzip der Rechte, welches da war durch Vernunft, ehe noch Staaten wurden. Durch Positivgesetze soil nur (dies bestimmt der eben bemerkte Grand des Daseins aller Positivgesetze) das Vernunftrecht selbst als ein positives Recht dargestellt und die ilbersinnliche Erkenntnis desselben in eine sinnliche (Erfahrungs-) Erkenntnis verwandelt werden"476. Der Gesetzgeber sei also „Diener des Vernunftgesetzes" und als solcher könne seine Leistung Gegenstand der Kritik eines jedes Menschen als eines Verntinftigen sein, während dieser Mensch als Burger dem positiven Recht unterworfen sei477. Der Rechtsgelehrte wiederum sei Mittler zwischen Gesetzgeber und Richter478, wobei er auch als Philosoph gefragt
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Feuerbach, Revision, Vorrede, S. X . Siehe zum folgenden Blühdom, Kant-Studien 64 (1973), 367 ff.; Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff, S. 223 ff. Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S, 70. Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S. 7 1 . Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S. 7 3 . Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S. 7 3 .
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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sei479. Er bleibe in dieser Rolle freilich an das positive Recht gebunden, wird aber auch rechtsbegründend tätig, wo der Gesetzgeber Regelungslilcken gelassen hat480. Auch wenn Feuerbach unter Geltungsgesichtspunkten den Primat des positiven Rechts betont hat, wird damit kein den Ansprüchen eines Vernunftrechts gegenliber resignativer Positivismus vertreten. Der Aufschwung der //ege/ianischen Philosophie in der Strafrechtswissenschaft versagt den positivistischen Bestrebungen in der Wissenschaft zunächst noch einen durchschlagenden Erfolg. Nach dem Bedeutungsverlust //ege/ianischen Denkens in der Strafrechtswissenschaft prägen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts unterschiedliche rechtspositivistische Denkrichtungen den strafrechtlichen Verbrechensbegriff. Kern rechtspositivistischen Denkens ist die Annahme einer - mehr oder weniger konsequent durchgehaltenen - Unabhängigkeit des gesetzten Rechts von vorpositiven, etwa naturrechtlichen oder vernunftrechtlichen Normen481. Die Geltung gesetzten Rechts kann dann entweder als Problem der autoritativen Kompetenz eines Gesetzgebers („setzungsorientierte Rechtsdefinitionen"482) oder als Problem tatsächlicher Befolgung durch die Gesetzesunterworfenen diskutiert werden („wirksamkeitsorientierte Rechtsdefinitionen"483) - jedenfalls schließt ein positivistischer Ansatz es grundsätzlich aus, die Verbindlichkeit des Rechts anhand normativer Richtigkeitskriterien zu diskutieren. Vom positivistischen Standpunkt liegt es deshalb nahe, das Verbrechen als defmitorische Leistung des Gesetzgebers oder als Befund sozialer Wirklichkeit zu begreifen. Damit steht auch die Beriicksichtigung des Willensverhaltens des Opfers entweder in der (formalisierten) Entscheidungsmacht des Gesetzgebers oder seine Relevanz hängt davon ab, inwieweit sie der Rechtswirklichkeit entspricht.
1.
Die sogenannte „gemäßigt positivistische Richtung"
Relativ zurückhaltend macht sich der positivistische Einschlag noch in der ersten Hälte des 19. Jahrhunderts geltend, nachdem erste einzelstaatliche Kodifikationen, insbesondere in Preußen, Österreich und Bayern, und zahlreiche landesherrliche Einzelverordnungen, die Kluft, die im 18. Jahrhundert zwischen der weithin noch
479 480 481
Näher Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S. 8 0 ff. Feuerbach, Über Philosophie und Empirie, S. 9 3 . Vgl. etwa Dreier, N J W 1986, 890; dens., Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 25 ff.; Welzel, Naturrecht, S. 183 ff.
482
Dreier, WW 1986,890.
483
Dreier, NJW 1986, 890.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
anwendbaren Carolina484 und dem aufklärerischen Gedankengut bestand, verkleinert hatten485. Eine parallele Entwicklung findet sich im Staatsrecht, wo zahlreiche Landesverfassungen jedenfalls gewisse Näherungen an aufklärerische Forderungen positivierten486. Die so normierten Inhalte wurden damit ihres naturrechtlichen Anspruchs entkleidetet und - einschließlich der positivierten Grundrechte - als staatliche Gewährungen aus ihrem fur die von Locke geprägte kritische Aufklärungsphilosophie selbstverständlichen Ableitungszusammenhang von den urspriinglichen Rechten des Individuums gerissen487. Das allgemeine Staatsrecht verlor seinen naturrechtlichen Bezug488. Gleichwohl konnte das vorhandene Gesetzesmaterial weder im Straf- noch im Staatsrecht in einem mit der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbaren Maße positivistischem Denken den Boden bereiten489. Eine starke Betonung des positiven Rechts findet sich allerdings bei solchen Vertretern der Strafrechtswissenschaft, durch die die von Savigny begriindete historische Schule auch in das Strafrecht Einzug hielt490. Die historische Schule betonte zum einen die Geschichtlichkeit des Rechts und zum anderen die organische Gewachsenheit des Rechts als Produkt eines „Volksgeistes"491. Beide Kriterien waren mit naturrechtlichen Vorstellungen unvereinbar492: an die Stelle rationalistischer Rechtskonstruktion trat die einzigartige geschichtliche Gewachsenheit; an die Stelle der Vernunft trat der „Volksgeist". Das aus der Natur des Menschen abgeleitete und damit universale, fur alle Menschen GUltigkeit beanspruchende Naturrecht wurde bekämpft durch das nationale, historische und den jeweiligen Volksgeist beriicksichtigende Recht. Die Bedeutung der Rechtsphilosophie mußte bei den strafrechtlichen Vertretern dieser Schule überhaupt zurückgedrängt werden. So nehme die Philosophic des Rechts „bloß von den höheren Resultaten und Gründen des innern historischen und systematischen Zusammenhanges Kenntnis"; sie habe aber „weder die Möglichkeit, noch die Bestimmung, unmittelbar praktisch brauchbar zu sein"493. Dies zeige sich auch daran, daß „die mehresten Verfasser von Naturrechten und philosophischen Bearbeiter einer Rechtsdisziplin, bei dem besten Willen, ein apriori484 485
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487 488
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491 492 493
Siehe etwa Tittmann, Grundlinien, § 19. Siehe E b . Schmidt, Einführung, § 261 f.; Ekkehard Kaufmann, in: F S fur Sellert, S. 408 f., 423 ff. Vgl. Remmele, Bürgerliche Freiheit, S. 202 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 99 ff., 187 ff. Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 114 f. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 122 f; das uneinheitliche Bild der „allgemeinen Staatslehre" wird aaO, S. 121 ff. skizziert. Z u r Politisierung und zu den Streitpunkten in der Staatsrechtslehre vgl. Stolleis, G e schichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 119 f, 193 ff. Grundlegend zur historischen Schule Savigny, V o m Beruf unserer Zeit; zum Strafrecht Biener, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 476 f. Vgl. dazu Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 17 f. Siehe dazu und zum folgenden M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, S. 11. Biener, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 480 f.
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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sches Recht zu liefern, doch nur vermocht haben, eine Abspiegelung ihrer, oft einseitigen oder durch Mißverständnisse getmbten, Auffassung des bestehenden Rechts zu geben"494. Die historische Schule fand im Strafrecht freilich nur geringe Resonanz495. Zwischen der philosophischen und der historischen Richtung stehen Versuche einer Synthese. So schrieb Sylvester Jordan 1830: „Aus diesem Kampfe zwischen der extremen philosophischen und der extremen historischen Schule ging in der neuesten Zeit die Schule der Gemäßigten hervor, welche den Streit zwischen der Philosophie und dem Positiven auszugleichen und das richtige naturgemäße Verhältnis zwischen beiden herzustellen strebt, das in einer harmonischen Wechselwirkung zwischen beiden besteht"496. Die Denkrichtung, die sich um diesen Ausgleich bemüht, wird als „gemäßigt positivistische Richtung" bezeichnet497. Die Vertreter dieser - im ilbrigen heterogenen - Richtung beherrschen schließlich ab Mitte der zwanziger Jahre bis zum Aufkommen der //ege/ianischen Schule die Wissenschaft498.
a) Der Verbrechensbegriff Die Feuerbachsche Rechtsverletzungstheorie ist Gegenstand der Kritik der gemäßigten Positivisten. Bekannt geworden ist vor allem Birnbaums Stellungnahme, die heute gleichzeitig als Ausgangspunkt der Entwicklung der Rechtsgüterlehre aufgefaßt wird499. Birnbaum verneint seine fur die gemäßigt positivistische Richtung typische Ausgangsfrage500, ob es „passend" sei, „in einem System des positiven Strafrechts" die Definition des Verbrechens als Rechtsverletzung aufzustellen501, mit der Erwägung, daß durch die Entziehung eines Gutes, das einer Person rechtlich zusteht, das „Recht selbst weder vermindert noch entzogen" werde502. So wird das rechtlich geschiltzte Gut - das Rechtsgut - anstelle des subjektiven Rechts zum Objekt des deliktischen Angriffs. Dabei wird das Rechtsgut durchaus noch in einen Zusammenhang mit dem Zweck des Staates gestellt: Es gehöre zum „Wesen der Staatsgewalt", „alien im Staate lebenden Menschen auf gleichmäßige Weise den Genuß gewisser Giiter zu gewährleisten, welche den Menschen von der Natur gegeben oder eben das Resul494 495
496 497
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Biener, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 482, 502. Dazu Loening, Z S t W 3 (1883), 234, 251 ff.; zu deren Vertretern S. 343 ff. in Anm. 10. Zusammenfassend Eb. Schmidt, Einfiihrung, § 264. Z u r Bedeutung der Historischen Schule fur das öffentliche Recht Stolleis, in: F S fur Sten Gagner, S. 495 ff. Sylvester Jordan, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. X I (1830), 215. Siehe dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 39 ff; Eb. Schmidt, Einführung, § 261 ff; Sina, Dogmengeschichte, S. 14 ff. Siehe Loening, ZStW 3 (1883), 335 in Anm. 10. Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 43 ff; Sina, Dogmengeschichte, S. 19 ff. Sina, Dogmengeschichte, S. 20. Honig, Einwilligung, S. 60 ff. ordnet Birnbaum dem „soziologischen Positivismus" zu (dagegen Sina, Dogmengeschichte, S. 22 Fn. 43). Birnbaum, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 158. Birnbaum, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 172.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
tat ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und des bilrgerlichen Vereines sind"503. Die „Giiter, auf deren Allen gleichmäßig zu garantierenden Genuß im Staate sich die Rechtssphäre eines Jeden" beziehe, seien sowohl bei der Definition als auch bei der Einteilung der Verbrechen in natürliche und soziale zugrunde zu legen504. Der aufwendige theoretische Unterbau, mit dem die Aufklärungsphilosophen die Begrimdung und Begrenzung der Staatsgewalt aus der Staatstheorie entwickelt haben, entfällt aber bei Bimbaum. Die Erwägungen zum „Wesen der Staatsgewalt" berufen sich auf unmittelbare Plausibilität, unabhängig davon, „wie man auch immer über Rechtsgrund und Zweck des Staates denken mag"505. Die ansatzweise doch vorhandene Staatszwecklehre506 bleibt so außerordentlich unbestimmt507. Auf dem Wege zur Trennung von Philosophic und positivem Recht mußte auch eine philosophisch entwickelte Staatstheorie ihre strafrechtsbegrenzende Macht verlieren. Der Verzicht auf den aufklärungsphilosophischen Ableitungszusammenhang bedeutet freilich keinen Verzicht auf Staatstheorie ilberhaupt. Gerade durch die Schwächung einer die Staatsmacht beschränkenden Theorie zeichnet sich das positivistische Bild vom Staat aus. Es wird zunehmend weniger erforderlich, das Staatsverständnis explizit zu thematisieren, es reicht aus, daß Vorhandensein der positivierten Normen zu konstatieren - gerade darin findet das Staatsverständnis des Positivismus seinen Ausdruck. Der individualistische Ausgangspunkt der Rechtsverletzungslehre wird so zurückgedrängt. Der Staat gewährt Güter und er erkennt ihre Schutzbedürftigkeit an, ohne daß ein Ableitungszusammenhang vom Individuum diese Mächtigkeit legitimieren müßte508. Dies wird anschaulich, wenn Birnbaum „Gottesfurcht und gute Sitten" nicht bloß „als Bedingungen der Rechtsordnung, sondern urn ihrer selbst willen zu den Gegenständen" rechnet, „fur welche der Staat sorgen sollte". Dies lasse sich „durch die Entwicklungsgeschichte des gemeinen deutschen Strafrechts, und diejenigen Gesetze, welche noch heutzutage als dessen Hauptquellen anzusehen sind, bestätigt annehmen"509. Der Rechtsgutsbegriff ist weit eher als das Erfordernis der Verletzung eines (subjektiven) Rechts dazu in der Lage, eine Entindividualisierung des Verbrechensobjekts zu ermöglichen510. Schon begrifflich steht nichts entgegen, einen überindividuellen Träger des Gutes zu bestimmen. Sieht man Staat oder Gemeinschaft als Gutsinhaber, so führt dies freilich dazu, daß der Einzelne nicht aus eigenem Recht liber sich selbst verfilgen, also etwa in eine Verletzung einwilligen kann. Das Aufkommen der Rechtsgüterlehre entfaltet also eine restriktive Tendenz in der Beantwortung der Frage nach der Beachtlichkeit selbst-
503 504 505 506
507 508 509
510
Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 177. Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 177. Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 177. Siehe die oben zitierten Schlußfolgerungen Bimbaums aus dem „Wesen der Staatsgewalt". Siehe auch Amelung, J.M.F. Birnbaums Lehre, S. 354 f. Vgl. Honig, Einwilligung, S. 6 1 . Birnmaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 160 f.; dazu auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 42, 47. Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 107 ff.
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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verfügender Opferentscheidungen. Doch freilich ist es fur die Vertreter der gemäßigt positivistischen Richtung zunächst weniger der Rechtsgutsbegriff, als vielmehr der sich lockernde Zusammenhang von (tendenziell kritischer) Rechtsphilosophie und positivem Recht, der auch die Behandlung der Opferselbstverantwortung kennzeichnet.
b) Folgerungen für die Selbstverantwortung des Opfers aa) Selbstverletzungen Beispielhaft fur die Behandlung des Suizids als einer selbstverfugenden Opferentscheidung durch Vertreter der gemäßigt positivistischen Richtung lassen sich die Ausftihrungen Hepps und Wüchters zitieren. Hepp thematisiert den Suizid zunächst noch ganz im Kcmtischzn Sinne: Niemand habe rechtliche Pflichten gegen sich selbst und so widerspreche es „zwar dem Gesetz der Gerechtigkeit gegen sich selbst, welches der Mensch als solches zu beobachten" habe, „daß er sich als willkürliches Mittel zu beliebigen Zwecken gebrauche, daß er die Menschheit in sich verletze, weil dadurch die Möglichkeit der Zwecke überhaut vernichtet" werde. Aber es liege „keine eigentliche Rechtsverletzung dem Selbstmorde zum Grunde"511. Doch läßt sich Hepp als Vertreter der gemäßigt positivistischen Schule auf dieses Ergebnis nicht festlegen, sondern er konfrontiert es mit dem positiven Recht mit dem Ergebnis, daß „es vielmehr das sittlich (moralisch und religiös) Tadelnswürdige" sei, welches dem Suizid „nach positiven Rechten eine Stelle unter den Verbrechen verschafft hat"512. Zwar erkennt er, daß damit die rechtliche Behandlung des Suizids „mehr auf polizeilichen Vorschriften als auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen" beruhe und deshalb auch keine „passende Stelle" im Strafgesetzbuch finde, aber das sind fur ihn keine unilbersteigbaren Hilrden fur die Anerkennung einer Strafbarkeit. Deren positivrechtliche Anerkennung unterzieht er zwar nochmals einer Kontrolle durch die Vernunft, wobei er diese nun aber auf Zweckmäßigkeitserwägungen bezogen auf den Einsatz von Strafe reduziert: „Da der Selbstmord eine moralische Schändlichkeit enthält: so ist es gewiß nicht unvernünftig, ihn mit Strafe zu belegen. Die Androhung kann unter Umständen zur Verhütung desselben beitragen."513 Die rechtsphilosophischen Ausgangsüberlegungen verlieren damit letztlich ihre Bedeutung. Als Verbrechen werden auch positivrechtlich mit Strafe bedrohte moralwidrige Verhaltensweisen anerkannt, deren Bestrafung einen Zweck erfullt. Ähnlich argumentiert auch Wächtersu, der ebenfalls die Verletzung eigener Rechte des Suizidenten veraeint, „da niemand gegen sich selbst Rechte und Ver-
511 512 513 514
Hepp, Lehren der Strafrechtswissenschaft, S. 195. Hepp, Lehren der Strafrechtswissenschaft, S. 195. Hepp, Lehren der Strafrechtswissenschaft, S. 196. Eingehend dazu Jungemcmn, Carl Georg von Wächter, S. 166 ff.
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bindlichkeiten hat"515 und auch eine Verletzung des Staates könne jedenfalls nicht darin erblickt werden, daß der Suizident diesem Kräfte entziehe516. Unter bestimmten Bedingungen halt aber auch Wächter Moralwidrigkeiten fur strafbar: „Aus der Natur und den Zwecken der Rechtsordnung aber wird sich erweisen lassen, daß der Staat das offenbar Unsittliche, so fern es im einzelnen Falle objektiv genau erkennbar und beurtheilbar ist, mißbilligen und ihm entgegenwirken soil, und zwar in manchen Fallen auch durch Strafen"517. Auch Wächter will den Umfang der Strafbarkeit moralwidrigen Verhaltens vom Erreichen positiver Effekte in der Gesellschaft abhängig machen: Der Staat werde „aber nur diejenige moralische Schändlichkeit in die Klasse der Verbrechen stellen und strafen können, welche so zu sagen über den Thäter hinaus auf Andere wirkt, auf Verfuhrung Anderer, auf Demoralisierung des Volkes, auf Untergrabung der Heiligkeit solcher Verhältnisse, deren Heilighaltung eine der Hauptstiitzen der rechtlichen Bedeutung ist u. dergl., oder den Thäter als einen solchen darstellt, der durch die Gemeinheit oder Niederträchtigkeit seiner Handlungsweise Jeden, der mit ihm in demselben sittlichen und rechtlichen Vereine bleiben soil, an seiner Ehre angreifen wlirde"518. Bei der Selbsttötung sieht Wächter diese Voraussetzungen nicht erfullt - gegen die Nachahmung des bösen Beispiels schütze bereits die Liebe zum eigenen Leben —, so daß hier keine strafbare Immoralität vorliege519. Die kritische Potenz der Aufklärungsphilosophie kommt in diesen Überlegungen starker zum Tragen als in denen Hepps.
bb) Zur Einwilligung Wächter hat seinen Standpunkt zur Selbsttötung - freie Verfügbarkeit über das eigene Leben - in Richtung auf die Tötung auf Verlangen verlängert und folglich fur deren Straflosigkeit plädiert520. Ein umfassendes Programm einer Einwilligungslehre auf gemäßigt positivistischer Grundlage hat Hepp in seinem Beitrag: „Über den Rechtssatz: Volenti non fit injuria" entworfen521. Die verschiedenen Bemühungen, die Reichweite eines Unrechtsausschlusses durch Einwilligung auf naturrechtlicher Basis zu begrilnden, halt Hepp fur gescheitert. Und zwar in prinzipieller Hinsicht: „das ganze Problem ist nach dem gemeinen Standpunkte des Naturrechts schlechthin unauflöslich"522. „Wir verlassen daher jetzt (worüber gewiß jedermann sich mit uns freuen wird) das Gebiet des allgemeinen Rechtssatzes, und suchen - wo möglich - einen festeren Fuß auf dem des positiven Rechts zu gewinnen"523. Als „Gesamt-Resultat aus 515 516 517 518 519 520 521 522 523
Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 656. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 656 ff., 661. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 669. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 669. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10 (1829), 669 ff. Dazu Jungemann, Carl Georg von Wächter, S. 246. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 65 ff., 239 ff. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 100. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 239.
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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dem positiven Recht" halt Hepp als Ergebnis seiner Überlegungen zunächst fest, daß die Relevanz der Einwilligung bei den unterschiedlichen Tatbeständen sich nicht einheitlich beurteilen lasse. Während sie etwa bei Diebstahl und Entflihrung den Begriff des Verbrechens aufhebe, entfalle bei anderen - wie bei der Injurie lediglich die Strafbarkeit. Bei wieder anderen - etwa bei der Kastration - werde sie schließlich gar nicht berilcksichtigt. Damit scheint Hepp nun an den Grenzen der positivrechtlichen Vorgaben angelangt zu sein. Er schreibt: „Aus welchem allgemeinen Gesichtspunkte sind nun aber diese einzelnen Bestimmungen zu betrachten? Diese Frage scheint mir noch keineswegs zur Geniige beantwortet zu sein, und doch hängt die Entscheidung der (...) Fälle, von welchen das Gesetz schweigt, ganz unzweifelhaft von der Erledigung derselben ab"524. Allerdings sei die Frage nach der Strafbegriindung (bei bewilligten Handlungen) fiir den Gesetzgeber und den Richter unterschiedlich zu beantworten. Der Gesetzgeber habe auch bei den Individualdelikten525 - „bei seinen Strafbestimmungen nicht allein und ausschließlich den Schutz des verletzten Einzelnen zum Zweck, sondern er setzt sich im Allgemeinen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Rechtsordnung zum Ziele"526. Die strafbedrohte Handlung solle damit im Interesse der allgemeinen Sicherheit schlechthin unterbleiben527. Die - gesetzlich nicht vorgesehene - Einwilligung kann flir Hepp diese Zielrichtung nicht suspendieren. Es widerspreche sich, „daß ein Unterthan den anderen sollte ermächtigen dürfen, die Strafgesetze des Staates zu iibertreten. Derm, wer in den Verlust seines Lebens, seiner Gesundheit, seiner Ehre einwilligt, was thut er wohl anders, als daß er einen Anderen autorisiert, das Strafgesetz wider Tödtung, Körperverletzung und Ehrenkränkung zu iibertreten?"528. Die Einwilligung beseitige also nicht das Recht des Staates zu strafen. Der Richter bestrafe nun nicht die Rechtsverletzung, sondern allein die Gesetzesübertretung, ohne daß ihn der Grund der Strafbarkeit berilhre529. Es ergebe sich also „aus der Idee des Strafgesetzes selbst, daß die Einwilligung des Verletzten in die That den Begriff des Verbrechens und die Strafbarkeit des Täters nicht aufheben" könne530. Nun sieht allerdings Hepp den Einwand, daß die Willenswidrigkeit des Täterverhaltens schon vom Gesetzgeber stets stillschweigend vorausgesetzt sein könnte. Die Zurückweisung dieser Möglichkeit stützt Hepp nun auf vorpositive Erwägungen531. „Es widerspricht schon der Vernunft, daß der Mensch die mit seiner moralischen Individualität unzertrennlich verbundenen Rechte willkilrlich sollte veräußern dürfen. Von einer andern Ansicht konn-
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526 527 528 529 530 531
Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 254. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 255 f., spricht von „Privatverbrechen", die er als „Eingriffe in die rechtliche Freiheitssphäre des Unterthanen" definiert. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 256. Hepp, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 256. Hepp, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 259. Hepp, N e u e s Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 259 f. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 264. Dazu auch Loening, ZStW 3 (1883), 338 in Anm. 10.
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te auch das Gesetz nicht ausgehen"532. Und weiter: „Ohne uns hier in das Gebiet des Rechts- und Sittengesetzes zu versteigen, ergiebt sich die Unveräußerlichkeit gewisser Rechte schon aus dem unmittelbaren Bewußtsein des Menschen, einem psychologischen Faktum, welches zu bekannt ist, als daß es erst erwiesen zu werden brauchte. Es widerstreitet der Vernunft und dem Gewissen, diejenigen Rechte willkilrlich zu veräußern, welche der Mensch als die Bedingungen seines moralischen Daseins anerkennt, und anzuerkennen genöthigt ist. Um so weniger kann derjenige, welcher von der Unvernunft des Andern Gebrauch macht, und den sein eigenes Bewußtsein dasselbe, was jenen, lehrt, vor sich selbst und vor Andern gerechtfertigt werden. Wollte der Staat auf diesen Widerspruch der Vernunft nicht achten, so machte er sich zum Genossen der Unvernunft, und jedenfalls der Immoralität der Unterthanen theilhaftig"533. Die behauptete Evidenz seiner Ansicht versucht Hepp im weiteren durch die ausfiihrliche Darstellung der niedrigen Gesinnung, die in Verletzungen eines Einwilligenden regelmäßig zum Ausdruck komme, plausibel zu machen534. Aus der Sicht des Gesetzgebers ergebe sich aus dem Begriff des Verbrechens, daß es nicht durch die Willenswidrigkeit bedingt sein könne. Nun wendet sich Hepp wieder der richterlichen Tätigkeit zu - und damit dem positiven Recht535. Der Richter habe „den Thäter, der Einwilligung ungeachtet, in die Strafe des Gesetzes zu verurtheilen, weil seine Handlung wirklich derselben unterliegt"536. Das Vorliegen der gesetzlichen Merkmale werde durch die Einwilligung nämlich nicht berührt - eine Behauptung, fur deren Beweis Hepp den allgemeinen Sprachgebrauch anfuhrt, der fur die Auslegung der Tatbestände maßgeblich sei537. „Danach hat es gewiß kein Bedenken, daß grade bei den schwersten Privatrechts-Verletzungen - des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit (in ihrem vollen Umfange) und der Ehre - das Merkmal invito laeso keineswegs den Begriff des Verbrechens bedinge. Denn wer einen Andern, wenn gleich auf dessen Begehren, tödtet, verwundet oder injuriiert: dessen Handlung nennen wir ganz unzweifelbar Tödtung, Verwundung (Körperverletzung) und Ehrenkränkung (Injurie); und eben so sagen wir vom Verletzten, er sei getödtet (umgebracht), verwundet, injuriirt u.s.w."538. Andererseits gebe es doch auch Verbrechen, deren Verwirklichung positivrechtlich von der Verletzung des Opferwillens abhänge539. Auch in diesen Fallen etwa beim Diebstahl, beim Betrug und in gewissen Fallen der Beleidigung - stimme der allgemeine Sprachgebrauch mit dem positiven Recht ilberein. Jedoch bedürfe es hier nicht eines allgemeinen Rechtssatzes (volenti non fit injuria) um die Straflosigkeit zu begründen, sondern diese ergebe sich bereits „aus dem gesetzli532 533 534 535 536 537 538 539
Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 264 f. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 265. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 265 ff. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 269. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 269. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 269. Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 270. Hierzu und zum folgenden Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 275 ff.
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chen Begriff des Verbrechens selbst". Hepp begrenzt also die Bedeutung des Willensverhaltens des Opfers auf die gesetzlich vorgeschriebenen Fälle, in denen heute meist vom Einverständnis die Rede ist, so daß er zusammenfassen kann: „durch die Einwilligung wird das Verbrechen, seinem Wesen und Begriffe nach, nur da aufgehoben, wo es gesetzlich durch das Merkmal: invito laeso, bedingt ist, und dies folgt von selbst aus den richtigen Prinzipien über Auslegung und Anwendung der Strafgesetze. Im Übrigen ist die Einwilligung ohne rechtliche Wirkung"S40. Hepps Standpunkt ist freilich weniger im Ergebnis, als vielmehr hinsichtlich der Methodik fiir die gemäßigt positivistische Richtung beispielhaft. Ausgangspunkt der Überlegungen sind die positivrechtlichen Regelungen, wobei sich allerdings schnell zeigt, daß das positve Recht fur die Behandlung zustimmenden Opferverhaltens wenig Regelungen bereit halt. Die daraus folgende Notwendigkeit, allgemeine Grundsätze aufzusuchen, wird nun nicht mit einem Bekenntnis zu einer bestimmten philosophischen Schule verbunden, sondern es erfolgt ein Rekurs auf Vernunftgriinde, von denen angenommen wird, sie fänden aufgrund ihrer Evidenz allgemeine Anerkennung541. Die gemäßigt positivistische Schule führt deutlich in der Untersuchung von Hepp - tendenziell zu einem Rtlckgang im Niveau der Begründungen542 gegenüber den vorangegangenen Bemühungen um Fundierung von Recht und Unrecht auf der Basis wissenschaftlich gesicherter Philosophic Nicht der Verzicht auf das Vorpositive, sondern der Verzicht auf eine Behandlung, die dessen Schwierigkeit gerecht wird, charakterisiert diese Form des Positivismus.
2.
Der „normlogische Positivismus" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Binding)
Das positivistische Rechtsdenken steht ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem geistigen Zusammenhang, der zu einer gewissen Radikalisierung dieser - freilich in sich durchaus heterogenen - Richtung gefuhrt hat543. War positivistisches Denken bei Feuerbach vor allem gegen Rechtsunsicherheit gerichtete pragmatische Forderung, deren Verwirklichung erst mit dem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 Gestalt annehmen konnte544 und die er keinesfalls um den Preis der Ungerechtigkeit durchsetzen wollte545 und war auch die gemäßigt positivistische Richtung eben nur „gemäßigt", so wurde nach dem Tod Hegels und des damit verbundenen Bedeutungsverlusts //ege/ianischer Philosophie eine deutlich grundsätzlichere Abkehr von dem Bemühen um philosophische Begründungen des (geltenden) Rechts vollzogen. 540 541 542 543 544 545
Hepp, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1830), 279. Siehe auch Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 15 (1834), 177. Zu Hepp siehe Binding, Handbuch, S. 709 Anm. 8: „sehr schwache Abhandlung". Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 53 ff. Vgl. zum Positivisten Feuerbach Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 88 ff. Siehe Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 90.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach Einführung des RStGB aufblilhende Positivismus ist zunächst „normlogischer Positivismus"546, womit das Bemühen zum Ausdruck gebracht werden soil, allgemein juristische Begriffe aus den Sätzen des positiven Rechts zu entwickeln. Neben diesem Positivismus der „klassischen Schule" trat mit der „modernen" oder „soziologischen Schule" ein „naturalistischer Positivismus"547, der die Strafrechtswissenschaft - insbesondere in ihrer damit neu geschaffenen Disziplin, der Kriminalpolitik - fur die Beriicksichtigung naturwissenschaftlich betriebener Sozialwissenschaften öffhete. Die Differenzen beider Richtungen waren Gegenstand des sogenannten „Schulenstreits".
a) Die Rahmenbedingungen, insbesondere das Staatsverständnis Die Rahmenbedingungen, die den Aufschwung des Positivismus begünstigten, sind vielfältig548. Sie sind zu einem Gutteil nicht spezifisch strafrechtlich, sondern stehen in engem Zusammenhang mit den allgemeinen sozialen und politischen Bedingungen der Zeit549 und mit der Entwicklung der allgemeinen Staatslehre und des Staatsrechts. Grand und Inhalt des normlogischen Positivismus werden von Stolleis fur das Staatsrecht folgendermaßen skizziert: „Die Wendung von der idealistischen zur 'realistischen' Staatsauffassung sowie die Suche nach allgemeinen Rechtsprinzipien durch Rechtsvergleichung waren zugleich Konsequenz und Symptom des rechtswissenschaftlichen Positivismus. Je mehr das Vertrauen in die Erkennbarkeit letzter Werte wie der Gerechtigkeit und des Staatszwecks schwand, desto mehr trat die Allgemeine Rechtslehre an die Stelle der material verstandenen Rechtsphilosophie"550. Die den Positivismus begünstigenden Umstände sind vielfach bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt: Die infolge der Geringachtung des überkommenen - veralteten — Gesetzes (d.h. der Carolina) bedingte Rechtsunsicherheit wurde zunehmend als unbefriedigend empfunden551. 546 547 548
549 550 551
Mezger, Lehrbuch, S. 31 spricht von einer,juristisch-positiven Jvlethode". Mezger, Lehrbuch, S. 33: „naturalistisch-soziologischer Positivismus". Eine Aufzählung der den Positivismus begünstigenden Umstände kann demnach nur beispielhaft bleiben; vgl. auch Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 13: „Eine Erklärung fur diesen Vorgang wird es nie geben. Man kann eine Reihe von Umständen anfuhren, die ihn begiinstigt haben, darunter auch Fehler der Idealisten und Romantiker". Vgl. etwa Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 2. Bd., S. 274 f., 276 f; Rosenbaum, Naturrecht, S. 62. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 2. Bd., S. 438. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 87. Ähnliche Unsicherheiten kennzeichnen im Vormärz den Zustand der - mit der Strafrechtsentwicklung eng verkntipften Staatsrechtslehre, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 119; die Parallele wird deutlich, wenn es aaO heißt: „Möglicherweise hat diese damals unumgängliche, hochgradige Politisierung des Verfassungsrechts dazu beigetragen, daß der
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Mit den aufbrechenden sozialen Spannungen (Industralisierung) war es erschwert, naturrechtliche Ansätze mit konsensfähigen Inhalten anzubieten552. Die Vielzahl der - Vollständigkeit fur den jeweiligen Regelungsbereich behauptenden553 - Kodifikationen554, forderten nicht nur die Beschäftigung der Wissenschaft heraus, sondem schien z.T. sogar als Positivierungen Uberkommener rechtspolitischer Forderungen deren rechtsphilosophische Fundierung obsolet zu machen555. Dies gilt vor allem auch fur die Menschenrechte, deren naturrechtliche Fundierung eine wesentliche Leistung aufklärerisch begründeter Selbständigkeit des Individuums gegenüber dem Staat war, und die nun als Grundrechte in Landesverfassungen geregelt worden waren556, so daß es auf die Ableitung aus dem Naturrecht nicht mehr anzukommen schien557. Schließlich ist ein erkenntnistheoretischer Skeptizismus in Verbindung mit dem Vertrauen in die - durch beeindruckende Fortschritte bewiesene - Leistungsfähigkeit naturwissenschaftlicher Methode zu nennen, der vor allem fur die naturalistische Form positivistischen Denkens bedeutsam werden sollte. Weder kommt es hier auf eine um Vollständigkeit bemühte Analyse der maßgeblichen Faktoren, noch auf die vielfältigen Wechselwirkungen im historischen Kontext an. Einiges bedarf aber der Hervorhebung, weil es unmittelbar die Behandlung des Opferverhaltens berührt. Das gilt zunächst fur die Neubestimmung des Verhältnisses von Recht und Staat - Positivismus ist kein spezifisch strafrechtliches Phänomen, sondern er findet seinen ersten Ausdruck in der Allgemeinen Staatslehre (bzw. in deren Niedergang). Der Wandel zeigt sich deutlich durch einen Vergleich mit der neueren Aufklärungsphilosophie: Nach dem Konzept der Aufklärungsphilosophie sollte der Staat Sicherheitsbedürfnisse befriedigen und die aus dem Naturzustand in den staatlichen Zustand transportierten Individualrechte sichern. Den Auftrag hierzu erhielt er aus dem Gesellschaftsvertrag, der damit die Legitimationsgrundlage staatlicher Eingriffe darstellte. Der im Ansatz individualistisch begrilndete Zweck des Staates erhielt so die Staatstätigkeit limitierende Bedeutung; die Relevanz zustimmenden Opferverhaltens konnte also nur negiert werden, wenn der Staatszweck einen solchen Eingriff erlaubte. Die Strafbarkeit dessen, der sich an der Op-
Ruf nach rein rechtlicher Konstruktion des Staatsrechts seit der Jahrhundertmitte immer starker wurde und sich schließlich durchsetzte". 552 Siehe Böckenförde, in: FS fur Adolf Arndt, S. 65 f. 553 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 53. 554 Insb. das RStGB von 1871 (zu dessen Bedeutung fur die Strafrechtsdogmatik etwa Mezger, Lehrbuch, S. 30; Eb. Schmidt, Einfuhrung, § 324; zur Bedeutung des RStGB etwa fur Binding Westphalen, Karl Binding, S. 79); im Staatsrecht vor allem die Reichsverfassung. 555 Vgl. Böckenförde, in: FS fllr Adolf Arndt, S. 60 f.; Westphalen, Karl Binding, S. 172. 556 Yg[ j a z u ß a m > D i e Proklamation von Grundrechten, S. 518 f.; Scheuner, Die Verwirklichung der bürgerlichen Gleichheit, S. 398 ff. 557 Siehe Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie, S. 246.
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fererklärung orientiert, mußte die gleiche Begründungshürde nehmen. Der Positivismus in der Staatsrechtslehre558, das Zurücktreten der Allgemeinen Staatslehre559 und damit der Niedergang der Staatszwecklehre vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts560 heben die Begründungsbedürftigkeit staatlicher Eingriffe am Maßstab der Staatszwecke auf561. Das geltende Staatsrecht - nicht allgemeine Lehren vom Staat und seiner Legitimation - ist Gegenstand juristischer Beschäftigung562. Das Streben des Staates wird nicht mehr in Abhängigkeit von den subjektiven Zwecken der Burger gesehen, sondern der Staat verselbständigt sich, er wird zum Selbstzweck563. Der Staat erhält personalen Charakter, er ist nicht mehr die „Maschine", als die ihn die Philosophic der Aufklärung verstand, sondern er wird zur Juristischen Person"564, deren Handeln gewissermaßen der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfhisse dient, wenn auch dieser Aspekt durch die Rolle der Parlamente etwas entschärft wird565. Die Strafgewalt des Staates unterliegt keinen Beschränkungen außer denen, die er sich selbst gibt566. Der Schutz vor Übergriffen des Staates wird in der Bindung an das Gesetz formalisiert; der Rechtsstaatsbegriff verliert seinen materialen Gehalt567, er wird auf das Verbot ungesetzlicher Eingriffe reduziert568. Im Rahmen dieser formellen Rechtsstaatlichkeit bedarf die Straf-
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Vgl. Böckenförde, in: FS fur Adolf Arndt, S. 64 f. Siehe zu den Protagonisten des M e thodenwandels im öffentlichen Recht C.F. von Gerber und Laband Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie, S. 249 ff., 256 ff.; Stolleis, Geschichte des offentlichen Rechts, Bd. 2, S. 331 ff., 341 ff.; Oertzen, in: FG fur Rudolf Smend, S. 183 ff; zur Bedeutung des Positivismus in der Allgemeinen Staatslehre Stolleis, aaO, S. 423 ff. Rosenbaum, Naturrecht, S. 4 1 ; Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 267. Eingehend Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre, insb. S. 39 ff. Rosenbaum, Naturrecht, S. 42. Vgl. auch Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, S. 34. Rosenbaum, Naturrecht, S. 4 3 . Siehe dazu Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre, S. 18, 2 0 ff, 4 3 , 4 6 und passim; ferner Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 56 f; Maihofer, Rechtsstaat u n d menschliche Würde, S. 58. Das von Westphalen, Karl Binding, S. 224 ff. gezeichnete Bild scheint demgegenüber den Individuaiismus zu stark zu akzentuieren. Siehe zu dieser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Wandlung gegenüber dem rationalistischen Verständnis der Aufklärer Stolleis, Geschichte des o'ffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 107 f, 123 ff, 368 ff. und ders. zur Auffassung v. Gerbers aaO, S. 333 f.; ferner Rosenbaum, Naturrecht, S. 55 f. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 370; ferner Amelung, Rechtsgiiterschutz, S. 54. Siehe v. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. I f : „Die an sich schrankenlose, der juristischen Fassung spottende Strafgewalt des Staates wird zum staatlichen Strafrechte durch Selbstbeschränkung." Den er bei liberalen Staatsrechtlern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch hatte; siehe Böckenförde, in: FS fur Adolf Arndt, S. 54 ff. Böckenförde, in: FS fur Adolf Arndt, S. 59 ff; Rosenbaum, Naturrecht, S. 43 ff.; ferner Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 57 f.
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barkeit von Verhaltensweisen, die selbstverfiigende Entscheidungen ermöglichen, fördern oder exekutieren, (nur) einer gesetzlichen Grundlage. Diese Formalisierung des Schutzes gegen den Staat berührt vor allem auch die Bedeutung von unverfilgbaren Menschenrechten. Der staatsrechtliche Positivismus versperrt den Weg zu einer vorpositiven Begründung von Menschenrechten. Der Weg hierzu war zum einen durch die Kodifikation von Grundrechten geebnet: War bis zur Revolution von 1848 und in den Diskussionen um die Paulskirchenverfassung der Geltungsgrund der Menschenrechte noch ein Problem, zu dessen Lösung naturrechtliche Ansätze diskutiert wurden569, so entfiel mit der durchgängigen Positivierung der Grundrechte die Notwendigkeit der Berufung auf vorpositive Begründungen570. Der Durchgriff auf naturrechtliche Erwägungen war aber mit der Positivierung nicht nur überflüssig, er war positivistischem Denken vor allem unmöglich: Grundrechte waren „nur als gewährende, sektorale Aussparungen der staatlichen Rechtsordnung denkbar. Sie waren im Prinzip revozierbare Schöpfungen des Gesetzgebers und konnten deshalb auch durch einfache positive Gesetzgebung inhaltlich gefullt werden. Der Staat verfugte über sie, ohne daß es eine außerstaatliche "naturrechtliche Reserve' gegeben hätte. Was auf diese Weise von den ehemals politisch brisanten Grundrechtskatalogen der Revolutionszeit und des Frühkonstitutionalismus übrigblieb, war das subjektive öffentliche Recht, der gesetzesabhängige, individualisierte und entpolitisierte 'Anspruch' (...)"571. Da dieser in erster Linie die Unterlassung rechtswidriger Verwaltungsakte zum Gegenstand hatte, erschöpfte er sich der Sache nach in dem Anspruch auf Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips572. Die Grundrechte waren so nicht etwa positivierte Menschenrechte; sie hatten ihren vorpositiven Gehalt tiberhaupt verloren. Weder Rechte der Person, noch die Freiheit zur Verfügung über gewährte Rechte noch die Grenzen einer solchen Freiheit konnten unmittelbar aus den Menschenrechten abgeleitet werden, maßgeblich war immer die Positivierung. Deutlich wird dies insbesondere an dem von der Aufklärungsphilosophie geprägten Gedanken, gewisse Rechte seien als angeborene, das Wesen des Menschen ausmachende Rechte der Verftigungsmacht des Einzelnen entzogen. Eine solche Grenze fur die rechtliche Siehe Dann, Die Proklamation von Grundrechten, S. 519, 523; Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie, S. 238, 246; Scheuner, in: FS für Ernst Rudolf Huber, S. 148 f. (relativierend). Andererseits war schon Savigny der Existenz angeborener Rechte entgegengetreten, siehe Klippel, Persönlichkeit und Freiheit, S. 289. Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie, S. 246; Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 101; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 372. Zudem waren abwehrrechtlich verstandene Grundrechte durch die Revolutionen und zuletzt durch die als praxisfern empfundenen Diskussionen der Paulskirchenversammlung diskreditiert; siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 371. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 374 f.; siehe auch Oestreich, Geschichte der Menschenrechte, S. 102; Remmele, Bürgerliche Freiheit, S. 205; Scheuner, in: FS für Ernst Rudolf Huber, S. 156 ff. Ein solches Verständnis kam freilich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf; vgl. Dann, Die Proklamation von Grundrechten, S. 523; Scheuner, Die Verwirklichung der biirgerlichen Freiheit, S. 376 ff., 390. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, S. 375.
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Anerkennung selbstverfugender Entscheidungen bzw. deren Realisierung ist positivistischem Denken fremd: der (positivrechtlich begriindeten) Verfügungsmacht können nur gesetzliche Grenzen gezogen werden. Der Positivismus hat fur das Strafrecht eine bis heute nachwirkende Konsequenz fur das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft: der urspriingliche Zusammenhang von Allgemeiner Staatslehre und Strafrechtswissenschaft wird nicht mehr thematisiert oder ist zumindest an den Rand des Interesses geraten. Der Staat wird von der Strafrechtswissenschaft nicht mehr zuerst in seiner Berechtigung und daraus abgeleitet in seiner Begrenzung - behandelt, sondern der bestehende Staat wird vorausgesetzt und gefragt wird primär danach, was das Strafrecht zur Erhaltung dieses Staates leisten kann. Das Strafrecht wird also nicht mehr explizit auf einen als „richtig" verstandenen, sondern auf den bestehenden Staat ausgerichtet. Positivistisch ist so zuallererst die Überzeugung, daß der bestehende Staat nicht mehr auf seine Legitimation zu befragen ist - das von der Aufklärung durch die in jedem Menschen anwesende Vernunft geknilpfte Band zwischen Individuum und Staat ist zerschnitten. Die Frage nach der Legitimität des staatlich gesetzten Rechts ist keine Frage nach Inhalten, sondern allein die Frage nach der Einhaltung der Form573. Es ware verfehlt, diese Sichtweise als unpolitisch zu bezeichnen. Ihr politischer Gehalt zeigt sich gerade in dem Bestreben, bestehende Verhältnisse zu erhalten574; die Neutralität ist so nur eine scheinbare575. Wo der Zusammenhang zwischen dem Strafrecht und den Zwecken des Staates heute wieder hergestellt wird576, wird gerade die materiell rechtsstaatliche Qualität des Grundgesetzes in ihrer strafbarkeitsbegrenzenden Wirkung in Anspruch genommen. Aber auch in diesen neueren Ansätzen ist es die Positivität der Grundrechte, auf die diese Wirkung gestiitzt wird, nicht ihre vorpositive Geltung. Die Legitimität staatlicher Herrschaft iiberhaupt ist damit in der Folge positivistischen Denkens von der Begrilndung des Strafrechts abgekoppelt und bis heute weithin nicht mehr in einen Begründungszusammenhang gebracht worden577. Der Ertrag des Positivismus ist der Rechtsstaat, die große Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Die Konsequenzen sind nun anhand der Lehre Bindings detail-
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Siehe v. Liszt, Reichsstrafrecht, S. 24. Vgl. Rosenbaum, Naturrecht, S. 56, 58 f. Die Frage, inwieweit dies von den Vertretern des Positvismus intendiert war oder aber lediglich auf ihren politischen Gehalt nicht reflektierte Vorverständnisse in die Auslegung eingingen, ist freilich eine zusätzliche Frage. Rosenbaum, Naturrecht, S. 5 9 f., 61 verneint die Bewußtheit der politischen Entscheidung, bejaht aber die gleichsam unbewußte Berücksichtigung politischer Vorverständnisse u n d betont den politischen Gehalt einer Rechtswissenschaft, die diesen Umstand unberücksichtigt läßt. Maihofer, Rechtsstaat u n d menschliche Würde, S. 58. Siehe dazu bezogen auf das Staatsverständnis Bindings Bohnert, Z u Straftheorie und Staatsverständnis, S. 192 ff.; Westphalen, Karl Binding, S. 171 Fn. 552; ferner Rosenbaum, Naturrecht, S. 58 f. Siehe etwa Appel, Verfassung und Strafe; Lagodny, Grundrechte. Darüber, daß mit dieser Beschränkung auf das Positive nicht auszukommen ist, vgl. Naucke, Die Legitimation strafrechtlicher Normen, S. 157 ff.
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reicher in das Strafrecht und das Problem selbstverfugenden Opferverhaltens zu verlängern.
b) Karl Binding „Im Bereiche der Strafrechtswissenschaft hat der Positivismus auf der Grundlage einer durch und durch liberalen Rechts- und Staatsauffassung seinen großartigsten Ausdruck gefiinden in dem Lebenswerk Karl Bindings (1841-1920). Er trägt durchaus das Gepräge des mittleren 19. Jahrhunderts. Die Geistigkeit dieser Zeit bestimmt seine Eigenart, verleiht ihm seinen Gehalt und weist ihm seinen Platz in der Geschichte"578. Mit diesen Worten führt Eb. Schmidt den Hauptvertreter des formalen Positivismus ein. Bindings Werk „ist ein Werk der Wissenschaft des positiven Rechts"579, wobei er allerdings den Begriff des positives Rechts nicht auf das geschriebene Recht begrenzt, sondern es gerade als Aufgabe der Wissenschaft ansieht, dort, wo das positive Recht die Folgerungen aus „seinem Begriffe oder seinem Satze nicht ausdriicklich oder nicht vollständig oder nicht genau oder in zweifelhaftem Ausdrucke zieht", „durch das logische Verfahren der Consequenz Lücken des Gesetzes auszufullen und die Fehler seines Ausdruckes, nicht aber die seines Willens zu berichtigen"580. Binding hat den Gedanken, daß der objektive Wille des Gesetzes maßgebend sei581, bis zur Befurwortung berichtigender Auslegung582 und strafbarkeitsbegründender Analogie583 vorangetrieben584. Bindings Positivismus wird so äußerst anpassungsfähig; es geht „ein großzügig-freier Zug durch seine Auslegungsmethode"585. 578
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Eb. Schmidt, Einfuhrung, § 273; Mezger, Lehrbuch, S. 31; der Einordnung als Positivist grundsätzlich zustimmend - dann aber deutlich relativierend - Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 273 ff. Kritisch gegen die Einordnung Bindings als Liberalen Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis, S. 194 ff. Binding, Handbuch, S. VII, 6 ff. Binding, Handbuch, S. 10 f. Vor diesem Hintergrund zutreffend Westphalen, Karl Binding, S. 54: „Über den streng a m Wortlaut haftenden Gesetzespositivismus ging d a s Werk Bindings aber insofern weit hinaus und stellte seinen vollständigen Bruch mit der eingebiirgerten, das Strafgesetz einseitig betonenden psychologischen Zwangstheorie Feuerbachs dar, als es die Normbefehle dem ungeschriebenen Recht zu entnehmen suchte." Zur - vorpositiven - Argumentation Bindings aus der „Logik" oder der „Natur der Sache" siehe Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 273 ff.; Westphalen, Karl Binding, S. 174. Binding, Handbuch, S. 200 ff, 450 ff. Binding, Handbuch, S. 2 0 1 . Siehe dazu Binding, Handbuch, S. 17 ff, 202 f., 210 f., 213 ff. Etwas durchaus anderes, das Konzept des Positivismus sprengendes, ware es dagegen, wenn Westphalen, Karl Binding, S. 175 mit seinem Hinweis recht hätte, Binding habe verschiedentlich den Gesetzeswortlaut vernachlässigt urn „der Gerechtigkeit z u m Durchbruch zu verhelfen". Eb. Schmidt, Einfuhrung, § 2 7 3 ; dazu auch Merkel, Z S t W 6 (1886), 499; Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 75 f.
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Der von vorpositiven Bestandteilen gereinigte Verbrechensbegriff Bindings verlangt die Erflillung eines Strafgesetzes durch Verletzung einer diesem vorgelagerten Norm586. Maßgeblich ist also allein der - strafbewehrte - Normverstoß: der Täter verletzt seine „Pflicht zum Gehorsam" gegenüber der Norm587. Der materiale Gehalt des Verbrechens bleibt in dieser formalen Bestimmung ausgeklammert. Daran ändert auch die von Binding zu neuer Blüte gebrachte Rechtsgüterlehre nichts588. Zwar ist die Bestimmung des Rechtsgutsbegriffs durchaus material: „Rechtsgut ist alles, was in den Augen des Gesetzgebers fur die Rechtsordnung von Wert ist, dessen ungestörte Erhaltung er deshalb durch Normen sicher stellen muß. Rechtsgüter sind nicht nur Leben, Körperintegrität, Freiheit, Ehre, Geschlechtsehre der Einzelnen, sondern auch ihr Kredit, die Objekte der Vermögensrechte, die Echtheit und Wahrhaftigkeit der Beweismittel wie der Beglaubigungszeichen, die Autorität der Beamten, das Staatsgebiet, die kriegerische Stärke des Staates während des Krieges: kurz alles, was außer dern Gehorsamsrechte des Staates Objekt eines deliktischen Angriffs bildet"5*9. Aber in dem Zitat kommt zugleich zum Ausdruck, daß der Gutscharakter durch ein Werturteil des Gesetzgebers begründet wird, der in der Schaffung von Rechtsglitern prinzipiell frei ist590. Das hat wichtige Konsequenzen fur die Frage, wer als Träger der Rechtsgüter anzusehen ist591: die vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtsgüter können nur solche der Rechtsgemeinschaft sein. So schreibt Binding: „Das Rechtsgut ist stets Rechtsgut der Gesamtheit, mag es scheinbar noch so individuell sein"592. Von der Entscheidung des Gesetzgebers hängt freilich nicht nur ab, was zum Rechtsgut erhoben und strafrechtlich geschützt wird, sondern auch der jeweilige Schutzumfang und die jeweilige Schutzrichtung. So sehe das Gesetz etwa eine Bestrafung des Suizids nicht vor593. Dieser sei zwar eine Rechtsgiiterverletzung, aber er verletze keine Verbotsnorm, derm es widerstrebe dem „Rechte als der Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens", im Individuum zugleich Rechtssubjekt als auch Rechtsobjekt zu erblicken, so daß es für sich selbst Güterqualität annehmen könnte. „Eine solche Herabwiirdigung des Menschen vor ihm selbst muß der Gesetzgeber von der Hand weisen"594. „Zudem gäbe es doch kaum eine
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Binding, Die Normen, Bd. 1, S. 3 ff., 45, 66 ff.; ders., Handbuch, S. 155 ff., 498 ff. Binding, Die Normen, Bd. 1, S. 9 6 ff.; ders., Handbuch, S. 183; dort Anm. 1 auch zu dem - von Binding nicht intendierten - „pädagogischen Beigeschmack" dieser Begrifflichkeit. Siehe zu dieser Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 73 ff. Binding, Handbuch, S. 169 (Kursivdruck im Original gesperrt). Z u Unklarheiten und Wandelungen in Bindings Rechtsgutsbegriff vgl. v. Liszt, Z S t W 6 (1886), 675 ff. Binding, Die Normen, Bd. 1, S. 340 wonach der Gesetzgeber nur durch seine eigene Erwägung und durch die Logik beschränkt ist. Siehe dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 107 ff. Binding, Die Normen, Bd. 1, S. 358. Binding, Handbuch, S. 697. Binding, Handbuch, S. 699.
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seltsamere Rechtspflicht als die zu leben und gesund zu bleiben, welche durch die angedeutete Ausdehnung der Normen entstehen würde"595. Aus Erwägungen zum Täterbegriff596 folgert Binding aber eine weitgehende Strafbarkeit von Außenstehenden, die sich am Suizid beteiligen. Eine Teilnahme halt er fur begrifflich unmöglich, denn das Verhalten des Außenstehenden richte sich stets gegen fremdes Leben und sei aus dessen Sicht deshalb nicht Suizidteilnahme, sondern immer Fremdtötung, die allerdings bei bloßer Erleichterung des Suizids nicht strafbewehrt sei. Täterschaft sei hingegen bei gemeinsamer Ursachensetzung flir den Tod und auch dann begrilndet, wenn der Außenstehende den Suizidenten „angestiftet" habe, denn der Außenstehende nehme den Willen des Suizidenten „in den eigenen Dienst und setzt so die Ursache zur Vernichtung eines fremden Lebens"597. — Die Freiheit der Entscheidung des Suizidenten kommt in dieser Dogmatik zum Täterbegriff nicht in den Blick. Verhältnismäßig eingehend hat Binding die Konsequenzen aus dem positivistischen Standpunkt fur die Einwilligung gezogen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß auch Delikte, die sich gegen Rechte oder Rechtsgüter des Einzelnen richten, immer auch den Staat verletzen. Die Einwilligung könne deshalb niemals aus der Machtvollkommenheit des Einzelnen ihre rechtfertigende Wirkung erhalten: „Niemand kann erlauben oder für rechtlich bedeutungslos erklären, was der Staat verboten hat! - sondern es ist dann der Wille des Privaten mit dieser Wirkung gesetzlich ausgestattet"598. Warm dies der Fall ist, muß - streng positivistisch - vom positiven Recht beantwortet werden599. Dieses billige der Einwilligung aber keine einheitliche Wirkung zu; Binding unterscheidet drei unterschiedliche Bedeutungsgehalte600: Die beiden ersten Fallgruppen sind hier nicht weiter von Interesse: 1. Bei übertragbaren Rechten könne die Einwilligung die Übertragung eines Rechtes oder von dessen Ausiibung auf den Täter bedeuten601. Da das entsprechende Recht bzw. dessen Ausiibung damit dem Täter zustehe, liege eine Verletzung des Opfers in solchen Fallen nicht vor. Z.B.: Der Mieter verletzt durch das Betreten der angemieteten Räume nicht das Hausrecht des Vermieters. 2. Weiterhin sei es aber auch möglich, übertragbare Rechte einseitig aufzugeben oder einseitig auf deren Geltendmachung zu verzichten602. Dadurch erwachse dem Täter - im Unterschied zu den oben 1. ge595 595 597 598 599 600 601 602
Binding, Handbuch, S. 699. Dazu Hegler, in: FG fur Richard Schmidt, 70 f. Binding, B T 1, S. 25 f.; ferner ders., Handbuch, S. 7 0 1 . Binding, Handbuch, S. 708 (Kursivdruck im Original gesperrt). Binding, Handbuch, S. 709. Binding, Handbuch, S. 709 ff. Binding, Handbuch, S. 713 f. Binding, Handbuch, S. 714 ff.
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nannten Fallen - zwar kein Recht auf die Vornahme seiner Handlung; sie sei damit weder verboten noch erlaubt. Dies gelte z.B. flir die Duldung eines uneingeladenen Fremden durch den Hausrechtsinhaber. Bei der dritten Fallgruppe könne die Einwilligung den Deliktscharakter dadurch beseitigen, daß sie „dem angegriffenen Rechtsgut die Tauglichkeit fur den deliktischen Angriff benimmt"603. Das sei einmal der Fall, wenn das positive Recht gerade den widerstrebenden Willen als Objekt des Angriffs voraussetzt - also bei den Fallen, die heute üblicherweise dem Einverständnis zugeschlagen werden. Zum anderen könne dies aber auch dann der Fall sein, wenn zwar ein anderes Rechtsgut das Angriffsobjekt sei, „aber nur insoweit als der Angegriffene sich darin behaupten will, oder wenigstens soweit er es nicht preisgegeben hat". Für diese Fälle fehle es nun an einer umfassenden gesetzlichen Regelung, so daß „von positiv-rechtlichen Ausgangspunkten aits" der Frage nahe getreten werden miisse, „wie das Strafgesetzbuch die Einwilligung behandeln miisse, wenn es mit den Ubrigen Anschauungen des positiven Rechts in Einklang bleiben wolle" 6<M. Die folgenden AusfUhrungen zu dieser Frage sind von schwer durchschaubarer Umständlichkeit. So schlägt Binding fur die Begründung der Unwirksamkeit einer Einwilligung in die Tötung nicht unmittelbar den fur ihn eigentlich naheliegenden Weg über § 216 RStGB ein, sondern er verweist zunächst auf den Personbegriff des positiven Rechts und auf den Umstand, daß der Gesetzgeber „die wesentlichen Eigenschaften der Persönlichkeit heute derart als unantastbar" betrachte, daß er „es sich selbst untersagt" habe, solche Eigenschaften ohne Rechtsschutz zu lassen. „Was aber dem Gemeinwillen unmöglich dünkt, liegt noch weit mehr außer dem Machtbereich des weit unkräftigeren Einzelwillens"605. Daraus folge die Unwirksamkeit einer Einwilligung in die Tötung oder in die Sklaverei. Daraus folge nicht, daß bei alien übrigen Rechtsgütern - die danach nicht zu den „wesentlichen Eigenschaften der physischen Persönlichkeit" gehören606 - die Einwilligung den deliktischen Angriff ausschließe. „Wie weit die Einwilligung wirksam sei gegeniiber den Angriffen auf die Gesundheit, die Ehre, die Geschlechtsehre, die Freiheit der Willkiir und den Personenstand, dies festzustellen ist aus dem Begriffe der Persönlichkeit ganz untunlich". Soweit das Strafgesetz diese Frage nicht beantworte, bleibe „kein andres Auslegungsmittel als die Beobachtung des Bedürfnisses des praktischen Rechtslebens"607, wonach bewilligte Beleidigungen und leichtere Körperverletzungen als „unsträflich" betrachtet würden. Nun kommt Binding auf die gesetzlichen
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Dazu und zum Folgenden Binding, Handbuch, S. 717. Dabei fehlt nichtdeliktischem Verhalten im vorliegenden Zusammenhang bereits die Normwidrigkeit, nicht erst der Verbrechenscharakter. Das ergibt sich aus Bindings (Handbuch, S. 499) Definition des Delikts als schuldhaft normwidriger Handlung und der Definition des Verbrechens als eines mit Strafe bedrohten Delikts. Dazu und zum folgenden Binding, Handbuch, S. 718 ff. (Kursivdruck im Original gesperrt). Gegen diese Argumentation eingehend Keßler, GS 38 (1886), 571 ff. Binding, Handbuch, S. 719. Z u diesem Kriterium Keßler, G S 38 (1886), 5 7 1 : „Ein etwas diirftiger Nothbehelf."
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Regelungen des Strafrechts zurilck und findet hier „doch immerhin wichtigen Aufschluß" indem er nun auch § 216 RStGB in Bezug nimmt. Eingehende Erörterung im Kontext des postiven Rechts findet vor allem die Einwilligung in schwere Körperverletzungen608. Auch wenn Binding selbst es fur „zweckmäßig" halt, der Einwilligung hier lediglich strafmildernde Bedeutung zukommen zu lassen, ergibt fur ihn doch die Auslegung aus der Systematik des Gesetzes, daß sie die Rechtswidrigkeit ausschließe: „der Schutz der Gesundheit ist wesentlich zugleich Schutz des Willens, gesund zu bleiben"609. Begriindet wird dies durch feinsinnige Konsistenzerwägungen unter Bezugnahme von § 216 RStGB, § 142 RStGB (Entziehung der Wehrpflicht durch Verstiimmelung), § 206 RStGB (Zweikampf mit tödlichem Erfolg) und der Straflosigkeit von Körperverletzungen im Zweikampf mit tödlichen Waffen610. Die Behandlung der Einwilligung spiegelt so Bindings positivistische Grundhaltung: Die Bedeutung des Willensverhaltens hängt von dessen Bewertung durch das positives Recht ab. Der Wille zum Erhalt eines „Gutes" kann - je nach gesetzgeberischer Wertung - konstitutiv fur dessen Rechtsgutsqualität sein. Wo das Gesetz schweigt, wird die Relevanz des Willensverhaltens zur Auslegungsfrage am Maßstab des geltenden Rechts. Die Entscheidung verlagert sich also auf die technische Ebene der Anwendung der Auslegungsregeln. Selbstverantwortung ist nicht ein materiales Prinzip, sondern allenfalls ein gesetzgeberisch zugewiesener Entscheidungsbereich. Die Rekonstruktion eines von Freiheit getragenen Begriindungszusammenhanges zwischen dem Einzelnen, dessen Kompetenz stets nur eine zugewiesene ist, und dem positiven Recht, das diese Zuweisung vornimmt, liegt außerhalb des Anliegens, vor allem aber auch außerhalb der Möglichkeiten des Positivismus611.
3.
Der naturalistische Positivismus (insb. Franz von Liszt)
Der naturalistische Positivismus unterscheidet sich vom normlogischen Positivismus in seinem Gegenstand. Bezog sich der normlogische Positivismus auf das positive Recht, so daß das Unrecht formal als dessen Verletzung aufgefaßt wurde (Unrecht als Verletzung einer positivrechtlich verankerten Gehorsamspflicht), so bezieht sich der naturalistische Positivismus auf die äußere — auch soziale - Wirklichkeit612. Deren Werden und Wandel soil positivistischer, d. h. allein am erfahrungswissenschaftlich zugänglichen Material orientierter, Betrachtung unterzogen werden. Auch das Verbrechen soil mit den Mitteln der Naturwissenschaften (insbesondere mit Hilfe des Kausaldogmas), die sich nicht zuletzt durch Darwins Erkenntnisse in die Gesellschaftswissenschaften implementieren ließen, erklärt wer608 609 610 611 612
Binding, Handbuch, S. 722 ff. Binding, Handbuch, S. 722. Binding, Handbuch, S. 722 ff. Vgl. dazu auch E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 147 ff. Eingehend zum Ganzen Welzel, Naturalismus, S. 29 ff.
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den. Von zentraler Bedeutung für dieses Denken ist Franz v. Liszt (dazu a); die Überlegungen Keßlers (dazu b) stellen gewissermaßen eine Radikalisierung des Ansatzes dar.
a) Franz von Liszt Der naturalistische Positivismus prägt zum einen das Verständnis des Tatbestandes, wie es im Rahmen des sogenannten „klassischen Verbrechensbegriffs" von v. Liszt und Beling entwickelt wurde613. Dessen Bezugspunkt wird die Handlung, die nach naturalistischem Verständnis als gewillkürte Körperbewegung - unabhängig vom Inhalt dieses Willens614 - aufgefaßt wird615. Die Tatbestandsmäßigkeit wird demnach als ein außenweltliches616, vom Gesetzgeber vertyptes Geschehen angesehen, das frei von jedem Werturteil bleibt617. Den Erfolgseintritt bewilligendes Verhalten des Opfers kann danach fur die Tatbestandserfullung nur insoweit Relevanz zukommen, als es nach dem tatbestandlich vertypten Geschehen Einfluß auf diese hat618. So heißt es bei Beling: „Nur da, wo der Tatbestand auf ein Angreifen ohne Einwilligung des Angegriffenen abgestellt ist, versagt er bei vorhandener Einwilligung. Im übrigen, d.h. so gut wie immer, wird der Verbrechenstypus auch bei Einwilligung des Angegriffenen erfullt, und es bleibt nur zu prilfen, ob die Handlung auch rechtswidrig oder ob sie es wegen der Einwilligung nicht ist"619. Ein Tatbestandsausschluß bleibt also auf die Fälle des heute sogenannten „Einverständnisses" beschränkt; eine Einschränkung des Tatbestandes aus dem Gedanken fehlender materialer Verletzung scheidet danach aus620. Die materiale Frage nach 613
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Siehe zusammenfassend etwa Jescheck/Weigend, A T , S. 202; Schiinemann, Systemdenken, S. 19 f. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 11. Beling, D i e Lehre vom Verbrechen, S. 9, 14, 2 0 4 ff. Umstritten unter den Vertretern der kausalen Handlungslehre ist allerdings, o b auch Kausalität und Erfolg noch zur Handlung gehören oder ob sich diese im gewollten Verhalten erschöpft; im erstgenannten Sinne v. Liszt, Lehrbuch, 4. Aufl., S. 128; ders., Z S t W 8 (1888), 151; im letztgenannten Sinne Beling, Verbrechen, S. 9, 14, 204 ff. „Außenweltlich" aus Sicht des Täters. S o kann zwar nicht dessen Vorsatz, möglicherweise aber die Willensrichtung des Opfers zur „Außenwelt" gehören. Siehe Beling, D i e Lehre v o m Verbrechen, S. 112, 147 ff., 2 0 6 f., 210. Siehe zusammenfassend Schiinemann, Systemdenken, S. 20. Eingehend Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 218 ff. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 2 2 1 . Allerdings sieht Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 202, 215 f., 218 f. durchaus die (mit der Wertfreiheit des Tatbestandes nur schwer vereinbare, siehe aber Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 45, der meint, Beling habe lediglich auf die Indizfunktion des Tatbestandes hingewiesen) Möglichkeit einer Auslegung nach der ratio legis. Dazu ist allerdings vorausgesetzt, daß sich erst aus dem die N o r m motivierenden Schutzobjekt (sog. „legislatorisches Schutzobjekt", a.a.O., S. 213) dergemeinte Verbrechenstypus ergibt. Macht der Gesetzgeber dagegen die Tatbestandserfullung von Angriffen auf ein bestimmtes Objekt abhängig, um ein typischerweise hierdurch verletztes Schutzobjekt zu schützen, so ändert die fehlende Verletzlichkeit des Schutzobjekts im konkreten Fall
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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dem Unrecht eines bewilligten Verhaltens stellt sich - wenn überhaupt621 - erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit622. Fur die normative Frage nach dem Unrecht bewilligten Verhaltens ist nun eine weitere wichtige Ausprägung positivistischen Denkens von Bedeutung, fur die die von v. Liszt begrilndete soziologische Schule - mit erheblicher Fernwirkung bis heute - wegweisend geworden ist623. Trotz aller Gegensätze bewegt sich v. Liszt zunächst in einem einheitlichen, formal positivistisch geprägten Denkzusammenhang mit Binding. Besonders nachhaltig macht sich Bindings Einfluß noch in der 1. Auflage des v. Lisztschen Lehrbuchs geltend, wo er mit der - später von ihm bekämpften624 - Normentheorie Bindings arbeitet625. Der Verbrechensbegriff gleicht hier ebenfalls dem Bindings: „Jedes Verbrechen erscheint zunächst als eine Uebertretung des der Strafdrohung zu Grunde liegenden Imperativs"626. Fur ein solches Verständnis ist klar, daß auch die Einwilligung des Verletzten nur bedeutsam ist, „wenn und soweit die öffentliche Rechtsordnung dem Träger des Rechtsgutes die Disposition iiber dasselbe eingeräumt hat"627. Der materiale Zweck des Rechtsgiiterschutzes, dem die Norm zu dienen bestimmt ist, bleibt in der ersten Auflage des Lehrbuchs zwar noch blaß, aber es deutet sich doch schon die Kluft zum Denken Bindings an. Rechtsgilterschutz ist bei v. Liszt der Schutz von menschlichen Interessen, denn: „alles Recht ist der Menschen willen da"628. Der Vorwurf v. Liszts gegen Binding richtet sich in der Folge zunehmend gegen die einseitige Betonung der durch die Normentheorie zum Angelpunkt gemachten Verletzung der Gehorsamspflicht, die einen formalen Verbrechensbegriff begriinde, „wobei die Richtung des Verbrechens gegen die Lebensbe-
nichts an der Tatbestandsmäßigkeit, soweit der Angriff sich gegen das tatbestandliche Objekt richtet (a.a.O., S. 214). Übertragen auf ein Beispiel zur Einwilligung: Auch wenn der Gesetzgeber mit dem Tatbestand der Sachbeschädigung das Eigentum nur gegen nicht bewilligte Eingriffe schiltzen wollte, hat er das Schutzobjekt doch nur durch die Fremdheit gekennzeichnet. Die ratio legis wiirde also keine teleologische Reduktion des Tatbestandes auf nicht bewilligte Eingriffe zulassen. 621
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Gesetzespositivistisches Verständnis beantwortet auch die Frage nach der Rechtswidrigkeit formal nach dem Eingreifen oder Nichteingreifen von Rechtfertigungsgriinden. Z u Materialisierungen aber sogleich. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 222. Vgl. von den weiteren Vertretern dieser Richtung zum hier behandelten Problemkreis etwa Adolf Merkel, Lehrbuch, S. 10 ff., 167 ff. V. Liszt, Z S t W 6 (1886), 670 ff. V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 5 ff.; zur Distanzierung vgl. dens., Lehrbuch, 4. Aufl., S. lOf. m i t A n m . 2. V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 10, 64 ff. V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 86. Eine Aussage, die auch in den späteren Auflagen des Lehrbuchs erhalten bleibt, vgl. etwa v. Liszt, Lehrbuch, 20. Aufl., S. 160. V. Liszt, ZStW 6 (1886), 673.
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dingungen der rechtlich geordneten Menschengemeinschaft völlig in den Hintergrund tritt"629. Die Auswahl der Interessen, die unter den Schutz der Rechtsordnung gestellt werden, obliege dem Gesetzgeber630, dem nach v. Liszt die Qualität eines „über den Einzelnen stehende(n) allgemeine(n) Wille(ns)" zukommt631. So liegt der Unterschied zur Auffassung Bindings nicht nur in der Materialisierung des Rechtsgutsbegriffs, sondern auch in der immer mehr in den Vordergrund tretenden Auffassung, daß der Gesetzgeber in der Definition dieser Interessen nicht frei sei; die Interessen vielmehr in der sozialen Wirklichkeit vorfinde und sie durch seine Entscheidung, ihnen rechtlichen Schutz zu gewähren, zu Rechtsgütern erhebe: „Nicht die Rechtsordnung erzeugt das Interesse, sondern das Leben; aber der Rechtsschutz erhebt das Lebensinteresse zum Rechtsgut"632. „Rechtsgut ist nicht ein Gut des Rechts oder der Rechtsordnung (anders freilich Binding ...), sondern ein durch das Recht anerkanntes und geschütztes Gut der Menschen"633. Der Positivismus tritt an dieser Stelle in anderer Weise hervor, nämlich als Begründung des Rechts aus gesellschaftlicher Wirklichkeit und deren Entwicklung634. Die entschiedene Ablehnung jeglicher „Metaphysik"635 begriindet die - von v. Liszt durchaus als solche erkannte und angenommene - Notwendigkeit, von einem Sein auf ein Sollen zu schließen636. Bei v. Liszt erhält das materielle Strafrecht mit der Bezugnahme auf den Rechtsgiiterschutz eine Zweckgerichtetheit in Richtung auf die Menschen in ihrer konkreten, zeitgebundenen Lebenswirklichkeit, konkretisiert als deren Individualoder Gesamtinteressen. „Es ist klar, daß mit dem 'Rechtsgute' der Zweckgedanke seinen Einzug in das Gebiet der Rechtslehre halt, daß die teleologische Betrachtung des Rechts beginnt und die formal-logische ihr Ende findet"637. V. Liszt versteht den Rechtsgutsbegriff als einen „Grenzbegriff der abstrahierenden juristischen Logik" 638, womit gesagt sein soil, daß zwar der Umstand, daß das Recht dem Interessenschutz verpflichtet ist, als Ertrag abstrahierender juristischer Logik 629
V. Liszt, Lehrbuch, 8. Aufl., Anm. 2 auf S. 60 f.; ders., Lehrbuch, 14. u. 15. Aufl.,
Anm. 2aufS. 66. 630
V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 6; ders., Z S t W 3 (1883), 19. V. Liszt, Lehrbuch, 4. Aufl., S. 10; ders., Lehrbuch, 9. Aufl., S. 6 0 . 632 V. Liszt, Lehrbuch, 4. Aufl., S. 9; ders., Lehrbuch, 8. Aufl., S. 59; ders., Lehrbuch, 11. Aufl., S. 53; ders., Lehrbuch, 14. u. 15. Aufl., S. 65, 140; ders., Lehrbuch, 20. Aufl., S. 145; ders., ZStW 3 (1883), 19. Siehe zu den einzelnen Entwicklungsschritten Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 84 ff. 633 V. Liszt, Lehrbuch, 8. Aufl., Anm. 1 auf S. 8 f. (im Original teilweise gesperrt); ebenso ders., Lehrbuch, 4. Aufl., Anm. 1 auf S. 59. 634 Siehe v. Liszt, Der Entwicklungsgedanke, S. 497 ff.; vgl. auch Rudolphi, in: F S fur H o nig, S. 155, der diese Sichtweise mit der der Aufklärung konfrontiert. 635 Siehe v. Liszt, Z S t W 2 0 (1900), 172 f; dens., Über den Einfluß, S. 84. 636 Y g ] ]yeizei^ Naturalismus, S. 4 6 : „Die ganze positivistische Philosophic macht den Eindruck, als ware die Erkenntniskritik Kants nie geschrieben worden"; Radbruch, Grundzüge, S. 35 f. 637 V. Liszt, Z S t W 6 (1886), 673 (kursive Textteile im Original gesperrt). 638 V. Liszt, Z S t W 6 (1886), 672; erläuternd ders., Z S t W 8 (1888), 138 ff. 631
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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entwickelt werden könne. Hingegen ilbersteige es die Möglichkeiten rechtswissenschaftlicher Methodik auszuweisen, daß das Wesen des Rechts im Interessenschutz zu erblicken sei. Hier liege die Aufgabe der Kriminalpolitik639. „Die Bezeichnung des Begriffes 'Rechtsgut' als eines Grenzbegriffes will aber noch mehr bedeuten. Sie soil den inneren Zusammenhang der Rechtswissenschaft mit der Politik, die Notwendigkeit steter gegenseitiger Förderung und Befruchtung scharf betonen; sie soil Verwahrung einlegen gegen eine rein formaljuristische, d.h. ausschließlich juristisch-logische Behandlung des Rechts"640. Die Kriminalpolitik dringt also durch den Rechtsgutsbegriff in das materielle Recht ein641; hier zeigt sich eine Begrenzung der Reichweite von v. Liszts bekanntem Wort vom Strafgesetz als der „magna charta des Verbrechers"642. Zwar ist der Rückgriff auf den Interessenschutz - wie oben gezeigt - durchaus vorpositiv, aber eine Grenze fur das, was als Interesse in einer Gesellschaft vorfmdlich sein und damit als Rechtsgut positiviert werden kann, wird von v. Liszt nicht gezogen643. So wird das rationalistisch an den Sicherheitsinteressen der Einzelnen (und erst davon abgeleitet der Gesamtheit) orientierte Strafrecht bekämpft zugunsten eines Strafrechts, das grundsätzlich jeden vorfmdlichen Gegenstand zu einem Rechtsgut erklären kann. Gegen solche Tendenzen war freilich auch der normlogische Positivismus Bindings machtlos644. Neu ist aber, daß die strafrechtswissenschaftliche Abstinenz gegentlber den politischen Zielvorgaben ihr Ende fmdet. Das Strafrecht steht den staatlichen Zielsetzungen nicht mehr mit formal-rechtsstaatlicher Gleichgültigkeit gegenüber645, sondern es öffhet sich - schließlich vor allem in der Auslegung des positiven Rechts mittels der teleologischen Methode - diesen Zielsetzungen646. In letzter Konsequenz flihrt dies dazu, daß der multifunktionale Staat ausdriicklich thematisiert und damit die Vielzahl der - auch mit Hilfe der Strafgewalt - zu erfullenden Funktionen akzeptiert und das Strafrecht - auch wissen639 640 641
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V. Liszt, ZStW 8 (1888), 139 f. V. Liszt, ZStW 8 (1888), 140 (kursive Textteile im Original gesperrt). Dazu - auch zur Entwicklung dieser Verkniipfung von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik im Denken Franz v. Liszts - Georgakis, Geistesgeschichtliche Studien, S. 61 ff. V. Liszt, Über den Einfluß, S. 80. Gerade an der zitierten Stelle wird freilich noch das Gegenteil, nämlich das Strafrecht als „die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik" betont. Begrilndet schon diese Literaturstelle im größeren Zusammenhang gelesen eine skeptischere Beurteilung ihres liberalen Gehalts (so Naucke, ZStW 94 [1982], 540 ff.), so werden die Grenzen der Strafrechtsdogmatik gegeniiber der Kriminalpolitik in späteren Stellungnahmen noch brüchiger; dazu Georgakis, Geistesgeschichtliche Studien, S. 61 ff. So auch Naucke, ZStW 94 (1982), 546. Zutreffend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 247: Binding „band den Juristen im Bereich der Sozialschadenslehre an politische Entscheidungen statt an theoretische Wahrheiten". Wobei freilich auf den politischen Gehalt solcher Enthaltsamkeit oben bereits hingewiesen wurde. Vgl. dazu - und vor allem zur Mächtigkeit dieses Ansatzes in der weiteren Entwicklung der Strafrechtsdogmatik - Marxen, Die rechtsphilosophische Begründung, S. 63.
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schaftlich - in seinen Dienst gestellt wird. Freilich findet das neue Bild des Staates keine philosophische Begriindung - die Methode des naturalistischen Positivismus kann und muß sich mit einer Beschreibung der bestehenden Verhältnisse und deren Entstehung647 zufriedengeben648. So trägt v. Liszt 1912 vor: „Aus dem Rechtsstaat, dem Nichts-als-Rechtsstaat, der sich damit begniigt hat oder wenigstens damit begniigen wollte, dem freien Spiel der Kräfte den ruhigen Ablauf zu sichern; aus diesem Rechtsstaat, der, um die Kantsche Formel anzuwenden, lediglich dafiir sorgen wollte, daß die Willkiir des Einen mit der Willkiir des Andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen könne, hat sich im Laufe der Jahrzehnte der moderne Verwaltungsstaat entwickelt, der durch bewußte Zwecksetzung eingreift in das freie Spiel der Kräfite, eingreift, um auf der einen Seite den Schwachen gegenüber dem Überstarken zu schiltzen, um auf der anderen Seite die Interessen der Gesamtheit gegenüber dem Übermut des einzelnen wahrzunehmen. Dieselbe große geistige Strömung, die uns die Sozialpolitik gebracht hat, hat uns auch den Begriff der Kriminalpolitik gebracht. Und sie hat damit den Sieg der neuen Anschauungen liber die älteren, den Sieg über die klassische Schule entschieden. Denn der klassischen Schule, von Beccaria angefangen bis auf Binding und von Birkmeyer, war es ja allein darauf angekommen, die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers gegenüber der Übermacht des Staates zu schtitzen. (...) Ihr Prinzip ist im wesentlichen das des laisser faire (...). Unsere moderne strafrechtliche Schule erscheint als Übertragung wirtschaftlicher und politischer Gedanken und Forderungen auf unser spezielles Arbeitsgebiet. Sie fordert, in voller Erkenntnis der Problemstellung, bewußte Zwecksetzung von seiten des Staates, ein bewußtes Eingreifen in das freie Spiel der Rräfte; sie stellt an den Staat das Verlangen, den Einzelnen, solange es möglich ist, zu schiitzen, zu heben, wieder anzupassen an die in raschem Flusse sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Gesamtheit zu schiitzen (,..)"649. Es ist danach zutreffend, wenn Naucke bei v. Liszt einen Wandel des Strafrechts konstatiert: es „wird zum Mittel in der Hand des weit in die Gesellschaft hinein organisierenden Staates, wird von einer Grenze der Politik zu einem Mittel der Politik"650. So wichtig es ist, diesen Wandel aufzunehmen, so wichtig ist freilich auch der Hinweis, daß diese Entwicklung bei v. Liszt noch in den Anfängen steht, jedenfalls soweit es den Einfluß der Kriminalpolitik auf das positive Recht anbelangt651. Auch wenn der Rechtsgutsbegriff bei v. Liszt - wie dargestellt - dazu neigt, die Kluft zwischen positivem Recht und Kriminalpolitik zu überwinden, 647 648
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Zur entwicklungstheoretischen Staatsbegrlindung bei v. Liszt siehe Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis, S. 63 ff. Dazu, daß damit der zweckorientierte Ansatz offen fur beliebige Inhalte ist und sich das Strafrecht in den Dienst jedes Staates stellen läßt, Naucke, ZStW 94 (1982), 539, 554 ff. V. Liszt, Tagungsbeitrag, in: Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 19. Bd. (1912), S. 377 f. (kursive Textteile im Original gesperrt). Naucke, ZStW 94 (1982), 536. Siehe Georgakis, Geistesgeschichtliche Studien, S. 64 f.
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bleibt v. Liszt doch bei der Auslegung des positiven Rechts noch weithin Positivist. Kriminalpolitisch sind also vor allem die Forderungen an den Gesetzgeber motiviert, nicht der Umgang mit dem einmal gesetzten Recht652. So schreibt Radbruch: „(•••) seltsam genug, daß der große Kriminalpolitiker als Strafrechtsdogmatiker im Banne des positivistischen Zeitalters, dem er angehörte, und im Geiste der liberalen Überzeugung, fur welche der Gedanke der Rechtssicherheit im Vordergrund steht, iiberwiegend Logiker war, nicht Teleologiker"653. So erklärt es sich, daß v. Liszt sich bei Behandlung der Einwilligung zunächst ganz auf die Anhaltspunkte im positiven Recht beruft. „Die von dem Träger eines Rechtsgutes gegebene Einwilligung zur Verletzung desselben schließt die Rechtswidrigkeit der Verletzung nur dann und nur so weit aus, wenn und soweit die öffentliche Rechtsordnung dem Träger des Rechtsgutes die Disposition iiber dasselbe eingeräumt hat"654. Doch nennt v. Liszt auch den den Gesetzgeber bei dieser Entscheidung leitenden - den teleologischen - Gesichtspunkt: „Sie (die öffentliche Rechtsordnung, d. Verf.) wird die Disposition versagen, wenn sie dem betreffenden Rechtsgute eine iiber die Person seines Trägers hinausreichende Bedeutung beilegt"655. Ob dies der Fall ist, müsse „aus dem ganzen Zusammenhange der gesetzlichen Bestimmungen, nicht nur aus der Verbrechens-Definition" entnommen werden - die tatsächlich getroffene Entscheidung des Gesetzgebers soil also positivistisch ermittelt werden. Ohne Schwierigkeiten ergeben sich von diesem Ausgangspunkt die Relevanz von zustimmendem Willensverhalten, das nach dem Wortlaut des Tatbestandes bereits dessen Verwirklichung ausschließt (Einverständnis) einerseits und die lediglich das Strafmaß berührende Relevanz der zustimmenden Äußerung im Rahmen der Tötung auf Verlangen andererseits. Gesetzlich ungeregelt, deshalb problematisch und entsprechend vergleichsweise eingehend behandelt ist bei v. Liszt die Einwilligung in die Körperverletzung, die nach seiner Auffassung bei „konsequente(r) Anwendung der allgemeinen Grundsätze" stets flir irrelevant gehalten werden miisse656. Gleichwohl rekurriert v. Liszt in späteren Auflagen seines 652 653
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Siehe zu dem „doppelten Standpunkte", von dem aus man an die Betrachtung des Verbrechens herantreten könne, v. Liszt, Das Verbrechen, S. 230 ff. Radbruch, Frank-FG I, S. 160; siehe auch Georgakis, Geistesgeschichtliche Studien, S. 46 ff.; Roxin, Kriminalpolitik, S. 7; Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 9; Eb. Schmidt, in: FS fur Julius v. Gierke, S. 215 ff; Welzel, Naturalismus, S. 65 ff. V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 86; ders., Lehrbuch, 2. Aufl., S. 125; ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 157; ders., Lehrbuch, 8. Aufl., S. 151; ders., 11. Aufl., S. 133; ders., 14. u. 15. Aufl., S. 155; ders., Lehrbuch, 20. Aufl., S. 160. V. Liszt, Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 86; ders., Lehrbuch, 2. Aufl., S. 125; ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 157; ders., Lehrbuch, 8. Aufl., S. 151; ders., 11. Aufl., S. 133; ders., 14. u. 15. Aufl., S. 155; ders., Lehrbuch, 20. Aufl., S. 160. V. Liszt, Lehrbuch, 2. Aufl., S. 302 f. Ausgenommen ist bei diesen Erwägungen der ärztliche Heileingriff, dessen Rechtmäßigkeit sich nach einem besonderen Unrechtsausschluß, nämlich der „gesetzmäßigen Ausübung eines öffentlichen Berufs" beurteile; siehe v. Liszt, Lehrbuch, 2. Aufl., S. 124; ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 156 f; ders., Lehrbuch, 8. Aufl., S. 150 (in den beiden zuletzt zitierten Auflagen ist die Rede von der „rechtlich anerkannten" Ausiibung eines Berufes). Ob dieser Unrechtsausschluß
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Lehrbuchs zunächst auf das Rechtsbewußtsein, dem jedenfalls bei schwereren Verletzungen die Annahme eines Verfügungsrechts widerstrebe657. Erst an diesen Ausgangspunkt anknilpfend kann er dann auf das Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte im positiven Recht verweisen, so daß es bei dem - dem Rechtsbewußtsein entsprechenden - allgemeinen Grundsatz bleibe. Das Rechtsbewußtsein entscheidet also gewissermaßen über die Beweislastverteilung. Positivrechtlich wird seine Auffassung weiter durch § 216 StGB abgestiitzt658. Überprüft man die Ergebnisse v. Liszts noch einmal an seiner materialen Rechtsgutskonzeption, so scheinen der Begriff des Rechtsguts als rechtlich geschiitztem Interesse und die Vorfindlichkeit dieser Interessen in der sozialen Wirklichkeit auf den ersten Blick neue Resultate fur die Behandlung bewilligter Verletzungen nahezulegen. Denn versteht man unter „Interesse" einen am einzelnen Individuum orientierten subjektiven Sachverhalt, so ware dieses mit der Einwilligung erloschen659. Die am teleologischen Kriterium des Rechtsgüterschutzes orientierten Ergebnisse wilrden dann im Gegensatz zum positiven Recht stehen660. Das ist allerdings nicht der Standpunkt v. Liszts. Der Interessenbegriff wird nämlich gerade nicht in dieser Weise subjektiviert und individualisiert661. V. Liszt will mit der Formulierung, es gehe um den „Schutz menschlicher Lebensinteressen", den Interessenbegriff offenbar in dem Sinne objektivieren, daß typischerweise vorhandene menschliche Interessen dem rechtlichen Schutz ohne Riicksicht auf ihr Vorhandensein im Einzelfall unterstellt werden662. Damit erhält der Interessenbe-
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auch bei einem Eingriff ohne Einwilligung eingreife, läßt v. Liszt zunächst offen (a. a. O.). Später (v. Liszt, Lehrbuch, 11. Aufl., S. 132 f.) entscheidet er diese Frage dahingehend, daß die Einwilligung erforderlich sei, aber nicht als eigenständiger Rechtfertigungsgrund, sondern nur deshalb, weil die mit Blick auf die Anschauungen der maßgebenden ärztlichen Kreise zu ermittelnden Regeln zur rechtlich gebotenen Berufsausübung dieses Einwilligungserfordernis statuieren. Schließlich meint v. Liszt, Lehrbuch, 14. u. 15. Aufl., S. 153 f.; ders., Lehrbuch, 20. Aufl., S. 158 f., die Berufung auf ein ärztliches Berufsrecht sei nichtssagend; ausschlaggebend sei der Einsatz eines „angemessene(n) Mittels zur Erreichung eines staatlich anerkannten Zweckes". Bei widerstrebenden Willen des Patienten sei diese Voraussetzung nicht erfullt. V. Liszt, Lehrbuch, 4. Aufl., S. 326. Wobei die positivistische Argumentation Bindings, dessen Bezugnahme a u f § 2 1 6 R S t G B z u m gegenteiligen Ergebnis fiihrt, bei weitem subtiler und iiberzeugender ist. So denn auch die subjektivistische Fassung des Interessebegriffs bei Keßler; dazu sogleich. Ein Fall, den v. Liszt in den späteren Auflagen seines Lehrbuchs thematisiert und im Sinne eines Vorrangs des positiven Rechts entscheidet; siehe v. Liszt, Lehrbuch, 14. u. 15. Aufl., S. 140. Zur ungenügenden Erfassung des Individuums bei v. Listz auch Zaczyk, Das Unrecht, S. 58. V. Liszt, Lehrbuch, 4. Aufl., S. 8; ders., Lehrbuch, 20. Aufl., S. 69. Siehe auch ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 9 m. Anm. 1, wo v. Liszt das geschiitzte Rechtsgut als „Gut der M e n s c h e n " bezeichnet und sich damit ausdriicklich von Keßler absetzen will. Vgl. schließlich Honig, Einwilligung, S. 71 und S. 66 f. auch zu Ihering, in dessen Tradition v. Liszt insoweit steht.
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griff freilich eine normative Dimension, die mit der empirisch gedachten Vorfindlichkeit der Interessen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit - vor Eingreifen jeglichen rechtlichen Schutzes - nur schwer vereinbar ist. Jedenfalls ermöglicht es diese vom Individuum abstrahierende Betrachtungsweise, eine Interessenverletzung auch dann anzunehmen, wenn der Eingriff dem Interesse des konkreten Opfers entspricht. Nicht nur die vom individuellen Interesse absehende Schutzkonzeption des staatlichen Rechts begilnstigt die Einschränkung der rechtlichen Wirksamkeit selbstverfugender Entscheidungen, sondern auch die bei v. Liszt außerordentlich starke Akzentuierung von Gemeinschaftsbelangen663, die dem individuellen Interesse an einer selbstverfugenden Entscheidung konfrontiert werden können. Schließlich ist auch der zum Subjekt verselbständigte Staat seinerseits Träger von Interessen664, die denen des Individuums zuwiderlaufen und deren rechtliche Relevanz folglich beschränken können. Gerade für den tief in die Belange der Gesellschaft hineinregierenden Staat liegt es nahe, individuelle Freiräume dort, wo sie den staatlichen Interessen zuwiderlaufen, für unbeachtlich zu erklären. Werden etwa sozialpolitische und wirtschaftspolitische Zielsetzungen des Staates in das Strafrecht getragen, dann ist klar, daß „grundlos" zugefügte körperliche Verletzungen unter solchen Aspekten nicht tolerabel sind. Dem naturwissenschaftlichen, am Darwinismus orientierten Denken v. Liszts müssen solche „artschädigenden" Verhaltensweisen zutiefst fremd gewesen sein. Bereits in einem friihen Aufsatz über das „amerikanische Duell" hat v. Liszt seine restriktive Haltung zur Relevanz von Einwilligungen mit den solcherart weit gefaßten, überindividuellen Interessen begründet: „Der Staat schiitzt Leben und Gesundheit seines Burgers auch dann, wenn dieser selbst sie preisgibt; er schiitzt sie, weil sie fur ihn einen bedeutenden, wenn auch sehr ungleichen Wert repräsentieren, auf den die Gesamtheit nicht ohne weiteres verzichten kann. So straft der Staat die Selbstverstümmelung des Militärpflichtigen, so kann er den Selbstmord mit Strafe belegen, beziehungsweise den Versuch desselben, oder die Anstiftung und Beihilfe hierzu; er kann endlich noch weiter gehen und lebensgefährliche Spiele, Wettrennen, das Baden in reißenden Strömen, überhaupt alle oder wenigstens gewisse Handlungen, bei welchen Menschenleben einer drohenden Gefahr ausgesetzt werden, bei Strafe verbieten. Wie weit der Staat in dieser Richtung greifen will, hängt ab von dem Geiste seiner Gesetzgebung, von dem herrschenden Systeme einer größeren oder geringeren polizeilichen Bevormundung"665. Auch wenn das RStGB entsprechende Regelungen nicht vorsah, standen einer Positivierung demnach keine prinzipiellen Bedenken entgegen666 - gesetzliche Beschränkungen sind in einem solchen Konzept stets heteronom, allein das Maß der Bevormundung des Einzelnen hängt noch von politischen Entscheidungen ab. Ähnlich - aber noch unspezifischer in der Argumen-
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Vgl. v. Liszt, Über den Einfluß, S. 81 f.; ähnlich auch Adolf Merkel, Lehrbuch, S. 10 ff. Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 69, 87 f., 108 f. V. Liszt, Das „amerikanische Duell", S. 6 (Hervorhebungen nur hier). Die Notwendigkeit - und das Fehlen - einer Positivierung der Strafbarkeit des amerikanischen Duells betont v. Liszt in seinem Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 247 f.; ders., Lehrbuch, 9. Aufl.,S. 341.
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tation - äußert sich v. Liszt zum Strafgrund des Zweikampfes: „Der Grund fur die Strafbarkeit des Zweikampfs liegt (...) nur darin, daß er ein Spiel um das Leben, eine Gefährdung eigenen und fremden Daseins ist, wie sie der Staat nicht ruhig mitansehen zu können glaubt"667.
b) Die Radikalisierung dieses Ansatzes bei Keßler Die bei der Behandlung der Auffassung von v. Liszt angedeutete Möglichkeit, den Begriff des rechtlich geschützten Interesses starker zu subjektivieren und zu individualisieren und so auch die Verletzung eines so bestimmten Interesses ganz von der individuellen Willensrichtung abhängig zu machen, hat vor allem Keßler vertreten und monographisch fur die Einwilligungslehre668 fruchtbar gemacht669. Der naturalistische Positivismus wird in diesem Ansatz gewissermaßen radikalisiert. Auch Keßler weist zunächst gesetzespositivistisch „ein erträumtes NaturRecht" ab und will die Reichweite der Einwilligung ganz der gesetzlichen Entscheidung iiberlassen670. Durch die Autorität des Gesetzes sieht er etwa die heute meist dem „Einverständnis" zugeschlagenen Fälle entschieden671. Bei Fehlen einer ausdriicklichen Regelung im Gesetz miisse man sich nach desssen „stillschweigend erklärtem Willen" richten672. Zu dessen Ermittlung will Keßler sich der teleologischen Methode bedienen: „man muß den Zweck zu erkennen suchen, welchem die fragliche Strafbestimmung dient"673. Den Zweck des Strafgesetzes überhaupt erblickt Keßler - zunächst noch ganz im Sinne von v. Liszt — im „Schutz menschlicher Interessen mittels Verhütung ihrer Beeinträchtigung durch menschliche Handlungen"674. Zur Konkretisierung dieses Begriffs des Interesses unterscheidet Keßler ihn vom Begriff des „Gutes": Das „Gut" sei Gegenstand des Interesses in dem Sinne, daß ein „Interesse" daran bestehe, „daß etwas Bestimmtes, dieses Gut Betreffendes geschehe oder nicht geschehe". So sei „das Interesse einer Person an einer Thatsache das Verhältnis der Person zu dieser Thatsache, vermöge dessen das Eintreten oder Nichteintreten derselben fur ein Gut der Person eine nachtheilige Folge hat"675. Da dieses Interesse im Falle der Einwilligung fehle, folgert Keßler aus dieser Bestimmung, daß die Einwilligung des Verletzten die Strafbarkeit der verletzenden Handlung stets aus-
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V. Liszt, Lehrbuch, 2 0 . Aufl., S. 331 (Kursivdruck Sinne schon ders., Reichsstrafrecht, 1. Aufl., S. 246; Wobei der Begriff der „Einwilligung" sich in Keßlers ligung in Fremdgefährdungen erstreckt; siehe Keßler, Siehe vor allem Keßler, Einwilligung; ferner ders., (1888), 580; ders., GS 39 (1887), 94. Keßler, Einwilligung, S. 28, ferner S. 39, 46. Keßler, Einwilligung, S. 28. Keßler, Einwilligung, S. 30. Keßler, Einwilligung, S. 32. Keßler, Einwilligung, S. 33, 38, 48. Keßler, Einwilligung, S. 5 0 (im Original gesperrt).
im Original gesperrt); in diesem ders., Lehrbuch, 9. Aufl., S. 3 4 1 . Konzeption auch auf die EinwilEinwilligung, S. 19 ff., 23 ff. G S 38 (1886), 5 6 1 ; ders., G S 4 0
III. Verbrechensbegriff und Opferverantwortung im Rechtspositivismus
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schließe676. „Interessenschutz wider den Willen des Interessenten ist ein Widerspruch in sich selbst"677. Ohne eine gewisse Entpsychologisierung des Interessenbegriffs kommt allerdings auch Keßler nicht aus. Er halt es nämlich nicht nur fur überflüssig, daß das Opfer sich im Tatzeitpunkt seines Interesses bewußt gewesen ist, sondern das Opfer werde selbst hinsichtlich solcher Interessen, an die es nie gedacht hat, von deren Existenz es nicht einmal wußte, rechtlich geschiitzt678 - das Interesse bedarf also keiner psychischen Realisierung. Ausschließlich psychologisch bestimmt Keßler dagegen den Ausschluß eines Interesses. Das fehlende Interesse muß also tatsächlich psychisch realisiert werden. Man muß annehmen, daß die Einwilligung mithin voraussetzt, daß die Person sich zuvor ihres Interesses bewußt geworden ist, da die psychologische Realisierung des Interesses wohl Voraussetzung fur die psychische Realisierung der Interessenpreisgabe ist. Die Einwilligung hat also zum einen den Effekt, daß eine Verletzung unbewußter Interessen wegen der zuvor notwendigen Bewußtmachung ausgeschlossen ist, zum anderen, daß das bewußte Interesse gerade aufhört Interesse zu sein. In der Einwilligungskonzeption Keßlers spielt die partielle Vergeistigung des Interessenbegriffs demnach deshalb keine Rolle, weil die Irrelevanz einer Einwilligung jedenfalls nicht mit der Verletzung eines unbewußten Interesses begründet werden kann. Darin liegt der Unterschied zu v. Liszt, bei dem nicht zwischen unbewußten und bewußten Interessen der konkreten Person unterschieden wird, sondern dessen Interessenbegriff vom Individuum ilberhaupt abstrahiert. Sei danach die Einwilligung des Verletzten auch stets beachtlich, so sei damit noch nicht die Frage beantwortet, wer als Verletzter im Sinne der jeweiligen Straftatbestände anzusehen sei. Auch wenn der unmittelbar Verletzte in die verletzende Handlung eingewilligt habe - mithin dessen Interesse nicht verletzt sei - bleibe doch die Möglichkeit, daß zugleich andere Interessen, insbesondere solche des Staates oder öffentliche Interessen, (mittelbar) verletzt würden679. Zur Prüfüng der Frage, in wessen Interesse ein bestimmtes Verhalten strafbedroht sei - mithin zur Bestimmung des Verletzten680 - führt Keßler folgendes Kriterium ein: „wenn eine gewisse Handlung alien Individuen mit Ausnahme eines einzigen verboten ist, so liegt hierin ein vollgültiger Beweis dafur, daß das Interesse nur dieses einen Individuums durch dieses Gesetz geschützt werden solle, daß folglich die mit Ein676
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Keßler, Einwilligung, S. 50 f. Der Begründungsgang Keßlers ist an dieser Stelle allerdings etwas komplizierter, weil er zunächst den Zusammenhang von Guts- und Interessenbegriff dahingehend erläutert, daß der Verlust des Interesses einer Person an einem Gut dazu ftihre, daß dieses Gut insoweit aufhöre, ein Gut fur diese Person zu sein. Fehle also das Interesse, so sei demnach auch keine Gutsverletzung mehr möglich, weil Gut und Interesse „gewissermaßen nur die objektive und subjektive Seite desselben Begriffs" seien. Gleichwohl bleibt dann aber im Folgenden das Erfordernis der Interessenverletzung (und nicht das der Gutsverletzung) zentral. Keßler, Einwilligung, S. 52. Keßler, Einwilligung, S. 51; ders., GS 39 (1887), 103. Keßler, Einwilligung, S. 52 ff, insb. S. 57 ff; ferner ders., GS 40 (1888), 601 ff. Siehe Keßler, Einwilligung, S. 49.
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willigung dieses Individuums vorgenommene Handlung unverboten sei"681. Die Anwendung dieses Kriteriums auf die Körperverletzungs- wie auch auf die Totungsdelikte führt Keßler danach - da die Selbstverletzung bzw. der Suizid straflos sind - zur Beachtlichkeit der Einwilligung682. Dieses Ergebnis steht freilich im Falle des bewilligten Totschlags in Widerspruch zu § 216 RStGB, dessen Aufhebung Keßler folglich fordert. Das kritische Potential seiner Auffassung, das sich in dieser Forderung andeutet, ruht freilich nicht auf der Einnahme eines vorpositiven Standpunktes, sondern auf der Behauptung, die gesetzliche Regelung filhre in einen Selbstwiderspruch des Gesetzgebers. Überhaupt bleibt die bei Keßler befürwortete umfassende Berücksichtigung individueller Willkürfreiheit im Umgang mit eigenen Giltern grundsätzlich bedingt durch die Kompetenz des Gesetzgebers, gegenläufige Interessen strafrechtlich zu schtltzen. Soweit es aber den Schutz des Menschen vor sich selbst betrifft, zieht Keßler dem Einsatz des Strafrechts eine dem positiven Recht vorgelagerte Grenze, die sich aus dem Zweck der Strafgesetze ergibt: Läßt sich ein Interesse (im Sinne eines konkreten psychischen Befundes) an dem Erhalt eines Gutes nicht feststellen, so entfällt die Grundlage fur den Einsatz von Strafe, die ihren Zweck gerade im Schutz solcher Interessen findet. So bleibt zwar der Maßstab, an dem die Qualität eines Interesses - seine (strafrechtliche) Schutzwtirdigkeit - gemessen wird, der Person heteronom, aber das (Straf-) Recht kann den Einzelnen immerhin dort nicht bevormunden, wo jedes Interesse schlechterdings fehlt. 1st die Maßgeblichkeit empirisch vorfmdlicher Interessen fur den (möglichen) Umfang des Rechts damit gleichsam auf die Spitze getrieben, so macht sich im siidwestdeutschen Neukantianismus wieder die Wendung zum Normativen geltend:
IV. Der Einfluß des siidwestdeutschen Neukantianismus (Richard Honig)
1.
Vorbemerkung
Die kritische Haupteinsicht des Neukantianismus in Wendung gegen das naturwissenschaftliche Denken war eine methodische: die Rückbesinnung auf den erkenntnistheoretischen683 Ansatz Kants. Die siidwestdeutsche Richtung der neukantiani-
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Keßler, Einwilligung, S. 68. Keßler, Einwilligung, S. 72 ff. Der Neukantianismus darf also nicht als Rekurs auf Kants Rechtslehre mißverstanden werden; dazu etwa Kiisters, Kants Rechtsphilosophie, S. 19 ff.; E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 153 in Fn. 36.
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schen Schule begrilndete auf dieser Grundlage die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften gegeniiber den Naturwissenschaften684. Die Besinnung auf den von Kant gerügten Sein-Sollens-Fehlschluß wird gegen den Positivismus gewendet685. Damit sollte aber nicht die naturalistische Betrachtung der Wirklichkeit selbst negiert werden686; das Festhalten am naturwissenschaftlichen Denken ist vielmehr gerade Grundlage fur die Auffassung, daß das Recht sich dieser Betrachtung entzieht und deshalb einen prinzipiell anderen Zugang erfordert687. Denn eine dem naturwissenschaftlichen Kausaldogma unterworfene (Rechts-)Wissenschaft muß menschliche Freiheit und Verantwortung negieren. Deshalb wird ein Methodendualismus behauptet: „Wertbetrachtung und Seinsbetrachtung liegen als selbständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander"688. „Die Philosophie betrachtet die Wirklichkeit lediglich unter dem Gesichtspunkte ihres absoluten Wertgehaltes, die Empirie lediglich unter dem ihrer tatsächlichen fnhaltlichkeit"689. Dem korrespondiert eine prinzipiell vom Sein abweichende Wirklichkeit des Wertes: das Gelten690. Der Wert ist nicht, sondern er gilt. Mit der Geltung des Wertes gilt auch die normative Anforderung, das Sollen, das in den Wert selbst hineingelegt wird. Naturrecht einerseits und historische Schule andererseits werden von diesem Standpunkt wegen ihrer Übergriffe von der einen Seite der Betrachtung auf die andere geriigt: Das Naturrecht hypostasiere Rechtswerte zu Rechtswirklichkeiten und werde so zu einer das Empirische zerstörenden Macht691; andererseits habe sich die wertspekulative Betrachtungsweise gegen den (insbesondere historischen) Empirismus zu wenden, wenn dieser als Philosophie auftrete692. Zusammenfassend: „Naturrecht und Historismus sind die beiden Klippen, vor denen die Rechtsphilosophie sich hilten muß"693.
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Vgl. eingehend Welzel, Naturalismus, S. 70 ff.; zusammenfassend Amelung, Rechtsgiiterschutz, S. 125 ff. Siehe etwa gegen v. Liszts evolutionistischen Standpunkt Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97. Siehe Welzel, Naturalismus, S. 71 f, 100 f; dens., ZStW 58 (1939), 495. Siehe dazu Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 67 ff; Luf, in: FS fur Verdross, S. 129 ff; Carl Schmitt, in: FS für Forsthoff, S. 53 f. Siehe Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97; s. schon ders., Grundzüge, S. 22 f, 5 1 ; Lask, Rechtsphilosophie, S. 185: „Dualismus philosophischer und empirischer Methode". Lask, Rechtsphilosophie, S. 185; kritisch zu diesem Dualismus Welzel, Naturalismus, S. 73 ff. (zu Lask S. 76 ff). Luf, in: F S fur Verdross, S. 129; Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegriindung des Rechts, S. 75, auch zum Folgenden. Lask, Rechtsphilosophie, S. 186 ff, 191. Lask, Rechtsphilosophie, S. 195. Lask, Rechtsphilosophie, S. 198.
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Der wesentliche Ertrag des stidwestdeutschen Neukantianismus liegt darin, die normative Seite der Rechtswissenschaft wieder betont zu haben; seine Schwierigkeit liegt freilich in der Bestimmung der maßgeblichen Werte und der Rangordnung, die sie untereinander einnehmen694. Der neukantianische Methodendualismus mußte auf die Wertungen des Subjekts zurückgreifen695 und damit in einen Werterelativismus filhren, in dem die höchsten Werte schließlich „nicht der Erkermtnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig" sind696. Für die rechtswissenschaftliche Auslegung hat das wertbeziehende Denken die teleologische Begriffsbildung zu einem wichtigen, wissenschaftlich gesicherten Instrument erhoben697 und so jedenfalls die theoretische Möglichkeit eröffhet, bewilligte Verletzungen mit Blick auf das telos eines Tatbestandes auch dann aus dessen Anwendungsbereich auszuscheiden, wenn das Verhalten gegen den Willen des Opfers nach dem Wortlaut des jeweiligen Tatbestandes gerade nicht verlangt wird698. Tatsächlich blieben die Konsequenzen gerade auf Tatbestandsebene aber bescheidener699 und die Frage nach der Bedeutung einer Bewilligung verletzenden Verhaltens wurde jenseits der Fälle des Einverständnisses weiterhin auf der Ebene der Rechtswidrigkeit angesiedelt. Für das Problem der Selbstverantwortung des Opfers ist vor allem die Arbeit Honigs zur Einwilligung des Verletzten einschlägigWenn Honig auch exemplarisch fur das neukantianische Rechtsdenken steht, ist doch seine etatistische Rechtsgutsauffassung keine notwendige Folge des methodischen Ansatzes. Aber sie ist zumindest - was im vorliegenden Zusammenhang ausreicht - eine mögliche Konsequenz dieses Ansatzes.
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Siehe Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 76 ff., 84 ff. Zur Bewältigung dieser Schwierigkeit - insbesondere in Bezug auf die Rechtsphilosophie Stammlers - vgl. das vernichtende Urteil von Ebbinghaus, Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, S. 231 ff. Vgl. weiterhin unten 2. Anders als die objektive Wertphilosophie, derzufolge Werte nicht vom Subjekt hervorgebracht werden, sondern ihnen ein Sein zukommt, so daß sie „erschaut" werden; siehe Scheler, Der Formalismus in der Ethik, S. 88 f, 202. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97 ff., 100. Vgl. Jescheck/Weigend, AT, S. 204; Schünemann, Systemdenken, S. 30. Die Auslegung des Tatbestandes nach Sinn und Zweck der Vorschrift wurde freilich auch schon friiher vorgenommen. Wenn aber z.B. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 202, 215 f, 218 f., eine ratio-orientierte Auslegung des Tatbestandes zuläßt, so bleibt unklar, wie sich dies mit der von ihm behaupteten Wertfreiheit des Tatbestandes (a.a.O., S. 112, 147 ff, 206 f, 210) vereinbaren läßt. Ein methodisches Instrument, das für die neuere Diskussion um die Verortung der Einwilligung im Deliktsaufbau bekanntlich erhebliche Bedeutung erlangt hat; vgl. etwa Roxin, AT I, § 13 Rn. 12 ff. Vgl. die insoweit differierenden Einschätzungen von Jescheck/Weigend, AT, S. 206 und Schiinemann, Systemdenken, S. 31 f.
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2.
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Richard Honig
Wie kein anderer hat Honig den Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Verbrechens - synonym spricht Honig auch von „Rechtsgut" oder „Schutzobjekt"700 - und der Lösung des Einwilligungsproblems hergestellt und dogmengeschichtlich entwickelt701. Im kritischen Teil seiner Untersuchung findet sich die oben bereits erwähnte Wendung des siidwestdeutschen Neukantianismus gegen alle Betrachtungen, die Wert und Wirklichkeit nicht getrennt halten, sondern die eine Seite mit Blick auf die andere bestimmen. Diese Kritik macht Honig auch gegen die dogmengeschichtlich friiheren Versuche einer Erfassung des Schutzobjekts geltend: die naturrechtliche Schule wie auch die //ege/ianer hätten mit ihren deduktiven, aus metaphysichen Rechtsideen entwickelten Schutzobjektstheorien, das positive Recht und die „Forderungen des Lebens"702, also die Wirklichkeit, nicht angemessen berücksichtigen können703; die empiristisch orientierten Richtungen hätten auf dem von ihnen gewählten induktiven Wege einen einheitlichen materialen Schutzobjektbegriff nicht entwickeln können704. Honig nähert sich der Lösung auf dem skizzierten methodischen Weg einer Trennung von empirischer und wertender Betrachtung. Die Verschiedenartigkeit der Betrachtungsweisen ftihrt ihn zu der Unterscheidung von Handlungsobjekt und Schutzobjekt705: Das Handlungsobjekt sei das Objekt der Verletzung als Gegenstand empirischer Betrachtung706; das Schutzobjekt sei der Gegenstand der Verletzung in seiner Wertbedeutung, soweit ein solcher Wert Gegenstand strafrechtlichen Schutzes ist. Das Strafrecht bedrohe also bestimmte wertwidrige Handlungen zum Schutz dieser Werte mit Strafe - dies sei der Zweck der Staftatbestände707. So gelangt Honig zu seiner bekannten Formulierung, „Schutzobjekt" bzw. „Rechtsgut" sei nichts anderes „als der vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kiirzesten Formel"708. Der methodische Dualismus wird besonders deutlich, wenn Honig betont, die Schutzobjekte seien „nur ein Erzeugnis spezifisch-juristischer Begriffsbildung", sie „existieren nicht als solche,
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Honig, Einwilligung, S. 29. Honig, Einwilligung, S. 29 ff. Deshalb kann Amelung, Rechtgüterschutz, S. 130 schreiben, Honig habe als erster eine eingehende Darstellung der Geschichte des Rechtsgutsgedankens gegeben. Honig, Einwilligung, S. 39 ff., 4 3 . Honig, Einwilligung, S. 84 f. Honig, Einwilligung, S. 84 f. Honig, Einwilligung, S. 91 ff. Honig, Einwilligung, S. 109 f. Honig, Einwilligung, S. 93. Honig, Einwilligung, S. 94.
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sie gewinnen erst Leben, indem wir die Gemeinschaftswerte als Zweckobjekt der Strafrechtssatze ins Auge fassen"709. Zugleich ist mit den vorstehenden Zitaten schon deutlich geworden, daß die Werthaftigkeit der Rechtsgiiter sich nicht vom Individuum her bestimmt, sondern von der Gemeinschaft710. Rechtsgiiter sind Gemeinschaftswerte und die Freiheit des Individuums ist in diesen Rechtsgütern nur soweit aufgehoben, wie diese aus der Perspektive der Gemeinschaft werthaft erscheint7". Den Maßstab fur die Bestimmung der Gemeinschaftswerte entnehme der Gesetzgeber „den iiberkommenen Volksanschauungen, aus der im Volksbewußtsein gegründeten Kultur"712. „Das Unwerturteil, das sich im Bewußtsein der Gemeinschaft hinsichtlich einer Handlung durchsetzt, ist das Motiv des gesetzgeberischen Rechtsschutzes"713. Die Bestimmung der Wertbedeutung eines äußeren Ereignisse wiederum gehe zuriick auf „diejenige allgemeine Wertvorstellung, die den Rechtswert selber zum Gegenstand hat". „Welcher Sinn dem Rechtswert als solchem zu geben ist, läßt sich nicht mehr erkennen, sondern nur bekennen"1^4. Der Rekurs auf vom Gesetzgeber vorgefundene „Volksanschauungen", die sich zu „Kulturnormen" verfestigen, bindet den Rechtsgutsbegriff an ein vorpositives Substrat715. Die Freiheit des Gesetzgebers, unter diesem vorgefundenen Substat das auszuwählen, was durch positives Recht zum Rechtsgut erhoben wird, kann man als "Kulturkritik" bezeichnen, als Stellungnahme des Staates zu den Kulturnormen716. Die Antwort auf die Frage, woher der Gesetzgeber den Maßstab zu solcher "Kulturkritik" nimmt, muß allerdings in einem mehr oder weniger resignativen Relativismus bestehen717, denn die Berufung auf vorfmdliche Anschauungen ist hier gerade nicht mehr möglich. Unaufgeklärt bleibt in diesem Konzept aber schon das Problem, woher die „überkommenen Volksanschauungen" ihren werthaften Charakter beziehen. Fiir eine Wertlehre, die rechtliche - und d.h. interpersonal verbindliche - Maßstäbe setzen will, ist durch die Bezugnahme auf die Gemeinschaft zwar die fur die Wert709 710 711 712
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Honig, Einwilligung, S. 94 (Kursivdruck im Original gesperrt). Siehe dazu auch Rönnau, Willensmängel, S. 34 f. Dazu auch Zaczyk, Das Unrecht, S. 123. Honig, Einwilligung, S. 92 f. Z u r gesetzgeberischen Anerkennung von Kulturnormen, die so zu Rechtsnormen werden, eingehend M.E. Mayer, AT, S. 38 ff.; ders., Rechtsphilosophie, S. 31 ff. Honig, Einwilligung, S. 9 3 . Honig, Einwilligung, S. 107 f. D a s betont zu Recht Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 144. Im Konfliktfall der Positivierung von Vorschriften, die einen kulturell schädigenden Zustand schützen, hat freilich Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, S. 22, der positiven Regelung den Vorrang eingeräumt. S o M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, S. 3 9 . Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 102 ff.; M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, S. 6 7 ff.; Würtenberger, D a s System der Rechtsgüterordnung, S. 2 f. (der die Maßstäbe der obersten Staatsidee entnehmen will, aber eben nur „der herrschenden Staatsidee der Zeit"); siehe zusammenfassend Jescheck/Weigend, A T , S. 2 0 5 ; Welzel, Naturrecht, S. 187 ff.
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festlegung maßgebliche Instanz breiter aufgestellt, aber damit wird das prinzipielle Problem verbindlicher Werterkenntnis nicht aufgehoben. Und schließlich kapituliert die Lehre dort mit ihrer Berufüng auf Autorität, wo es um die Entscheidung ilber die rechtliche Behandlung der vorgefundenen Anschauungen geht718. Werden die Schutzobjekte überindividuell als gesetzgeberisch ausgezeichnete Gemeinschaftswerte bestimmt, so folgt daraus fur die Einwilligung des Opfers, daß der Individualwille nicht aus eigener Macht, sondern nur insoweit fur den Bestand eines Schutzobjekts bedeutsam sein kann, wie ihm diese Bedeutsamkeit aufgrund des „in den Rechtssätzen objektivierten Gemeinschaftswillens" zukommt719. Auch wenn das Strafrecht danach „ausschließlich im Dienst der Interessen der Gesamtheit steht, denen gegenilber die Interessen der einzelnen als quantite negligeable erscheinen"720 und die ultima ratio des Rechts „die Bewahrung und Förderung des Staatswohls" sei721, so ist damit noch nicht ohne weiteres ausgeschlossen, dem Individualwillen weitgehende, wenn auch eben nur abgeleitete, Bedeutung einzuräumen, soweit nämlich eine rechtlich abgegrenzte Sphäre persönlicher Entscheidungsmacht als Gemeinschaftswert anerkannt ist. Zwar geht Honig von der Wertbedeutung einer solchen Machtsphäre fur die Gemeinschaft grundsätzlich aus722, aber gemäß der Blickrichtung der wertenden Betrachtung von den Interessen der Gesamtheit her setzen sich die iiberindividuellen Interessen im Konfliktfall stets gegen die individuellen durch. Da die Rechtsgliter als „Abbreviaturen fur die Zweckbestimmung der einzelnen Strafrechtssätze"723 vom einzelnen Delikt abhängig sind, ergibt sich fur Honig zur Bestimmung der Reichweite der Relevanz von Einwilligungen die Notwendigkeit, diese gesetzlichen Wertungen aus dem Gesetz selbst zu ermitteln™. Das gelingt ohne Schwierigkeiten etwa fur die Fälle, in denen schon tatbestandlich ein Handeln ohne oder gegen den Willen des Verletzten gefordert wird, also in den Fallen, die heute iiblicherweise dem Einverständnis zugeschlagen werden725. Fur die Körperverletzung leitet Honig die gesetzgeberische Entscheidung aus der gesetzlichen Regelung des Antragsrechts ab, wonach zwar die schwere, nicht aber die leichte oder die fahrlässige Körperverletzung ohne Antrag verfolgt würden726. Da die Gewährung des Antragsrechts regelmäßig darauf zurückzuführen sei, daß in erster Linie die Interessen des Antragsberechtigten durch die Tat verletzt seien und bei der Einwilligung fur die Anerkennung von deren Wirksamkeit „die Erwägung maßgebend ist, daß dem Verletzten die Frage der Rechtsschutzbediirftigkeit der 718
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Siehe die entsprechende Kritik von Luf, in: F S für Vordross, S. 137 f. an der Konzeption Radbruchs. Honig, Einwilligung, S. 70, 116 (gegen die psychologisierende Auffassung Keßlers gewendet). Honig, Einwilligung, S. 115 (Kursivdruck im Original gesperrt). Honig, Einwilligung, S. 115. Honig, Einwilligung, S. 98. Honig, Einwilligung, S. 109. Honig, Einwilligung, S. 118 ff. Siehe Honig, Einwilligung, S. 119. Honig, Einwilligung, S. 123 ff.
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angegriffenen Rechtsgüter überlassen bleiben soil", ergebe sich ihr paralleler Anwendungsbereich aus den rechtspolitischen Griinden, auf denen beide Institute beruhen727. Der gesetzlichen Regelung selbst sind durch Honigs Ansatz kaum Grenzen gezogen: Werden dem Gesetzgeber die vorpositiven Inhalte, aus denen er die Rechtsgüter auswählen kann, aus „Volksanschauungen" oder „Kulturnormen" vorgegeben, so verschwimmt im Kreis dessen, was als Rechtsgut geschiitzt werden kann, nicht nur die Grenze von sozialschädlichem Verhalten zu bloßen Moralwidrigkeiten728. Es eröffhet sich auch die Möglichkeit, die Wirksamkeit der Einwilligung unter Hinweis auf bloße Moralwidrigkeiten zu beschränken. Ein unmittelbarer Durchbruch der - aus den Volksanschauungen übernommenen729 - Gemeinschaftswerte zeigt sich etwa dort, wo Honig der Einwilligung aus dem Gedanken der Sittenwidrigkeit Grenzen zieht730. Als Beispiel nennt Honig den Fall eines Friseurs, der sich bereit erklärt, seinem Kunden Gesichtsnarben beizubringen, die den Eindruck erwecken, es handele sich um Mensurnarben. Die Einwilligung des Kunden rechtfertige die Körperverletzung nicht, weil die Verletzung „dem sittlichen Bewußtsein" widerstreite. Ohne daß Honig den Gedanken ausfuhrt, liegt dieser Einwilligungsschranke offenbar die Überlegung zugrunde, daß sittenwidrige - man könnte auch sagen: den ilberkommenen Volksanschauungen widerstreitende - Verletzungen unabhängig vom Individualwillen Verletzungen der jeweils strafrechtlich geschützten Gemeinschaftswerte bleiben. Denn wenn die Werthaftigkeit eines Gutes gerade aus den Volksanschauungen übernommen wird und nach diesen Volksanschauungen der Verletzungscharakter vom Individualwillen unberiihrt bleibt, dann kann die zustimmende Erklärung dem Verletzungsverhalten seine Wertwidrigkeit nicht nehmen. Freilich bedarf die begrenzte Bedeutsamkeit des Individualwillens auch der gesetzgeberischen Berücksichtigung, um das Schutzobjekt in rechtlich verbindlicher Weise zu konturieren731. Diese Begrenzung der Wirksamkeit der Einwilligung aus dem erstrebten gesetzgeberischen Zweck zeigt schon, daß die Rechtsgüter nach Honigs Vorstellung immer schon mit Blick auf das verletzende Verhalten bestimmt werden. Der Handlungsunwert wird so gewissermaßen in das Rechtsgut verlegt732. Das hat Honig vor allem im Rahmen der Behandlung des Verhältnisses der Einwilligung zur Selbstverletzung verdeutlicht733: Als „Zweck eines Strafrechtssatzes" sei das Schutzobjekt nicht unabhängig von der Täterhandlung zu beurteilen, sondern mit den Schutzobjekten sollen „die einzelnen Gemeinschaftswerte gerade in der Beziehung ergriffen werden (...), in der sie durch strafwilrdig erscheinende HandlunHonig, Einwilligung, S. 126. Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 156. Honig, Einwilligung, S. 92 f. Dazu und zum folgenden Honig, Einwilligung, S. 136 ff.; dort auch zu weiteren Einzelheiten der positivrechtlichen Regelung. Vgl. Honig, Einwilligung, S. 137 f. Siehe - kritisch - Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135 ff., 205. Honig, Einwilligung, S. 94 ff.
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel)
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gen verletzt werden können"™. Wird das Schutzobjekt also durch die jeweiligen Straftatbestände erst konturiert, so eröffhet dies fur Honig die Möglichkeit, die unterschiedliche Behandlung von (nicht strafbedrohter) Selbstverletzung und bewilligter Fremdverletzung mit dem Fehlen eines Schutzobjektes im ersten Falle zu erklären. Dabei ist es fur Honig eine rechtspolitische Frage, ob die Rechtsgutseigenschaft von Gemeinschaftswerten in Richtung auf bestimmte Handlungen durch entsprechende Straftatbestände begründet wird735. Auch die Selbstverletzung stellt nach dieser Konzeption offenbar prinzipiell einen (nicht zum Rechtsgut erhobenen) Eingriff in Gemeinschaftswerte dar - nicht Selbstbestimmung, sondern gesetzgeberische Entscheidung begrenzt den Einsatz des (Straf-) Rechts.
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel) In der kritischen Wendung gegen den naturalistischen Positivismus Lisztscher Prägung und die vom Sein isolierende Wertbetrachtung des sildwestdeutschen Neukantianismus findet das Bemühen um das Auffinden sogenannter „sachlogischer Strukturen" seinen Ausgangspunkt in der Lehre Hans Welzels736. Habe einerseits die narurwissenschaftliche Methode die kulturelle Welt nicht nur nicht erfassen können, sondern sei sie zudem aus erkenntnistheoretischen Gründen zur Ableitung von Sollensschlüssen außerstande gewesen737, so habe der Mangel des sildwestdeutschen Neukantianismus einerseits in der Übernahme des positivistischen Wirklichkeitsbegriffs738 und andererseits darin gelegen, daß die Werte im Rahmen der dualistischen Betrachtung nicht dieser Wirklichkeit zugehören739. „Der Kantianismus ergänzt die positivistische Welt mit Ergänzungsstücken einer anderen Sphäre, nämlich der Sphäre der Unwirklichkeit, so daß er die Wirklichkeit selbst um so unbedenklicher dem Positivismus iiberlassen konnte"740. Gegen dieses naturalistische Bild der Wirklichkeit und die Zugehörigkeit der Werte zu einer außerhalb dieser Wirklichkeit liegenden Sphäre wendet sich Welzel mit der Erwägung, daß die Wirklichkeit als soziale Wirklichkeit bereits werterfüllt sei. „Die wissenschaftlichen Begriffe sind nicht verschiedenartige 'Umformungen' eines identischen wertfreien Materials, sondern 'Reproduktionen' von Teilstücken 734 735 736
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Honig, Einwilligung, S. 95. Honig, Einwilligung, S. 96. Siehe vor allem Welzel, Naturalismus; ferner dens., Naturrecht, S. 183 ff.; dens., ZStW 58 (1939), 491 ff.; dens., Strafrecht und Philosophic S. 1 ff.; siehe neuerdings hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus ähnlich Küpper, Grenzen, S. 17ff. Welzel, Naturalismus, S. 46. Welzel, Naturalismus, S. 71 f; ders., Z S t W 58 (1939), 495. Siehe dazu schon oben IV. Welzel, Naturalismus, S. 72 (Kursivdruck im Original gesperrt).
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eines komplexen ontischen Seins, das die gesetzlichen Strukturen und Wertdifferenzen immanent in sich trägt und nicht erst von der Wissenschaft herangetragen bekommt"741. Die Werte seien so im Sein der jeweiligen Zeit verwurzelt; es gelte, „die 'wirklichen' Werte zu ergrilnden, die unserem Lebensstrom entsprechen"742. Bekanntlich hat Welzel vor allem die Finalstruktur der Handlung als ontologische Vorgegebenheit behandelt und aus deren sachlogischer Struktur Konsequenzen fur den Verbrechensbegriff abgeleitet743. Doch nicht nur die Finalstruktur der Handlung sei dem Gesetzgeber vorgegeben744, sondern die Handlung sei ein vom Recht aufzunehmender Gegenstand immer schon in ihrer sozialen Bedeutungshaftigkeit, wie sie in eine sinnhafte, soziale Wirklichkeit hineinwirke745. Das Problem liegt dann freilich in der Ermittlung der die soziale Wirklichkeit bestimmenden Werte. Die Blickrichtung, aus der diese soziale Wirklichkeit, an der die Handlung Anteil hat, in ihrer Werthaftigkeit bestimmt wird, ist eine iiberindividuelle. Welzel wendet sich kritisch gegen individualistische Staatskonzeptionen, wie er sie u.a. v. Liszt und Rickert vorhält746. Der Staat sei nicht rationalistische Konstruktion zur Absicherung individueller Schutzinteressen, sondern „die durch eine konkrete Idee, eine umfassende weltanschauliche Position gegliederte und durchstrahlte Einheit des gesamten materiellen und geistigen Lebens einer Nation"747. Die zentrale Idee seiner Zeit sieht er - im Jahre 1935 - in einer „alle 'Klassen' umfassenden Volksgemeinschaft", wie sie das „gewaltige Programm des Nationalsozialismus" geworden sei748. Der Gemeinschaftsgedanke wird so zum die Werthaftigkeit der Wirklichkeit bestimmenden Faktor. Hinter den strafrechtlichen Normen stilnden „als positive Orientierungsmarken diejenigen Werte menschlichen Handelns, die die staatlich geformte Volksgemeinschaft von ihren 741 742
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Welzel, Naturalismus, S. 78 f.; ferner ders., Z S t W 51 (1931), 706 ff. Welzel, Naturalismus, S. 84 ff., 87; ähnlich auch Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 28 ff. Siehe schon Welzel, Strafrecht und Philosophic, S. 4 f.; dens., ZStW 51 (1931), 708 ff, sodann dens., ZStW 58 (1939), 491 ff; dens., in: Erinnerungsgabe für Max Grünhut, S. 173 ff. Dazu auch Küpper, Grenzen, S. 11. Welzel, Naturalismus, S. 101 ff; ders., Z S t W 58 (1939), 5 1 6 f; ders., AT, 3. Aufl, S. 3 ff; ders., Naturrecht, S. 244 f. Welzel, Naturalismus, S. 3 7 f, 4 9 , 6 5 , 89. Später hat Welzel, Naturrecht, S. 2 4 4 f. selbst einen starker individualistischen Ausgangspunkt für sein Staatsverständnis angedeutet, indem er die soziale Wirklichkeit auf „drei elementare Seinsaspekte" menschlichen Daseins gründet, nämlich auf „die physische Bedürftigkeit des Menschen, seine Geschlechtsdifferenz u n d seine 'Sozialität', d.h. seine Angewiesenheit auf andere Menschen und seine Abhängigkeit von ihnen". Aus dem letztgenannten Aspekt ergebe sich die Notwendigkeit der politischen Gemeinschaft (des Staates). Siehe auch den Nachkriegsaufsatz Welzels „Über die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung". Welzel, Naturalismus, S. 37. Eine ausgearbeitete Stellungnahme zum Staatsverständnis findet sich bei Welzel nicht und auch die im Text zitierte Stelle soil vor allem eine Gegenposition zur positivistischen Konzeption sein, von der aber anzunehmen ist, daß sie Welzels eigener Position entspricht. Welzel, Naturalismus, S. 65.
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel)
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Angehörigen erwartet"749 oder - moderaer und nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches gesprochen -: „Aufgabe des Strafrechts ist es, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schiltzen"750. „Unrecht" ist danach ein Verhalten, das die Gemeinschaftsordnung verletzt751. Sozusagen als Kehrseite des Erfordernisses einer Verletzung der Gemeinschaftsordnung schließt Welzel das Unrecht bei solchen Handlungen aus, „die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen"752. Solche Handlungen seien „sozialadäquat" und erfullten bereits nicht das tatbestandlich vorausgesetzte, typische Handlungsunrecht753. War die Ausrichtung des Rechts auf die soziale Wirklichkeit bei v. Liszt noch wesentlich kriminalpolitische Forderung, die nichts an seiner im Grundsatz positivistischen Behandlung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit änderte, so gewinnt sie also bei Welzel bereits bei der Konturierung des Unrechtstatbestandes Bedeutung. Das tatbestandlich geforderte Verhalten erschöpfe sich nicht in der Begründung einer kausalen Beziehung zum Erfolg, sondern es erfordere eine Uberschreitung der sozialen Adäquanz754. Auch dies folgt fur ihn aus der Sinnhaftigkeit der Welt des sozialen Daseins, auf die sich die Tatbestände bezögen755. Die geschützten Rechtsgüter seien nicht wie „Museumsstücke" jedem schädigenden Einfluß entzogen - damit wilrde jedes soziale Leben stillstehen -, sondern es gebe Rechtsgtiter nur, wenn sie „in Funktion" seien, also „in der sozialen Verbundenheit Wirkungen ausiibend und Wirkungen erleidend"756. Damit sei es mit jedem sozialen Leben unvereinbar, die Rechtsgiiter umfassend zu schiitzen, sondern das Recht könne nur gegen bestimmte Einwirkungen Schutz bieten, nämlich gegen solche, die mit dem geordneten Gemeinschaftsleben unverträglich sind757. Nur solche Handlungen stünden außerhalb der Gemeinschaftsordnung und erfullten einen Verhaltensunwert, während sozialadäquates Verhalten sich noch innerhalb dieser Ordnung bewege und demnach auch kein Unrecht darstelle. Die Lehre von der sozialen Adäquanz hat bei Welzel sowohl hinsichtlich der systematischen Stellung als auch hinsichtlich der subsumierten Fallgruppen eine wechselhafte Geschichte durchgemacht758. Ihre Einordnung in 749 750 751
752
Welzel, AT, 3. Aufl., S. 1. Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 1; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 1. Welzel, AT, 3. Aufl., S. 3 1 , 43; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 20, 29 f; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 48. Welzel, AT, 3 . Aufl., S. 51 (im Original gesperrt); ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 35; ders., ZStW 58 (1939), 516, 526 ff.
753 754 755 756 757 758
Welzel, AT, 3. Aufl., S. 50 ff.; ders., ZStW 58 (1939), 517, 527 f.; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 55 ff. Zu Änderungen dieser Konzeption in der Lehre Welzels siehe unten. Welzel, AT, 3. Aufl. S. 53; ders., ZStW 58 (1939), 527 f. Welzel, ZStW 58 (1939), 530. Welzel, ZStW 58 (1939), 514 ff., 527. Welzel, ZStW 58 (1939), 516, 527. Dazu zusammenfassend Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 57; Hirsch, ZStW 74 (1962), 79 f.; Hoppe, Die soziale Adäquanz, S. 11 ff.; Mörder, Die soziale Adäquanz, S. 5 ff.,
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen den Tatbestand hat Welzel nur voriibergehend zugunsten eines „in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde(n) (gewohnheitsrechtliche[n]) Rechtfertigungsgrund(es)" aufgegeben759. Gewisse Einschränkungen ihres Anwendungsbereiches gegeniiber der ursprtinglichen Konzeption sind dagegen bis zur letzten Auflage seines Lehrbuches mit der Erwägung aufrechterhalten worden, daß zunächst „echte" Rechtfertigungsgrilnde in ihren Anwendungsbereich einbezogen worden seien760. Hier wird zunächst in erster Linie auf die Fassung, die Welzel der sozialen Adäquanz in seinem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1939 gegeben hat, Bezug genommen761.
Durch die Entdeckung der Finalstruktur der Handlung und deren Einbettung in die werthafte Verhaltensordnung der Gemeinschaft hat sich bei Welzel eine Verlagerung des Unrechts vom Erfolg (der Rechtsgutsverletzung) auf das Verhalten zum Handlungsunwert - vollzogen762. Der so gewonnene, (von Welzel sogenannte763) personale Unrechtsbegriff hat weitreichende Konsequenzen fur die Behandlung bewilligter Verletzungen oder Gefährdungen und flir die Verortung dieses Problems im Deliktsaufbau. Zunächst legt es die Wendung zum Verhaltensunrecht nahe, daß die Bewilligung riskanten Verhaltens durch das Opfer sich in erster Linie auf die Riskantheit des bewilligten Verhaltens und nicht auf den Eintritt einer Verletzungsfolge beziehen muß764. Derm entfällt bereits das Verhaltensunrecht, so vermag der Erfolgsein-
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760 761 762 763
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32 ff., 60 ff.; Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, S. 13 ff.; Schaffstein, ZStW 72 (1960), 369 ff.; Wolski, Soziale Adäquanz, S. 11 ff.; siehe z.B. die Einordnung als Rechtfertigungsgrund von der 4. bis zur 8. Auflage seines Lehrbuchs etwa in Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 68 f.; vgl. auch Roxin, in: FS fur Welzel, S. 303 f. Von der 4. bis zur 8. Auflage seines Lehrbuchs. Siehe etwa Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 68 f.; ders., Das neue Bild, 4. Aufl., S. 25 f; zuvor {Welzel, Strafrecht, 3. Aufl., S. 6 1 ; ders., Das neue Bild, 2. Aufl., S. 19 f.) war er der Auffassung, bei sozialadäquatem Verhalten sei zwar der Tatbestand erfullt, aber die Rechtswidrigkeit nicht indiziert; dazu Mörder, Die soziale Adäquanz, S. 32 ff. Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 5 7. Welzel, ZStW 58 (1939), 491 ff; ferner ders., AT, 3. Aufl., S. 50 ff; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 35 ff; ders., Das neue Bild, 1. Aufl., S. 24 ff. Zusammenfassend etwa Welzel, Das neue Bild, 1. Aufl., S. 18 ff; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 32; ders., in: FS für Kohlrausch, S. 104 ff. Dazu, daß die Bezeichnung als „personale Unrechtslehre" einem entwickelten Verständnis von personalem Unrecht nicht entspricht siehe Zaczyk, Das Unrecht, S. 94 f Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 9 7 (zur Einwilligung bei Fahrlässigkeit); vgl. auch Stratemverth, SchwZStr 81 (1965), 191 fur die Relevanz von Erfolgs- und Handlungsunwert. Die finalistische Sichtweise wird durch die Betonung des subjektiven Handlungsunwerts dort (a.a.O., S. 193) sogar so weit getrieben, daß der Vorsatz als Gegenstand der Einwilligung angesehen wird, so daß nicht nur ein bestimmter Handlungsvollzug, sondern auch die Willensrichtung, mit der diese Handlung vollzogen wird, bewilligt werden milsse. - Die gesinnungsstrafrechtlichen Konsequenzen dieser Sichtweise dürften aber keine notwendige Konsequenz des fmalistischen Ansatzes sein.
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel)
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tritt an der Bewertung des Verhaltens nichts mehr zu ändern765. Tatsächlich wird bei dieser Sichtweise ein Mangel der rein kausalen Unrechtsauffassung iiberwunden, die - soweit sie die Zulässigkeit der Einwilligung differenzierend nach dem Gewicht des Eingriffs beurteilt - kaum eine ex post-Beurteilung des Unrechts vermeiden konnte. Vor allem die Abkehr vom wertneutralen, am naturalistischen Kausalbegriff orientierten Tatbestandsbegriff, wie ihn Beling und v. Liszt vertreten haben, und die Hinwendung zum Tatbestand als Unrechtstypus766, der seine Konturen durch das Erfordernis einer Abweichung von der geschichtlich gewordenen Gemeinschaftsordnung erhält, bleibt in der materialen Behandlung bewilligten Verhaltens und dessen Einordnung im Deliktsaufbau nicht ohne tiefgreifende Folgen. Es stellt sich nun nämlich bei einer ganzen Reihe von Fallen bewilligten gefährdenden oder verletzenden Verhaltens die Frage, ob sich dieses Verhalten mit Blick auf die Zustimmung des Opfers im Rahmen der „geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens" bewegt, mithin als sozialadäquates Verhalten schon kein tatbestandliches Unrecht darstellt. Allerdings fuhrt zustimmendes Opferverhalten ebensowenig notwendigerweise zur Sozialadäquanz des daran ausgerichteten Täterverhaltens wie umgekehrt die fehlende Zustimmung des Opfers die Sozialadäquanz des Täterverhaltens ohne weiteres ausschließt767. So geht es Welzel vielfach ohne Riicksicht auf die Zustimmung potentieller Opfer um die Erlaubtheit gefährlichen, aber fur das moderne soziale Leben unverzichtbaren Verhaltens, wie z.B. den ordnungsgemäßen Betrieb von Industrieanlagen768, aber auch um Tötungshandlungen im Krieg, die „kriegsadäquat" seien769. Hier wird sich das Opfer vielfach nicht freiwillig der Gefahr aussetzen, aber auch wo dies der Fall sein mag - etwa beim Arbeitnehmer, der der Übertragung einer gefährlichen Arbeit zugestimmt hat oder beim Reisenden, der sich den Gefahren moderner Verkehrsmittel aussetzt - differenziert Welzel nicht nach diesem Gesichtspunkt. Explizit gegen die Relevanz des zustimmenden Opferverhaltens spricht sich Welzel bei den von ihm als sozialadäquat beurteilten lege artis durchgefuhrten Heileingriffen aus770. Diese blieben als Heilmaßnahmen auch dann sozialadäquat, wenn sie gegen den Willen des Patienten durchgefuhrt 765
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Siehe Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 32: „Die Rechtsgutsverletzung (der Erfolgsunwert) hat strafrechtlich nur innerhalb einer personal-rechtswidrigen Handlung (innerhalb des Handlungsunwerts) Bedeutung" (Hervorhebung im Original gesperrt). Siehe Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 35: „Tatbestand ist das nach typischen Merkmalen umschriebene strafrechtliche Unrecht". Dazu auch Fiedler, Fremdgefährdung, S. 83; Walther, Eigenverantwortlichkeit, S. 23 f.; Zipf, Einwilligung, S. 81. Ähnlich aus dem zivilrechtlichen Schrifttum Stoll, Das Handeln auf eigene Gefahr, S. 241 ff. Welzel, AT, 3. Aufl., S. 52; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 36. Welzel, ZStW 58 (1939), 527; später hat Welzel diese Auffassung aufgegeben und den Fall als Rechtfertigungsproblem behandelt; siehe schon Strafrecht, 1. Aufl., S. 36 (dazu Hirsch, ZStW 74 (1962)., S. 88 mit Anm. 45) und explizit Welzel, Das neue Bild, 4. Aufl., S. 17. Welzel, AT, 3. Aufl., S. 52; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 36.
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würden. Damit scheide eine Strafbarkeit aus Körperverletzungs- und Tötungstatbeständen aus, in Betracht komme freilich die Verwirklichung von Freiheitsdelikten771. Bei anderen Fallen läßt sich die Relevanz der Zustimmung des Opfers den Ausfuhrungen Welzels nicht ohne weiteres entnehmen. Dies gilt insbesondere fur die Freiheitsbeschränkungen, die normale Begleiterscheinungen des modemen Verkehrs seien772. So liege keine Freiheitsberaubung darin, daß ein Zug nur an bestimmten Stationen halt773. Hier kann sich aber offenbar an der Beurteilung nichts ändern, wenn der Reisende sein anfängliches Einverständnis während der Fahrt aufgibt; das zustimmende Verhalten ware in diesem Fall nicht das ausschlaggebende Merkmal der sozialadäquaten Freiheitseinschränkung. Lag von Anfang an kein Einverständnis zum Fahrtantritt vor - war der Fahrtantritt erzwungen - so ist sie allerdings im Verhältnis zu dem, der sie erzwingt, nicht als normale Beförderung anzusehen, sondern es liegt eine Freiheitsberaubung vor. Im Verhältnis zum Befbrderungsunternehmen bleibt es allerdings wohl auch unter diesen Umständen bei einer sozialadäquaten Beförderung, so daß auch bei dieser Konstellation die fehlende Zustimmung die Sozialadäquanz nicht ausschließt774. Zweifelhaft ist auch, welche Rolle die Zustimmung des Opfers bei dem von Welzel ebenfalls als Fall der Sozialadäquanz eingeordneten „Erbonkelfall"775 spielt776. Da das Risiko unabhängig vom Opferwillen infolge seiner zeitgemäßen Normalität sozialadäquat bleibt777, liegt es auch hier näher anzunehmen, daß das Verhalten des Neffen auch dann keinen Tötungstatbestand erfüllt, wenn er den Onkel zur Teilnahme an der Fahrt gezwungen hat778. Dagegen ist bei den von Welzel genannten Fallen der Sportverletzungen, die unter Einhaltung der sportlichen Regeln zugefligt wer771 772
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Welzel, AT, 3. Aufl, S. 52; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 36. Siehe Welzel, AT, 3. Aufl., S. 52; Hirsch, ZStW 74 (1962), 87 f, 89 f, 115 ff. halt zwar eine Differenzierung in Abhängigkeit vom Vorliegen des Einverständnisses fur sachgerecht, sieht aber unabhängig von dieser Differenzierung keinen Fall der sozialen Adäquanz gegeben. Welzel, AT, 3 . Aufl., S. 52; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 36 und S. 45, w o darauf hingewiesen wird, daß hier nicht erst die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund eingreift. A.A. Hirsch, Z S t W 7 4 (1962), 115 ff. für den Fall, daß der Reisende versehentlich in den falschen Zug einsteigt: tatbestandliche Freiheitsberaubung, die „mit Riicksicht darauf, daß d a s Funktionieren des betreffenden Verkehrsunternehmens als Massenverkehrsmittel die Einhaltung des Fahrplans und der dort angegebenen Halte erforderlich macht" gerechtfertigt sei. Der Neffe iiberredet seinen Onkel zu einer Eisenbahnfahrt in der Hoffnung, dieser m ö ge bei einem Eisenbahnunglick urns Leben kommen, was auch geschieht; siehe Welzel, Z S t W 58 (1939), 517; dens., AT, 3. Aufl., S. 5 1 ; dens., Strafrecht, 1. Aufl., S. 35 f. Dieser Gesichtspunkt wird heute verschiedentlich bei der Lösung dieses Falles angesprochen; siehe Freund, JuS 1997, 3 3 3 ; Kühl, AT, § 4 Rn. 92; Preuß, Untersuchungen, S. 2 5 ; ähnlich Roxin, in: GS für Armin Kaufmann, 238. Auch Hirsch, Z S t W 7 4 (1962), 88, 97 f. will Fälle dieser Art (auch wenn er sich an der zentralen Stelle S. 9 7 f. nicht mehr auf den Erbonkelfall bezieht) nicht unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz, sondern als Fälle fehlender Tatherrschaft behandeln. Freilich erfüllt der Neffe dann die Tatbestände von Freiheitsdelikten; unter diesem A s pekt ist das Verhalten nicht sozialadäquat.
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den779, der zustimmende Opferwille unverzichtbare Voraussetzung fur die Einordnung solcher Verhaltensweisen als sozialadäquat780. Das zeigt sich sowohl bei solchen Sportarten, bei denen die Verletzung des Gegners gerade Ziel der sportlichen Betätigung ist (z.B. Boxsport), als auch bei solchen Sportarten, bei denen zwar ein erhöhtes - und zwar gemessen an sonstigen, vom Einverständnis potentieller Opfer unabhängigen Betätigungen des sozialen Lebens: inadäquat erhöhtes - Risiko von Verletzungen besteht, ohne daß dieses gerade das Ziel der sportlichen Betätigung ware (z.B. Fußballspiel). Der Entscheidung des Opfers kommt bei der Konkretisierung der Fälle der Sozialadäquanz also immer dann Bedeutung zu, wenn die Einhaltung der durch die „geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens" gezogenen Grenzen gerade davon abhängt, daß der Eingriff in die Rechtsgilter des Opfers mit dessen Zustimmung vorgenommen wird. Schon die bei Welzel aufrechterhaltene Abgrenzung zur rechtfertigenden Einwilligung zeigt, daß die zustimmende Opferentscheidung nicht per se die Sozialadäquanz eines Eingriffs begrilnden kann, sondern immer nur ilber ihre Relevanz als Bestandteil eines sozialen Verhaltensmusters. Die Funktion des zustimmenden Opferverhaltens als eines den Umfang der sozialen Adäquanz konturierenden Gesichtspunktes kommt nicht nur bei dem bislang im Vordergrund stehenden vorsätzlichen Verhalten des Außenstehenden zum Tragen, sondern auch bei solchen Verhaltensweisen, bei denen die Verletzung nicht vom Vorsatz erfaßt ist, die also allenfalls fahrlässig sein können781. Die Grenze von (tatbestandsausschließender) Sozialadäquanz und den Rechtfertigungsgründen (also auch der Einwilligung), ist fur Welzel fließend782: Während sozialadäquates Verhalten sozial iiblich, normal sei, seien Rechtfertigungsgründe „Ausnahmetatbestände, die besondere Ausnahmesituationen umschreiben, in denen das tatbestandsmäßige Handeln rechtmäßig ist"783. Die (fließende) Grenze zwischen Sozialadäquanz und Rechtfertigung verläuft also zwischen dem sozialen Normalfall und der (normativ bestimmten784) Ausnahmesituation. 779 780 781
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Welzel, AT, 3. Aufl., S. 52; ders., Strafrecht, 1. Aufl., S. 36. Weshalb etwa Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, S. 41 f. in diesen Fallen die Rechtswidrigkeit wegen Vorliegens einer Einwilligung ausschließen will. Siehe Welzel, ZStW 58 (1939), 564 in Fn. 96: die „Einwilligung" habe im Bereich der fahrlässigen Tatbestände die Bedeutung, daß sie „ausnahmsweise die Grenzen des erlaubten Risikos erweitert". Mit „erlaubtem Risiko" bezeichnet Welzel (a.a.O., 518) einen Sonderfall der Sozialadäquanz, der sich durch einen erhöhten Grad der Rechtsgutsgefahrdung auszeichnet. Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 46. Siehe auch die Kritik von v. Weber, in: FS fur Edmund Mezger, S. 188: „Jede gerechtfertigte tatbestandsmäßige Handlung ist sozialadäquat". Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 45; dem folgend Hoppe, Die soziale Adäquanz, S. 38 f, 43. Darauf, daß das Verhältnis von Norm und Erlaubnissatz normativ (nicht etwa im Sinne eines statistischen Regel-/Ausnahmeverhältnisses) zu verstehen ist, hat Welzel in späteren Auflagen seines Lehrbuchs hingewiesen; vgl. Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 81. Siehe dazu noch unten im Text.
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In späteren Auflagen seines Lehrbuchs hat Welzel die Sozialadäquanz voriibergehend nicht mehr im Tatbestand, sondern in der Rechtswidrigkeit verortet. Die soziale Adäquanz sei „der in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde (gewohnheitsrechtliche) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens"785. Gleichwohl konnte die Sozialadäquanz nicht ohne Auswirkungen auf den Tatbestandsbereich bleiben: Sollte nach Welzel erst die fehlende Sozialadäquanz das Gemeinschaftswidrige eines Verhaltens ausmachen, so bedeutete der Verzicht auf die Sozialadäquanz auf Tatbestandsebene eine Einschränkung der Unrechtstypizität auch bei den „geschlossenen" Tatbeständen786. Die Indizwirkung der Tatbestandsverwirklichung sollte deshalb bei sozialadäquatem Verhalten nicht eingreifen787. Inhaltlich war mit dieser geänderten Lokalisierung der Sozialadäquanz keine Änderung verbunden. Die (nachfolgend erörterten) Einschränkungen des Anwendungsbereichs der Sozialadäquanz gegenüber der ursprünglichen Konzeption stehen in keinem inneren Zusammenhang mit der Behandlung als Rechtfertigungsgrund, sondern resultieren aus den Schwierigkeiten der Abgrenzung von „Normalfall" und „Ausnahmesituation"788. Unter prinzipieller Beibehaltung der ursprünglichen Definition von Sozialadäquanz hat Welzel später einerseits ein restriktiveres Bild der unter den Begriff des sozialadäquaten Verhaltens subsumierbaren Fälle gezeichnet und andererseits den Anwendungsbereich durch einige neue Beispiele weiter konturiert. Nicht mehr als Fälle der Sozialadäquanz ordnet Welzel nun Sportwettkämpfe ein, in deren Rahmen ein Verletzungsrisiko besteht (und sich realisiert). Hier liege tatbestandlich eine Körperverletzung vor, die durch Einwilligung gerechtfertigt sei789. Neue, unter dem Aspekt der Opferselbstverantwortung bedeutsame Beispiele sozialadäquaten Verhaltens entnimmt Welzel der Rechtsprechung des BGH. So bleibe das Verlassen des Ehegatten auch dann sozialadäquat, wenn dadurch die Gefahr begründet wird, daß der verlassene Ehegatte einen Suizid unternimmt790. Auch sei das Ausschenken von Alkohol durch einen Gastwirt trotz der damit verbundenen Risiken fur den Gast im Rahmen seiner anschließenden Teilnahme am Straßenverkehr jedenfalls in einem gewissen Rahmen sozialadäquat791. Diese Beispiele illustrieren zugleich Welzels Auffassung, daß „Sozialadäquanz" nicht notWelzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 68 f.; ders., Das neue Bild, 4. Auf!., S. 25 f. zur Entwicklung des Gedankens der Sozialadäquanz bei Welzel bereits oben im Kleindruck. Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 68; ders., Das neue Bild, 4. Aufl., S. 25. Ebenda. Das zeigt sich etwa bei den Tötungshandlungen im Kriege, wo die anfängliche Einordnung als sozialadäquat am Maßstab des „Kriegsnormalen" erfolgte; Welzel, ZStW 58 (1939), 527. Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 96. BGHSt 7, 268; dazu Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 226; ders., 11. Aufl., S. 56 f. BGHSt 19, 152; dazu Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 57.
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wendig ein sozial vorbildliches Verhalten voraussetze, sondern nur ein „Verhalten im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit"792. Die - auch in Welzels Abgrenzungsschwierigkeiten und Schwankungen zum Ausdruck kommende - zentrale intrasystematische Problematik seiner Lehre von der sozialen Adäquanz ist die Konturierung dessen, was als sozialadäquat einzuordnen ist793. Offenbar kann nicht bereits die tatsächliche Übung in einer Gesellschaft die soziale Adäquanz eines Verhaltens ausmachen, da sonst auch sozialwidrige Verhaltensweisen bei entsprechender Häufung sozialadäquat würden. Daß allein die tatsächliche Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen nicht die Beurteilimg eines Verhaltens als sozialadäquat tragen kann, zeigt sich auch an Welzels Beispiel des seine suizidgefahrdete Ehefrau verlassenden Marines. Obwohl es sich um eine eher seltene Konstellation handeln dürfte, halt Welzel das Verhalten des Marines als von dessen persönlicher Freiheit („nach der heute bestehenden Überzeugung von persönlicher Freiheit") gedeckt und deshalb für sozialadäquat794. Folgerichtig betont Welzel deshalb auch die normative Seite des Begriffs der Sozialadäquanz. Die das soziale Leben beherrschenden Formen seien „nicht lediglich faktische Übungen, sondern geschichtliche Ordnungen, die sich aus- und fortbilden in dem Bedingungszusammenhange zwischen dem sachlichen Lebensbestand (z.B. der technischen Entwicklung) und den Werthaltungen, mit denen die Gemeinschaft wertend und ordnend auf den jeweiligen Daseinsbestand antwortet. Nur unter Hinzunahme dieser normativ-werthaften Seite (als das sozial 'Angemessene') ist die soziale Adäquanz ein immanentes Prinzip der Rechtsbildung (,..)"795. Diese Sichtweise muß als Konkretisierung des oben dargestellten ontologisierenden Grundansatzes Welzels in einem (auch796) strafrechtlichen Begriff verstanden werden. Die Interpretation teilt deshalb etwas von dem Dunkel, das auch den Grundansatz umgibt797. Es bleibt vor allem erklärungsbedürtig, was an Werthaftem mehr bleibt, als das Werturteil der Gemeinschaft. Welzel scheint davon auszugehen, daß die Wertung der Wirklichkeit eine neue Qualität gibt, in die die Werthaftigkeit gleichsam aufgenommen ist. Das kommt etwa dann zum Ausdruck, wenn er meint, das ontische Sein trage „die gesetzlichen Strukturen und die Wertdifferenzen immanent in sich"798 und wenn er sich das Wirkliche als vom Wert innerlich durchdrungen vorstellt799 oder wenn er schließlich behauptet, daß „die
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Welzel, Strafrecht, 11. AuflL, S. 56. Dazu Roxin, in: F S fur Welzel, S. 304 f. Freilich läßt sich diese Schwäche unter dem Gesichtspunkt politischer Anpassungsfähigkeit auch (kritisch) als Stärke formulieren; vgl. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 664. Welzel, Strafrecht, 11. A u f l , S. 56. Welzel, Z S t W 58 (1939), Anm. 38 auf S. 517 (Kursivdruck im Original gesperrt). Welzel betont die das Strafrecht Ubergreifende Bedeutung der sozialen Adäquanz; vgl. Strafrecht, 5. Aufl., S. 69; 11. Aufl., S. 58. Siehe auch die Kritik Radbruchs an Welzels „Naturalismus und Wertphilosophie", in der Besprechung dieses Buches, S. 30 f. Welzel, Naturalismus, S. 78 f. Welzel, Naturalismus, S. 82.
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Werte tief im Ontischen wurzeln"800. Für die normative Bestimmung der Sozialadäquanz scheint der Ertrag dieser Sichtweise zunächst in der historischen Gewachsenheit sozialer Strukturen, also darin zu liegen, daß jede Wertung durch eine Gemeinschaft an gewachsene Wertungen ihrer Vorgänger anknüpft, so daß die soziale Wirklichkeit immer schon als in einem historischen Kontext stehende gewertete und mit Riicksicht auf diese Wertungen (und die äußeren, wandelbaren Bedingungen) geformte Wirklichkeit dem Gesetzgeber vorgegeben ist. Wenn Welzel also zur Bestimmung der Sozialadäquanz auf deren Eingebundenheit in „geschichtliche Ordnungen" verweist, dann um deutlich zu machen, daß die Sozialadäquanz nicht etwa das ad hoc Urteil einer Gemeinschaft ist, sondern ihre Inhalte von entwickelten Werthaltungen und den konkreten Rahmenbedingungen, in denen sich das soziale Leben abspielt, abhängen. Gleichzeitig ist damit gemeint, daß die sozialen Strukturen selbst in ihrer konkreten Ausgestaltung ihr Sosein (auch) den Werthaltungen der Gemeinschaft verdanken und dementsprechend die fur ihre Formung maßgeblichen Wertungen widerspiegeln; in diesem Sinne kann man von einer Verwurzelung der Werte im Sein sprechen. In Welzels „Wirklichkeitspathos"801 ist der Einfluß Hegels nicht zu iibersehen802. So werden die zeitlos geltenden abstrakten Wertbegriffe, wie „das Gute", durch die zeitgebundenen Einstellungen einer Gemeinschaft in bestimmten Sozialentwürfen konkretisiert803. Subjekt der Wertung bleibt bei alledem „die Gemeinschaft". Abgesehen von den Schwierigkeiten einer Konkretisierung dessen, was als Gemeinschaftsurteil gelten kann804, verselbständigt sich damit die Werthaftigkeit eines Verhaltens gegenüber dem Einzelnen. Die Handlung wirkt zwar in eine soziale Wirklichkeit hinein, aber sie kann nur sehr begrenzt als Träger dieser sozialen Wirklichkeit begriffen werden805; die Welt werthafter sozialer Strukturen hängt erst einmal vom Urteil der Gemeinschaft ab und die handelnde Stellungnahme des Einzelnen ist in dieses Gemeinschaftsurteil eingelassen, ohne dessen Inhalte zu bestimmen. Die Konsequenzen einer solchen Vernachlässigung des Individuums zugunsten der Orientierung an der Gemeinschaft zeigen sich deutlich an Welzels Haltung zum nationalsozialistischen Rechtsdenken806. Trotz dessen Verachtung gegeniiber dem Einzelnen807 trägt Welzel keine Bedenken, die
800 801 802 803 804
805 806 807
Welzel, Naturalismus, S. 84 f. Sticht, Sachlogik als Naturrecht?, S. 332 fur die Phase bis 1945. Explizit dazu Welzel, Naturalismus, S. 86. Welzel, Naturalismus, S. 85. Die bis hin zum Rückzug auf „die maßgebenden Schichten der staatlichen Gemeinschaft" gehen (so Hoppe, Die soziale Adäquanz, S. 74), womit die Legitimationsgrundlage eines so gegrlindeten Werturteils offenbar nicht einmal mehr in demokratischen Strukturen gefunden werden kann. Vgl. dazu Zaczyk, Das Unrecht, S. 96 ff. Spätere Distanzierung bei Welzel, Über die ethischen Grundlagen, S. 241 ff. Siehe dazu näher unten VI.
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nach nationalsozialistischen Maßstäben „staatlich geformte Volksgemeinschaft" dem Einzelnen als Orientierungsmaßstab aufzuerlegen808. So bleibt es auch ein ganz oberflächliches Zugeständnis an das Individuum, wenn Welzel meint, daß die „positiven sozialethischen Aktwerte" in „der beständigen rechtlichen (d.h. legalen, nicht notwendig moralischen) Gesinnung" wurzeln und den „positiven sozialethischen Hintergrund der strafrechtlichen Normen" bilden809. Der Zusammenhang mit der oben bereits konstatierten überindividuellen Begriindung des (Un-) Rechts bleibt im wesentlichen ein funktionaler. Welzel selbst hat die Unentbehrlichkeit des „ethischen Aktwertes" fur die Gestaltung der Gemeinschafit betont und daraus seine Inanspruchnahme fur die Gemeinschaft zur Sicherung ihres Bestandes und zur Erftlllung ihrer „geschichtlich-kulturellen Mission" geschlossen810. Insofern steht der Handlungswert danach im Dienste der Gemeinschaft und die Handlungen der Einzelnen sind fur die Gemeinschaftsziele nur Mittel811. Die im Text anschließende Relativierung dieser Funktionalisierung des Handlungswertes bringt letztlich nur noch eirunal die Einbindung der Einzelnen in die Gemeinschaft und die Notwendigkeit der totalen Inanspruchnahme des Einzelnen zum Ausdruck; Welzel schreibt: „Und doch sind sie (die Handlungen, d. Verf.) in ihrem eigenständigen sittlichen Aktwert auch fur die Gemeinschaft mehr als bloße Mittel. Derm nicht nur besteht die sittliche Höhe der Gemeinschaft (also ein wesentlicher Teil ihrer kulturellen Mission) in nichts anderem als in den aktuellen sittlichen Leistungen ihrer Glieder, sondern auch ihre Kraft und ihr Bestand ruhen letztlich auf der sittlichen Hingabe ihrer Angehörigen"812. Die „Eigenständigkeit" der sittlichen Aktwerte ist dann aber offenbar darauf reduziert, als Teil der Gemeinschaft die Erfullung von deren kultureller Mission mit zu verwirklichen; die Definitionsmacht der Gemeinschaft über das, was Sittlichkeit verlangt, ist damit so wenig angetastet wie die Bezogenheit der Sittlichkeit auf den Gemeinschaftsgedanken. Das zeigt sich deutlich daran, daß Welzel die Aktunwerte gerade (auch813) zum Schutz der Rechtsgüter pönalisiert sieht814, die wiederum primär in ihrer Bedeu808
809 810 811 812 813 814
Welzel, AT, 3. Aufl., S. 65. Es erscheint - auch mit Blick auf die oben bereits angefuhrten Zitate - kaum ilberzeugend, Welzel eine neutrale Haltung gegenliber dem Nationalsozialismus nachzurilhmen (in diesem Sinne aber Arthur Kaufman», Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, S. 2); allerdings dilrfte auch die Titulierung als einen „der Strafrechtsideologen der Hitler-Diktatur" (Ingo Mailer, Furchtbare Juristen, S. 223) überzogen sein. Vgl. zur Haltung Welzels im Nationalsozialismus auch Marxen, Die rechtsphilosophische Begründung, S. 58 f, 63; Wagner, Nationalsozialismus, S. 174 f, 181 und zuletzt Sticht, Sachlogik als Naturrecht?, S. 18 ff, 98 f. und passim. Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 2; vgl. auch dens., in: FS für Kohlrausch, S. 105. Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 105. Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 105 (Hervorhebung nur hier). Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 105. Freilich hat Welzel auch verschiedentlich die eigenständige Bedeutung der Aktwerte betont; vgl. Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 110 ff; siehe noch unten. Siehe Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 2; dens., Strafrecht, 11. Aufl., S. 2.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
tung fur die Gemeinschaft, als deren „Lebensgilter" bestimmt werden. So kommt es, daß Welzel auch die Individualrechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum ausdrücklich als Beispiele fllr solche Lebensgilter der Gemeinschaft nennen kann815. Diese Giiter werden also primär in ihrer Bedeutsamkeit fur die Entfaltung einer Gemeinschaft bestimmt und erhalten von daher - urspriinglich von der oben bereits zitierten Idee einer Volksgemeinschaft - ihren Charakter als (mögliche) Güter des Rechts816. Der Schutz der „Aktwerte rechtlicher Gesinnung" hat so, wie gezeigt, vor allem dienende Funktion: „sie sind das stärkste Fundament, das den Staat und die Gemeinschaft trägt"817. Gleichwohl hat sich Welzel unter dem Einfluß Ä^arcrischer Philosophic gegen eine rein utilitaristische Bestimmung der Aktwerte gewendet und insbesondere betont, der Staat könne die verpflichtende Geltungskraft seiner Normen nicht allein auf den Nutzen fur den Güterschutz gründen, sondern er müsse die Bewährung rechtlicher Gesinnung als eigenständigen Rechtswert anerkennen818. Das ändert aber fur Welzel nichts daran, daß die rechtliche Werthaftigkeit einer Gesinnung von der Gemeinschaft definiert und auf diese bezogen bleibt. Das zeigt sich etwa daran, daß Welzel den „Wert der Tapferkeit" zwar nicht bloß in dem von ihr begründeten Gemeinnutzen sieht, wohl aber „in dem Akte der Hingabe fur das Ganze, den der Einzelne vollzieht"819. Die Werthaftigkeit des Aktes bleibt also ganz durch die der Gemeinschaft dienende Funktion bestimmt. Diese Konzeption muß auf den Umfang der Relevanz zustimmenden Opferverhaltens erheblichen Einfluß ausüben. Das gilt schon fur die Bedeutsamkeit zustim815 816
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Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 2; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 2. Das zeigt sich plastisch an der Erwägung Welzels, Strafrecht, 1. Aufl., S. 2; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 3 f.; ders., in: FS fur Kohlrausch, S. 108 f., daß der zum Tode verurteilte Verbrecher zwar „ein sozial wertloses Menschenleben" sei, dessen eigenmächtige Tötung aber gleichwohl ein Tötungsdelikt bleibe, weil nur so „die Sicherheit aller ausreichend gewährleistet werden" könne, „wenn unabhängig vom aktuellen Wert des Einzellebens die Achtung vor fremdem Leben sichergestellt wird". Das Tötungsverbot gilt hier also nicht um des getöteten Individuums (in seinem Verhältnis zu dem hierzu nicht autorisierten Täter) willen, sondern um des Schutzes der sozial werthaften Menschenleben willen, die bei einer Aufweichung der Geltung des Tötungsverbots ebenfalls gefahrdet wären. Damit erhält das Individuum seinen Wert nur von der Gemeinschaft her. Welzel, Strafrecht, 11. A u f l , S. 3; ders., in: FS fflr Kohlrausch, S. 112. Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 112. Freilich wendet sich Welzel hier nur dagegen, daß sich die Bedeutung der rechtlichen Gesinnungswerte im Nutzen fur die Gemeinschaft erschöpfen und zum anderen heißt es letztlich doch, daß sich auf der Bewährung rechtlicher Gesinnung „die gesinnungsmäßige Höhe der Gemeinschaft" aufbaue, „und letztlich verbilrgt die Bewährung rechtlicher Gesinnung allein die Kraft und den Bestand des Staates". Welzel, in: FS fur Kohlrausch, S. 112 (Kursivdruck im Original gesperrt).
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel)
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menden Verhaltens im Rahmen der sozialen Adäquanz. Welzel erlegt dem Einzelnen hier „das Maß der notwendig vorauszusetzenden Beeinträchtigungen" auf, damit sich das „geordnete Gemeinschaftsleben" in seinen „lebendig-tätigen Funktionen" vollziehen kann820. Das bedeutet zunächst, daß der Widerspruch des Opfers in diesem Rahmen nichts an der sozialen Adäquanz eines gefährlichen Verhaltens ändern kann821. Umgekehrt kann die Zustimmung des Opfers nicht jedem Verhalten die Qualität eines sozialadäquaten Verhaltens geben. Die Zustimmung ist nämlich kein Umstand, dem im Rahmen eines „geordneten Gemeinschaftslebens" per se Relevanz zukommen muß. Im Gegenteil: in der Perspektive der Gemeinschaft haben der Individualwille und die in einer konkreten Handlung zum Ausdruck kommende Orientierung an ihm nur dann einen Platz, wenn sie eine Stelle im Funktionieren dieser Gemeinschaft haben, also fiir die konkrete Gemeinschaft nach deren Werthaltungen förderlich oder jedenfalls nicht schädlich sind. Dem Individualwillen kommt demnach keine urspriingliche, sondern nur eine abgeleitete Bedeutung zu; diese Bedeutung wird ihm von der Gemeinschaft gewährt. Aber nicht nur in der „geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens" hat die Selbstverantwortung des Opfers keine originäre Stelle. Auch in den Fallen der außerhalb dieser Ordnung liegenden - sozial inadäquaten - bewilligten Verhaltensweisen, bei denen allenfalls eine Rechtfertigung als Ausnahmesachverhalt eingreifen kann822, kommt nicht ein gegenüber den Gemeinschaftsbelangen selbständiges Selbstbestimmungsrecht als Argument fur einen Unrechtsausschluß in Betracht. Um dies aufzuzeigen bedarf es einer Klärung des von Welzel anerkannten Geltungsgrundes der Einwilligung. Dessen Lehre zu dieser Frage ist allerdings mit erheblichen Unklarheiten belastet. Welzel erklärt die Einwilligung als „Verzicht auf den Rechtsschutz"823. Im Sinne eines Verzichts auf Sfrq/fechtsschutz verstanden impliziert dies, daß der Verhaltens- und Erfolgsunwert durch die Einwilligung unangetastet bleiben und lediglich die strafrechtliche Sanktion des verwirklichten Unrechts aufgrund der Einwilligung unterbleibt824. Diese Sichtweise wilrde aber der Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund im Rahmen von Welzels Interpretation der Rechtfertigungsgriinde nicht gerecht. Fehlende Rechtswid820 821
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Welzel, ZStW 58 (1939), 516. Ein Ergebnis, daß freilich seine Akzeptanz zu einem Gutteil daraus beziehen mag, daß es um Fälle geht, in denen das Opfer, an dem sich ein Risiko letztlich realisiert, gerade noch nicht individualisierbar ist; stilnde es fest, läge kein Fall sozialer Adäquanz mehr vor. Freilich hat Welzel dieses Regel-/Ausnahmeverständnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit nicht immer durchgehalten, wie bei den Schwankungen der Einordnung der Sozialadäquanz bereits gezeigt wurde: Wird die Sozialadäquanz als Rechtfertigungsgrund angesehen, so liegt insoweit gerade kein Ausnahmesachverhalt vor, weshalb die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit in diesen Fallen auch nicht indizieren könne; vgl. Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 68 f. Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 54; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 95. So die Kritik von Stratenwerth/Kuhlen, AT I, § 9 Rn. 5 an einer Interpretation der Einwilligung als „Verzicht auf Rechtsschutz".
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
rigkeit besagt nach Welzel nämlich, daß ein Verhalten in Einklang mit der Gesamtrechtsordnung steht825. Die Rechtfertigungsgründe müssen danach bereits das Verhaltensunrecht ausschließen. Daraus folgt, daß der in der Einwilligung liegende Verzicht auf Rechtsschutz sich nicht auf das Eingreifen der Sanktionsnorm, sondern nur auf die Verbotsnorm beziehen kann. In diesem Sinne schreibt Welzel: „Den Verbotsnormen treten in bestimmten Fallen Erlaubnissätze entgegen, die verhindern, daß die abstrakte (generelle) Norm zur konkreten Rechtspflicht wird, und darum die Tatbestandsverwirklichung gestatten"826. Ausführlicher ist dieser Gedanke von Armin Kaufmann entwickelt worden827: Kaufmann bezeichnet die „konkretisierte", d.h. die einem ganz bestimmten Einzelnen ein ganz konkretes Verhalten vorschreibende Norm als Pflichf2%. Das (abstrakte) Verbot konkretisiere sich zu einer Pflicht, eine konkrete Handlung zu unterlassen. Die Verletzung dieser Unterlassungspflicht begriinde das konkrete Unwerturteil ilber die vollzogene Handlung; dieser Akt sei damit rechtswidrig, er sei ein Unrecht829. Ebenso könne sich ein (abstrakter) Erlaubnissatz fur den einzelnen Fall zu einer Erlaubnis konkretisieren. Demnach erwachse aus einem Verbot nur dann eine Unterlassungspflicht, wenn keine Erlaubnis vorliegt. „Die Erlaubnis hindert die Konkretisierung der Norm zur Pflicht"830. Die rechtfertigende Einwilligung hebt demnach nicht erst die Strafdrohung auf, sondern sie verhindert das Entstehen der konkreten Pflicht zur Nichtvornahme der tatbestandsmäßigen Handlung. Trotz der normentheoretischen Unterschiede, die damit zwischen Sozialadäquanz831 und Rechtfertigungsgriinden bestehen, entsteht so nicht die kategoriale Differenz, die bei einer Ansiedlung der Einwilligung auf Sanktionsnormenebene begriindet ware. Es ergibt sich die bereits erwähnte „fließende Grenze" zwischen Sozialadäquanz und Einwilligung832. Gemeinsam ist Sozialadäquanz und Einwilligung ihre unrechtsausschließende Wirkung, ihr Unterschied liegt darin, daß diese Wirkung bei der sozialen Adäquanz durch deren so-
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Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 45; ders., Strafrecht, 5. Aufl., S. 65; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 80;cfera.,DasneueBild, 1. Aufl., S. 14 f. Diese Formulierung findet sich ab Welzel, Strafrecht, 5. Aufl., S. 65; ebenso ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 80; ähnlich auch schon frilher, siehe Welzel, Strafrecht, 4. Aufl., S. 59. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 249 ff. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 140. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 144 f. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, S. 250 (im Original gesperrt). Sozialadäquates Verhalten steht bereits mit den abstrakten Verbotsnormen in Einklang. Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 46.
V. Die (gemeinschaftsbezogen bestimmte) Werthaftigkeit des Seins (Hans Welzel)
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ziale Üblichkeit begründet wird, während sie bei der Einwilligung aus einem besonderen, normativ eine Ausnahmesituation regelnden Erlaubnissatz resultiert833. Dementsprechend verschiebt sich die Begründung für die Wirksamkeit der Einwilligung gegentiber der Begriindung fur die Relevanz der Sozialadäquanz nicht kategorial, sondern nur graduell. Maßstab ist stets die Gesamtrechtsordnung, einmal in ihrer geschichtlich überkommenen Normalität, das andere mal in ihrer Kompetenz, auch den von dieser Normalität abweichenden normativen Ausnahmefall zu bewältigen und unter gewissen Voraussetzungen in diese Ordnung zu integrieren. Mit dem Maßstab der Gesamtrechtsordnung ist auch fur die Einwilligung das gesetzgeberisch sanktionierte Gemeinschaftsurteil als die diese Ordnung formende Instanz maßgeblich. Die Relevanz der Einwilligung fmdet also nach Welzel ihre Grenzen folgerichtig dort, wo öffentliche Interessen geschtitzt werden. Dabei könnte man nach dem Grundansatz Welzels auf den Gedanken kommen, diesen Schutz öffentlicher Interessen stets zu bejahen, nachdem oben gezeigt worden ist, daß er auch typische Individualrechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum als Güter der Gemeinschaft begreift834. Diese Konsequenz fur die Einwilligung will Welzel aber freilich nicht ziehen. Er ist vielmehr in dem Sinne zu verstehen, daß das zustimmende Opferverhalten dazu ftlhren kann, das grundsätzlich bestehende öffentliche Interesse am Unterbleiben eines sonst verbotenen Verhaltens zu beseitigen. Als „Lebensgilter der Gemeinschaft" sind die Individualrechtsgüter nämlich nur nach bestimmten Richtungen geschiitzt und sie können diese Qualität insoweit verlieren, wie die Einwilligung das Interesse der Gemeinschaft beseitigt. Die Formulierung: „Einwilligen kann nur derjenige, der alleiniger Träger des rechtlich geschützten Interesses ist"835, muß also dahingehend verstanden werden, daß „alleiniger Träger" derjenige ist, dessen Einwilligung in der Lage ist, das öffentliche Interesse zu beseitigen.
Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 45; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 55 f., 80 f. (dort, S. 81, wird auch klargestellt, daß es bei den Erlaubnissätzen nicht um ein statistisches, sondern um ein normatives Ausnahmeverhältnis geht). Man könnte auf den Gedanken verfallen, daß Welzel unterhalb des stets vorausgesetzten Gemeinschaftsschutzes eine Differenzierung danach einfuhren will, wer „Träger" des jeweiligen Rechtsguts ist. Das würde voraussetzen, daß auch Gemeinschaftsgüter zunächst individuellen Trägern zugeordnet sind. Dafür ließe sich die Formulierung anfiihren: „Einwilligen kann nur derjenige, der alleiniger Träger des rechtlich geschiitzten Interesses ist" {Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 96 [Kursivdruck im Original gesperrt]; gleichsinnig schon Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 54). Ein solches formalisiertes Verständnis ware aber gerade im Kontext der Einwilligung nicht sinnvoll. Der Begriff des „Trägers" eines Rechtsgutes muß die materielle Inhaberschaft eines Gutes zum Gegenstand haben, muß also den kennzeichnen, in dessen Interesse ein Gut geschiitzt ist. Daß Welzel selbst mit Trägerschaft nicht das angedeutete Verständnis verbindet, zeigt sich deutlich daran, daß er das Individuum nicht als alleinigen Träger des Rechtsguts „Leben" interpretiert {Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 55; ders., 11. Aufl., S. 96). Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 96 (im Original teilweise gesperrt); gleichsinnig schon Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 54.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Damit ist klar, daß sich die Reichweite der Einwilligung bei Welzel nicht nach einem Selbstbestimmungsrecht des Opfers, sondern nach den Interessen der Gemeinschaft bestimmt. Deshalb hat Welzel auch keine Schwierigkeiten, die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 (226a a.F.) (R)StGB zu begriinden836. Die Bezugnahme auf den Gemeinschaftsgedanken mußte freilich vor 1945 besondere Überzeugungskraft entfalten. Welzel schrieb bezogen auf das Tötungsverbot: „Individualistische Zeiten werden dabei vornehmlich an den Lebenswillen des Einzelnen gedacht haben, unsere Zeit stellt das Interesse der Volksgemeinschaft an der Erhaltung jedes ihrer Glieder voran"837. Spätere Stellungnahme sind unspezifischer und betonen lediglich noch, daß das öffentliche Interesse ungeachtet der Erklärung des Opfers fortbestehe838. Auf die Spitze getrieben wurde der gemeinschaftsbezogene Ansatz schließlich im Nationalsozialismus:
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken (Nationalsozialismus) Das (Straf-) Recht des Nationalsozialismus hat sich in unvergleichlicher Weise den politischen Zielsetzungen des totalitären Staates dienstbar gemacht. Doch man verkürzt seine Bedeutung, wenn man es als „Perversion", als pathologische Ausnahmeerscheinung einer sonst prinzipiell vorwärtsschreitenden Entwicklung behandelt839. Der Ertrag einer Auseinandersetzung mit diesem Recht - gerade auch fur die Frage der Selbstverantwortung des Opfers - wird deutlicher und vor allem gewichtiger, wenn man es als Radikalisierung älterer Entwicklungslinien versteht und seine Bestandteile in einer Weise sichtbar macht, die es ermöglicht, sie auch in modernen Modellen wiederzufinden840. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß sich bei v. Liszt die kriminalpolitische Forderung findet, das Strafrecht in die Zielsetzungen eines weit in den sozialen Bereich hinein regierenden Staates einzubinden841. Bei Welzel hat dieses Bemiihen bereits eine völlig andere Qualität, indem es aus dem Bereich einer neben der Dogmatik angesiedelten Kriminalpolitik hervortritt und unvermittelt die dogmatischen Ergebnisse bestimmt, teilweise schon mit deutlich nationalsozialis836 837 838
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Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 55; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 96, 9 7 . Welzel, in: F S fur Kohlrausch, S. 108. Welzel, Strafrecht, 1. Aufl., S. 55; ders., Strafrecht, 11. Aufl., S. 96, 97, wo sich allerdings die Argumentation aus dem „öffentlichen Interesse" nur hinsichtlich § 216 StGB explizit findet. Dazu auch Naucke, NS-Strafrecht, S. 2 3 8 f; Stratenwerth, Faschismus, S. 4 3 ; Vogel, Z S t W 115 (2003), 640 ff. Vgl. dazu auch Vormbaum, G A 1998, 3 1 . Zu Parallelen mit nationalsozialistischem Denken auch Stratenwerth, Faschismus, S. 43; deren Grenzen aufzeigend Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 9.
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken
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tischer Färbung. Im Nationalsozialismus wird das aufklärerische Bemühen, die Macht durch das Recht zu begrenzen, in sein schieres Gegenteil verkehrt: das Recht wird zum Instrument der Macht und in seiner Ausgestaltung dieser Zielsetzung angepaßt. Die (nationalwissenschaftliche) Rechtswissenschaft versteht sich selbst als „politische Wissenschaft" im Dienste des Nationalsozialismus842. „Die rechtstheoretische Literatur nach 1933 liest sich aus heutiger Sicht wie ein Wettbewerb der Rechtswissenschaft zur bestmöglichen Durchflihrung der geforderten rassisch-völkischen Rechtserneuerung als rechtspolitisches Ziel des Nationalsozialismus"843. Recht und Politik treten im Nationalsozialismus in eine bis dahin unbekannte Nähe. Das nationalsozialistische Recht wird vom parteipolitischen Programm der NSDAP unter ihrem „Führer" bestimmt. Die politischen Ziele dieser Partei werden in ihren jeweiligen Verwirklichungsstufen unmittelbar in Rechtsinhalte transformiert844. Die Berechtigung dieser Vorgehensweise wird mit der sachlich und personell umfassenden Programmatik der NSDAP begriindet, die nicht nur die Interessen bestimmter Gruppen oder der Einzelnen vertrete, sondern einen Absolutheitsanspruch geltend macht, der im Volk seine Legitimationsgrundlage erhalte und das Volk in seiner Gesamtheit umfasse845. Der nationalsozialistische Staat sei ein „Weltanschauungsstaat"846, in dem das Volk „oberster Wert"847, „Wurzel, We842
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In diesem Sinne etwa Siegert, Grundziige, S. IV, 1 ff. oder die Schrift von Schaffstein mit dem Titel „Politische Strafrechtswissenschaft" und deren lobende Besprechung durch Gallas, ZStW 54 (1935), 759 ff. (zurlickhaltender ders., Krise des Strafrechts, S. 1 f.); vgl. dazu auch Marxen, Der Kampf gegen das liberate Strafrecht, S. 169 ff. Rüthers, D i e Ideologie des Nationalsozialismus, S. 19; ders., Entartetes Recht, S. 19; zur ,,'Selbstgleichschaltung' juristischer Zeitschriften im Nationalsozialismus" Lothar Becker, Die „Selbstgleichschaltung", S. 481 ff. Eingehend zur Entwicklung des antiliberalen Strafrechtsdenkens im Nationalsozialismus Marxen, Der K a m p f gegen d a s liberate Strafrecht, S. 101 ff. V g l . etwa Hans Frank, D R 1934, 4 2 6 f.; Mezger, Z S t W 55 (1936), 9: „materiell rechtswidriges Handeln ist Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung"; siehe auch a.a.O., S. 10: die N S D A P sei „entscheidend mit daran beteiligt, was materiell rechtswidrig ist"; zur Überwindung des Gegensatzes v o n Recht und Politik, Dahm, D J Z 1934, Sp. 826. Vgl. auch Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 655; Mthers, Entartetes Recht, S. 32. Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 2 4 ; Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 1 1 ; ders., Aufbau u n d Aufgabe d e s Besonderen Teils, S. 72 f; Forsthoff Der totale Staat, S. 4 1 ; Sauer, ARSP 27 (1933/34), 18 f; Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 25; Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 10 f: Nationalsozialismus als „politisch-soziale Lebensganzheit der deutschen Nation" und die frtihen gesetzlichen Regelungen der Nationalsozialisten als „erste Etappen auf dem Wege zur Entfaltung des wesenseigenttimlichen Rechtes des nationalsozialistischen Volksstaates"; vgl. auch Schaefer, Führergewalt, S. 97 f; Schäfer, Die Rechtsstellung des Einzelnen, S. 111. Eingehend Kriiger, Die geistigen Grundlagen, S. 163 ff. Siegert, Grundziige, S. 8 (im Original gesperrt); Kriiger, Die geistigen Grundlagen, S. 173.
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sen und Ziel der nationalsozialistischen Erneuerung" sei848. Diese Bezogenheit auf das (deutsche) Volk ist zentraler Ausgangspunkt nationalsozialistischen Rechtsdenkens. Dabei ist freilich die Bezugnahme auf das nationalsozialistische Recht verkürzt. Es lassen sich mit Alexy drei Hauptrichtungen unterscheiden849, nämlich das völkisch-rassische Rechtsdenken (z.B. Roland Freisler), das autoritäre Rechtsdenken (insbesondere Carl Schmitt und Ernst Forsthoff) und der Neuhegelianismus in der Ausprägung, die er im nationalsozialistischen Staat fand (insbesondere Karl Larenz). Auch wenn jede dieser Richtungen eigene Akzente gesetzt hat, dominiert doch gerade fur das hier behandelte Thema das Gemeinsame, nämlich die Ablehnung individualistischen und liberalen Denkens und die Betonung des Gemeinschaftsgedankens850. Es ist also erlaubt, von dieser Gemeinsamkeit auszugehen und auf Unterschiede dort hinzuweisen, wo sie fur das Problem der Opferselbstverantwortung relevant sind. Auch in methodologischer Hinsicht ist das nationalsozialistische Rechtsdenken nicht einheitlich851. Auch hier lassen sich aber - trotz einer gewis-
Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 9; ders., Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 10 ff. Vgl. auch Larenz, Deutsche Rechtsemeuerung, S. 6, das Recht sei auf „eine konkrete Gemeinschaft als seinem Träger und zugleich als seine höchste Norm" bezogen; ders., Rechtsperson, S. 239: „Die Gemeinschaft ist der Ursprung des Rechts, das nicht willkiirlich geschaffen werden, sondern nur aus einem Gemeinschaftsleben als dessen Form und Gestalt hervorgehen kann; sie ist zugleich das Ziel, der innere Sinn, die 'Idee' des Rechtes, dessen Aufgabe es ist, das Zusammenleben der Glieder des Volkes in einer echten und freien Gemeinschaft zu ermöglichen und zu sichern". Alexy, Fortwirkungen nationalsozialistischer Denkweisen, S. 219 ff. Dabei ist freilich nicht zu verkennen, daß eine strikte Trennung in „Hauptrichtungen" den Umstand verdunkeln könnte, daß sich viele Vertreter des Nationalsozialismus auf Argumente unterschiedlicher Herkunft gestiitzt haben. Vgl. Schaffstein, ZStW 53 (1934), 606. Siehe auch Forshoff, der neben dem autoritären auch in scharfer Weise das völkisch-rassische Denken betont; vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 38 ff. Gleichwohl bleibt die Trennung sinnvoll, denn sie kennzeichnet die fur die Rechtsbegründung tragenden Gedankengänge und insoweit stehen völkisch-rassisches und autoritäres Denken in deutlicher Konkurrenz; vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 42 f. und S. 30, einerseits und Freisler, in: FS fur Heinrich Lehmann, S. 47 f; Höhn, DR 1935, 299 andererseits. So auch Alexy, Fortwirkungen nationalsozialistischer Denkweisen, S. 225: „Das nationalsozialistische Rechtsdenken ist in alien seinen Varianten zutiefst kollektivistisch", womit Alexy meint, es nehme den Einzelnen nicht ernst, d. h. es respektiere seine Interessen und Entscheidungen nicht. Siehe auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, S. 6. Siehe zum „Methodenstreit in der heutigen Strafrechtswissenschaft" den Beitrag von Dahm, ZStW 57 (1938), 225 ff. unter diesem Titel.
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken
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sen Vergröberung852 ohne Schaden fur die Sache - bestimmte Kemgehalte festhalten. Diese Gehalte stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem in den Vordergrund geriickten Gegenstand nationalsozialistischen Rechtsdenkens, dem Volk853. Zum einen ist es die Orientierung am „Konkreten", wie sie insbesondere im „konkreten Ordnungsdenken" praktiziert wurde. Der Einzelne stehe als Glied in verschiedenen Gemeinschaften, namentlich der Volksgemeinschaft; das Recht miisse sich an diesen vorgegebenen konkreten Ordnungen orientieren, es sei „nicht etwas außer und neben dem Leben Stehendes", es sei „das Leben selbst"854. Damit wendet sich die nationalsozialistische Methodenlehre gegen das „Trennungsdenken" der Neukantianer855, die Wirklichkeit und Wert unterschiedlichen Sphären zuordneten856. Zum anderen verlangt die nationalsozialistische Lehre eine „Ganzheitsbetrachtung"857. Mit ihr wenden sich die Nationalsozialisten gegen die von der Aufklärung vorgenommene rationalistische Rekonstruktion der Gesellschaft von den Individuen her und fordern eine „Gesamtschau", mit deren Hilfe das Wesen des Völkischen aufgedeckt werden könne.
1.
Das Verhältnis von Volk, Staat und Einzelnem
Von der Orientierung am Volk erhalten der Staat und das Individuum ihren Platz zugewiesen. Dabei wird das Volk freilich in einer ganz spezifischen, geradezu mystischen858 Qualität und Bedeutung - und als Gegenbegriff zu dem rationalkonstruktivistisch besetzten Begriff der „Gesellschaft"859 - verstanden860; es sei 852
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Vgl. etwa die Kritik von Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, an den Vertretern der Kieler Schule; dazu Frommel, „Rechtserneuerung", S. 50 f.; Liiken, Der Nationalsozialismus, S. 36 f. Vgl. Dahm, Z S t W 57 (1938), 285, der jede philosophische Orientierung in der Methodenlehre der Kieler Schule von sich weist und sie in Abhängigkeit von „einer bestimmten Grundanschauung vom Recht und seinem Verhältnis zum völkischen Leben" stellt; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 16 f., der im „objektiven Geist eines Volkes" die Einheit von Sein und Sollen begriindet sieht. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 59; ders., Wiedergeburt, S. 9 f, 19. Vgl. Mezger, Z S t W 57 (1938), 700 f.; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 16 f., 22 ff.; dens., Rechtsperson, S. 239. Siehe dazu oben IV. Dazu - bezogen auf die Straftat - Mezger, Z S t W 57 (193 8), 675 ff. Z u r nationalsozialistischen „Rechtsmystik" Hattenhauer, D i e geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 629 ff. Siehe etwa Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 8. Vgl. ferner Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 637; Liiken, Der Nationalsozialismus, S. 16 f. Vgl. etwa Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 10 f.; Gallas, FS fur Gleispach, S. 64 f.; Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 12 ff.; Siegert, Grundzüge, S. 8; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 16 (der „objektive Geist eines V o l k e s " als „der Geist eines bestimmten, durch Blut u n d Schicksal innerlich geformten Volkes").
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
weder die Summe der Einzelnen noch ein bloßes Zweckgebilde. Die Gemeinschaft sei „das Volk als Lebewesen; nicht als fiktives, sondern als wirklicb.es Lebewesen. Im Volke erfüllt sich uns des Lebens Sinn"861. Das Band, das dieses „Lebewesen" schaffe, sei nicht etwa ein rechtliches, sondern es folge aus der „Gleichheit des Blutes"862, aus der geschichtlich geprägten „Schicksalsgemeinschaft"863 und aus dem auf diesen Vorgaben beruhenden, in die Zukunft gerichteten „politischen Gestaltungswillen und Kulturwillen"864. Dieser, durch den Rassegedanken und geschichtlich gewachsene Gleichgerichtetheit geprägte Volksbegriff ist nun fur den Staat ebenso konstitutiv wie er fur den Einzelnen vernichtend ist. Für den Staat konstitutiv ist er, weil der nationalsozialistische Staat eine ihn tragende, seine Totalität anerkennende Volksordnung voraussetzt86S oder sogar mit ihr — in allerdings verschwommener Weise - in eins gesetzt wird. Im letztgenannten Sinne heißt es bei Hans Frank: „Der Nationalsozialismus als Weltanschauung trennt Staat und Volk nicht mehr, sondern faßt sie zu einer einzigen schöpferischen Einheit zusammen. Die Einheit von Partei und Staat ist gleichsam ein organisches Gesamtgebilde, das, aus dem völkischen Urgrund aufsteigend, mit der Erkenntnis der Notwendigkeit von Gesamtregelungen zum Vorteil des Gesamtvolkes dem Staat gegeniiber fortlaufend den Volkswillen repräsentiert und den Staat autoritär veranlaßt, durch seine Einrichtung Norm und Verwirklichung der Norm zu schaffen"866. Und Freisler meint, Staat und Volk seien „untrennbar verbunden, oder richtiger, eins"; der Staat sei „eine Erscheinungsform des Volkes (...), die
Zum Volksbegriff in der nationalsozialistischen Staatslehre vgl. Schäfer, Die Rechtsstellung des Einzelnen, S. I l l f.; Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 216 ff. Freilich bleibt hier - wie auch die nachfolgenden Zitate im Text zeigen - vieles als bloßer „Sprachschwulst der Erneuerer" (Riithers, Entartetes Recht, S. 30) sachlich ohne Substanz. Freisler, Nationasozialistisches Recht, S. 53; siehe auch a.a.O., S. 9: das Volk als „unser eigene größeres Ich", als „wirkliches, nicht nur als fingiertes Wesen"; ders., Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 10. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 53; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38; Dahm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht, S. 7; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 39 f; Mezger, ZStW 55 (1936), 9; Sauer, ARSP 27 (1933/34), 3 ff; Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 15 f. (wobei Sauer und Erik Wolf allerdings eher einen kulturellen als einen biologischen Rassegedanken vertraten; vgl. Rottleuthner, Substanzieller Dezisionismus, S. 32). Mezger, ZStW 55 (1936), 9; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38, 40 f; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 16; Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 13. Mezger, ZStW 55 (1936), 9; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38; vgl. auch Siegert, Grundzüge, S. 8 f. So Forsthoff, Der totale Staat, S. 42 f. und S. 30, wo er sich dagegen wendet, Herrschaft und Volk miteinander zu identifizieren; ferner Krtiger, Die geistigen Grundlagen, S. 163 ff.; Sauer, ARSP 27 (1933/34), 6. Gegen das Verständnis des „totalen Staates" Freisler, in: FS fur Heinrich Lehmann, S. 47 f. Hans Frank, Grundsätze, S. 18 (im Original teilweise gesperrt).
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sich aus dem organischen Leben des Volkes als etwas Natiirliches ergibt"867. Trotz der behaupteten Einheit von Volk und Staat nehmen unter anderen Freisler und Hans Frank — im Einklang mit der offiziellen nationalsozialistischen Doktrin868 einen Primat des Volkes an: der Staat sei des Volkes willen da, ihm komme also eine nur dienende Funktion zu869' S7°. Mit dieser staatskonstitutiven Bedeutung des Volkes stellt sich die nationalsozialistische Lehre in einen - von nationalsozialistischen Autoren vielfach betonten871 - Kontrast zur aufklärerischen Staatstheorie. Legitimierte die Aufklärung den Staat auf der Grundlage individualistischen Vernunftvermögens und war es das Bemühen insbesondere der kritischen Aufklärung, die Staatsmacht zum Schutze des Einzelnen aus dieser individualistischen Begriindung auch zu begrenzen, so sollte die „völkische" Legitimation des Staates das Individuum aus diesem Begründungszusammenhang gerade herauslösen. Das Individuum verliert seine begrilndende und begrenzende Bedeutung fur den Staat und an seine Stelle tritt das Volk. Der Einzelne verliert seinen Eigenwert; der Nationalsozialismus fordert „die restlose Inpflichtnahme jedes einzelnen fur die Volksgemeinschaft"872. Das Individuum erhält seine Bedeutung nur aus seiner funktionalen Stellung in der Gemeinschaft: „Der Einzelne kann im Recht nur so viel gelten, als er in der Gemeinschaft wert ist"873. Da Volk und Staat, wo sie nicht gar in eins gesetzt werden, jedenfalls nicht durch gegensätzliche Interessen gekennzeichnet werden können, folgt eine Begrenzung staatlicher Wirksamkeit lediglich aus dem Volksgedanken. Soweit die Staatsmacht im Dienste des Völkischen entfaltet wird, erfahrt sie keine Begrenzungen. „Der Anspruch des nationalsozialistischen Staates ergreift das irdische 867
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Freisler, in: FS fur Heinrich Lehmann, S. 46; ders., Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 2 1 ; etwas klarer in die gleiche Richtung Siegert, Grundzüge, S. 9: „Der Staat ist die politische Gestalt eines Volkes" (im Original gesperrt). Dazu Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 214. Freisler, in: FS fur Heinrich Lehmann, S. 46; Hans Frank, Grundsätze, S. 18 f.; ders., Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 13; ders., DR 1934, 425 f.; Dahm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht, S. 6 f.; Siegert, Grundzüge, S. 9; Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 12. siehe dazu auch Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 213 ff. Mit der Abhängigkeit des Staates vom Volk in seiner j e konkreten Gestalt ist eine eigenständige Staatsrechtslehre freilich nicht vereinbar; siehe Kohl/Stolleis, N J W 1988, 2852. Vgl. etwa Hans Frank, Grundsätze, S. 4; dens., D R 1934, 426; Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 9 ff.; dens., Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 5, 8; Höhn, D R 1935, 296 f.; Larenz, Rechtsperson, S. 238 f.; Sauer, A R S P 27 (1933/34), 14 f.; Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 16, unter Bezugnahme auf ein Zitat von Goebbels, demzufolge es Aufgabe des Nationalsozialismus sei, „das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte auszulöschen"; Erik Wolf, A R S P 28 (1934/35), 350; dens., Krisis, S. 6 ff.; dazu etwa Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216 f. Erik Wolf, A R S P 28 (1934/35), 349; Nagler, GS 103 (1933), X I X f. Hans Frank, D R 1934, 426 (im Original gesperrt); Gallas, in: FS für Gleispach, S. 65: „Fiir das neue Gemeinschaftsdenken, das dem Einzelnen nur als Glied der Gemeinschaft Rechtspersönlichkeit zuerkennt, seinen Wert lediglich nach dem Grad seiner Einsatzbereitschaft und Pflichterflillung bemißt (...)".
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Dasein des Menschen in umfassender Weise. Er findet seine Grenze weder an geschichtlichen Traditionen noch an gewissen Grundrechten und Menschenrechten"874. In diesem Sinne ist die nationalsozialistische Lehre fur den Einzelnen und seine individuelle Freiheit875 vernichtend876; programmatisch: „Du bist nichts Dein Volk ist alles"877. Dem steht nicht entgegen, daß etwa Freisler verschiedentlich die Bedeutung der Persönlichkeit hervorgehoben hat878. Damit ist nämlich ausdrücklich gerade nicht der Einzelne in seiner Individualität gemeint879, sondern die Persönlichkeit selbst ist Produkt der nationalsozialistischen Gemeinschaft und dementsprechend als Persönlichkeit nur gesichert, soweit sie in deren Sinne „völkisch" orientiert ist880. „Der gesunde deutsche Mann sehnt 874 875
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Erik Wolf ARSP 28 (1934/35), 355. Z u m nationalsozialistischen Freiheitsverständnis v. Weber, ZStW 53 (1934), 672: „Der neue Freiheitsbegriff wird kein naturalistischer, sondern ein sozialer sein, und er wird seinen Ausgang nicht vom Konnen des Individuums, sondern von den Anforderungen des Staates nehmen milssen"; Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 10 f.: Freiheit als Möglichkeit des Einzelnen, seine Aufgaben als Volksglied und damit seinen Lebenssinn - zu erfllllen. Vgl. auch Schäfer, Die Rechtsstellung des Einzelnen, S. 116; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 63 f. Zusammenfassend Schäfer, Die Rechtsstellung des Einzelnen, S. 110 ff.; Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik, S. 7 8 f.; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 60 ff. Dazu Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 634 ff. Vgl. etwa Freisler, in: F S fur Heinrich Lehmann, S. 4 9 f; dens., Nationalsozialistisches Recht, S. 74 ff.; dens., Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 36. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 76. Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 10 f; ders., Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 36 f, 49, 52 (wobei allerdings die Vereinbarkeit dieser Sichtweise mit dem strafrechtlichen Schutz des Einzelnen - an dem Freisler unabhängig von dessen Bedeutung fur die Gemeinschaft und auch unabhängig von der Volkszugehörigkeit festhalten will [Freisler, Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 36, 38] - nicht nachvollziehbar ist). Vgl. auch Höhn, D R 1935, 297: „Persönlichkeit in unserer Gemeinschaft ist, wer als artgleicher Genosse in der Lage ist, im Geist der Gemeinschaft zu handeln und der Gemeinschaft richtunggebend voranzugehen"; Nagler, G S 103 (1933), X I X : „Das Individuum hat aufgehört, eigenständiges Element im Aufbau der herrschaftlichen Organisation zu sein (Volkssouveränität, unveräußerliche Freiheitsrechte). E s ist ausschließlich gliedhaft; seine Rechtspositionen rangieren hinter dem Gemeininteresse"; Sauer, A R S P 27 (1933/34), 2 5 ; vorsichtiger Erik Wolf, A R S P 2 8 (1934/35), 357, 358; ders., Krisis, S. 29. Entsprechend ausgeliefert ist das Individuum dem nationalsozialistischen Staat und Volk bekanntlich bei Fehlen der völkischen Attribute (anders noch Erik Wolf, A R S P 28 [1934/35], 358, fur den „die rechtliche Sonderstellung der Artfremden [...] keine Deklassierung" bedeuten sollte). Vgl. aber etwa Sauers abstruse Lehre von den Kraft- und Wertmonaden: „Der Einzelmensch als solcher mag zwar biologisches und sonst rein individuelles Interesse beanspruchen; zum volklichen Gegenstand wird er erst, wenn er liber volklich geeigne-
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sich nach Wachsen in Einordnung, Gefolgschaft und Fiihrung; er empfand von jeher und empfmdet auch heute im Treueband der Gefolgschaft Kraftquelle, Bestimmung und Wertungsmaßstab seines Lebens"881. Ebenso weit von Individualität ist es entfernt, wenn Forsthoff zv/ar „Freiheit im Sinne eines persönlichen Handlungsspielraums" für „unzerstörbar und unverzichtbar" halt882, mit diesem persönlichen Handlungsspielraum aber eine Verantwortung für das Schicksal der Nation verknüpft. Daraus erwächst wiederum ein „totaler" Anspruch des Staates gegen den Einzelnen, diese Verantwortung zu erfullen - und so hebt die „totale Inpflichtnahme jedes einzelnen fur die Nation" den privaten Charakter der Einzelexistenz auf883'884. Die Staatsauffassung des Nationalsozialismus ist freilich nicht nur antiindividualistisch, sondern in ihrer Wendung gegen formale Rechtsstaatlichkeit und in ihrer Festlegung auf die nationalsozialistische Weltanschauung auch antiliberal885.
2.
Das nationalsozialistische (Straf-) Rechtsverständnis
a) Rechtsbegründung aus Volk und Fiihrerprinzip Die Ablehnung einer liberalen Staatsauffassung ist auf das engste mit der Zurilckweisung eines positivistischen Rechtsbegriffs verbunden. Mit der weltanschaulichen Gebundenheit des Staates ist es unvereinbar, die Verbindlichkeit von Gesetzesinhalten lediglich von deren formell ordnungsmäßiger Setzung abhängig zu machen886. tes Erbgut verfilgt und dieses in Krafi-Monaden entäußert" (Sauer, ARSP 27 [1933/ 34], 21, Kursivdruck im Original gesperrt). 881 Freisler, Nationalsozialistiscb.es Recht, S. 74. 882 Forsthoff, Der totale Staat, S. 41 f. 883 Forsthoff, Der totale Staat, S. 4 2 (zustimmend Erik Wolf Richtiges Recht, S. 25); dazu Stratenwerth, Faschismus, S. 42, der zutreffend darauf hinweist, daß Forsthoff'an der zitierten Stelle eine „prinzipielle Alternative zum Liberalismus" formuliert, in der dem einzelnen jedes Eigenrecht abgesprochen wird und er „allein in seiner Funktion fur ein wie immer umschriebenes Ganze gesehen wird". 884 Seine anspruchvollste und gleichzeitig abgeschwächste Formulierung hat der Gedanke, daß die Rechtsordnung den Einzelnen (nur) insoweit anerkenne, als sie ihn durch seine Verantwortung an die Gemeinschaft bindet, wohl bei Larenz gefunden; siehe Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 8 f., 23 f., 39.; vgl. ferner dens., Rechtsperson, S. 2 4 1 . 885 Vgl. etwa Dahm/Schaffstein, Liberates oder autoritäres Strafrecht?, S. 50 f.; Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 8 ff.; Nagler, G S 103 (1933), XVIII f.; Carl Schmitt, Der Rechtsstaat, S. 32; dens., J W 1934, 713 ff.; Mezger, ZStW 55 (1936), 7 f.; zusammenfassend Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik, S. 71 ff.; eingehend Marxen, Der Kampf gegen das liberate Strafrecht, S. 56 ff. 886 Y g ) e t w a iarenz^ Rechtsperson, S. 2 3 8 f; Freisler, Dt. Strafrecht N.F. 8 (1941), 68 ff.; Schmidt-Leichner, Dt. Strafrecht N.F. 9 (1942), 2 ff.; Carl Schmitt, J W 1934,
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Konstituiert das Volk den Staat und kann es überhaupt „im Leben des deutschen Volkes (...) nichts geben, was nicht aus dem Lebewesen Volk selbst stammt"887 so muß auch das Recht vom Volk seine Inhalte erhalten888. „Es gibt keine andere letzte Quelle des Rechtes als das Gewissen des Volkes selbst"889. Die Mystifizierung des Volkes erstreckt sich also auch auf dessen rechtsbegründende Fähigkeiten890: „In jedem Volk schlummert ein echtes Rechtsempfinden. Es ist das Recht, das mit uns geboren ist"891 oder - neuhegelianisch - „Recht ist lebendiger Wille der Rechtsgemeinschaft, des Volkes"892. Das so vom Sein des Volkes abhängige Recht erhält den Charakter eines - mit der Entwicklung des Volkes veränderlichen - „Naturrechts"893. Die materialen Inhalte des Rechts ergeben sich also aus dem „Volksempfmden". Da das Volksgewissen nicht „liberalistisch" und „individualistisch", aus Stellungnahmen der Einzelnen im Rahmen von Wahlen oder Abstimmungen erschlossen werden kann894, bedarf es eines Mediums, das unvermittelt und verbindlich dieses völkische Recht erfaßt. Diese Leistung erbringe der „Fiihrer"895. Das Führerprinzip erhält einen ähnlich mystischen und irrationalen Charakter wie das
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713 ff.; ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 58 ff.; zusammenfassend Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik, S. 77 f. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 54. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 28 ff.; Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 54; Hans Frank, Grundsätze, S. 5; ders., Nationalsozialistische Leitsätze, S. 12; Mezger, ZStW 55 (1936), 1 f., 3, 8; Schaffstein, ZStW 53 (1934), 607; Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 58; Siegert, Grundzüge, S. 16 f.; vgl. auch Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 9 f.; zusammenfassend Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 69 ff. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 5 4 ; ders., D e r Wandel d e r politischen Grundanschauungen, S. 14f; ders., Dt. Strafrecht N.F. 8 (1941), 69 f. Eindriicklich Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 12 f. Hans Frank, Grundsätze, S. 5. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 2 6 (im Original teilweise kursiv), S. 19 ff; ders., Rechts- und Staatsphilosophie, S. 154 f. Vgl. Hans Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 24; Freisler, Wiedergeburt, S. 35. Vgl. Anderbriigge, Völkisches Rechtsdenken, S. 59, 6 1 ; siehe auch Hans Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 9: „fur derartige parlamentarische Methoden hätte das deutsche Volk heute gar kein Verständnis mehr". Zusammenfassend Marxen, Der K a m p f gegen das liberale Strafrecht, S. 65. Vgl. auch die Materialien z u m „Führerprinzip" bei Hirsch/Majer/Meinck, Recht, Verwaltung und Justiz, S. 141 ff.
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Volk selbst896. Es folge seinerseits aus den völkischen Gegebenheiten, aus dem „deutschen Wesen" und der germanischen und mittelalterlichen Tradition897. Der Fiihrer als Teil der Gemeinschaft - als „Gemeinschaftspersönlichkeit"898 sei Trager des Gemeinschaftsgeistes899, er sei „das Gewissen unseres Volkes"900 oder „Htlter (...) der ungeschriebenen konkreten Rechtsidee seines Volkes"901. Der Fiihrer „gehorcht nicht einer an ihn gerichteten Norm, sondern dem Lebensgesetz der Gemeinschaft, das in ihm Fleisch und Blut gewonnen hat"902. Das vom Fiihrer als Recht erkannte sei demzufolge stets das Recht des Volkes903. Die Entscheidung des Führers beanspruche absolute Verbindlichkeit, so sei Jedes Gesetz ein Fiihrerentscheid"904. Und auch unterhalb der Ebene des positiven Rechts gelte: „Der erste Appell, der an jeden Volksgenossen in alien Belangen des Lebens zu richten ist, ist daher, gleich einem kategorischen Imperativ, stets der: Was wiirde der Fiihrer zu meinem Verhalten in diesem Falle sagen?"905. Und auch die wissenschaftliche Behandlung des Rechts ordnet sich dem Ftihrerwillen unter: „Wir wollen uns darum als treue Gefolgsmannen nicht nur vor den politischen, sondern auch vor den juristischen Weisungen unserer Fiihrung beugen"906.
b) Der Gemeinschaftsbezug des (Straf-) Rechts Die Frage nach dem richtigen Verhalten im nationalsozialistischen Rechtssystem verweist auf die Frage nach den Inhalten des aus dem Volksgewissen stammenden und durch den Ftihrer erkannten Rechts. Diese Inhalte miissen freilich mit dem Weg ihrer Gewinnung auf das engste zusammenhängen. So mystisch und irrational wie der Volksbegriff, miissen von die896
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Siehe etwa Erik Wolf, Richtiges Recht, S. 2 4 : B e i der zur Fiihrung qualifizierenden Gesinnung handele es „sich u m einen unberechenbaren, existentialen Vorgang des Dazugehörens der sich in ganz verschiedenen Symptomen des Leiblichen, Seelischen und Geistigen äußern kann, dessen innerstes Wesen aber unbeschreibbar bleibt und lediglich erlebbar ist". Vgl. etwa Kühn, D R 1935, 2 0 3 : In der nationalsozialistischen Anschauungswelt, „die das Volk zur Grundlage und zum Beziehungspunkt alles Denkens macht, ist auch der Führergedanke fest verankert"; Siegert, Grundzüge, S. 10, 17 f. Zusammenfassend dazu Schaefer, Führergewalt, S. 97. Höhn, D R 1935, 298. Ähnlich Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 33, 44. Schaefer, Führergewalt, S. 98. Hans Frank, Grundsätze, S. 22 (im Original gesperrt); vgl. auch Rottleuthner, Substantieller Dezisionismus, S. 27 f. und die dort angefiihrten Zitate. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 3 4 (im Original kursiv), S. 44. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 44. Larenz, Rechts- u n d Staatsphilosophie, S. 155; Höhn, D R 1935, 298. Zusammenfassend Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, S. 61 f; dazu, d a ß dieser Anspruch selbstverständlich vor allem zur Sicherung nationalsozialistischer Machtanspriiche diente, Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 223 ff. Dahm, Deutsches Recht, S. 2 3 1 . Hans Frank, Grundsätze, S. 22 (im Original teilweise gesperrt). Siegert, Grundzüge, S. 18.
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sem Ausgangspunkt aus die Rechtsinhalte der Nationalsozialisten ausfallen. Gründe das Recht auf dem Gewissen des Volkes, so lasse sich keine Kluft zwischen dem Sittengesetz und dem Rechtsgesetz begriinden907; es kommt zu einer „Ethisierung des Rechts"908, auch des Strafrechts909. Denn das Gewissen unterscheide nicht zwischen Recht und Moral, es sage dem Volk, was „anständig" sei. Die Sittenordnung sei Ausdruck des „natilrlichen Anstandsempfindens" des Volkes910 und auch die Gebote des Rechts seien „Gebote der Anständigkeit"91 '•912. Eine zentrale Anforderung des Volksgewissens richte sich auf die Förderung des Volkes selbst. So verlange die „natiirliche Stimme unseres Blutes" - d.h.: die Sittenordnung - von jedem Mitglied den Dienst an der Volksgemeinschaft913. Das Volk ist also nicht nur die Quelle, sondern auch das Ziel des Rechts, und so begrilndet sich der programmatische Rechtssatz: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz"914 oder auch: „Alles, was dem Volk niltzt, ist Recht; alles, was ihm schadet, ist Unrecht"915. Allein mit der Orientierung des Rechts an den Bedlirfhissen des Volkes, bei der der Einzelne nicht als Individuum, sondern nur als Mitglied der Volksgemeinschaft - in seiner „Gliedschaftstellung" - vorkommt, kann sich freilich ein zur Durchsetzung einer politischen Weltanschauung angetretenes Recht noch nicht zu907
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Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 56; ders., Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 14 f.; ders., Aubau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 46 f., 50, 52; Schaffstein, ZStW 55 (1936), 19; Siegert, Grundzüge, S. 10 f. Vgl. Sauer, Wendung, S. 2 2 ; Schaffstein, ZStW 53 (1934), 6 0 6 ; dens., ZStW 55 (1936), 19. Vgl. auch Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 6 6 3 ; Lüken, Der Nationalsozialismus, S. 41 f.; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 74; Riithers, Entartetes Recht, S. 26. Vgl. den Beitrag von Sauer, Deutsches Strafrecht 1. Bd. (1934), 177 ff. unter dem Titel „Die Ethisierung des Strafrechts"; ferner etwa Dahm, D J Z 1934, Sp. 826; Nagler, G S
103(1933), XXXII. 910 911
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Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 57. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 56 (im Original gesperrt). Vgl. auch die Leitsätze des Reichsrechtsamtes der N S D A P : „Fiir deutsches Denken besteht Einklang zwischen sittlicher Wertung, Pflichtgefuhl und Rechtsempfinden" (zitiert nach Freisler, Wiedergeburt, S. 12). Freilich bezeichne das Recht lediglich einen Ausschnitt aus der Sittenordnung, nämlich das, „was billigerweise von einem gesunden Durchschnittsglied der Rechtsgemeinschaft, der die Rechtsordnung dient, an Erfullung erwartet werden kann"; Freisler, N a tionalsozialistisches Recht, S. 56. Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 57. Punkt 24 des Parteiprogramms der N S D A P v o m 24.2.1920 (abgedruckt bei Hirsch/ Majer/Meinck, Recht, Verwaltung und Justiz, S. 277); dazu eingehend Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 76 ff; diese Formel wurde vielfach verwendet, vgl. etwa Hans Frank, D R 1934, 426; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, S. 39. Hans Frank, Grundätze, S. 4 (im Original gesperrt), 18 f. (gleichsinnig a.a.O., S. 2 1 : Vorrang des Gemeinnutzens vor dem Eigennutz [im Original gesperrt]); ebenso Freisler, Nationalsozialistisches Recht, S. 55; Sauer, Deutsches Strafrecht Bd. 1 (1934), 183 m.w.N.; Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S 58; Siegert, Grundzüge, S. 10.
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friedengeben. Damit ist zwar eine wichtige materiale Vorentscheidung getroffen, doch ware ohne Konkretisierung dessen, was als Nutzen oder Schaden des Volkes anzusehen ist, dieses Prinzip noch nicht mit der erforderlichen Inhaltlichkeit gefiillt. Aus diesem Grund hat Schaffstein etwa im Begriff der „Sozialschädlichkeit" lediglich ein formales Prinzip erblickt916. Derm die Sozialschädlichkeit bezeichne nur eine Relation eines Verhaltens zu einer Gesellschaftsordnung, ohne zu der Qualität der Gesellschaftsordnung selbst Stellung beziehen zu müssen917. Ziel nationalsozialistischen Rechtsdenkens war aber gerade ein materialer Begriff der Rechtswidrigkeit918 und damit des Verbrechens919, also die Inhaltserfüllung dessen, was dem Volk schadet, anhand der nationalsozialistischen Weltanschauung920. Die Politisierung der Rechtsinhalte verlangt also zuerst eine Festlegung auf bestimmte politische Inhalte und die Abweisung jedes Meinungspluralismus, der die Grenze eines Streites um den „richtigen" Nationalsozialismus überschreitet921. So wird das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil an den Maßstäben der nationalsozialistischen Weltanschauung materialisiert. Mezger faßt zusammen: „materiell rechtswidriges Handeln ist Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung"922. Bei der Bestimmung des volksschädigenden Verhaltens geht es also um ein spezifisch nationalsozialistisches Verständnis des Volkes und dessen, was diesem Volk schadet923. Da der Einzelne der Volksgemeinschaft nach nationalsozialistischem Verständnis nicht als Fremder gegenübertrirt, sondern ihr als Teil zugehört, bestimmt die Einhaltung oder Verletzung der ihm zugewiesenen „Gliedschaftstellung" im Volksganzen iiber Recht oder Unrecht seines Verhaltens. Das Verbrechen ist folglich immer auch Verletzung der sich aus dieser Gliedschaftsstellung ergebenden Pflichten gegeniiber der Gemeinschaft924. Auf der anderen Seite wird das Opfer nicht in seiner Individualität strafrechtlich geschützt, sondern Gemeinschaftsanliegen ist nur noch der „Schutz des Einzelnen in seiner Gliedhaftigkeit"925, was nichts anderes heißt, als daß seine Schutzwürdigkeit vom
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Schaffstein, Z S t W 55 (1936), 27; ebenso Mezger, Z S t W 55 (1936), 8. Mezger, Z S t W 55 (1936), 8. Die Notwendigkeit eines materialen Begriffs der Rechtswidrigkeit wurde im nationalsozialistischen Schrifttum - liber gewisse Differenzen hinweg - vielfach betont; vgl. den Diskussionbericht von Henkel, Z S t W 55 (1936), 36 ff. Siehe dazu Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 172 ff. Freisler, Der Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 14 f.; Mezger, Z S t W 55 (1936), 8 ff.; Schaffstein, ZStW 55 (1936), 28 ff.; Siegert, Grundzüge, S. 33 ff. Siehe Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 50 f; Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 23 f. Mezger, Z S t W 55 (1936), 9; dazu Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 184 f; vgl. auch Gallas, in: FS für Gleispach, S. 66. Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 3 4 f. Vgl. etwa Dahm, Gemeinschaft, S. 11 ff.; dens., DJZ 1934, Sp. 826; Gallas, in: F S für Gleispach, S. 65 u n d insbesondere Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung. Z u m Streit u m d a s Erfordernis der Rechtsgutsverletzung neben d e m der Pflichtverletzung siehe unten im Kleindruck. Gallas, in: F S fur Gleispach, S. 62 f.
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„Grad seiner Einsatzbereitschaft und Pflichterfllllung"926 ftlr die Gemeinschaft abhängt. Freilich war im nationalsozialistischen Schrifttum umstritten, ob sich das Verbrechen in der Pflichtverletzung erschöpft, oder ob auch am Erfordernis der Rechtsgutsverletzung festgehalten werden sollte927. Auch die Verteidiger des Rechtsgutsverletzungsdogmas verbanden mit dem Begriff des Rechtsguts freilich keine kritische, das Individuum vor staatlicher Allmacht schützende Funktion. Vielmehr verfolgten sie die mit Honig einsetzende Interpretation des Rechtsguts als eines methodischen Begriffs, der fur jede inhaltliche Auffiillung offen ist92S.
3.
Die rechtliche Relevanz selbstverfiigender Opferentscheidungen
Die rechtsbegriindende Funktion des Volkes fllhrt dazu, daß auch die Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Relevanz selbstverfiigender Opferentscheidungen nicht von der individuellen Freiheit des Einzelnen, sondern von der Volksgemeinschaft her beantwortet werden muß. Hat der Einzelne seine rechtsbegriindende Bedeutung zugunsten des Volkes eingebüßt, dann muß auch ilber die Relevanz selbstverfugender Entscheidungen das Volksgewissen entscheiden. Wie oben fur die Rechtsbegrilndung allgemein dargestellt, liegt also auch die Kompetenz fur die Beurteilung der rechtlichen Bedeutung der Opferentscheidung beim Volk, vermittelt durch den „Führer". Ergibt sich aus dem so verstandenen Recht des Volkes, daß das Verbrechen stets vor allem Angriff auf die Gemeinschaft ist, so kommt der Entscheidung des Opfers jedenfalls nicht per se Relevanz zu. Mit der Orientierung von Recht und Unrecht an den Belangen der Gemeinschaft ist ein Verständnis unvereinbar, daß die Entscheidung des Opfers als dessert Verftigung liber sein Recht begreift929. Ihre Relevanz beurteilt sich also danach, ob die Opferentscheidung die Gemeinschaftswidrigkeit des bewilligten Verhaltens ausschließt oder zumindest beeinflußt930.
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929 930
Gallas, in: F S fur Gleispach, S. 65. Siehe dazu etwa Gallas, in: FS für Gleispach, S. 50 ff.; Klee, Deutsches Strafrecht, Bd. Ill (1936), 1 ff.; Schaffstein, Deutsches Strafrecht Bd. IV (1937), 335 ff; Schönke, 2. Aufl., Vorbem. I 2.; zusammenfassend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 226 ff; Klaus Giinther, Von der Rechts- zur Pflichtverletzung, S. 452 ff; Hassemer, Theorie, S. 50 ff.; Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 177 ff; Sina, Dogmengeschichte, S. 74 ff. Siehe etwa Gallas, in: F S fur Gleispach, S. 61 f; zusammenfassend Hassemer, T h e o rie, S. 50 ff.; Olaf Hohmann, Das Rechtsgut, S. 31 f; Sina, Dogmengeschichte, S. 75 ff; ferner Klaus Giinther, Von der Rechts- zur Pflichtverletzung, S. 455. Siehe etwa Gallas, in: F S fur Gleispach, S. 63 f. Siehe dazu auch - aus polizeirechtlicher Perspektive - Frotscher, DVB1. 1976, 701.
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken
139
Filr selbstgefahrdendes Verhalten formuliert das Preußische OVG dementsprechend in Abkehr von seinem frilher vertretenen „individualistischen Standpunkt" den Leitsatz: „Offensichtlich schwere und sinnlose Gefahrdung des eigenen Lebens ist, weil der einzelne als Glied der Volksgemeinschaft dadurch Belange der Volksgemeinschaft schädigt, stets polizeiwidrig und nicht nur dann, wenn eine unmittelbare Gefahrdung weiterer Kreise festgestellt wird"931. Auch in der strafrechtlichen Literatur des Nationalsozialismus besteht Einigkeit ilber den Primat des Gemeinschaftsinteresses bei der Beurteilung selbstverfügender Opferentscheidungen und des darauf bezogenen Täterverhaltens. Insbesondere die Stellungnahmen zum überkommenen Rechtfertigungsgrund der Einwilligung und dessen Rolle im nationalsozialistischen Strafrecht spiegeln diese Einstellung wider. Drastisch formuliert Erik Wolf: „Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund verschwindet. Sie ist ein ausgeprägt individualistischer Gedanke, der ursprünglich aus dem Privatrecht stammt"932. Die meisten Stellungnahmen fallen differenzierter aus und befassen sich auch mit der Möglichkeit, daß die Stellungnahme des Opfers mit den Belangen der Gemeinschaft in Einklang stehen kann933. Freilich verlangt jede differenzierende Sicht in der Behandlung zustimmenden Opferverhaltens eine genauere Konturierung der möglicherweise verletzten Gemeinschaftsbelange. Die Materialisierung der Rechtswidrigkeit am Maßstab des nach nationalsozialistischer Weltanschauung geforderten Verhaltens im Rahmen der Volksgemeinschaft verlangt also auch fur die Sonderfälle bewilligten Verhaltens eine nähere Bestimmung der Voraussetzungen der Gemeinschaftswidrigkeit934. Da eine solche Konturierung gemeinschaftswidrigen Verhaltens tief in Einzelfragen des Besonderen Teils hineinreicht - etwa auch Sonderprobleme der Bewilligung von Eingriffen in die Fortpflanzungsfähigkeit aufwirft935 - können hier nur einige grundsätzliche Linien angedeutet werden. So entspricht es etwa nach nationalsozialistischer Anschauung grundsätzlich dem Interesse der Volksgemeinschaft, wenn diese eine möglichst große Anzahl „Volksgenossen" umfaßt. Dies legt es nahe, Eingriffe in das Leben auch bei Bewilligung des Einzelnen als rechtswidrig anzusehen. Doch bleibt dieser - tatsächlich im nationalsozialistischen Schrifrtum936 und der Rechtsprechung937 vertretene 931 932 933 934
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Entscheidungen des Preußischen O V G 103 (1939), 159. Erik Wolf, Krisis, S. 38; ähnlich W. Becker, DJ 1938, 1722. Vgl. Klee, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, S. 89; Schlosky, Deutsches Strafrecht Bd. 10 (1943), 25 f; Siegert, Grundzüge, S. 39 f. Die nationalsozialistische Diskussion iiber die Eckpunkte gemeinschaftswidrigen Verhaltens wurde freilich vor allem im Besonderen Teil gefiihrt; vgl. dazu Freisler, Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 21 ff. Vgl. etwa den 1943 in Kraft getretenen § 226b RStGB (dazu Freiesleben, in: Olshausen, § 226b) oder die Entscheidung des RG, JW 1933, 2060 mit Besprechungsaufsatz Rilk, JW 1933, 2037. Siehe etwa v. Gleispach, Tötung, S. 375: „Grundsätzlich hat jedes Mitglied der Volksgemeinschaft die Pflicht, ihr zu dienen, Selbsttötung ist als Feigheit und Pflichtverletzung verwerflich, das Verlangen, getötet zu werden, also fur den, der sich dadurch zur Tat bestimmen läßt, an sich kein entlastender Beweggrund". Siehe aus den Entscheidungen des Preußischen O V G 103 (1939), 159.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
- Grundsatz noch vergröbernd, denn das Leben der Mitglieder der Volksgemeinschaft wird nach nationalsozialistischer Anschauung vor allem in seiner Funktion fur die Volksgemeinschaft geschützt, etwa um ihrer Arbeits- oder Wehrkraft willen. Das spricht an sich dafur, der Bewilligung von Eingriffen in das Leben dann keine Grenzen zu ziehen, wenn die zustimmende Person keine Funktion innerhalb der Gemeinschafl innehat. Jedoch war auch unter nationalsozialistischer Herrschaft die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen in § 216 RStGB geregelt, der Differenzierungen nach dem Wert des Gemeinschaftsmitglieds nicht vorsah938'939. Auch wenn der nationalsozialistische Staat die Abwertung menschlichen Lebens unter anderem in Abhängigkeit von Volkszugehörigkeit und Gemeinschaftsnutzen bekanntlich bis hin zum Massenmord getrieben hat, fmdet sich im strafrechtlichen Schrifittum eine Neigung zum Festhalten an der Unverbriichlichkeit des Lebensschutzes, und zwar zum einen mit Blick auf den Erhalt der „Kraft der sittlichen Norm des Tötungsverbotes"940 und zum anderen mit Riicksicht auf die Anschauungen des Volkes941. Weniger die stringente Entwicklung des Gedankens der Förderung des Gemeinschaftsnutzens, als vielmehr die Sorge, daß rein utilitaristische Differenzierungen kaum volkstümlich ausfallen könnten, bildete offenbar den Hintergrund der Zurilckhaltung des Schriftrums. Die Berücksichtigung des Volksempfmdens bei der Rechtsbegrtindung fiihrt hier also zu Friktionen. Denn folgt aus dem Volksgewissen selbst eine Begrenzung des Antiindividualismus, so ist damit der sonst von den Nationalsozialisten betonte, ebenfalls auf das Volksgewissen gegrilndete Vorrang des Gemeinnutzens durchbrochen. Wie am Leben des Volksgenossen so besteht auch an dessen körperlicher Integrität ein Interesse der Volksgemeinschaft. Der Gedanke, die Reichweite der Wirksamkeit der Einwilligung von der Brauchbarkeit des Einzelnen fur die Volksgemeinschaft abhängig zu machen, ist hier aber deutlich starker entwickelt942. So meint etwa Klee, fur die Wirksamkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung komme es darauf an, „ob der einwilligende Verletzte durch die Körperverletzung in der Erfullung seiner Pflichten gegen die Volksgemeinschaft beeinträchtigt ist oder nicht"943, wobei etwa auch an die Pflicht zur Arbeit gedacht war944. Und Sau938
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Wobei freilich nationalsozialistische Auslegungsmethoden - etwa die Orientierung an „Tätertypen" - denkbar weite Auslegungsspielräume eröffhet. Doch sind die Stellungnahmen im Schrifttum - etwa im Rahmen der Diskussion um die Sterbehilfe - eher zurückhaltend (vgl. Schönke, 2. Aufl., Vorbem § 211 Anm. III.; Freiesleben, in: Olshausen, § 211 Anm. 4.). Anfängliche Bestrebungen, die Vorschrift zu streichen, zielten darauf, das Tötungsverlangen nicht mehr prinzipiell strafmildernd zu beriicksichtigen (siehe v. Gleispach, Tötung, S. 375; kritisch dagegen Klee, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgriinde, S. 88). Letztlich konnten sich diese Bestrebungen aber nicht durchsetzen, vgl. Schönke, 2. Aufl., § 2 1 6 Anm. I, VIII. V. Gleispach, Tötung, S. 375. Freisler, Aufbau und Aufgabe des Besonderen Teils, S. 36. (Vorsichtig) kritisch aber Engisch, ZStW 58 (1939), 17. Klee, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgriinde, S. 89; Freiesleben, in: Olshausen, § 226a Anm. 4.; Schlosky, Deutsches Strafrecht Bd. 10 (1943), 26; vgl. auch AG Ham-
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken
141
er schreibt plastisch: „wer mit Einwilligung eines Mannes, der fur Erftillung öffentlicher Pflichten wegen Lebensalter, Stellung usw. nicht in Betracht kommt, dessen Finger verstiimmelt, wird (...) durch den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung gedeckt"945. Gesetzestechnisch fand der Maßstab der Pflichterfüllung gegen die Volksgemeinschaft iiber die Sittenwidrigkeitsklausel des § 226a RStGB Eingang in die Dogmatik, derm diese Klausel wurde mit „dem gesunden Volksbewußtsein von Recht und Sittlichkeit" 946 oder der „völkischen Sittenordnung"947 gleichgesetzt948. Ausgehend von der Einheit von Rechts- und Sittenordnung (siehe dazu oben) kann ein in Einklang mit der „völkischen Sittenordnung" stehendes Verhalten nicht zugleich rechtlich mißbilligt sein949. Eine weitere Dimension volksntltzlichen Verhaltens, die hier in ihren strafrechtlichen Implikationen immerhin noch angedeutet werden soil, ist die Förderung der wirtschaftlichen Inter ess en95®. Im wirtschaftlichen Interesse des Volkes erschien es etwa Siegert bereits 1934 diskutabel, die freie Verftigung des Einzelnen iiber seine wirtschaftlichen Gilter, etwa iiber sein Nutzland, aufzuheben und der Einwilligung in entsprechende Eingriffe folglich ihre rechtliche Bedeutung zu nehmen951.
4.
Die rechtliche Relevanz einer einen Eingriff ablehnenden Opferentscheidung
Bestimmt sich die Bedeutung zustimmenden Opferverhaltens im nationalsozialistischen (Straf-) Recht prinzipiell danach, ob die Zustimmung dem bewilligten Verhalten seine (sonst gegebene) Gemeinschartswidrigkeit nimmt, so ist mit der rechtlichen Unbeachtlichkeit einer tatsächlich erteilten Bewilligung bei gleichburg, DR 1939, 1508, 1509 zur sexuell motivierten Hinnahme von Körperverletzungen: „Nicht der Masochist wirdgeschiitzt, sondern die Gemeinschaftsordnung wirdgewahrt". Die Strafbarkeit von Körperverletzungen am einwilligenden Masochisten wirke einer das Entstehen oder die Verstärkung masochisticher Neigungen begiinstigenden Bordellpraxis entgegen. Dies liege im Interesse der Gemeinschaft, denn: Solchen Praktiken zuneigende Personen „konnen dann leicht in das abartige Triebleben verstrickt werden und gehen dann der Volksgemeinschaft verloren" (Hervorhebungen nur hier). 944
Explizit Schlosky, Deutsches Strafrecht Bd. 10 (1943), 26. Sauer, GS 113 (1939), 109. 946 Freiesleben, in: Olshausen, § 226a Anm. 4. 947 Sauer, GS 113 (1939), 108. 948 Siehe auch Engisch, ZStW 58 (1939), 15. 949 Vgl. Sauer, GS 113 (1939), 108. «so Y g | freiSier^ Aufgabe und Aufbau des Besonderen Teils, S. 25: Der Eigentumsschutz gewinne „seine innere Berechtigung nur durch die Betrachtung des Eigentums als nicht ausschließlich eines Rechtes, sondern als einer Aufgabe mit Pflichtencharakter gegeniiber dem gesamten Volksleben"; ferner Sauer, GS 113 (1939), 109. 951 Siegert, Gnmdzüge, S. 39. 945
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
wohl fortbestehender Gemeinschaftwidrigkeit nur eine Konsequenz aus dieser kollektivistischen Konzeption gezogen. In der Logik eines solchen Ansatzes liegt es weiterhin, auch bei fehlender Bewilligung die den Eingriff zurilckweisende Entscheidung des Opfers fur rechtlich unbeachtlich zu halten, wenn ein Eingriff im Interesse der Volksgemeinschaft liegt952. Freilich ist die Möglichkeit von Eingriffen im Interesse der Rechtsgemeinschaft keine spezifisch nationalsozialistische Einrichtung953. Doch die Begriindung des Rechts aus dem Gemeinschaftsgedanken verleiht dieser Möglichkeit eine neue Radikalität. Die Personhaftigkeit des Opfers ist nämlich im nationalsozialistischen Rechtsdenken kein Argument gegen eine solche Inanspruchnahme des Einzelnen gegen seinen Willen, da der nationalsozialistische Personbegriff von den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft seinen Inhalt erhält954. In der politischen Wirklichkeit des Nationalsozialismus sind bekanntlich Lebens-, Gesundheits- und Freiheitsverletzungen gegenüber solchen Personen, die fur die Gemeinschaft - etwa als sogenannte „artfremde" - bedeutungslos oder etwa als politisch verfolgte - dysfunktional waren, massenhaft veriibt worden. Es ist im nationalsozialistischen Rechtsdenken angelegt, solchen Menschen die Berufung auf Rechte der Person von vornherein abzuschneiden, da sich die Person und damit deren Recht vom Nutzen fur die Gemeinschaft bestimmt und überdies der Gemeinschaft die Definitionsmacht darilber obliegt, was sie als niitzlich anerkennen will. Doch zeigt die Diskussion um die „Vernichtung lebensunwerten Lebens", daß man auch hier gleichzeitig nicht umhin kam, eine gewisse „Volksferne" entsprechender Programme zu konzedieren und außerdem das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage zu bemängeln955. Aber nicht nur im Verhältnis des Staates zum Einzelnen lassen sich die Konsequenzen eines auf die Spitze getriebenen Kollektivismus aufzeigen. Auch die Verhältnisse Privater können zu Herrschaftsverhältnissen werden, wenn sich ein Privater im Interesse des Gemeinwohls iiber den entgegenstehenden Willen des anderen hinwegsetzen darf. Exemplarisch fur die Behandlung von Eingriffen gegen dem Willen des Opfers läßt sich die im Anschluß an ein Zivilurteil entfachte Diskussion anfuhren, ob dem Arzt das Recht zusteht, entgegen dem Willen eines Patienten einen Heileingriff vorzunehmen, um so diesen Patienten - und seine Leistungsfähigkeit - fur die Volksgemeinschaft zu erhalten956. Während das RG trotz prinzipieller Anerkennung des Umstandes, daß die ärztliche Tätigkeit starker dem 952 953 954 955
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Sauer, GS 113 (1939), 109 f. Das Festnahmerecht Privater weist beispielsweise ähnliche Strukturen auf. Siehe dazu oben 1. Vgl. Schönke, 2. Aufl., Vorbem § 211 Anm. II; Ingo Müller, Furchtbare Juristen, S. 133 ff. Für Übereinstimmung mit dem „gesunden Volksempfinden" - und deshalb für Straflosigkeit - aber Freisler, Dt. Strafrecht N.F. 8 (1941), 65 ff., 77 ff. bezogen auf den Fall der Tötung eines schwerkranken Kindes durch seine Mutter. Kritisch dazu Klee, Dt. Strafrecht N.F. 8 (1941), 71 ff. R G Z 151, 349 = JW 1936, 3112 m. Anm. Kallfelz; dazu Engisch, ZStW 58 (1939), 20 ff; Berthold Hofmann, DR 1936, 502 ff; Lohmann, DJZ 1936, 1481 ff; Neukamp, GS 111 (1938), 248 ff.; Sauer, GS 113 (1939), 79 ff.
VI. Antiindividualismus, Antiliberalismus und gemeinschaftsbezogenes Denken
143
Volksganzen als dem Einzelnen verpflichtet sei, die Zulässigkeit einer Behandlung gegen den Willen des Patienten als eine mit dem „gesunden Volksempfinden" unvereinbare Überdehnung der „vom Standpunkte des Volksganzen" berechtigten „Idealforderung" nach Erhaltung von Leben und Gesundheit jedes Gliedes der Volksgemeinschaft angesehen hat957, hat das Schrifttum sich ilberwiegend flir ein Behandlungsrecht auch gegen den Willen des Patienten ausgesprochen958. Jeder Mensch, „der der Gemeinschaft noch niitzen kann, ist ihr gegentlber auch verpflichtet, sein Leben und seine Dienstfähigkeit zu erhalten. Das gilt von dem Wehrpflichtigen, der gebärfähigen Frau, den Eltern als Versorger und Erzieher ihre Kinder, bis zu dem schon alten Staatsmann, Gelehrten oder Erfinder, der aber doch noch fähig und daher verpflichtet ist, dem Volke unersetzliche Dienste zu leisten. Hier besteht das ideale und zugleich aber auch praktische Interesse der Allgemeinheit, das Leben und die Arbeitsfähigkeit derartiger Menschen zu erhalten, sei es auch durch zwangsweise Überwindung eines entgegenstehenden Willens"959. Und auch die entgegengesetzte Konsequenz aus diesen Ausfuhrungen wird gezogen: „Menschen, die ihre Lebensaufgabe, ihren Dienst fur die Volksgemeinschaft erfullt haben, oder solche, die zu dieser Erfullung ohnehin untauglich sind, sind vom Standpunkt der Gesamtheit aus gesehen (...) in diesem Sinne pflichtenfrei"960.
5.
Erträge
Das nationalsozialistische Recht ist das Modell eines kollektivistischen Rechts, das die Person als Funktion der Gemeinschaft definiert. Die aus dem Gemeinschaftsdenken abgeleitete Berufung auf bestimmte Werte führt zu einer vollständigen Vereinnahmung des Einzelnen, die die Berufung auf individuelle Freiheit prinzipiell ausschließt. Dieser Zug des nationalsozialistischen Rechtsdenkens hat sich in größter Schärfe bei der Behandlung selbstverfügender Opferentscheidun957 958
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RGZ 151, 349, 353. Berthold Hofmann, DR 1936, 503 f.; Kallfelz, JW 1936, 3115; siehe zusammenfassend m.w.N. Engisch, ZStW 58 (1939), 21 ff., der seinerseits (a. a. O., S. 27 ff., insb. S. 33) dem RG zustimmt. Kallfelz, JW 1936, 3116; auch Sauer, GS 113 (1939), 110 meint, vom „streng sozialen Standpunkt" liege es nahe, „eine allgemeine Pflicht zur Erhaltung, j a zur Förderung der eigenen Gesundheit fur jeden Volksgenossen als Voraussetzung größtmöglicher beruflicher und allgemein sozialer Leistungsfähigkeit aufzustellen" - doch will Sauer diese Konsequenzen nicht ziehen. Die Begründung hierfur erblickt er allerdings nicht im Selbstbestimmungsrecht des Patienten, sondern lediglich darin, daß die Selbstbestimmung des Patienten besser als die Zwangsbehandlung die körperlichen Kräfte in den Dienst des Ganzen stellen könne (a. a. 0 . , S. 119). Kritisch gegen Kallfelz auch Lohmann, DJZ 1936, 1482 f., der sich aber auch nicht prinzipiell flir ein Selbstbestimmungsrecht des Patienten einsetzt, sondern lediglich auf den zur Verwirklichung nationalsozialistischer Idealforderungen noch unreifen - letztlich aber im Sinne von Kallfelz zu ilberwindenden - „Aufbau unseres Volkes und des Ärztestandes" hinweist. Kallfelz,™ 1936,3115.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
gen niedergeschlagen: Die Relevanz individueller Entscheidungen bestimmt sich nach der dem Einzelnen zugewiesenen Stellung in der Gemeinschaft. Ein individuelles, gegen die Gemeinschaft geltend zu machendes Selbstbestimmungsrecht und dem korrespondierende Verantwortung sind damit prinzipiell ausgeschlossen.
VII. Die Selbstverantwortung des Opfers im bundesrepublikanischen Recht
1.
Überblick
Aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus - dem Gemeinschaftsdenken und der Mißachtung des Individuums - sollten im bundesrepublikanischen Recht die Lehren gezogen und in Anknüpfung an die Tradition der Aufklärung wieder der Eigenwert der Person betont werden961. Ihren Niederschlag fand diese Wende zum Individuum unter anderem in dem an herausgehobener Stelle erfolgten Bekenntnis zur Menschenwilrde als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft (Art 1 Abs. 1 und 2 GG)962. Die Menschenwilrde wird so zum „Schlüsselbegriff fur das Verhältnis des Menschen zum Staat"963; sie ist Ausdruck der „Verlagerung des Fundaments" des neuen Systems964. Die durch das Primat gegemiber der Gemeinschaft ausgezeichnete Person wird durch ein „Menschenbild"965 mit Inhalt erfullt, demzufolge die Person unter anderem durch Freiheit und Selbstverantwortung charakterisiert ist. Diese Neubestimmung des Individuums und seines Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft verbietet es schon auf den ersten Blick, die Entscheidung des Opfers aus paternalistischen oder kollektivistischen Erwägungen ohne weiteres zu ilbergehen. Mit der materialen Bestimmung des Staates wird der im Positivismus verlorene inhaltliche Zusammenhang von Staatszweck und Recht wieder her961
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Vgl. dazu etwa Dürig, J R 1952, 259; Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, Rn. 810 f.; Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 181 ff. Vgl. etwa BVerfGE 2, 1, 12; 5, 204 f; 45, 187, 227 f.; 87, 209, 228 (zusammenfassend Häberle, Rechtstheorie 11 [1980], 397 ff.). A u s der Literatur zur „Menschenwiirde als Konsitutionsprinzip der Verfassung" siehe Geddert-Steinacher, Menschenwiirde als Verfassungsbegriff, S. 105 ff; Isensee, Menschenrechte, S. 9 2 ff; Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 8 ff, 31 ff, 44 ff; Stern, in: FS fur Scupin, S. 634 f So Starch, JZ 1981, 457 unter Berufung auf Herzog. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 10. Siehe dazu noch näher unten 3. Teil, II. Zur Bedeutung des „Menschenbildes" fur die Grundrechtskonkretisierung siehe Hqfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 108 ff. Gegen die kulturelle Relativierung, die mit diesem Begriff verbunden sei, Höffe, Transzendentaler Tausch, S. 31 f; kritisch auch Dreier, in: ders., GG I, Art. 1 I Rn. 168 f.
VII. Die Selbstverantwortung des Opfers itn bundesrepublikanischen Recht
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gestellt966. Das Recht ist ein Instrument zur Verwirklichung des dem Menschen dienenden Staates. Der Staatszweck setzt legitimer Rechtsetzung eine Grenze967. Diese Zweckbindung wird nun allerdings regelmäßig nicht mehr - wie noch verschiedentlich in den ersten Nachkriegsjahren968 - auf naturrechtliche oder sonst metaphysische Vorgaben gestiltzt, sondern sie findet sich im Grundgesetz als Teil der positivierten Rechtsordnung969, dort freilich mit besonderer Verbindlichkeit und Geltung ausgestattet. Doch die Wirkmacht der grundgesetzlichen Vorgaben auf die strafrechtliche Wissenschaft und Praxis war lange Zeit geringer als es der von der Verfassung ausgehende Verbindlichkeitsanspruch zuläßt970. So war noch 1966 zu konstatieren: „Es fehlt zwar nicht an besorgten Seitenblicken auf das Grundgesetz und die daran gekniipften Erwartungen, in großen Teilen halt jedoch das Beharrungsvermögen die Entwicklung auf Positionen fest, die bei konsequenter Realisierung des Geistes der Verfassung seit langem hätten aufgegeben werden miissen"971. Gerade bei der Berücksichtigung von Opferentscheidungen fur die Haftung des Täters hat die Neuorientierung im Strafrecht nicht die durchschlagende Wirkung entfaltet, die man erwarten sollte972. Dieser Befund ist von Sina und Amelung fur den eng mit der Opferselbstverantwortung verkniipften Begriff des Rechtsguts festgestellt worden; Amelung schreibt: „das Grundgesetz hatte auf die Bestimmung des Rechtsgutsbegriffes keinen Einfluß. Er wird heute (1972, der Verf.) allgemein nicht anders defmiert als auf dem Höhepunkt des Dritten Reiches"973. Das gelte auch fur die Frage, ob das Strafrecht den Schutz des Einzelnen oder den der Gesamtheit in den Vordergrund stellt974. Diese Kontinuität des gemeinschaftsbezogenen Denkens 966
Vgl. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Wiirde, S. 57 ff.; Michael Marx, Rechtsgut, S. 25 f., 39; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 187; ferner Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 175 ff. 967 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 106 f.; Michael Marx, Rechtsgut, S. 63 und passim; vgl. auch Rudolphi, in: F S für Honig, S. 159. 968 Z u r „Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre" siehe Arthur Kaufmann, in: FS fflr Sten Gagner, S. 105 ff. 969 Siehe z.B. Roxin, A T I, § 2 Rn. 9: „Der richtige Ansatz liegt in der Erkenntnis, daß die einzige dem Strafgesetzgeber vorgegebene Beschränkung in den Prinzipien der Verfassung liegt". 970 pjjj. j j g Begrlindung der Verantwortlichkeit des Täters, dessen Haftung sich gerade aus seiner personalen Freiheit ergeben sollte, wurde das „Menschenbild" des Grundgesetzes allerdings sofort aufgenommen; B G H S t 2, 194, 200. 971 Woesner, N J W 1966, 1730. 972 Eine Entwicklung, die freilich angesichts der personellen Kontinuität in Rechtsprechung und Wissenschaft nach d e m Zusammenbruch des Dritten Reiches (dazu Ingo Miiller, Furchtbare Juristen, S. 204 ff, 237 ff.) vielleicht weniger iiberraschend ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. 973 Amelung, Rechtsgiiterschutz, S. 260; Sina, Dogmengeschichte, S. 96 f. 974 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 260. In diesem Sinne allerdings auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 389, der schreibt: „Inhalt des Postulats, das Strafrecht habe die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zu sichern, ist nach der hier entwickelten
146
Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
ist naheliegenderweise vor allem bei solchen Autoren zu beobachten, die bereits in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland publizieren konnten975. So versteht Schönke in der vierten Auflage seines Kommentars (1949) unter „Rechtsgut" ein „Gut des objektiven Rechts der Allgemeinheit" und gerade „nicht das subjektive Recht und das Gut irgeindeines einzelnen. Die Rechtsgilter sind, wenn bisweilen auch nur mittelbar, solche der Allgemeinheit"976. Unbeeindruckt von den Erfahrungen des Nationalsozialismus und den daraus gezogenen Lehren des Grundgesetzes verselbständigt sich so die Allgemeinheit gegenilber dem Individuum und rilckt in den Mittelpunkt strafrechtlichen Schutzes. Doch ware es verkilrzend, die Lehre vom Gemeinschaftsbezug der Rechtsgiiter nur als Fortfuhrung nationalsozialistischen Gedankenguts zu interpretieren. Auch unabhängig vom gemeinschaftsbezogenen Denken der NS-Zeit wird diese These vertreten977. Es bestätigt sich an dieser Stelle, daß sich die Distanzierung vom individualistischen Ausgangspunkt, wie er die Aufklärungsphilosophie geprägt hatte, bereits weit früher einsetzte. Undeutlich und ohne klare Konzeption schon im gemäßigten Positivismus, machtvoll theoretisch ausgearbeitet in der Philosophie Hegels und schließlich mit erheblicher Wirkmacht fur die moderne Strafrechtsdogmatik in den - von den nationalsozialistischen Autoren vielfach bekämpften - positivistischen Strömungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im siidwestdeutschen Neukantianismus, der fur eine von der Gemeinschaft ausgehenden Rechtsbegriindung zumindest offen war. Schließlich hat die Bestimmung des Rechtsguts von der Gemeinschaft her eine gewisse - von Seiten der Strafrechtslehre aber wohl kaum realisierte - Stiltze durch Teile der Staatsrechtslehre erfahren, die - soweit es die Bestimmung des Verhältnisses des Einzelnen gegentiber dem Staat anbelangt - eine antiindividualistische Sichtweise vertreten und unter offenkundiger Verfehlung der Intentionen
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Fassung also nicht, daß die Person um ihrer selbst, sondern daß sie um der Gesellschaft willen geschützt werden muß". Den Schutz der Wiirde des Menschen versteht Amelung, a.a.O. als politische Entscheidung, die also gleichermaßen im Belieben einer Gesellschaft steht. Zur Wiedereinsetzung nationalsozialistisch vorbelasteter Professoren in der Bundesrepublik vgl. Ingo Midler, Furchtbare Juristen, S. 237 ff. Schönke, 4. Aufl., Vorbem I 2.; ebenso Schönke/Schröder, 7. Aufl., Vorbem 1 2 ; 17. Aufl., Vorbem. Rn. 2 1 . Siehe etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 375 f.; Otto, in: F S ffir Geerds, 6 1 1 ; Weigend, Z S t W 9 8 (1986), 54,57 (zu Otto u n d Weigend zutreffend kritisch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 115). Auch Eberhardt Schmidt (ZStW 80 [1968], 572) hat den „bedrohliche(n) allgemeine(n) politische(n) Zustand, der sich unter der Geltung des Grundgesetzes mit seinen überreich gewährten Freiheitsrechten entwickelt hat", beklagt. Er halt deren Interpretation durch das BVerfG als Abwehrrechte gegen den Staat fur verfehlt und hätte es statt dessen gerne gesehen, „aus ihnen höchste Verpflichtungen des einzelnen gegenilber d e m Staat zu entnehmen". Doch lag es Schmidt fern, daraus einen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ilbergehenden staatlichen Anspruch auf Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit geltend zu machen (siehe Eb. Schmidt, D e r Arzt im Strafrecht, S. 15 f., 3 7 ff.), eine Auffassung, die etwa Schmidhäuser, in: F S fur Geerds, 817 vertritt.
VII. Die Selbstverantwortung des Opfers im bundesrepublikanischen Recht
147
des Grundgesetzes auch unter dessen Geltung einen Primat des Staates gegenüber dem Individuum behaupten978. Überindividualistische Staatsauffassungen konnten sich auf Vorbilder aus der Weimarer Staatsrechtslehre berufen979, weisen aber freilich auch enge Beziehungen zum Hegehchen Denken auf. Ein so verstandener Staat kann sich zur Verfolgung seiner eigenen Interessen den Schutz des Menschen vor sich selbst zur Aufgabe machen980. Von solchen Grundlagen läßt sich selbstverständlich auch bei der Behandlung zustimmenden Opferverhaltens zunächst kein grundsätzlicher Wechsel der Perspektive vom Kollektiv auf den Einzelnen feststellen. Dient das Recht und insbesondere auch das Strafrecht dem Schutz der Allgemeinheit, dann liegt es auch in deren Definitionsmacht, die Bedeutsamkeit zustimmenden Opferverhaltens festzulegen. Typisch ist etwa die Stellungnahme Sauers: „Die Einwilligung schließt die Rechtswidrigkeit aus, wenn das verletzte Privatinteresse gemäß seiner Art keine überwiegende Bedeutung fur das staatliche Gemeinwohl besitzt"981. Die Reichweite der Bedeutsamkeit der Einwilligung wird aus der Uberindividuellen Perspektive des Gemeinwohls bestimmt. Der Achtungsanspruch der Erklärung des Einzelnen wird von den Gemeinwohlbelangen abhängig gemacht und büßt diesen gegenüber seine Eigenständigkeit weitgehend ein. Neben diesem Beharren auf kollektivistischen Positionen, in denen die Selbstverantwortung des Opfers nicht einmal terminologisch vorkommt oder sich zumindest nicht als Ausdruck eines dem Individuum zustehenden Rechts auf Selbstbestimmung begreifen läßt, entwickelt sich aber zunehmend das Bemiihen, an ältere individualistische Positionen - etwa an die Aufklärung oder an die Kantischz Philosophie - anzukniipfen oder das individualistische „Menschenbild" des Grundgesetzes aufzugreifen.
2.
Die Begriindung von Freiheit und Selbstverantwortung aus der Verfassung
Soweit die Verfassung in Bezug genommen wird, enthalten die meisten Untersuchungen zur Selbstverantwortung des Opfers allerdings meist lediglich eine allgemeine Inanspruchnahme der Entscheidung des Grundgesetzes982 für ein an der
978
979 980 981 982
In diesem Sinne etwa Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196 f., 677 f., 759 f., der damit seinen Antiindividualismus nationalsozialistischer Prägung (siehe Kriiger, D i e geistigen Grundlagen, S. 163 ff.) in geänderter Gestalt fortgeflihrt hat. Dazu Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 165 ff. Zutreffend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängen staatlichen Schutzes, S. 167 f. Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 135 f. (im Original kursiv). Zu dieser schlagwortartigen Inanspruchnahme der Verfassung fur die Beantwortung strafrechtlicher Fragen allgemein Naucke, D i e Legitimation strafrechtlicher Normen, S. 158.
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Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
Selbstverantwortung des Einzelnen orientiertes „Menschenbild"983. Regelmäßig fehlt es an einer vertieften Begründung fllr die Geltung eines Selbstverantwortungsprinzips984. Die Annahme, aus dem Grundrechtskatalog und insbesondere aus Art. 1 GG985 ergebe sich ein Prinzip der Selbstverantwortung, ist - wenn der Blick erst einmal auf die Verfassung gerichtet worden ist - offenbar ebenso naheliegend wie unstreitig. Diese Auffassung findet sich in der Judikatur des BVerfG ebenso wie in der öffentlich-rechtlichen Literatur. So formuliert das BVerfG: „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird. Hierzu gehört, daß der Mensch liber sich selbst verfugen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann"986. Bemächtigt sich die Strafrechtswissenschaft dieser Einsichten, dann meist in der Weise, daß mit Blick auf die Eigenverantwortlichkeit der Person ohne weitere Fundierung des in Anspruch genommenen Grandsatzes von einer Bedeutsamkeit der Opferentscheidung fur die Hafrung des Außenstehenden ausgegangen wird987. Der Streit beginnt erst bei der Reichweite der Geltung des Grandsatzes - hier ist dann auch spätestens die Stelle, an der sich erweist, daß ohne eine angemessene Fundierung dieses Prinzips nicht auszukommen ist. Die Grenzziehungen mtlssen in dem Maße intuitiv bleiben, in dem auch die Herkunft des Prinzips im Dunkel bleibt. Naheliegenderweise finden sich die ersten Versuche, das Menschenbild des Grundgesetzes auf das Opfer von Straftaten anzuwenden, in Beiträgen zum Rechtsgutsbegriff. Da die Diskussion um den Rechtsgutsbegriff im weitesten Sinne als Bemühen um die Aufklärung des Objekts eines Verbrechens verstanden werden muß, gerät das Verbrechensopfer - das in freilich aufklärungsbedürftiger Weise dieser Objektseite zuzuordnen ist — in den Blick. Die Sichtweise von der Verfassung her verbietet es nun, dieses Opfer lediglich als „Verletzungsgegenstand", an dem sich der Rechtsbruch objektiviert, aufzufassen. Das Opfer gerät vielmehr als Mensch im Sinne des Grundgesetzes - ausgestattet eben auch mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung - im Begriff des Rechtsguts 983
984 985
986
987
Vgl. Fiedler, Fremdgefährdung, S. 119; Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 1 (zur Kritik schon Murmann, Nebentäterschaft, S. 248). Z u m Begriff des „ M e n schenbildes im Grundgesetz" kritisch m.w.N. Huber, Jura 1998, 505 ff. Dazu auch Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 1 ff. Wobei Art. 1 G G im Verhältnis zu den nachfolgenden Grundrechten rechtsprinzipielle Bedeutung zukommt; vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 164 ff.; ferner Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v. Art. 1 R n . 15. BVerfGE 49, 286, 298; gleichsinnig BVerfGE 5, 85, 204; 25, 269, 2 8 5 ; 45, 187, 227; 57, 250, 275. Aus der Literatur etwa Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 53; Hqfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 124 f.; Morlok, Selbstverständnis, S. 69 ff, 282 ff, 333 f, 360, 393 ff, 440. E s ist deshalb zutreffend, wenn Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 13, zur Arbeit von Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, bemerkt, daß dieser auf die Plausibilität des Prinzips der Selbstverantwortung baue und es deshalb unterlasse, dieses Prinzip nach seiner Leistungskraft zu bestimmen. Insoweit kritisch zu Schumann auch Frisch, JZ 1988, 655.
VII. Die Selbstverantwortung des Opfers im bundesrepublikanischen Recht
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in den Blick (dazu a). Während im Begriff des Rechtsgutes die verfassungsrechtlichen Implikationen gleichsam nachträglich einem originär strafrechtsdogmatischen Begriff implementiert werden, finden sich neuerdings auch Bemilhungen, unmittelbar von den verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgehend Grund und Grenzen der Selbstbestimmungsfreiheit des Opfers fur das Strafrecht zu entwickeln988. Diesen Bemühungen ist unten b) nachzugehen.
a) Die Begründung der Selbstverfügungsfreiheit des Opfers aus einem verfassungsorientierten Rechtsgutsverständnis Die in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Renaissance des Rechtsgutsbegriffs ist vor allem von dem Bemühen um eine Materialisierung des Verbrechensbegriffs und dessen Immunisierung gegen gesetzgeberische Beliebigkeit getragen989. Schon die Auswahl der Tatbestände des Besonderen Teils, gegen deren Legitimation die Rechtsgutslehre Einwendungen erhob, legt es nahe, daß der Rechtsgutsbegriff in seiner kritischen Funktion nicht zuletzt dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen Geltung verschaffen wollte. Deutlich ist dieser Zusammenhang etwa bei der Kritik am Straftatbestand der Erwachsenenhomosexualität. Ausgangspunkt kritischer Rechtsgutskonzeptionen, die sich auf die Verfassung berufen, ist regelmäßig das skizzierte Verhältnis von Person und Gemeinschaft nach den Vorgaben des Grundgesetzes. Wird der Staat instrumentalisiert im Dienste der durch ihre Würde und Freiheit charakterisierten Burger gedacht, so ist auch der staatliche Strafeinsatz beschränkt auf die Erfassung solcher Sachverhalte, in denen sich diese dienende Funktion entfaltet990. Rechtsgutskonzeptionen, die die Legitimation staatlichen Strafeinsatzes von der (zumindest vermittelten) Verletzung der Freiheit der Person abhängig machen, lassen sich als personal bezeichnen. Freilich lassen sich innerhalb der Verfassung unterschiedliche Ankniipfungspunkte fur eine solche personale Rechtsgutskonzeption auffinden. So rekurriert etwa Rudolphi auf die Entscheidung des Verfassungsgebers fur einen Rechtsstaat, stellt aber nicht dessen formalen, sondern seinen materialen Gehalt in den Vordergrund. „In einem materialen Sinn verstanden meint er (der Rechtsstaat, der Verf.) ein auf der Achtung personaler Freiheit und auf dem Prinzip einer zu ihrem Schutz gemäßigten und fest geordneten Staatsmacht aufgebautes Gemeinwesen, dessen vom Volk ausgehende Rechtsordnung alles Staatshandeln an diese Grundlagen und an das Streben nach einer gerechten und gleichmäßigen Gestaltung der menschlichen Beziehungen bindet"991. Die Sicherung der nach dem Grundgesetz garantierten persönlichen Freiheit steht also bei Rudolphis Entwurf eines RechtsWobei sich diesem Bemühen wiederum der personale Rechtsgutsbegriff implementieren läßt; vgl. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 368 ff. Vgl. Olaf Hohmann, Das Rechtsgut, S. 34; siehe auch zur Verfolgung des gleichen Anliegens unter unmittelbarem Riickgriff auf die Verfassung Woesner, NJW 1966, 1729. Dezidiert in diesem Sinne Michael Marx, Rechtsgut, S. 24 ff. Rudolphi, in: FS fur Honig, S. 159; ders., in: SK StGB, Vor § 1 Rn. 1.
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gutsbegriffs im Vordergrund. Gegenstand von Strafdrohungen diirften danach nicht reine Moralwidrigkeiten sein, sondern nur solche Verhaltensweisen, „die die Voraussetzungen fur ein auf Freiheit und Verantwortlichkeit des einzelnen aufbauendes gedeihliches gesellschaftliches Leben beeinträchtigen oder gefährden"992. Rechtsgüter seien diejenigen „sozialen Funktionseinheiten", die fur eine so charakterisierte staatliche Gesellschaft existenznotwendig seien993; Rechtsgut sei „die soziale Funktion selbst"994. Ähnlich, und ebenfalls unter Rekurs auf die „im Grundgesetz niedergelegten Aufgaben unseres auf die Freiheit des einzelnen gegriindeten Rechtsstaates"995, formuliert Roxin: „Rechtsgiiter sind Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst niitzlich sind"996. Michael Marx schließlich rekurriert zur Entfaltung seines Rechtsgutsbegriffs unmittelbar auf den Zweck des bundesrepublikanischen Staates - den Dienst am Menschen - und kommt so zu der Einsicht: „Dem als Person begriffenen und als solche vom Grundgesetz in der Fundamentalnorm des Art. 1 Abs. 1 GG anerkannten Menschen zu dienen bedeutet mithin für das Recht (wie auch den Staat iiberhaupt), den Menschen in seiner wesentlichen Aufgabe: der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, zu unterstiltzen und zu fördern"997. Das Strafrecht leiste diese Aufgabe durch den Schutz der Objekte, derer der Mensch fur diese Entfaltung bedarf. Rechtsgiiter seien danach „diejenigen Gegenstände, die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht"998. Die Gegenstände erhalten ihren Wert also gerade durch ihre Bezogenheit auf den Menschen999. Die Werthaftigkeit der Individualrechtsgüter erschöpft sich in den genannten Konzeptionen also nicht in ihrem bloßen Dasein, sondern ergebe sich aus den durch dieses Dasein eröffheten Wirkungsmöglichkeiten1000. So heißt es bei Rudolphi beispielhaft fur das Eigentum, dessen „reales Substrat" sei „ausschließlich die der Sache auf Grund ihrer rechtlichen Zuordnung zu dem Eigentümer zukommende Funktion, diesem bestimmte Herrschaftsmöglichkeiten und damit zugleich auch eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit durch Nutzen dieser Möglichkeiten zu eröffnen"'001. Soweit die Wirkungsmöglichkeiten in den Rechtsgutsbegriff
992 993 994 995 996 997 998 999 1000
1001
Rudolphi, in: F S für Honig, S. 161; ders., in: S K StGB, Vor § 1 R n . 1. Rudolphi, in: F S fur Honig, S. 163; siehe auch dens., in: SK StGB, Vor § 1 Rn. 2 ff. Rudolphi, in: F S fur Honig, S. 164. Roxin, A T I, § 2 Rn. 9. Roxin, A T I, § 2 Rn. 9 (im Original fett gedruckt). Michael Marx, Rechtsgut, S. 48. Michael Marx, Rechtsgut, S. 6 2 (im Original kursiv). Michael Marx, Rechtsgut, S. 63 ff, 6 7 . Rudolphi, in: F S fur Honig, S. 163 f; ders., in: S K StGB, Vor § 1 Rn. 9; Roxin, A T I, § 13 Rn. 12 ff; Michael Marx, Rechtsgut, S. 67. Rudolphi, in: FS für Honig, S. 164; ders., in: SK StGB, Vor § 1 Rn. 9; ebenso Roxin, ATI, § 13 Rn. 12.
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implantiert werden, schließe folglich eine Einwilligung bereits die Verletzung des jeweiligen Rechtsgutes aus1002. Da auch das Leben in den Kreis der so durch die Defmitionsmacht des Gutsträgers gekennzeichneten Rechtsgüter gehört, liegt es nahe, auch bei bewilligten Tötungshandlungen deren rechtsgutsverletzenden Charakter zu negieren und damit die Legitimation eines strafbewehrten Verbots bewilligter Tötungshandlungen in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich scheint dies auch im Grundsatz der Auffassung von Roxin zu entsprechen, der deshalb zur Begriindung von § 216 StGB nicht auf einen Schutz des Lebens des Einwilligenden auch gegen dessen selbstbestimmte Entscheidung rekurriert, sondern auf die vielfach verbleibenden Zweifeln am Vorliegen einer autonomen Entscheidung und auf das allgemeine Erfordernis einer Tabuisierung fremden Lebens verweist1003. Michael Marx geht an diesem Punkt einen Schritt weiter und wendet sich explizit gegen eine Einschränkung der Verfügungsbefugnis bei der Körperverletzung, wie sie § 228 StGB vorsieht, und gegen eine Strafbarkeit der Totung auf Verlangen1004. Es liegt danach grundsätzlich in der Logik der personalen Rechtsgutslehren, aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben auf die Illegitimität des (strafbewehrten) Verbots solcher Verhaltensweisen zu schließen, die als potentielles Opfer allein die Person treffen können, die das jeweilige Gut selbst preisgegeben hat und deshalb in ihrer Freiheit im Umgang mit dem Gut nicht verletzt werden kann. Ein solches Konzept beweist freilich insoweit mehr als es soil, als der fur seine Begründung in Anspruch genommene „Rechtsstaat" oder der „Zweck des Staates" nicht nur fur die Grenzen legitimen Strafeinsatzes von Bedeutung sind, sondern die Grenzen legitimer Eingriffe in die Freiheit der Staatsbürger überhaupt betreffen. Der Rekurs auf die genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben führt also nicht ohne weiteres zu einer spezifisch strafrechtlichen Rechtsgiiterlehre, sondern markiert die legitimen Grenzen einer durch staatliches Recht geformten Primärordnung1005. Grenzen für die Strafbewehrung so legitimierter Verhaltensnormen verlangen dann einen zusätzlichen Begründungsschritt. Dabei ist es freilich kein prin1002 1003 1004
1005
Rudolphi, ZStW 86 (1974), 87; Michael Marx, Rechtsgut, S. 64 ff., 82 f.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 12 ff. Roxin, AT I, § 2 Rn. 18. Michael Marx, Rechtsgut, S. 65 f. Freilich hat Marx keine Bedenken, die Wirksamkeit der Einwilligung von der Einsichtsfähigkeit des Einwilligenden abhängig zu machen, siehe Michael Marx, Rechtsgut, S. 65 mit Anm. 20, S. 66 m. Anm. 29. Das ist deutlich, wenn Roxin, AT I, § 2 Rn. 9 es ausreichen läßt, wenn Rechtsgüter fur die Freiheit und das diese sichernde soziale System „niitzlich" sind und dementsprechend (a.a.O., Rn. 14) auch Ordnungswidrigkeiten rechtsgutsverletzenden Charakter zubilligt. Etwas höhere Anforderungen, die man im Sinne einer spezifisch strafrechtlichen Grenzziehung interpretieren könnte, legt Rudolphi (in: FS fur Honig, S. 163) an, wenn er Rechtsgiiter als solche Funktionseinheiten definiert, „ohne die unsere staatliche Gesellschaft in ihrer konkreten Ausprägung nicht existenzfähig ware" (Hervorhebung nur hier).
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zipieller Mangel, sondern - wenn es bewußt geschieht - eine Stärke, den Umfang legitimer Freiheitseinschränkungen zunächst fur die - der Sanktionenordnung vorgelagerte - Primärordnung zu bestimmen. Darauf, daß diese Verortung des Problems in einem ersten Schritt geboten ist, wird zuriickzukommen sein1006. Ein Mangel dieser Konzeptionen liegt darin, daß die Bezugnahme auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben in einer Allgemeinheit und Undifferenziertheit erfolgt, die der verfassungsrechtlichen Diskussion nicht annähernd gerecht wird. Appel zeigt sich deshalb zu Recht „überrascht" von der „Pauschalität und Allgemeinheit der Bezugnahme auf das Verfassungsrecht"1007. Es entsteht der, ebenfalls von Appel konstatierte Eindruck, daß die pauschale Berufung auf die Verfassung wesentlich dazu dient, ein bereits gefestigtes Rechtsgutsverständnis mit „den erstrebten verfassungsrechtlichen Weihen zu versehen"1008. Eine verfassungsrechtlich gesicherte Begrenzung legitimen Strafeinsatzes, die auch in Grenzfällen mehr als nur formelhafte Berufungen auf Verfassungsgrundsätze ermöglicht, ist so aber offenbar nicht gewonnen.
b) Verfassungsrechtliche Verankerungen der Selbstverfiigungsfreiheit des Opfers (insb. Sternberg-Lieben) Die lediglich pauschale Bezugnahme auf verfassungsrechtliche Wertungen ist freilich kein Spezifikum der Diskussion um den strafrechtlichen Rechtsgutsbegriff, sondern sie findet sich auch in der - freilich mit dem Begriff des Rechtsguts in dem oben schon aufgezeigten engen Zusammenhang stehenden - Diskussion um den Hintergrund der rechtlichen Relevanz selbstverfugender Opferentscheidungen, insbesondere also im Zusammenhang des Bemühens um eine Fundierung der rechtlichen Bedeutsamkeit der Einwilligung. Auch hier bezieht die strafrechtliche Literatur verfassungsrechtliche Wertungen häufig lediglich punktuell und ohne vertiefende Begriindung, vielfach lediglich zur Bestätigung für ein bereits gewonnenes Ergebnis, ein1009. Deshalb ist es zu begrüßen, daß Sternberg-Lieben in seiner jüngst erschienenen Habilitationsschrift eine eingehende und umfassende Erörterung der „objektiven 1006 u n t e n 4. Teil; siehe auch schon in der Einleitung. 1007 Appel, Verfassung und Strafe, S. 376 (zum Ganzen siehe S. 374 ff.). 1008 Appel, Verfassung und Strafe, S. 376. 1009 So etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 953: „Mit Recht wird die Möglichkeit, wirksam in die Verletzung eigener Rechtsgüter einwilligen zu können, als Teil jener (nach Art. 2 Abs. 1 GG sogar verfassungsrechtlich verankerten) Freiheit individueller Willensentschließung und Willensbetätigung anerkannt" (Hervorhebung nur hier); Göbel, Die Einwilligung, S. 22; Rudolf Schmitt, in: FS fur Maurach, S. 117: § 216 StGB als Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 GG; etwas vertiefend Zipf, Einwilligung, S. 32: „Die Einwilligungsbefugnis hat ihre verfassungsrechtliche Wurzel in der Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG"; ihre Grenzen werden aus einer „verfassungsrechtlichen Güterabwägung" entwickelt.
VII. Die Selbstverantwortung des Opfers im bundesrepublikanischen Recht
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Schranken der Einwilligung im Strafrecht"1010 geleistet hat, in der in zuvor nicht erreichter Griindlichkeit die Einwilligung grundrechtlich verankert und ihre objektiven Schranken an der Verfassung gemessen werden. Diese Arbeit kann in dem von ihr selbst gezogenen Rahmen als gegenwärtiger Stand strafrechtlicher Rezeption der grundgesetzlichen Vorgaben fur die Konturierung selbstverantwortlichen Opferverhaltens angesehen werden. Dabei ware es freilich - selbst wenn man Sternberg-Liebens Ausfiihrungen immanente Schltlssigkeit bescheinigen wollte verfehlt, die von ihm erzielten Ergebnisse als notwendige Resultate einer die Verfassung fruchtbar machenden Einwilligungslehre anzusehen, derm insbesondere die divergierenden grundrechtsdogmatischen Verständnisse der verfassungsrechtlichen Judikatur und Literatur sind (selbstverständlich) nicht umfassend eingearbeitet und die Entscheidung fur ein bestimmtes Verständnis hat demnach mitunter einen (von Sternberg-Lieben offengelegten1011) dezisionistischen Charakter. Sternberg-Lieben legt seiner Untersuchung als „nicht weiter hinterfragte(n) Ausgangspunkt" eine „liberal-rechtsstaatliche Interpretation der Grundrechte" zugrunde, die er durch eine „vorrangige Funktion der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte" charakterisiert, „die dem einzelnen Grundrechtsträger die ihm bereits vorstaatlich zustehenden Freiheitsrechte solange zur beliebigen Ausiibung iiberantworten, als nicht höherrangige Interessen Drifter oder der Allgemeinheit dem Grundrechtsgebrauch entgegenstehen"1012. Weist schon dieser Ausgangspunkt die Richtung, in die die Untersuchung fuhren wird1013, so wird diese Vorentscheidung noch augenfälliger durch die Bemerkung, daß die gewählte liberal-rechtsstaatliche Grundrechtsinterpretation „angesichts der den Menschen und seine Autonomie (Art. 1 Abs. 1 GG) an die Spitze der Verfassung rückenden Ordnung des Grundgesetzes", also die Entscheidung fur eine Verfassung, „die die Gewährleistung individueller Freiheit zum Staatszweck erhoben hat", „gerade fur eine Untersuchung grundlegend sein" miisse, „die sich zum Ziel gesetzt hat, fur den Teilbereich der Einwilligung Grenzen staatlicher Eingriffsbefugnisse in die Freiheit der Burger auszuloten"1014. Die von dieser Basis aus erfolgende Erörterung der Frage, in welchen konkreten Grundrechten die Einwilligung des Opfers anzusiedeln sei, bietet allerdings bereits zu Zweifeln Anlaß. Denn Sternberg-Lieben setzt den Akzent fur die Beantwortung dieser Frage - für eine strafrechtliche Untersuchung vielleicht naheliegend, dem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt aber unangemessen - auf die den Außenstehenden von Strafe freistellende Wirkung der Einwilligung. Die „unmittelbare rechtliche Folge" der Einwilligung bestehe nämlich darin, die Täter1010
1011 1012 1013
1014
So der Titel der Arbeit. Mit „objektiven Schranken" sind solche gemeint, die von der Person des Einwilligenden abstrahieren, also nicht die subjektiven Schranken fehlender Einwilligungsfahigkeit etc.; vgl. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 9. Insbesondere Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 15. Zum Zusammenhang von Grundrechtstheorie und der Interpretation der einzelnen Grundrechte siehe Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 117 ff. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 16 (Hervorhebung nur hier).
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Tei! 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
strafbarkeit aufzuheben1015. Insoweit werde primär der Freiheitsbereich des Täters erweitert, während sich der dem Rechtsgutsinhaber zustehende Freiheitsraum „zunächst einmal nicht" ändere, denn dem Opfer sei die Verletzung seiner Güter ohnedies strafrechtlich freigestellt1016. Die Hinnahme der Rechtsgutsverletzung durch den Täter sei in dem jeweiligen Grundrecht verankert, das den Schutz des preisgegebenen Gutes zu seinem Inhalt hat1017. Erst die „soziale Funktion der Einwilligung"1018 sieht Sternberg-Lieben in einer Erweiterung des Handlungsspielraums des Opfers, denn: „Durch den Fortfall der Verbotsdrohung werden seine Chancen gesteigert, sich fremder Hände zur Einwirkung auf seine Rechtsgilterwelt bedienen zu können"1019. In der Konzeption Sternberg-Liebens wird also die Freiheitserweiterung auf Opferseite gleichsam zu einem Reflex der Straffreistellung fur den Täter; er kann deshalb auch von einem „mittelbare(n) Grundrechtseingriff beim Opfer durch Pönalisierung des Täterverhaltens" sprechen1020. Mit einer solchen Konzeption werden freilich die Verhältnisse auf den Kopf gestellt; man möchte fragen, warum Sternberg-Lieben die Einwilligung iiberhaupt noch primär in den Grundrechten des Einwilligenden und nicht in denen des Täters verankert. - Der Mangel liegt darin, daß Sternberg-Lieben die grundrechtlichen Freiheiten von Opfer und Täter von der Frage der strafrechtlichen Erlaubtheit der jeweiligen Verhaltensweisen her thematisiert. Verfassungsrechtlich geht es aber vor der Frage, ob eine selbstverfugende Entscheidung ohne strafrechtliche Konsequenzen durch eigene oder fremde Hand realisiert werden darf, darum, ob das in Rede stehende Verhalten nach den Vorgaben der Verfassung rechtlich untersagt werden kann, wozu im hier erörterten Kontext auch die Beantwortung der Frage gehört, ob einer Einwilligungserklärung ihre rechtliche Wirksamkeit genommen werden kann. Erst wenn feststeht, daß eine selbstverfugende Opferentscheidung verboten bzw. ihrer intendierten rechtlichen Wirkungen beraubt werden kann, stellt sich die weitere Frage nach einer etwaigen Sanktionierung dessen, der sich an dieser Entscheidung orientiert. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, die Wirkung der Einwilligung (erst) in der Straffreistellung zu erblicken, sondern es stellt sich bereits die Frage, ob das Verhalten des Außenstehenden infolge der Einwilligung nach der Primärrechtsordnung rechtlich zu erlauben ist. Die entscheidende - und auch primäre - Konturierung von Freiheiten durch die Verfassung liegt also bereits in der Entscheidung darilber, ob die Einwilligung eine Umgestaltung des rechtlichen Verhältnisses von Opfer und Täter in dem Sinne bewirken 1015 1016 1017 1018 1019 1020
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 18. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 19 f. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 19. Dazu Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 20 ff. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 21. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 24 ff. Deutlich wird dieses Verständnis der Freiheitserweiterung beim Opfer als Reflex der Straffreistellung beim Täter auch in dem von Sternberg-Lieben (a.a.O., S. 30) formulierten Fazit: „Die Einwilligung, die die Strafbarkeit des Täters entfallen läßt, aber hierdurch eben auch den Handlungsspielraum des Opfers vergrößert, findet ihre verfassungsrechtliche Verankerung in demjenigen Grundrecht, dessen Beeinträchtigung konsentiert wurde (...)".
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kann, daß das Verhalten des Täters zu einem rechtlich erlaubten wird. Die Bedeutsamkeit der Erklärung selbst ist eine Dimension der Freiheit, wie man schnell an einem Vergleich mit der Situation fehlender Relevanz einer solchen Erklärung deutlich machen kann. Dann ware doch nicht die fehlende Erweiterung der Täterfreiheit primär, sondern der Umstand, daß die Erklärung des Opfers nicht ernst genommen werden müßte, weil sie keine rechtlichen Wirkungen - und zwar nicht erst auf der Ebene des Strafrechts! - entfalten wilrde. Die mit einer wirksamen Einwilligung in Anspruch genommene Freiheit liegt also nicht erst darin, daß das Opfer eine Einwilligungserklärung abgeben kann und darin, die Beeinträchtigung „geschehen zu lassen"1021, sondern sie liegt schon darin, daß die entsprechende Erklärung die sonst bestehende, durch ein Verletzungsverbot (dessen Strafbewehrung ein davon unabhängiger, zusätzlicher Aspekt ist) gekennzeichnete, Rechtslage verändert - womit dann freilich auch die Legitimation fur eine Strafbarkeit des Außenstehenden entfällt. Der Hinweis, dem Opfer werde die Selbstvornahme der Handlung strafrechtlich nicht verwehrt, ist dagegen fur die grundrechtliche Verortung der Einwilligung ohne jede Relevanz. Wenn also auch schon die Freiheiten, um deren grundrechtliche Verankerung es fur eine verfassungsfundierte Interpretation der Einwilligung gehen müßte, von Sternberg-Lieben nicht iiberzeugend bestimmt werden, so kommt er doch auf der Grundlage seiner liberalen Interpretation der Grundrechte zu einer in vielen Punkten überzeugenden Bestimmung des grundgesetzlich garantierten Umfangs wirksamer Einwilligungen. Insbesondere führt ihn dieser Ansatz zu der Einsicht, daß objektive Schranken der Einwilligung, die ausschließlich den Schutz des freiverantwortlich Einwilligenden vor sich selbst bezwecken, unzulässig seien1022. Da die verfassungsrechtliche Behandlung selbstverftigender Opferentscheidungen bzw. ihrer Realisierung unten (3. Teil) noch eingehend thematisiert wird, kann auch die weitere kritische Auseinandersetzung mit der Konzeption von Sternberg-Lieben im Grundsätzlichen wie in Einzelfragen diesem verfassungsrechtlichen Teil vorbehalten bleiben.
c) Kritik der (nur) verfassungsfundierten Ansätze Die Bezugnahme auf die Verfassung legt die Anerkennung eines Prinzips der Opferselbstverantwortung nahe, nachdem sich auch in der strafrechtlichen Literatur die Einsicht in den verfassungsrechtlichen Primat von Freiheit und Wiirde des Einzelnen und die Abgeleitetheit aller staatlichen und gesellschaftlichen Anspriiche durchgesetzt hat. Das Grundgesetz steht in dieser Interpretation gegen die mit dem gemäßigten Positivismus ihren Anfang nehmenden Akzentuierung gemeinschaftsbezogenen Denkens. Diese Entwicklung gewinnt dortan Kraft, wo die Bezugnahme auf die Verfassung sich nicht - wie regelmäßig im Rahmen der Rechtsgutslehre - in allgemeinen Bekenntnissen erschöpft, sondern sich - wie in der Arbeit von Sternberg-Lieben -
1021 1022
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 19. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 54.
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um präzise, die verfassungsrechtliche Diskussion aufhehmende Begrtlndungen bemüht. Aber gerade in diesem Bemiihen erweist sich bei genauem Hinsehen der mit dem Rekurs auf die Verfassung erhobene positivistische Anspruch1023 als Schein. „Die Grundrechtsbestimmungen des GG (...) sind ihrer Wortfassung nach Lapidarformeln und Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weithin entbehren"1024. Der gedankliche - und das heißt auch: philosophische - Hintergrund wird spätestens bei dem Versuch angeriihrt, den Verfassungstext zum Leben zu erwecken1025. Damit ist selbstverständlich nicht einer beliebigen Verwendung philosophischer Konzepte das Wort geredet. Doch verlangt die inhaltliche Konkretisierung der einzelnen Grundrechte eine Grundrechtstheorie, die die Interpretation leitet und bestimmt1026. Grundrechtstheorien sind „Ausdruck bestimmter Staatsauffassungen und Grundvorstellungen ilber das Beziehungsverhältnis der einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft; hinter ihnen steht eine bestimmte Idee der Verfassung, insoweit diese die grundlegende rechtliche Ordnung des Verhältnisses des einzelnen und der Gesellschaft zum Staat darstellt"1027. Für eine solche Grundrechtstheorie liefert das Grundgesetz sowohl seinem Inhalt als auch seiner Entstehungsgeschichte nach Anhaltspunkte, die - und insoweit ist der Ausgangspunkt SternbergLiebens berechtigt - auf ein formales Freiheitsverständnis und damit auf eine liberale Grundrechtskonzeption hinweisen1028. Doch ist dieser verfassungstheoretische Ausgangspunkt und vor allem das ihm zugrundeliegende formale Freiheitsverständnis - das Freiheit nicht erst staatlich konstituiert, sondern dem Staat vorausliegend begreift - seinerseits nur ein Verweis auf ein Vorverständnis, das im Verfassungstext (und der Entstehungsgeschichte) zwar in Bezug genommen, aber freilich nicht ausgearbeitet worden ist. Ohne eine teleologische Reflexion auf den rechtsphilosophischen Hintergrund ist in der Verfassungsinterpretation folglich nicht auszukommen. Freilich mag der Konsens iiber bestimmte Fragen der Grundrechtsinterpretation die Diskussion entlasten. Doch ist in alien Zweifelsfragen die Neigung, dem Verfassungstext ein persönlich verstandenes Richtig unterzuschieben1029, bei der unmittelbaren Berufung auf die Verfassung gerade deshalb besonders groß, weil der vorpositive Begriln-
;jj n e t w a Roxin^ AX I, § 2 Rn. 9 und Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 10 (und passim) erheben. 1024 ßöckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 115. 1025 Vertiefend Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, S. 362 ff. Zu den Gefahren eines Abgleitens ins Beliebige, wenn der normative Grund der Menschenrechte nicht mehr thematisiert wird, Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, S. 5 f.; Starch, JZ 1981, 463 f. 1026 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 116. Zur Kritik an der Ausrichtung der Interpretation an Grundrechtstheorien vgl. zusammenfassend m.w.N. Stern, Handbuch des Staatsrechts V, § 109 Rn. 25. 1027 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 141. 1028 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 143 f. 1029 Beispielhaft fur einen solchen Umgang mit der Verfassung Gem, NJW 1983, 1589.
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dungsansatz nicht zum Gegenstand expliziter Reflexion gemacht worden ist und sich nicht den Anforderungen rationaler Begründung stellen muß. So verdeckt die unvermittelte Berufung auf die Verfassung lediglich den Rilckgriff auf das der Verfassung Vorausliegende1030. In den Worten Nauckes: „Die h.M. - die Verfassung, nicht ein iiberpositives Argument steuere die Legitimationserörterungen im Strafrecht - ist ein juristischer Selbstbetrug"1031. Der Rtickgriff auf das Überpositive ist nun freilich nicht durch strengere Orientierung am Verfassungstext zu vermeiden, sondern er ist notwendig. Er ist notwendig, weil der Einzelne nicht grundgesetzlich konstituiert, sondern dem Staat vorgeordnet ist1032> 1M3. Gerade die dem Verfassungsverständnis entsprechende Ableitung des Staates aus der Person ist nur zu verstehen, wenn deren Wiirde und Freiheit nicht erst durch das Staatswesen begrilndet werden. Zutreffend schreibt deshab Benda: „Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sind nicht erst durch das Grundgesetz geschaffen worden, sondern werden auch von diesem als Bestandteil einer vorgegebenen, iiberpositiven Rechtsordnung angesehen"1034. Auch wenn der Staat Entfaltungsbedingung der Person ist, ist doch schon seine Herstellung personale Leistung und die Personhaftigkeit des Einzelnen endet nicht im Staat und existiert nur mehr als staatlich gewährte, sondern sie setzt sich in ihm fort und verwirklicht sich in ihm auf einer neuen Stufe. Sieht man es so, dann erhält das „Menschenbild" des Grundgesetzes seine Konturen jedenfalls auch aus einem der Verfassung vorausliegenden Verständnis. Da der Verfassungstext in der neuzeitlichen Tradition einer Philosophie der Freiheit steht ist eine Kollision zwischen dem Verfassungswortlaut und einer sich in diesem Rahmen bewegenden philosophischen Orientierung nicht zu besorgen. Das gilt in besonderer Weise fur die Frage nach Grund und Reichweite selbst zu verantwortenden Entscheidens der Person, fiir deren Beantwortung in der Verfassungslehre vornehmlich auf die Menschenwiirde verwiesen wird. Die Ausftillung dieses Begriffs wird ihrerseits durch theoretische Modelle geleistet, unter denen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die auf Kant zurilckge1030 1031 1032
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Dazu Naucke, Die Legitimation strafrechtlicher Normen, S. 156 ff.; siehe auch Klimpel, Bevormundung, S. 53. Naucke, Die Legitimation strafrechtlicher Normen, S. 168. Vgl. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, S. 73 ff., 160 ff.; Hoffe, Neue Hefte für Philosophie 17 (1979), 15, 27 f; Isensee, Menschenrechte, S. 71 f, 92 ff; Kahlo, KritV1997, 195; Michael Köhler, Rechtstheorie 27 (1995), 387 ff.; Rath, GA 1997, 216 Fn. 10. Dazu, daß dieses Verständnis auch dem Verfassungsgeber vorgeschwebt hat, Lorz, Modemes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 247 ff. Dieser Einwand greift prinzipiell gegen die Vorstellung, der Burger werde durch ein System (in dem die Verfassung eine maßgebliche Rolle spielen wird) „als autonome Person definiert" (so Cancio Melid, ZStW 111 [1999], 373). Die Konsequenz eines solchen Verständnisses zeigt sich u.a. darin, daß dieses System auch die Möglichkeit von Bevormundung als Recht eröffnet, wenn dieses nur ausdrilcklich durch eine Norm formuliert ist (Cancio Melid, ZStW 111 [1999], 373 f). Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 3; siehe auch Stern, in: F S fur Scupin, S. 630 f.
158
Teil 1: Verbrechen und Opferselbstverantwortung - moderne Entwicklungen
hende Objektformel im Mittelpunkt steht1035. Ein Konzept, das diesen - wie sich zeigen wird: berechtigten - Gedanken aufhimmt und die Einsichten einer Philosophie der Freiheit fruchtbar zu machen trachtet, kann damit zugleich den Anspruch erheben, den verfassungsrechtlichen Begriff der Menschenwiirde zu konturieren und so einen Beitrag zur Verfassungsinterpretation zu leisten. Philosophisches Bemilhen und die Orientierung an der Verfassung lassen sich in einem solchen Ansatz nicht konfrontieren, sondern sie harmonieren. Wohlgemerkt: Mit diesen Erwägungen soil die Bedeutung der Verfassung nicht heruntergespielt werden. Der - interpretierte - Verfassungstext steckt einen Rahmen ab, innerhalb dessen sich jede Lösung bewegen muß. Damit werden insbesondere bestimmte kollektivistische Modelle, die den Einzelnen auf eine Funktion in einem System herabdrücken, verbindlich abgewiesen. Es ist aber darauf hingewiesen, daß personale Freiheit sich nicht aus der Verfassung herauslesen läßt, sondern - auch im Verfassungstext - immer schon vorausgesetzt ist und dementsprechend vorpositiver - philosophischer - Begründung bedarf. Dieses Verständnis ist auch dort, wo sich der Rechtsanwender lediglich als Verfassungsinterpret gibt, immer schon anwesend. Fur die Behandlung zustimmenden Opferverhaltens ergibt sich daraus zum einen, daß dessen Fundierung und Begrenzung mit dem Rückgriff auf das positive Verfassungsrecht noch nicht geleistet ist. Es ergibt sich daraus zum anderen, daß es erforderlich ist, auf die der Verfassung vorausliegenden rechtsphilosophischen Vorgaben zuriickzugehen.
1035
Eingehend Geddert-Steinacher, Menschenwiirde als Verfassungsbegriff, S. 22 ff., 31 ff., HOff.
2. Teil: Rechtsphilosophische Grundlegung
I.
Einleitung
Nachdem gezeigt worden ist, daß die Selbstverantwortung des Opfers in einer heteronomen, aus der Sicht der Gemeinschaft erfolgenden Rechtsbegründung1 keinen Platz finden kann und also auch paternalistische Begrenzungen der Selbstverfügungsfreiheit nicht in einen inneren Zusammenhang mit einem Prinzip der Opferselbstverantwortung gebracht werden können, ist in der rechtsphilosophischen Grundlegung der Faden einer von der Person ausgehenden Rechtsbegrtindung wieder aufzunehmen. Daß es überhaupt um Rechtsbegmndwg geht, unterscheidet die hier vorgetragenen Überlegungen von den Bemühungen Comes um die Begrtindung eines rechtsfreien Raumes, in dem die Selbstbestimmung des Individuums gerade jenseits der normativen Grenzen des Rechts angesiedelt wird2. Dieser Ansatz fur eine Rechtsbegrtindung wird freilich nicht nur „gewählt", vielmehr wird behauptet, daß /tec/jfcbegründung vom autonomen Individuum ihren Ausgang nehmen muß3. Denn von außen gegenüber dem Einzelnen geltend gemachten Verhaltensregeln bleibt nur die Berufiing auf die Autorität der normsetzenden Instanz, die sich jedoch im säkularen Staat nicht auf kategorial gegenüber den „Rechtsunterworfenen" überlegene Einsicht stützen kann. So bleibt bei einer heteronomen Begriindung von Verhaltensregeln nur die Berufung auf die Macht zur Durchsetzung, praktisch also auf die Potenz von Zwang und Gewalt. Für die Frage der Opferselbstverantwortung folgt daraus: Von außen zugewiesene VerantFreilich bereits ein großzügiger Umgang mit dem Begriff „Recht", in Wahrheit handelt es sich bei heteronomer „Rechts"begrimdung lediglich um den deskriptiven Befiind institutionalisierten Zwangs; siehe noch unten im Text. Comes, Der rechtsfreie Raum; siehe auch - zum Suizid - Bottke, Suizid, S. 42 ff.; Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, S. 24 ff.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 97 ff.; Ostendorf, GA 1984, 318 f. Dazu, daß sich die Rechtsordnung gerade dort, wo sich schwierigste ethische Fragen stellen, nicht auf die Etablierung rechtsfreier Räume zurückziehen kann, siehe Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 54, 56. Zaczyk, in: FS fur E.A. Wolff, S. 514 ff.
160
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
wortung kann Se/6sfverantwortung nicht begriinden. Werden „Handlung" und „Verantwortung" einem Individuum zugeschrieben, dann agiert in Wahrheit nicht das Individuum, sondern sein Interpret - durch heteronome Zuschreibung begrilndete „Verantwortung" ist in Wahrheit die des Zuschreibenden. Auch von dieser Seite zeigt sich, daß ein unendlicher Verantwortungsregreß nur dadurch abgeschnitten werden kann, daß der Zuschreibende die Macht zur Zuschreibung hat, derm eine überlegene Kompetenz in der Sache ist nicht begmndbar. Rechtsbegrilndungen, die den Anspruch erheben, von der Person auszugehen, sind freilich in unterschiedlichen Gestalten vertreten worden. Hierher gehören etwa die vorkritischen Konzepte der vernunftgegründeten Naturrechtslehre, die in ihrem Schließen von bestimmten anthropologischen Annahmen auf eine Sollensordnung bereits im historischen Teil als unzureichend erwiesen worden sind. Nicht personal gegründet sind die hier nicht näher thematisierten4 philosophischen objektiven5 Wertlehren Max Schelers und Nicolai Hartmanns, die in ihrer Überschätzung des „Wertempfindens" hinter die erkenntniskritischen Einsichten Kants zuriickfallen6. Werden die Werte als ein festes Gefiige gleichsam der Person, die nur noch deren Nachvollzug leisten soil, konfrontiert, so ist ihre Begriindung gerade nicht mehr deren Leistung7. Bedeutsamer sind solche Begründungsversuche, die eine Einbindung der Burger in ein Verfahren der Rechtsbegriindung verlangen (insbesondere also die Diskursethik). Eine allein hierauf gegründete Legitimation ist aber schon deshalb ausgeschlossen, weil die Diskursmodelle Voraussetzungen einer Teilhabe an einem gerechten Verfahren formulieren müssen, die nicht ihrerseits im Diskurs begründet werden können. Freiheit und Gleichheit der Beteiligten als Legitimationsbedingungen von Recht sind in solchen Modellen immer schon vorausgesetzt. Es wird sich aber zeigen, daß die Einhaltung gerechter Verfahren zwar nicht alleinige Bedingung einer Herstellung von Gerechtigkeit ist, aber doch eine gewisse Bedeutung hat, wenn es darum geht, im Rahmen der Positivierung von Recht den Befangenheiten, Irrtümern, Kenntnisdefiziten etc., denen der Einzelne als endliches Vernunftwesen in seinem Bemühen um Einsicht in das recht-
Siehe aber noch unten 3. Teil, IV. 1. b). Zur Rezeptionsgeschichte in der Strafrechtsdogmatik siehe Augs berg, ARSP 89 (2003), 53 ff. In Abgrenzung zu den subjektiven Wertlehren des Neukantianismus, die zwar das Subjekt in das Zentrum der Wertbegrilndung stellen, aber eben deshalb zu Rationalität und Verbindlichkeit nicht zu gelangen vermögen und so die Entscheidung zwischen den konkurrierenden Wertvorstellungen durch die Beantwortung der Frage treffen miissen, auf wessen Wertempfinden entscheidend abgestellt wird (siehe dazu schon oben 1. Teil, IV.). Vgl. zur Kritik etwa Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegriindung des Rechts, S. 76 ff., 85 ff; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 100 f; Kühl, GA 1977, 358 f; Luf, in: FS fur Verdross, S. 139 ff; Weischedel, Recht und Ethik, S. 19 ff; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 141 f. Siehe auch Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 270 f; Trapp, ARSP 72 (1986), 165 f; E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 152.
II. Person und Gemeinschaft
161
lich Richtige verhaftet ist8, möglichst geringen Einfluß einzuräumen9. Denn nimmt die Begründung des Rechts von der Vemunft der Einzelnen ihren Ausgang, dann ist jeder mit prinzipiell gleicher normativer Kompetenz (praktischer Vemunft) ausgestattet und die überindividuelle Geltung von Verhaltensregeln kann nur diskursiv, unter gleichberechtigter Vernunftteilhabe, gewonnen werden. Damit ist aber immer schon vorausgesetzt, daß die am Diskurs Beteiligten mehr einzubringen vermögen, als ihre empirisch feststellbaren subjektiven Interessen und Empfindungen. Vielmehr ermöglicht erst der gemeinsame Boden der Vemunft, auf dem alle Beteiligten stehen, den Diskurs iiber die angemessene Lösung eines Problems10. Eine Rechtsbegriindung von der Person her muß also einerseits die von der Erkenntniskritik aufgezeigten Grenzen beachten und andererseits die Leistungsfähigkeit des Vernunftvermögens emst nehmen. Jede Mißachtung dieser Grenzen in die eine oder andere Richtung provoziert Geltungsanspriiche, die nicht in einem Vermögen der Person gegrilndet und damit - auch wenn der tatsächlich erhobene Anspruch ein anderer ist - heteronom bleiben. Es wurde im historischen Teil der Untersuchung bereits aufgezeigt, daß einen erkenntniskritisch gesicherten Ansatz der Begründung von Recht aus der Vemunft der Person in grundsätzlich noch nicht iiberholter Weise Kant vorgestellt hat. Diesem Ansatz ist deshalb die vorliegende Untersuchung in besonderer Weise verpflichtet, auch wenn sie in wesentlichen, gerade den Untersuchungsgegenstand betreffenden Punkten, vom Xawrischen Standpunkt abweichen wird.
II.
Person und Gemeinschaft
Wenn sich im Verlauf des den Diskussionsstand im Grundsätzlichen aufnehmenden Teils der Untersuchung gezeigt hat, daß ein begriindetes Prinzip der Opferselbstverantwortung nur in einem in der Personalität begründeten Recht möglich ist, so ist damit einmal auf die Einsicht Bezug genommen, daß die Qualität der Person im Recht nicht als Funktion von Gemeinschaftsbelangen verstanden werden kann. Eine Rechtsbegründung von der Person her schließt also zu allererst jede Funktionalisierung des Einzelnen im Dienste einer Gemeinschaft aus, deren Interessen sich gegeniiber dem Einzelnen gleichsam verselbständigen. Die dem Recht eigene Bestimmung, die sozialen Beziehungen unter Personen zu regeln, verlangt aber freilich auch bei einer Rechtsbegriindung von der Person her die Auflösung des Spannungsverhältnisses von Person und Gemeinschaft. Recht ist die Stelle, an der Person und Gemeinschaft in Einklang gebracht werden Vgl. E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 185. Dazu schon Ebbinghaus, Das Kantische System, S. 267 f. Vgl. auch Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, S. 473 f.; E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 197, 202 ff. Sandermann, Die Moral der Vernunft, S. 27 ff.
162
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
miissen. Das Spannungsverhältnis hat sich durch die Einnahme eines festen Standpunkts fur die Begrilndung von Recht aus Personalität nicht erledigt, sondern seine Auflösung wird zur Aufgabe der vernilnftigen Person (womit freilich erreicht ist, daß die Person auch in der Gemeinschaft immer bewahrt bleibt). Unterschiedliche Auffassungen dazu, wie die Person und ihre Vernunft zu bestimmen sind, erklären deshalb auch, weshalb die seit der Aufklärungsphilosophie anwesende Einsicht, daß die Rechtsbegrtlndung von der vernilnftigen Person her erfolgen miisse, zu erheblich divergierenden Auflösungen des Spannungsverhältnisses von Person und Gemeinschaft und damit zu unterschiedlicher Behandlung selbstverfugender Opferentscheidungen gefuhrt haben. Gerade das hier erörterte Thema verlangt deshalb zuerst ein reflexives Erreichen des Vernunftsubjekts in seinem Verhältnis zum anderen bzw. zur Gemeinschaft. Derm nur wenn das Subjekt in der Rechtsbegrilndung in seinem Verhältnis zu den anderen bestimmt ist, läßt sich auch angeben, was das fur ein „Selbst" ist, das gegeniiber den anderen fur seine Entscheidung „Verantwortung" übernehmen kann. Soil also Vernunft das Vermögen der Person sein, das eine rechtliche Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Person und Gemeinschaft erlaubt, dann ist in einem ersten Schritt die Vernunft in ihrem Verhältnis zu den anderen zu fremder Vernunft — zu bestimmen. Nun ware es von vornherein ausgeschlossen, daß Vernunft ein Problem, das in der sozialen Wirklichkeit entsteht, erkennen und bewältigen könnte, wenn die vernünftige Person sich zu dieser Wirklichkeit nicht in ein Verhältnis setzen könnte. Die Person muß deshalb einen eigenen Stand gegenüber der (naturhaften wie der sozialen) Welt11 und in gewisser Hinsicht auch einen eigenen Stand gegentlber sich selbst einnehmen können, wie er in jedem selbstreflexiven Vorgang im Vollzug erfahrbar ist12. Damit sich der Mensch überhaupt als von der umgebenden Natur unterschieden und in der Zeit mit sich selbst identisch weiß, bedarf es einer Einheit des Selbstbewußtseins13. Ohne dieses Selbstbewußtsein ware Einsicht als eigene Einsicht von vornherein ausgeschlossen. Allein ein sich seiner selbst bewußtes Wesen kann sich zu der umgebenden Welt auch in eine Distanz begeben und sie damit ubersteigen. Mit der Distanzierung von der Welt, der Einsicht in die Eigenständigkeit, ist immer schon ein Schritt zur Entwicklung eines Verständnisses von sich selbst verbunden.
Siehe etwa Forschner, Mensch und Gesellschaft, S. 72 f.; E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 162. Vgl. vertiefend E.A. Wolff Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 162 ff. Dabei kommt es an dieser Stelle nicht auf die erkenntnistheoretischen Grenzen dieser Selbstreflexion an. Nur kurz ist deshalb darauf hinzuweisen, daß sich das Selbst in diesem Reflexionsprozeß niemals „einholen" kann, sondern immer schon in gewisser Weise vorausgesetzt ist. Vgl. Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 9 f. Daß dieser Vorgang nur als Zirkel gedacht werden kann, vermag hier keinen Einwand zu begriinden, sondern ist notwendig: wenn die Person sich nur als Verniinftige mit ihrer Vernunft beschäftigen kann, dann muß der Gegenstand dieser Beschäftigung in diesem Prozeß immer schon mit anwesend sein. Siehe dazu auch Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 7 ff.
II. Person und Gemeinschaft
163
Doch mit der Unterschiedenheit ist die Person zwar immer schon vorausgesetzt, aber noch nicht in positiver Weise bestimmt, worauf es jedoch gerade ankommt, wenn sich die Person zur umgebenden Wirklichkeit nicht nur in ein Verhältnis der Andersheit, sondern auch der Einheit setzen soil. Tatsächlich begreift sich die Person nicht nur als etwas Unterschiedenes, sondern sie begreift sich auch in ihrer Eigenheit in einer bestimmten Qualität und kann sich so zu anderem von gleicher oder anderer Qualität in ein Verhältnis setzen14. Schon diese Leistungen kann das Individuum nicht erbringen, ohne auf den verniinftigen anderen verwiesen zu sein15. Dieses Angewiesensein tritt gerade worauf es hier ankommt - dann besonders hervor, wenn es darum geht, sich zu den anderen in ein soziales Verhältnis zu setzen. Dieses Problem könnte die Person nicht bewältigen, wenn der Einzelne in seiner Vernunft von den anderen isoliert ware. Vernunft kann ein soziales Problem nur lösen, wenn der andere als Vernünftiger in der verniinftigen Entscheidung beriicksichtigt werden kann16. Diese Anwesenheit des anderen kann auch nicht nur zufällig sein, denn sonst ware Vernunft, die mit dem Anspruch auf Allgemeinheit auftritt, nicht möglich. Soil Vernunft den anderen durchgehend bemcksichtigen (und berücksichtigen müssen), so muß der andere also urspriinglich immer schon in der verniinftigen Entscheidung notwendig vorkommen. Da der andere urspriinglich zur äußeren Wirklichkeit gehört, muß die Vernunft ein Verhältnis zu ihm begründen. Als notwendiges Verhältnis muß es urspriinglich im Prozeß der Konstituierung der Person (d.h.: in der Konstituierung eines Individuums als eines Verniinftigen) begriindet werden. Es war vor allem Fichte, der die urspriingliche Angewiesenheit des Menschen auf den verniinftigen anderen im Prozeß der Personwerdung verdeutlicht hat17. Konstituiert sich Personalität im Blick auf den anderen, dann gehört die Beschränkung eigener Freiheit durch die des anderen zu den Grundbestimmungen des Ich im sozialen Verhältnis. Die wechselseitige Einsicht in die Verniinftigkeit des je anderen ist die Basis fur ein Verhältnis der Gleichheit der Beteiligten im Hinblick auf ihre Vernunft und die Grundlage eines gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses, das die rechtliche Beziehung kennzeichnet. Die Person konstituiert sich aber nicht nur in Abhängigkeit von dem verniinftigen anderen, sondern das interpersonal Verhältnis ist immer schon eingebunden
14 15 16
17
Vgl. - auch zum Folgenden - E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 167 ff., 182 ff.; Zaczyk, in: FS für E.A. Wolff, S. 515 ff. Vgl. zu diesem Grundsachverhalt auch Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 174 f. Dem steht nicht entgegen, daß sich „ein grobes Muster der naturalen Entwicklung der Sozialbeziehungen eines Menschen als ererbtes Programm nachzeichnen lassen" diirfte (Forschner, Mensch und Gesellschaft, S. 3), denn damit werden erst einige Grundformen sozialen Verhaltens festgelegt, die in ihrer Urspünglichkeit möglicherweise gerade die Basis flir die Möglichkeit von Aufforderung durch fremde Vernunft legt. Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 3; dazu Hösle, Was darf und soil der Staat bestrafen?, S. 7 ff.; Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, S. 14 ff; ders., Das Unrecht, S. 154 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
in eine soziale Wirklichkeit18. Das Verhältnis des einen zum anderen hat seine Wirklichkeit immer in einem bestimmten sozialen Umfeld. Die Bedeutung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist schon mit Blick darauf ersichtlich von erheblicher Bedeutung, als das Individuum je nach gesellschaftlichen Bedingungen auch zu unterschiedlichen Stufen verwirklichter Selbständigkeit gelangen kann. Unterschiedliche Grade individueller Selbständigkeit nach unterschiedlichen historischen oder regionalen Gegebenheiten verdeutlichen diesen Zusammenhang. Die institutionalisierten sozialen Bedingungen in einer Gesellschaft werden also in jeder vernilnftigen Selbstorientierung wirksam. An dieser Stelle wird auch der Staat thematisch, und zwar sowohl als Institution, die aus der durch die Einzelnen konstituierten Gesellschaft erwächst und von ihr getragen wird, als auch als stabilisierendes, rahmengebendes, einflußnehmendes Moment, das in den gesellschaftlichen Raum zuriickwirkt'9. Mit der Einsicht in die freiheitssichernden Qualitäten vorgefundener sozialer Bedingungen stellt sich das Selbst in einen seine Freiheit erweiternden Zusammenhang20. Doch ist daran festzuhalten, daß die Institutionen nicht gleichsam mit einem eigenen Anspruch gegeniiber dem Individuum auftreten. Der Akt, in dem das Individuum sein Verhältnis zur Welt bestimmt, ist nicht ein Akt des Anerkennens von einer schon in ihrer Vernünftigkeit vorausgesetzten sozialen Welt21. Ein solches Verständnis stünde offenbar in der Tradition Hegelschen Denkens, das den Staat als das Vernilnftige versteht, das sich jeder instrumentalen Betrachtung im Dienste der Menschen spent22. Dagegen verzichtet der Kantische „Not- und Verstandesstaat"23, den selbst „ein Volk von Teufeln" braucht, auf diese Idealisierung des Staates. Der Staat wird auf die Ebene herabgeholt, auf der er uns als wirklicher Staat vertraut ist und die er (wie auch die Erfahrung lehrt) nicht iibersteigt: auf die Ebene einer machtvollen Ordnungsorganisation, deren konkrete Inhalte im gesellschaftlichen und politischen Machtkampf immer neu konkretisiert werden. Und doch nimmt er in seiner Begriindung - wie vor allem auch in der Begründung seiner Grenzen - an der allgemeinen Menschenvernunft teil. Denn in seiner Ordnungsfunktion bleibt der Staat immer letztbedingt durch den Zweck, auf den die Ordnung hin orientiert ist, auf den Menschen, der allein Zweck an sich selbst und damit unbedingt ist24. Deshalb behalten die Burger prinzipiell ihre Selbständigkeit, gesichert durch Menschenrechte (bzw., soweit
18 19 20 21
22
23 24
Siehe dazu Zaczyk, Das Unrecht, S. 172 ff. Vgl. Zaczyk, Das Unrecht, S. 181 ff. Vgl. Forschner, Mensch und Gesellschaft, S. 108 f. So aber Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 33 ff. und passim. Kritisch gegeniiber diesem Primat der sozialen Ordnung gegeniiber dem Menschen auch Lampe, ZStW 112(2000), 885. So fur die Staatstheorie Herbert Kriiger, Allgemeine Staatslehre, S. 196 f. (unter ausdriicklichem Hinweis auf Hegel), 677 f, 759 f. Dagegen Krings, Zeitschrift fur philosophische Forschung 31 (1977), 181 f. Vgl. dazu schon oben 1. Teil, II. So - kritisch - Hegel, Grundlinien, § 183. Vgl. hensee, in: FS für Heckel, S. 749 f; Krings, Zeitschrift fur philosophische Forschung 31 (1977), 179 ff.
II. Person und Gemeinschaft
165
entsprechende Rechte positiviert sind, durch Grundrechte25)26. Die Institutionen sind in einem solchen Verständnis nicht gegenüber dem Einzelnen verselbständigt, sondern sie werden getragen in einem Zusammenhang wechselseitiger Anerkennung der Beteiligten, sie sind gleichsam ein Medium, in dem sich Anerkennung vollzieht. Damit ist auch ausgeschlossen, daß der Einzelne sich prinzipiell negierend gegen Institutionalisierungen wendet. Er mag zwar die konkrete Gestalt von Institutionen angreifen, doch bleibt er als Person auf Gesellschaft und den Staat überhaupt angewiesen27. Sie sind Bedingungen, unter denen menschliche Freiheit in Gestalt konkreter Freiheiten real sein kann28, weshalb dem Einzelnen der Eintritt in den Staat auch nicht freigestellt bleibt, sondern eine Forderung der Vernunft ist29. Die Bedeutung der Institutionen ist also letztlich als weitere Entfaltung des Angewiesenseins auf den anderen im Prozeß der Konstituierung des Ich zu denken. In diesem Zusammenhang haben sie eine Geschichte; ihre Bestätigung über Generationen fuhrt zu einer Verfestigung, so daß die Grilnde, von der Tradition abzustehen, besonderes Gewicht benötigen, um sich gegen die Bedingungen, in denen sich interpersonale Anerkennungsverhältnisse traditionell bewährt haben, durchzusetzen. Die durch Bewährung in der Geschichte30 begriindete Verfestigung bestehender Verhältnisse begünstigt freilich die Redeweise von der Vernimftigkeit der Verhältnisse selbst. So lange man sich der Abgeleitetheit und Unselbständigkeit der Vernilnftigkeit von sozialer Wirklichkeit bewußt bleibt, mag man deshalb - vereinfachend - auch von einer Anerkennung der Verniinftigkeit gewisser gesellschaftlicher Verhältnisse oder Institutionen sprechen. Mit dem Hinweis, daß das Vernünftige sich nicht gleichsam in der sozialen Wirklichkeit verselbständigen kann, ist gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß die Selbstbestimmung ermöglichende Leistung der Anerkennung des anderen und der diesen Bezug prägenden sozialen Verhältnisse immer eigene Leistung der Person sein muß. Nur durch eigene Annahme der Verhältnisse kann sie zu deren Anerkennung gelangen31'32 bzw. verlangt es nach eigener Ablehnung der Unterdriickimg, um sich von autonomiefeindlichen Verhältnissen zu distanzieren. Die Selbstbestimmung der Person, die sich in die soziale Welt einordnet, ist immer eine Leistung, die ihr niemand abnehmen kann; Denken ist immer Selbst-Denken; Erkenntnis ist immer eigene Erkenntnis; Entscheidung immer eigene Entschei25 26 27 28 29 30 31
32
Zur Positivierung der Menschenrechte Isensee, Menschenrechte, S. 83 ff. Vgl. Luf Kant und die Menschenrechte, S. 27 ff.; E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 207. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 228. So - fur den Staat - Krings, Zeitschrift fur philosophische Forschung 31 (1977), 185. Höffe, Immanuel Kant, S. 225, 228; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 325 ff; Naucke, Kant, S. 28 f. Zur zeitlichen Bedingtheit konkreter Rechtsgiiter siehe Zaczyk, Das Unrecht, S. 178 ff. Nochmals: dies ist ein vereinfachter Sprachgebrauch. Sowohl die Anerkennung als auch die Ablehnung sind Akte der Personalität, mit denen sich das Individuum in ein Verhältnis zu den anderen setzt. Diese Anerkennungsleistung wird auch bei Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 33, als eigene Leistung der Person begriffen.
166
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
dung. Ein reflektiertes, nicht nur naturhaftes Verhältnis zur sozialen Welt kann nicht in einem bloß distanzierten Nachsprechen bestehen, sondern das Individuum muß sich die Welt aneignen, und zwar selbst aneignen. Die Institution kann in der Praxis nur dann als etwas, das mehr als Natur ist, wirksam werden, wenn sie als eigene Setzung begriffen wird. Die Welt mag eine Aufforderung sein, aber zur eigenen Sache machen kann sie nur das Individuum selbst. Deshalb bleibt auch Autonomie immer eine Leistung, in die die Berticksichtigung der Welt einbezogen wird, aber nicht einfach eindringt33. Die Wirklichkeit der sozialen Welt ist deshalb in ihrer Qualität immer nur vom Individuum her zu begreifen. Mit dem Erfordernis einer Einordnung der Person in die soziale Welt ist der Sache nach schon darauf hingewiesen, daß der Einzelne eine „Rolle"34 in einem gemeinsam getragenen Zusammenhang einnimmt. Diese Rolle ist fundamental durch das Anerkennungsverhältnis zu den anderen als Gleichen geprägt. Da dieses Anerkennungsverhältnis bereits im Prozeß der Konstituierung der Person vorausgesetzt ist, ist diese Rolle fur den Einzelnen unhintergehbar. Die Rolle ist aber - in Abhängigkeit von der konkreten Verfaßtheit einer bestimmten Gesellschaft, mitunter auch in Verbindung mit gewissen naturhaften Gegebenheiten - weiter ausdifferenziert, z.B. in der Rolle eines Elternteils, als Angehöriger eines bestimmten Berufs etc. Es ist nicht erforderlich, den Begriff der sozialen Rolle im vorliegenden Zusammenhang weiter zu entfalten. Entscheidend ist hier allein, daß eine personale Rechtsbegründung es ausschließt, der Person eine Funktion in der Gemeinschaft von außen zuzuschreiben. Vielmehr muß sich die Person als Vernimftige selbst in gewissen Rollen in der Gemeinschaft verstehen können; die Rolle ist damit Teil der Selbstdefmition und -beschreibung der vernünftigen Person. Die Person ist damit immer mehr als nur ihre Rolle. Deshalb kann man auch sagen: „Die Menschenwürdegarantie bildet rechtlich die Anerkennung der grundsätzlichen Rollentranszendenz des Individuums"35. Mit dem, den anderen und die Welt einbeziehenden Selbstverständnis ist der Übergang zur Normativität bereits vollzogen36. Im Selbst ist die Stelle, in der das Sollen im Sein verankert ist37. Denn die Selbstdefmition kennzeichnet nicht nur einen individuellen status quo, sondern sie ist immer auch in dem Sinne präskriptiv, als aus ihr eine Darstellung dieses Verständnisses in den Äußerungen der Person erschlossen wird. Das Selbstverständnis will durchgehalten werden und verlangt nach praktischer Orientierung, die diese Kontinuität manifestiert. Zum 33 34
35 36 37
Siehe auch Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 146 f. Der Begriff der „Rolle" ist freilich im vorliegenden Zusammenhang nicht unproblematisch. In ihm erscheint der einzelne eher als Darsteller, der eine Funktion in einem bestimmten sozialen Kontext übernommen hat (zur Herkunft des Begriffs siehe Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 334 f.). Das hier zugrundegelegte Verständnis ergibt sich aus dem folgenden Text. Morlok, Selbstverständnis, S. 286. Siehe zum Folgenden Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 347 ff. Damit wird nicht etwa ein „naturalistischer Fehlschluß" gezogen. W e n n Sollen eine Wirklichkeit hat, dann kann es nicht anders gedacht werden als als Sein (und nicht als Nicht-Sein).
III. Freiheit als Autonomie
167
Selbstverständnis gehört damit schon die Selbstbestimmung. Da es um die Selbstbestimmung der vernünftigen Person geht, eröffhet sich auch der Weg fur eine Begrilndung rechtlicher Normen, denn die Leistungen der Vernunft können nicht nur individuell Geltung beanspruchen, sondern es zeichnet die Vernunft gerade aus, daß sie alien Vernunftwesen eigen ist und zwar als eine und dennoch je eigene Vernunft. 1st das Sollen Manifestation der Selbstbestimmung, so ist es fur die Person nicht nur unverbindliche Möglichkeit, sondern immer auch praktische Bestimmung. Im Sollen wird die Vernunft - als Wollen - also praktisch. Die Orientierung der Person (vermittelt über anderes) auf sich selbst unter einem Sollen heißt Autonomie. Autonomie verlangt ein Auftreten der Person zugleich als Gesetzgeber und Gesetzesunterworfener. Autonomie ist die Form, in der sich die Freiheit eines verniinftigen Wesens vollzieht.
III. Freiheit als Autonomie Nachdem Kant in der Kritik der reinen Vernunft gezeigt hat, daß Freiheit denkmöglich ist38, zeigt er in seiner praktischen Philosophie, daß „ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann", deshalb „in praktischer Rücksicht wirklich frei" ist3940. 38
39 40
Kant, KrV, S. 492 ff. Dazu Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 273 ff.; Murmann, Nebentäterschaft, S. 162 ff.; Zaczyk, Das Unrecht, S. 130 ff; Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, S. 119 ff. Als reiner Vernunftbegriff kann die transzendentale Freiheit kein Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis sein; siehe Andreas Miiller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 64. Umgekehrt läßt sich der Beweis der Unmöglichkeit von Freiheit nach den erkenntnistheoretischen Einsichten Kants nicht fuhren; dazu Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. 110: „1st der Mensch im ganzen Umfange seiner Erkenntnis auf Erscheinungen angewiesen, so ist es unmöglich, daß jemals durch irgendeine Wissenschaft der Beweis gefuhrt werden könnte, daß er in den ersten Griinden seines Daseins den Bedingungen der Natur unterworfen sei". Siehe auch Forschner, Mensch und Gesellschaft, S. 77 f. Kant, G M S , S. 448. D i e vieldiskutierten Ergebnisse der modernen Hirnforschung bieten dagegen keine grundsätzlich neue Perspektive (a.A. z.B. Schiemann, N J W 2004, 2056 ff, wo zudem in unzulänglicher Verkürzung der Eindruck erweckt wird, es handle sich [nur] u m ein Problem der §§ 20, 21 StGB): Auch wenn man selbstverständlich den (immer: anderen) Menschen zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung machen und kausale Zusammenhänge im Vorfeld von Entscheidungen feststellen kann, bleibt damit der u m ein Verständnis seiner selbst und des Rechts ringende Mensch unberuhrt. Der Forscher nimmt mit seinem Bemühen selbst einen Standpunkt ein, den er seinen Versuchsobjekten versagt, wenn er im Ringen um Erkenntnisgewinn mit dem Anspruch wahre Einsichten zu vertreten in einen Diskurs eintritt (zutreffend Braun, JZ 2004, 610 ff). Vgl. auch eingehend Guss, Willensfreiheit.
168
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Der Kantische Aufweis der Autonomie der Person als Prinzip der praktischen Vemunft ist schon häufiger - gerade auch im Zusammenhang strafrechtlicher Untersuchungen - vorgetragen worden41, weshalb im Folgenden eine skizzenhafite Darstellung ausreichend erscheint. Die Praxis, um die es Kant an dieser Stelle geht, ist freilich nicht (nur) die Sphäre des rechtlichen Handelns, sondern Autonomie wird als Grundlage der Sittlichkeit eingefuhrt. Auch wenn das Verhältnis der so behandelten Autonomie zum Recht an dieser Stelle noch offen bleiben muß (dazu unten IV.), ist es doch - gerade auch zur Klärung dieses Verhältnisses - erforderlich, den Begriff der Autonomie zunächst in Zusammenhang mit der Sittlichkeit einzufuhren. Dabei zeigt sich schon auf den ersten Blick ein tiefgreifender Unterschied zwischen Recht und Sittlichkeit, denn maßgebliches Kriterium der Sittlichkeit ist nicht die äußere Beurteilung eines Verhaltens, sondern die Gesinnung, die einer Handlung zugrundeliegt. Das sittlich Gute wird am Anfang der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in einer (nicht als solche kenntlich gemachten) meta-ethischen Aussage42 als das eingefuhrt, „was ohne Einschränkung fur gut gehalten werden" könne, und dies sei „allein ein guter Wille"n. Damit ist nochmals ein Licht auf das Verhältnis von Person und Gemeinschaft geworfen: Das Gute ist originär ein Vermögen der Person, nicht etwa eines Systems, einer Gemeinschaft oder eines Staates. In jeder einzelnen Person ist das Gute gleichsam vollständig. Jede Person ist in diesem Sinne das Ganze, das Allgemeine. So kommt es, daß die auf diesen inneren Wert gegründete Würde des Menschen nie hinter das Kollektiv riicken kann. Wird sie hingegen unter das Kollektiv herabgedriickt, so ist damit der Zugang zur Sittlichkeit ilberhaupt verschlossen. Ein Wille, der eine qualitative Bestimmung als „gut" tragen kann, muß etwas anderes sein als ein bloß naturhaftes Vermögen. Die beschriebene Sonderung von der naturhaften Welt, auch soweit diese als Trieb, Neigung etc. der Person selbst vorkommt, fmdet also im Willen in der Weise ihren Ausdruck, daß sich die Person von ihren naturhaften Impulsen distanzieren kann. Diese sind so zwar nicht als Bestimmungsgrilnde ausgeschlossen, sie setzen sich aber nicht notwendig und sozusagen ungebremst durch. Mit dem menschlichen Willen handelt die Person nicht nach Gesetzen, sondern der Wille ist das praktische Vernunftvermögen, „nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln"44. Mit dieser relativen Selbständigkeit der Person gegenilber dem Gesetz ist eine erste Anforderung fur sittlich freies Handeln formuliert, denn solche Freiheit ist nur denkbar, wenn gesetzmäßiges Handeln Selbstorientierung der Person ist. 41 42 43 44
Siehe insbesondere Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 272 ff.; Zaczyk, Das Unrecht, S. 130 ff.; auch Murmann, Nebentäterschaft, S. 161 ff. Vgl. Höffe, Immanuel Kant, S. 176; Maatsch, Selbstverfügung, S. 6 1 . Kant, GMS, S. 393. Kant, GMS, S. 412.
III. Freiheit als Autonomie
169
Schon damit ist es ausgeschlossen, Freiheit in der personalen Praxis lediglich als individuelle Willkiirfreiheit zu begreifen im Sinne der Fähigkeit, zwischen Alternativen zu wählen45. Übt nämlich die Person Freiheit im Sinne individueller Beliebigkeit aus, so setzt sich das je individuelle Getriebensein um den größtmöglichen Lustgewinn durch46. Die Menschen folgen dann ihrer je individuellen Natur; sie werden von ihr und den Objekten, auf die sie sich naturhaft richtet, bestimmt und das bedeutet: fremdbestimmt. Wiirde sich Freiheit in Willkür erschöpfen, so ware die Begründung eines Sittengesetzes, das fur alle Menschen gleichermaßen einen Geltungsanspruch erhebt, schon deshalb ausgeschlossen, weil mit der aufgezeigten Fremdbestimmung die Entscheidungsinhalte zufällig und damit jeder den Einzelnen iibersteigende Geltungsanspruch eine Anmaßung ware. Die fur die Sittlichkeit maßgebende gesetzgebende Vernunft muß danach reine praktische Vernunft sein. Nur als reine praktische Vernunft wird das Selbst unabhängig von seiner jeweiligen zufälligen Befmdlichkeit, unabhängig von seinen jeweiligen Trieben und Neigungen gesetzgebend. Das Gesetz der reinen praktischen Vernunft darf folglich keinen materialen Zweck beinhalten. Das Sittengesetz kann deshalb nicht mehr beinhalten als „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt"47, also die Allgemeinheit des Gesetzes und die Notwendigkeit der Maxime, diesem Gesetz gemäß zu sein48. Dieser kategorische Imperativ lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz werde"49. Nur in der Achtung vor einem solchen Gesetz kann sich ein Wille als schlechterdings, also ohne alle Bedingungen gut auszeichnen. Jede Bedingtheit des Achtungsgegenstandes müßte dagegen dazu ftihren, daß der Wille selbst nicht ohne Einschränkung gut sein könnte. Der gute Wille ist folglich auch dann noch nicht schlechterdings gut, wenn die Person lediglich äußerlich in Einklang mit ihrer Pflicht nach dem Sittengesetz handelt (Handlung „gemäß" der Pflicht; Legalität)50, sondern nur dann, wenn die Handlung „aus" Pflicht erfolgt, sich also die Person um der Sittlichkeit selbst willen sittlich verhält (Moralität). Sittlichkeit kann damit nicht erzwungen werden, sondern sie ist immer als Leistung der Person zu denken. 45
46 47 48 49 50
Vgl. Michael Köhler, AT, S. 350 f.; Zaczyk, Das Unrecht, S. 137 ff. Auch diese Handlungsfreiheit ist freilich ein Vermögen, nämlich das Vermögen sich selbst Zwecke zu setzen, wobei dieses „Selbst" die naturhafte Seite meint, nämlich den Menschen als von der umgebenden Welt gesondertes Naturwesen, mit eigenen Neigungen, Trieben etc.; vgl. Andreas Miiller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 128. Vgl. Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, S. 442 f. Kant, G M S , S. 402. Kant, G M S , S. 420 f. Kant, G M S , S. 4 2 1 . D a s defizitäre oder „pathologische" eines Handelns nur gemäß der Pflicht kennzeichnet die Qualität solchen Handelns freilich aus der Sicht der Sittlichkeit; das Recht hingegen wird durch den Z w a n g mit konstituiert u n d das Handeln mit Blick auf diesen Z w a n g ist damit fur das Recht nicht defizitär, sondern eine dem Recht durchaus gemäße Motivation; siehe dazu Zaczyk, Schuld als Rechtsbegriff, S. 108 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Die Sittlichkeit eines Verhaltens kann sich nur aus der Befolgung von Maximen ergeben, die dem Anspruch des kategorischen Imperativs entsprechen; hypothetische Imperative dagegen stehen immer unter dem Vorbehalt, daß die Person das erstrebte Ziel fur richtig halt, was insbesondere bedeutet, daß es ihrem individuellen Streben nach Gltickseligkeit entspricht51. Deshalb ist es auch ausgeschlossen, dem Einzelnen die Zwecke, mit deren Verfolgung er Glückseligkeit erlangen kann, von außen vorzuschreiben. Denn der einzige Weg, zu solchen Zwecken zu kommen, ist der Weg der Empirie und damit der Zufälligkeit. Es ist aber nicht ersichtlich, wie daraus eine Einsicht folgen soil, die auch gegenilber den anderen Verbindlichkeit haben soil52. Die (sittliche) Freiheit erweist sich also im Anspruch des Sittengesetzes selbst53. Dieser Anspruch ist der Person immer schon gegenwärtig; das Bewußtsein des Sittengesetzes ist ein „Faktum der Vernunft"54. Dieser Gedanke bleibt freilich solange widerständig, wie er als bewußte Zugrundelegung des kategorischen Imperativs durch die Person vorgestellt wird. Er wird aber einsichtig, wenn man den Anspruch des Sittengesetzes nicht in seiner wissenschaftlichen Einkleidung durch den kategorischen Imperativ zugrundelegt, sondern von einem intuitiven Zugang zum Sittengesetz ausgeht55, nämlich von der Einsicht, daß die Achtung vor dem anderen in Entscheidungen mit entsprechendem Außenbezug eine nicht zu hintergehende Forderung ist (und zwar auch dann, wenn sich die Person letztlich fur eine Herabsetzung des anderen entscheidet)56. Durch solche, das Interesse an persönlicher Nutzenmaximierung relativierende Rücksichten macht sich das Sittengesetz bemerkbar. Deshalb geht es hier auch nicht um ein solipsistisches Bild einer Person, der die gesellschaftliche Wirklichkeit äußerlich bleibt. „So wie der Sinn einer jeden theoretischen Aussage augenblicklich verlorengeht, sobald sich das denkende Selbst aus der physichen und sozialen Realität seines Daseins herauszunehmen versucht, so kommt es erst gar nicht zu einem Sinn von Praxis, wenn sich die Person als asoziales Atom zu begreifen sucht, dem jeder gesellschaftliche Konnex äußerlich ist"57. Freilich markiert der Hinweis auf das „Faktum der Vernunft" vor allem eine Grenze der Begrilndbarkeit, deren Schmerz durch eine empirische Abstützung gemildert wird58. Es ist kein Beweis von Freiheit denkbar, weil die Person Freiheit 51 52 53
54 55
56 57 58
Kant, GMS, S. 415 f. Siehe dazu auch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 91 f. Vgl. dazu Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 289 f.; Zaczyk, Das Unrecht, S. 136 ff. Kant, KpV, A 55 f (= WW VII, S. 141). Kant hat den kategorischen Imperativ als wissenschaftliche Form fur einen Sachverhalt begriffen, der dem „gemeinen Verstand" immer schon gegenwärtig ist; siehe dazu das Ende (S. 404 f.) des ersten Abschnitts der GMS, der bezeichnenderweise als „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen" iiberschrieben ist. Vgl. auch Naucke, Kants Rechtslehre im Alltag, S. 93 ff. Ähnlich Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 338 f. Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 341. Siehe auch Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 27 m.w.N.
III. Freiheit als Autonomie
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immer schon in jedem Erkenntnisvollzug voraussetzt und sich Freiheit nicht gleichsam als Erkenntnisobjekt gegeniiberstellen kann. Freiheit kann also nur in der Geltung des Sittengesetzes „aufgewiesen" (nicht: bewiesen) werden59. Dies ist kein Manko der Bestimmung, sondern ist durch diese Eigenheit der Freiheit bedingt, daß das Bemühen um Einsicht sich gleichsam auf sich selbst richtet. Auch wenn der Hinweis auf das „Faktum der Vernunft" zugleich eine Grenze der Begriindbarkeit aufzeigt, wird sich in der menschlichen Welt kein festeres Fundament für Allgemeingültiges finden lassen als das, wohinter die fragende Person nicht zurück kann, wenn sie sich selbst in ihrer Vernünftigkeit zum Gegenstand macht. Der kategorische Imperativ weist mit der Forderung nach Verallgemeinerbarkeit der Maxime bereits entschieden über die einzelne Person hinaus und verlangt ihre Einordnung in einen sozialen Zusammenhang mit den anderen. Doch die Erbringung dieser Leistung kennzeichnet - wie gezeigt - zunächst den guten Willen und ist mit der Begriindung von Recht noch nicht identisch. Mit der vorstehend gewonnenen Einsicht, daß hypothetische Imperative die Begriindung von Sittlichkeit (und damit schließlich auch von Recht) nicht zu tragen vermögen, sind die Entwürfe einer utilitaristischen Ethik, wie sie insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtskreis verbreitet sind, zurlickgewiesen60. Zuriickgewiesen ist damit zugleich eine utilitaristische Variante der Kritik am Paternalismus. So ist die Paternalismus-Kritik J. S. Mills keine auf die Autonomie des Entscheidenden gegründete Zurückweisung von Bevormundung61, sondern sie gründet auf die Annahme, daß der Einzelne grundsätzlich am besten dazu befähigt sei, seine Interessen zu verfolgen, denn: „Er ist ja derjenige, dem an seinem eigenen Wohl am meisten liegt (...)"62. Die Überantwortung zu eigener Entscheidung ist also eine Frage der Zweckmäßigkeit63. Die Millsche Begriindung des „Harm Principle"64 und die Zurilckweisung des Paternalismus stehen damit in doppelter Hinsicht auf schwachen Füßen: Zum einen ist die Rechtsbegriindung (und sind damit auch die Grenzen der Begrilndbarkeit) ilberhaupt relativistisch; zum 59 60 61
62 63
64
Siehe Kant, KpV, A 53 (=WW VII, S. 139); vgl. auch Maatsch, Selbstverfügung, S. 109 ff., 123 ff. Vgl. zu solchen Entwürfen Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 103 ff. Kraftvolle Kritik auch bei Hruschka, ARSP 88 (2002), 478 ff. „Autonomie" kann in diesera Konzept nur als Mittel zur Erreichung von Gliick verstanden werden (vgl. J. S. Mill, Der Utilitarismus, S. 13), ist also in fundamentaler Weise von Autonomie im Sinne Kants zu unterscheiden; vgl. Seher, Liberalismus, S. 23 f., 25 f. J. S. Mill, Über die Freiheit, S. 105. Das Verhältnis von Utilitarismus und Liberalismus kann - nachdem das Nützlichkeitsprinzip bei Mill eine Fiihrungsposition einnimmt - nur dann zur Harmonie gebracht werden, „wenn sich zeigen läßt, daß gerade das Freiheitsprinzip besser als jede andere Maxime der Forderung des NUtzlichkeitsprinzips dient", Seher, Liberalismus, S. 25. Zum Harm Principle vgl. v. Hirsch, GA 2002, 2 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
anderen ist keineswegs ausgemacht, daß es zur Verfolgung des (im Sinne von Glücklichkeit verstandenen) Wohls des Einzelnen stets am Zweckmäßigsten ist, auf seine Bevormundung zu verzichten65. Ebensowenig ist es flir die Begrilndung von Recht ergiebig, eine intuitive Vermutung fur die Freiheit (im Sinne des Fehlens gesetzlichen Zwanges66) einzufuhren67 und die Grenzen legitimen Zwangs davon abhängig zu machen, inwieweit sich Eingriffe in die so eingefuhrte Freiheit begriinden lassen. So werden in der an Mill anknilpfenden liberalen Strafrechtsphilosophie Joel Feinbergs die Verbindlichkeit von Recht wie auch die Grenzen seiner Legitimität selbst zu Intuitionen68. Das Harm Principle als Legitimationsgrund fur Einschränkungen der Freiheit bleibt (zumal wenn es ebenfalls als Vermutung eingefuhrt wird69) noch unabgesichert. Wenn Feinberg - was dem intuitiven Zugang angemessen sein diirfte - als den Bezugspunkt der Schädigung menschliche Interessen ausweist70, so muß dieser empirische Gegenstand aus deutscher Sicht an das Konzept v. Liszts erinnern, insbesondere in der Ausprägung, die ihm Keßler gegeben hat (dazu 1. Teil III. 3. b). Entsprechend sind die Konsequenzen fur die Legitimierbarkeit strafrechtlichen Zwangs zum Schutz des Menschen vor sich selbst: Fehlt ein Interesse (im Sinne eines konkreten psychischen Befundes) am Schutz vor Beeinträchtigung, so kann ein solches Interesse auch nicht verletzt werden. Einen (harten) legal paternalism weist Feinberg demnach zurilck71. Diese Zuriickweisung hat freilich nicht mehr Kraft als die, die zuvor in die Begriindung des Freiheitskonzepts investiert wurde72.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegriindung Die Notwendigkeit von Recht griindet zunächst einmal auf einer empirischen Einsicht, nämlich auf den Umstand, daß Menschen eine Sphäre äußeren Handelns haben und in dieser Sphäre aufgrund der Willkürfreiheit Berührungen mit der Sphäre anderer Personen - die konflikthaft sein können - nicht ausschließbar, also zumin65 66 67 68 69 70 71
72
Dazu Garzön Valdes, Rechtstheorie 18 (1987), 275 ff.; Tomds-Valiente Lanuza, Rechtstheorie 30 (1999), 437 f. Feinberg, Harm to others, S. 7. Feinberg, Harm to others, S. 9 (dazu Seher, Liberalismus, S. 48 ff., 166: „[...] keineswegs von besonderer philosophischer Tiefe [...]") Dazu Seher, Liberalismus, S. 52 f, 165 ff. Feinberg, Harm to others, S. 15 (dazu Seher, Liberalismus, S. 53 ff.) Dazu Seher, Liberalismus, S. 55 ff. Feinberg, Harm to self, S. 61 f. Es bleibt danach ein „weicher" Paternalismus (wenn man insoweit iiberhaupt von „Paternalismus" sprechen will, vgl. Feinberg, Harm to self, S. 12 ff), der den Schutz vor unfreiwilligen selbstschädigenden Entscheidungen erlaubt. Vgl. Seher, Liberalismus, S. 166.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegrtindung
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dest denkmöglich sind. Auch wenn Kant ein eher negatives anthropologisches Vorverständnis hat, leitet er aus diesem Verständnis keine Konsequenzen (wie zum Beispiel einen Krieg aller gegen alle) ab, auf die es fur die Rechtsbegriindung ankäme73. Dagegen ist die Einsicht, daß die Menschen sich eine Welt teilen mtlssen und in der äußeren Wirklichkeit Berilhrungs- (und damit Reibungs-) Punkte auftreten, eine kaum bestreitbare anthropologische Minimaleinsicht, die iiberhaupt erst das Regelungsproblem umreißt, dessen Lösung der Gegenstand von Recht ist74. Gäbe es keinen gemeinsamen Lebensraum, den sich die Menschen teilen mtlssen, so ware Recht als Normenbestand zur Regelung äußerer Verhältnisse unter Personen gegenstandslos. Kant hat allerdings auch die Konflikthaftigkeit eines nicht-rechtlichen Zustandes mit dem Anspruch der Empiriefreiheit vorgetragen: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeiten gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung der anderen nicht abzuhängen (...)"75. Damit macht sich Kant zwar - wie oben schon erwähnt - von zusätzlichen anthropologischen Vorab-Annahmen frei. Ob sich aber die aus der bloßen Gemeinschaftlichkeit resultierende Konflikthaftigkeit wirklich mit dem Anpruch der Empiriefreiheit vortragen läßt, ist immerhin zweifelhaft. Doch auch als empirische Annahme beträfe dieselbe nur den Gegenstand von Recht iiberhaupt, nicht die Prinzipien, an denen sich eine einmal vorzunehmende Rechtsbegriindung zu orientieren hat. Akzeptiert man die Möglichkeit von Konflikten als anthropologische Minimaleinsicht, dann wird nicht nur der Gegenstand des Rechts deutlich, sondern es wird auch die Notwendigkeit von Ordnung - und das heißt unter Vernilnftigen: von Recht - immerhin plausibel76. Seinem Gegenstand nach zielt Recht auf die Kompatibilität äußerer Freiheit. Während sittliches Handeln Ausdruck des guten Willens ist, geht es im Recht um WiHkürfreiheit, also um Handeln nach eigenem Gutdünken77. Willkür ist das Vermögen der ihrer Wirkmächtigkeit bewußten Person, „nach Belieben zu tun oder zu
73 74 75 76
77
Siehe dazu bereits oben 1. Teil, I., 3. b). Bartuschat, Praktische Philosophic und Rechtsphilosophie bei Kant, S. 26 f.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 50 f.; Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, S. 94 f. Kant, MdS, Rechtslehre, Das Staatsrecht, § 44 (WW VIII, S. 430). Vgl. Kersting, Zeitschrift fur philosophische Forschung 37 (1983), 297. Freilich: Eine Begrtindung fur die Verbindlichkeit von Recht läßt sich so nicht leisten. Das wird in Auseinandersetzung mit der Unabhängigkeitsthese (unten 1.) noch näher zu zeigen sein. Siehe dazu auch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 67 f.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
lassen"78. Frei ist die menschliche Willkür in dem Sinne, als ihr Bestimmungsgrund nicht außerhalb ihrer79, sondern in der vernünftigen Person selbst liegt80. Einschränkungen der Willkürfreiheit können im Recht nicht durch heteronome Anmaßung geltend gemacht werden. Die Grenzen der Willkilrfreiheit miissen sich also aus der Gleichheit der Beteiligten, und das heißt aus der Verallgemeinerbarkeit rechtlicher Freiheit selbst ergeben. Das Recht, das auf die Regelung der äußeren Verhältnisse der Menschen abzielt, „ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkiir des einen mit der Willktir des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"81. Daraus folgt als „allgemeines Prinzip des Rechts": „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkiir eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann"82. Dieses Prinzip weist auf das subjektive Recht, solche Handlungen, die mit der Willkilrfreiheit der anderen nach einem allgemeinen Gesetz kompatibel sind, vornehmen zu dtirfen83 und damit auf die rechtliche Freiheit: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willktir), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprilngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht"84. Kommt es fur die Rechtlichkeit von Handlungen nur auf die Kompatibilität von äußerer Freiheit an, so ist offensichtlich, daß der entwickelte Begriff von Autonomie nicht die Voraussetzungen rechtlichen Handelns umschreibt85. Gehört zur Autonomie, sich das moralische Gesetz um seiner selbst willen zur Triebfeder seines Handelns zu machen86, kann ein auf das äußere Verhalten gehendes Recht eine solche Anforderung eines Handelns aus Pflicht gerade nicht erheben. Fur das Recht kommt es also auf die Maxime des Handelnden nicht an, so daß der kategorische Imperativ, der die Bildung einer verallgemeinerungsfähigen Maxime fordert, insoweit keine (unmittelbare) Anwendung finden kann. Das Rechtsgesetz ist insofern kein kategorischer Imperativ, als im Unterschied zu diesem seine Vorstellung nicht zu der geforderten Handlung nötigt87. Verlangt das Recht aber kein Handeln aus Pflicht, so bleibt die Möglichkeit rechtmäßigen Handelns auch unabhängig von aller Einsicht in das Gesetz. Ftir rechtstreues Handeln ist damit keine 78 79 80 81 82 83 84 85 86
87
Kant, Einleitung in die M d S , I ( W W VIII, S. 317). Kant, Einleitung in die MdS, I (WW VIII, S. 317). Vgl. Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 68. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung § B (WW VIII, S. 337). Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung § C (WW VIII, S. 337). Vgl. Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 72. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre B (WW VIII, S. 345). Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung § C (WW VIII, S. 338). Wohl aber verlangt die Moral eine Befolgung des positiven Rechtes aus Pflicht: indirekt-ethische Pflicht. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 130 f.: „Das Pflichtmotiv ist Bestandteil der ethischen Gesetzgebung; das Sittengesetz stellt nicht nur bestimmte Handlungen als notwendig vor, es gebietet auch eine bestimmte Befolgungsweise, es bestimmt seinen eigenen Befolgungsmodus". Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 103 f.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegriindung
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Bestimmung durch reine Vernunft vorausgesetzt und es bleibt so die Möglichkeit einer Bestimmung durch Triebe und Neigungen, wie sie etwa auch wirksam werden, wenn die Person ein äußeres Übel (wie die Strafe) vermeiden will. Handelt die Person mit Riicksicht auf sonst drohenden Rechtszwang dem Recht gemäß, so ist diese Bestimmung fur das Recht nicht defizitär, sondern dem Recht gerade angemessen, reflektiert sie doch den Umstand, daß der Zwang ein Konstitutionselement von Recht ist88. Rechtliche Freiheit wird also nicht durch innere Bestimmungsgrilnde der Natur (Triebe, Neigungen) ausgeschlossen. Die Leistung, die die Person fur die Rechtlichkeit ihres Handelns erbringen muß, ist nicht die Orientierung an einer eigenen Verallgemeinerungsleistung unter dem kategorischen Imperativ. Ausreichend ist vielmehr die äußere Übereinstimmung dieses Handelns mit diesen Anforderungen bzw. mit dem positiven Recht89. Rechthandeln kann also auch ein Handeln in Orientierung an hypothetischen Imperativen sein. Bezogen auf das rechtliche Handeln ist also unbestreitbar, daß der kategorische Imperativ nicht als Prinzip des Handelns vorausgesetzt ist. Eine ganz andere Frage ist aber die — und insofern herrscht Streit -, welche Bedeutung der transzendentalen Freiheit fur die Begründung von Recht iiberhaupt zukommt, ob also dem kategorischen Imperativ als dem selbstgegebenen Gesetz fur das Recht überhaupt irgendeine Bedeutung zukommt. Es ist dies der Kern der Frage nach der Einheit der praktischen Philosophic Kants90. Insofern stehen sich als Extrempositionen die sogenannte Unabhängigkeitsthese und die moralteleologische Rechtsauffassung gegenüber.
1.
Die Unabhängigkeitsthese
Die - vor allem von Ebbinghaus vertretene - Unabhängigkeitsthese sieht den Rechtsbegriff von der Autonomie unabhängig91: „Ob aber dieses Gesetz der 'sittHchen Autonomie' eine Idee von möglicher Realität fur den Menschen oder eine bloße 'hochfliegende Phantasterei' ist, ist eine Frage, von deren Bejahung oder Rechtlicher Zwang ist damit - wie im weiteren Text noch zu zeigen sein wird - nicht heteronom, sondern ebenso in der Autonomie begrilndet, wie das Recht iiberhaupt. Siehe dazu Zaczyk, Schuld als Rechtsbegriff, S. 108 ff. Aber der Rechtszwang ist nicht das einzig mögliche Motiv fur ein Handeln gemäß dem Recht; die Triebfeder kann auch eine Neigung sein, die weder zur Pflicht noch zum Recht einen Bezug aufweist. Zusätzliche - hier ausgeklammerte - Probleme können sich hier freilich ergeben, wenn vernünftiges und positives Recht auseinanderfallen. Bekanntlich hat Kant in seiner Lehre vom Widerstandsrecht insoweit dem positiven Recht grundsätzlich den Vorrang eingeräumt. Siehe dazu Dreier, in: FS fur Friedrich Kaulbach, 2. Teil, S. 5 ff; Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, S. 41 ff. Siehe Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, S. 20 ff, 89 ff; ders., Kant und das 20. Jahrhundert, S. 110 ff; ders., Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, S. 232, 242 f. Zusammenfassend dazu Andreas Mutter, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 69 ff; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 136 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Veraeinung die Gilltigkeit jenes der Erfahrung entnommenen negativen Begriffes praktischer Freiheit, den Kant seiner Rechtslehre zu Grunde gelegt hat, in keiner Weise beriihrt wird. Dieser Begriff sagt lediglich, daß der Mensch eine Fähigkeit zu Handlungen hat, fur die sinnliche Reize keine hinreichende Ursache sind"92. Für das Verständnis von Recht sei lediglich die - empirisch erfahrbare - Freiheit im Sinne der „Unabhängigkeit menschlicher Willkilrhandlungen von den Reizen" erforderlich, also ein negativer FreiheitsbegrifP3. Beispielhaft: „Niemand glaubt, er milsse, um vom Stuhle aufstehen zu können, auf einen sinnlichen Reiz warten (...)"94. Ebbinghaus meint, im Recht komme es nicht auf die Willensfreiheit95, sondern allein auf die Handlungsfreiheit an. Basiert das Recht auf einem negativen, erfahrungsgegründeten Verständnis von Freiheit, dann ist es selbst nur mehr erfahrungsgegründet. Es basiert dann auf der Erfahrung, daß jeder Mensch ein Interesse an der Realisierung seiner Zwecke hat und hierbei mit den anderen in Konflikt geraten kann. Die äußere Freiheit der Zweckverfolgung eines jeden stehe „in ihrem natürlicherweise möglichen Gebrauch dem Grundsatze nach zu der eines jeden anderen im Verhältnis möglichen totalen Widerspruchs. Also ist das Gesetz der Emschränkung dieser Freiheit auf die Bedingungen ihrer möglichen gesetzliche Übereinstimmung mit der aller anderen eine unabdingbare Forderung der Vernunft. Nennt man nun 'Recht' denjenigen möglichen Freiheitsgebrauch eines vernilnftigen Wesens, auf dessen Bedingungen alle anderen (mit ihm in Verhältnissen physisch möglicher Freiheitsbeschränkung stehenden) den ihrigen einzuschränken durch ihre Vernunft genötigt sind, so folgt, daß das in Rede stehende Gesetz das Gesetz des Rechtes ist"96. Der Fortschritt der Kantischzn Rechtslehre gegenüber der vorangegangenen Naturrechtstradition liege also nicht in der Fruchtbarmachung der kritischen Philosophie (von ihr sei die Rechtslehre eben gänzlich unabhängig)97, sondern darin, daß er seine Rechtslehre von alien materialen Inhalten unabhängig mache, und so „wird das Rechtsgesetz bei ihm zu einem Gesetze der Vereinigung aller in derjenigen (äußeren) Freiheit, deren sie bedürfen, wenn sie irgendwelche Zwecke, ganz gleich welche, sollen realisieren können"98. Ein solchermaßen auf die empirische Interessenlage bezogener Rechtsbegriff kann die Ermöglichung oder den durch einen Außenstehenden vorgenommenen Volhug einer selbstverftigenden Entscheidung (also etwa die bewilligte Verlet-
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95 96 97 98
Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, S. 21. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. 110. Ebbinghaus, Die Strafen fur Tötung eines Menschen, S. 20. Zu dieser Form von Freiheit Kant, KrV, A 450, B 478 (= W W III/IV, S. 432); ders., KpV, A 173 f. (= W W VII, S. 222): „Freiheit eines Bratenwenders". Siehe Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. 114: „Das Problem aber der Freiheit des Willens beginnt erst jenseits der Rechtslehre (...)" Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, S. 22. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, S. 22. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. 113.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegriindung
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zung) kaum als Sonderproblem begreifen": Die selbstverfligende Entscheidung bzw. das sie ermöglichende oder exekutierende Verhalten eines Außenstehenden sind nicht interessenwidrig und stehen also nicht in Widerspruch zu der Zweckverfolgung des Entscheidenden; sie umschreiben keine Kollisionsfälle. Die Unabhängigkeitsthese begründet damit weitreichende Konsequenzen gerade fur die hier diskutierten Fälle. Dabei ist es von Ebbinghaus durchaus zutreffend gesehen, daß sich das Recht nicht auf bestimmte Inhalte, sondera auf die Möglichkeit von Koexistenz in Freiheit überhaupt bezieht, und es ist noch kein Argument gegen die diese Freiheit von der sittlichen Autonomie abkoppelnden Unabhängigkeitsthese, daß sie verhältnismäßig deutlich Kants eigene Sichtweise verfehlt100. Zentral ist dagegen der Einwand, daß sich die Verbindlichkeit des Rechts auf dem Boden der Unabhängigkeitsthese schlechterdings nicht begründen läßt. Insoweit enthält diese These einen - bewußten - Rückfall in die vorkritische Philosophie101, wenn der Schluß von einem empirisch feststellbaren Interesse an Handlungsfreiheit auf ein „vernünftigerweise" zu wollendes Recht gezogen wird, wobei „Vernunft" hier offenbar lediglich im Sinne eines Vermögens zur Anwendung hypothetischer Imperative verstanden werden muß102. Dazu merkt Kersting zutreffend an: „Jedoch ist der solcherart erwiesene rationale Charakter des Rechts verbindlichkeitstheoretisch irrelevant, da fur Kant die Verbindlichkeit eines praktischen Grundsatzes abhängt von seiner Eignung, praktisches Gesetz zu sein, und iiber diese allein die Möglichkeit reiner praktischer Vernunft entscheidet"103. Bleibt die Begründung von Recht nur relativ zu den Friedensinteressen der Beteiligten, dann verliert sie insgesamt ihren Anspruch, wenn dieses Interesse fehlt. Das Zwangsrecht gegeniiber dem Abweichler läßt sich nicht mehr absolut begriinden, auch wenn im wesentlichen ein gesellschaftlicher Konsens in Hinblick auf dieses Ziel besteht. Das Recht macht sich von empirischen Vorfragen abhängig und muß kapitulieren, wenn - ebenfalls empirisch - iiber diese Vorfragen Dissens besteht; das Scheitern des Rechts ist dann ein Mangel an Rationalität. Auch dem, der ein so verstandenes Recht verletzt, ist lediglich „vorzuwerfen", daß sich gewisse Neigungen, Triebe etc. gegen die Klugheit durchgesetzt haben; das Verhalten des Täters ist am Ende dumm, aber nicht böse104. 99
Soweit ersichtlich hat Ebbinghaus die bewilligte Verletzung nicht als Rechtsproblem thematisiert. 100 Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 114, 137 f.; ders., Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), 289. Obwohl Ebbinghaus offenbar ausschließlich den Kantischen Standpunkt referieren will; vgl. Ebbinghaus, Die Strafen fur Tötung eines Menschen, S. 22; ders., Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, S. 243. 101 Siehe auch Höffe, Immanuel Kant, S. 177. 102 Yg| e t w a Andreas Müller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 72. 103 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 139; siehe auch Andreas Miiller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 86, 92 ff; Stratenwerth, in: FS fur E.A. Wolff, 498 f. 104 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 121 f.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Halt man daran fest, daß im Recht Herrschaft deshalb von bloßer Gewalt unterschieden und schließlich legitim ist, weil das Recht Ausdruck der Vernunft der Beteiligten und damit Herrschaft im Recht immer Selbstherrschaft ist105, dann kann sich das Konzept der Unabhängigkeitsthese gerade nicht auf die Legitimationsvoraussetzungen von Recht berufen, denn mit seinem Verzicht auf eine unbedingt gebietende Vernunft begrilndet es letztlich Fremdherrschaft. Der Verzicht auf den kategorischen Imperativ würde den Rechtszwang als etwas aufgeben, was gefordert werden kann, weil die Person ohnedies verpflichtet ist und damit im Gehorsam gegen das Gesetz immer nur ihre eigene Vernunft verwirklicht106. Das Recht kann letztlich Befolgung nur dort verlangen, wo eine entsprechende Entscheidung als Ausdruck von Autonomie wenigstens möglich ware (siehe dazu noch unten 3.).
2.
Die moralteleologische Rechtsauffassung
a) Grundlagen Die Gegenposition zur Unabhängigkeitsthese läßt sich als moralteleologische Rechtsauffassung bezeichnen, derzufolge das Recht in einer teleologischen Beziehung zur Sittlichkeit steht107. Das Recht erftlllt damit seinen Zweck nicht schon in der Sicherung äußerer Freiheit, sondern diese Freiheit dient ihrerseits der Erfüllung des Sittengesetzes, wofür das Recht nur die Rahmenbedingungen schaffen soil. „Durch den unbeschränkten Gebrauch meiner Willkür mache ich die Entfaltung des Gesetzes der Freiheit unmöglich! Da dieses Gesetz (der kategorische Imperativ) aber unbedingt gebietet, gebietet er zugleich alle Bedingungen, unter denen es erftlllt werden kann"108. Damit hängt der Umfang der rechtlich geschützten Handlungsräume nicht nur von der Kompatibilität der subjektiven Zwecksetzungen ab, sondern auch davon, ob die geschützte äußere Freiheit im Sinne des Sittengesetzes ausgeübt werden kann. Da es auch fur die moralteleologische Rechts105 106 107
108
Dazu Gerhardt, Rechtstheorie 12 (1981), 53 ff. Vgl. Sandermann, Die Moral der Vernunft, S. 244. Bauch, in: Zeitschrift fur Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis, 3. Bd. (1920), S. 13 ff.; Naucke, Kant, S. 27; Hollerbach, Selbstbestimmung, S. 23; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 139 f.; ähnlich auch (aber nicht als Interpretation der Kantischm Rechtslehre) Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 175 ff. (In diese Richtung weist auch die Auffassung von Feuerbach, der zwar das rechtliche Dürfen vom moralischen Sollen emanzipieren will [Gallas, P.J.A. Feuerbach, S. 25], aber den höchsten Zweck, dem die Einräumung des rechtlichen Freiraums dient, in der Befolgung des Sittengesetzes erblickt [Gallas, a.a.O., S. 19 f, 22]). Zusammenfassend dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 142 ff; zur Kritik vgl. auch Stratenwerth, in: FS fur E.A. Wolff, S. 496 ff. Naucke, Kant, S. 27, auch S. 29; Hans-Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, S. 41 ff.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegrtindung
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auffassung ausgeschlossen ist, die Innenseite unmittelbar109 zum Gegenstand rechtlicher Regelung zu machen110, bleibt so immerhin die Möglichkeit von Freiheitseinschränkung immer dann, wenn eine Handlung bereits nach ihrem äußeren Erscheinungsbild dem Sittengesetz zuwiderläuft1''. Es ist also denkbar, daß Freiheiten äußerlich vereinbar sind, ihre Ausübung aber deshalb rechtlich verboten werden kann oder muß, weil das Sittengesetz entgegensteht.
b) Konsequenzen für das Problem der Ermöglichung oder Realisation fremder selbstverfügender Entscheidungen Daraus folgt fur das Problem bewilligter Verletzungen zunächst einmal, daß ihre rechtliche Beurteilung sich nicht (allein) an der Kompatibilität der äußeren Freiheiten der Beteiligten entscheidet. Es kommt vielmehr (zusätzlich) darauf an, ob der Gebrauch der Freiheit seiner äußeren Gestalt nach iiberhaupt als Verwirklichung von Sittlichkeit erscheinen kann. Denn ein Recht, das die Verwirklichung von Sittlichkeit vermittelt, wird sich nicht auf die Schaffung hierfilr giinstiger Bedingungen beschränken können, sondern auch solche Verhaltensweisen, die unmittelbar in Widerspruch zum Sittengesetz stehen, verbieten miissen. Damit stellt sich die Frage, ob gewisse Selbstverfügungen zum Sittengesetz in Widerspruch stehen, ob also schon der äußere Freiheitsgebrauch die Merkmale an sich trägt, die - jedenfalls soweit nicht besondere Umstände vorliegen - auf die Unsittlichkeit der zugrundeliegenden Maxime schließen lassen. Diese Annahme hat, insbesondere bezogen auf den Suizid, in den Anschauungen des Christentums eine kulturell wirkmächtige Tradition1 n, die bis in die heutige Zeit auch im Rechtsverständnis wirksam geblieben ist"3. Wollte man diese Anschauungen als Orientierungspunkt für eine moralteleologische Rechtsauffassung anerkennen, so würde dies, wenn nicht schon das rechtliche Verbot des Suizids, so doch jedenfalls die rechtliche Verbotenheit der Orientierung an einer Tötungsbewilligung mit Blick auf deren sitt109 110 111
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Wohl aber mittelbar, denn das Telos des Rechts ist die Ermöglichung pflichtgemäßen Handelns aus Pflicht; siehe Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 145. Siehe etwa Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 176. Ganz anders allerdings Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts, S. 289, der aus dem Umstand, daß die Moralität als der höchste Zweck vernünftiger Wesen nur durch die Befolgung des Sittengesetzes um seiner selbst willen erreicht werde, den Schluß zieht, daß ein Recht auf die Vornahme der unmoralischen Handlung deshalb bestehe, damit die Freiheit erhalten bleibt, sie um des Sittengesetzes willen zu unterlassen. Das Recht auf die Vornahme der unmoralischen Handlung besteht also, um auf sie freiwillig zu verzichten. - Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 166 spricht hier von einer „abstrusen Konstruktion". Diese Kritik trifft schon deshalb zu, weil ein rechtliches Verbot es selbstverständlich nicht ausschließt, eine Handlung aus Pflicht zu unterlassen. Eingehend Beckert, Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 46 ff. BGHSt(GrS)6, 147, 153.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung liche Verwerflichkeit als „mittelbare Selbsttötung" nahelegen. Einschränkungen des Konnexes zwischen Sittlichkeit und Recht lassen sich dann nur noch mit „weichen" Erwägungen zur Angemessenheit rechtfertigen, insbesondere damit, daß der Gesetzgeber nicht in „moralischem Rigorismus" verfallen sollte114. Freilich ist ein so verstandenes iiberzeitliches Sittengesetz, das an den Menschen konkrete inhaltliche Forderungen stellt, wie z.B. die, sein Leben nicht willkilrlich selbst zu beenden, erkenntnistheoretisch nicht auf der Höhe der Kandschen Philosophie. Rekurriert es nicht unmittelbar auf religiose Vorstellungen, die im säkularen Staat allgemeine Verbindlichkeit nicht begründen können, so orientiert es sich an einer materialen Wertphilosophie, auf deren Schwächen oben (I.) schon hingewiesen wurde115. Die Orientierung des Rechts auf sittliche Vorstellungen von Mehrheiten oder Eliten führt in die Herrschaft einer Moral, die sich vor der Vernunft der rechtlich Gezwungenen in ihrer Berechtigung nicht hinreichend ausweisen kann und folglich in Heteronomie.
Tatsächlich hat Kant in gewissen gravierenden Selbstverletzungen - insbesondere im Suizid116 - einen Verstoß gegen das Sittengesetz gesehen, ohne freilich diesen Verstoß gegen das Sittengesetz mit einer moralteleologischen Rechtsbegriindung in dem Sinne in Verbindung zu bringen, daß bereits die bloße Selbstverletzung zwangsrechtlich zu verbieten sei, weil hier der rechtlich garantierte Freiheitsraum seine Zweckbestimmung aus der Verwirklichung von Sittlichkeit verliere. Tatsächlich liegt eine solche Sichtweise sowohl Kant als auch den Vertretern der moralteleologischen Rechtsbegründung fern117. Eine andere Konsequenz soil aber sicher auch nach Kant aus dem Verdikt iiber den Suizid zu ziehen sein: Die Bewilligung einer Fremdtötung ist nicht geeignet, das Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer so umzugestalten, daß dem Täter die Realisierung der Bewilligung rechtlich erlaubt ist118. Auch hier übersteigt die Kantische Begrilndungsleistung allerdings insofern den moralteleologischen Zusammenhang, als die Selbstverfugung bei ihm nicht bloß als Moralwidrigkeit, sondern als Rechtspflichtverletzang im Selbstverhältnis begründet wird. Es ist ersichtlich, daß eine solche Sichtweise gewissermaßen einen Begriff des Rechts in einem weiteren Sinne voraussetzt119, nämlich einen Begriff des Rechts, der von dem des äußeren Zwanges unabhängig ist. Es ist ein solcher Rechtsbegriff, der bei Kant in Zusammenhang mit der Verletzung vollkommener Pflichten 114 115 116 117 118 119
So Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 178, auch zur zitierten Entscheidung BGHSt (GrS) 6, 147 zur sittlichen Verwerflichkeit des Suizids. Siehe auch Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 176; siehe auch unten 3. Teil, IV., 1. b). Zu - zumindest denkbaren - Einschränkungen vgl. Kant, MdS, Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 6 in der dortigen Kasuistik (WW VIII, S. 555 f.). Siehe allerdings - unter Berufung safKant- Wilms/Jäger, ZRP 1988, 45 f.; dazu treffend Hoerster, ZRP 1988, 185 f. Vgl. Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Reflexion 6801. Dazu Durdn Casas, Die Pflichten gegen sich selbst, S. 44 ff.; Maatsch, Selbstverfugung, S. 216 ff.
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gegen sich selbst vorkommt, bei denen der Einzelne ein „Recht der Menschheit in der eigenen Person" verletze. Halt man das fur richtig, so ist es unmittelbar einsichtig, daß auch die Erklärung, die eine entsprechende Verletzung durch einen anderen bewilligt, ihre Unwirksamkeit daraus bezieht, daß sie auf eine dem Bewilligenden selbst rechtlich verbotene Verletzung seiner selbst zielt. Verletzt das Opfer schon mit der Erklärung das Recht der Menschheit in der eigenen Person, so zeichnet sich in der Verletzung vollkommener Pflichten schon der Bogen von der Selbst- zur (bewilligten) Fremdverletzung ab. Im Anschluß an Kant sieht auch Köhler „hinsichtlich der grundlegenden rechtlichen Existenz, dem kategorischen Dasein des Rechtssubjekts (...), die Rechtspflicht auch im Selbstverhältnis" begründet120. Die Pflicht zur Selbsterhaltung der vernilnftigen Existenz gelte aus dem „Recht der Menschheit in der eigenen Person" {Kant) und folge aus dem Prinzip der Selbstbestimmung121. Damit soil es ausgeschlossen sein, die Entscheidung des Individuums an fremder Vernunft zu beurteilen; „pragmatisch fragwürdige" Verhaltensweisen, etwa höchst riskante Sportarten, seien danach nicht unverniinftig und ihre Ausilbung verletze keine Pflicht der Person im Selbstverhältnis122. Vernunftwidrig - und damit freiheitswidrig123 - sei aber ein Verhalten, „in welchem die autonome Subjektivität ihr eigenes Dasein negiert, also selbstwidersprilchlich Daseinsbedingungen entgegenhandelt, auf denen moralisch, pragmatisch freie Subjektivität substantiell beruht"124. Als Beispiele nennt Köhler den Suizid, die Selbstverstiimmelung und die totale Selbstentäußerung (z.B. Selbstversklavung)125. Mit der Annahme einer Rechtspflichtverletzung im Selbstverhältnis ist die Grundlage dafiir bereitet, die Mitwirkung zu „unvernünftig-freiheitswidrigem Selbstverletzungsverhalten" als (zumindest Teilnahme-) Unrecht zu erfassen126. Denn im interpersonalen Verhältnis könne der auf eine rechtswidrige Freiheitsaufhebung gerichteten Erklärung keine den äußerlich bewilligten Eingriff legitimierende Qualität zukommen127. Die rechtliche Bedeutsamkeit wird so zwar nicht durch eine Moralwidrigkeit, wohl aber durch die (zunächst im Selbstverhältnis begründete) Rechtswidrigkeit eines Verhaltens ausgeschlossen. „Im Interpersonal120
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Michael Köhler, AT, S. 14, 255. Auch E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 154 f. mit Anm. 40, S. 177 f. mit Anm. 18, S. 187; Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 143 f. Ähnlich - in Anschluß an Hegel - Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 49 ff. Michael Köhler, AT, S. 255. Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 18 f; ders., AT, S. 256. Siehe Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 24. Michael Kdhler, ZStW 104 (1992), 18 f; ders., Rechtsphilosophische Hefte 1 (1992), 92. Ähnlich auch Schittek, BayVBl. 1990, 138; entfernt ähnlich auch Kioupis, Notwehr, S. 133 ff. (dagegen Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 254 ff). Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 19; ders., AT, S. 14, 256. Bezogen auf den Suizid findet sich bei Köhler, AT, S. 243 allerdings auch die Einschränkung auf den „(jedenfalls pathologischen)" Suizid. Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 22 ff. Michael Kbhler, AT, S. 255; ebenso Maatsch, Selbstverfügung, S. 220 f.
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verhältnis begrenzt sich daher die rechtfertigende Einwilligung: sie muß sich iiberhaupt noch als eine dem Rechtsprinzip freier Subjektivität entsprechende Selbstverfllgung verstehen lassen"128. So folge aus dem Fremdverletzungsverbot die Rechtswidrigkeit jeder Form der Beteiligung an solcherart selbstwidersprilchlicher Selbstverletzung129 - ein Gedanke, der freilich mit der Akzessorietätsregelung des geltenden, von Köhler folglich kritisch beurteilten, Rechts kollidiert130. Allerdings bietet die behauptete Rechtspflichtwidrigkeit gewisser gravierender Selbstverletzungen die Grundlage fur eine konsistente Begrilndung der Unbeachtlichkeit entsprechender Bewilligungen und damit fur die strafrechtliche Erfassung daran orientierter Fremdverletzungen (§§ 216, 228 StGB). Zusammenfassend: Erst die aus der Rechtswidrigkeit im Selbstverhältnis begriindete Unwirksamkeit zieht es nun nach sich, daß ein an der unwirksamen Bewilligung orientierter Eingriff eine Fremdverletzung darstellt, die nun auch aus dem Recht der anderen untersagt ist. Im interpersonalen Verhältnis wird die Rechtlichkeit des Verhaltens also mit Blick darauf erzwingbar, daß es ein Recht des Opfers ist, das von dem Täter verletzt wird. Gegen eine Einordnung dieser Argumentation in den Kontext einer moralteleologischen Rechtsbegründung ließe sich (wie oben schon angedeutet) einwenden, die Selbstverletzung - und dementsprechend die bewilligte Fremdverletzung - sei hier bereits als Rechtsverletzung begriindet und damit eben nicht in Abhängigkeit von den Voraussetzungen, unter denen eine Verletzung des Sittengesetzes vorliegt. Doch ware dieser Einwand unberechtigt131, derm auch so ist die Freiheitswidrigkeit nicht aus dem Gedanken der Inkompatibilität von Willkürfreiheit begriindet, sondern aus der Erwägung, daß der Bewilligende sich im Selbstverhältnis nicht an den Anforderungen des kategorischen Imperativ orientiert. Dies ist dann auch die Basis daflir, das bewilligte Verhalten als rechtswidrige Fremdverletzung zu erfassen.
aa) Die Behandlung des Suizids nach dem Sittengesetz Vor einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der moralteleologischen Rechtsauffassung läßt sich von deren Boden aus danach fragen, ob die Konsequenzen fur die Behandlung des Suizids132 (und davon abgeleitet: fur die bewillig128 129 130 131 132
Michael Köhler, AT, S. 255. Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 24; ders., AT, S. 256, 517, 525. MichaelKöhler, ZStW 104 (1992), 24 ff.; ders., AT, S. 525. So der Sache nach auch Mosbacher Strafrecht und Selbstschädigung, S. 84 ff. Mit der Konzentration auf den Suizid wird die am weitesten reichende Selbstverfligung thematisiert. Die angestellten Erwägungen beanspruchen damit insbesondere fur Selbstverfügungen ilber die körperliche Integrität prinzipiell ebenfalls Geltung. Bei diesen ist die Begrilndung eines Verstoßes gegen den kategorischen Imperativ zusätzlichen Zweifeln deshalb ausgesetzt, weil eine „totale Selbstnegation" {Michael Köhler, AT, S. 243) darin nicht liegt, jedenfalls wenn man nicht die naturhaften Aktionsmöglichkeiten der Person zum Maßstab macht, sondern die Person als Vernunftwesen. Warum dann die Selbstverstiimmelung „totale Selbstnegation" sein muß und nicht gerade
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te Fremdtötung) notwendigerweise die von Kant gezogenen sind. Es stellt sich also die Frage, ob solche Eingriffe tatsächlich das Sittengesetz verletzen (derm nur die bejahende Antwort wilrde fur eine moralteleologische Auffassung auch eine rechtliche Verurteilung erzwingen). Ob ein solcher Widerspruch selbst im Falle des Suizids „aus Selbstliebe" 133 gegeben ist, ist - entgegen Kant und Köhler - außerordentlich zweifelhaft134. Insbesondere überzeugt es nicht, den Widerspruch gegen den kategorischen Imperativ mit der „Selbstzweckformel" zu begriinden, derzufolge gilt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" 135 . Als Selbstzweck ist hier nicht der empirische Mensch, sondern die Menschheit in ihm, mithin das Vernilnftige, zu achten136, denn dies ist es, was „am Menschen die 'Menschheit'" aus-
Ausdruck einer alle Körperlichkeit beiseite lassenden, sich ganz auf das Geistige konzentrierende Einstellung sein mag, ist - bei aller Ungewohntheit der Vorstellung und des naheliegenden Verdachts des pathologischen Charakters der Entscheidung - nicht ersichtlich. Die „Selbstliebe" kennzeichnet freilich eine innere Einstellung und nicht die Handlung in ihrer Äußerlichkeit. Offenbar wollte Kant mit diesem Motiv so etwas wie den „Normalfall" des Suizid kennzeichnen, der aus persönlichem Leid begangen wird. Es geht hier also urn die Aussonderung von Ausnahmefällen wie etwa den eines Opfertodes, bei denen sich Kant möglicherweise nicht festlegen will; siehe Kant, MdS, Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 6 in der dortigen Kasuistik (WW VIII, S. 555 f.); King, Kontradiktionen in der Suizidverbotslehre, S. 122; Wilde, Über hypothetische und kategorische Immperative, S. 122 f.; skeptisch dagegen Maatsch, Selbstverfiigung, S. 135 f. Eingehend Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 52 ff., 124 ff., 180 ff.; vgl. auch Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 267 ff. (gegen Michael Köhler); Hoerster, Kants kategorischer Imperativ, S. 459, 463, 470 f.; Kersting, Zeitschrift fur philosophische Forschung 37 (1983), 414, 417 f.; Klug, Kontradiktionen in der Suizidverbotslehre, S. 120 ff; Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 406; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 82 ff.; Neumann, Deontologische und teleologische Positionen, S. 397; Scholz, Das Problem des Rechts, S. 131 f.; Schwemmer, Philosophie der Praxis, S. 140 ff; Tomäs-Valiente Lanuza, Rechtstheorie 30 (1999), 446 (gegen Michael Köhler); Wilde, Über hypothetische und kategorische Imperative, S. 121 ff. (mit zahlreichen weiteren Nachweisen ab S. 123); Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 194. Kant, GMS, S. 429; ebenda zur Anwendung auf den Suizid; ganz ähnlich die Erwägungen in der Tugendlehre, Ethische Elementarlehre § 6 (WW VIII, S. 555): „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin liber sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abzuwiirdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war". Siehe Duron Casas, Die Pflichten gegen sich selbst, S. 97 f, 182 ff.; Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 52 ff; Welzel, Naturrecht, S. 172; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 178.
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macht137. Danach kann nicht ein bloßer „Zweck des Menschen (...) zu existieren"138 gemeint sein139. So gesehen weist die Selbstzweckformel wieder auf die „AUgemeine Formel"140 des Kategorischen Imperativ141. Dies ist schon deshalb eine wichtige Klarstellung, weil es der Fehlintuition vorbeugt, die Menschheit im Menschen trete gegenüber dem letzteren gleichsam mit einem eigenen Recht auf und es lasse sich aus diesem Recht der Menschheit etwas ableiten, was vor der Vernunft des Einzelnen keinen Bestand hat142. Mosbacher dagegen erblickt in der Bezugnahme auf die „Anspriiche der Menschheit in unserer Person" gerade nicht mehr nur einen formalen Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit, sondern meint, daß damit „bestimmte inhaltliche Anforderungen" an die Qualität der Handlung gestellt seien143. Sieht man es so, dann ist auch die weitere Argumentation Mosbachers zutreffend, wonach „ein absolut verpflichtendes Gegeniiber den Rahmen des Rechtsprinzips iiberhaupt sprengen wtirde und sich mit der säkularen Herleitung des Rechts als Koordinationsinstrument konkreter Freiheitssphären nicht verträgt", weshalb Rechtspflichten gegen sich selbst mit dem Rechtsbegriff nicht vereinbar seien144. Trifft diese Kritik auch im Ergebnis zu (siehe unten), so ist aber doch zunächst einmal festzuhalten, daß es dem Kantischen Anspruch nach auch bei den Pflichten gegen sich selbst nicht um den Widerspruch gegen heteronom vorgegebene Inhalte, sondern um einen formalen Widerspruch, um einen Selbstwiderspruch geht. Maatsch schließlich sieht durch die Suizidmaxime den kategorischen Imperativ gerade in der Selbstzweckformel verletzt145, womit gegenüber der Allgemeinen Formel und gegeniiber der (auch von Maatsch fur die Be137 138 139
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Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 54. So Wilms/Jäger, ZRP 1988, 45; wohl auch Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 817: „Wert einer Fortexistenz der Menschheit". So offenbar auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 10 und auch Maatsch, Selbstverfügung, S. 228: nicht „dem Leben als solchem, d.h. als einem biologischen Phänomen", komme der Stellenwert eines absoluten Zwecks zu. Kant, GMS, S. 421: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde". Vgl. Kant, GMS, S. 436; Ricken, AUgemeine Ethik, Rn. 159 f. (siehe allerdings auch dens., Homo noumenon und homo phaenomenon, S. 242); Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 60; Schwartländer, Der Mensch ist Person, S. 173, 181 f.; Welzel, Naturrecht, S. 172; a.A. Durän Casas, Die Pflichten gegen sich selbst, S. 178, 206 (und - bezogen auf den Suizid - S. 234 ff.), der andererseits zutreffend darauf hinweist (S. 192 ff), daß nach Kant die Begriindung von Pflichten gegen sich selbst „analytisch aus dem Begriff der Freiheit durch das Gesetz des Widerspruchs abgeleitet" werden. Anhand der Entwicklung Kants differenzierend Prauss, Kant liber Freiheit, S. 132 ff. Auf diese Gefahr weist - im Zusammenhang mit der Diskussion um die „Wtirde der Menschheit" - zutreffend Neumann, ARSP 1998, 157, hin. Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 89. Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 90. Siehe zum Folgenden Maatsch, Selbstverfügung, S. 189 ff.
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gründung eines Suizidverbotes fur unzureichend gehaltenen146) Naturgesetzformel ein zusätzlicher (materialer) Inhalt der Selbstzweckformel behauptet ist. Diesen Gehalt bestimmt Maatsch als ein „Ich will mich selbst" und zwar (im Begriff des Selbst bereits enthalten) „als verniinftig". Die Begründung hierfür entwickelt er aus dem Begriff der Praxis, der als Setzung und Verfolgung von Zwecken zu denken sei, die - wenn die Praxis eine sittliche sein soil - unbedingte Zwecke sein müßten. Als unbedingter Inhalt des Willens komme allein „das Subjekt des potentiell reinen Willens selbst, der Mensch (...) als unter moralischen Gesetzen stehend" in Betracht. Zum bloßen Objekt mache sich ein Vernunftwesen, wenn es „sich Zwecke wählt, die ihm zuwiderlaufen, also Zwecke gegen es sind", wie dies beim Suizid - grundsätzlich147 unabhängig von der Motivation des Suizidenten der Fall sei. „Denn was auch immer der Grund fur den Entschluß, aus dem Leben zu scheiden, sein mag, in keinem Fall kann derjenige, der das sofortige Ende seines Lebens bewirkt, zusammen mit seinem Tod uno actu 'die Menschheit in seiner Person' bezwecken" - „Freiheit ist nie die Freiheit, ihre eigenen Bedingungen zu zerstören". - Aber der Schluß von der Selbstzweckhaftigkeit auf die Pflicht zur Selbsterhaltung ist aus den schon genannten Grilnden nicht haltbar: Das „sich als verniinftig zu wollen" ist in der Suizidmaxime durchaus realisierbar und die Behauptung, es schließe die Notwendigkeit ein, die Existenz der verniinftigen Person über diese Entscheidung hinaus wollen zu müssen, läßt sich so nicht begrilnden. Die Achtung vor sich selbst als vernilnftiger Person liegt nicht in der Erhaltung der physischen Existenz als Bedingung von Vernunft, sondern in der Vornahme solcher Handlungen, die mit dem Vernunftgesetz nicht in Widerstreit stehen. Mit der Beendigung der eigenen Existenz macht sich die Person nicht zum Objekt, solange der verfolgte Zweck in der Person selbst als einer verniinftigen liegt. Die Auffassung, der verfolgte Zweck - etwa die Beendigung von schwerem Leid - sei deshalb ein „subjektloser", weil das Subjekt einer Handlung bei der Erreichung des Zwecks nicht mehr lebt148, verfehlt die Einsicht, daß die Selbstzweckhaftigkeit nicht heteronom, sondern für den Handelnden, also aus dessen Perspektive zum Handlungszeitpunkt beurteilt werden muß149. Kant sieht einen Selbstwiderspruch in der Maxime, derzufolge ich es mir „aus Selbstliebe zum Prinzip (mache), wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr
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Siehe dazu Maatsch, Selbstverfugung, S. 139 ff. Ausnahme: die Aufopferung seiner selbst um eines anderen Vernunftwesens willen {Maatsch, Selbstverfugung, S. 194 mitFn. 822). Maatsch, Selbstverfugung, S. 194. Das findet eine gewisse Bestätigung darin, daß wohl nicht daran zu zweifeln ware, daß dem Suizidenten sein eigener Tod zuzurechnen ware, obwohl das Subjekt der Zurechnung nicht mehr existiert.
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Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukilrzen"150. Denn die Selbstliebe diene nach einem Gesetz der Natur zur Lebenserhaltung und könne nicht zugleich zu dessen Zerstörung treiben. Damit bezieht sich Kant auf die sogenannte „Naturgesetzformel" des kategorischen Imperativ151 . Da das gemeinte Gesetz der Natur kein Kausalgesetz sein kann - sonst ware Suizid nicht möglich 152 handelt es sich um ein Sollensgesetz, dessen Urheber aber offenbar außerhalb der Person liegt153. Der Einzelne müßte die zitierte Maxime gewissermaßen unter ein bereits vorgefundenes (Natur-) Gesetz subsumieren, was ersichtlich den Gehalt des Kategorischen Imperativ als Prinzip der Selbstgesetzgebung verfehlt154. Nebenbei bemerkt ist auch nicht einsichtig, warum ein prinzipiell lebenserhaltendes Prinzip nicht in gewissen Situationen, in denen die Gesamtbilanz zu Lasten des Lebens ausfallt, auch eine Lebensbeendigung nahelegen können soil155.
Kant, GMS, S. 422. In der KpV, A 76 (= WW VII, S. 157) wird ein Widerspruch der Selbstmordmaxime zum Naturgesetz mit der Erwägung begründet: „Offenbar würde niemand in einer solchen Natur sein Leben willkürlich endigen können, denn eine solche Verfassung wiirde keine bleibende Naturordnung sein (...)". Zur fehlenden Überzeugungskraft dieser Begriindung siehe Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 180 ff. Der Rekurs auf die Naturgesetzformel dient Kant wesentlich als Hilfsmittel bei der Anwendung der Allgemeinen Formel und zur Verdeutlichung; vgl. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 173 f.; Ricken, Allgemeine Ethik, Rn. 148, 154 ff. Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 124 f.; ferner Ebeling, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein, S. 62. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 341; so auch Schmidhäuser, in: FS fur Welzel, S. 817, wenn er einen „Wert einer Fortexistenz der Menschheit" behauptet, der dem kategorischen Imperativ „zugrundeliegt"; Paton, Der kategorische Imperativ, S. 177 ff. spricht von einem „teleologischen Gesetz der Natur"; dort (S. 189 ff.) auch zur .Kawrischen Vorstellung des Zusammenhanges von Naturgesetz und Sittengesetz. Ohne die Vorstellung einer göttlichen Ordnung kommt der Begriff eines so gedachten Naturgesetzes offenbar nicht aus; siehe Paton, a.a.O., S. 231 ff. Kritisch auch Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 99; Maatsch, Selbstverfügung, S. 183 f.; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 340 ff; weiteres bei Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ, S. 126 ff. Anders Ebeling, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein, S. 60 ff., der die Natur bereits als eine moralisch gewollte versteht, so daß die den Suizid aus Selbstliebe zulassende Maxime - entgegen Kant - nicht in einen Widerspruch des Denkens, wohl aber in einen solchen des Wollens fiihre; zutreffend kritisch zum Wollenswiderspruch Maatsch, Selbstverfügung, S. 185 ff. So auch Hoerster, Kants kategorischer Imperativ, S. 470 f. (dagegen - das Beispiel Kants verbiegend - Hqffe, Zeitschrift fur philosophische Forschung 31 [1977], 373 ff); Paton, Der kategorische Imperativ, 1962, S. 184 (dagegen Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs, S. 213; dessen Kritik modifizierend Ebeling,
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Die Kritik muß sich also gegen ein im Selbstverhältnis zu fordemdes „Mindestmaß inhaltlicher Vernilnftigkeit" wenden156. Die Implikationen eines solchen Konzepts reichen weiter als von seinen Vertretern behauptet. Denn wenn auch nur Fälle der Selbstaufgabe als freiheitswidrig und schließlich rechtlich unbeachtlich (ab-) qualifiziert werden, so liegt doch schon in der Bestimmung eines „Mindestmaßes" inhaltlicher Vernünftigkeit notwendig eine gestufte Vernünftigkeit von Entscheidungen überhaupt (und zwar auch der von der Person wohlerwogenen, ihrer Weltsicht ganz entsprechenden Entscheidungen). Köhler will freilich „selbst lebensgefährliche Sportarten aus pragmatischer Autonomie" zulassen157 und wendet sich ilberhaupt gegen ein Recht, das eine bestimmt-inhaltliche Konzeption der Glilckseligkeit oder des Guten sein will158. Dennoch bleibt die Anmaßung gegen die unnötig riskante fremde Entscheidung uniibersehbar, gegen die der Sache nach immer der Vorwurf einer reduzierten Vernünftigkeit erhoben wird, wenn auch die Entscheidung schließlich noch deshalb fur das Recht beachtlich bleibt, weil sie nicht unter das rechtlich geforderte „Mindestmaß" praktischer Vernunft absinkt. Inhaltliche Bestimmungen verniinftiger Entscheidungen, die nicht das wechselseitige Verhältnis, sondern den Umgang der Person mit sich selbst betreffen, bleiben immer heteronom. Wird so die Freiheit des Einzelnen unter Hinweis auf Pflichten gegen sich selbst eingeschränkt, so ist die „Tyrannei der Sittlichkeit" im Recht nicht mehr prinzipiell, sondern nur noch graduell zuriickzuweisen159. Das Argument der Selbstwidersprilchlichkeit verweist letztlich auf die Überlegung, daß Freiheit in der Maxime, die die Selbstverfugung erlaubt, gerade ihr Ende findet. Das wird vor allem in der Argumentation Köhlers hervorgehoben160. Doch der Gedanke, daß „aus dem Prinzip der Selbstbestimmung selbst eine Pflicht
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Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein, 62 f.); im Anschluß an Paton Maatsch, Selbstverfugung, S. 181 f. Michael Köhler, AT, S. 255 (Überschrift). Michael Köhler, AT, S. 256; wobei die Formulierung („selbst") schon auf die im weiteren Text kritisierte Haltung hinweist. Michael Köhler, AT, S. 15. Ihren ganzen Schrecken zeigt diese Tyrannei in der Konzeption von Maatsch, der zwar die indirekte Sterbehilfe fur rechtmäßig halt, weil hier „das Subjekt aller verniinftigen Zwecke (...) nur noch als ein Schatten seiner selbst" existiere und deshalb die Führung eines sittlichen Lebens durch die (möglicherweise lebensverkürzende) Schmerztherapie überhaupt erst möglich werde (Maatsch, Selbstverfugung, S. 229). Dort aber, wo eine wirksame Schmerztherapie nicht möglich sei, sieht er in der Ablehnung der rechtlichen Zulässigkeit direkter Sterbehilfe zwar „eine irritierende und schwer hinnehmbare Härte gegenüber dem betroffenen Patienten", meint aber: „die Forderung, seine Kategorialitat auch an den Grenzen des eigenen Daseins auszuhalten" könne „in einzelnen tragisch zugespitzten Lagen ihrem Adressaten durchaus mehr zumuten, als dieser subjektiv zu tragen vermag" (a.a.O., S. 228 f). Auch Klesczewski, Kants Ausdiferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs, S. 81; Klimpel, Bevormundung, S. 29 ff, 72 f, 98, 142 ff; E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 154 f. mit Anm. 40, S. 177 f. mit Anm. 18; S. 187; Zaczyk, Das Unrecht, S. 167 mit Fn. 172.
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zur Selbsterhaltung der vernünftigen Existenz" folge161, beruht auf der Prämisse, daß die Person in ihren Maximen nicht nur die Verallgemeinerbarkeit bezogen auf alle anderen Vemunftwesen bedenken muß, sondern auch verpflichtet ist, sich selbst in einem Zustand zu erhalten, der ihr künftigen Vernunftgebrauch ermöglicht. Es wird also gewissermaßen die Möglichkeit der Wiederholbarkeit verniinftigen Entscheidens als Kriterium fur Verallgemeinerbarkeit eingefiihrt162. Doch ist ein Vernunftgebrauch, der sich selbst als fmaler Vernunftgebrauch weiß, deshalb nicht widersprtichlich, sondern eben nur nicht wiederholbar163. Er widerspricht zwar dem Satz, daß die Daseinsbedingungen freier Subjektivität zu erhalten sind, aber dieser Satz ware gerade erst aus dem Sittengesetz zu begrilnden. Diese Einwände treffen auch die Argumentation von E.A. Wolff164, die auf der Annahme gründet, daß das „Dasein selbstbewußter Vernunft" bereits „Aufgabe" ist. Die Begmndung fur eine solche Aufgabe wird von Wolff für die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maxime, schuldlos in Not Geratenen zu helfen, plausibel gemacht. Derm die Verallgemeinerung der gegenteiligen Maxime, also nicht zu helfen, wilrde die Wechselseitigkeit des Verhältnisses nicht hinreichend bedenken. Eine solche Maxime wilrde einseitig den Standpunkt dessen einnehmen, der keiner Hilfe bedarf und nicht auch das Bemühen um Selbständigkeit dessen beriicksichtigen, der ohne eigene Schuld in Not geraten ist (und der die Maxime, nicht zu helfen, in ihrer Einseitigkeit nicht akzeptieren könnte). Das Dasein selbstbewußter Vernunft wiirde - bis hin zu seiner Vernichtung bei dem in Lebensgefahr Geratenen - dem Zufall ausgeliefert. Eine Vernunft, die das Dasein (iiberhaupt und in möglichst gesicherter und hoher Qualität) als Basis der Bewältigung von Dasein weiß, kann nicht ohne Selbstwiderspruch Hilfe fur den In-Not-Geratenen ausschließen. In diesem Sinne läßt es sich als Aufgabe begreifen, selbstbewußter Vernunft in ihrem Dasein zu helfen. Auch wenn man diese Argumentation zur Begriindung der Maxime, schuldlos in Not Geratenen zu helfen, akzeptieren wollte, ist damit aber noch nicht gezeigt, daß „die Maxime, Mühe auf sich zu nehmen, das Leben zu erhalten, allgemeiner Grundsatz ist"165. Zwar ist es richtig, daß das Dasein der praktischen Vernunft im Leben eines seiner Elemente hat, aber die Aufgabe, mit dem Leben dieses Dasein zu erhalten, ist damit noch nicht begründet. Während im wechselseitigen Verhältnis diese Aufgabe gerade mit Blick auf die Widersprilchlichkeit einer Maxime, die die Erhaltung des Daseins und die zufällige Vernichtung oder Verschlechterung seiner Bedingungen aufnehmen wollte, plausibel gemacht wurde und also der Gedanke einbezogen werden mußte, daß die Personen in ihrem wechselseitigen praktischen Verhältnis zum je anderen immer auf die Daseinsbedingungen von Vernunft angewiesen sind, ist im Selbstverhältnis diese Wechselseitigkeit gerade nicht 161 162 163 164 165
Michael Köhler, AT, S. 255. So ausdrücklich Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 819. In diesem Sinne auch Kargl, JZ 2002, 397; Maatsch, Selbstverfügung, S. 172 ff.; ders., a.a.O., S. 176 ff. gegen Klesczewski. E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 174 ff, insb. S. 177 f. E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 177.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegriindung
189
gegeben. Die Maxime, sich umzubringen, wenn das weitere Leben mehr Unbillen als Lust erwarten läßt, ist in dem Sinne eine mögliche Maxime, als sie das interpersonale Verhältnis nicht betrifft und deshalb auch im interpersonalen Verhältnis keinen Richtigkeitsanspruch erheben kann und will. Mit der Möglichkeit, diese Maxime als allgemeine zu denken, ist also nicht gemeint, daß es fur jeden richtig ist, sich diese Maxime zu eigen machen, sondern nur, daß dies fur jeden möglich ist. So sehr also die Person zu sittlichem Handeln verpflichtet ist, so wenig ist die Existenz der sittlichen Person selbst sittlich geboten166'167. Das zeigt sich auch daran, daß die Grilnde, die fur die fehlende Verallgemeinerbarkeit der Suizidmaxime angeführt werden, schwerlich auf die aktive Selbsttötung begrenzt werden können. Selbstliebe mag auch das Motiv fur die Zuriickweisung des rettenden Heileingriffs sein, wenn der Kranke sich von seinem weiteren Leben mehr Leiden als Nutzen erwartet. In den Fallen eines solchen „passiven Suizids" wilrde also eine „Pflicht zur Selbsterhaltung der vernünftigen Existenz"168 eine Rechtspflicht zur Behandlung auf den ersten Blick nahelegen169. Der Rückzug auf die Auffassung, es handle sich allenfalls um eine Rechtspflicht gegen sich selbst, die nicht erzwungen werden könne170, ist jedenfalls dann nicht unproblematisch, wenn ein bereits garantenpflichtiger Arzt durch eine solche rechtspflichtwidrige Entscheidung von seiner Behandlungspflicht entbunden werden müßte. Denn die Aufhebung der Behandlungspflicht hinge davon ab, daß die entsprechende Erklärung des Patienten ihre Wirksamkeit auch dann behält, wenn sie eine Rechtspflicht im Selbstverhältnis verletzt. Sieht man dagegen die Zuriickweisung der Heilbehandlung im Unterschied zur aktiven Sterbehilfe als sittlich oder zumindest rechtlich (im Selbstverhältnis) erlaubt an, so erhält die Unterordnung des Menschen unter den Lauf der Natur gegenilber der durch aktives Handeln zu realisierenden Suizidentscheidung eine merkwürdige Dignität, die sich offenbar nicht mit dem Gedanken der Autonomie, sondern nur mit einem Moment der Schicksalhaftigkeit in Verbindung bringen läßt. Selbst wenn sich schließlich begründen ließe, daß es einen Selbstwiderspruch bedeutete, Freiheit zur Vernichtung künftiger Möglichkeit sittlichen Verhaltens in Anspruch zu nehmen171, so wilrde das Verbot seine Grenze finden, wo - wie Paton sagt - „keine Möglichkeit mehr besteht, ein sittliches Leben zu führen und darin moralischen Wert zu manifestieren", wenn etwa der „Schmerz unerträglich 166
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Siehe auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 10; dens., in: FS für Arthur Kaufmann, S. 464;rfens.,GA2003, 65. Klarstellend: Hier geht es ausschließlich um Pflichten gegen sich selbst; eine ganz andere Frage ist es, ob die Person - zumindest sittlich - gegenüber anderen zur Existenz verpflichtet ist, etwa in der Funktion des Vaters gegenilber seinen Kindern. Michael Köhler, AT, S. 255. Problematisiert bei Maatsch, Selbstverfügung, S. 221 f. So Maatsch, Selbstverfugung, S. 222. Siehe nochmals Kant, MdS, Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 6 (WW VIII, S. 555): „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zemichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist (...)".
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
oder der Wahnsinn sicher" ist172. Das verweist auf eine weitere Grenze fur die (einmal unterstellte) Begrtindung von Lebenspflichten im Selbstverhältnis: Für die Beantwortung der Frage, welcher Schmerz in dem genannten Sinn unerträglich ist, wird es keinen anderen Maßstab geben als den der entscheidenden Person selbst, denn die Not ist immer eine persönliche und der Schmerz - auch der psychische kann in seiner Macht nur von dem wirklich ermessen werden, der ihn empfindet173. Jenseits von Blickverengungen, durch die das Richtige auch aus der Sicht des Entscheidenden verfehlt wird (dazu unten VI. 2.), kann niemand als der Betroffene selbst dariiber befmden, welchen Raum fur sittliche Entfaltung ihm sein Schmerz noch läßt. Der kategorische Imperativ liefert also letztlich keinen Maßstab zur Lösung der Frage, ob die Maxime vom Suizid aus Selbstliebe erlaubt oder verboten ist'74. Die Handlung bleibt damit freigestellt. Da es nicht möglich ist, ein allgemein giiltiges Vernunfturteil über die zugrundeliegende Maxime zu fallen, ist die Formulierung eines fur alle Menschen gültigen Gesetzes nicht möglich. Man mag freilich fragen, weshalb Kant offensichtlich keine Zweifel am Anwendungsergebnis des kategorischen Imperativs auf sein - wohl gerade wegen der angenommen Eindeutigkeit gewähltes - Suizidbeispiel hatte. Die Antwort wird wesentlich auf zeitgebundene Vorstellungen hinzuweisen haben. Dreier schreibt iiber die zur Verdeutlichung des kategorischen Imperativs gewählten Beispiele zu Recht: „Ihre Plausibilität beruhte filr Kant und wohl auch für einen großen Teil seiner Zeitgenossen darauf, daß sie, mit gelegentlich deutlich puritanischer Akzentuierung, auf die herrschenden bürgerlichen Moralauffassungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts abstellen"175. Läßt sich ein Verstoß gegen das Sittengesetz nicht wegen des selbstverfugenden Charakters eines Verhaltens begründen, so legt selbst ein Recht, daß teleologisch auf die Verwirklichung von Sittlichkeit ausgerichtet ist, ein Verbot solchen Verhaltens nicht nahe. Doch ausgeschlossen ist es damit noch nicht:
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Paton, Der kategorische Imperativ, S. 209. Maatsch, Selbstverfügung, S. 228 ff. griindet auf diesem Gedanken die Erlaubtheit der indirekten Euthanasie, ohne allerdings das im weiteren Text angesprochene Problem der Bestimmung der Unerträglichkeit des Schmerzes explizit zu thematisieren. Nach der Gesamtkonzeption von Maatsch liegt es allerdings nahe, ein möglicherweise vorschnelles subjektives Nicht-Mehr-Können zurilckzuweisen und gleichsam ein sittliches Höchstmaß einzufordern. Ähnliche Erwägungen, allerdings bereits auf das Rechtsverhältnis bezogen, bei Zaczyk, Selbstverantwortung S. 34 f. Zutreffend Kersting, Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), 414. Dreier, in: FS fur Kaulbach, S. 31, auch S. 33; vgl. auch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 102.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegrtindung
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bb) Die Behandlung moralisch neutraler Maximen nach der moralteleologischen Rechtsauffassung Folgt man der vorstehenden Auffassung, halt man also die den Suizid (und andere gravierende Selbstverfilgungen) erlaubende Maxime fiir mit dem Sittengesetz vereinbar, so ist damit noch nicht ausgemacht, daß nach moralteleologischer Rechtsauffassung der Suizid (und die bewilligte Fremdtötung) damit rechtlich erlaubt werden müssen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob nach moralteleologischer Rechtsauffassung sogar unabhängig von der Begrilndbarkeit eines sittlichen Verbots solche Verhaltensweisen rechtlich verbietbar sind, die nur nicht geradezu sittlich geboten sind176. Hängt nämlich der Rechtsanspruch auf äußere Freiheit davon ab, ob diese Freiheit zur Erfullung sittlicher Pflichten genutzt werden kann, dann entfällt dieser Anspruch nicht erst dann, wenn eine bestimmte Freiheitsausübung mit dem Sittengesetz unvereinbar ist, sondern schon dann, wenn sie lediglich sittlich erlaubt ist. Die Vornahme bloß erlaubter Handlungen ist nämlich nach dem Sittengesetz gerade keine Pflicht und folglich ist es nach moralteleologischem Verständnis gerade keine Aufgabe des Rechts, solche Freiräume zu garantieren. Bezogen auf das Beispiel des Suizids bzw. der Tötung auf Verlangen kann die oben vorgeschlagene Zurilckweisung eines sirtlichen Verbots solchen Verhaltens wie bereits erwähnt - nicht dazu fuhren, den Suizid bzw. die Totung auf Verlangen als sittlich geboten anzusehen; solches Verhalten ware lediglich freigestellt. Das würde aber nach dem Vorstehenden bedeuten, daß eine rechtliche Freistellung aus einem moralteleologischen Rechtsverständnis heraus zwar möglich, aber nicht notwendig ware. Da das Recht nicht die Freistellung sittlich neutralen Verhaltens verlangt, bleibt die Behandlung dieser Frage ganz dem positiven Recht iiberlassen. Es spricht viel dafür, daß die Vertreter einer moralteleologischen Rechtsauffassung die genannten Konsequenzen nicht ziehen wiirden177, sondern sittlich bloß erlaubtes Verhalten dem Bereich rechtlich garantierter Freiheit zuschlagen würden. Insoweit ware allerdings partiell auf eine Instrumentalisierung des Rechts zugunsten der Sittlichkeit verzichtet und in diesem Rahmen die - vom moralteleologischen Standpunkt kaum begründbare Gelrung eines Prinzips größtmöglicher Freiheit behauptet.
c) Kritik Während die Unabhängigkeitsthese nicht in der Lage ist, die Verbindlichkeit des Rechts zu begriinden, neigt die moralteleologische Rechtsauffassung zu einer ge176 177
Siehe zum folgenden Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 148. Siehe auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 147. Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts, S. 287 (dazu Gallas, P.J.A. Feuerbach, S. 22) hat moralisch indifferente Handlungen deshalb dem Bereich des Rechts zugeschlagen, weil sie immerhin mögliche Bedingungen zur Erfullung sittlicher Pflichten seien.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
wissen „Versittlichung" des Rechts178, die es erlaubt, Handlungsfreiräume selbst dort zu beschneiden, wo ihre Ausftillung sittlich indifferent ist. Dabei muß schon bezweifelt werden, daß sich das Ziel - die Verwirklichung von Sittlichkeit - durch die Einschränkung von Willkürfreiheit überhaupt befördern läßt. Denn Sittlichkeit ist stets eigene Leistung der Person, die auch bei widrigen Verhältnissen prinzipiell möglich bleibt179. Das Recht ist also mit der Herstellung von Sittlichkeit prinzipiell überfordert, auch wenn es sittlichem Verhalten einen bequemen Weg ebnen mag180. Selbst wenn die Förderung der Sittlichkeit durch das Recht prinzipiell fur möglich gehalten wird, ist damit noch nicht ausgemacht, daß diese Aufgabe dem Recht - und damit schließlich auch dem Staat — zukommen soil. Denn die pragmatisch gestellte Frage nach der Möglichkeit einer Förderung von Sittlichkeit zielt noch nicht auf die Lösung des Problems, ob ein solches Konzept überhaupt für eine Gemeinschaft vernünftiger Personen angemessen ist. Das ist nicht der Fall. Gerade in der Achtung des Menschen als sittlicher Person liegt es, daß die Herstellung von Sittlichkeit tiberhaupt keine - auch keine mittelbare - Aufgabe des Staates sein kann181. Der Bezug des Rechts zum Sittengesetz läßt sich nicht in der Weise herstellen, daß das Recht in eine Mittlerstellung herabgedrückt wird und in diesem Sinne gegeniiber dem Sittengesetz defizitär bleibt. Handeln aus Pflicht kann also auch nicht mittelbar zum Gegenstand des Rechts gemacht werden. Ganz unberührt davon bleibt es selbstverständlich, daß der rechtliche Freiraum auch ein Raum ist, in dem sich sittliches Verhalten unter giinstigen Bedingungen entfalten kann. Nur steht das Recht nicht in einer finalen Beziehung zu dieser Entfaltung, sondern das Recht eröffnet einen Horizont von Möglichkeiten, die zu ergreifen rechtlich auch dann gleichwertig bleibt, wenn sie in ihrer sittlichen Qualität differieren. 1st damit eine moralteleologische Rechtsbegriindung abgewiesen, so kann doch andererseits die Begriindung verbindlichen Rechts auch nicht darauf verzichten, auf die Leistungen reiner praktischer Vernunft Bezug zu nehmen, da erst die Geltung des kategorischen Imperativs einsichtig machen kann, daß Recht verbindlich und mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Diesem Zusammenhang ist im Weiteren nachzugehen:
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179 180
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Siehe auch Höffe, Immanuel Kant, S. 177.; Kritik auch bei Bleckmann, JZ 1988, 58; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 269 f.; Kühl, JZ 1985, 621; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 74 f. Stratenwerth, in: FS fiir E.A. Wolff, S. 496 ff. Vgl. Stratenwerth, in: FS fur E.A. Wolff, S. 497; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 74 f. m.w.N. Bleckmann, JZ 1988,60.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegrtindung
3.
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Der kategorische Imperativ als Grundlage fiir die Verbindlichkeit von Recht
Ausgangspunkt bleibt die Einsicht, daß das Rechtsgesetz nicht ein Handeln aus Pflicht verlangt. Das bedeutet, seine Verbindlichkeit ergibt sich nicht daraus, daß die Person aus aktualisierter Vernunft die Geltung des Gesetzes anerkennt, sondern das Rechtsgesetz kann auch aus heteronom gesetzten Motiven, insbesondere mit Blick auf den gesetzlich angedrohten Zwang, befolgt werden. Das Rechtsgesetz ist ein „Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit (...) selbst einschränken so//e"182. Die Befolgung des Rechtsgesetzes verlangt also keine moralische Freiheit. Doch auch wenn das Rechtsgesetz moralische Freiheit nicht als subjektiven Grund fur seine Befolgung normiert, bedeutet das nicht, daß es einen anderen Adressaten haben könnte als den zu moralischem Handeln befähigten Menschen. Verbindlichkeit kann dem Rechtsgesetz nur unter in diesem Sinne Freien zukommen183. Für ein „Volk von Teufeln", das lediglich durch Verstand, nicht aber durch Vernunft ausgezeichnet ist, behält das Rechtsgesetz seinen Sinn, aber eben nur als technisch zweckmäßige Ordnung, die fur den Einzelnen bei alien Restriktionen per Saldo den größten Gewinn bringt. Kersting hat auf die auf den ersten Blick bestehende Schwierigkeit hingewiesen, daß nach den vorstehenden Überlegungen ein unbedingt geltendes Gesetz der reinen praktischen Vernunft, das seine Unbedingtheit daraus begründet, daß es aus reiner praktischer Vernunft befolgt wird, gerade auf dieses konstitutive Merkmal verzichtet184. Tatsächlich wird die Forderung der sittlichen Vernunft, Bestimmungsgrund der Handlungen zu sein, nicht prinzipiell zurückgenommen, wo es um die Regelung der äußeren Verhältnisse unter den Menschen geht. Aber das Rechtsgesetz setzt die Möglichkeit voraus, von dieser Forderung zu abstrahieren. Diese Einnahme einer außermoralischen Perspektive ist unverzichtbar, weil „von der reinen praktischen Vernunft (...) kein Weg zum äußeren Zwang" führt185. Doch legitimierbar ist der Zwang nur dann, wenn er es nach moralischen Gesetzen der Freiheit ist. Vernunftgegrtindet ist Zwang nur dann, wenn er sich auf eine moralisch notwendige Handlung richtet186. Erzwingbar ist also nur ein Verhalten, das der kategorische Imperativ gebietet. Die Rechtsbegriindung kann damit nicht vom Sittengesetz unabhängig gedacht werden187. Denn es ist das einzige Gesetz, das nicht nur Ratschläge der Geschicklichkeit oder der Klugheit enthält und damit seine Verbindlichkeit von dem Willen, bestimmte Zwecke zu erreichen, abhängig macht, sondern - als selbstgegebe-
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Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung § C (WW VIII, S. 338). Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 125. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 125 f., 132. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 125 f. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 128. So auch Maatsch, Selbstverfügung, S. 207.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
nes Gesetz188 - unbedingt gilt. Erst dieser Charakter unbedingter Verpflichtung erlaubt es, die Geltung des Sittengesetzes bei jedem Menschen in gleicher Weise vorauszusetzen. Auch der Zwang muß sich auf sittliche Autonomie zurückführen lassen; der Fremdzwang kann nur an die Stelle von Selbstzwang treten, kann also nur exekutieren, wozu das Subjekt selbst verpflichtet ist. Der zentrale Unterschied zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung liegt eben „in der Ersetzung der inneren Triebfeder durch eine äußere Triebfeder"189 oder - von der Seite der Pflicht her formuliert - „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht"190. Als Vernunftwesen bleibt der Mensch so ernst genommen, derm das äußere Gesetz ist das der Vernunft und es ist damit das eigene Gesetz jedes Menschen als eines vernünftigen, dessen Autonomie deshalb auch dort gewahrt bleibt, wo er einen vom Gesetz tatsächlich abweichenden individuellen Willen faßt und sich damit zum äußeren Recht in Widerspruch setzt191. Damit ist - fur die Frage der Selbstverfugungsfreiheit bedeutsam - jedenfalls die Legitimierung eines Verbots sittlich neutralen Verhaltens ausgeschlossen. Derm läßt sich rechtliche Verbindlichkeit allenfalls in dem Rahmen legitimieren, in dem der kategorische Imperativ die Person ohnedies verpflichtet, dann ist eine rechtliche Regelung von vornherein dort ausgeschlossen, wo auch eine Selbstverpflichtung nicht begründbar ware. Kurz: wo es keine Begründung aus reiner Vernunft fur eine bestimmte Maxime gibt, kann auch keine entsprechende Rechtspflicht begründet werden. Aber selbst, wenn man gewisse Fälle der Selbstverfugung, wie insbesondere den Suizid, als dem Sittengesetz widersprechend ansehen wollte, ist mit dem Vorstehenden doch keinesfalls gesagt, daß jede notwendige Selbstverpflichtung auch von den anderen eingefordert werden kann. Im Recht wird die Selbstverpflichtung nämlich nicht als solche thematisiert, sondern es geht um die Legitimation von Fremdverpflichtung. Rechtlicher Zwang geht dann freilich auch nicht auf Selbstverpflichtung des Burgers, sondern die an sich bestehende Pflicht zur Selbstverpflichtung ist nur die Legitimationsgrundlage des Zwanges. Ware nun alles erzwingbar, wozu der Einzelne sittlich verpflichtet ist, so wiirde diese Konzeption hinsichtlich der Extension der Rechtspflichten auf eine moralteleologische Auffassung hinauslaufen192. Es ist also noch ein zusätzlicher - gegenüber der Reichweite des kategorischen Imperativs einschränkender - Schritt, zu bestimmen, inwieweit das, was der einzelne sich selbst schuldet, er auch den anderen schuldet. Die Zulässigkeit fremden Zwangs bedarf also einer zusätzlichen Begründung, die nicht schon in der Verpflichtung des Gezwungenen selbst liegt. Fremdzwang verlangt 188
189 190 191 192
Vgl. Andreas Miiller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 74. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 179. Kant, MdS, Tugendlehre, Einleitung II (WW VIII, S. 512). Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 198. Allerdings mit der Einschränkung, daß auf diese Weise sittlich neutrale Handlungen nicht rechtlich erzwingbar wären.
IV. Der kategorische Imperativ als Prinzip der Autonomie und die Rechtsbegrilndung
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zusätzlich nach einem Recht - korrespondierend einer Pflicht des Gezwungenen -, das zu verlangen, was dem Gezwungenen obliegt. Nicht jeder Pflicht korrespondiert also ohne weiteres ein Recht193. Die anderen können nicht zwingen, um den Täter „besser" oder „sittlicher" zu machen. Das ist nicht nur - wie schon gezeigt deshalb ausgeschlossen, weil Sittlichkeit Handeln aus Pflicht verlangt und eine solche Motivation jedem Zwang schlechterdings entzogen ist194, sondern es ist vor allem deshalb ausgeschlossen, weil ein Zwangsrecht nur auf die Einhaltung einer äußeren, auch im Interesse der anderen bestehenden Ordnung (nämlich einer Ordnung kompatibler Willkürfreiheiten) gerichtet sein kann19S. Ein Recht der anderen kann also von vornherein nur insoweit bestehen, als das Verhalten des Täters deren Freiheitsbereich überhaupt berührt. Die rechtliche Zwangsordnung kann den Einzelnen nur zu dem verpflichten, was seiner Vernunft als Konstituent dieser Ordnung (nämlich der Rechtsordnung!) entspricht. Das Sittengesetz ist zwar die Grundlage dafür, daß die verntinftige Person beim Einsatz von Zwangsrechten respektiert bleibt, aber damit wird nicht der durch das Rechtsgesetz gezogene Rahmen wechselseitiger Freiheitseinschränkung überschritten. Die Frage, worauf die Verallgemeinerbarkeit sich bezieht, ist also im Sinne von Ebbinghaus zu beantworten: der juridische Imperativ meint Verallgemeinerung von Willkürfreiheit. Das Recht der anderen geht also dahin, solches äußeres Verhalten einzufordern, das ihrem eigenen Willkürgebrauch, soweit er nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann, nicht entgegensteht; das Recht des Gezwungenen geht dahin, daß ihm nur solches Verhalten untersagt werden kann, das zum allgemeinen Rechtsgesetz in Widerspruch steht. Dieses ist das angeborene Recht der Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür", „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann" (dazu schon oben)196. Es läßt sich also ein kategorischer Imperativ im ethischen und im ,juridischen Gebrauch" unterscheiden197. Im juridischen Gebrauch betrifft er nur interpersonale Verhältnisse unter dem Prinzip allgemeiner Willkürfreiheit. Es geht dort darum, im äußeren Verhalten den anderen in seiner Freiheit und - soweit es seine Rolle als Mitkonstituent eines Verhältnisses unter Freien betrifft - als Gleichen zu achten. Aus dem kategorischen Imperativ (in seinem juridischen Gebrauch) läßt sich also ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis entwickeln, das den rechtlichen Zustand unter Verntinftigen kennzeichnet198.
193 194 195 196 197 198
Kant, MdS, Tugendlehre, Einleitung II (WW VIII, S. 512); Andreas Müller, Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie, S. 81. Kant, MdS, Tugendlehre, Einleitung I (WW VIII, S. 510). Vgl. Kühl, in: FS fur H.-L. Schreiber, S. 964; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 79 f. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre § B (WW VIII, S. 345). Dreier, Rechtsbegriffund Rechtsidee, S. 13; ders., in: FS für Kaulbach, S. 289 ff. Vgl. Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 296 ff.; Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 168 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
V. Das Rechtsverhältnis als gegenseitiges Anerkennungsverhältnis und seine Verletzung Das Rechtsverhältnis ist ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis, in dem sich die Beteiligten als in ihrer Freiheit Gleiche wissen und folglich ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten durch den Begriff der Freiheit der anderen beschränken199. Da es in diesem Verhältnis um rechtliche Anerkennung geht, genilgt es zur Erbringung der geforderten Leistung, wenn sich die Person an den Anforderungen orientiert, die an die Rechtlichkeit des äußeren Verhaltens zu stellen sind. In diesem rechtlichen Verhältnis sind auch Opfer und Täter miteinander verbunden. Dieses Verhältnis wird als rechtliches begrilndet und erhalten, wenn die Beteiligten sich nach dem juridischen Imperativ verhalten, also die Willkürfreiheit des je anderen achten, sofern sie mit der Willkürfreiheit des einen nach einem allgemeinen Gesetz Bestand haben kann. Auch wenn es fiir die Einhaltung rechtlicher Verhältnisse nicht auf die Griinde ankommt, die das rechtliche Verhalten der Beteiligten motivieren, ist das Rechtsverhältnis durch seine Begriindung in der Vernunft der Beteiligten doch nicht etwa in seinem Bestand zufällig. Da es auf Vernunft grtlndet und sich die Beteiligten in dieser Vernunft gleich wissen, enthält das Rechtsverhältnis immer auch schon die Vernunftgrtinde seines Bestehens und ist deshalb ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens200. Mit dem gegenseitigen Anerkennungsverhältnis ist freilich erst ein Prinzip und nicht etwa eine konkrete Handlungsanweisung formuliert. Welches Verhalten sich innerhalb des Anerkennungsverhältnisses bewegt, hängt von den konkreten Verhältnissen ab, unter denen Personen als gleiche und freie verbunden sein können. Dazu gehören neben gewissen naturhaften Umständen (wie etwa Leben und körperliche Integrität der Beteiligten, den jeweiligen Umweltbedingungen etc.) eine Vielzahl von Bedingungen, die abhängig sind von der konkreten Gestalt einer Gesellschaft (z.B. die Angewiesenheit auf das Vertrauen in die Echtheit von Urkunden). Die damit beriihrte Transformationsleistung der rechtsprinziepiellen Einsichten in staatliches Recht ist hier nicht weiter zu vertiefen201. Fiir die Ver199 200
201
Zaczyk, Das Unrecht, S. 202; Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 168 ff. Vgl. E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 183; Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 167. Das Vertrauensverhältnis ist damit nicht nur ein Reflex aus dem Vorhandensein rechtlicher Regelungen, sondern es verdeutlicht, daß dieses Rechtsverhältnis von vernünftigen Personen getragen wird. Dabei ware die Festigkeit des Vertrauens wohl auch mit Blick auf eine bloß hypothetische Vernunft, die etwa mit Blick auf angedrohte rechtliche Sanktionen bestimmte Verhaltensweisen meidet, nicht hinreichend erklärt, sondern das Vertrauen findet seine Basis in der Sittlichkeit der vernünftigen Person, die im Recht gerade nicht garantiert ist. Vgl. dazu besonders Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 300 ff; dens., in: FS fur E. A. Wolff, S. 164 ff.; Zaczyk, Das Unrecht, S. 181 ff. Siehe zum folgenden auch schon Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 171 ff.
V. Das Rechtsverhältnis als gegenseitiges Anerkennungsverhältnis und seine Verletzung 197 wirklichung rechtlicher Verhältnisse im Staat ist wesentlich, daß nach der Struktur des kategorischen Imperativ prinzipiell jede Person die von diesem geforderte Vemunfitleistung erbringen kann und es damit vor allem ausgeschlossen ist, daß der eine fur den anderen vernünftige Verhältnisse herstellt und so der andere aus dem Begrlindungszusammenhang hinausgedrängt wird. Die dem kategorischen Imperativ (in seinem juridischen Gebrauch) immanente Forderung, einen Zustand zu schaffen, in dem sich dieses Prinzip auch tatsächlich in möglichst weitem Umfang Geltung verschaffen kann202, führt so vor die Schwierigkeit, daß einerseits die Begrilndung von Recht von jeder vernünftigen Person ihren Ausgang nehmen muß, andererseits die Bemiihungen des je Einzelnen um die Bildung verallgemeinerungsfahiger Maximen noch kein geltendes, fur jeden verbindliches Recht begründen können203. Die Leistung, das Bemühen der Vielen in ein Rechtsgesetz zu überführen, das fur alle gleichermaßen Verbindlichkeit beanspruchen kann, muß so beschaffen sein, daß sie der Vernunft der Beteiligten Geltung verschafft und also ihrerseits der Einsicht in den prinzipiell gleichen Zugang zur Vernunft Rechnung tragen. Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis verwirklicht sich also nicht erst im erreichten Zustand einer rechtlichen Ordnung, sondern bereits im Prozeß ihrer Hervorbringung, indem es Bedingungen verlangt, unter denen die Burger als gleiche und freie ihrer jeweiligen Vernunfteinsicht Geltung verschaffen können. Die im kategorischen Imperativ angelegte Notwendigkeit, durch die Bildung von Institutionen und die Einhaltung von Verfahren sicherzustellen, daß die Rechtsbegründung von den Einzelnen ihren Ausgang nimmt und das Erfordernis, auf dieser Basis einen verbindlichen Rechtszustand zu schaffen, verlangen grundsätzlich nach der Positivierung des so hergestellten Rechts. Unabhängig von diesen Vermittlungsleistungen bleibt aber immer festzuhalten, daß das im Staat geltende Recht sich grundsätzlich als auf die Einzelnen rückführbare Vernunftleistung begründen lassen muß204. Auch wo das tatsächliche Urteil des Einzelnen anders ausfällt, bleibt jedenfalls der Anspruch begründet, daß das staatliche Recht als mögliches Vernunfturteil akzeptabel bleiben muß205.
Vgl. dazu und zum folgenden Dreier, in: FS fur Kaulbach, S. 25 ff. mit Fn. 77; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 29 ff. Das gilt schon deshalb, weil der Einzelne sich in vielfältiger Weise selbst korrumpieren oder auch schlicht irren kann und so die Urteile der Burger - auch bei sorgfältigem Bemiihen - unterschiedlich ausfallen können. Vgl. Kant, MdS, Rechtslehre, §§ 46, 47 (WW VIII, S. 432 ff); dens., Über den Gemeinspruch, S. 49. Siehe auch Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 171 f; Hollerbach, Selbstbestimmung, S. 22. Das schließt etwa willkürliches, die Gleichheit der Personen mißachtendes Recht aus. Eine Grenze der Rechtsbegrtindung, die freilich ihre bekannten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Kriterien hat, die Gleichheit oder Unterschiedlichkeit begriinden. Kant selbst hat etwa mit dem Kriterium der „Selbständigkeit", die bei Frauen oder sol-
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Sind Täter und Opfer einander als Konstituenten des Rechtsverhältnisses verbunden, so ist erst damit einsichtig gemacht, daß dieses Verhältnis in seiner Qualität von diesen Beteiligten abhängig ist und also auch verletzt werden kann206. Unrecht ist damit die Verletzung des gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses. Damit wird schon deutlich, daß nicht etwa ein Eingriff in einen bestimmten Bestand an Gtltern der Person das Unrecht ausmacht207. Auch als Verletzung einer heteronomen Norm, die den Bestand der Gilter sichern soil, läßt sich Unrecht nicht denken. Erforderlich ist vielmehr stets eine Verschlechterung der „Qualität des Verhältnisses"208, wie es zuvor als rechtliches zwischen Täter und Opfer positiv begründet war209.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
1.
Die grundsätzliche rechtliche Bedeutsamkeit der Opferentscheidung
Es ist nun schon gezeigt worden (oben IV. 2.), daß es keine - rechtliche oder auch nur sittliche - Verpflichtung der Person im Verhältnis zu sich selbst gibt, Selbstverletzungen (bis hin zum Suizid aus Selbstliebe) zu unterlassen. Es war vielmehr gezeigt worden, daß die Person insoweit einen Anspruch darauf hat, nach eigenen
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chen Personen, die sich nicht selbst ernähren können, fehle, einen Ausschluß von der Gesetzgebung angenommen; siehe Kant, Über den Gemeinspruch, S. 46 ff.; vgl. auch dens., MdS, Rechtslehre, § 26 (WW VIII, S. 391 f.). Eine andere Frage ist die nach einem Recht zum Ungehorsam oder sogar zum Widerstand gegen ein Recht, das den gestellten Anforderungen nicht geniigt. Da das Recht schon aufgrund seiner Positivität eine wichtige Ordnungs- und Friedensfunktion erftillt, hat Kant das Spannungsverhältnis zwischen gerechtem Recht und positivem Recht grundsätzlich zugunsten des positiven Rechts aufgelöst; siehe dazu etwa Draer, Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 20 ff. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 26, 3 0 ff; siehe auch Murmann, Versuchsunrecht, S. 5. So Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 33, der im Falle der Einwilligung nicht die Rechtsverletzung, sondern d a s Schutzinteresse des Gutsinhabers verneint. Dazu zutreffend kritisch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 116. Murmann, D i e Nebentäterschaft, S. 180 ff., w o dieses Kriterium freilich als „Herrschaft über die Qualität des Verhältnisses" als Merkmal der Täterschaft herausgearbeitet worden war. Auch der Teilnehmer verletzt aber sein Verhältnis zum Opfer (wenn er auch den Verletzungsvorgang nicht beherrscht, sein Beitrag vielmehr akzessorisch zur Haupttat ist); dazu Murmann, in: G A 1998, 88 ; ders., JuS 1999, 548 ff. Freilich ist die Rechtsgutsverletzung nach dem oben im Text Gesagten nur unter dem Vorbehalt eine Verschlechterung der Qualität des Verhältnisses, daß nicht ein Rechtfertigungssachverhalt vorliegt. Rechtsgutsverletzung und Verhältnisverletzung fallen also nur im Regelfall zusammen.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
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Maßstäben zu handeln und ihre individuelle Glückseligkeit gegebenenfalls auch in der Selbstvernichtung zu suchen. Gibt der kategorische Imperativ keinen Maßstab fur die Beurteilung selbstverfügender Entscheidung der Person, so stellt sich freilich die Frage, in welchem Sinne die Entscheidung für einen bestimmten Lebens- (und Sterbens-) Entwurf als frei angesehen werden kann. Freiheit ist hier jedenfalls in einem nur reduzierten Sinn gemeint, derm wenn die Orientierung an reiner praktischer Vernunft ausscheidet, dann bleibt nur eine Bestimmung anhand der Zwecke, die aus der eigenen Natur, aus den Trieben und Neigungen der individuellen Persönlichkeit, stammen. Aber auch das hat eine freiheitliche Qualität, ist es doch immerhin Bestimmung durch die eigene Natur210. Eine Bestimmung aus anderer Quelle ware hier da es allgemeinverbindliche Einsichten insoweit gerade nicht geben kann - lediglich Bestimmung durch fremde Natur. Es gibt in diesem Bereich keine bessere Einsicht, auf die sich die anderen berufen könnten. Freiheit bleibt hier also jedenfalls immer eine negative als Abwesenheit fremder Nötigung. Solche Nötigung ware ohne rechtlichen Maßstab nichts anderes als Willkiir. Mit dem letzten Hinweis sind auch schon die rechtlichen Konsequenzen der Zuordnung selbstverfügenden Verhaltens in den Bereich des Gliickseligkeitsstrebens angedeutet: Zwar können hypothetische Imperative keine allgemeine Rechtsbegründung tragen, aber in einem auf Autonomie gegründeten Rechtssystem besteht doch ein - rechtlich zu beachtender - Anspruch des Einzelnen auf Respektierung seiner persönlichen Entscheidungen. Die Beschränkung des Rechts auf die Bereiche, die allgemeiner Einsicht zugänglich sind, gehört also geradezu zum Begriff des auf Autonomie gegmndeten Rechts. Derm dort, wo sich aus dem Rechtsprinzip keine Handlungsanweisungen entwickeln lassen, können Vorgaben, die mit dem Anspruch rechtlicher Regelung auftreten, nur heteronom sein. Für ein Recht, in dem der je andere dadurch Anerkennung findet, daß seine Willktlrfreiheit in dem Rahmen respektiert wird, in dem sie mit der Willkiirfreiheit des einen nach einem allgemeinen - durch staatliches Recht in positive Geltung gesetzten - Gesetz vereinbar ist, ist es damit ausgeschlossen, selbstverfugende Entscheidungen (als solche, also um des Schutzes des über sich selbst VerfUgenden willen) rechtlich zu beschränken: Selbstverfiigendes Verhalten ist mit der Willkürfreiheit der anderen kompatibel und kann demnach auch nicht mit Blick auf diesen selbstverfugenden Charakter rechtlich verboten werden211.
Diese Qualität wird in einem vielfach gebräuchlichen Verständnis von „Autonomie" deutlich, wenn etwa Giesen, JZ 1990, 930 definiert: „Der Begriff der Autonomie bedeutet, daß ein Mensch grundsätzlich das Recht hat, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Werten und Prioritäten zu bestimmen, ob iiberhaupt etwas und gegebenenfalls was mit seinem Körper oder seiner Gesundheit geschehen soil und dabei einen Weg ohne ungebetene Einmischung oder kontrollierende Zwänge von außen zu wählen". Das ist zwar eine Unterbestimmung von „Autonomie", trifft aber das im hier diskutierten Bereich maßgebliche Verständnis von Freiheit. Siehe auch Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 119, die aber durch die Opferentscheidung (erst) das strafrechtliche Unrecht ausgeschlossen sieht.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Gehört die selbstverfligende Entscheidung zum Bestand der Willkürfreiheit der Person, so bleibt dies freilich nicht ohne Konsequenzen fur die rechtliche Beurteilung von Verhaltensweisen von Außenstehenden, die einen Bezug zu solchen selbstverfugenden Entscheidungen aufweisen. Es ist dann nämlich ausgeschlossen, die Willkiirfreiheit von Außenstehenden mit Blick auf den selbstverfugenden Charakter einer Entscheidung des Opfers zu beschränken. Denn steht das Verhalten des Außenstehenden nicht in Widerspruch zur Willkilr des Opfers, so bleibt die Willkiirfreiheit der Beteiligten auch aus der Perspektive des Außenstehenden kompatibel. Diese Einsicht läßt sich durch eine flankierende Überlegung abstützen: Ware der selbstverfligende Charakter der Entscheidung des Opfers Legitimationsgrundlage fur ein rechtliches Verbot eines darauf bezogenen Verhaltens des Außenstehenden, so wtirde die Selbstverfugungsfreiheit (besonders deutlich dort, wo das Opfer zu ihrer Realisierung auf den anderen angewiesen ist) durch ein solches Verbot konterkariert. Bietet fur das Rechtsverhältnis als gegenseitigem Anerkennungsverhältnis der selbstverfligende Charakter einer Entscheidung danach keine Legitimationsgrundlage fur eine Einschränkung der Willkiirfreiheit der Beteiligten in ihrem wechselseitigen Verhältnis, so bedeutet dies zunächst einmal, daß die Möglichkeit, daß ein anderer (als potentielles Opfer) mit einem selbstverfugenden Verhalten an ein bestimmtes Vorverhalten anknüpfen könnte (dies möglicherweise sogar aus bestimmten Umständen naheliegt), keinen legitimen Grund dafllr abgibt, das Vorverhalten rechtlich zu verbieten. Und es ist nur eine Randnotiz, daß es selbstverständlich auch ausgeschlossen ist, Pflichten des Außenstehenden zur Vornahme bestimmter Handlungen (also zu einem positiven Tun) zu begriinden, um so die Möglichkeit auszuschließen, daß das Opfer eine bestimmte Sachlage zu einem selbstverfugenden Verhalten nutzt. Auch ein Unterlassen kann also dem Außenstehenden nicht mit Blick auf ein selbstverfiigendes Opferverhalten zum Vorwurf gemacht werden. Es bedeutet weiter, daß ein sonst begriindetes Verhaltensverbot immer dann seine Legitimationsgrundlage verliert, wenn das Opfer (dessen Schutz das Verhaltensverbot zu dienen bestimmt ist) das schädigende Verhalten bewilligt. Denn aus dem selbstverfugenden Charakter der Entscheidung läßt sich deren Unwirksamkeit auch dann nicht begriinden, wenn das Opfer seine selbstverfligende Entscheidung nicht durch Selbstvornahme, sondern durch Bewilligung der entsprechenden Handlung gegeniiber einem Außenstehenden realisieren will. Orientiert sich der Außenstehende mit der Vornahme der bewilligten Handlung an der selbstverfugenden Entscheidung, so bleiben auch darin die Willkürfreiheiten der Beteiligten kompatibel. Im Unterschied zu den vorgenannten Fallen, in denen ein Vorverhalten des Außenstehenden dem Opfer lediglich die (Selbst-) Realisation einer selbstverfugenden Entscheidung ermöglicht oder erleichtert, besteht in den Fallen der
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
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Bewilligung freilich die Besonderheit, daß die Opferentscheidung ein sonst bestehendes Verhaltensverbot außer Kraft setzt. Der Einwilligende muß also die Rechtsmacht haben, sein rechtliches Verhältnis zum Außenstehenden umzugestalten. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, daß das Opfer gleichsam über dem Recht steht und das staatliche Recht verändern könnte. Es ist vielmehr so, daß ein Recht, das auf Autonomie gründet und sich auf die Herstellung von Verhältnissen der Willkürfreiheit unter Gleichen beschränkt, den Beteiligten diesen Raum ftir eigene Gestaltung immer schon lassen muß212. Die Einwilligung füllt also gleichsam eine im objektiven Recht fur die Gestaltung durch die jeweils Beteiligten offen gelassene Stelle. Die Entscheidung des Opfers wird in diesem interpersonal-freiheitlichen Konzept nicht als äußere Grenze (die z.B. erst die Strafbarkeit entfallen läßt), sondern bereits als ein Umstand relevant, der die konkrete Ausgestaltung des betroffenen Anerkennungsverhältnisses bestimmt. Auch hier ist es nur eine Selbstverständlichkeit, daß dort, wo im rechtlichen Verhältnis unter den Beteiligten zur Sicherung der Freiheit des einen von ihnen eine Handlungspflicht des anderen begründet ist - also bei Bestehen einer Garantenpflicht -, die nicht-defizitäre Entscheidung, die ihren Selbstverfljgungssinn durch Zurückweisung der Leistung des Garanten erhält, der Garantenpflicht ihr Ende setzt. Praktisch bedeutsam ist dies insbesondere dort, wo der Patient eine Behandlung, zu der der Arzt nach seinem bisherigen Verhältnis zu diesem Patienten verpflichtet wäre, zurückweist. Mit der Einsicht, daß die Person in der Rechtsbegründung konstitutiv vorausgesetzt ist, erhält das Selbstbestimmungsrecht also eine geänderte Qualität. Es ist nicht Ausübung einer Dispositionsbefugnis, die lediglich vom Recht eingeräumt wird213, sondern die Selbstbestimmung, etwa in Form der Gestaltungsmacht der Beteiligten, ist in einem Recht, in dem sich Freiheit unter Gleichen verwirklicht, gerade angelegt. Es ist in einem Recht als dem Bestand der Regeln, unter denen die Willkürfreiheit der Vielen kompatibel ist, immer bereits die Möglichkeit der Beteiligten mit gedacht, die konkreten Bedingungen der Rechtlichkeit im jeweiligen Anerkennungsverhältnis zu definieren, soweit dies dem Prinzip des Rechts entspricht214. Derm das Recht ist in diesem Verständnis keine Sammlung doktrinärer Regeln, sondern bezieht seine Legitimation allein aus seiner freiheitssichernden Leistung und ist folglich auch in seiner Ordnungsfunktion durch diese begrenzt. Das Selbstbestimmungsrecht des Opfers „wirkt" also nicht auf eine hetero212
213 214
Dagegen ist es Ausdruck eines heteronomen Rechtsverständnisses (vgl. Kubink, in: FS fur Kohlmann, S. 56 f.), wenn Kubink, a.a.O., S. 70 in kritischer Absicht gegen den Gedanken der Selbstverantwortung vorträgt, daß unter seiner Anwendung „Norm- und Rechtsgutsverantwortung (...) in die Verfugungsbefugnis von Täter und Opfer" gelangten mit der Folge, daß „das Strafrecht zu einer Leitiinie (verkümmert), die alienfalls noch in einigen gravierenden Fallen mit besonderem öffentlichen Interesse von Bedeutung ist". So z.B. Dölling, GA 1984, 83 f. Siehe auch Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 117 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
nome Norm etwa in dem Sinne, daß deren Verbindlichkeit suspendiert wiirde215, sondern es gehört bereits zu der Wirklichkeit, die das Recht im konkreten Verhältnis wechselseitiger Anerkennung hat. Nun wird freilich - positivrechtlich gestützt auf §§ 216, 228 StGB - vielfach die Auffassung vertreten, in Abgrenzung zu den Fallen der durch das Opfer selbst realisierten Selbstverfugung komme eine solche Gestaltungsmacht dem Einzelnen auch im Bereich seiner Individualgilter jedenfalls nicht in der hier behaupteten Allgemeinheit zu216. Es wird im strafrechtsdogmatischen Teil dieser Untersuchung (4. Teil) der Frage nachzugehen sein, inwieweit sich die zitierten Vorschriften des positiven Rechts legitimieren lassen. Die dort vorausgesetzten Grenzen der Verfügungsbefugnis lassen sich aber jedenfalls nicht als Einschränkungen der Verftigungsbefugnis der (nicht defizitär entscheidenden) Person zu ihrem eigenen Schutz erklären. Damit deuten sich aber auch schon mögliche Grenzen der rechtlichen Bedeutsamkeit selbstverfugender Entscheidungen an: Die dargestellten Grundsätze betreffen nur solche selbstverfugenden Entscheidungen, die frei von Defiziten gefällt sind (dazu 2.) und sie betreffen diese Entscheidungen auch allein in ihrem selbstverfugenden Charakter, lassen also offen, ob und inwieweit es legitim ist, selbstverfugende Entscheidungen bzw. das auf sie bezogene Verhalten eines Außenstehenden mit Rücksicht auf Verletzungen des rechtlichen Verhältnisses gegenüber Dritten zu verbieten (dazu 3.).
2.
Defizitäre Entscheidungen
Die Person ist also in Entscheidungen, die allein sie selbst betreffen, keiner objektiven Vernunft unterworfen. Selbstverfügungen gehören in den Bereich des persönlichen Glücks, in dem die Person in ihrer Individualität das Maß aller Dinge ist. Rechtliche Vorgaben zur Definition dieses Gliicks oder dessen Verfolgung können nicht mit übergreifender Verbindlichkeit begriindet werden und sind folglich gegenüber dem Einzelnen eine Anmaßung, die nicht mit seiner eigenen Vernunft in Zusammenhang gebracht werden kann und folglich Ausdruck heteronomer Willkür ware. Es bleibt also grundsätzlich Sache der Person, ihr Streben erfolgreich zu organisieren und die je konkreten (Zwischen-) Ziele zum persönlichen Gliick zu wählen, die ihr selbst entsprechen. Einer individuellen Entscheidung kann die rechtliche Anerkennung nicht mit dem Argument versagt werden, die Person verfolge ein falsches Ziel oder sie verfolge ihr Ziel nicht mit den am besten geeigneten Mitteln.
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216
Kritisch zu einem solchen Verständnis auch Neumann, Die Stellung des Opfers, S. 234 f. Siehe etwa Kubink, in: FS fur Kohlmann, S. 57; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 37 f., 43 mit Fn. 150, auch schon S. 17.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
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Sind Entscheidungen, die ganz im Bezug der Person zu sich selbst bleiben, folglich nicht Gegenstand reiner praktischer Vernunft, so haben sie als Gegenstand einer durch die persönlichen Glücksvorstellungen der Person bedingten Vernunft immer nur Anspruch auf relative Verbindlichkeit, nämlich nur insoweit, als eine Person bestimmten Strebungen und Neigungen folgt. Damit ist es eine Aufgabe allein der technischen Vernunft, das persönliche Glücksstreben in entsprechenden konkreten Handlungen zu organisieren. Dies bedeutet nicht notwendig rationalistische Zielverfolgung, sondern es kann auch bedeuten, daß die Person z.B. bewußt wenig effektiv vorgeht217 - die Gründe hierfur können vielfältig sein. Damit ist freilich auch zum Ausdruck gebracht, daß die vorstehenden Überlegungen zunächst nur Geltung beanspruchen für solche Personen, die sowohl konstitutionell als auch in der konkreten Situation in der Lage sind, in diesem Sinne vernünftig ihre persönlichen Vorstellungen zu fixieren und zu verfolgen218. Eine ganz andere Frage ist es, wie die Entscheidungen von Personen zu behandeln sind, die - jedenfalls in der konkreten Situation - hinter diesem (normativen) Normalfall zurilckbleiben. Die Defizite beim Einsatz der Imperative der Geschicklichkeit und der Klugheit, die ein solches Zurilckbleiben bedingen können, sind vielfaltig. Wurde Selbstbestimmung als das Vermögen der Person bestimmt, ihr eigenes Selbst zu defmieren und sich auf dieses Selbst hin in ihren praktischen Vollziigen zu orientieren, dann sind es auch diese beiden Ebenen im praktischen Selbstvollzug, auf denen ein Defizit angesiedelt sein kann: Entweder ist also bereits die Selbstdefmition (in einem die Entscheidung maßgeblich berührenden Punkt) defizitär oder aber die Person verfehlt in der konkreten Entscheidung ihre eigene Selbstdefmition. Solche Defizite können entweder Ausdruck von konstitutionellen Mängeln sein oder sie körtnen Willensmängel sein. Da das Defizit immer Abweichung von einem nicht-defizitären Zustand ist, setzt seine Bestimmung stets einen solchen Sachverhalt voraus, auf den sich diese Abweichung bezieht. Der Maßstab der nicht-defizitären Entscheidung, an dem sich eine Entscheidung zur Prüfung ihrer Freiheit von Defiziten messen lassen muß, kann nun nicht fremde praktische Vernunft sein. Derm dann ware die Entscheidung iiber das Vorliegen eines Defizits fremdbestimmt und damit ware Selbstbestimmung immer von fremder Anerkennung abhängig, ihr Umfang ware also fremdbestimmt. Da das Defizit immer nur eines der entscheidenden Person selbst sein kann - es also nicht um das Zurilckbleiben hinter fremdgesetzten Maßstäben geht - kann Maßstab auch nur die entscheidende Person selbst sein219. Die Bestimmung dieses Maßstabes ist dort noch relativ einfach, wo sich das Defizit nicht bei der Bestimmung des mit einer selbstverfugenden Entscheidung verfolgten Zieles, sondern bei dessen Umsetzung geltend macht. Wenn also die Person etwa aufgrund bestimmter Fehlvorstellungen verkennt, daß ein zur Zielerreichung als tauglich vorgestelltes Mittel dieser Qualität in Wahrheit entbehrt. Derm hier ist die Entscheidung am 217 218 219
Vgl. Rönnau, Willensmängel, S. 215 f. Vgl. auch Giesen, JZ 1990, 9 3 1 : Die Achtung des Selbstbestimmungsrechts gewährt zunächst nur einen Anspruch auf Respektierung der „überlegten Entscheidungen". Dieser Gedanke wird unten (4. Teil, III, 1.) noch näher entfaltet.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Maßstab einer durch Aufklärung der Fehlvorstellung leicht zu aktualisierenden Vernunft des Entscheidenden als defizitär zu erweisen. Als defizitär - und zwar schon am von der entscheidenden Person selbst aktualisierten Maßstab - erweist sich weiter die abgenötigte Entscheidung, die der praktischen Vernunft des Entscheidenden nur deshalb und nur insoweit entspricht, wie er damit der Nötigungslage gerecht wird. Ungleich problematischer ist die Feststellung des defizitären Charakters einer Entscheidung dort, wo nicht erst die instrumentale Umsetzung der selbstgesetzten Ziele auf ihre Schwäche befragt wird, sondern schon das Vermögen zur Formulierung dieser Ziele zweifelhaft ist. Dieses Vermögen wird vor allem bei konstitutionellen Mängeln des Entscheidenden vielfach fehlen. Als Maß stab kommt hier nur der Entscheidende unter Absehen von diesen Mängeln in Betracht. Soweit Anhaltspunkte fur Abweichendes nicht ersichtlich sind, kann hier nur das als der Vernunft des Entscheidenden entsprechend angesehen werden, was allgemein als praktisch verniinftig akzeptiert wiirde. Mit dem Zurückbleiben hinter den so skizzierten Maßstäben ist freilich noch nicht iiber die rechtliche Relevanz selbstverfugender Entscheidungen geurteilt. Dies ist vielmehr eine normative Frage, deren Beantwortung im Rahmen des allgemeinen Rechtsprinzips davon abhängt, welche Regelung als sachgerecht angesehen wird, was wiederum - wie dies bei hypothetischen Imperativen notwendigerweise der Fall ist - von den persönlichen Vorstellungen und Zielen der vielen Einzelnen abhängig ist. Dabei ist es - unabhängig von den je individuell verfolgten Zielen - rechtlich geboten, daß die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von defizitären Entscheidungen iiberhaupt Gegenstand rechtlicher Regelung ist. Derm es ist ohne Rücksicht auf das je fur richtig gehaltene Regelungsmodell fur die Verfolgung individueller Ziele in interpersonalen Verhältnissen erforderlich, normative Erwartungssicherheit herzustellen. Wenn auch unterschiedliche Regelungen möglich sind, so muß die Person doch wissen (können), inwieweit sie sich darauf einzustellen hat, daß auf ihr Entscheidungsdefizit keine Rücksicht genommen werden muß. Nur als allgemein gilltiges Prinzip kann eine Pflicht zum Ausgleich von Defiziten ihren Zweck erfullen. Es bedarf also interpersonaler - rechtlicher - Regelung. Eine rechtliche Regelung ist aber auch deshalb rechtlich geboten, weil sich die Rechtsordnung zu der Frage verhalten muß, ob ein Verhalten, das eine selbstverfugende Entscheidung ermöglicht, erleichtert oder exekutiert, das Recht verletzt; eine Frage, die nur beantwortet werden kann mit Blick auf die rechtliche Bedeutung der selbstverfugenden Entscheidung. Bleibt das „Wie" einer rechtlichen Regelung noch offen, so steht das „Ob" damit doch fest. Auch soweit die inhaltliche Gestaltung der Verantwortungsbereiche fur defizitäre Entscheidungen eine Frage pragmatischer Vernunft ist, ändert dies also nichts daran, daß die Orientierung an den einmal vorhandenen Regeln eine Forderung des Rechts, nicht etwa lediglich der Pragmatik ist220. Ein Ausgleich zwischen den divergierenden Vorstellungen iiber die geforderten rechtlichen Festlegungen kann im Bereich der pragmatischen Vernunft nicht aus iiberlegener Einsicht begrilndet werden. Aus dem Umstand, daß die pragmatische 220
Zur „Notwendigkeit der Erzeugung von Bindungswirkungen als Folge der begrenzten Rationalist des Handelns" siehe Ladeur, KritV 79 (1996), 85 ff., 92 ff.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
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Vemunft einer Person lediglich relativ zu deren je individuellen Zielen einen Richtigkeitsanspruch erheben kann und zwischen den je individuellen Zielsetzungen kein Rangverhältnis besteht, folgt, daß eine rechtliche Regelung nur von dem Ziel getragen sein kann, einen konsensfähigen Ausgleich zwischen den divergierenden Vorstellungen zu erreichen. Wo sich unterschiedliche individuelle Bestrebungen mit je gleichem Recht begegnen, kann die Festlegung im demokratischen Staat (Art. 20 Abs. 1 GG) nur durch Diskurs und Konsens erzielt werden221. Maßstab fur eine sachgerechte Regelung kann es also nur sein, die individuellen Ziele, von denen keines gegenilber den anderen mit einem größeren Anspruch ausgezeichnet ist, zu einer Übereinstimmung zu bringen, bei der die Willkilr eines jeden mit der der anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmt. Sind die rechtlichen Regeln, die die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer defizitären Entscheidung bestimmen, pragmatische Regeln zur Förderung der je individuellen Ziele, so bleibt es demnach in dem vom Rechtsprinzip gezogenen Rahmen auch eine pragmatische Frage, in welchem Umfang defizitären Entscheidungen rechtliche Relevanz zukommt. Dabei zeigt sich schnell, daß die Antwort auf diese Frage in Abhängigkeit von den Präferenzen der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft und von den dort bestehenden konkreten Verhältnissen sehr unterschiedlich ausfallen kann222. Insbesondere ist es (außerhalb der Fälle dauerhafter oder entwicklungsbedingt noch andauernder konstitutioneller Mangel; dazu noch unten) durchaus offen, ob und inwieweit die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft die Verantwortung fur ihre in concreto defizitären Entscheidungen übernehmen wollen. Als verantwortlichen Konstituenten des Rechtszustands steht es nämlich in deren Entscheidung, ob sie das Risiko defizitärer Entscheidung gegebenenfalls übernehmen wollen; die Konzeption eines Rechtszustandes, in der die beteiligten Personen etwa im Interesse der Verläßlichkeit von Erklärungen sich darauf verständigen, generell die Verantwortung fur ihre defizitären Entscheidungen zu übernehmen, ist mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts als der Kompatibilität der Willkürfreiheit der Beteiligten nach Gesetzen durchaus vereinbar. Grenzen ergeben sich freilich dort, wo die defizitäre selbstverfügende Opferentscheidung ihrerseits durch eine solche Verletzung des Rechtsverhältnisses durch den Außenstehenden zustande gekommen ist, die gerade mit Blick auf die Vermeidung von solchen defizitären Entscheidungen ihren Charakter als Verhältnisverletzung erhält. Jedenfalls gegeniiber dem, der sein Rechtsverhältnis zum Opfer in dieser Weise verletzt, kann die selbstverfügende Entscheidung keine rechtliche Bedeutung zukommen. In welchem Umfang Verhalten des Außenstehenden deshalb verboten ist, weil es das Risiko defizitärer Entscheidungen birgt, kann zwar in einer Rechtsgemeinschaft durchaus unterschiedlich sein. Der fur mögliche Gestaltungen gezogene Rahmen wird aber durch das Rechtsprinzip gezogen. Bedeutsam ist diese Einsicht insbesondere im Fall der Nötigung. Die abgenötigte Entscheidung entfaltet (zumindest gegenüber dem Nötiger) keine rechtliche 221 222
In diesem Sinne zur Konkretisierung des Verhältnisses von individueller Freiheit und sozialer Fürsorge Krings, Zeitschrift fllr philosophische Forschung 31 (1977), 189 f. Vgl. dazu auch Kühl, GA 1977, 361 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
Wirksamkeit. Bei alien Unschärfen, die auch hier in Randbereichen bestehen insbesondere weil es je nach Gestalt einer Gesellschaft sehr unterschiedlich sein kann, welchem Druck die Person standhalten muß -, bleibt die Nötigung grundsätzlich eine Verletzung des Rechtsverhältnisses, durch welche die Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür eines anderen gerade ausgeschlossen wird. Der Erklärende kann nicht an einer Äußerung festgehalten werden, die durch die Ausiibung von Druck zustandegekommen ist, der gerade deshalb das Rechtsverhältnis verletzt, weil er die Entscheidungshoheit des Genötigten verletzt. Jedenfalls in den Fallen, in denen es rationalen Entscheidungskriterien bei der Verfolgung der selbstgesetzten Ziele entspricht, dem nötigenden Druck nachzugeben223, kann die Erklärung oder das Verhalten des Genötigten nicht als Entscheidung der Person den Nötiger entlasten. Ähnlich wie bei der Nötigung stellt sich auch bei der Täuschung durch den Außenstehenden die Frage, ob sie das rechtliche Verhältnis zum Opfer gerade mit Blick auf die Entscheidungshoheit des Opfers verletzt, so daß die täuschungsbedingte Erklärung damit rechtlich unwirksam bleiben müßte. Anders als im Fall der Nötigung liefert die Täuschung das Opfer aber nicht notwendig fremder Willkür aus. Während das Opfer ein durch Nötigung in Aussicht gestelltes Übel oder die aktuelle Ausübung von Gewalt in der Entscheidung berücksichtigen muß und ihm auch die Entscheidung ilber die Frage, ob es überhaupt eine Entscheidung treffen will, durch die Nötigung abgenommen ist, bleibt es ihm im Fall der Täuschung grundsätzlich unbenommen, Informationen von Außenstehenden in seiner Entscheidung außer acht zu lassen oder ilberhaupt keine Entscheidung zu treffen. Auch wenn ein solches Mißtrauensprinzip nicht den Vorgaben unserer Gesellschaft entspricht, so ist es doch nicht prinzipiell ausgeschlossen, einen Rechtszustand zu denken, in dem allgemeines Mißtrauen herrscht224 und sich deshalb niemand auf die Angaben des anderen verlassen kann225. Entspricht es aber gesellschaftlicher Wirklichkeit, daß die Person fremden Äußerungen kein Vertrauen entgegenbringt, so ist auch niemand von deren Wahrheitsgehalt in seinem eigenen Bestand abhängig226. Freilich ist Selbstbestimmung ohne eine Tatsachenbasis nicht denkbar, aber es ist eine ganz andere Frage, wie sich die Person diese Tatsachen-
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D e m entspricht es, wenn bei § 240 StGB das empfindliche Übel als ein solches bestimmt wird, das „geeignet ist, einen besonnenen Menschen zu dem mit der Drohung erstrebten Verhalten zu bestimmen" (Eser, in: Schönke/Schröder, § 240 Rn. 9). Wie dies in der älteren Rechtsprechung fur den Bereich des Straßenverkehrs gelten sollte; dazu m.w.N. Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 7. Ein Bild, das partiell durchaus der rechtlichen Wirklichkeit entspricht, denn ein „Recht auf Wahrheit" ist offensichtlich nur fragmentarisch begrilndet; vgl. im Kontext des Betrugstatbestandes dazu Kindhäuser, ZStW 103 (1991), 400 ff. E.A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, S. 212, 214 f. scheint dagegen prinzipiell der Auffassung zu sein, daß man sich auf Täuschungen im Rechtsverkehr nicht einstellen könne, weshalb solche Verhaltensweisen (wie im Betrugstatbestand, § 263 StGB, umschrieben) (Kriminal-) Unrecht begrilnden. Das ist nach dem im Text Gesagten aber nur in Abhängigkeit von der konkreten Rechtsordnung einer Gesellschaft (wie der unseren) richtig.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
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basis verschaffen muß227. Die Lüge liefert das Opfer nicht dem Täter aus, wenn Wahrheit nach der Gestalt einer Gesellschaft normativ nicht erwartet werden kann228. Damit zeigt sich für den täuschungsbedingten Irrtum, daß das Rechtsgesetz nicht unmittelbar die Frage nach der Wirksamkeit der auf diesem Irrtum fußenden Erklärang beantwortet. Die Willkürfreiheit der Beteiligten kann nach einem allgemeinen Gesetz auch dann zusammenstimmen, wenn kein Vertrauen in fremde Äußerungen möglich ist. Es bleibt also auch die rechtliche Behandlung von Erklärungen, die auf einem täuschungsbedingten Irrtum beruhen, ein Problem der bedingten praktischen Vernunft. Grundsätzlich schließt es die Täuschung nichts aus, daß das Opfer eine selbstverfügende Entscheidung trifft, die seiner eigenen Entscheidungshoheit unterliegt. Gegen den naheliegenden Einwand, mit der Täuschung verliere das Opfer gerade diese Entscheidungshoheit an den Täter, der die Grundlagen der Entscheidung manipuliere, wurde schon gezeigt, daß dies nur zutrifft, wenn das Opfer überhaupt (normative) Gründe hat, das täuschende Verhalten in seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Jedoch sind kaum Gründe ersichtlich, mit denen bei der Konturierung rechtlicher Verhältnisse fur die Wirksamkeit einer täuschungsbedingt defizitären, Verletzungen (durch den Täuschenden) bewilligenden Entscheidung eingetreten werden könnte. So lassen sich z.B. - anders als bei der nicht-täuschungsbedingten Entscheidung - kaum Interessen des Verkehrsschutzes fur die Wirksamkeit der Entscheidung geltend machen, derm fur den Täuschenden ist die Basis der Entscheidung erkennbar und damit auch eine etwa darauf gegründete Unwirksamkeit. Beim täuschungsbedingten Defizit wird also regelmäßig die Unwirksamkeit des Erklärten interessengemäß sein. Selbstorientierte Pragmatik legt die rechtliche Unwirksamkeit der Erklärung nahe. Damit deutet sich bereits an, daß der pragmatische Spielraum denkbarer Verantwortungsverteilung beim täuschungsbedingten Irrtum deutlich enger ist als beim nicht-täuschungsbedingten Irrtum229. Dementsprechend wird als Folge von täuschungsbedingten Irrtümern auch nach geltendem Recht regelmäßig die Unwirksamkeit der darauf gegriindeten Einwilligung bejaht. Die genaue Konturierung der Verantwortungsbereiche hängt freilich auch hier von vielfältigen, traditionell und diskursiv geprägten Entscheidungsprozessen innerhalb einer Rechtsgemeinschaft ab. Dort, wo die defizitäre Entscheidung nicht die Folge eines unter diesem Aspekt verbotenen Verhaltens des Außenstehenden ist, also insbesondere in Fallen des 227 228
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Siehe Kindhäuser, Z S t W 103 (1991), 4 0 3 . Vgl. Kant, M d S , Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre B ( W W VIII, S. 346) mit Anm. *, der den rechtlichen Begriff der Lüge davon abhängig macht, daß sie „einem anderen unmittelbar in seinem Rechte Abbruch tut". Die Täuschung wird also nur dort rechtlich relevant, wo der andere ein Recht auf ihr Unterbleiben hat. Vgl. dazu, gerade auch mit Blick auf die Verhältnisse in einer modernen Gesellschaft, Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, S. 67 ff.
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Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
nicht-täuschungsbedingten (man mag sagen: eigenerzeugten230) Irrtums, aber auch dort, wo die Person vermeidbar eine Defektlage schafft, bleibt die rechtliche Regelung des Umgangs mit solchen Defiziten ein nach den Maßstäben pragmatischer Vernunft zu lösendes Problem. So ist es z.B. durchaus als verallgemeinerungsfähige Regelung denkbar, daß sämtliche Fehlvorstellungen - einschließlich der, ein bewilligtes Verhalten entfalte iiberhaupt keine Verletzungsbedeutung - die rechtliche Bedeutsamkeit der Bewilligung unberiihrt lassen231. Die Anforderungen an eine den eigenen Interessen gerechte Lebensfuhrung wiirden freilich in einer solchen Rechtsgemeinschaft erheblich ansteigen; wer beispielsweise in übermäßiger Weise Alkohol konsumiert, würde dies in dem Bewußtsein tun, daß etwa im Zustand der Trunkenheit getroffene Entscheidungen ihn voll belasten. Aber dem ist die Rechtsperson (im Beispielsfall: jenseits pathologischer Alkoholabhängigkeit) nicht ausgeliefert, sondern sie könnte solchen Gefahren, wie die Beteiligten wissen (können), durch Vermeiden entsprechender Zustände entgegenzuwirken. Freilich findet die Gestaltungsfreiheit dort ihre Grenzen, wo sie zu Lasten solcher Personen geht, die zu entsprechenden Leistungen nicht in der Lage sind. Solche Personen könnten diese Risiken nicht iibernehmen, sondern sie wtirden ihnen lediglich (heteronom) auferlegt. Diese Personen könnten sich vernünftigerweise auf Risiken, die sie nicht vermeiden können, auch nicht einlassen. Es ist also ausgeschlossen, zu selbstbestimmten Entscheidungen nicht fähige Kinder oder Geisteskranke an ihren defizitären Entscheidungen festzuhalten. Es bedarf keiner langen Ausführungen dazu, daß ein Regelungsmodell, das in der angedeuteten Weise defizitären selbstverfügenden Entscheidungen rechtliche Relevanz zubilligt, nicht dem geltenden Recht entspricht. Es ging vorliegend auch lediglich darum zu zeigen, daß es die Leistungsfähigkeit des allgemeinen Rechtsprinzips deutlich ilberfordern wiirde, wenn man aus ihm ein Konzept fur die rechtliche Relevanz defizitärer selbstverfugender Entscheidungen entwickeln wollte. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle lediglich, daß es in dem skizzierten Rahmen mit dem Rechtsprinzip ohne Verletzung des Prinzips der Opferselbstverantwortung sowohl vereinbar ist, am Maßstab der entscheidenden Person defizitären Entscheidungen die rechtliche Relevanz zu versagen als auch in concrete defizitären Entscheidungen rechtliche Relevanz zuzubilligen. In welchem Umfang dies der Fall sein soil, ist wiederum Gegenstand einer - pragmatischen, nicht aus dem Rechtsprinzip ableitbaren - Gestaltungsleistung der beteiligten Personen, die darin insoweit frei sind, wie sie an das Vermögen der Beteiligten ankniipfen, Verantwortung zu übernehmen. Auf der Ebene der Rechtsgestaltung macht sich hier gewissermaßen das geltend, was auch mit der konkreten selbstverfugenden Entschei230 231
So Rönnau, Willensmängel, S. 410. A.A. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 62. Die dort in Fn. 208 geäußerte Kritik an Jakobs ist zwar insoweit berechtigt, als dieser heteronom zugewiesene Zuständigkeiten als Grundlage von „Verantwortung" des Opfers ausreichen läßt. Aber solche Zuständigkeiten oder Verantwortungsbereiche sind nicht notwendig von außen den Personen zugewiesen, sondern sie sind als von den Beteiligten selbst gesetzte gerade Ausdruck von Selbstbestimmung, die sich im sozialen Raum ihre organisierte Wirklichkeit gibt.
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dung eingefordert wird: nämlich das Recht der vernünftigen Person(en), ihre Verhältnisse in fur ihre Güter riskanter Weise zu gestalten. Die Gründe hierfür können vielfältig sein - reiner praktischer Veraunft erschließen sie sich nicht. Konkretisierungen fur das geltende Recht sind freilich sowohl möglich als auch erforderlich. Sie werden schrittweise im Rahmen der verfassungsrechtlichen (unten 3. Teil, IV. 2.) und der einfachrechtlichen Vorgaben (unten 4. Teil, III.) erarbeitet.
3.
Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit an den Rechten anderer
Die vorstehenden Überlegungen (1. und 2.) betrafen die Frage, ob der Einzelne zum Schutze seiner selbst in seiner Entscheidungskompetenz bezüglich selbstverfügenden Verhaltens eingeschränkt ist. Eine ganz andere Frage ist die, ob und inwieweit Selbstverfugungen mit Blick darauf rechtlich wirkungslos bleiben, daß ihre rechtliche Anerkennung nicht mit den Rechten anderer kompatibel ware. Die Rede von den Rechten anderer ist freilich in einem Punkt verkiirzt: Das Recht der anderen ist in einem auf die Autonomie des Einzelnen gegrilndeten Recht nie ein prinzipiell „fremdes Recht", sondern es ist immer auch das Recht dessen, dem es konfrontiert wird. Wenn also z.B. die Möglichkeit diskutiert wird, daß eine selbstverfugende Entscheidung Versorgungsanspriiche nahestehender Personen verletzt, dann ist fur die Rechtlichkeit der entgegenstehenden Ansprüche immer vorausgesetzt, daß der Verfugende auch selbst dieses Recht der anderen als Vernünftiger mit trägt. Die Rechtlichkeit spaltet sich also nicht auf in das Recht des iiber sich selbst Verfugenden und die Rechte der anderen, sondern rechtlich ist erst das Verhältnis, in dem beide Seiten vorkommen. Dieses Verhältnis wird dann auch nicht erst durch eine außerhalb seiner selbst liegende Abwägungsentscheidung verrechtlicht, sondern der Ausgleich ist immer schon Teil des Rechts. Die Grenzen eines Rechts zur Selbstverfugung an den Rechten anderer können sich nach dem erreichten Stand der Überlegungen nicht aus dem Selbstverfllgungssinn als solchem ergeben, sondern die Rechte anderer können nur durch eine der selbstverfugenden Handlung anhaftende zusätzliche Verletzungsbedeutung tangiert sein. Diese Verletzungsbedeutung kann dem Selbstverfugungssinn einer Handlung in eher äußerlicher Weise verkniipft sein, wenn lediglich die Art und Weise der Realisierung einer selbstverfugenden Entscheidung andere verletzt, wie dies etwa beim Suizid mittels einer Bombe an einem belebten Ort der Fall ist. Eine engere Verknüpfung zwischen Selbst- und Fremdverfugunssinn besteht dort, wo es gerade das spezifisch Selbstverfugende einer Handlung ist, das auch die Rechte anderer beeinträchtigt. So liegt es, wenn als Rechte anderer etwa bestimmte Versorgungsansprilche gegen den Verfugenden in Betracht kommen, deren Erfullung durch die Selbstverfugung nicht (mehr) möglich ist oder wenn die Selbstverfugung als solche dazu geeignet ist, den Frieden in einer sozialen Gemeinschaft zu
210
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
stören (und man in dieser Friedensstörung eine Rechtsverletzung erblickt). Das spezifische Verhältnis von Selbstverfugung und den Rechten anderer wird gerade bei der letztgenannten (engen) Art der Verkniipfung bedeutsam. Das Rechtsprinzip beantwortet nun freilich nicht aus sich heraus die Frage, ob eine Selbstverfugung die Rechte anderer beeinträchtigen kann, sondera es kann nur einen Rahmen ziehen, innerhalb dessen unterschiedliche Konzeptionen rechtlichen Zusammenlebens denkbar sind. Das läßt sich gerade dort verdeutlichen, wo eine Selbstverfugung Leistungspflichten gegen andere vereitelt: Die Beeinträchtigung von Rechten anderer kommt hier von vornherein nur dort in Frage, wo die Ordnung einer Gemeinschaft solche Leistungspflichten iiberhaupt vorsieht. Ob und inwieweit also etwa durch Selbstverfiigungen verletzbare232 Unterhaltspflichten (§ 170 StGB), eine durch Selbstverfugung verletzbare Wehrpflicht (§ 17 WStG) oder etwa eine Pflicht zur Hilfeleistung besteht (§ 323c StGB), zu deren Erfullung sich der Hilfspflichtige nicht ohne weiteres unfähig machen darf, hängt von der konkreten Gestalt einer Rechtsgemeinschaft ab. Soweit die Begriindung solcher Pflichten im Rechtsverhältnis grundsätzlich nach dem Rechtsprinzip möglich ist233, kommen auch Einschränkungen der Selbstverfugungsfreiheit zum Schutz der hinter diesen Pflichten stehenden Rechte anderer in Betracht234. Wie dieser Ausgleich zwischen Selbstverfugungsfreiheit und den Rechten anderer zu leisten ist, hängt dann weiter - ebenfalls je nach der konkreten Gestalt einer sozialen Gemeinschaft - davon ab, welche Bedeutung die Selbstverfugungsfreiheit auf der einen und die Erfullung der Leistungspflicht fur die Selbständigkeit des Begünstigten auf der anderen Seite hat. Beispielhaft: wenn das Überleben eines Unterhaltsberechtigten von diesen Leistungen abhängt, wird die Selbstverfugungsfreiheit des Leistungspflichtigen eher einschränkbar sein, als wenn der Begiinstigte bei Wegfall des primär Leistungspflichtigen von anderer Seite unterstützt wird. Die gleiche Abhängigkeit von der konkreten Gestalt einer Gesellschaft zeigt sich dort, wo in Frage steht, ob bestimmte Selbstverfugungen deshalb untersagt werden können, weil sie auf die anderen Mitglieder der Gemeinschaft eine desorientierende und schließlich den rechtlichen Zustand einer Gemeinschaft erschiitternde Bedeutung haben oder weil sie das Gefiihlsleben der Gemeinschaftsmitglieder berühren. Beides ist weniger fernliegend als es auf den ersten Blick scheinen mag und im geltenden Rechts durchaus anwesend: der Gedanke der Desorientierung wird insbesondere in der Diskussion um die Legitimierbarkeit von § 216 StGB angeführt, wenn bei Aufhebung dieser Vorschrift die Gefahr eines Tabubruchs mit der Folge einer grundsätzlichen Geringachtung des 232 233
234
BGHSt 14, 165. Was grundsätzlich zu bejahen ist, wobei die Diskussion um die Grenzen der Legitimierbarkeit solcher Pflichten ein - hier nicht mehr zu erörterndes - Thema für sich ware. Vgl. zu den Handlungspflichten, auf die § 323c StGB Bezug nimmt, jüngst Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung, S. 273 ff. Für die Strafbarkeit der Vereitelung von Leistungspflichten Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 52.
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
211
Lebensrechts beschworen wird. Das geltende Recht kennt auch Regeln des „Geflihlsschutzes", die sich vereinzelt auch im Strafrecht finden235. Dort schützt etwa § 167a StGB das „Pietätsgefühl"236 und § 225 StGB schützt auch vor Leiden seelischer Art237. Ob solche psychisch vermittelten Folgewirkungen auftreten und wie sie sich auf das Zusammenleben in einer Gesellschaft auswirken, ist eine empirische Frage. Dabei ist dem allgemeinen Rechtsprinzip immerhin noch zu entnehmen, daß auch psychisch vermittelte Beeinträchtigungen überhaupt das äußere Verhältnis der Willkürfreiheit unter den Beteiligten betreffen müssen. Es ware also unzulässig, bestimmte moralische Anschauungen um ihres Inhalts willen rechtlich zu schützen. Es gibt keinen Verpflichtungsgrund, der eine bestimmte Moral fur die anderen verbindlich machen könnte. Es kommt also allein der rechtliche Schutz des Gefllhlslebens - nicht etwa einer bestimmten moralischen Anschauung als solcher - in Betracht238. Eine ganz andere Frage ist die, welches Gewicht das Interesse an einem nicht beeinträchtigten Gefühlsleben im Verhältnis zu dem Selbstverfugungsrecht des Einzelnen zukommen kann. Es spricht viel dafur, daß regelmäßig der selbstverfügenden Entscheidung - die ja auch vielfach mit erheblicher emotionaler Beteiligung getroffen wird - Vorrang einzuräumen sein wird und die anderen die Beeinträchtigungen ihres Geftihlslebens selbst zu verarbeiten haben. Mit dem allgemeinen Rechtsgesetz ist aber auch ein Konzept vereinbar, bei dem sich der Gefühlsschutz in bestimmten Fallen durchsetzt. Auch die Beantwortung dieser Frage hängt maßgeblich von der konkreten Gestalt einer Gesellschaft ab, etwa davon, wie intensiv bestimmte Selbstverfügungen in das Gefuhlsleben der anderen einschneiden. Die Verletzung von Rechten anderer mit Blick auf die desorientierende (also die Achtung vor bestimmten Rechtsgütern überhaupt aushöhlende) Wirkung bestimmter selbstverfügender Entscheidungen (bzw. bereits deren rechtlicher Erlaubtheit), wirft eine zusätzliche Schwierigkeit auf: Auch wenn man deren desorientierende Wirkung als empirischen Befund akzeptiert, so stellt sich die weitere Frage nach der Legitimation von Einschränkungen, die auf diesen empirischen Zusammenhang Bezug nehmen. Denn begreift man das durch die Kompatibilität der Willkürfreiheit der Beteiligten charakterisierte rechtliche Verhältnis allein in seiner normativen Qualität, dann kann die Willkiirfreiheit der Beteiligten auch dann nebeneinander bestehen, wenn desorientierende Selbstverfügungen erlaubt sind. Denn eine solche normative Sichtweise muß davon ausgehen, daß sich alle Beteiligten rechtstreu verhalten und muß damit - unabhängig von empirisch naheliegenden Abweichungen - auch dann von rechtstreuem Handeln aller Mitglieder 235 236 237 238
Vgl. Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 212 ff. Lackner/Kühl, § 167a Rn. 1. Lackner/Kühl, § 225 Rn. 4. Dagegen ware es voreilig, die Möglichkeit solchen Gefuhlsschutzes unter Hinweis auf den fehlenden Rechtsgutscharakter auszuschließen. So aber - freilich ohne die vorstehend im Text vorgenommene Differenzierung zu bedenken - Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 45 mit Fn. 56.
212
Teil 2: Rechtsphilosophische Grundlegung
der Rechtsgemeinschaft ausgehen, wenn die Einräumung bestimmter Selbstverfiigungsfreiheiten gegenteilige Reaktionen nahelegt. Rechtswidriges Verhalten als Folge desorientierender Selbstverfügufigen (bzw. deren rechtlicher Erlaubtheit) bleibt dann ausschließlich im Verantwortungsbereich des Handelnden. So ware es etwa Sache der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, die Aufhebung des Verbots der Tötung auf Verlangen auf die einschlägigen Fälle zu begrenzen. Wiirde der Lebensschutz im Falle einer Einwilligung suspendiert, so flihrte dies — normativ nicht zu einer prinzipiellen Abwertung des Lebensrechts. Normativ ware damit zu erwarten, daß die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft sich an dem Grundsatz des Lebensschutzes dort orientieren, wo er nicht durch die Erlaubtheit bewilligter Fremdtötungen berührt wird. Normativ können die Willkürfreiheiten der Beteiligten also nebeneinander bestehen; empirisch hingegen könnte die Willkiirfreiheit Dritter durch eine desorientierende Regelung gefährdet sein. Tatsächlich bliebe eine Bestimmung der rechtlichen Verhältnisse, die allein das normativ erwartbare Verhalten der Beteiligten in Rechnung stellen wiirde, zu abstrakt. Soil das Rechtsgesetz die Grundlage fur eine wirkliche rechtliche Gemeinschaft sein, so muß es möglich sein, die tatsächlichen Verhältnisse und daraus resultierenden Gefahren fiir die Willkiirfreiheit der Beteiligten in den rechtlichen Regelungen zu berilcksichtigen239'240. Dagegen verkürzt es den Sozialbezug der Person, wenn Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 241 in solchen Einschränkungen eine „Instrumentalisierung des Individuums zur Forderung gemeinschaftlicher Zwecke" und damit einen Verstoß gegen die Menschenwürde erblickt. Eine entsprechende Diskussion der Frage, ob das tatsächlich bestehende Risiko rechtswidrigen Fehlverhaltens Dritter es legitimiert, auch Verhaltensweisen zu verbieten, die fur sich genommen ungefährlich wären und nur als Anknüpfungspunkt fur fremdes Fehlverhalten geeignet sind, wird in der strafrechtsdogmatischen Diskussion iiber die Frage eines Regreßverbots geführt (eingehend Diel, Das Regreßverbot [dazu Murmann, GA 1998, 460 ff.]; Murmann, Nebentäterschaft, S. 262ff.).Auch in dieser Diskussion stehen die Vertreter eines weitreichenden Regreßverbots auf dem Standpunkt, die Verantwortlichkeit des unmittelbar Verletzenden schließe eine Verantwortlichkeit dessen aus, der auf das rechtstreue Verhalten des Zweithandelnden vertrauen dilrfe. Auf die tatsächliche Möglichkeit solchen Zweithandelns solle es gerade nicht ankommen. Doch auch für diese Fälle läßt sich zeigen, daß das Recht auf die Möglichkeit einer solcherart abstrakten Betrachtung nicht beschränkt ist, sondern es legitim ist, auch den Fehlgebrauch rechtlicher Freiheit in der Konturierung der Verantwortungsbereiche zu berilcksichtigen (Murmann, Nebentäterschaft, S. 273 ff.). - Fiir das geltende Recht gehören in den hier erörtern Zusammenhang im iibrigen auch weitere Fälle, in denen ein Verhalten mit Blick auf empirisch - nicht aber normativ - erwartbares Fehlverhalten rechtlich mißbilligt ist. Beispiele hierfür sind das unmittelbare Ansetzen zur Tat (vor Vomahme der tatbestandsmäßigen Handlung) (Murmann, Versuchsunrecht, S. 25 f), die Strafbarkeit der Verbrechensverabredung, die Anstiftung und die Beihilfe, sofern sie bereits vor der Tat geleistet wird. In all diesen Fallen ist normativ davon auszugehen, daß sich der Handelnde bzw. der Beteiligte noch normgemäß orientiert, obwohl eine empirische Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß ein deliktisches Verhalten vorgenommen wird. Das Verbot wird also erst plausibel, wenn man die empirische Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit kiinftigen deliktischen Verhaltens in Rechnung stellt. Schließlich ist schon der Erlaß von Strafhormen ein plastisches Beispiel fiir die
VI. Rechtsverhältnis und Opferentscheidung
213
Auch von diesem Ausgangspunkt ist es freilich eine zusätzliche Frage, in welchem Umfang die Freiheit zu selbstverfllgenden Entscheidungen bzw. deren Realisierung mit Blick auf die Gefahr normativer Desorientierung anderer Mitglieder der Rechtsgemeinschaft eingeschränkt werden darf. Auch hier kann ein angemessener Ausgleich der Interessen nur mit Buck auf die konkrete Gestalt einer Gesellschaft erfolgen. Erst die Erörterung dieser Frage am Maßstab der Verfassung (dazu sogleich) und des einfachen Rechts (4. Teil) kann zu je größerer Konkretheit vordringen.
Bedeutung der erfahrungsgegründeten Einsicht, daß Menschen aller normativen Erwartung zuwider die Verhaltensordnung verletzen.
3. Teil: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
I.
Einleitung
Das Bemühen um eine rechtsphilosophische Grundlegung mit ihrer Begriindung von Recht aus dem kategorischen Imperativ (in seinem juridischen Gebrauch) hat flir die Lösung des Problems der Opferselbstverantwortung einen Rahmen gegeben. Der Vorwurf, den ein rechtspositivistischer Ansatz gegen einen solchen Zugang erheben könnte, ist im historischen Teil der Arbeit bereits entkräftet worden. Der Rechtspositivismus hatte sich gerade in seinem unangemessenen Verständnis der Rechtsperson als unzulänglich erwiesen. Gegenstand der Kritik war oben (1. Teil, VII. 2. c)) auch schon der moderne Verfassungspositivismus, also eine Form von Positivismus, die die besondere Dignität der Verfassung als Grundlage fur einen Positivismus höherer Qualität in Anspruch nimmt. Dort war gezeigt worden, daß ein solcher Verfassungspositivismus von unausgesprochenen philosophischen Vorverständnissen ausgeht, die in den Verfassungstext hineingelegt werden. Wenn im Folgenden das Prinzip der Opferselbstverantwortung als Ausdruck eines bestimmten Grundrechtsverständnisses thematisiert wird, so geschieht dies im bewußten Rückgriff auf das offengelegte philosophische Vorverständnis und impliziert die Behauptung, daß die rechtsphilosophische Grundlegung sich auch in eine Verfassungsinterpretation einordnet1. Gleichzeitig wird damit gezeigt, daß Damit kommt es weder zu einer „Verdrängung der Rechtsphilosophie" noch ist es richtig, daß sich die Verfassung nicht auf ein bestimmtes Vorverständnis festlegen läßt (so aber Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 105). Bei alien Spielräumen für unterschiedliche Verfassungsinterpretationen hat die Verfassung doch bestimmte Einsichten aus der philosophischen Tradition (zu denen gerade auch das Prinzip personaler Selbstverantwortung gehört) übernommen und ist auch in der Interpretation der Verfassung damit auf diese Theoriestiicke angewiesen. Damit wird auch nicht die Offenheit der Verfassung fur die geschichtliche und politische Entwicklung in Frage gestellt (so aber Mosbacher, a.a.O.), sondern gerade die Berechtigung eines Ansatzes gezeigt, der durch seinen formalen Charakter sich wandelnden Verhältnissen Rechnung tragen kann, ohne die personale Basis der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren.
216
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
sich die dargestellten Grundziige eines Prinzips der Opferselbstverantwortung positivistisch absichern lassen, also als Interpretationen geltenden Verfassungsrechts auftreten und so einen positivrechtlichen Verbindlichkeitsanspruch erheben können. Das gilt zum einen fur das hier dargestellte Verständnis der Person (in ihrem Verhälrnis zu den anderen bzw. zur Allgemeinheit) und zum anderen fur die Konsequenzen, die aus diesem Verständnis für die Selbstverantwortung des Einzelnen abgeleitet worden sind. Ersteres wird verfassungsrechtlich vielfach unter dem Stichwort des „Menschenbildes" des Grundgesetzes diskutiert; letzteres wird auch im Verfassungsrecht unter dem Gesichtspunkt thematisiert, ob und inwieweit ein rechtlich erzwungender Schutz vor sich selbst dem Menschen unter dem Grundgesetz angemessen ist2.
II.
Das „Menschenbild" des Grundgesetzes
Wie bereits im historischen Teil der Arbeit dargestellt, ist der Staat des Grundgesetzes vor allem dadurch ausgezeichnet, daß Grund und Ziel des Staates die durch ihre Wiirde ausgezeichneten Menschen sind. Diese fundamentale Stellung des Menschen kann freilich nicht nur „eingeräumt" sein, da damit der Primat des Menschen gerade aufgehoben und der Staat in seiner gewährenden Position als das Primäre gesetzt ware, sondern sie trägt dem Vermögen der Menschen Rechnung, den Staat als eigene Leistung zu etablieren. Zutreffend schreibt Stern: „Das Grundgesetz hat diese Eigenschaft (die Menschenwürde, der Verf.) den Menschen nicht verliehen, sondern nur anerkannt und zu einem fundamentalen Bestandteil seines Rechtsordnungssystems gemacht"3. Die Menschenwürde ist nicht ein Wert unter vielen, sondern sie ist der Grund jeden Wertes wie sie der Grund von Recht und Staat ist4. Es ist ersichtlich nicht möglich, das Ableitungsverhältnis des Staates vom Menschen zu denken, ohne die Person mit einer entsprechenden Qualität vorzustellen5. 2
Es versteht sich von selbst, daß die Diskussion der verfassungsrechtlichen Problematik eines Schutzes des Menschen vor sich selbst hier nicht in mit den gleichen Vollständigkeitsambitionen erfolgen kann, mit der sich in den letzten Jahren einige verfassungsrechtliche Monographien der Thematik gewidmet haben; siehe Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; siehe auch schon v. Munch, in: FS fur Ipsen, S. 113 ff.
3
Stern, in: FS für Scupin, S. 630 f. Funke, Grundwerte, S. 277; Isensee, Menschenrechte, S. 71 f., 92 ff. Ein Verständnis wonach Menschenwürde „wechselseitig zugeschrieben" wird und wonach die Menschenwilrde „auf einem gemeinschaftlichen Versprechen" beruhe (so Hörnle, ARSP 89 [2003], 323 f.), bleibt schon die Begründung dafür schuldig, wie ein „Versprechen" ohne die mit der Würde geltend gemachte Selbständigkeit der Person ilberhaupt gegeben werden kann. Sezierende Kritik an diesem Ansatz bei Rath, Das Verhältnis, S. 118 ff.
4 5
II. Das „Menschenbild" des Grundgesetzes
217
Hierzu gehört zu allererst das oben (2. Teil, II.) beschriebene Vermögen der Sonderung von der umgebenden Welt. Die Einheit des Selbstbewußtseins, durch die der Einzelne ilberhaupt erst die notwendige Distanz zur umgebenden Welt schaffen kann, erlaubt es zu sagen, er konstituiere seine Umwelt und nicht: die Umwelt konstituiere ihn. Bezogen auf normative Gestaltungsleistungen heißt das zugrundezulegende Vermögen Autonomie. Ohne das Vermögen zur Selbstgesetzgebung kann ein Recht, das einem von Menschen getragenen Staat seine Konturen gibt, nicht gedacht werden. Wird auch Selbstgesetzgebung im Staat nicht unvermittelt wirksam, so ist es doch dieses Vermögen, das den Menschen in seiner begründenden Qualität - und umgekehrt die Abgeleitetheit des Staates - begreiflich macht. Deshalb ist es sachgerecht, wenn das BVerfG die Menschenwürde gerade als die Freiheit zur Selbstbestimmung auffaßt. „Selbstbestimmung" hat dabei notwendig eine zweifache Dimension, sie umfaßt nämlich zum einen die Selbstdefinition oder Selbstorientierung der Person und zum anderen die daraus erwachsenden Verhaltensweisen, mit denen die Person ihrem Verständnis von sich selbst Ausdruck verleiht6. Diese Seite des Menschen, seine Selbstbestimmungsfreiheit, wird auch in der „Menschenbildformel" (oder in den Menschenbildformeln7) deutlich, mit denen das BVerfG das grundgesetzliche Bild des Menschen zu umreißen versucht. Freilich enthält die Rede vom „Menschenbild" schon in gewisser Weise eine Abschwächung gegenüber dem rechtsphilosophischen Bemühen, denn das „Bild" verweist auf einen Betrachter und damit auf eine bestimmte Sichtweise und auf Erwartungen, möglicherweise sogar auf eine gewisse Willkilr in der Bestimmung8. Da sich zeigen wird, daß das BVerfG sich in seiner Rechtsprechung prinzipiell - unter verdeckter oder offener Inanspruchnahme entsprechender Vorilberlegungen - darum bemtiht, den Einsichten der neuzeitlichen Philosophie der Freiheit gerecht zu werden, sollte dieser Vorbehalt gegen die Formulierung („Bild") nicht iiberbewertet werden9. Ohne das Bemühen um ein „Menschenbild" ist im Recht überhaupt nicht auszukommen10. Diese Einsicht war schon in den verschiedenen BilBVerfGE 65, 1, 42 f. (Volkszählung); Dürig, JR 1952, 261; Enders, Die Menschenwürde, S. 450 f. Siehe zu den unterschiedlichen Formulierungen des BVerfG mit Nachweisen Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 45 f. Kritisch zur Orientierung an einem „Menschenbild" Dreier, in: ders., GG I, Art. 1 I Rn. 168 f. Siehe zur Kritik an einem unreflektierten Umgang mit dem grundgesetzlichen „Menschenbild" Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 248 f. Weshalb die Kritik von Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 154 f. fehlgeht. Vgl. auch Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes, S. 5 (S. 36 zu den Gefahren eines Verlusts eines kohärenten Menschenbildes); Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 72 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 116 ff. Damit ist freilich nicht an ein Bild mit festen Inhalten gedacht, an dem sich der Einzelne zu orientie-
218
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz dern vom menschlichen Naturzustand anwesend11 (dazu oben). Das Recht kann ohne eine Charakterisierung des Menschen, d.h. ohne eine Bestimmung dessen, was Grand und Ziel des Rechts ist, nicht gedacht werden12. Das wird gerade fur eine Verfassung uniibersehbar, die sich selbst dem Menschen verpflichtet weiß und seine Wiirde an den Anfang stellt13. Der Verzicht auf das Bemühen ware damit nur ein Verzicht auf Reflexion iiber diese Frage, womit sich nur mehr ein intuitiver Zugang zu den benötigten Antworten eröffnen wiirde.
Diese Menschenbildformel lautet in der Gestalt, die ihr das BVerfG in der Investitionshilfe-Entscheidung gegeben und später als seine ständige Rechtsprechung apostrophiert hat14: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten"15. Neben der Sozialgebundenheit - auf die unten noch einzugehen sein wird ist die oben angesprochene Bedeutung des Einzelnen durch dessen „Eigenwert" hervorgehoben. Zur näheren Bestimmung dieses „Eigenwertes" hat sich das BVerfG unterschiedlicher Begrifflichkeiten bedient16. Schon in der Investitionshilfe-Entscheidung wird auch von der „Eigenständigkeit" des Menschen gespro-
11 12
13 14 15 16
ren hat (gegen ein so verstandenes Menschenbild zu Recht kritisch Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 154). Das Menschenbild muß - wie der weitere Text zeigen wird - gerade die Offenheit für Individualität und Selbstbestimmung zum Inhalt haben. Diese Offenheit spricht aber nicht gegen das Erfordernis, sich ein Menschenbild zu machen. Der in Art. 1 GG positivierte Gedanke der Unantastbarkeit der Menschenwiirde ist Bestandteil eines Menschenbildes (vgl. Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 14: „Wer Menschenwiirde definieren will, kniipft an die Frage an, was denn das spezifische Wesen des Menschen ausmacht"). Wenn Art. 1 GG die Auslegung der anderen Grundrechte dirigiert, dann ist auch das Bedenken nicht berechtigt, durch das Menschenbild drohe „der normative Gehalt der Verfassung zugunsten einer gewissen Entscheidungsbeliebigkeit der Letztinterpretationsinstanz ausgehöhlt zu werden" {Horst Dreier, AöR 116 [1991], 628; ders., in: Dreier [Hrsg.], GG I, Art. 1 I Rn. 168 f). Jellinek, Adam in der Staatslehre, S. 23 ff; Radbruch, Der Mensch im Recht, S. 21. Das hat Arthur Kaufmann, in: FS fur H. Mayer, S. 81, treffend zum entsprechenden Problem der menschlichen Handlung auf den Punkt gebracht: „Ohne eine - wenn vielleicht auch gänzlich unreflektierte - Vorstellung vom Wesen der Handlung kann man weder strafen noch Strafrecht lehren, und man hat das auch nie getan. Denn Strafe ist ja immer auf menschliches Handeln bezogen, sie ist eine Reaktion auf menschliches Handeln. Wie also sollte man strafen oder die Strafe erklären können, ohne wenigstens intuitiv erfaßt zu haben, was menschliches Handeln ist?" Dazu Suhr, Entfaltung der Menschen, S. 75 f. So in BVerfGE 50, 290, 353 (Mitbestimmung). BVerfGE 4, 7, 15 f. (Investitionshilfe). Siehe dazu im Einzelnen Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 34 ff.
II. Das „Menschenbild" des Grundgesetzes
219
chen17, die dann noch in Hinweisen auf die „Selbstbestimmung"18 und die „Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung"19 konkretisiert wird. Diese Gedanken der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit wurzeln ersichtlich in der Menschenwiirde nach Art. 1 Abs. 1 GG, in deren begrifflicher Erfassung der Mensch durch eben diese Fähigkeiten charakterisiert wird20. Entsprechend seiner Beziehung zur Menschenwiirde wird der in der Menschenbildformel erwähnte „Eigenwert" der Person vielfach auch negativ durch die sogenannte Objektformel näher bestimmt21. Damit ist die Verletzungsseite menschlicher Selbstbestimmung thematisiert. Während der Mensch sich prinzipiell seine Zwecke selbst setzen und sich auf sie hin orientieren, sich also selbst bestimmen kann, wird er in seiner Würde verletzt, wenn er zum „bloßen Objekt des Staates" gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt wird, „die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt"22. Wird der Mensch als bloßes Objekt im Staate behandelt, so wird also gerade der Eigenwert negiert, der dem Menschen nach dem grundgesetzlichen Menschenbild zukommt23. Die Herkunft dieser Objektformel aus der Kantischen Philosophie liegt auf der Hand24. Wie schon in der Kantischen Formel angelegt, vom BVerfG iibernommen und durch das (insoweit allerdings problematische, siehe unten) verfassungsgerichtliche „Menschenbild" verstärkt, wird der Eigenwert nicht etwa deshalb in Frage gestellt, weil der Einzelne auch gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet ist. Das wird in der Objektformel durch die Formulierung klargestellt, daß der Mensch nicht „bloß" als Mittel, sondern ,jederzeit zugleich" als Zweck gebraucht werden milsse25. Dennoch werden in der Objektformel entschieden das Selbstbestimmungsrecht und dessen Verletzung akzentuiert. 17
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BVerfGE 4, 7, 16 (Investitionshilfe); siehe auch BVerfGE 35, 202, 225 (Lebach); 45, 187, 228 (Lebenslänglich); weitere Nachweise bei Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 35. Vgl. BVerfGE 65, 1, 41 (Volkszählung); siehe dazu Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 36 f. BVerfGE 49, 286, 298 (Transsexuellen-Beschluß); siehe dazu Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 37. Vgl. auch Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 91 f. Eingehend mit zahlreichen Nachweisen a u s der Rechtsprechung d e s BVerfG Ulrich Becker, D a s „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 37 ff., 91 f. BVerfGE 87, 209, 228 (Film-Vorzensur); siehe auch BVerfGE 50, 166, 175; 7 2 105, 115 f. (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe). Problematisch allerdings BVerfGE 30, 1, 25 f. (Abhörurteil), wonach der Mensch „nicht selten bloßes Objekt (...) d e s Rechts" sei, „insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen m u ß " (zu Kritik siehe Häberle, Rechtstheorie 11 [1980], 401). BVerfGE 45, 187, 228 (Lebenslänglich). Siehe etwa Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 3 9 ff; Häberle, D a s Menschenbild, S. 10, 7 0 und passim; Hoerster, JuS 1983, 93 f; Hruschka, A R S P 88 (2002), 477 f; Luf, Kant und die Menschenrechte, S. 27 f; Vitzthum, JZ 1985, 205; eingehend Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis, S. 281 ff. Kant, M d S , Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 38 ( W W VIII, S. 600); in der Rechtsprechung des BVerfG besonders deutlich BVerfGE 30, 1, 25 f. (Film-Vorzen-
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
In der Menschenbild-Formel des BVerfG verschieben sich die Akzente26. Die Formel stellt die Sozialbindung sprachlich an den Anfang und inhaltlich in den Vordergrund. Hervorgehoben wird zuerst, daß das Grundgesetz nicht vom Bild „eines isolierten souveränen Individuums" ausgehe, sondern „die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden" habe27. Es ist kein Zufall, wenn demgegenilber der Eigenwert eher in den Hintergrund tritt, sondern erklärt sich daraus, daß das BVerfG sein „Menschenbild des Grundgesetzes" in erster Linie dort als Argumentationstopos eingesetzt hat, wo es daram ging, Freiheitsschranken zu entwickeln28. Denn während der Wert des einzelnen Menschen durch Art. 1 Abs. 1 GG, gerade auch in Verbindung mit der Entstehungsgeschichte der Verfassung, entschieden hervorgehoben worden ist29, ist die Sozialbindung dem Grundgesetz nicht mit gleicher Deutlichkeit zu entnehmen30. Die anfänglichen Hinweise des BVerfG, das Menschenbild ergebe sich „insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG"31 oder auf die „rechtlichen und geistig-politischen Prinzipien, die das Grundgesetz beherrschen"32, können in dieser Pauschalität offenbar die ihnen aufgebürdete Begründungslast nicht tragen33. Es erscheint sur). Zutreffend dazu mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung (in Fn. 31) Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 40 f. 26
Siehe z u m Folgenden auch Ulrich Becker, D a s „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 8 4 ff.; vgl. auch Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG I, Art. 1 I Rn. 168 f.; Häberle, Das Menschenbild, S. 4 7 , demzufolge „die Menschenbild-Formel d e m BVerfG aus 'taktischen' Griinden meist einseitig in ihrer p/fc/itertbegriindenden und freiheitsftegrenzenden Funktion dient (...)". Dagegen mtisse der ,freiheitsorientierte Aspekt in den Vordergrund geriickt werden". Kritisch auch Schiinemann, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 6 f., der die Beriicksichtigung der Rechte anderer neben der freien Selbstverwirklichung fur einen methodischen Fehler der Menschenbild-Rechtsprechung des BVerfG halt. Richtig ist dieser Einwand nicht: Als Ausgangspunkt und Ziel von Recht kann der vorgestellte M e n s c h als selbstbestimmt nicht anders als in sozialen Bezilgen gedacht werden. Der Ausgleich von freier Selbstverwirklichung des Einzelnen (womit Schiinemann offenbar Willkürfreiheit meint) und den Rechten anderer kann nicht in der Weise erfolgen, daß die Rechte anderer von außen an den Einzelnen herangetragen werden, sondern n u r in der Weise, daß die Beschränkung der freien Selbstverwirklichung ihren Grund schon in der Person selbst hat. E s ware gerade ein solches, den Menschen einseitig durch Willkürfreiheit kennzeichnendes Konzept, dem die von Schiinemann gertlgte Tendenz zu paternalistischen (heteronomen) Übergriffen anhaften wiirde. Dazu noch der Text.
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Siehe nochmals BVerfGE 4, 7, 15 f. (Investitionshilfe). Dazu im Einzelnen Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 101 ff., 114 f; kritisch dazu auch Dreier, in: ders., GG I, Art. 1 I Rn. 168 f. Siehe dazu schon oben 1. Teil, VII. Siehe etwa Hasso Hofmann, in: GS für Küchenhoff, S. 237. BVerfGE 4, 7, 16 (Investitionshilfe). BVerfGE 12, 45, 51 (Kriegsdienstverweigerung). Zutreffende Kritik bei Ulrich Becker, D a s „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 92 ff; Huber, Jura 1998, 506.
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29 30 31 32 33
II. Das „Menschenbild" des Grundgesetzes
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deshalb nicht unplausibel, die Menschenbild-Rechtsprechung des BVerfG als Versuch zu interpretieren, die grundgesetzliche Betonung individueller Freiheit durch eine stärkere Gemeinschaftsbindung zu begrenzen34. Der Gesetzeswortlaut kann dementsprechend fur die verfassungsgerichtliche Menschenbildformel nicht ohne weiteres35 in Anspruch genommen werden36. Wenn sich das BVerfG dennoch auf das von ihm gezeichnete Menschenbild beruft, dann bezieht es sich auf ein bestirnmtes Vorverständnis über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft bzw. Staat. Dieses Vorverständnis ist wesentlich durch einen früheren Präsidenten des BVerfG, Josef Wintrich, geprägt. Ulrich Becker hat im Einzelnen nachgezeichnet, welche Einfliisse sich in Wintrichs Menschenbild niedergeschlagen haben37. Im hier diskutierten Zusammenhang bedeutsam ist vor allem der Umstand, daß Wintrich sein Menschenbild durch ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen Person und der Gemeinschaft gekennzeichnet und in diesem Verhältnis der Gemeinschaft (und insbesondere dem Staat) einen Eigenwert zugebilligt hat38. Diese Sichtweise ware problematisch, wenn dieser Eigenwert im Sinne der bereits kritisierten Auffassung der Person gleichsam gegenilbergestellt ware, sich sozusagen verselbständigt und ein Recht geltend macht, das nicht auf die Person rückführbar ist. Doch in diesem Sinne wollte Wintrich sein Menschenbild wohl nicht verstanden wissen, geht es ihm doch gerade darum, die Gemeinschaft in ihrer Bedeutung fur die Entfaltung des Einzelnen zu begreifen und ihren Wert in dieser Dimension zu bestimmen39. Der Hinweis auf die Sozialgebundenheit des Menschen ist danach grundsätzlich berechtigt, wenn die Sozialbindung nicht als äußere Schranke der Selbstbestimmung, sondern als deren immanente Grenze verstanden wird40. Eine in diesem Sinne verstandene Grenze individueller Willkiir erweist sich auch gegeniiber Fehlakzentuierungen zu Gunsten von Gemeinschaftsbelangen41 als prinzipiell weniger anfällig. Auch spätere Entscheidungen des BVerfG deuten auf eine solche Interpretation hin, wenn das Gericht sein Menschenbild (und gerade auch die Sozialge34 35 36
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Siehe Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 98. Siehe aber noch unten. Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 94 ff. Bezogen auf Art. 1 Abs. 2 GG auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 111. Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 49 ff. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 7.; ders., in: F S für Apelt, S. 3 . Siehe Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 6 f., 8, 10, 11 ff., 18 f; dens., in: FS fur Apelt, S. 3 f.; vgl. auch dens., BayVBl. 1957, 138. Dazu Michael Marx, Rechtsgut, S. 4 9 ff.; Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 418; auch Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 2 1 , begreift die Freiheitsschranken des Art. 2 Abs. 1 G G als „innere oder immanente Grenzen, weil Freiheit n u r bestehen kann, wenn die Freiheit des einen in der gleichen Weise geachtet wird wie die Freiheit des anderen (...)". Etwas anderes ergibt sich auch dann nicht, wenn soziale Verpflichtungen aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet werden, dieses aber seinerseits als Ausfluß der Menschenwiirde interpretiert wird; so Bleckmann, Die Grundrechte, § 21 R n . 20. Kritik in diese Richtung bei Ulrich Becker, Das „Menschenbild d e s Grundgesetzes", S. 8 4 ff., 91 ff, 101 ff.; Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 4 0 1 ; Huber, Jura 1998, 508.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
bundenheit des Menschen) ausschließlich auf Art. 1 GG stiitzt42. Diese Sichtweise fiigt sich auch zu der grundgesetzlichen Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Burger, wenn das BVerfG die konstituierende Bedeutung der Menschenwürde als obersten Wert betont43. Das damit begründete instrumentelle Staatsverständnis des Grundgesetzes, das den Staat in seiner dienenden Funktion gegenilber dem Menschen begreift44, läßt sich nur mit einem Menschenbild harmonisieren, in dem der soziale Bezug des Menschen nicht als gleichsam verselbständigte staatliche Anforderung an den Menschen, sondern ebenfalls in seiner Abgeleitetheit vom einzelnen Menschen begriffen wird. Nur dann ist der Einzelne einerseits unhintergehbar vor einer Funktionalisierung im Dienste kollektivistischer, insbesondere staatlicher Interessen geschützt und andererseits die Bedeutung von Gesellschaft und Staat aus einer unüberbrückbaren Antinomie mit dem Freiheitsstreben des Einzelnen herausgehoben. Die Bedeutung des Staates wird so nicht geschmälert, sondern fmdet in ihrer Bindung an den Menschen gerade ihre Rechtfertigung. Der fur die Rechtsphilosophie abgewiesene „Eigenwert" des Staates und seiner Einrichtungen (oben 2. Teil, II.) ist auch als Interpretation des Grundgesetzes nicht haltbar, sofern dessen Entscheidung fur die zentrale Bedeutung des Menschen respektiert wird45. Zusammenfassend: Nur dem Menschen, nicht aber dem Staat kommt Würde zu. Es ist demnach kein Zufall, wenn moderne kollektivistische Konzepte auf eine Überprüfung ihrer philosophisch-soziologischen Überlegungen am Maßstab der Verfassung verzichten. Jakobs möchte in seinen „Vorilberlegungen zu einer Rechtsphilosophie" den Verzicht auf den Begriff der „Menschenwtirde" „durchaus als Programm verstanden" wissen46. Es bedarf eigentlich auch fast keiner Hervorhebung, daß ein philosophisches Verständnis, bei dem „Person-Sein" in dem „Eingepaßt-Sein in eine der Gruppe dienende und in dem Sinn objektive Ordnung" besteht47, mit einem den Eigenwert der Person achtenden Verständnis, wie es dem Grundgesetz voraus- und zugrundeliegt, nichts zu tun hat48. Einschränkungen allgemei42 43 44
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So BVerfGE 50, 290, 353 (Mitbestimmung); in diesem Sinne auch Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 82. Vgl. etwa BVerfGE 5, 85, 204 f. (KPD-Verbot); 87, 209, 228 (Film-Vorzensur). Siehe dazu auch schon oben 1. Teil, VII. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 282 f; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 108 f.; Huber, Jura 1998, 508. Dagegen Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196 f., 677 f., 759 f. Vgl. Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 165 ff.; Michael Köhler, M D R 1992, 739 f.; A.A. dagegen Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196 f, 677 f., 759 f. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, Vorwort. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, S. 112. Siehe auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 388 f., der den Schutz der Würde der Person gleichsam von der Seite einfuhrt, nämlich als politische Entscheidung zur Lösung der Bestandsprobleme einer Gesellschaft. Daß ein Verfassungssatz den Selbstwert der Person sichern „muß" {Amelung, a.a.O., S. 389), ist so freilich nicht ableitbar. Es ist
II. Das „Menschenbild" des Grundgesetzes
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tier Handlungsfreiheit sind in einem solchen Konzept nicht Eingriffe, sondern Rollenzuschreibungen, gegen die sich die Person, die auf diesem Weg überhaupt erst konstituiert wird, aus eigenem Recht nicht wehren kann. Will man solche Konzepte verfassungsrechtlich einordnen, werden sich wohl weitreichende Parallelen mit der sogenannten institutionellen Grundrechtstheorie aufzeigen lassen, die Freiheitsräume als staatliche oder gesellschaftliche Institutionen begreift49. Es ist an dieser Stelle auch darauf aufmerksam zu machen, daß erst ein Verständnis, daß die Sozialgebundenheit als der Menschenwilrde immanent begreift, das unverbundene Nebeneinander der sogenannten abwehrrechtlichen und der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte hinsichtlich deren Wirkweisen aufzulösen vermag50. Derm nur wenn Interpersonalität bereits prinzipiell mit der Stellung der Person im Recht normativ verknüpft ist, kann das Verhältnis der Personen als ein grundrechtlich geprägtes begriffen und die Freiheit der Beteiligten zueinander in Relationen gesetzt werden, die sich nach einem personalen Verhältnismäßigkeitsmaßstab bestimmen. Das Recht in seiner Gesamtheit ist durch die abwehrrechtliche Dimension noch nicht erfaßt. Erst durch den objektiven Gehalt wird die Abgrenzung der Freiheitssphären umfassend Gegenstand des Menschenrechts der Freiheit von des anderen nötigender Willkür51. Die abwehrrechtliche Dimension betont demgegenilber nur einen besonders gefährdeten, aber nicht den im Ableitungszusammenhang primären Bereich52. Die Einsicht in die Herkunft der objektivrechtlichen Dimension aus dem Prinzip der Menschenwilrde ist deshalb - fur das hier erörterte Thema - wichtig, weil so schon hier deutlich wird, daß die Einfllhrung einer heteronom festgelegten Werteskala iiber die objektive Grundrechtsdimension ausgeschlossen ist. Die Stellung des Menschen als Grund und Ziel des Staates wird auch in der Volkssouveränität deutlich (Art. 20 Abs. 2 GG), die so gesehen mit der
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schon nicht erkennbar, wie ein solches Rechtsverständnis mit dem vorausgesetzten Selbstwert der Person (Amelung spricht von „sichern", nicht von „konstituieren") iiberhaupt vereinbar sein soil, denn wenn es einen Selbstwert „gibt", dann können solche Personen zwar in einem totalitären, aber nicht in einem rechtlichen Sinne ein Strafrecht vertreten, das die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Schutzes des Gesellschaft willen sichern soil (Amelung, a.a.O., S. 389). Siehe dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 124 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 6 0 ff. Vgl. auch Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 77. Siehe Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 188 f. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 55 f.; Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 74, 79.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz Menschenwürdegarantie zusammen zu lesen ist53: Die Staatsgewalt geht von den Menschen - von den Grundrechtsträgern - aus und besteht um dieser Menschen willen. Volkssouveränität ist ein Ausdruck menschlicher Würde, denn sie bedeutet Selbstbestimmung, und sie setzt Würde voraus, denn nur wer zur Selbstbestimmung in der Lage ist, kommt als Argumentationspartner im Prozeß der Willensbildung in Betracht.
Die Autonomie des Menschen als tragendem Konstitutionsprinzip der Verfassung schließt es geradezu aus, die Sozialbindung als äußere Schranke der Selbstbestimmung zu begreifen. Denn eine heteronome Grenze der Freiheit wiirde insgesamt dazu fuhren, daß der Umfang der Freiheit durch fremde Bestimmung zugewiesen ware. Es ware dann auch nicht mehr ersichtlich, welchen verbindlichen Beschränkungen die fremdbestimmte Grenzziehung von Freiheit noch unterliegen sollte. Denn stehen Willkürfreiheit und deren Grenzen nicht auf dem gemeinsamen Boden der Autonomie, dann fehlt auch der gemeinsame Boden, der fur einen Ausgleich der Freiheiten vorausgesetzt ist. Nur eine zusätzliche Dezision könnte dann noch einen Freiheitsbereich eröffhen54 - eine von außen bestimmte Grenze von Selbstbestimmung ist also die Negation von Selbstbestimmung iiberhaupt. Als immanente Grenze der Selbstbestimmung, also als eine Grenze, die aus der Einsicht der Person selbst stammt, ist sie eine Vernunftleistung der Person, die sich also in ihrer Selbstbestimmung immer schon in einem Verhältnis zu den anderen weiß und sich nur in diesem Verhältnis entwickeln kann55 (dazu schon oben 2. Teil, II.). Erst so gewinnt Selbstbestimmung gegenilber dem Hobbesschen Recht auf alles eine Qualität, die auch zur Fundierung interpersonaler Verhältnisse taugt56. In dieser Qualität kann sie auch die Wtirde des Menschen charakterisieren, wie es Diirig in der Einsicht zum Ausdruck bringt, „daß es unlösbar zu dem, was das Wesen des Menschen als Persönlichkeit ausmacht, was seine Wiirde ausmacht, worin sein sittlicher Eigenwert besteht, gehört, in innerlich begründeter Bindung zur Gemeinschaft zu stehen"57. Selbstbestimmung bedeutet dann gerade Hervorgehoben von Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 410 ff.; vgl. auch BVerfGE 5, 85, 204 f. (KPD-Verbot); Hasso Hofmann, JZ 1992, 169 f.; siehe auch Kant, MdS, Rechtslehre, § 46 (WW VIII, S. 432). Eine solche Dezision ware dann etwa auch die Zuweisung eines unverfiigbar geschützten Kernbereichs. So auch BVerfGE 50, 290, 353 f. (Mitbestimmung); wohl auch BVerfGE 45, 187, 227 (Lebenslänglich). Die Kritik an der liberalen Freiheitskonzeption durch Trapp, ARSP 72 (1986), 161 f. wendet sich der Sache nach gegen den Hobbesschen Standpunkt und dessen Folgen. Sie ignoriert die - liberate - Begrenzung der Freiheit des einen durch die Freiheit der anderen, wie sie nicht nur Kantischem Rechtsdenken selbstverständlich war, sondern auch vom BVerfG vorausgesetzt ist, wenn auch in der grundrechtsdogmatischen Systematik von Schutzbereich und Schranke. Diirig, JR 1952, 261. Es ist danach nicht nur eine Frage des Verhältnisses von Schutzbereich und Schranken von Art. 1 Abs. 1 GG, sondern verkennt die konstitutive Bedeutung der Menschenwiirde in prinzipieller Weise, wenn Kloepfer, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, S. 97 f. Beschränkungen der Menschenwiirde fur möglich
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auch, daß die Person als Vernünftige sich in den Zusammenhang zu den anderen einordnet und sich damit auch selbst Grenzen setzt; sie ist „die allgemeingesetzgebende Personalität in alien Besonderungen"58. So wird deutlich, daß die Sozialgebundenheit nicht etwa ein gegenüber der Menschenwürdegarantie von Art. 1 GG gegenläufiges Moment darstellt, sondern in einer angemessenen Bestimmung der menschlichen Wilrde immer schon vorkommt. Ersichtlich steht eine solche Interpretation des verfassungsrechtlichen Menschenbildes ganz in Einklang mit dem Bild der Person, deren Vernunftprinzip der kategorische Imperativ ist. Und auch hier bleibt die Wendung gegen eine moralteleologische Rechtsauffassung richtig: die Würde des Menschen im Recht hängt weder von der Sittlichkeit der Person ab noch wird sie deshalb geschützt, damit die Person das Sittengesetz zum Maßstab und Grund ihres Handelns machen kann59. Rechtliche Wilrde kommt dem Menschen vielmehr deshalb zu, weil er sich an seinen eigenen Maßstäben orientieren kann, soweit seine Freiheit mit der der anderen kompatibel ist; das angeborene Recht ist nur ein einziges, nämlich verallgemeinerungsfähige Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür60. Und in den Worten Michael Köhlers: „Das erste subjektiv-objektive Recht ist nur die totale äußere Unabhängigkeit von einseitiger (heteronomer) Regelsetzung, oder positiv: Eine alles äußere umgreifende Handlungsfreiheit nach selbstkonstituierten, also wechselseitig-allgemeinen Gesetzen der Freiheit. Das bedeutet Zwecksubjektivität fur den Rechtssetzungsprozeß, Rechtsfähigkeit oder rechtliche Wiirde der Person"61. 1st die Sozialbezogenheit als immanente Grenze der Selbstbestimmung zu verstehen, so ist damit äußere Bevormundung ausgeschlossen, die nicht dem Vernunfturteil der Person, das stets allgemein und damit auch eigenes ist, standhalten kann. Ein solches Verständnis bannt auch die Gefahr, das Menschenbild über die Sozialgebundenheit mit Inhalten zu fllllen, die schließlich das Selbstverhältnis des Menschen reglementieren62. Jenseits des Vermögens, sich als Verniinftiger in ein Gleichheitsverhältnis zu den anderen zu setzen, ist das „Menschenbild" des GG nämlich nicht mit konkreten Inhalten gefüllt. Es ist also nicht etwa eine Vorgabe, an der sich die Personen zu orientieren haben, sondern es zeichnet sich gerade deshalb durch seine Offenheit aus, weil es von der selbstbestimmten Person seinen Ausgang nimmt63. Wie sich das BVerfG den Ableitungszusammenhang zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als Ausdruck seiner Menschenwiirde und der Sozialgebundenheit vorstellt, ist bei einer Gesamtsicht der Entscheidungen schwer zu
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halt, die „dann zur Verfolgung gewichtiger verfassungslegitimer Zwecke und im Rahmen immanenter Schranken zulässig" seien. Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 69. Siehe auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 323. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, B (WW VIII, S. 345). Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 68. Diesbezügliche Bedenken bei Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 113 ff. Vgl. auch Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rn. 20; Huber, Jura 1998, 511; Morlok, Selbstverständnis, S. 283 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
sagen. Neben der erwähnten Ableitung ausschließlich aus Art. 1 GG64, die auf eine dem Selbstbestimmungsrecht immanente Sozialbindung weist, ist die Mehrzahl der Entscheidungen zumindest undeutlich und scheint das Menschenbild nicht ausschließlich aus Art. 1 GG zu entwickeln65. Soweit das BVerfG zwei Wertentscheidungen konfrontiert, wirkt es einer Absorption des menschlichen Eigenwertes zu Gunsten von Gemeinschaftsbelangen dadurch entgegen, daß der Eigenwert des Menschen als abwägungsfest gekennzeichnet wird (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG: „unantastbar"; Art. 19 Abs. 2 GG)66. Eine Begründung dieser Abwägungsgrenze und nicht nur eine enstsprechende Dezision -, wird aber - wie oben gezeigt - erst dann plausibel, wenn jede Sozialbindung um des je einzelnen Menschen willen gedacht und so jede Instrumentalisierung des Einzelnen im Dienste einer Mehrheit ausgeschlossen wird. Unabhängig von möglichen Abweichungen in der Begrilndung besteht immerhin im Ergebnis - die verantwortliche Person steht in sozialen Bindungen - Einigkeit. Fur die Problematik selbstverfugenden Verhaltens wird freilich die Sozialbezogenheit nicht insoweit bedeutsam, wie es den Schutz des Menschen vor sich selbst um seiner selbst willen betrifft, sondern nur in einer zusätzlichen sozialen Dimension, die einem selbstverletzenden bzw. eine Verletzung bewilligenden Verhalten möglicherweise zukommen kann67. Dieses Problem korrespondiert der Frage nach den Grenzen der Selbstverfllgung aus den Rechten anderer (bzw. der Gemeinschaft). Die Sozialbindung als Komponente des verfassungsrechtlichen Menschenbildes wird demnach bei der Behandlung von Freiheitsgrenzen wieder aufzugreifen sein (unten IV. 3.). Die Begrilndung der Selbstverfugungsfreiheit muß dagegen von dem „Eigenwert" der Person ausgehen:
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfügungsfreiheit Für die positive Begründung von VerfUgungsfreiheit ist das Selbstbestimmungsrecht bedeutsam, das - wie oben ausgefuhrt - in der Menschenbildformel des BVerfG den „Eigenwert" der Person ausmacht. Seine positive Verankerung hat dieser Eigenwert vor allem in Art. 1 Abs. 1 GG gefunden. Als Grundlage einer interpersonal bedeutsamen Selbstverfugungsfreiheit ist freilich nicht allein auf die Menschenwürdegarantie Bezug zu nehmen, sondern diese erlangt vor allem insoweit Bedeutung, als sie die Auslegung der übrigen Grundrechte dirigiert. Selbstverfugungen können nämlich unterschiedliche Grundrechte betreffen. Neben der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem aus dieser und der 64 65
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BVerfGE 50, 290, 353 (Mitbestimmung). Undeutlich z.B. BVerfGE 4, 7, 15 f. (Investitionshilfe); 8, 274, 329 (§ 2 Preisgesetz); 50, 166, 175. Siehe etwa BVerfGE 27, 1, 6 (Mikrozensus); 27, 344, 3 5 1 ; 45, 187, 228 (Lebenslänglich). Vgl. Hillgruber, Der Schutz, S. 63.
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III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfügungsfreiheit
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)68 entwickelten allgemeinen Persönlichkeitsrecht (siehe zu diesem Komplex unten 3.) kommen die Einzelgrundrechte in Betracht, deren jeweiliger Gegenstandsbereich durch die Verfligung betroffen sein kann, also etwa Leben, Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG), Eigentum (Art. 14 GG) etc. (dazu 1.). In Betracht kommt feraer die Eröffhung des Schutzbereiches solcher Grundrechte, die durch bestimmte Auswirkungen einer Entscheidung betroffen sind (dazu 2.). Freilich korrespondiert der Verfugungsfreiheit dort, wo die Möglichkeiten zur Verwirklichung einer selbstverfugenden Entscheidung vom Verhalten von Außenstehenden abhängt oder wo die Verfligung in Form der Bewilligung eines Eingriffs erfolgt, die Frage nach der entsprechenden Freiheit des Außenstehenden69. Aber diese Freiheit ist unter dem Gesichtspunkt der Selbstverfugungsfreiheit lediglich deren Reflex70. Fiir die Reichweite der grundgesetzlich geschiitzten Selbstverfugungsfreiheit erhalten Grundrechte des Außenstehenden erst in der Diskussion um die grundrechtlichen Schranken der Selbstverfugungsfreiheit Relevanz, wenn nämlich solche Schranken zugleich Grundrechte des Außenstehenden tangieren. In diesem Zusammenhang stehen sie in der Abwägung zwar auf der Seite der Selbstverfugungsfreiheit, aber nicht um dieser Freiheit, sondern um der Freiheit des Außenstehenden willen.
1.
Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich der einzelnen Freiheitsgrundrechte
Die einzelnen Freiheitsrechte können in zweierlei Weise Relevanz fur den grundrechtlichen Schutz selbstverfugender Entscheidungen erlangen. Dabei betrifft die erste dieser Weisen allerdings kein spezifisches Problem der Selbstverfugungsfreiheit. Gemeint ist der Fall, daß der Eingriff nicht (nur) unmittelbar darin liegt, einer selbstverfugenden Entscheidung die rechtliche Anerkennung zu versagen, sondern zusätzlich in bestimmte grundrechtliche Positionen mit dem Ziel eingegriffen wird, die Verwirklichung einer solchen Entscheidung zu verhindern. Praktisch wird dieser Fall insbesondere dann, wenn die selbstverfugende Entscheidung zu 68
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Wobei hier dahingestellt bleiben kann, o b die Menschenwtirde als Grundrecht aufzufassen ist; dazu etwa Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 95 ff.; Enders, D i e Menschenwürde, S. 92 ff.; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 6 7 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn.26; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 106 ff.; ders., JuS 1995, 857 f. V o m Grundrechtscharakter des Art. 1 G G ausgehend BVerfGE 1, 332, 3 4 3 ; 15, 249, 2 5 5 ; 15, 2 8 3 , 286; 28, 151, 163; 28, 2 4 3 , 2 6 3 ; 6 1 , 126, 137 (wobei eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage fehlt, dazu Enders, Die Menschenwiirde, S. 93 f.); Ipsen, JZ 2 0 0 1 , 990 f. Vgl Schwabe, JZ 1998, 68. Zur Kritik an der Fehlakzentuierung dieses Zusammenhangs bei Sternberg-Lieben siehe schon oben 1. Teil, VII., 2. b).
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
ihrer Realisierung keines instrumentalen Akts der Umsetzung bedarf, sondern wenn die Realisierung der Entscheidung umgekehrt nur durch einen Eingriff in Grundrechtsgilter gehindert werden kann. Eindrücklichstes Beispiel hierfür ist der sogenannte „passive Suizid"71, also der Fall, daß ein lebensbedrohlich Erkrankter oder Verletzter die Bewilligung der lebensrettenden Operation verweigert und damit - dies wissend oder sogar wollend - der tödlichen Krankheit bzw. Verletzung ihren Lauf läßt. Es sollte außer Frage stehen, daß der lebensrettende Eingriff in die körperliche Integrität dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG unterfällt und dessen Schutzbereichsverletzung nicht etwa deshalb in Zweifel gezogen werden kann, weil der Eingriff letztlich auf die Wiederherstellung der körperlichen Integrität und die Erhaltung des Lebens zielt72. Die Eröffnung des Schutzbereichs des Grundrechts auf körperliche Integrität steht nicht in Abhängigkeit von dem mit dem Eingriff verfolgten Zweck. Nur in Fallen der geschilderten Art, in denen also die Realisierung einer selbstverrugenden Entscheidung durch einen eigenständigen Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen zu verhindern ware, werden die betroffenen Freiheitsrechte in ihrer Eigenschaft als Abwehrrechte (gerichtet gegen die rechtlichen Regelungen, die solche Eingriffe erlauben, auch wenn sie dann letztlich von Privaten ausgehen) angesprochen. Freilich ist im Beispiel des „passiven Suizids" der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nur dann in seiner abwehrrechtlichen Dimension eröffnet, wenn die Vereitelung der selbstverfugenden Entscheidung den Eingriff in ein Grundrecht fordert, wenn also etwa mit der lebensrettenden Operation die Rettung gerade durch einen Eingriff in das grundrechtlich geschiitzte Gut ermöglicht wird. Sind lebensrettende Maßnahme ohne Eingriff in die körperliche Unversehrtheit möglich (ein Fall, der allerdings kaum praktisch vorstellbar ist73), so ist der
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Dazu etwa Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 13 f. Aus der Rechtsprechung siehe bereits RGSt 25, 375, 382; 27, 80 f.; unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG; BGHSt 11, 111, 113 f.; mögliche Einschränkungen andeutend BGH, NJW 1983, 350, 351; ferner im Sinne der Ablehnung einer Behandlungspflicht BGH, NStZ 1983, 117 f. Aus der Literatur siehe etwa Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 95 f, 118; Holzhauer, ZRP 2004, 41 ff.; Taupitz, Grenzen, S. 86 f. (dort S. 89 gegen den Vergleich des Behandlungsverzichts mit dem Suizid); Joachim Wagner, Selbstmord, S. 89 f; im Grundsatz auch Giesen, JZ 1990, 931, 936 f., der allerdings unreflektiert Einschränkungen des Rechts auf Behandlungsverweigerung aus der US-amerikanischen Rechtsprechung übernimmt, womit etwa das „öffentliche Interesse am Schutz des Lebens" oder das „öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der ethischen Integrität der Ärzteschaft" einer Behandlungsverweigerung entgegenstehen (umgekehrt: eine Behandlungspflicht begründen) könnte. Zum nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten siehe BGHSt 40, 257 und - zur zivilrechtlichen Beurteilung - BGH, NStZ 2003, 477 (mit problematischen Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts in Fallen, in denen das Grundleiden noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat; dazu kritisch etwa Verrel, NStZ 2003, 451 f.). Siehe dazu Hufen, N J W 2 0 0 1 , 853 f. Richtigerweise wird man auch die praktisch bedeutsamen Fälle der Anlegung einer PEG-Sonde zu künstlichen Ernährung als Eingriff
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfügungsfreiheit
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Anwendungsbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in seiner abwehrrechtlichen Dimension dagegen nicht eröffhet74. Unabhängig von dem Eingreifen von Einzelgrundrechten in ihrer abwehrrechtlichen Dimension stellt sich bereits fur die geschilderten Fälle die Frage, ob auch die Verfügung über ein Gut durch bloßes Nichtaufhalten von dessen Untergang zum Schutzbereich des auf dieses Gut bezogenen Freiheitsrechts gehört. Erst hier stellt sich die - nun den spezifischen Schutz der Selbstverfügungsfreiheit betreffende - Frage, ob die Verfugung als solche dem Schutzbereich des speziellen Freiheitsgrundrechts unterfällt. Diese Frage ist zu verallgemeinern, denn sie stellt sich nicht nur in den Fallen, in denen die selbstverftlgende Entscheidung darauf gerichtet ist, den schadensstiftenden Verlauf nicht zu hemmen, sondern sie stellt sich auch und vor allem dann, wenn die Entscheidung darauf gerichtet ist, einen schadensstiftenden Verlauf ilberhaupt erst in Gang zu setzen. Eine Differenzierung danach, ob ein natilrlicher Verlauf nur nicht angehalten oder aber erst in Gang gesetzt wird, kann sich (zumindest) unter dem Aspekt der Frage des grundrechtlich eröffneten Schutzbereichs auf kein sinnvolles Differenzierungskriterium berufen. Denn zum Instrumentarium der auf personaler Entscheidung beruhenden Wirklichkeitsgestaltung gehört das aktive Tätigwerden ebenso wie das Geschehenlassen bei bestehender, rechtlich gesicherter Abwendungsmöglichkeit. Eine Differenzierung wiirde auf ein Bekenntnis zur Dignität der Schicksalhaftigkeit naturgegebener Veränderung hinauslaufen, während doch die Entscheidungsmacht eine Überlegenheit über das naturhafte Geschehen impliziert, die verdeutlicht, daß in jedem Fall eine Verfilgung vorliegt, also eine Entscheidung des Betroffenen iiber seinen Gutsbestand. Die Frage, ob die Verfugungsmacht iiber ein grundrechtlich geschütztes Gut zum Schutzbereich des jeweiligen Freiheitsgrundrechts gehört, stellt sich bei Tun und Unterlassen in prinzipiell gleicher Weise. Wenn auch teilweise die grundgesetzlich geschiitzte Freiheit in Abhängigkeit von Tun oder Unterlassen unterschiedlich konturiert wird - der grundrechtliche Schutz einer Freiheit zur aktiven Selbsttötung nämlich im Unterschied zum passiven Suizid starker umstritten ist75 - so hat dies doch nichts damit zu tun, daß die Verfugungsfreiheit je nach Tun oder Unterlassen unterschiedlichen Schutzbereichen zuzuordnen ware. Die Zweifel am Sinn einer phänomenologischen Unterscheidung nach Tun oder Unterlassen bei der Verortung in grundrechtlichen Schutzbereichen läßt sich an Fallen verdeutlichen, bei denen beide phänomenologischen Komponenten zusammenkommen, nämlich beim Suizidversuch mit an-
in die körperliche Integrität (und nicht lediglich als eine zur Basisversorgung gehörende pflegerische Maßnahme) anzusehen haben; vgl. Uhlenbruck, NJW 2003, 1711. Freilich wird auch in solchen Fallen zumindest ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG vorliegen, der damit in seiner abwehrrechtlichen Dimension angesprochen ist. Siehe Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 96.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
schließender Behandlungsverweigerung76. Die suizidbedingte Verletzung ist hier ebenso Todesherbeifuhrung wie die anschließende Behandlungsverweigerang. Hauchdtlnn wird die Grenze von aktivem und passivem Suizid auch bei der Todesherbeifuhrung durch Hungerstreik, denn der Hungerstreikende liefert sich nicht einem etwa in körperlicher Krankheit angelegtem Schicksal aus, sondern er gestaltet es durch eine Entscheidung, die aber in ihrem Vollzug ein Unterlassen ist77. Zusammenfassend ist nach Klärung der Extension der behandelten Fragestellung nochmals darauf hinzuweisen, daß die speziellen Freiheitsrechte nun nicht in ihrer Dimension als Abwehrrechte gegen Eingriffe in die geschützten Gilter angesprochen sind. Es geht im Folgenden nicht um staatliche (bzw. um von staatlich gesetztem Recht erlaubte) Eingriffe in Leben, Gesundheit, Eigentum usw. zur Abwendung einer selbstverfügenden Entscheidung, sondern es geht um die Frage, ob diese Grundrechte auch einen Anspruch auf Selbstverfügung durch den Trager der jeweiligen Rechte schützen. Nur wenn auch die Verfugung iiber die jeweiligen Gtlter durch den Grundrechtsträger dem Schutzbereich der einzelnen Grundrechte unterfällt, kann der Staat durch Einschränkungen der Verfügungsfreiheit in eine durch die Einzelgrundrechte geschiitzte Position eingreifen. Sternberg-Lieben hat einen solchen Eingriff in Einzelgrundrechte durch Beschränkungen der Selbstverfügungsfreiheit bejaht. Nach seiner Auffassung eröffnen die Grundrechte einen Freiraum zu beliebigem Freiheitsgebrauch, so daß „alien Grundrechten das Selbstbestimmungsrecht tlber das jeweils geschützte Gut immanent" sei78. Diese Sichtweise hat immerhin den Vorzug, die gerade gegenteilige Annahme zurlickzuweisen, die insbesondere Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur ein Recht, sondern auch dessen Unverfugbarkeit unterlegt (und damit jedenfalls gegenüber selbstverftigendem Verhalten eine Lebenspflicht behauptet)79. Eine solche Sichtweise ist auch insoweit zutreffend zurückgewiesen, als sie auf der Annahme basiert, die Grundrechtsgüter seien nicht (oder jedenfalls nicht nur) als Giiter des Einzelnen, sondern als Rechtsgüter der Allgemeinheit geschützt80. Mit der Postu76
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Dazu zutreffend Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 9 6 f. (etwas einschränkend noch ders., Suizid, S. 162 f.); Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 113 ff. Bottke, Suizid, S. 316 Fn. 1552. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 19 f., auch S. 3 0 ; siehe mit zahlreichen Nachweisen zu dieser Auffassung auch a.a.O., S. 18 mit Fn. 4. Eingehend fur die Aufnahme einer Befugnis zur Lebensbeendigung in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 72 ff, 110 ff. So Klinkenberg, J R 1978, 443 f; Reis, E u G R Z 1987, 279; F.-C. Schroeder, Z S t W 106 (1994), 573 f; Lindemann, DVB1. 1957, 4 0 (i.V.m. der Menschenwürde; gegen ihn Joachim Wagner, Selbstmord, S. 9 0 Fn. 20). Dagegen Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 14 f. So BVerwGE 14, 2 1 , 2 5 . Bezogen auf die Unverfugbarkeit des Lebens auf solcher Grundlage Schmidhäuser, in: FS fur Welzel, S. 817. In diesem Sinne auch die Interpre-
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfugungsfreiheit
231
lierung einer Lebenspflicht zugunsten der Gemeinschaft ist ein kollektivistischer Standpunkt eingenommen, der dem Grundgesetz nicht angemessen ist. Gleichwohl ist die Annahme eines aus den Einzelgrundrechten abgeleiteten Verfugungsrechts iiber das jeweilige Grundrechtsgut zu pauschal81 und wird auch nicht durch die „liberale (biirgerlich-rechtsstaatliche) Betrachtungsweise", auf die Sternberg-Lieben sich beruft82, gerechtfertigt. Was die Inanspruchnahme eines liberalen Grundrechtsverständnisses anbelangt, so ist mit einem solchen Verständnis zwar zutreffend ein formaler, nicht durch bestimmte Inhaltsvorgaben eingeschränkter Freiheitsbegriff angesprochen, aber ob eine solche Freiheit zu beliebigem Verhalten in Art. 2 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) angesiedelt ist oder ob ein beliebiger Umgang der Person mit ihren Giitern in den Einzelgrundrechten verankert ist, die das jeweilige Gut betreffen, iiber das der Grundrechtsträger verfügen möchte, ist eine ganz andere Frage. Daß die Lösung zu pauschal ist, zeigt sich an der unterschiedlichen Qualität der Eingriffe, die bei einer solchen Sichtweise den einzelnen Grundrechten subsumiert - und damit den gleichen, fur die jeweiligen Grundrechte geltenden Schranken unterstellt - werden: Der staatliche Eingriff in ein Gut stellt fur den Gutsinhaber eine prinzipiell anders geartete Freiheitseinschränkung dar als eine Reglementierung seiner Freiheit, sein Gut selbst preiszugeben, denn im letzteren Fall geht es (nur) urn seine Dispositionsfreiheit. Dieser Unterschied wird in den Schrankenbestimmungen der Grundrechte reflektiert, die Grenzen des Schutzes eines Guts markieren und nicht ohne weiteres als Grenzen der Verfugungsfreiheit fur den Inhaber des Guts verstanden werden können. Auch eine offene Grundrechtsinterpretation, die von einem inhaltlich ungebundenen, formalen Freiheitsbegriff ausgeht83, muß je nach betroffenem Grundrecht der Selbstdefmition des Betroffenen einen unterschiedlichen Raum geben84. Ein Recht auf Verfügung über ein bestimmtes Gut, das dem Gegenstandsbereich eines Grundrechts unterfällt, kann sich also allenfalls aus der Auslegung dieses Grundrechts ergeben. Mustert man daraufhin die verschiedenen Grundrechte85, so zeigt sich, daß deren Relevanz in Bezug auf den Schutz von Selbstverfugungen jedenfalls marginal bleibt. Beispielhaft sei dies an Konstellationen, bei denen eine Eröffhung des Schutzbereiches von Einzelgrundrechten prima facie nicht fern zu liegen scheint, aufgezeigt. So ist es auf den ersten Blick naheliegend, die Verfugungsfreiheit iiber Eigentumsgegenstände der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG zuzuschlagen.
81 82 83 84 85
tationen von Dölling, GA 1984, 85 sowie Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, S. 34 bzgl. Welzel, Strafrecht, 11. Aufl, S. 96; BGHSt 4, 88, 93. Dazu auch Hillgruber, Der Schutz, S. 140 ff.; siehe auch die differenzierende Behandlung bei Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 29 ff. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 19 mit Fn. 10. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 55 ff. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 88 ff. Eingehend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 29 ff.
232
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Doch spricht gegen eine solche Sichtweise86 die Zielrichtung der Eigentumsgarantie, „ihrem Träger einen Freiheitsraum im Vermögensbereich zu erhalten und ihm so die materiellen Grundlagen seiner Persönlichkeitsentfaltung zu sichern"87. Dazu gehört zwar auch ein Verfllgungsrecht über Eigentumsgegenstände, wenn gerade so deren spezifischer Wert (Bsp.: Brennholz) oder ihr Tauschwert realisiert wird. Soweit dagegen die Verfugung als solche, am deutlichsten in der bloßen Zerstörung, zur Diskussion steht, wird die freiheitliche Dimension der Eigentumsgarantie, die gerade aus der Werthaftigkeit von Eigentumsgegenständen resultiert, nicht tangiert. Im Vordergrund steht hier die Handlungsfreiheit als solche, nicht der Schutz einer Person hinsichtlich der materiellen Grundlagen ihrer Persönlichkeitsentfaltung88. In der verfassungsrechtlichen Literatur intensiv diskutiert wird weiter die Frage, ob Verfugungen des Rechtsgutsträgers über sein Leben Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unterfallen. Zutreffend sieht die ganz h.M. im „Recht auf Leben" - schon dem Wortlaut, aber auch der Entstehungsgeschichte89 nach - kein Recht auf Verfugung iiber das Lebensrecht90. Entsprechendes wird fur das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu gelten haben". Insgesamt bleibt damit festzuhalten, daß die Grundrechte, die bestimmte Dimensionen oder Bedingungen von Freiheit schützen, die Verfügungsfreiheit über die jeweils geschützten Güter jedenfalls nicht grundsätzlich umfassen. Eine Verortung der Verfügungsfreiheit in diesen Grundrechten ist damit allenfalls in Einzelfällen möglich; eine verallgemeinernde Aussage in diesem Sinne ist dagegen verfehlt.
Wie sie beispielsweise von Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 60, 65 vertreten wird. Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, § 14 Rn. la; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 1, 12. Vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 5, demzufolge Art. 14 GG in Fallen zuriicktreten sollte, in denen die „Ausübung des Freiheitsrechts im Vordergrund" steht. Vgl. dazu Steiner, Der Schutz des Lebens, S. 5 f. Siehe etwa Bleckmann, Die Grundrechte, § 23 Rn. 1; Diirig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 12; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 71 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 61; Kühne, NJW 1975, 672; Kunig, in: GG-Kommentar, Bd. 1, Ar. 2 Rn. 50; Lorenz, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 62; Ostendorf, GA 1984, 314; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 11 f.; Sachs, Verfassungsrecht II, B 2 Rn. 81; H.-L. Schreiber, Juristische Aspekte der Suizidbeihilfe, S. 30 f; Schwabe, JZ 1998, 69; Uhlenbruck, ZRP 1986, 214; Wassermann, DRiZ 1986, 292 f.; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 12 ff. (entsprechend zu Art. 2 EMRK EGMR, NJW 2002, 2851, 2852). A.A. Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 98 (dazu kritisch Bottke, JR 1994, 43); Pelzl, KJ 1994, 182. BVerfGE 52, 131, 168 (Mehrheitsmeinung); Ostendorf, GA 1984, 314; Schwabe, JZ 1998, 69. A.A. BVerfGE 52, 131, 171 (abw. Meinung der Richter Hirsch, Niebler und Steinberger); Höfling, JuS 2000, 114; Wolffgang/Ugowski, Jura 1999, 595 m.w.N.
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfugungsfreiheit
2.
233
Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich solcher Grundrechte, die durch die Entscheidung (zusätzlich) betroffen sind
Selbstverfiigendes Verhalten kann dem Schutzbereich solcher Grundrechte unterfallen, die nicht spezifisch diesen selbstverfilgenden Charakter, sondern zusätzliche Dimensionen dieses Verhaltens zum Gegenstand haben, wie dies insbesondere der Fall sein kann, wenn eine Selbstverfiigung auf die Verwirklichung weiterer Ziele gerichtet ist, deren Verfolgung ihrerseits grundrechtlichem Schutz untersteht. Der Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechts wird hier also nicht durch die Preisgabe eines Gutes, sondern durch die hiermit intendierte Förderung einer dem Schutzbereich dieses Freiheitsgrundrechts unterfallenden Freiheitsausiibung eröffhet. Die Verfugung ist hier also zugleich Ausiibung einer anderen grundrechtlich geschützten Freiheit oder dient als Zwischenschritt hierzu. Das praktisch wichtigste Beispiel fur einen solchen Grundrechtsschutz, der sich um der Eröffnung einer anderen Freiheitsdimension willen auf ein selbstverfiigendes Verhalten erstreckt, ist der Fall der Bewilligung eines ärztlichen Heileingriffs. Denn der bewilligte Eingriff in die körperliche Integrität zielt auf Wiederherstellung der Gesundheit oder der Rettung des Lebens und unterfällt damit dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG92. Ähnlich liegt das Verhältnis eines selbstverfugenden Verhaltens zur Glaubensfreiheit in dem Fall, daß ein Verhalten mit selbstverfügendem Charakter um der Ausübung eines bestimmten Glaubens willen vorgenommen wird. Hier kann das selbstverfugende Verhalten dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG unterfallen93. Weiterhin läßt sich hier auch der Fall diskutieren, daß eine bestimmte Selbstverletzung (insbesondere - praktisch wichtig - im Rahmen eines Hungerstreiks) unter die von Art. 5 Abs. 1 GG geschiitzte Meinungsfreiheit fällt94. Schließlich ist es diskutabel, bestimmte Formen selbstverfugenden Verhaltens der Berufsfreiheit unter Art. 12 Abs. 1 GG zu subsumieren, wenn ihre Vornahme in Ausiibung einer beruflichen Tätigkeit erfolgt, wie dies etwa bei gefahrlichen Sportarten oder bei Auftritten in Peep-Shows der Fall sein mag95. Die Lokalisierung in Art. 12 GG findet nicht schon gerade in dem selbstverfugenden Charakter des Verhaltens ihre Berechtigung. Denn wenn man den „Beruf mit dem BVerfG als Ausiibung einer Tätigkeit versteht, „die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient"96, dann ist die Überschneidung der hier beispielhaft genannten Selbstverfügungen mit der Ausiibung eines Berufes keinesfalls notwendig. Wenn also z.B. die einmalige Tätigkeit in 92
93
94
Siehe Amelung/Eymann, JuS 2 0 0 1 , 939; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten Die objektiven Schranken, S. 2 1 . staatlichen Schutzes, S. 70; Sternberg-Lieben, Vgl. dazu BVerfGE 32, 98, 106 ff.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 31 ff.; Hillgruber, Der Schutz, S. 93 ff. Dazu Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 35 ff.; Os-
tendorf,GA 1984, 312. 95 96
So m.w.N. Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 4 7 ff. BVerfGE 97, 228, 252 f. m.w.N.
234
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
einer Peep-Show nicht der Berufsfreiheit unterfällt97, dann wird deutlich, daß die Berufsfreiheit nicht die Freiheit zu den vorgenannten selbstverfugenden Verhaltensweisen, wohl aber die Freiheit berufsmäßig ausgeübten selbstverfligenden Verhaltens schiitzen kann. Fälle dieser Art sind von Sternberg-Lieben eingehend thematisiert worden98. Der grundrechtliche Schutz einer selbstverfugenden Entscheidung hängt hier ersichtlich davon ab, ob die Person durch ihre Entscheidung einen grundrechtlich geschützten Zweck verfolgt. Damit werden zwar eine Vielzahl der praktisch relevanten Fälle erfaßt, aber es lassen sich so keine prinzipiellen Aussagen zur Selbstverfugungsfreiheit gewinnen". Der Akzent wird hier nicht auf den verfügenden, sondern auf den bewahrenden Charakter einer bestimmten Entscheidung gelegt. So bleibt es zwar richtig, daß zugunsten des Betroffenen das Grundrecht, dessen Verwirklichung eine Entscheidung letztlich dient, eingreifen kann. Aber sein Schutzbereich ist nicht um der Freiheit zur Verfugung selbst willen eröffhet. In der Einwilligungsdogmatik wird der Gedanke der grundrechtlich geschützten Zielrichtung der Bewilligung vor allem in einer Lehre aufgenommen, die die Einwilligung mit dem Gedanken des überwiegenden Interesses zu erklären versucht. Das Entfaltungsinteresse kollidiert danach mit den Werten, in die aufgrund der Bewilligung eingegriffen wird und setzt sich sofern dem nicht gewichtige öffentliche Interessen zuwiderlaufen - gegen diese Werte durch100. Die Eigenständigkeit der Person in ihren selbstverfligenden Entscheidungen bleibt danach in ihrer Abhängigkeit von den verfolgten Zwecken immer nur relativ; siehe zur Kritik dieser Auffassung noch näher unten IV. 1. b) bb).
3.
Selbstverfiigendes Verhalten und der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG)
Als herrschend ist wohl die Auffassung anzusprechen, wonach die rechtliche Wirksamkeit selbstverfügender Entscheidungen dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. lGGunterfallt101. 97
98
99 100
101
Das BVerfG (E 97, 228, 253) läßt es nicht ausreichen, wenn eine auf Erwerb gerichtete Beschäftigung sich „in einem einmaligen Erwerbsakt erschöpft". Sternberg-Lieben, D i e objektiven Schranken, S. 21 ff., 30. Vgl. auch Schwabe, J Z 1998, 69. Zutreffend Amelung/Eymann, JuS 2 0 0 1 , 939: „Spezialfälle". In diesem Sinne insbesondere Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 7 4 ff.; ferner etwa Geppert, Z S t W 83 (1971), 952 ff. So etwa Amelung, Die Einwilligung, S. 29; ders., Irrtum und Täuschung, S. 4 1 ; dersJ Eymann, JuS 2 0 0 1 , 939; Bottke, Suizid, S. 4 2 ff; ders., G A 1982, 350 ff; ders., J R 1989, 4 7 5 ; Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 104; Geppert, Z S t W 83 (1971), 9 5 3 ; Göbel, Die Einwilligung, S. 22; JescheckJWeigend, AT, S. 377; Krack, KJ 1995, 64; Kühl, AT, § 9 Rn. 20, 2 3 ; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 42; Ostendorf,
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfiigungsfreiheit
235
Dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG wären allerdings eine Reihe selbstverfugender Entscheidungen von vornherein entzogen, wenn man die Vorschrift nicht im Sinne einer Garantie allgemeiner Handlungsfreiheit interpretieren wollte, sondern lediglich in bestimmter Weise qualifizierte Verhaltensweisen erfaßt sähe. Dies ist der Standpunkt der sogenannten „Persönlichkeitskerntheorie"102' 103. Danach wären nur werthafte Verfligungen von dem Grundrecht gedeckt, nicht aber wertwidrige. Ob eine Verfiigung dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG unterfällt, hängt dann von den zugrundegelegten Wertvorstellungen ab, wobei der Begründer dieser Theorie, Peters, hierflir u.a. die Wertvorstellungen der christlichen Tradition, in der das Grundgesetz stehe, heranzieht. Von diesem Ausgangspunkt läge es etwa nahe, auf Lebensbeendigung zielende Selbstverfugungen ebenso wie den unbegrilndet leichtfertigen Umgang mit dem eigenen Leben nicht vom Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG erfaßt zu sehen. Diese Auffassung wird teilweise auch durch eine - allerdings eher rhetorische104 - Ankniipfung an den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 GG gestiltzt, wenn es heißt: „Die Verfassung gewährleistet die 'Entfaltung', nicht die Zerstörung der eigenen Persönlichkeit. Selbstmord und Selbstverstilmmelung fallen nicht mehr in den verfassungsrechtlich geschützten Bereich individueller Selbstbestimmung"105. Ähnlich formuliert auch der BGH: GA 1984, 314 f.; Rönnau, Jura 2002, 595; Roxin, in: GS fur Noll, S. 275; Saliger, KritV 84 (2001), 421; Schwabe, JZ 1998, 69; Wassermann, DRiZ 1986, 293 f.; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 15 ff.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rn. 274; Zipf, Einwilligung, S. 32. 102
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Peters, in: FS fur Laun, S. 671; dagegen BVerfGE 6, 32, 36 f. (Elfes); Evers, AöR 90 (1965), 88 ff.; Hillgruber, Der Schutz, S. 112 ff.; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 26 f.; siehe auch m.w.N., Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 310 mit Anm. 5. Zu weiteren „materialen Grundrechtstheorien" vgl. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, s. 54 ff. Ersichtlich nicht oder allenfalls in einzelnen Fallen einschlägig ist im hier diskutierten Zusammenhang eine Beschränkung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG auf solche Betätigungen, die „eine gesteigerte, dem Schutzgut der ilbrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz fur die Persönlichkeitsentfaltung besitzen" (Sondervotum des Richters Grimm in BVerfGE 80, 137, 165; ebenso Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 428). Damit sollen fur die Persönlichkeitsentfaltung belanglose Handlungen (Taubenfuttern, Reiten im Walde) aus dem Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG ausgeschieden werden. Selbstverfugungen werden aber regelmäßig den erforderlichen Persönlichkeitsbezug aufweisen. Wo nicht, ist damit kein spezifisches Problem von Selbstverfugungen angesprochen. Schließlich kann eine Beschränkung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG auf „relevante" Betätigungen aber auch deshalb nicht überzeugen, weil die Frage der Relevanz letztlich nur aus der Perspektive des Grundrechtsträgers selbst bestimmt werden kann; vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 288 mit Fn. 31. Weshalb diese Sichtweise kein emstzunehmendes Wortlautargument gegen ein Selbsttötungsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG begrilndet; dazu Joachim Wagner, Selbstmord, S. 91. Frotscher, DVB1. 1976, 702; ebenso VG Karlsruhe, JZ 1988, 208, 209; Sonnen, JA 1977, 484; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rn. 274.
236
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
„Die Entfaltung, nicht der Verfall der Persönlichkeit wird durch die Grundrechte geschiltzt"106. So wird die Handlungsfreiheit an den Maßstäben einer materiellen Wertethik gemessen und all das, was an diesen Maßstäben nicht als „Entfaltung" akzeptiert wird, unterliegt von vornherein keinem grundrechtlichen Schutz107. Nach den Überlegungen zum Menschenbild des Grundgesetzes ist der umgekehrte Ansatz richtig108, nämlich eine Sichtweise, die gerade in der grundsätzlich bestehenden Freiheit zu beliebigem Verhalten eine Voraussetzung, ja einen Ausdruck von Menschenwilrde erblickt109. Derm die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 GG wird von Art. 1 GG dirigiert110. „Während Art. 1 Abs. 1 GG die Persönlichkeit gewissermaßen statisch zeigt und aussagt, wie sie 'ist', daß sie 'Würde hat', zeigt Art. 2 Abs. 1 GG diese Persönlichkeit wie sie handelt, wie sie sich 'entfaltet'"111. Wenn Art. 1 Abs. 1 GG dem Einzelnen die Freiheit zur Selbstbestimmung garantiert und damit inhaltliche Offenheit fur individuelle Zwecksetzung postuliert, dann korrespondiert diesem Menschenbild die Garantie allgemeiner Handlungsfreiheit"2. Art. 2 Abs. 1 GG garantiert die Entfaltung der je einzelnen Persönlichkeit, nicht eine Entfaltung hin zu einem inhaltlich vorgegebenen Bild vom Menschen, zu einem wie auch immer bestimmten „echten Menschtum"113. Die Würde des Menschen im Recht besteht gerade darin, seine Willkür einschränkenden Zwang nur dort hinnehmen zu miissen, wo diese Willkilr nicht mit der der anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Jede Einschränkung der Freiheit bedarf danach ihrer Rechtfertigung durch die Freiheit der anderen und hat damit - weil diese Einschränkung der Freiheit durch die der anderen immer schon zu den Konstitutionsprinzipien der Rechtsperson gehört - an dieser Würde teil. Steht aber jede rechtliche Freiheitseinschränkung unter der Voraussetzung des Aufweises ihrer Berechtigung mit Blick auf die Freiheit der anderen, so ist es ausgeschlossen, bestimmte Arten des Freiheitsgebrauchs nach Maßstäben abzuwerten und rechtlich schutzlos zu stellen, die ihre Berechtigung nicht aus dem Rechtsprinzip, sondern aus bestimmten Werthaltungen beziehen. 1st also der Schutz von Handlungen ohne Rilcksicht auf ihren Inhalt Gegenstand von Art. 2 Abs. 1 GG, so sind Einschränkungen aus der Freiheit der anderen grundrechtsdogmatisch dem
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BGHSU9, 325, 331.
107
Entsprechende wertethische Einschränkungen der Handlungsfreiheit werden auch im Bereich der Schranken von Art. 2 Abs. 2 GG diskutiert. Da die Diskussion dort ungleich intensiver gefuhrt wird als auf der Ebene des Schutzbereiches, wird diesen Überlegungen in erster Linie dort (unten IV. 1. b) nachgegangen. Siehe deshalb zum Folgenden schon oben I. und den 2. Teil. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 321 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 13; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 82 ff; Hufen, NJW 2001, 851; Lege, Jura 2002, 755; Ostendorf, GA 1984, 315. BVerfGE 32, 373, 379; Huber, Jura 1998, 507; vgl. auch Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 398 mit zahlreichen Nachw. aus der Rechtsprechung des BVerfG. Dürig, JR 1952, 261; siehe auch Enders, Die Menschenwürde, S. 450 f. Morlok, Selbstverständnis, S. 74 f., 287 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 321 ff. So aber Peters, in: FS fiir Laun, S. 673.
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III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfugungsfreiheit
237
Bereich der Schranken zuzuordnen114. Nach der Schutzbereich/ Schranken-Systematik der Grundrechte garantiert Art. 2 Abs. 1 GG demnach eine Freiheit zu beliebigem Verhalten, deren Einschränkung hinreichender Grilnde bedarf. Auch von den Schranken her besehen erweist sich der umfassende Schutzbereich der Handlungsfreiheit als richtig, derm Einschränkungen eines einmal eröffheten Schutzbereichs verlangen nach einer angemessenen Begriindung. Der Einzelne ist so davor geschützt, bei solchen Handlungsmöglichkeiten, die andere als wenig relevant oder als inhaltlich nicht schiitzenswert ansehen, durch „schlichte Definition" des Schutzbereichs Einschränkungen hinnehmen zu milssen, die dem Legitimationsdruck von Schrankenbestimmungen nicht standhalten müssen115. Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG ist durch Einschränkungen der rechtlichen Wirksamkeit selbstverftigender Entscheidungen also tangiert, wenn man dieses Grundrecht mit dem BVerfG116 und der h.M.117 im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit interpretiert118. Dabei ware es eine naturalistische Verkiirzung des Freiheitsrechts, wenn man es auf Handlungen in einem engen Sinn beschränken wollte. Zu Recht wird das allgemeine Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG durch die Rechtsprechung des BVerfG ilber das Recht zur Vornahme bestimmter Handlungen hinaus als allgemeines Freiheitsrecht aufgefaßt, das dem Grundrechtsträger einen Anspruch darauf gibt, „durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begriindet ist"119. Vom Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt ist also zum einen das Recht zu selbstverfugenden Entscheidungen, die zu ihrer Realisierung lediglich eines Unterlassens bedürfen, also etwa die oben (1.) bereits erwähnten Fälle des „passiven Suizids" durch bloßes Nichthindern eines schadensträchtigen Verlaufs. Vor allem aber ist ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG auch nicht davon abhängig, daß ein bestimmtes Verhalten (Tun oder Unterlassen) untersagt wird. Ein Eingriff liegt vielmehr auch darin, wenn zwar nicht die Einwilligungserklärung des Opfers diesem untersagt, der entsprechenden Erklärung aber die rechtliche Wirksamkeit versagt wird. Es ist diese rechtliche Folgenlosigkeit der Einwilligungserklärung, die in die Dispositionsmöglichkeit des Verfügenden einschnei-
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Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 324. Ein umfassendes Freiheitsrecht widerspricht also auch nicht dem Bild des Menschen als eines sozial gebundenen Individuums. Das letzte Wort iiber die Reichweite der Freiheit wird nämlich nicht beim Schutzbereich, sondern erst bei den Grundrechtsschranken gesprochen; vgl. Alexy, a.a.O., S. 342 f. Morlok, Selbstverständnis, S. 401; Starck, in: FS für Geiger, S. 261. BVerfGE 6, 32, 36 f. (Elfes); 9, 83, 88; 80, 137, 152 f. Siehe etwa Bleckmann, JZ 1988, 60; Degenhart, JuS 1990, 162 ff.; Erichsen, Jura 1987, 368; Sachs, Verfassungsrecht II, B 2 Rn. 12; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 2 Rn. 8 ff. Siehe Hillgruber, Der Schutz, S. 114 ff; siehe auch Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 84 f. BVerfGE 9, 83, 88; 19, 206, 215; siehe auch BVerfGE 34, 238, 246; aus der Literatur vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 311, 333 ff.
238
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
det120. Durch die mit Unwirksamkeit einer Bewilligung verbleibende Strafbewehrung des bewilligten Verhaltens verringern sich nicht nur de facto die Chancen der Exekution einer getroffenen Entscheidung, sondern diese Entscheidung verliert auch ihre Qualität als relevante personale Willensäußerung. Gemessen an dem durch die Menschenwiirde gesicherten Recht zur Selbstbestimmung begrilndet die rechtliche Unwirksamkeit selbstverfugender Erklärungen eine Freiheitseinschränkung, die der Legitimation bedarf. Mit dieser Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit ist auch von seiten der Verfassung die Verortung der selbstverfugenden Entscheidungen in einem „rechtsfreien Raum" zurückgewiesen. Denn in dem Bereich, in dem es keine rechtlichen Vorgaben fur richtiges Handeln gibt, ist die Person durch Art. 2 Abs. 1 GG gerade auch in der Beliebigkeit ihrer Entscheidung rechtlich geschiltzt121. Wenn die Entscheidungsmacht liber das eigene Schicksal der allgemeinen Handlungsfreiheit zugeschlagen wird, so läßt sich freilich nicht verkennen, daß dieses Recht auch enge Beziige zu dem ebenfalls durch Art. 2 Abs. 1 (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1) GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht aufweist. Das BVerfG kennzeichnet das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die Aufgabe, „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten". Durch dieses „Recht auf Respektierung des geschiitzten Bereichs" hebe es sich „von dem 'aktiven' Element dieser Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit" ab122. Danach liegt es auf den ersten Blick nicht fern, Selbstverfugungen dieser engen, durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützten persönlichen Lebenssphäre der Person zuzuordnen. Denn die Person so ließe sich argumentieren - will sich hier nicht nach außen entfalten, sondern lediglich von äußeren Beschränkungen verschont bleiben. Doch eine solche Sichtweise könnte allenfalls fur solche Selbstverfugungen zutreffend sein, die die Person ohne jede Bezugnahme auf das Verhalten Außenstehender selbst realisiert, wie dies etwa beim Suizid der Fall sein kann. Der Bereich solcher Privatheit wird aber dort verlassen, wo die selbstverfügende Entscheidung an das Verhalten eines Außenstehenden anknüft oder die Einbeziehung eines Außenstehenden sogar in der Weise vorsieht, daß dieser die Verletzungshandlung selbst vornehmen soil. Geht es um die rechtliche Bedeutsamkeit der Entscheidung mit Blick darauf, ob ein Dritter sie rechtmäßig erleichtern oder ermöglichen darf oder sich rechtmäßigerweise an ihr orientieren kann, so geht es um die Entfaltung der Person in ihren äußeren Verhältnissen, nämlich darum, ihre rechtlichen Beziehungen zu anderen 120
121 122
Es ist also unzutreffend, wenn nach Schwabe, JZ 1998, 68 die fursorgerischen Eingriffe des Staates zum Schutz des Menschen vor sich selbst „durchweg aus Verboten oder Geboten" bestehen. Nicht nur im Verbot, über eigene Giiter zu verfligen, liegt ein staatlicher Eingriff, sondern er liegt auch dann vor, wenn der Staat interpersonalen Erklärungen ihre rechtliche Wirksamkeit versagt. Vgl. Bottke, GA 1982, 348 ff.; Ostendorf, GA 1984, 318 f. BVerfGE 54, 148, 153 (Eppler).
III. Die grundrechtliche Verankerung der Verfiigungsfreiheit
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Menschen zu gestalten. Es bleibt danach angemessen, die Selbstverfugungsfreiheit (jedenfalls soweit andere in deren Realisierung einbezogen werden) der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 1 Abs. 1 GG zuzuordnen. Auch wo im Ausgangspunkt die Interpretation des Schutzbereiches von Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit prinzipiell akzeptiert wird, werden teilweise Ausnahmen bezogen auf Selbstverfiigungen über das Lebensrecht und auch bei Selbstverstilmmlungen fur richtig gehalten123. Überzeugen können diese Einschränkungen des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG nicht124: Dabei ist es von vornherein ausgeschlossen, aus der in Art. 2 Abs. 2 GG zum Ausdruck gebrachten Achtung vor dem Leben eine staatliche Berechtigung dafilr herzuleiten, dem Rechtsgutsträger die Verfugungsbefugnis über sein Leben abzusprechen125. Derm damit wird das Lebensrecht unversehens in eine Lebenspflicht umgedeutet. Der Abwehranspruch und auch der Schutzanspruch gegen den Staat verkehren sich in eine Last, die dem Einzelnen mit Rücksicht auf ein Werturteil auferlegt wird, das er selbst bezogen auf sein eigenes Leben nicht teilt. Es werden bestimmte unwertige Verhaltensweisen dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG entzogen und damit wiederum die Einwände heraufbeschworen, die oben gegen die Persönlichkeitskerntheorie geltend gemacht worden sind126. Nun gibt es freilich auch Bemilhungen, dieses Werturteil von der Person her zu begründen. Entsprechende Überlegungen sind bereits im Rahmen der rechtsphilosophischen Grundlegung - vornehmlich in Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Michael Köhler - behandelt worden127. Der zugrundeliegende Gedanke ist regelmäßig der, daß das Leben als „vitale Basis" der Menschenwürde Möglichkeitsbedingung von Autonomie sei und ein Verfugungsrecht über das Leben deshalb nicht aus dem Selbstbestimmungsrecht begriindet werden könne, weil die Person hier im Gegenteil „selbstwiderspriichlich Daseinsbedingungen entgegenhandelt, auf denen moralisch, pragmatisch freie Subjektivität substantiell beruht"128. Da dieser Gedanke wohl iiberwiegend nicht schon bei der Konturierung des Schutzbereichs, sondern erst bei den Schrankenbestimmungen von Art. 2 Abs. 1 GG verortet wird und es fur die Sachfragen nicht auf den Standort von de123 124
125 126 127 128
Dazu Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 85 ff. So auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 104. Allerdings sind die Kritiken an einer Freiheit zu Suizid und Selbstverstümmlung häufig so allgemein, daß schwer erkennbar ist, ob sie sich auf den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG oder auf dessen Schranken beziehen. So aber Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 12. Zutreffend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 89 f. Siehe oben 2. Teil, IV. 2. b) aa). Im verfassungsrechtlichen Zusammenhang dazu Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 90 ff., 267 ff. Michael Köhler, ZStW 104 (1992), 18 f; ders., Rechtsphilosophische Hefte 1 (1992), 92.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz ren Behandlung ankommt, sollen diese Fragen bis zur Behandlung der Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG (dazu sogleich) zurückgestellt werden.
Festzuhalten bleibt damit insoweit, daß auf der Grundlage einer Interpretation, derzufolge Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit schützt, auch selbstverfugendes Verhalten dem Schutzbereich dieser Vorschrift unterfällt129.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit Die Entscheidung über den Rahmen rechtlicher Handlungsfreiheit fällt nicht bei der Bestimmung des Schutzbereichs, sondern bei der Frage nach dessen Einschränkbarkeit. Ein Begriff von allgemeiner Handlungsfreiheit bezeichnet damit noch keine rechtliche Freiheit, ist in diesem Sinne vielmehr unvollständig, weil gerade die soziale Dimension, die als immanenter Zug menschlicher Freiheit bei der Erörterung des Menschenbildes aufgewiesen worden war, in dem weiten Freiheitsbegriff, wie er ftir den Schutzbereich zugrundegelegt worden ist, nicht vorkommt. Rechtliche Freiheit ist erst das „definitiv Geschützte"130, das in der Zusammensicht mit den Schranken seine Konturen erhält. 1st der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG fur selbstverfugende Verhaltensweisen eröffhet, so besteht diese Freiheit innerhalb der Schranken, die durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz gezogen sind. In der Rechtsprechung und in jiingerer Zeit zunehmend auch in der verfassungsrechtlichen Literatur wird die Frage diskutiert, ob und inwieweit sich im Staat des Grundgesetzes Grenzen der Freiheit zur Selbstverfügung legitimieren lassen. Als Legitimationsgrundlage wird innerhalb der Schrankentrias zum einen die Sozialbindung angefuhrt (dazu 3.) und zum anderen werden Begrenzungen um des Schutzes der iiber sich selbst verfugenden Person willen aus den Grundrechten entwickelt, wobei insoweit zwischen von Defiziten freien (dazu 1.) und defizitären (dazu 2.) selbstverfligenden Entscheidungen zu differenzieren ist.
1.
Der Schutz des (nicht defizitär entscheidenden) Menschen vor sich selbst
Soweit Grenzen der Verfugungsfreiheit diskutiert werden, die sich daraus ergeben sollen, daß der Mensch um seiner selbst willen in seiner Verfugungsfreiheit eingeschränkt ist, können sich solche Grenzen offensichtlich nicht aus der Sozialbindung ergeben. Sie können demnach nicht anders gedacht werden als als immanente, bereits im Begriff der Selbstbestimmung angelegte Grenzen, die, wenn man die Terminologie des BVerfG in der Menschenwürdeformel zugrundelegt, im „Eigenwert" des Menschen angesiedelt sind. Der Grundgedanke solcher Beschrän129 130
BVerfG, NJW 1999, 3399, 3401. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 343.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfilgungsfreiheit
241
kungen muß danach stets darin liegen, daß Entscheidungen der Person denkbar sind, die diesen Eigenwert verfehlen. In der verfassungsrechtlichen Judikatur und Literatur sind verschiedene Ansätze zur Legitimierung von Freiheitsbeschränkungen um des Schutzes des Betroffenen selbst willen entwickelt worden. Ansätze, die bereits beim Schutzbereich der in Betracht kommenden Grundrechte ansetzen, sind oben (III.) bereits zuriickgewiesen worden. Art. 2 Abs. 1 GG nennt als Schranken die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Sieht man durch Art. 2 Abs. 1 GG mit der allgemeinen Handlungsfreiheit den denkbar weitesten Schutzbereich eröffhet, so hat dies auch Konsequenzen fur den Umfang der Schranken. Das BVerfG hat sich „fur die angesichts der Geltung des Grundgesetzes weiteste aller möglichen Schrankenklauseln entschieden"131, indem es ,jede formell und materiell verfassungsmäßige Rechtsnorm" als Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung akzeptiert132. Diese Interpretation hat zugleich zur Folge, daß neben der verfassungsmäßigen Ordnung die anderen Schranken (zumindest: weitgehend)133 obsolet werden. Das gilt jedenfalls fur die „Rechte anderer", denn zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören auch die Normen, die solche Rechte begriinden134. Aber auch ein 131
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 312.
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BVerfGE 6, 32, 37 ff. Vgl. etwa Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rn. 3 1 ; Starck, in: F S fur Geiger, S. 262. Freilich weichen die Auffassungen in der Verfassungsrechtslehre erheblich voneinander ab. So will etwa Degenhardt, JuS 1990, 164 f., die Rechte anderer und das Sittengesetz im Rahmen der Abwägung berücksichtigen, die zur Beantwortung der Frage erforderlich ist, o b die verfassungsmäßige Ordnung eine Einschränkung der Handlungsfreiheit erlaubt. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, G G I, Art. 2 Rn. 31 ff. weist auf das tradierte „besondere Pathos" der „Rechte anderer" und auf die klare Feststellbarkeit der Verletzung solcher Rechte hin u n d sieht (Rn. 3 9 ) die Funktion der „Rechte anderer" wie des Sittengesetzes nur noch darin, „an die Menschenrechtstradition zu erinnern" (auch schon ders., in: F S fur Geiger, S. 273). Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 2 8 sieht die anderen Schranken durch eine weit gefaßte Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung nicht abgewertet, vielmehr seien die Schranken „nur in ihrer gegenseitigen Verschränkung zu einer sinnvollen Einheit zu verstehen". Degenhardt, JuS 1990, 164; Isensee, in: F S für Heckel, S. 745; Kunig, in: G G - K o m mentar, Bd. 1, Art. 2 Rn. 19; Sachs, Verfassungsrecht II, B 2 Rn. 28. Wenn dagegen Kai Fischer, D i e Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 201 ff, als Schranke der Handlungsfreiheit bei Selbstschädigungen gerade die „Rechte anderer" intensiv diskutiert, so begründet dies keinen Unterschied in der Sache. Allerdings ist Fischer (a.a.O., S. 255) insoweit zuzustimmen, als mit den „Rechten anderer" ein raaterialer Aspekt als Grundlage fur die Einschränkung der Handlungsfreiheit explizit genannt ist. Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 61 ff. nimmt unter Heranziehung des Gedankens der Spezialität eine Sperrwirkung der Schranke der Rechte anderer im Verhältnis zur Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung an. D a sich ein aufgedrängter staatlicher Schutz vor sich selbst nicht unter die Schranke der Rechte anderer subsumieren lasse, könne auch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung insoweit
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
„Sittengesetz" wird mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes die allgemeine Handlungsfreiheit nur insoweit einschränken können, wie der Gesetzgeber seiner Anerkennung Ausdruck verliehen hat - und es damit Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung geworden ist135. Das wird bei nahezu alien praktisch nur einigermaßen bedeutsamen Fragen, iiber deren Behandlung ein gesichertes sittliches Urteil der Gesellschaft feststellbar ist, der Fall sein136. Deshalb wird vielfach ein eigenständiger Gehalt dieser Schranke negiert137. Soweit der Schranke des Sittengesetzes eigenständige Bedeutung beigemessen wird, zielt sie meist nicht auf den Schutz des Menschen um seiner selbst willen138, sondern auf die Einhaltung der Sitten im Interesse der Allgemeinheit; insoweit ist diese Schranke unter 3. zu thematisieren.
a) Grenzen aus der Schutzpflichtenlehre? Eine Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit zum Schutze des Betroffenen selbst könnte sich also insbesondere aus der verfassungsmäßigen Ordnung ergeben, derm insoweit ist es immerhin denkbar, daß eine verfassungsmäßige Rechtsnorm den Schutz des Menschen vor sich selbst verordnet. Das ware der Fall, wenn sich aus dieser Ordnung ein Recht - oder sogar eine Pflicht - des Staates zum Schutz des Menschen vor sich selbst ergeben wilrde. Prinzipiell unbestritten ist ein Recht des Staates, den Burger vor Übergriffen anderer Burger zu schiitzen. Dieses Recht ist die Vorbedingung fur die Erfullung der staatlichen Aufgabe, Sicherheit der Burger voreinander zu garantieren, die in der staatstheoretischen Tradition als primäre Legitimation staatlicher Gewalt überhaupt ausgewiesen wurde139. Recht kommt im Staat nur dann zur Wirklichkeit, wenn der Übergriff in fremde Freiheitssphären vom Staat nicht geduldet wird. Das BVerfG hat eine Pflicht zum Eingreifen in Form der sogenannten Schutzpflichtenlehre aus den Grundrechten ent-
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keine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit tragen (ein Ergebnis, das wie der Text zeigen wird - auch ohne Riickgriff auf die problematische Sperrwirkung richtig ist). Degenhardt, JuS 1990, 164; Sachs, Verfassungsrecht II, B 2 Rn. 32; Starck, in: FS für Geiger, S. 274; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 60. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 19; Kunig, in: GG-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 Rn. 26, 28. So z.B. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 228; Hillgruber, Der Schutz, S. 172; Isensee, in: FS für Heckel, S. 745; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 19; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 32. Siehe aber Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 27; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 111 Rn. 115. Sachs, Verfassungsrecht II, A 4 Rn. 28 f; dazu auch Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichenn Schutzpflichten, S. 21 ff; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 181 ff; Enders, Die Menschenwürde, S. 346 f; Gusy, DÖV 1996, 576 f; Deshalb kann man auch sagen, daß die Drittwirkung eigentlich die erste Geltungsebene der Grundrechte ist; so Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 74. Siehe auch oben II.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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wickelt: „Die Freiheitsgrundrechte (...) schiitzen nicht nur vor Eingriffen der Staatsgewalt in eine dem Individuum verbürgte Freiheitssphäre. Vielmehr verpflichten sie den Staat auch, diese Freiheitssphäre zu schiitzen und zu sichern. In dieser Schutzpflicht entfaltet sich der objektive Gehalt des Grundrechts"140. Die einzelnen Grundrechte - wie etwa das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG - entfalten bei dieser Sichtweise nicht nur eine abwehrrechtliche Dimension gegen den Staat, sondern ihnen kommt eine objektiv-rechtliche Dimension im Sinne einer objektiven Wertordnung zu, deren Achtung und Verwirklichung dem Staat durch Schutz der Burger vor Beeinträchtigungen ihrer Grundrechtsgüter obliegt. Verschiedentlich wird die Schutzpflicht auch aus dem Menschenwürdegehalt der Einzelgrundrechte unter Verweis auf die in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG positivierte Pflicht zum Schutz der Menschenwürde entwickelt141. In diesem Sinne hat das BVerfG die Schutzpflicht zugunsten des werdenden Lebens nicht (nur) aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitet, sondern wegen des Menschenwiirdegehalts des Lebensrechts auch in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verankert gesehen142. Schließlich wird vereinzelt auch versucht, Schutzpflichten des Staates aus einer Mitverantwortung fur Grundrechtseingriffe durch Private zu begriinden („abwehrrechtliche Schutzpflichtbegrilndung")143- Trifft den Staat nämlich Mitverantwortung an Grundrechtseingriffen durch Private, dann erhält sein Verhalten die Qualität eines Eingriffs und die „Schutzpflicht" läßt sich so unmittelbar aus der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte herleiten144. Dem Staat wird das Verhalten der Privaten also letztlich als eigener Eingriff zugerechnet. Diese Überlegung liegt vor allem dort nahe, wo der Staat durch eine Genehmigung die rechtlichen Voraussetzungen fur einen Eingriff geschaffen hat. Der Mitverantwortungsgedanke wird iiber solche Konstellationen der expliziten Genehmigung eines Verhaltens aber auch generell auf unverbotenes Verhalten ausgedehnt, wenn man der Auffassung ist, daß der Staat letztlich fur jedes unverbotene Verhalten, gegen das sich der einzelne Burger wegen des staatlichen Gewaltmonopols nicht zur Wehr setzen darf, Mitverantwortung trägt. Die Mitverantwortung
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BVerfGE 92, 26,46; siehe aus der Literatur etwa Hesse, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Rn. 49 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 198; zusammenfassend Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 51 ff.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 179 ff.; Gusy, DÖV 1996, 573 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 378 ff; Pietrzak, JuS 1994, 748 ff. Entsprechend zur EMRK der EGMR, NJW 2002, 2851 f. Dazu Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 97 ff, 183 f.; 198. BVerfGE 39, 1, 41 (Schwangerschaftsabbruch I); 88, 203, 251 (Schwangerschaftsabbruch II). Murswiek, Die staatliche Verantwortung fur die Risiken der Technik, S. 107; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff; zusammenfassend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 415 ff; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 35 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 185 ff. Vgl. auch Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Rn. 3.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
ergibt sich dann daraus, daß der Staat ein Verhalten nicht verboten hat, obwohl ein solches Verbot allein in seiner Kompetenz gelegen hätte145. Die Schutzpflichtenlehre ist freilich, unabhängig davon, wie eine staatliche Schutzpflicht (bzw. - nach der letztgenannten Konzeption - ein privater Abwehranspruch, auf den der Staat gegebenenfalls durch Neutralisierung des ihm zurechenbaren Eingriffs reagieren müßte) begründet wird, auf die Begriindung staatlicher Pflichten zum Schutz grundrechtlicher Positionen hin konzipiert. Im vorliegenden Zusammenhang geht es dagegen um die Begriindung eines staatlichen Eingriffsrechts zum Schutz des Grundrechtsträgers. Es ist aber offenkundig, daß etwaigen Schutzpflichten des Staates stets ein Recht korrespondieren muß, zur Erfullung dieser Aufgabe auch in Freiheitsrechte - zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG - einzugreifen146. Ein solches Recht wird sogar in einem weiteren Umfang bestehen und sich nur in einem engen Rahmen zu einer Schutzpflicht verdichten 147 . Es stellt sich freilich die Frage, ob das Recht des Staates, zum Zwecke des Schutzes seiner Burger in Freiheitsrechte einzugreifen, auch dann besteht, wenn diese Befugnis den Burger nicht vor Übergriffen von anderen schtitzen, sondern dem Schutze des Betroffenen vor sich selbst dienen soil. Es wiirde dann in das Freiheitsrecht eben der Person eingegriffen, die Träger des geschiltzten Rechts ist148. Tatsächlich ist eine solche Schutzpflicht bzw. ein entsprechendes Recht des Staates insbesondere hinsichtlich der Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität verschiedentlich auch zugunsten des Grundrechtsträgers bejaht worden, der über
Kritik an diesem Konzept bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 415 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 188 ff. Mit einem liberalen Verständnis von Freiheit ist die abwehrrechtliche Schutzpflichtbegrtindung nicht kompatibel, wenn auch die Betonung der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension dies auf den ersten Blick nahezulegen scheint. Denn die Zurechnung von Eingriffen unter Privaten setzt voraus, daß jede Freiheit nur eingeräumt ist und deshalb der Staat fur ihre Ausiibung Verantwortung trägt. Staatsfreie soziale Beziehungen sind damit ausgeschlossen. Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 67; Hillgruber, Der Schutz, S. 148; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 228; Jarass, AöR 110 (1985), 382 ff.; Schwabe, JZ 1998, 70. Zum verbleibenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei bestehenden Schutzpflichten siehe BVerfGE 46, 160, 164 f. (Schleyer); 92, 26, 46 (Zweitregister); Jarass, AöR 110 (1985), 383. Weder begründet noch plausibel ist dagegen die Behauptung von Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 57, die Existenz einer Schutzpflicht sei „eine unerläßliche Voraussetzung fur einen Einsatz des Strafrechts". Das würde bedeuten, daß dort, wo der Staat nicht zu Maßnahmen zum Schutze der Burger verpflichtet ist, dazu auch kein Recht bestünde. Z.B.: Wenn man einmal von der naheliegenden Annahme ausgeht, der Staat sei nicht verpflichtet, die Inhaber von Selbstbedienungsgeschäften vor Ladendiebstählen zu schiitzen, dann ware eine entsprechende Strafvorschrift verfassungswidrig! Siehe Lorenz, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 128 Rn. 61.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit
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dieses Rechtsgut verfligen will149' 15°. Hinter solchen Annahmen steht meist ein Verständnis, daß die Schutzpflichtenlehre aus der objektiven Dimension der Grundrechte entwickelt und diese als Ausprägung des grundrechtstheoretischen Konzepts einer materialen Wertlehre begreift151. Von einem solchen Ansatz wird die selbstverfugende Entscheidung regelmäßig als Verletzung der objektiven Wertordnung angesehen. Eine Zuriicknahme der Schutzpflicht ist dann allenfalls denkbar, wenn auch die formale Freiheit als Wert in dem Wertordnungsgefiige angesehen wird152 und sich diese Freiheit in concreto gegen konkurrierende Werte (wie etwa den des Lebens) durchsetzt. Doch mit der Orientierung an einer inhaltserftlllten Wertordnung strebt eine Werttheorie gerade eine Entformalisierung an und materialisiert folglich den Freiheitsbegriff in dem Sinne, daß Freiheit nur in-
BGHSt 46, 279, 285; BGH, NJW 2002, 2326, 2327; Duttge, in: GS für Schlüchter, S. 783 f.; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 13 ff., 90; Tröndle, ZStW 99 (1987), 38. Zusammenfassend m.w.N. Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, S. 41 f. Siehe auch Hufen, NJW 2001, 855, der aber die Schutzpflicht nicht unmittelbar zugunsten des Einzelnen aktiviert, sondern zu den Rechtsgiitern der Allgemeinheit zählt. Aus philosophischer Sicht fur solche Schutzpflichten Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 54. Dabei geht Hösle insofern besonders weit, als er diese Schutzpflichten nur durch Strafbewehrung des rechtsgutsgefährdenden Verhaltens gewahrt sieht und zu den zu verbietenden Verhaltensweisen neben der Tötung auf Verlangen auch die Anstiftung und Beihilfe zum Suizid zählt. Für ein Recht des Staates, die Selbsttötung zum Schutz des Suizidenten vor sich selbst zu verbieten, Wilms/Jäger, ZRP 1988, 43 (gegen diese auch Reinhard Merkel, Friiheuthanasie, S. 398). Haltbar ist deren Argumentation nicht: auf der einen Seite sehen sie, daß der Schutz des Menschen vor sich selbst „allein keine hinreichende Legitimation sein" könne, „die menschliche Freiheit zu begrenzen". Hinzukommen miisse, daß die getroffene Entscheidung irreversibel sei und es sich um ein besonders wichtiges Rechtsgut handelt. Doch ist diese Charakterisierung der Ausnahme, die freilich auf Verfügungen über das Lebensrecht zutrifft, noch kein rechtliches Prinzip, das die Zulässigkeit des Schutzes der Person vor sich selbst plausibel machen könnte. Warum gerade das Gewicht der Entscheidung prinzipiell unerlaubten Paternalismus zulässig machen soil, bleibt so unaufgeklärt und auch die in Bezug genommene Entscheidung des BVerfG (E 60, 123, 132, Transsexuellenentscheidung) bietet keine ausschließlich am Gewicht der Entscheidung orientierte Begrilndung, da es dort um die Berechtigung zur Einfiihrung einer Altersgrenze ging, die der Vermeidung voreiliger - also letztlich defizitärer - Entscheidungen dienen sollte. Zu diesem Zusammenhang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 161 ff. Dagegen sieht sich Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 49 ff. freilich in der Tradition Hegels. Vgl. Jarass, AöR 110 (1985), 368. Wieder anders Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 269 f., der zwar die grundrechtliche Wertfunktion herausstellt, aber die Eigenständigkeit einer verfassungsgesetzlich positivierten Wertfunktion gegeniiber philosophischen Wertlehren betont (S. 126 ff.) und mit Blick auf die Wortlautinterpretation und die historisch-genetische Interpretation der Grundrechtssätze von einem Primat der abwehrrechtlichen Funktion ausgeht.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
soweit grundrechtlich geschiitzt ist, wie sie der Wertverwirklichung dient153. Damit ist prinzipiell die Möglichkeit eröffhet, den Grundrechtsträger im Dienste seiner werthaft begriffenen Freiheit vor wertwidrigen Verhaltensoptionen, zu denen meist etwa auch Verfugungen iiber das eigene Leben gerechnet werden, zu schützen. Die Begrilndung einer Schutzpflicht zugunsten des Lebens eines Sterbewilligen unter Hinweis auf die objektive Wertordnung, in der das Leben nach Art. 2 Abs. 1 GG einen Höchstwert einnehme, haben sich in der Rechtsprechung etwa der BGH154, das VG Karlsruhe155 und das BayObLG156 zu eigen gemacht. Überzeugen kann die Annahme einer staatlichen Schutzpflicht gegen den Willen des Grundrechtsträgers nicht157. Die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension ware so in den praktischen Auswirkungen zumindest partiell - vom theoretischen Ansatz her sogar grundsätzlich - ausgehebelt158. Nimmt man die Frage, ob ein Recht des Staates zu Eingriffen in die Handlungsfreiheit um des Schutzes des Menschen vor sich selbst willen besteht, von den oben dargestellten Grundlagen der Schutzpflichtenlehre auf159, so bestätigt sich die Unhaltbarkeit der Annahme einer Schutzpflicht zugunsten des Menschen vor sich selbst. Wie erwähnt, folgt die Legitimität von Schutzpflichten (und -rechten) fur eine staatstheoretische Ableitung unmittelbar aus der Legitimität staatlichen Zwanges überhaupt. Hängt die Zulässigkeit staatlichen Zwanges von dessen Erforderlichkeit fur die Herstellung von Sicherheit der Burger untereinander ab, dann trägt diese Begrilndung nur soweit, wie staatliche Eingriffe die Sicherheit des Burgers vor fremden Übergriffen bezwecken. Filr den Schutz vor sich selbst bedarf der Burger hingegen nicht des Staates, sondern er kann - weil und soweit er Verniinftiger ist - durch eigene Entscheidung Verletzungen und Gefährdungen'60, die er sich selbst zufiigt, vermeiden. Dient der Staat also nicht dem Schutz des Einzelnen 153 154 155 156 157
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Dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 129 ff. BGHSt 46, 279, 285; BGH, NJW 2003, 2326, 2327. VG Karlsruhe, JZ 1988, 208, 209. BayObLG, NJW 1989, 1815, 1816. So auch Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 105 ff., 132 ff.; Ostendorf, GA 1984, 315 f.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 199; Hillgruber, Der Schutz, S. 148; Schwabe, JZ 1998, 70. Bezogen auf die Fälle der Einwilligung, in denen der Erfolgseintritt vom Vorsatz des Einwilligenden gedeckt ist, auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 33 ff., auch schon 22 f. (zur abweichenden Behandlung der Risikoeinwilligung durch Sternberg-Lieben siehe noch unten); ders., JZ 2002, 155; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 40 ff. Kritisch bezogen auf die Rechtsprechung des EGMR Faßbender, Jura 2004, 119. Als „Nebenordnung und Eigenständigkeit des objektivrechtlichen gegenüber dem subjektivrechtlichen Gehalt" der Grundrechte (Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 180) diirfte eine solche Position also kaum konsequent durchgehalten werden können (siehe denn auch Böckenförde, a.a.O., S. 198). Auf die zusätzliche Schwäche, die in Auffassungen liegt, die dem Menschen die Verwirklichung bestimmter werthafter Inhalte aufgeben, wird noch unten (b) einzugehen sein. Z u den „Gefährdungen" siehe noch sogleich.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfligungsfreiheit
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vor sich selbst, dann kann die staatstheoretische Ableitung von Schutzpflichten bzw. -rechten Grenzen der Handlungsfreiheit zum Schutz des Menschen vor sich selbst nicht legitimieren. Das gleiche gilt fur die Konzeption des BVerfG, das seine Schutzpflichtenlehre aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte entwickelt. Derm auch diese Grundrechtsinterpretation soil nicht den zu Schützenden selbst in seiner Handlungsfreiheit beeinträchtigen, sondern sie soil - nach zutreffendem Verständnis, siehe unten - dessen Freiheitsraum gerade sichern und so schließlich auch die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte flankieren und verstärken161. Der Gehalt der einzelnen Grundrechte wilrde geradezu umgekehrt, wenn sich die Schutzpflichtenlehre in der genannten Weise gegen die Freiheit des Grundrechtsträgers wenden ließe162. So wiirde etwa aus dem „Recht auf Leben" aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine „Pflicht zum Leben"163, soweit es dem Staat nur tatsächlich möglich ist, die Realisierung lebensbeendender Entscheidungen des Einzelnen zu verhindern164. Das Recht des Staates, zum Schutze der Burger in Freiheiten einzugreifen, kann sich also nicht auf solche Freiheitseinschränkungen beziehen, die gerade den von ihnen betroffenen Burger schiitzen sollen165. Versteht man „Schutzpflichten" schließlich als Reaktion auf einen abwehrrechtlichen Anspruch des betroffenen Burgers gegen einen dem Staat zurechenbaren Eingriff durch einen anderen Privaten, so lassen sich Freiheitseinschränkungen allenfalls insoweit begriinden, wie aus Sicht des betroffenen Burgers ilberhaupt von einem Eingriff durch den Privaten die Rede sein kann. 1st dessen Verhalten konsentiert, so läßt sich ein Verbot dieses Verhaltens aus einem Abwehrrecht des betroffenen Burgers nicht konstruieren. Der Gedanke, daß die Zurechnung solcher Eingriffe Privater als solche des Staates die Bewilligung in den Bereich des Grundrechtsverzichts rücken könnte, wird an diesem Ergebnis nichts ändern können. Werden Schutzpflichten endlich aus dem Menschenwiirdegehalt der Einzelgrundrechte entwickelt, stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit die Menschenwürde des Einzelnen dessen Selbstverfugungsfreiheit einzuschränken vermag (dazu b). 161
Vgl. BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth); 35, 79, 114 ff. (Gruppenuniversität); 50, 290, 337 (Mitbestimmung); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 229 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 176, 269 f.; Hillgruber, Der Schutz, S. 77, 79 ff., 148; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 182, 198 f.; Robbers, Sicherheit, S. 221; ferner Stern, in: Handbuch des Staatsrechts V, § 106 Rn. 39. 162 Prinzipiell gegen die Ableitung von Eingriffspflichten aus den in den Grundrechtsnormen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen, weil so „die Grundrechte unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fiille von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden" könnten, Rupp-v. Brünneck und Simon in ihrem Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 73 (Schwangerschaftsabbruch I). 163 Im Sinne einer solchen Pflicht ernsthaft Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 817. 164 Es ist deshalb zutreffend, wenn Zippelius, JuS 1983, 661 die Vorschrift des § 216 StGB jedenfalls nicht in ihrem vollen Umfang fur verfassungsrechtlich geboten halt. 165 A.A. aber etwa Kunig, in: GG-Kommentar, Art. 2 Rn. 50.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Es versteht sich von selbst, daß den genannten rationes fur eine Begrilndung von Schutzpflichten die Tragfähigkeit nicht nur dort fehlt, wo sich die selbstverfugende Entscheidung einer Person auf den Eintritt des Verletzungserfolgs erstreckt, sondern auch dort, wo die Person lediglich mit der Eingehung eines Risikos einverstanden ist, aber trotz voller Kenntnis der Gefahren (also nicht aufgrund einer defizitären Entscheidung166) auf ein Ausbleiben des Erfolges vertraut. In solchen, der bewußten Fahrlässigkeit vergleichbaren Fallen der sogenannten Risiko-Einwilligung, hat allerdings Sternberg-Lieben die Auffassung vertreten, die staatliche Schutzpflicht bleibe deshalb bestehen, weil es „an einer Verwirklichung individueller Selbstbestimmung über die Rechtsgilter durch deren Preisgabe" gerade fehle167. Die unterschiedliche Behandlung beider Institute stehe deshalb mit der in Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG gesicherten Autonomie in Einklang168. „Wenn auch kein Recht dazu besteht, einen vollverantwortlich in die Beeinträchtigung seiner Güter Einwilligenden vor den Konsequenzen seiner Freiheitsausübung mit den Mitteln des Strafrechts zu bewaluw"\ so besteht angesichts der staatlichen Schutzpflicht fllr die grundrechtlich geschützten Güter auch eines sich bewußt gefährdenden Opfers keine Veranlassung, bei fehlender Preisgabe des Gutes von vornherein strafrechtlichen Schutz zu versagen. Es handelt sich hierbei nicht um einen unzulässigen aufgedrängten Schutz vor sich selbst: Der zu Schiitzende will ja gar nicht in Ausiibung seiner grundrechtlich geschiitzten Autonomie seine Rechtsgüter preisgeben, er geht ja gerade von einem 'guten Ende' aus"169. Das Festhalten an strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Täters im Falle eingetretener Verletzung sei um des Rechtsgtlterschutzes des im Vertrauen auf den guten Ausgang „eher"170 einwilligenden Opfers auch mit Blick auf die „edukatorische Funktion der fur den Umgang mit fremden Rechtsgütern bestehenden Sorgfaltspflichtengeboten"171. Aber Selbstbestimmung wird auch dort ausgeiibt, wo die Person letztlich nicht die Preisgabe ihres Gutes wünscht, sondern sich lediglich fur die Eingehung eines Risikos entschieden hat. Staatlicher Schutz vor solchen Risikoentscheidungen läßt sich unabhängig von dem favorisierten Hintergrund der Schutzpflichtenlehre nicht legitimieren. So kann ein auf die Herstellung von Sicherheit unter den Bürgern begrenzter Staat nicht beanspruchen, diese Sicherheit auch dort herzustellen, wo der Einzelne sich fiir die Eingehung des Risikos entschieden hat (und damit für seine Sicherheit nicht auf den Staat angewiesen ist, sondern dies einfach durch Nichtein166 167
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Zu Unklarheiten in diesem Punkt siehe im folgenden Text. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 221 f.; ebenso Rönnau, Willensmängel, S. 194 f. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 222. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 222; ähnlich Fiedler, Fremdgefährdung, S. 69, 74. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 222; gemeint ist damit die auf die „sozialpsychologischen Erkenntnisse der Risikoforschung" und die „Attributionsfehlerferforschung" gegründete Einsicht, daß Risikoentscheidungen vom Opfer häufig nicht rational getroffen wiirden; dazu Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 220 f. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 222.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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gehung des entsprechenden Risikos erreichen kann). Und auch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte wilrde in ihr freiheitsvernichtendes Gegenteil verkehrt, wenn aus dem grundgesetzlich gesicherten Achtungsanspruch eines Gutes ein Verbot zum Schutze des Gutsträgers entwickelt würde, dieses Gut einem Risiko auszusetzen. Der - von Sternberg-Lieben grundsätzlich zurückgewiesene - paternalistische Zug seiner Überlegungen ist ebensowenig zu übersehen wie der Bruch zu der sonst172 von ihm bevorzugten normativen Interpretation der persönlichen Voraussetzungen von Opferautonomie173. Schließlich dürfte der Umstand, daß das Opfer in seinem Vertrauen auf den guten Ausgang mit seiner Risiko-Einwilligung möglicherweise keine rationale Entscheidung getroffen hat, in der Konzeption Sternberg-Liebens keine Rolle spielen, weist er doch auch sonst jede „Vernunftkontrolle" von Opferentscheidungen zurück174. 1st aber die Einwilligung in das Risiko selbstbestimmte Entscheidung des Opfers und halt sich der Täter mit seinem Verhalten im Rahmen dieser Entscheidung, so bleibt die strafrechtliche Sanktionierung des bewilligten Täterverhaltens staatliche Bevormundung.
b) Freiheitsschranken aus dem Schutz der Menschenwürde? Während die allgemeine Schutzpflichtenlehre des BVerfG die Pflicht (und das Recht) zum staatlichen Schutz der Burger aus allgemeinen Lehren zur Wirkung der Freiheitsgrundrechte zu entwickeln sucht, enthält Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eine ausdrilckliche Verpflichtung des Staates, die Wilrde des Menschen „zu achten und zu schiitzen"175. Damit kommt diese Vorschrift - als Teil der verfassungsmäßigen
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Siehe dazu Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 45 f mit Anm. 74, 76. Die zitierte Auffassung leidet zunächst darunter, daß in seinen Überlegungen in undeutlicher - letztlich aber wohl nicht tragender - Weise der Gedanke eine Rolle spielt, daß bei der Eingehung von Risikoentscheidungen in der Hoffnung auf ein „gutes Ende" vielfach eine Unterschätzung des Risikos eine Rolle spielt (siehe Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 222 mit Fn. 119, 120). Damit ware in Fallen, in denen tatsächlich die Einwilligung in die Eingehung eines Risikos aufgrund einer Fehlvorstellung über dessen Größe erfolgt ist, die Relevanz dieses Defizits fur die Wirksamkeit der Einwilligung zu diskutieren. Dieses Problem der Behandlung defizitärer Willenserklärung ist aber ein Sonderproblem, das nicht mit dem der Risiko-Einwilligung identifiziert werden kann. Vgl. auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 249: „das Grundgesetz garantiert mithin die Freiheit, die Risiken eines Handelns selbst einzuschätzen und Eigengefahrdungen so wie -verletzungen hinzunehmen". Der Riickgriff auf ein Konzept der objektiven Wertordnung zur Begriindung von Schutzpflichten ist damit - infolge der Positivierung - überflüssig; siehe GeddertSteinacher, Menschenwiirde als Verfassungsbegriff, S. 93 f. Das ändert freilich nichts daran, daß entsprechende materielle Begründungen gegeben werden können; siehe etwa Geddert-Steinacher, a.a.O., S. 105 ff. zu einer staatstheoretischen Herleitung der
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Ordnung176 - als Grenze der Freiheit zu selbstverfiigendem Verhalten in Betracht, wenn dieses Verhalten die Menschenwiirde verletzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Wiirdeverletzung von staatlicher oder von privater Seite droht; Art. 1 Abs. 1 GG entfaltet unmittelbare Drittwirkung177. Strikt getrennt werden178 sollte diese Frage von der des sogenannten Grundrechtsverzichts, der üblicherweise dadurch gekennzeichnet wird, daß er auf eine Ermächtigung des Staates179 zum Eingriff in ein grundgesetzlich geschiitztes Rechtsgut abzielt180. Nun wurde bereits in der Darstellung des durch die Menschenwürde geprägten Menschenbildes der Verfassung (oben II.) gezeigt, daß es die Menschenwürde gerade ausmacht, daß sich die Person selbst bestimmt und innerhalb der Grenzen, die durch die Sozialbindung gezogen werden, frei darin ist, auf welche Inhalte hin sie diese Selbstbestimmung ausrichten will. Nur deshalb konnte auch bei der Begrilndung flir die Erstreckung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG auf selbstverfugendes Verhalten gerade die Menschenwiirde in Anspruch genommen werden. Da diese Begrilndung aus der Menschenwiirde auf jede Art (nicht defizitären und
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Schutzpflicht bezogen auf die Menschenwiirde und Huber, Jura 1998, 508 f. zur Herleitung aus den objektiven Wertentscheidungen. Teilweise wird ein unverfugbarer objektiver Gehalt der Menschenwiirde allerdings auch der Schranke des Sittengesetzes zugewiesen; so Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 27; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 111 Rn. 115. Bezogen auf selbstverfugendes Verhalten zu Recht ablehnend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 256 f. Siehe etwa Diirig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 2 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70. Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 399 f. Verschiedentlich wird allerdings auch von einem Grundrechtsverzicht gegenüber Privaten gesprochen; so Robbers, JuS 1985, 930; dazu auch Spieß, Der Grundrechtsverzicht, S. 50 m.w.N. Siehe Amelung, Die Einwilligung, S. 19; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 126 ff.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 200 f.; Hillgruber, Der Schutz, S. 136 f.; Schwabe, JZ 1998, 68; Stemberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 17 mit Fn. 1. Eine Erörterung des Problems bewilligter Eingriffe von Privaten unter dem Begriff des Grundrechtsverzichts legt allerdings die oben im Text erörterte „abwehrrechtliche Schutzpflichtbegründung" (oben a) nahe, die auf der Annahme fußt, unverbotene Eingriffe Privater seien dem Staat als Eingriffe zuzurechnen. Abgesehen von den Schwächen dieser Auffassung (siehe dazu ebenfalls schon oben) diirften die sachlichen Probleme von dieser Einordnung unberührt bleiben. Als Problem des Grundrechtsverzichts ist der Schutz des Menschen vor sich selbst schließlich auch dann zu erörtern, wenn man von einem in den Einzelgrundrechten verankerten Recht auf Schutz ausgeht, auf das der sich selbst Gefährdende dann - gegeniiber dem Staat - verzichtet (so Robbers, Sicherheit, S. 221). Doch impliziert dies - wie Robbers, a.a.O. zutreffend bemerkt - ein Recht auf nicht aufgedrängten Schutz vor Selbstgefährdung, was in dieser Allgemeinheit kaum richtig sein kann.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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nicht sozialschädlichen) selbstverfügenden Verhaltens erstreckt war, ist es nach der vorliegenden Konzeption ausgeschlossen, auf der Ebene der Grundrechtsschranken die Selbstverfiigungsfreiheit mit Blick auf die Menschenwiirde des Betroffenen einzuschränken181. Die entgegengesetzte Annahme, Art. 1 Abs. 1 GG ziehe der allgemeinen Handlungsfreiheit auch jenseits der Sozialbindung Grenzen, setzt einen objektiven Gehalt der Menschenwiirde voraus, der dem Einzelnen gleichsam entgegengehalten werden kann182. Dabei läßt sich eine objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürde freilich gar nicht in Abrede stellen, denn auf anderem Wege ließe sich weder eine Verletzung der Menschenwtirde als solche feststellen noch eine staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwiirde denken183. Auch die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte kntipft an eine vorgängige Bestimmung von Freiheitssphären an, bei deren Verletzung erst die abwehrrechtliche Bedeutung der Grundrechte aktiviert wird184. Mit der Menschenwürdegarantie normiert das Grundgesetz also keine wertneutrale Ordnung, sondern eine solche, die die Achtung vor der Wiirde jedes einzelnen Menschen an den Anfang stellt. Liegt aber Wtirde - wie sie vorliegend verstanden wird - gerade darin, daß die Person ihr eigenes Schicksal bestimmen kann (soweit sie hierdurch andere nicht schädigt) und hierin fremder Willkiir nicht unterworfen ist, so ist es ausgeschlossen, der Person eine von anderer Seite inhaltlich konkretisierte Wiirde als Aufgabe vorzugeben, an deren Verwirklichung sich die Person zu orientieren habe. Der Wertgehalt der Menschenwiirde ist also durch das Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt185: der Mensch in seiner individuellen Freiheit ist der Wert, den das Grundgesetz zum Gegenstand hat. Verselbständigt man hingegen die Wiirde gegenüber der Person, so wird nicht etwa erst hierdurch der Wiirde ein objektiver Gehalt gegeben, sondern vor allem ein gegenüber der vorstehenden Bestimmung anderer Gehalt, wonach nicht die Selbstbestimmung und damit inhaltliche Offenheit, sondern gerade die OrientieSo auch Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 137 ff.; Herdegen, in: Maunz/ Dilrig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 75; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 47 f. So Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 17 f. (zutreffend kritisch Hoerster, NJW 1986, 1792); Duttge, in: GS für Schlüchter, S. 785 f.; Wilms/Jäger, ZRP 1988, 44 (unter Bezugnahme auf die Peep-Show Entscheidung des BVerwG; dazu sogleich im Text). Aus philosophischer Sicht der Sache nach auch Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 49 ff. Danach miisse sich der Mensch der „tierischsten in seiner Natur angelegten Handlungen" unabhängig von deren sozialer Schädlichkeit enthalten, weshalb „der Masochist, der sich etwa von einem Sadisten auspeitschen läßt (...) ohne weiteres bestraft werden" diirfe (S. 50). Zutreffende Kritik an Hösle bei Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 114. Siehe auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 76 ff, der darauf hinweist, daß Grundrechte schon wegen ihrer Qualität als Rechtssätze notwendigerweise einen normativen Gehalt haben, der sich nicht in einer bestimmten Abwehrfunktion erschöpft, sondern vor allem ein Freiheitsverhältnis betrifft. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 55 f; Horst Dreier, Jura 1994, 506 f, 509; Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 74, 79. Vgl. Hillgruber, Der Schutz, S. 126 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
rung an einer inhaltlich bestimmten Lebensform die Wilrde ausmacht. So wird es prinzipiell möglich, die Wtlrde der Entfaltungsfreiheit der Person entgegenzuhalten. Nur dann stellen sich auch die weiteren Fragen, wie der Inhalt der Menschenwiirde zu ermitteln ist und ob und inwieweit der Einzelne einen Eingriff in seine Würde bewilligen kann und ob eine solche Bewilligung die Schutzpflicht oder sogar das Schutzrecht des Staates suspendieren kann. Allerdings legt eine Sichtweise, die - im Widerspruch zu der hier vertretenen Auffassung - den Einzelnen mit einem ihm vorgegebenen Gehalt seiner Wiirde konfrontiert, es nahe, die Handlungsfreiheit bereits ihrem Schutzbereich nach einzuschränken. Denn wenn Art. 1 Abs. 1 GG die Auslegung der nachfolgenden Grundrechte - und gerade auch die der allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG - dirigiert und dementsprechend die Handlungsfreiheit geradezu als Schutz von Objektivierungen des Selbstbestimmungsrechts verstanden wird, dann ist es plausibel, diese Handlungsfreiheit eben auch nur so weit als durch Art. 2 Abs. 1 GG erfaßt zu sehen, wie sie Ausdruck grundrechtlich geschützter Selbstbestimmung ist, also nur in dem Rahmen, den Art. 1 Abs. 1 GG vorgibt.
aa) Kritik eines materiell-wertethischen Menschenwürdeverständnisses am Beispiel der Peep-Show-Entscheidung des BVerwG (E 64, 274) Obwohl der hier vertretene Zusammenhang von menschlicher Wiirde und Selbstbestimmungsfreiheit sich auf einen breiten Konsens stiitzen kann, zeigt sich an gewissen sozialen Belastungsproben die Bereitschaft, den Zusammenhang zu relativieren und damit - möglicherweise unbemerkt - auch die theoretische Grundannahme preiszugeben. Vor allem - aber keinesfalls allein186 - die verwaltungsrechtliche Judikatur hat verschiedentlich unter Hinweis auf die Menschenwiirde selbstverfilgenden Entscheidungen Grenzen gesetzt und aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eine staatliche Pflicht zum Eingreifen hergeleitet 187 . Ein prominentes Beispiel hierfur
Siehe dazu auch noch unten bb). Aus der strafrechtlichen Judikatur etwa BayObLG, NJW 1999, 372, 373. Aus der zivilrechtlichen Judikatur etwa BGHZ 67, 119, 125 (Dirnenlohn). Vgl. auch aus den Beschltissen der Abteilung Zivilrecht des Deutschen Juristentags die Stellungnahme zur Tragmutterschaft, die „gegen die Menschenwiirde der damit instrumentalisierten Frau" verstoße (abgedruckt in NJW 1986, 3070; gegen diese Argumentation zutreffend Steiner, Der Schutz des Lebens, S. 15 f.). Siehe BVerwGE 64, 274, 277 ff. („Peep-Show"; dazu etwa auch VGH Mannheim, NVwZ 1988, 640); VGH München, NVwZ 1992, 76 („Zurschaustellung von Frauen hinter Gittern"); VG Neustadt, NVwZ 1993, 98, 99 („Zwergenweitwurf'; bezogen auf die Verletzung der Menschenwiirde ablehnend Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 47 f. mit Fn. 90). Ähnliche Fragen stellen sich bei der Diskussion um die Menschenwürdewidrigkeit der Fernsehsendung „Big Brother" (dazu etwa Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395 ff. und zu diesem kritisch Köhne, ZRP 2001, 435 f). Vgl. schließlich auch schon Dürig, AöR 81 (1956), 126.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit
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ist die „Peep-Show-Entscheidung" des BVerwG, mit der eine gewerberechtliche Erlaubnis zum Betrieb einer Peep-Show versagt wurde188. Das BVerwG sieht unter Anwendung der Objekt-Formel der in der Peep-Show auftretenden Frau „eine entwtlrdigende objekthafte Rolle zugewiesen". Da die Wilrde des Menschen ein „objektiver, unverfugbarer Wert" sei, könne der Einzelne nicht auf sie verzichten, so daß es auch keine Rolle spielen könne, wenn die Darstellerinnen freiwillig in der Peep-Show auftreten wollten. Ersichtlich geht das BVerwG von einem objektiv-materialen Gehalt der Menschenwtlrde aus, der unabhängig von der Selbstorientierung der betroffenen Person „gilt" und damit individueller Verfiigungsmacht entzogen ist. Doch muß die Annahme der Unverftlgbarkeit - nachdem die Lockesche Fundierung aus einem vorgegebenen natiirlichen Recht mit religiösem Einschlag nicht mehr trägt - unter der Geltung des Grundgesetzes mehrere Htlrden nehmen, die in der Entscheidung des BVerwG nicht herausgearbeitet und durch den Begriff der „Unverfllgbarkeit" eher ignoriert als thematisiert worden sind. Es sind zwei Problemlagen zu trennen: (1) Die Frage der Verfugungsbefugnis kann zunächst das Problem betreffen, ob iiberhaupt der Anwendungsbereich von Art. 1 GG eröffnet ist. Hier geht es also darum, ob eine selbstorientierte Entscheidung (die nicht in Rechte anderer eingreifit) als solche, also gerade weil sie Ausdruck einer Person ist, unabhängig von ihrem konkreten Inhalt Ausdruck (jedenfalls nicht Verletzung) menschlicher Würde ist. Sieht man es so, dann konturiert die selbstverfllgende Entscheidung gerade den individuellen Menschen in seiner Würde nach den Maßstäben der entscheidenden Person selbst. Ein an dieser Entscheidung orientiertes Verhalten kommt von vornherein nicht als Eingriff in die Menschenwiirde in Betracht. (2) Nur wenn die Entscheidung des Betroffenen die Menschenwiirdewidrigkeit seines Verhaltens nicht zu beseitigen vermag, stellt sich die Frage, ob der in dem Verhalten liegende Eingriff in die Menschenwiirde durch die Entscheidung des Betroffenen erlaubt werden kann. Erst hier stellt sich also die Frage nach der „Verftigbarkeit" der Menschenwiirde bzw. von deren Beachtung. Das BVerwG hat allein auf das Verhalten der Darstellerinnen - nicht auf dessen Bewilligung - fur die Beurteilung der Menschenwiirdewidrigkeit abgestellt und die Verletzung der Menschenwiirde nach den objektiven Umständen bejaht. Auf dieser Grundlage hat sich das BVerwG mit der zweiten der oben genannten Fragestellungen beschäftigt. Damit ist freilich die erste Fragestellung bereits implizit im Sinne der Zurückweisung eines Verständnisses von Menschenwiirde beantwortet, das diese Wilrde gerade in der Respektierung selbstbestimmter Entscheidungen der Person erblickt. Zugrundegelegt ist vielmehr eine Auffassung, die eine Verletzung der Menschenwiirde im Abfall von bestimmten, in ihrer Inhaltlichkeit vorgeBVerwGE 64, 274, siehe zum Folgenden insbesondere S. 278 ff. A.A. OVG Hamburg, GewArch 1985, 125.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
gebenen Anforderungen an ein menschenwiirdiges Dasein erblickt. Mit dieser Auffassung sind die Würfel fur die Beantwortung der Frage nach der Beachtlichkeit der Entscheidungen der betroffenen Frauen in Wahrheit bereits gefallen: Eine Korrektur des erzielten Ergebnisses mit Buck auf die Freiwilligkeit der Betroffenen ist ausgeschlossen. Denn es liegt auf der Hand, daß niemand durch eine Entscheidung seine WUrde ablegen oder - wie das BVerwG formuliert189 - auf die Beachtung seiner Menschenwilrde verzichten kann; die Würde ist mit dem Menschsein untrennbar verbunden. Es ist - wie v. Olshausen treffend bemerkt - geradezu „abwegig", einem in seiner Einsichts- und Entscheidungsfreiheit unbeeinträchtigten Menschen „zu unterstellen, er wolle darauf verzichten, in seiner Menschenwiirde geachtet zu werden"190. Deshalb hat sich die Diskussion von dem Schema des Eingriffs und seiner Bewilligung, wie es in der Frage der „Verfugbarkeit" der Menschenwürde üblicherweise auf den Punkt gebracht wird, weg bewegt und konzentriert sich auf die erstgenannte Frage, ob das in der (nicht defizitären) Entscheidung objektivierte Selbstverständnis des Betroffenen als Ausdruck von Menschenwilrde zu respektieren ist19'. Der Standpunkt des BVerwG dagegen, das sich bei der Beantwortung dieser Frage nicht aufgehalten, sondern die Menschenwilrde als objektiven, inhaltlich auch für den Grundrechtsträger bereits festgelegten Wert bestimmt hat, wirft noch vor dem Problem der Konkretisierung des Inhalts der Menschenwtlrde - die prinzipielle Frage auf, an welchem Maßstab eine solche Objektivierung der Menschenwürde überhaupt gemessen werden kann. Das BVerwG hat diese Frage freilich weder aufgeworfen noch beantwortet, sondern sich auf die auch sonst gebräuchliche Formulierung gestützt, die Menschenwürde meine „den personalen Eigenwert" der Person, der verletzt sei, „wenn die einzelne Person zum Objekt herabgewtlrdigt wird"192. Doch diese Begriffsbestimmung ist fur die Gewinnung des vom BVerwG angezielten Ergebnisses absolut untauglich193, was das BVerwG durch unpräzisen Umgang mit der Objektformel verdeckt. Zunächst übergeht das BVerwG die - auch von ihm verwendete - passivische Formulierung der Objektformel, die nicht etwa den Fall thematisiert, daß sich die Person zum Objekt macht, sondern nur den Fall, daß die Person zum Objekt „herabgewilrdigt wird1. Diese Herabwürdigung soil darin liegen, daß der Frau durch den Veranstalter der Peep-Shows194 „eine entwtlrdigende objekthafte Rolle zugewiesen" wird195. Jede dieser Formulierungen impliziert eine Unfreiwilligkeit der Betroffenen und es hätte eigentlich - schon an dieser Stelle, also bei der Bestimmung der Menschenwürde - kein Weg daran vorbei gefuhrt, die Relevanz einer möglichen „Selbstzuwei189 190 191 192 193 194
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BVerwGE 64, 274, 279. V. Olshausen, NJW 1982, 2222; Stober, NJW 1984, 2500. Vgl. etwa Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 57. BVerwGE 64, 274, 278. Dazu auch v. Olshausen, NJW 1982, 2222. Mehrere Formulierungen sprechen dafur, daß das BVerwG (E 64, 274, 279) eine objekthafte Stellung gegenilber dem Veranstalter, nicht im Verhältnis zum Besucher der Peep-Show annimmt. BVerwGE 64, 274, 278 (Hervorhebung nur hier).
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfligungsfreiheit
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sung" der Rolle in ihrer Vereinbarkeit mit einer Herabwiirdigung zum Objekt zu diskutieren196. Die Objektformel ist mit dem Ignorieren der Einstellung des betroffenen Grundrechtsträgers also nicht kompatibel. Wenn das BVerwG eine Herabwiirdigung des betroffenen Grundrechtsträgers unabhängig von dessen individueller Einstellung angenommen hat, dann wird die Wertwidrigkeit eines Verhaltens aus der Perspektive eines Betrachters bestimmt und die behauptete „Objekthaftigkeit" wird dann zu einem heteronomen Urteil, das iiber eine bestimmt geartete äußere Beziehung von Menschen gefällt wird. Die Begründungslast erhält damit erhebliches Gewicht: „Wer Freiheit nur als wahre Freiheit gelten läßt, muß sicher sein, die Wahrheit zu erkennen"197. Die Berechtigung zum Fallen eines solchen Urteils wirft methodische Probleme der Grundrechtsinterpretation auf, verlangt also danach, den Blick auf das grundrechtstheoretische Vorverständnis zu richten, das die Interpretation der Grundrechte leitet'98. Dabei sieht man schnell, daß ein liberales Grundrechtsverständnis, das die Freiheit formal bestimmt und also die Art des Freiheitsgebrauchs offen läßt199, die Interpretation des BVerwG nicht bestimmt hat. Das Gericht hat sich vielmehr offenbar an einer Werttheorie der Grundrechte orientiert. Danach verlangt der objektive Wert der Menschenwiirde vom Einzelnen, nach dieser Wtirde zu leben und verbietet ihm eine Verletzung des objektiven Wertes. Die Freiheit des Einzelnen kann danach werthaft oder auch wertwidrig ausgetibt werden, je nachdem, ob sie mit dem objektiven Wert in Einklang steht oder von ihm abfällt. Für die Werthaltigkeit oder Wertwidrigkeit eines Verhaltens kommt es danach darauf an, wie die Menschenwiirde des Grundgesetzes interpretiert wird. Das BVerwG erblickt - insoweit in Einklang mit dem BVerfG - in der grundgesetzlichen Garantie der Menschenwiirde eine Entscheidung fur den Schutz des personalen Eigenwerts des Menschen. Diesen „personalen Eigenwert" definiert das Gericht - auch dies ist eine Wertentscheidung, für die es sich konkludent auf Art. 1 GG beruft - unter anderem dadurch, daß der Selbstorientierung des Grundrechtsträgers kein bestimmender Einfluß auf den konkreten Inhalt dieses Wertes zukommen könne. Der so objektivierte personale Eigenwert wird dem einzelnen Menschen zur Aufgabe, die er auch verfehlen kann. Die Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG dient dann unter anderem dazu, den Menschen am Verfehlen dieser Leistung zu hindern. Ein solches Vorgehen liegt durchaus in der Logik einer Grundrechtsinterpretation unter dem Leitbild einer materialen Werttheorie der Grundrechte. Freilich ist das vom BVerwG erzielte Ergebnis durch die Werttheorie keinesfalls festgelegt, hängt doch die Beurteilung des konkreten Verhaltens ganz davon ab, welcher In196 197
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Ebenso - in anderem Zusammenhang - Steiner, Der Schutz des Lebens, S. 15 f. Isensee, in: FS für Heckel, S. 748 zum Widerstand der Päpste des 19. Jahrhunderts gegen den negativen Freiheitsentwurf der Menschenrechte. Auf das Zitat im Text heißt es weiter: „Die Päpste waren sicher". Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 115 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtgehalte, S. 49 ff. Dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 119 ff.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
halt dem werthaften Zustand beigelegt wird. Eine enge Orientierung am Inhalt der mit Hilfe von grammatischer und historisch-genetischer Auslegung konkretisierten Grundrechtssätzen200 hätte es auch fur eine materiale Werttheorie durchaus nahegelegt, daß es zumindest Bestandteil dieser Würde ist, daß der Mensch sich gemäß seinem eigenen Selbstverständnis verwirklichen kann201. Das BVerwG hat dieses naheliegende Verständnis von Menschenwürde nicht einmal erwogen; die Entscheidung trägt insoweit durchaus bekenntnishaften Charakter. Hier tritt ein dezisionistischer Zug hervor, der den Wertlehren zu Recht vorgeworfen wird202. Dieser dezisionistische, dem Einzelnen gegenüber anmaßende Zug wird um so problematischer, als die logische Schattenseite jeder - noch so gut gemeinten - Diskussion um Werte, die dem Einzelnen fur seine Selbstorientierung von außen vorgegeben werden, darin liegt, daß der Verweis auf Höchstwerte seinen Sinn nur aus einer vorausgesetzten Werteskala beziehen kann und damit immer auch die Möglichkeit der Abwertung individueller Entscheidungen in sich trägt. Nun kann Wertdenken sich mit dem abfälligen Urteil nicht zufrieden geben, sondern es liegt in der immanenten Logik des Wertdenkens, den Wert durchzusetzen, um ihn ins Dasein zu setzen, d.h. Geltung zu verschaffen: „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen"203. Das Urteil des BVerwG ist damit nicht nur dezisionistisch, sondern auch missionarisch - es ist Ausdruck einer „Tyrannei der Werte"204. Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist offensichtlich, daß die vom BVerwG gegen die Betroffenen mit den Mitteln des Rechts durchgesetzte heteronome Konzeption menschlicher Wilrde die Betroffenen gerade in ihrer Wiirde verletzt205' 206. Die Menschenwürde erhält eine freiheitseinschränkende Tendenz zu 200
Fiir eine Wertermittlung durch Auslegung Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 60 f. 201 Vgl. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 170 ff., der die Werthaltigkeit der Grundrechte aus den Grundrechtsnormen zu entwickeln sucht (S. 118 ff.) und sich auf dieser Grundlage gegen eine „Grundrechtsverwirklichungspflicht" des Burgers wendet (S. 176). 202 Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, S. 132 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 65 f.; bezogen auf die Entscheidung B V e r w G E 6 4 , 274 Hoerster, JuS 1983,95. 203 Carl Schmitt, in: F S für Forsthoff, S. 55. 204 Carl Schmitt, in: F S fur Forsthoff, S. 59; vgl. auch Blankenagel, KJ 2 0 (1987), 388 f. Kritik an der Peep-Show-Entscheidung in diesem Sinne z.B. von Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 57; v. Olshausen, N J W 1982, 2 2 2 1 . 205 Zutreffend Kargl, J Z 2002, 398; v. Olshausen, N J W 1982, 2222 f. D a s ist keine Übertreibung, wenn man bedenkt, welches Urteil die Betroffenen iiber die v o n ihnen g e wählte Art der Berufsausübung empfangen haben u n d welche Erbärmlichkeit ihnen mit Blick auf die Wahl eines solchen Berufes vom B V e r w G bescheinigt wurde und wohl auch werden sollte. 206 g s gg]^ i n s o w e i t nicht u m konkurrierende Wiirdemodelle, fiir deren Verhältnis zueiStrafrecht und nander sich Vorrangregeln formulieren lassen (so aber Mosbacher, Selbstschädigung, S. 144 f.), sondern ein den Einzelnen bevormundender, inhaltserflillter Wiirdebegriff verletzt die Wiirde des selbstbestimmten Menschen.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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Lasten derer, die nach Konzeptionen leben, die von der fremdgesetzten Norm abweichen. Der grundlegende Mangel dieser Konzeption kann selbstverständlich auch nicht durch die angedeutete Möglichkeit ausgeglichen werden, die freie Selbstorientierung als beachtlichen Wert anzuerkennen. Denn in einer solchen Konzeption bliebe sie doch nur ein Wert von vielen und in ihrer Anerkennung abgeleitet womit der Mensch in seiner Qualität als selbstbestimmtes Wesen dem Staat ilberhaupt nachgeordnet bliebe207. Das verdeutlicht noch einmal, daß eine Würdekonzeption, die dem Einzelnen die inhaltlichen Bestimmungen vorgibt, die grundlegende Funktion von Selbstbestimmung überhaupt ausschließt.
bb) Wertphilosophische Anklänge in der strafrechtlichen Judikatur und Literatur In der strafrechtlichen Judikatur und Literatur finden sich Argumente fur Einschränkungen der Selbstverfugungsfreiheit in Anlehnung an wertphilosophische Konzepte (insbesondere auch fur ein entsprechendes Verständnis von Menschenwürde) kaum ausgearbeitet. Angefuhrt werden entsprechende Überlegungen vor allem zur Legitimation der Einwilligungsschranke aus § 228 StGB und im Zusammenhang der Probleme um Suizid und Sterbehilfe. Zu § 228 StGB hat sich etwa das BayObLG auf eine Verletzung der Menschenwiirde im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen die guten Sitten berufen208. Auch Schmidhäuser erklärt die Einwilligungsgrenze des § 228 StGB daraus, daß die Menschenwürde trotz Einwilligung verletzt werden könne, was etwa bei „sado-masochistischen Quälereien" der Fall sei209. Der BGH halt den Suizid wegen des hohen Rangs, den das Leben in der Werteordnung des Grundgesetzes einnehme, grundsätzlich fur rechtswidrig, will aber bei der Abwägung im Einzelfall „ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht des Einzelnen auf ein Sterben unter 'menschenwürdigen' Bedingungen" einstellen210. Der BGH identifiziert also „menschenwiirdig" nicht mit selbstbestimmt (sonst könnte der Suizid nicht rechtswidrig sein), sondern die Richter des BGH haben offenbar ihre eigenen inhaltlichen Vorstellungen davon, wie menschenwiirdiges Sterben aussehen könnte - und nur in der Orientierung an diesen Vorstellungen kann dem Einzelnen ein menschenwiirdiges Sterben gelingen. Neumann hat zutreffend darauf hingewiesen, daß das Lebensrecht des Individuums vom BGH aufgespalten wird „in eine von seinem Willen unabhängige Bestandsgarantie des So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 155, fur den rechtliche Freiheit folglich denn auch „ein Wert unter anderen" ist. Dazu, daß mit einem solchen Verständnis der Punkt einer liberalen Freiheitskonzeption verfehlt wird, zutreffend Enders, Die Menschenwürde, S. 67 f. BayObLG, NJW 1999, 272, 273; zustimmend Duttge, in: GS für Schlüchter, S. 784; Hillenkamp, JuS 2001, 161 f. Schmidhäuser, Studienbuch AT, 5/120; zutreffend kritisch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 122 mit Fn. 251. BGHSt46, 279, 285.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Rechtsguts 'Leben' und ein rudimentäres Selbstbestimmungsrecht, dessen Reichweite unklar bleibt"211. In einer früheren Entscheidung hatte der BGH seine inhaltlichen Vorstellungen von einem würdigen Sterben immerhin näher dahingehend konkretisiert, es sei dem Sterben sein „natilrliche(r), der Wiirde des Menschen gemäße(r) Verlauf zu lassen"212; menschenwiirdig stirbt es sich also dann, wenn der Natur ihr Lauf gelassen wird. Warum freilich die Dignität des Menschen nicht in selbstbestimmter Entscheidung iiber seinen Tod, sondern im Akzeptieren des natiirlichen Verlaufs erblickt werden soil, ist damit noch nicht begrilndet und der Ansatz wird auch vom BGH nicht konsequent verfolgt, denn schon in der erwähnten Entscheidung wird auf die Zulässigkeit einer wirksamen Schmerzmedikation hingewiesen213, von der er später auch klargestellt hat, diese könne auch das Risiko der Lebensverkürzung bergen (indirekte Sterbehilfe)214 - womit offenbar auch der Todeszeitpunkt nicht mehr vom Lauf der Natur bestimmt wird. Der unreflektierte, geradezu schlagwortartige Gebrauch eines Verständnisses von Menschenwilrde, das sich seiner Richtigkeit nicht versichert (und auf diesem Begrilndungsniveau auch nicht versichern kann), sondern auf breite Zustimmung hofft und sich damit von der Zustimmung der Person, um deren Schicksal es geht, glaubt emanzipieren zu dilrfen, droht auch dort zu bevormunden, wo der Einzelne widerspricht oder nicht mehr zum Widerspruch in der Lage ist215. In einem heteronomen Maßstab fur ein wiirdiges Leben und Sterben liegt immer schon der Keim fur eine Abwertung der (insbesondere der anders entscheiden wollenden) Person und es liegt in der tragischen Logik dieses Ansatzes, daß die Person infolge der heteronomen Definition von Würde den Stand verloren hat, aus dem sie sich gegen solche Abwertungen zur Wehr setzen kann. Einen verhältnismäßig ausgearbeiteten, etliche spätere Stellungnahmen stark beeinflussenden216 wertphilosophischen Ansatz zur rechtfertigenden Einwilligung hat Noll vorgestellt217. Ihm liegt der oben bereits kritisierte Gedanke zugrunde, die in der Einwilligung zum Ausdruck kommende individuelle Freiheit sei ein Wert, der in eine Abwägung mit den Werten einzustellen sei, die mit der bewilligten Handlung verletzt wtlrden218. So sei etwa das Leben nach gesetzlicher Wertung „der elementarste Wert" und diese objektive Wertung sei „so eindeutig und stark, daß daneben die subjektive Wertung des Verletzten nicht aufkommen" könne219. Diese Wertung halt Noll auch bezogen auf die Körperverletzung - „wenn auch 211 212 213 214 215 216
217 218 219
Neumann, Deontologische und teleologische Positionen, S. 398. BGHSt 37, 376, 379. BGHSt 37, 376, 379. BGHSt 42, 301. Zutreffend Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 175. Siehe neben den weiter unten im Text behandelten Autoren etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 9 5 2 f.; Hansen, Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten, S. 27 ff. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 59 ff. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 74 f. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 79.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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nicht gleichermaßen zwingend" - fur „wegleitend"220. Die individuelle Freiheit des Einwilligenden könne sich deshalb auch bei Beeinträchtigungen dieses Rechtsgutes nur dann in der Abwägung durchsetzen, wenn die „hinter der Körperintegrität stehenden Selbstwerte" weniger hoch zu veranschlagen seien: „Wer einem anderen eine Körperverletzung zufügt, ohne damit einen rechtlich gebilligten Zweck zu verfolgen, unterliegt der sozialethischen Mißbilligung auch dann, wenn der Verletzte eingewilligt hat, es sei denn, der Wert des freien Bestimmungsrechts des Verletzten überwiege angesichts der Geringfugigkeit der Verletzung gegeniiber dem Wert der nur unwesentlich beeinträchtigten Körperintegrität"221. Die Ermittlung der maßgeblichen Werte und ihrer Rangordnung erhält nach Noll zwar vom „Gesetz als Wertordnung die verbindliche Grundlage", aber das Gesetz lasse „dem subjektiven Befmden des Interpreten noch bedeutenden Raum"222. Das gelte gerade auch fur die Einordnung der individuellen Freiheit der Verftigung: „Der Wert der Verfugungsfreiheit des Einzelnen iiber seine Rechtsgiiter läßt sich (...) aus dem Gesetz nicht logisch ableiten; seine Einschätzung bleibt weitgehend dem wertenden Gefuhl iiberlassen"223. Damit wird freilich vor allem offengelegt und als zulässige Methode behauptet, was auch sonst schon die zitierte Rechtsprechung und Literatur wesentlich geleitet hat: die Orientierung an den individuellen Wertmaßstäben der jeweiligen Rechtsanwender und Wissenschaftler. Mit der offenen Einräumung dieser Kompetenz wird aber immerhin noch einmal verdeutlicht, daß der fur die Selbstverfugungsfreiheit eröffhete Spielraum in solchen Konzeptionen weithin von fremder Intuition abhängig gemacht wird224. Auf der von Noll gezogenen Linie liegt es, wenn Dolling die Rechtmäßigkeit einverständlich fremdgefährdenden Verhaltens davon abhängig machen will, daß die Rechtsordnung dem Selbstbestimmungsrecht den Vorrang vor dem durch die Verletzung realisierten Wertverlust einräumt225. Das fuhre dann etwa im „Fährmann-Fall" des Reichsgerichts226 dazu, daß „die Absicht der Fahrgäste, das Reiseziel möglichst schnell zu erreichen, als bloßer Zweck des täglichen Lebens keine Verwirklichung eines hochrangigen Wertes darstellt, die den Unwert der Lebensvernichtung (die Eingehung des Risikos der lebensgefährlichen Flußüberquerung, der Verf.) auszugleichen vermag"227. Eine andere Beurteilung ware hingegen dann 220 221 222 223 224
225
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227
Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 82. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 82 f. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 65. Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 75. Kritisch auch Arzt, Willensmängel, S. 43 f.; eingehend Rönnau, Willensmängel, S. 149 ff. und Mitsch, Rechtfertigung, S. 429 ff. (der sich insoweit allerdings weniger gegen die prinzipielle Möglichkeit heteronomer Wertung als vielmehr gegen die behauptete Rangfolge wendet). Dolling, G A 1984, 84, 9 0 f., 9 2 f., 94. Vgl. zu dessen Konzeption zum Verhältnis von „Einwilligung und iiberwiegende(n) Interessen" den Aufsatz unter diesem Titel, in: F S für Gössel, S. 209 ff. R G S t 57, 172.
Dölling, GA 1984,93.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
angebracht gewesen, wenn die Reisenden etwa das Ziel verfolgt hätten, ihren todkranken Vater am Sterbebett zu besuchen228. Den damit eröffheten Rahmen fur moralisierende Überlegungen zur Konturierung individueller Freiheit in der überraschenden Selbstgewißheit, im Besitz des richtigen moralischen Maßstabs zu sein, fullt dann schließlich Helgerth im Anschluß an Dolling in einer Stellungnahme zum einverständlichen Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten aus229: Als „beachtenswerte(r), nach unserer Gesellschaftsordnung und nach allgemeiner Anschuung 'wertvolle(r)'" Gesichtspunkt könne „sicherlich nicht allein die Befriedigung des Geschlechtstriebs angesehen" werden. Eine wirksame Einwilligung in die Lebensgefährdung liege vielmehr nur dann vor, wenn „sich die Geschlechtsbeziehungen im Rahmen einer auf Dauer angelegten und auf Liebe und Zuneigung gegrilndeten Lebensgemeinschaft abspielen". Doch damit nicht genug: „Das ist im allgemeinen nur im Rahmen der Ehe der Fall". - Nachdrücklicher als in dieser „Rechtsauffassung" lassen sich die Gefahren solcher Konzeptionen, die den Einzelnen in seinen selbstbezilglichen Entscheidungen fremden Wertmaßstäben unterwerfen, kaum noch dartun.
cc) Wiirde der Menschheit versus Würde des Einzelnen? Im rechtsphilosophischen Teil (oben 2. Teil, IV. 2. b)) angesprochen wurde bereits die Erwägung, gewisse Selbstverfugungen als Verletzungen der Menschheit in der Person des Verfügenden anzusehen. Die Person miisse durch ihr Handeln die Menschheit in der eigenen Person ,jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel" behandeln230. Doch geht es bei dieser Wtirde der Menschheit nicht um die Wiirde des Kollektivs231, das möglicherweise in seinem Würdeverständnis überwiegend von dem des Verfilgenden abweicht, sondern die Menschheit in der eigenen Person meint die Person als Vernünftige. Gegenüber objektiv wertphilosophischen Ansätzen, die eine Wertewelt außerhalb der Person etablieren, ist hier zum Ausdruck gebracht, daß das Allgemeine in jeder (nicht defizitären) Person gleichermaßen anwesend ist, also Bevormundung des Verfügenden von außen ausgeschlossen ist. In der Literatur findet sich das Bemühen, diese Überlegungen zur Rechtfertigung der bundesverwaltungsgerichtlichen Peep-Show-Entscheidung fruchtbar zu machen: „Aus der Menschenwürde fließen nicht nur Achtungspflichten gegenüber anderen, sondern auch solche des Trägers der Menschenwilrde gegen sich selbst, genauer: gegen seine eigene (wohlverstandene) sittliche Natur, damit aber letztlich gegen die Sittlichkeit Uberhaupt und als solche. Diese Achtungspflichten erlauben und gebieten sogar seine Autonomie zu beschränken"232. Damit wird ein Verstoß gegen die „(wohlverstandene) sittliche Natur" behauptet, an dem es bei selbstverfugenden Entscheidungen nach den oben (2. Teil, IV. 2. 228 229 230 231 232
Dölling, G A 1984, 9 3 . Z u m Folgenden Helgerth, N S t Z 1988, 2 6 3 . Kant, G M S , S. 429. Siehe auch Neumann, A R S P 1998, 157. Enders, Die Menschenwürde, S. 368.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit
261
b)) vorgetragenen Überlegungen gerade fehlt. Auch im Kontext des Verfassungsrechts muß es schließlich ausgeschlossen bleiben, eine „Wiirde der Menschheit" gegen die Wiirde des Menschen auszuspielen233.
dd) Staatliche Schutzpflichten aus dem Menschenwürdegehalt der Einzelgrundrechte? Die Grundrechte weisen in ihrem Individualbezug einen „Menschenwiirdegehalt" in dem Sinne auf, daß sie die Anwendung des Menschenwürdegedankens in einem bestimmten Sektor personaler Entfaltung darstellen. Das gilt insbesondere fur die Freiheitsrechte der Person. Dabei reicht die grundrechtliche Gewährleistung durch das Einzelgrundrecht weiter als die Menschenwiirde; naheliegenderweise besteht eine (zumindest) weitgehende Deckungsgleichheit des Menschenwiirdegehalts mit dem Wesensgehalt der Einzelgrundrechte234. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß die staatliche Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG sich insoweit in den Schutzbereich der Einzelgrundrechte verlängern läßt, wie deren Menschenwiirdegehalt reicht235. Verbreitet ist dieser Gedanke vor allem bei Verfugungen über das Leben236: Der rechtswidrige Eingriff in das Leben sei zugleich ein Eingriff in die Menschenwtirde. Deshalb sei der Staat berechtigt (wenn nicht sogar verpflichtet) zum Schutz des Lebens zu intervenieren237. Dabei ist die Auffassung, daß der Angriff auf das Leben den Angegriffenen zugleich in seiner menschlichen Wiirde verletzt, immer dann einsichtig, wenn der Angreifer sich iiber das Selbstbestimmungsrecht seines Opfers hinwegsetzt238. Denn mit der Nichtachtung ihres Lebensrechts ist stets der Eigenwert der Person negiert.
So auch Kargl, JZ 2002, 398; Neumann, ARSP 1998, 157; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 109 und - begrenzt auf das Recht - Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 135 f., bei dem allerdings (S. 144 f.) unklar bleibt, wie dann noch Raum fur die von ihm entwickelten Vorrangregeln bleiben soil (auch wenn man mit ihrer Anwendung letztlich zum gleichen Ergebnis kommt). Siehe dazu etwa Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 19 Rn. 123 ff. Näher unten3. a)bb)(l). So BVerfGE 39, 1, 41 (Schwangerschaftsabbruch I); 88, 203, 251 (Schwangerschaftsabbruch II); Starch, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 175. Siehe dazu schon oben a). So etwa Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 17 f; Lindemann, DVB1. 1957, 40. Fiir andere Grundrechte, wie etwa das auf Gesundheit, gilt aber prinzipiell nichts anderes; dazu Doehring, in: FS fur Zeidler, S. 1555. So z.B. BVerfGE 39, 1, 41 (Schwangerschaftsabbruch I); 46, 160, 164 (Schleyer); Lindemann, DVB1. 1957, 40; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 175. Woran es z.B. bei Notwehrsituationen fehlt, denn der Angreifer, der sich in ein vernünftiges Verhältnis zu den anderen einordnen muß, muß im Rahmen des Erforderlichen und Angemessenen auch eine sein Leben vernichtende Abwehr als rechtlich und damit auch von ihm gewollt akzeptieren. Vgl. zu einer ähnlichen Fallkonstellation in diesem Sinne Di Fabio, JZ 2004, 5 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Problematisch bleibt freilich die Annahme, eine Verletzung der Wiirde liege auch dann vor, wenn das Opfer sich (nicht defizitär) fur die Preisgabe seines Lebens entscheidet. Diese Entscheidung verletzt - wie nun mehrfach dargestellt den Entscheidenden gerade nicht in seiner Würde. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß dem Recht auf Leben, iiber das er verfugt, ein Menschenwilrdegehalt zukommt, denn die Menschenwürde ist nicht deshalb eine andere, weil ein Einzelgrundrecht zugleich Schutz vor bestimmt gearteten Angriffen auf die Menschenwürde bieten soil: Die Menschenwürde ist nicht deshalb verletzt, weil durch eine Entscheidung das Rechtsgut Leben betroffen ist, sondern deshalb und nur insoweit, wie der Eingriff in das Leben zugleich ein Eingriff in die Menschenwiirde ist239. Freilich ist die gegenteilige Auffassung verbreitet. Die Überlegung, jedem menschlichen Leben komme als solchem Wiirde zu240, legt die Annahme nahe, jede menschliche Entscheidung iiber das Leben verletze diese Wlirde241. Ersichtlich wird in diesem Ableitungszusammenhang die Wiirde nicht mit der Selbstbestimmung der Person, sondern mit dem biologischen Datum der physischen Existenz des Menschen verbunden242. Diese Verkntipfung kommt auch in der häufig getroffenen Feststellung zum Ausdruck, das Leben sei „die vitale Basis der Menschenwiirde"243. Dies ist freilich in dem Sinn unbestreitbar, als die Wiirde des (lebenden) Menschen mit dem Tod endet. Doch ist das Ende der Wiirde von deren Verletzung zu unterscheiden244. Der Tod als solcher verletzt nicht die Wiirde des Menschen. Die Frage kann deshalb nur dahin gehen, ob die Entscheidung, durch die sich die Person der biologischen Grundlagen ihres Daseins als Mensch - und der damit verbundenen Wiirde - be239
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Höfling, JuS 1995, 859; Kühne, N J W 1975, 672; Neumann, A R S P 1998, 159; Schwabe, J Z 1998, 69; Steiner, Der Schutz des Lebens, S. 13. BVerfGE 46, 160, 164 (Schleyer). In diesem Sinne Kirchhof, J u S 1974, 6 5 1 ; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 17 f., 20, 26, 53 f.; wohl auch Hardwig, G A 1965, 168. Entsprechend zur körperlichen Integrität (in einem Kernbereich) Duttge, in: G S fur Schlüchter, S. 783 f, der aus dem Menschenwilrdegehalt der Grundrechte in Verbindung mit der Schutzpflichtenlehre ableiten möchte, daß den Staat eine Schutzpflicht auch dort treffe, wo der Grundrechtsträger der Verletzung zustimmt (dagegen Sternberg-Lieben, in: GS fur Keller, S. 209). Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 17 f. verbindet wiederum das fehlende Recht, iiber die biologische Existenz zu disponieren, mit dem religiösen Argument der Geschöpflichkeit des Menschen, v o n d e m er meint, es sei durch die grundgesetzliche Menschenwürdegarantie zu einem rechtlichen geworden. Als angemessene Interpretation des Grundgesetzes in einem pluralistischen, konfessionell neutralen Staat ist eine solche Deutung aber verfehlt. Vgl. auch die Kritik bei Hoerster, N J W 1986, 1792. BVerfGE 39, 1, 4 2 (Schwangerschaftsabbruch I). In diesem Sinne auch Fink, Selbstbestimmung u n d Selbsttotung, S. 9 2 f; Hörnle, A R S P 8 9 (2003), 320 f. (eine unzutreffende Verkiirzung der Objektformel ist es freilich, wenn dies., a.a.O., 325 meint, diese Formel stehe j e d e m Eingriff in das Leben entgegen, „da jede Tötung per se die völlige Negierung d e s anderen als Zweck an sich bedeutet"); Hufen, N J W 2 0 0 1 , 850, 852; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, S. 209 ff; Schick, in: GS fur Zipf, S. 399; Stern, Staatsrecht HI/1, S. 24.
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raubt, deshalb auch eine Verletzung der Menschenwürde ist. Mit einer solchen „Biologisierung der Menschenwiirde"245 wird nicht die Entscheidungsfreiheit der Person, sondern der Bestand von deren biologischen Grundlagen geschiitzf246. Die Gleichsetzung des Schutzes von Autonomie mit deren biologischen Voraussetzungen wird nur plausibel, wenn die Wurde nicht urn des lebenden Menschen willen geschützt ware, sondern der Mensch um seiner Würde willen zu leben hätte. Eine solche Lebenspflicht im Dienste der Würde verselbständigt die menschliche Würde gegenüber ihrem Träger zu etwas Anzustrebendem, zu einer Verpflichtung. Der Wille des Individuums ist nur beachtlich, wenn „auch nach den Wertvorstellungen der Rechtsgesellschaft die Übernahme des Todes durch das Individuum als eine auf Verwirklichung von Wiirde gerichtete Entscheidung angesehen werden kann"247. Es ist offenkundig, daß es sich bei dieser Interpretation der Wiirde als eines dem Einzelnen vorgegebenen Gutes um eine wertethische Interpretation handelt, gegen die die hiergegen bereits erhobenen Einwände (oben b) zu wiederholen sind.
c) Zusammenfassung - zugleich zurAnmaßung von Freiheitsschranken zum Schutze des Menschen vor sich selbst Es ist nicht möglich, Grenzen der Verfugungsfreiheit zum Zweck des Schutzes des Menschen vor sich selbst zu begriinden248. Im Vorstehenden ist vor allem gezeigt Neumann, ARSP 1998, 159; ders., Strafrechtlicher Schutz der Menschenwürde, S. 59 ff.; siehe auch Vitzthum, JZ 1985, 201. In der Logik eines so verstandenen Schutzes der Menschenwiirde läge es etwa auch, den heilbar Kranken zum Schutze seiner Menschenwiirde zur lebensrettenden Operation zu zwingen. Vgl. die differenzierenden Erwägungen Ottos, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 87 ff., der letztlich die Respektierung des Willens des Patienten fordert, der eine lebensrettende Operation ablehnt. Offensichtlich wird auch diese Entscheidung als (noch) würdegemäß interpretiert (vgl. zur entsprechenden Entscheidung des Sterbenden gegen einen lediglich lebensverlängernden Eingriff, S. D 38), womit der Unterordnung des Menschen unter naturhafte Verläufe eine eigene Dignität verliehen wird, die der aktiven Suizidentscheidung nicht zukommt. Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 27. In der gleichen Schrift (s. S. D 80) fmdet sich allerdings auch die Aussage: „Menschliche Würde beruht wesentlich auf der Fähigkeit der Person, ihre Umwelt nach ihrer eigenen Vorstellung zu gestalten". Der Akzent liegt offensichtlich auf dem Wort „wesentlich", denn so soil wohl die Möglichkeit erhalten bleiben, die Verwirklichung von Wiirde auch in einem Leben entgegen den eigenen Vorstellungen suchen zu mlissen. Das Argument der Menschenwtlrde erhält so beliebige Einsetzbarkeit (siehe auch dessen vielfältigen Gebrauch bei Otto, a.a.O., z.B. S. D 17 f., 24 f., 26, 38, 53 f., 56 f., 60, 83); es wird zum Chiffre fur die Rechtlichkeit des Verhaltens, das von Otto fur wtirdig gehalten wird oder sich zumindest in einem Rahmen bewegt, innerhalb dessen sich Würdelosigkeit nicht von außen diagnostizieren läßt. So im Ergebnis auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen, S. 148; Rönnau, Willensmängel, S. 162; Schwabe, JZ 1998, 69 f.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rn. 274; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 54. Zu unspezifisch im
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
worden, daß solche Grenzen nicht mit dem Begriff rechtlicher Freiheit kompatibel sind. Nimmt man zur Verdeutlichung des erzielten Ergebnisses sozusagen probeweise den Standpunkt ein, der Staat sei befugt, die Verfugungsfreiheit des Einzelnen um dessentwillen zu beschränken, so läßt sich an dem Versuch einer Rechtfertigung dieses Standpunkts die Unmöglichkeit von dessen rationaler Begrilndbarkeit zeigen: Ein Staat der zu Einschränkungen der Selbstverfugungsfreiheit als berechtigt vorgestellt wird, zeigt sich damit - im besten Fall - in seiner Besorgnis um das Wohl der Burger gutwillig, doch ist dieses „Wohl" nur um den Preis zu haben, daß der Staat als Obrigkeit auftritt und der Burger nurmehr Untertan ist249. Denn wenn sich die Begrenzung der Verfugungsfreiheit auf Vernunft (nicht etwa bloß auf [weltliche oder göttliche] Autorität) beruft, dann nimmt der Staat notwendig eine höhere Vernunft in Anspruch und behauptet, besser zu wissen als der Einzelne, was fur ihn gut sei. Ohne gegen den Betroffenen durchgesetzte Anmaßung, die stets das implizite Urteil liber dessen unzureichende Vernunft einschließt, ist der Schutz des Einzelnen um dessentwillen nicht zu haben. Doch eine Rechtfertigung fur diese Überlegenheit staatlicher Vernunft ist weder geleistet250 noch Uberhaupt zu leisten. Sie muß von der Besonderheit des Einzelnen, seiner Individualität hinsichtlich seines Weltbildes und hinsichtlich der Last, die er zu tragen hat, abstrahieren und einen ihm fremden Maßstab anlegen. Die darin liegende Anmaßung muß ignorieren, daß das heteronome Urteil den Einzelnen zum Tragen einer Last verpflichtet, die der Staat weder ermessen noch iibernehmen kann.
2.
Schranken der Verfugungsfreiheit bei defizitären Entscheidungen
Es ist nun gezeigt worden, daß es mit der Wiirde des Menschen nicht zu vereinbaren ist, die vernünftige Person, die eine nicht defizitäre Entscheidung trifft, zu ihrem eigenen Schutz dadurch zu bevormunden, daß dieser Entscheidung die rechtliche Wirksamkeit versagt wird. Ausgangspunkt fur dieses Ergebnis war ein Verständnis von Menschenwiirde als Freiheit zur Selbstbestimmung. Diese Freiheit ist freilich nicht auf die konstitutionell und situativ mangelfreie Entscheidung beschränkt. Auch die Selbstorientierung des Geisteskranken, die iiblicherweise im Vermögen zur Bildung eines sogenannten natilrlichen Willens ge-
Sinne einer „unerträgliche(n) Einschränkung der Handlungsfreiheit" Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 152 (im Original kursiv); auch die Charakterisierung als „unangemessen" (Frisch, a.a.O., S. 156 f.) trifft den Punkt noch nicht, weil damit wohl eine - insoweit uberhaupt nicht anzustellende - Abwägung zwischen Interessen des Opfers und des Außenstehenden impliziert wird. Dazu, „daß es nicht geniigt, wenn eine Obrigkeit sich bemiiht, noch so gut fur das Wohl von "Untertanen' zu sorgen" BVerfGE 5, 85, 204 f. (KPD-Verbot). Zutreffend weist Hasso Hofmann, JZ 1992, 173 darauf hin, daß sich die Rechtsordnung mit der Einräumung eines Verfugungsrechts ilber das eigene Leben „aus kulturellen Griinden unserer christlichen Vergangenheit" schwer tut.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit
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sehen wird, ist nicht etwa rechtlich schlechterdings schutzlos gestellt, sondern ihre Objektivierungen unterfallen ebenfalls dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG und ihre Einschränkungen unterliegen folglich den Schranken dieses Grundrechts251. Wenn also auch willkürliche staatliche Eingriffe in die Entscheidungen solcher Personen, die zu vernilnftiger Selbstorientierung nicht in der Lage sind, deren Wiirde verletzen wiirden, so können doch der rechtlichen Relevanz defizitärer Entscheidungen Schranken auch zum Schutz der entscheidenden Person selbst gesetzt werden. Dies wird verschiedentlich unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip begriindet252, hat seinen sachlichen Grand aber schon in den Freiheitsrechten selbst, deren Ausübung von einer entsprechenden Fähigkeit hierzu abhängt253. Wo diese Fähigkeit fehlt und die Person durch selbstverfugende Entscheidungen in grundrechtliche Giiter einzugreifen droht, besteht ein Recht, vielfach (etwa bei der durch Geistesschwäche bedingten Verfugung über das eigene Leben) auch eine Pflicht des Staates, diese Giiter zu schiitzen254. Diesem Recht bzw. dieser Pflicht zum Schutz kann - unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit255 unter anderem dadurch Rechnung getragen werden, daß entsprechenden Entscheidungen die rechtliche Relevanz abgesprochen wird, Außenstehende sich folglich nicht auf diese Entscheidungen bzw. auf ein in ihnen zum Ausdruck kommendes Selbstbestimmungsrecht berufen können und die Verletzung der unter Berlicksichtigung dieser Umstände konturierten Verhaltensnorm strafrechtlich sanktioniert ist. Der Umfang der Schutzpflichten steht in einem naheliegenden Zusammenhang zu dem Bereich, fur den schon die Überlegungen zum allgemeinen Rechtsprinzip das Bestehen von Grenzen fur die rechtliche Beachtlichkeit defizitärer Entscheidungen ergeben hatte (oben 2. Teil, VI. 2.): Als Ausfluß der grundrechtlichen Schutzpflicht gefordert sind solche weitreichenden Konsequenzen aus dem fehlenden Vermögen zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zunächst einmal nur dort, wo die Person nicht nur in der konkre251
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Siehe BVerfGE 10, 302, 309; 58, 208, 224. Hillgruber, Der Schutz, S. 121 scheint demgegeniiber in Fallen der fehlenden Fähigkeit zu freier Willensbildung bereits den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG einschränken zu wollen, ohne deshalb aber freilich auf eine Pruning der Verhältnismäßigkeit des „Eingriffs in die Freiheit der Person" (!) in Relation zur Abwendung der drohenden Gefahr verzichten zu wollen. So Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 266; Joachim Wagner, Selbstmord, S. 116. Arndt/v.Olshausen, JuS 1975, 148; Geppert, Freiheit und Zwang, S. 38; Hillgruber, Der Schutz, S. 121; v. Munch, in: FS fur Ipsen, S. 124 f. Es ist deshalb auch nicht zutreffend, die Einwilligung als Ergebnis einer Abwägung zu verstehen, bei der auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht des Individuums und auf der anderen Seite ein paternalistisches Interesse des Staates daran besteht, daß dieses Individuum nicht seinem eigenen Wohl durch eine defizitäre Entscheidung zuwiderhandelt; so Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 148 f. Siehe Robbers, Sicherheit, S. 221 f.; ferner Freund, Erfolgsdelikt, S. 272. Das Instrumentarium, mit dem der Staat sein Recht bzw. seine Pflicht zum Schutz realisieren kann, ist freilich weitaus differenzierter, als hier angedeutet; siehe Robbers, Sicherheit, S. 222.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
ten Situation defizitär entscheidet, sondern auch gar nicht in der Lage ist, Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen, was insbesondere bei Kindern (siehe Art. 6 GG)256 und bei konstitutionell defizitären Personen (insbesondere solchen, die sich in einem von § 20 StGB erfaßten Zustand befmden) insoweit der Fall ist, wie die Entscheidung gerade auf der entwicklungsbedingten oder geistigen Schwäche beruht. Die staatliche Schutzpflicht besteht weiter dort, wo die selbstverfügende Entscheidung durch ein Verhalten herbeigefuhrt wird, mit dem der grundrechtlich geschiltzte Status des Entscheidenden in einer den Staat zum Eingreifen verpflichtenden Weise verletzt wird. Das ist insbesondere bei der Nötigung der Fall. Freilich ist es eine vom Verfassungsrecht nur fur einen Kernbereich - insbesondere bei Verletzungen der Menschenwürde des Genötigten - zu beantwortende Frage, welchem Entscheidungsdruck der Einzelne Stand halten muß und ab wann seine Entscheidung nicht mehr als frei getroffen gilt. Soweit das einfache Recht diese Grenzen in verfassungsrechtlich haltbarer Weise zieht, wirkt es auf das Verfassungsrecht zuriick257: In dem Umfang, in dem einfachrechtlich mit der Beurteilung eines Verhaltens als verbotene Nötigung zum Ausdruck gebracht wird, daß eine durch dieses Verhalten hervorgerufene Entscheidung nicht als Ausdruck von Selbstbestimmungsfreiheit akzeptiert wird, muß der Genötigte auch vor den Folgen der Beeinträchtigung seiner Selbstbestimmungsfreiheit geschützt werden. Das verlangt zumindest danach, der abgenötigten Erklärung ihre rechtliche Bedeutsamkeit (jedenfalls gegenilber dem Nötiger258) zu versagen. Der Umfang verfassungsrechtlicher Schutzpflichten kann also nicht unabhängig von der einfachrechtlichen Konturierung der geschützten Rechtsgüter gedacht werden. Ähnliches gilt für täuschungsbedingte Entscheidungsdefizite: Sind nach einfachem Recht bestimmte Täuschungshandlungen zum Schutz des selbstbestimmten Umgangs mit gewissen Giitern verboten (wie dies etwa von § 263 StGB bezogen auf das Vermögen vorausgesetzt ist), so kann das danach rechtlich begriindete Vertrauen des Opfers nicht ohne Schutz bleiben. Jedoch bleibt es unterhalb der originär vom Verfassungsrecht gezogenen Schwelle fur das Eingreifen von Schutzpflichten nicht ausgeschlossen, daß nach den Regeln des einfachen Rechts unter grundsätzlich verantwortungsfähigen Personen in concreto defizitären Entscheidungen rechtliche Relevanz zugebilligt wird, mit der Folge, daß sich ein Außenstehender, der solche Entscheidungen ermöglicht, fördert oder exekutiert, auf die Verantwortung des Opfers berufen kann. Denn die verantwortungsfahige Person, die sich auf entsprechende Regelungen des einfachen Rechts einstellen kann, ist auf den Schutz des Staates nicht angewiesen. So wie dem Einzelnen staatlicher Schutz dort nicht aufgedrängt werden kann, wo er nicht-defizitär eine selbstverfUgende Entscheidung trifft, kann es einer 256
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Siehe Hillgruber, Der Schutz, S. 123 f.; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 272. Eingehend hierzu im Kontext des Suizids Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 167 ff. Zu einem solchen Zusammenhang auch BVerfGE 96, 27, 39. Eingehend zu zusätzlichen Schwierigkeiten der sogenannten „Dreieckskonstellationen" Rönnau, Willensmängel, S. 253 ff.; Mitsch, Rechtfertigung, S. 572 ff.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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Rechtsgemeinschaft nicht versagt werden, durch die rechtliche Konturierung von Verantwortungsbereichen das Risiko von in concreto defizitären Entscheidungen beim Entscheidenden zu belassen. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie unterhalb der Schwelle der offensichtlich zur Übernahme von Verantwortung für defizitäre Entscheidungen unfähigen oder vor der Übernahme solcher Verantwortung aufgrund des Zustandekommens der Entscheidung geschtitzter Personen eine Entscheidung beschaffen sein muß, damit sie nach den Maßstäben der Verfassung als defizitär qualifiziert und ihr die rechtliche Relevanz versagt werden kann. Die Einsichten der rechtsphilosophischen Bemühungen lassen sich auch hier fur das Verfassungsrecht reformulieren: Da Selbstbestimmung auch im Kontext der Verfassung gerade das Vermögen zur Entscheidung an selbstgesetzten Maßstäben ist, ist der Maßstab, an dem sich ein Defizit als solches erweist, die vernünftige Person selbst. Bereitet die Bestimmung dieses Maßstabes dort noch relativ wenig Schwierigkeiten, wo die Person lediglich situativ ihren „wahren" Willen verfehlt, also insbesondere bei Willensmängeln aufgrund von Fehlvorstellungen iiber die Wirklichkeit, tritt das Problem dort in seiner ganzen verfassungsrechtlichen Brisanz hervor, wo sich die Frage stellt, ob eine bestimmte Selbstdefinition, die sich in einem mit einer selbstverftigenden Entscheidung verfolgten Zweck objektiviert, Ausdruck eines Defizits ist. Derm es liegt auf der Hand, daß die Definition eigenwilliger Lebensentwiirfe als Ausdruck eines Defizits solche individuellen Konzeptionen in weitem Umfang rechtlicher Bedeutungslosigkeit überantworten könnte, ohne den freiheitseinschränkenden Charakter solcher Maßstäbe auch nur zu thematisieren259. 1st Menschenwiirde Selbstbestimmung des Menschen und macht gerade die darin liegende Relativität die Einzigartigkeit jedes Menschen aus, so ware der damit geforderte Anspruch auf Achtung vor dem individuellen Menschen und seinen Entscheidungen aufgegeben, wenn jeder Ausdruck von Individualität als Defizit verstanden werden könnte. Die Leistung, die in der Garantie der Selbstbestimmungsfreiheit gegenüber einem Modell liegt, in dem der Einzelne sich auf ein statisch verstandenes Menschenbild bestimmten Inhalts hin orientieren muß, ist verspielt, wenn Abweichungen von einem solchen Menschenbild als Defizit definiert und damit nicht als Ausdruck von Selbstbestimmung anzuerkennen sind. Beispielhaft: Wenn derjenige, der ein Leben unter bestimmten Bedingungen nicht mehr als lebenswert empfindet und deshalb iiber sein Lebensrecht verftigen will, mit Blick auf seine persönliche Wertewelt als in seinem Selbstverständnis und damit auch hinsichtlich der auf dieses Selbstverständnis bezogenen Entscheidung als defizitär definiert wird, dann ist das Problem des Bilanzsuizids als Frage personaler Selbstbestimmung nicht mehr diskutierbar. Die mit der Menschenwiirde garantierte Freiheit zur Selbstbestimmung soil gerade den schützen, der den grundgesetzlichen Schutz am nötigsten hat, nämlich den Abweichler. Ein konstitutionelles Defizit kann danach nicht aus der bloßen AbVgl. Amelung/Eymann, JuS 2001, 942.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
weichung vom Üblichen erschlossen werden, sondern allenfalls aus einer solchen Abweichung, die als pathologisch (oder als entwicklungsbedingt [noch] defizitär) eingestuft werden kann260. Erforderlich ist damit ein Defekt, der die Persönlichkeitsbildung überhaupt betrifft261. Andernfalls könnte die jeweilige Prägung der Person durch äußere Einflüsse ein Gewicht erhalten, das von ihrer Eigenständigkeit wenig übrig lassen würde. Prägnant formuliert Enders: „Trotz aller Einsichten in die Prägung innerer, psychischer Vorgänge durch äußere Umstände, darf sich eine rechtsstaatliche Ordnung auf derartige Kausalzusammenhänge nur bedingt berufen, wenn nicht der Mensch sehr schnell in seinem 'Selbst' als verfugbar erscheinen soil"262. 1st danach allenfalls der pathologische Befund normativ relevant, so kann dies freilich keine Überantwortung des Problems auf die Psychowissenschaften bedeuten, sondern verlangt gerade in Randbereichen, in denen über „pathologisch" oder „normal" diskutiert werden kann, eine normative Entscheidung, die die Entfaltungsinteressen des Abweichlers ebenso zu bedenken hat wie den Schutzanspruch der defizitären Persönlichkeit vor ihrem eigenen Selbstverständnis und dem diesem gemäßen Entscheidungen263. Dieser Schutzanspruch wird an Gewicht gewinnen, wenn das Selbstverständnis der Person die Gefahr von selbstverfugenden Entscheidungen begrilndet, die nachhaltig oder irreversibel in hochrangige Gtlter eingreifen (insbesondere bei Verfugungen iiber das Leben). Andererseits begrilndet auch ein pathologisches Defizit kein umfassendes Recht zu paternalistischer Bevormundung264: Dem von Schmerzen gepeinigten, moribunden Schwachsinnigen kann eine wirksame Verfugung iiber sein Leben - etwa in Form eines Veto gegen eine ärztliche Behandlung — durchaus möglich sein265. Eine zustimmungswürdige normative Entscheidung hat z.B. das OLG Frankfurt fur eine als pathologisch-defizitär anzusehende Person getroffen, wenn es dort heißt: „Auch der Alkoholsilchtige hat grundsätzlich allein darilber zu befmden, ob er geheilt werden will"266. Das Problem ist damit freilich mehr angerissen als gelöst. Die Verfassung kann nur einen Rahmen geben, innerhalb dessen sich die Bestimmung der Grenzziehung von Individualität und defizitärer Persönlichkeit bewegen muß.
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In diesem Sinne auch Amelung/Eymann, JuS 2001, 942; Amelung, JR 1999, 47; ders., Recht und Psychiatrie, 24 f. So wohl auch - ohne nähere Begründung - Hillgruber, DerSchutz, S. 121. Wobei es immer noch eine zusätzliche Frage ist, ob der pathologische Befund auch die Ursache eines bestimmten Selbstverständnisses ist. Enders, Die Menschenwürde, S. 449. Vgl. auch Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 156 f.; Freund, Erfolgsdelikt, S. 204, 270; Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, S. 84. Giesen, JZ 1990,938. Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid, S. 85; siehe auch Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 37. OLG Frankfurt (Zivilsenat), N J W 1988, 1527, 1528 zur Unterbringung nach dem HessFreiheitsentzG.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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Praktisch bedeutsam ist die Beantwortung der Frage, ob eine Entscheidung Ausdruck einer defizitären Einstellung oder der Person in ihrer Individualität ist, vor allem in der Diskussion um die Freiheit der Suizidentscheidung (die entsprechend auch fur die Tötung auf Verlangen von Bedeutung ist)267. Die Suizidforschung produziert deutlich abweichende Ergebnisse, die flir das Recht zwar wichtiges Tatsachenmaterial liefern, aber nicht ohne weiteres die Frage beantworten, ob ein Selbsttötungsverlangen als Ausdruck von Selbstbestimmungsfreiheit anzusehen ist. Auch hier ergibt sich aus der Verfassung keine exakte Grenzziehung. Aus dem verfassungsrechtlich vorausgesetzten und verankerten Selbstbestimmungsrecht folgt aber, daß allein die Tatsache, daß bestimmte Entschliisse nicht ohne beträchtlichen Leidensdruck gefaßt zu werden pflegen268, nicht dazu führen kann, daß solche Entscheidungen per se unwirksam sind269' 27°. Zutreffend schreibt Bottke, daß „die suizidtherapeutisch niltzliche Diagnose, nahezu alle Suizidäre seien behandlungsbediirftig und in diesem Sinne "krank', (...) nicht zu einer umfassenden Vernunfthoheit ilber alle Menschen fuhren (darf), die an depressiven Verstimmungen, neurotischen Störungen u.a.m. leiden"271. Es ware mit der Selbstbestimmungsfreiheit nicht vereinbar, existentielle Entscheidungen generell dem Betroffenen zu entziehen, indem die Rationalität der Entscheidung an übermenschlichen Maßstäben gemessen wird272. 1st
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Vgl. dazu Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 12 f., 14 f., 157 ff.; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 101 ff. Z u Suizidentschlüssen siehe Bochnik, M e d R 1987, 217 ff. In diese Richtung aber Bringewat, ZStW 87 (1975), 632 ff; Geilen, JZ 1974, 152 ff; Jähnke, in: LK, V o r § 211 Rn. 2 7 ff; M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 232 f; Roellecke, Gibt es ein „Recht auf den Tod"?, 343 f Zutreffend dagegen JZ 1987, 442 f; Charalambakis, G A 1986, 492 f. Brandts/Schlehofer, Während in dieser Diskussion immerhin noch die Relevanz bestimmter psychischer Ausnahmesituationen z u m Gegenstand gemacht wird, hat Hassemer ein - nach den Überlegungen im Text: nicht haltbares (kritisch auch Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 252 ff.) - Konzept vorgestellt, in dem eine Verfilgung tlber das Leben schon ihrem Gegenstand nach nicht Ausdruck einer freien Entscheidung sein könne (siehe zum folgenden Hassemer, Theorie, S. 186 f f ) . Ausgehend davon, daß der Tod fur die Gesellschaft ein „verhülltes Phänomen" sei - womit eine „Unsicherheit vor dem Tod", eine ambivalente Haltung der Gesellschaft beschrieben sein soil -, gelangt er auch zur „Verhiilltheit des Rechtsguts Leben". „Der 'Schaden', den Lebensverletzung bedeutet, bleibt dunkel, der tote Mensch ist der absolut Fremde". Selbst wenn ein Verzicht auf das Lebensrecht in Form einer Einwilligung in die eigene Tötung möglich ware, würde es an der Einwilligungsfahigkeit des Einzelnen fehlen: „1st der Tod, wie beschrieben, ein verhülltes Phänomen, so wird niemand Bedeutung und Tragweite seines Todes voll erfassen können; die Rechtsordnung wird sich weigern, eine Verzichtsentscheidung hinzunehmen, wenn das Gut, auf das verzichtet wird, dem Verzichtenden in seiner Bedeutung unangreifbar und unverstehbar geblieben ist". Bottke, G A 1982, 352; siehe auch dens., G A 1983, 30 f; dens., Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 107 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
der Leidensdruck etwa deshalb nachvollziehbar, weil er durch ein schweres persönliches Schicksal ausgelöst worden ist, dann kann ein bestimmter Umgang mit diesem Leid nicht schon deshalb fur defizitär erklärt werden, weil Außenstehende eine andere Lösung (im Rahmen dessen, was ein Außenstehender nachempfinden kann) fur angemessener halten. Persönliches Leid verlangt nach einer persönlichen Entscheidung und es ist größte Vorsicht dabei geboten, das in eine bestimmte Entscheidung milndende Leid generell als Ausdruck eines Defizits zu werten. Diese Erwägungen gelten auch fur den Kranken oder Sterbenden. Zu Recht mahnt Giesen: „Die erhöhte Wehrlosigkeit und krankheitsbedingte Abhängigkeit des Patienten sollten nicht als Rechtfertigung dafur herhalten, seine Autonomie mehr oder weniger einzuschränken oder den Grundsatz der Selbstbestimmung auszuhöhlen, indem man dazu die 'persuasive power of paternalism' instrumentalisiert"273.
3.
Schranken selbstverfiigenden Verhaltens aus der Sozialbindung
Wenn Schranken selbstverfiigenden Verhaltens aus der Sozialbindung des Verfugenden in Betracht kommen, dann ist damit implizit immer schon zum Ausdruck gebracht, daß der selbstverfugenden Entscheidung bzw. dem sie ermöglichenden, erleichternden oder exekutierenden Verhalten ein objektiver (also nicht notwendig vom Entscheidenden intendierter) Sinn zukommt, der nicht mit dem Selbstverfugungssinn identisch ist. Während nämlich die Entscheidung in ihrer ausschließlichen Bezogenheit auf die Belange des Entscheidenden selbst gerade keinen Eingriff in die Verfugungsfreiheit legitimiert, kann die Gemeinschaftsbezogenheit, an die Einschränkungen der Verfugungsfreiheit anknüpfen können, nur als eine zusätzliche Dimension der selbstverfugenden Entscheidung aufgefaßt werden274. Das Verhältnis von Schutzbereich und Schranke stellt sich also so dar, daß ein mit Blick auf seinen Selbstverfllgungsgehalt unter den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG subsumiertes Verhalten unter weiteren Gesichtspunkten (die freilich ebenfalls zugleich der allgemeinen Handlungsfreiheit unterfallen können) Belange der Allgemeinheit verletzen kann. Die Schranke bezieht sich nicht auf den Selbst272
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Vgl. Herzberg, JZ 1988, 182 f. Siehe auch ArztWeber, Strafrecht. BT, § 3 Rn. 24, der zutreffend darauf hinweist, daß auch der Kranke, der sich fur eine riskante Operation entschließt, u.U. unter erheblichem existentiellen Entscheidungsdruck handelt, ohne daß die Selbstbestimmtheit der Entscheidung bestritten wiirde. Bei der Festlegung der normativen Maßstäbe der Entscheidungsfreiheit kann eine konsistente Festlegung nur unter Berücksichtigung solcher Parallelfälle getroffen werden. Wollte man fur solche Vergleichsfälle die Frage des Vorliegens eines Defizits unterschiedlich entscheiden, so wiirde dies offenbar einen Rückgriff auf eigene - d.h. fur den Betroffenen heteronome - Vernunftmaßstäbe bedeuten. Giesen, JZ 1990,931. Klar gesehen bei Jakobs, in: F S fur Arthur Kaufmann, S. 4 6 3 . Siehe auch schon oben 3. Teil, VI. 3.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verftlgungsfreiheit
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verfugungssinn, sondern auf einen zusätzlichen Sozialschädigungssinn des Verhaltens. Die grundrechtsdogmatische Lösung erfolgt in der Weise, daß das grundrechtliche Gewicht des Selbstverfugungssinns (und etwaiger Modalitäten der Realisierung dieses Sinnes, wenn diesen ihrerseits grundrechtlicher Schutz - regelmäßig durch Art. 2 Abs. 1 GG - zukommt) bis zu den Grenzen seines unantastbaren Kernbereichs zu den Belangen der Allgemeinheit in ein Verhältnis gesetzt und zu praktischer Konkordanz gebracht wird. Die grundsätzliche Berechtigung der Einschränkung allgemeiner Handlungsfreiheit mit Blick auf die Sozialbezogenheit des Menschen ist bereits als wesentlicher Zug des grundgesetzlichen Menschenbildes aufgewiesen worden. Während willkürliche heteronorae Begrenzung der Freiheit zu selbstorientierter Daseinsgestaltung den Menschen in seiner Würde verletzt, ist die Festlegung des Menschen auf das Allgemeine auch dort, wo die Durchsetzung durch Zwang erfolgt, keine Verletzung der Wilrde, da die Person durch solchen Zwang an das, was fur ein verniinftiges Wesen in Gemeinschaft ohnedies schon gilt, gleichsam nur erinnert wird. Es macht das Recht gerade aus, daß die Person äußerem Zwang nur dort ausgesetzt wird, wo die erzwungene Handlung sich vor der Person als vernünftig ausweisen läßt. Das eröffnet den fur das Eingreifen von Schranken erforderlichen Spielraum fur Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit, die den Menschenwürdegehalt von Art. 2 Abs. 1 GG unangetastet lassen. Im Folgenden steht die Frage im Vordergrund, ob es das Grundgesetz unter dem Aspekt der Sozialgebundenheit erlaubt, selbstverfügendem Verhalten Schranken zu setzen. Die Annahme, es bestehe darüber hinaus eine Pflicht (Schutzpflicht), selbstverfugendes Verhalten zu verbieten bzw. ihm seine rechtliche Beachtlichkeit mit Blick auf die Freiheit der anderen zu nehmen, liegt dagegen eher fern275, da es hier regelmäßig um ilber fremde Freiheit vermittelte Schädigungen oder um Schädigungen an weniger hochwertigen Rechtsgiitem geht, so daß eine Pflicht zum Eingreifen regelmäßig nicht vorliegen wird. Jedenfalls stellen sich insoweit keine spezifischen Probleme des selbstverftigenden Charakters der Entscheidung. Klarstellend ist auf eines hinzuweisen: 1st ein selbstverfugendes Verhalten bzw. das auf eine selbstverfugende Entscheidung bezogene Verhalten eines Außenstehenden mit Blick auf soziale Bindungen verbietbar, dann ist damit (jenseits der Fälle, in denen den Staat eine Schutzpflicht trifft) zunächst nur ein Rahmen fur die Schaffung einfachrechtlicher Verbote gesteckt. Ob mit entsprechenden Verhaltensverboten dann auch deren strafrechtliche Sanktionierung einhergehen kann (oder diese gar verfassungsrechtlich gefordert ist), ist eine weitere, zusätzliche Frage. Während also die Einsicht, ein Verhalten stehe mit der dem Strafrecht vorgeordneten Primärordnung im Einklang, notwendig dazu führt, daß auch der Einsatz von Strafe ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage des Strafunrechts zusätzlich, wenn ein Verhalten in Widerspruch zu dieser Primärordnung steht. Dies gilt auch dort, wo Bleibt aber freilich möglich, wenn etwa eine selbstverfugende Handlung das Leben Dritter gefährdet; dazu noch unten.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz die mit dem Schutz der Rechte anderer begründete Unwirksamkeit einer selbstverftigenden Entscheidung darin ihren Ausdruck fmdet, daß sie ein an den Außenstehenden gerichtetes Verhaltensverbot nicht suspendieren kann, also in den Fallen der (insoweit) unwirksamen Einwilligung. Denn ist der Schutzzweck eines aus der Sozialbindung entwickelten Verbots gerade nicht der Schutz des Einzelnen, sondern der Schutz Uberindividueller Interessen (ist also die Bewilligung demnach gerade mit Blick auf diese iiberindividuellen Interessen unwirksam), so stellt sich die Frage, ob damit der Anwendungsbereich der individualgüterschützenden Strafhormen eröffhet ist. 1st beispielsweise die Einwilligung in eine Körperverletzung deshalb unwirksam, weil die bewilligte Form des Eingriffs auch die Gesundheit Dritter gefährdet, dann ist damit noch nicht begründet, daß die der Einwilligungserklärung gemäß vorgenommene Körperverletzung gegenüber dem Einwilligenden das Unrecht eines Eingriffs in dessen individuelle körperliche Integrität erfüllt. Die Strafbarkeit nach §§ 223 ff. StGB hängt dann noch davon ab, welchen Schutzzweck man mit diesen Tatbeständen verfolgt sieht. Diese Fragen sind im strafrechtsdogmatischen Teil dieser Arbeit (unten 4. Teil, IV.) wieder aufzunehmen.
a) Die Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung und der Rechte anderer Die Schranke der „Rechte anderer" in Art. 2 Abs. 1 GG bringt am deutlichsten den Gedanken zum Ausdruck, daß Recht als normativer Inbegriff allgemeiner Freiheit, anders als sozialbezogen und damit -gebunden nicht zu denken ist276. Versteht man die Rechte der Allgemeinheit gleichsam als „verdtlnnte" Rechte der anderen277, so lassen sich prinzipiell alle sozialen Ansprüche mit Rechtsqualität unter dieser Schrankenbestimmung abhandeln278. Üblicherweise werden jedoch - ohne Unterschied in der Sache - die „Rechte anderer" als Unterfall zur Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" behandelt, denn die Rechte der anderen erhalten ihre Rechtsqualität nur dann, wenn sie zur „allgemeinen Rechtsordnung" gehören, „die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat"279. In der so defmierten Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung wird zwar der materiale Grundgedanke der Schrankenbestimmung aus den Rechten anderer nicht benannt, doch wird dieser Gedanke durch die Bezugnahme auf die Verfassung nicht obsolet, sondern lediglich in deren normativen Rahmen eingeordnet. 276
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Siehe Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 73, der zutreffend „in den Rechten anderer eine alien Grundrechten geradezu rechtslogisch immanente Schranke" erblickt (im Original teilweise hervorgehoben). Vgl. auch Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 63 f. In diesem Sinne Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 204 f., 230; a.A. Dürig, in: Maunz/Diirig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 74. Siehe Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 201 ff. BVerfGE 6, 32, 38 (Elfes); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 2 Rn. 18. Siehe schon oben IV. 1.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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Wenn die Sozialbindung bereits das grundgesetzliche Menschenbild auszeichnet (oben II.), so legt das den Gedanken an eine vierte Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit nahe. Tatsächlich hat das BVerfG zunächst aus der allgemeinen Sozialbindung des Menschen Grenzen der Handlungsfreiheit entwickelt280. So hat das BVerfG in der Investitionshilfe-Entscheidung zwar die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 zitiert, die Einschränkung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG aber dann ohne Rekurs auf diese Trias und ohne die Einordnung unter eine der dort genannten Schranken allein unter Bezugnahme auf die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen vorgenommen. Aus dem Menschenbild wird unmittelbar geschlossen: „der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt"281. In späteren Entscheidungen, nachdem sich das BVerfG hinsichtlich des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG zugunsten der allgemeinen Handlungsfreiheit festgelegt hatte und dementsprechend die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung in dem oben zitierten weiten Sinn interpretiert hat282, fmdet sich die gleiche Formulierung, mit der das BVerfG in der Investitionshilfe-Entscheidung eine Schranke aus der Sozialbezogenheit des Menschen entwickelt hat, nunmehr als Konkretisierung dessen, was Inhalt einer mit der verfassungsmäßigen Rechtsordnung in Einklang stehenden Norm sein kann283. Tatsächlich bleibt - abgesehen von positivrechtlichen Einwänden aus der gesetzlichen Fassung der Schrankentrias in Art. 2 Abs. 1 GG - neben der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung kein Raum fur eine Schranke der allgemeinen Sozialbindung284. Einem Verhalten möglicherweise entgegenstehende Belange der sozialen Gemeinschaft sind also unter der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung zu thematisieren. Die Sozialbezogenheit einer Entscheidung bzw. deren Umsetzung kann mit ihrem selbstverfügenden Charakter in unterschiedlicher Weise zusammentreffen. Die Differenzierung nach diesem Gesichtspunkt ist nicht bedeutungslos, denn je weniger die Verkniipfung von Selbstverftigung und Sozialbezug notwendig ist, desto eher kommt ein Verbot gerade der gewählten Art der Selbstverfügung in Betracht. Die Freiheit zur Selbstverfugung wird nicht prinzipiell negiert, wenn die konkrete 280
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Siehe dazu Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 101 ff.; Häberle, Das Menschenbild, S. 45, bezeichnet diese Vorgehensweise als „legitim und richtig". BVerfGE 4, 7, 16 (Investitionshilfe); dazu Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 101 ff. BVerfGE 6, 32, 36 ff. (Elfes); in BVerfGE 4, 7, 15 (Investitionshilfe) hat sich das Gericht noch nicht festgelegt. BVerfGE 19, 93, 96; 50, 256, 262. Siehe auch Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes", S. 104.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Art und Weise der Verfugung eine zur Erreichung des Verfügungsziels überflüssige Sozialschädlichkeit aufweist. Ein Beispiel fur einen solchen Fall verdeutlicht gleichzeitig, daß prinzipiell kein Zweifel daran bestehen kann, daß selbstverfugendes Verhalten mit RUcksicht auf die (zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörigen) Rechte anderer verboten sein kann: Will etwa jemand Suizid mittels eines gemeingefährlichen Mittels, z.B. einer Bombe an einem belebten Ort, begehen, so hat das entsprechende Verhalten nicht nur Selbst-, sondern auch Fremdtötungssinn. Dieser Fremdtötungssinn ist mit der selbstverfügenden Entscheidung lediglich äußerlich verknüpft - es ist regelmäßig auch ohne Schädigung anderer möglich, über sein Leben zu verfiigen. Offensichtlich berechtigt das Verfligungsrecht ilber das eigene Leben nicht dazu, auch ilber fremdes Leben, dessen rechtlicher Schutz Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist, zu verfiigen285. Die konkrete Modalität der Selbstverfügung unterfällt zwar der allgemeinen Handlungsfreiheit286, doch wird diese Freiheit durch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung eingeschränkt. Das gleiche gilt selbstverständlich auch bei Einschaltung eines Dritten durch den Suizidenten: eine entsprechende Bewilligung des Suizidenten, der einen anderen zum Ziinden der Bombe auffordert, hat - bezogen auf die Gefahren fur Unbeteiligte - keine rechtliche Relevanz. Greift das selbstverfugende Verhalten in das Lebensrecht von Unbeteiligten ein, so besteht nicht nur ein Recht des Staates zum Eingreifen, sondern nach der Rechtsprechung des BVerfG dartiber hinaus sogar eine Schutzpflicht zugunsten der bedrohten Rechtsgüter287. Damit ist freilich nur das eine Ende der Skala markiert. An deren anderen Ende sind solche Fälle angesiedelt, bei denen die Sozialschädlichkeit marginal und in ihrem Umfang notwendig mit einer fur die Selbstverwirklichung der Person elementaren selbstverfügenden Entscheidung verknüpft ist. Zwischen diesen Eckpunkten entfaltet sich ein weiter Bereich, der dem Gesetzgeber im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Wesensgehaltsgarantie bzw. der Pflicht zur Beachtung der Menschenwiirde zur Regelung eröffnet ist288.
aa) Soziale Sinngehalte, bei deren Verknüpfung mit selbstverfügendem Verhalten dieses grundsätzlich als Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung in Betracht kommt Die zentrale grundrechtliche Frage, die vor Aufnahme jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung beantwortet werden muß, ist freilich die, unter welchen Voraussetzungen einem selbstverfugenden Verhalten eine zusätzliche Dimension zukommen kann, 285 286
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Siehe zu einem ähnlichen Beispiel Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 208 f. A.A. Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 13, wegen der oben schon erwähnten Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit auf nicht-strafbares Verhalten. BVerfGE 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I). Siehe auch die Darstellung der unterschiedlichen Fallgruppen bei Schwabe, JZ 1998, 70 ff.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verftigungsfreiheit
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die geeignet ist, die verfassungsmäßige Ordnung zu verletzen289. Diese Frage hat ftir die hier erörterte Problemstellung deshalb erhebliche praktische Relevanz, weil selbstverfiigendes Verhalten nur selten (und dann meist nicht notwendig) in solche Interessen anderer bzw. der Allgemeinheit eingreift, die ohne weiteres rechtlichem Schutz unterliegen (wie in dem oben geschilderten Beispiel) bzw. im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung unter solchen Schutz gestellt werden können. Das BVerfG verlangt fur jeden Eingriff in die Willkürfreiheit des Einzelnen, daß er dem „Schutz öffentlicher Interessen" dient290. Aus der normativen Bedeutung der Freiheitsrechte folge nämlich, daß das Grundgesetz der staatlichen Gewalt „prinzipielle Grenzen" setze291. „Das Grundgesetz hat nicht eine virtuell allumfassende Staatsgewalt verfaßt, sondern den Zweck des Staates materialiter auf die Wanning des Gemeinwohls beschränkt, in dessen Mitte Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen"292. In einem freiheitlichen Staat ist es damit ausgeschlossen, dem Staat eine Kompetenz zu beliebiger Zwecksetzung zuzuerkennen293. Zu entscheiden, welche normative Ausgestaltung eines Lebenssachverhalts im Interesse des Gemeinwohls liegt, obliege allerdings in erster Linie dem Gesetzgeber; ihm komme - im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bindungen - ein Einschätzungsund Bewertungsvorrang zu294. Der Gesetzgeber ist damit nicht auf solche Zwecksetzungen beschränkt, die er nach der Verfassung verfolgen muß, sondern es reicht aus, wenn der verfolgte Zweck mit der Verfassung im Einklang steht295. Von vornherein ausgeschlossen sind Einschränkungen der Handlungsfreiheit jedenfalls dort, wo jeder Bezug der selbstverfugenden Entscheidung in Richtung auf die anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft fehlt. Aber abgesehen davon, daß sich sozial vollkommen wirkungslose Selbstverfilgungen kaum vorstellen lassen296, kann sich die strafrechtliche Frage nach der Opferselbstverantwortung letztlich ohnehin nur dann stellen, wenn die selbstverfugende Entscheidung unter Beteiligung eines Außenstehenden vollzogen wird, womit dieser soziale Bezug in den hier interessierenden Fallen wohl stets gegeben ist. Weiter muß der negative Sozialbezug einer entsprechenden Bewertung durch das Recht unterliegen. Die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung kann - im 289
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Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG bei Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 19ff. BVerfGE 76, 1, 51 (Familiennachzug); 78, 77, 85. BVerfGE 42, 312, 331 f. (BEK). BVerfGE 42, 312, 332 (BEK). Diese Frage ist der nach der Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung deshalb logisch vorgeordnet, weil die Verhältnismäßigkeit nur die Frage beantworten kann, welche Einschränkungen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. sind. Über die Legitimität des Zwecks kann die Verhältnismäßigkeitsprüfung deshalb naturgemäß keine Aussagen treffen. Die Identifizierung von Gemeinwohl und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 119 ff., 130 vermag deshalb nicht zu überzeugen. BVerfGE 59, 216, 229. Siehe etwa Sachs, Verfassungsrecht II, A 10 Rn. 33. Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 205 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Unterschied zu einer vielfach zur Schranke des Sittengesetzes vertretenen Auffassung - nur eingreifen, wenn das Recht einem bestimmten Verhalten entgegensteht. Ausgeschlossen ist damit eine Einschränkung der Handlungsfreiheit nur deshalb, weil eine Handlung moralischen Bedenken unterliegt297. Die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung kann also nicht allein deshalb eingreifen, weil eine Handlung einen unmoralischen Sinngehalt aufweist. Eine andere, noch zu behandelnde Frage ist aber die, ob ein Verhalten iiber die negative moralische Beurteilung hinaus sozialpsychologisch vermittelte Folgewirkungen im sozialen Raum auslösen kann, auf deren Ausbleiben ein rechtlicher Anspruch besteht. Es geht dann aber nicht mehr um die inhaltliche Bewertung des moralwidrigen Verhaltens, sondern darum, inwieweit das Recht durch die mit der Beeinträchtigung moralischer Orientierungen der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft möglicherweise verbundenen Folgewirkungen verletzt sein kann. Ausgeschlossen ist es damit auch, nicht näher spezifizierte, in ihrer rechtlichen Bedeutung unaufgeklärte „legitime Grilnde des Allgemeinwohls" geltend zu machen, die den Schutz des Menschen vor sich selbst erlauben298. Dagegen behauptet aber das BVerfG, es sei ein „legitimes Gemeinwohlanliegen", „Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen"299. Aufklärungsbedürftig bleibt in einer solchen Formulierung aber schon, fur welche Belange der Allgemeinheit überhaupt eine Gefahr bestehen soil, deren Abwendung ein Anliegen des Gesetzgebers sei300. Wenn man die Formulierung des BVerfG dahingehend verstehen wollte, Gemeinwohlanliegen sei der Schutz des Menschen vor sich selbst als solcher (also auch ohne daß aus Selbstverfugungen weiterer Schaden fur die Allgemeinheit resultiert), läßt sich dieses Anliegen nicht in eine Schranke zum Schutze der Allgemeinheit transformieren. Es kann mit Blick auf die sich in Selbstbestimmung verwirklichende Menschenwürde nicht zulässig sein, generell den Schutz des einzel-
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In diesem Sinne auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 318; Göbel, Die Einwilligung, S. 42. BVerfG, in: N J W 1999, 3399, 3402 (Transplantationsgesetz). BVerfG, in: N J W 1999, 3399, 3 4 0 1 (Transplantationsgesetz), unter Berufung auf BVerfGE 60, 123, 132 (Altersgrenze für Geschlechtsanpassung). Ähnlich B G H , N J W 2004, 2458, 2460: E s liege „im Allgemeininteresse", die Möglichkeit existentielle Verfugungen ilber das Rechtsgut der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder des eigenen Lebens zu treffen, zu begrenzen. (Nur) etwas präzisierend allerdings der Hinweis, es handle sich u m „generalpräventiv-fursorgliche" Eingriffe des Staates (S. 2459). Auch die in Bezug genommene Entscheidung BVerfGE 60, 123, 132 (Altersgrenze fur Geschlechtsanpassung) gibt insoweit keinen Aufschluß, da es in dieser Entscheidung lediglich u m die Einführung einer Altersgrenze zum Schutz vor Übereilung ging, aber Strafrechtlicher nicht u m das Verfugungsrecht überhaupt (zutreffend Woitkewitsch, Schutz, S. 27 ff).
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfligungsfreiheit
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nen vor sich selbst zum Anliegen der Allgemeinheit zu erklären301, denn auf diesem Wege wiirde der um des Betroffenen selbst willen illegitime Schutz des Menschen vor sich selbst ohne zusätzliche Begründung zu einem Anliegen der Allgemeinheit302. Der Staat kann nicht beliebig die Sache der Burger zu seiner eigenen machen; wo er nicht um des Burgers selbst willen eingreifen darf, darf er es auch nicht mit der Behauptung, das Wohl des Burgers liege im Interesse der Allgemeinheit. Das BVerfG bleibt in seiner Entscheidung hinter seiner eigenen Einsicht zurück, daß der Staat nicht die Aufgabe hat, seine Burger zu „bessern"303'304. Relativ klare Fälle prinzipiell möglicher Einschränkung der Handlungsfreiheit sind dagegen solche, bei denen eine Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung mit bestimmten Selbstverfugungen deshalb einhergeht, weil der Entscheidende mit der Verfugung bestimmte Leistungspflichten verletzt, wie dies bei der Wehrpflicht- oder Wehrdienstentziehung durch Verstümmelung (§ 109 StGB; § 17 WStG) der Fall ist305. Jedenfalls wenn die Verfugung gerade die Pflichtentziehung bezweckt, ist die Einschränkung der Handlungsfreiheit unter diesem Gesichtspunkt prinzipiell möglich (siehe dazu noch unten bb) (2)). Grundsätzlich denkbar sind Einschränkungen der Handlungsfreiheit auch mit Blick auf sonstige soziale Folgekosten306, die der Allgemeinheit durch eine selbstverfugende Entscheidung auferlegt werden307. Entscheiden sich die vielen Einzelnen in einer Gesellschaft, ihre jeweilige Selbständigkeit in bestimmten Notlagen durch Leistungen der Solidargemeinschaft zu erhalten, so kann zu einem solchen Konzept auch die rechtliche Pflicht gehören, bestimmte Risiken nicht einzugehen308. Praktisch relevant sind diese Fragen insbesondere bei der Diskussion um
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Umgekehrt läßt sich freilich argumentieren, wenn man aus der Menschenwiirde ein Verfllgungsverbot iiber das Leben ableitet. Denn eine so verstandene Menschenwürde gegen den Betroffenen durchzusetzen läßt sich dann auch zur Aufgabe der Allgemeinheit machen; so Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 53 f. Zur Entscheidung des BVerfG (NJW 1999, 3399) zutreffend Gutmann, NJW 1999, 3388; siehe ferner Schroth, JZ 1997, 1153 f.; Gutmann, MedR 1997, 152 ff. BVerfGE 22, 180, 219 f. (Jugendhilfe). Jedenfalls mit der Begründung, der Einzelnen sei im Dienste des Gemeinwohls vor sich selbst zu schützen, läßt sich demnach die Vorschrift des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG, die die altruistische Lebendspende eines Organs unter Fremden verbietet, nicht als verfassungsgemäß ausweisen; siehe Gutmann, N J W 1999, 3388. A u s der Rechtsprechung des BVerfG siehe E 3 0 , 4 7 , 53 f. (dazu Hillgruber, D e r Schutz, S. 66 ff.). Bei weitem zu unspezifisch ist es allerdings, wenn Zipf, Einwilligung, S. 32 f. als Begrilndung der eingeschränkten Dispositionsbefugnis iiber das Rechtsgut „Leben" anfuhrt, daß der Erhalt dieses Rechtsguts „fur die Gemeinschaft als so wichtig angesehen wird, daß sie sich das (Mit-) Entscheidungsrecht vorbehält". Dazu Schwabe, J Z 1998, 72 ff. mit berechtigter Kritik an der ablehnenden Auffassung von Hillgruber, Der Schutz, S. 102, 160 f. Zutreffend weist Walter Schmidt, JZ 1993, 833 darauf hin, daß die von Hillgruber fur dessen ablehnende Haltung gegen Einschränkungen der Freiheit mit Blick auf deren soziale Folgekosten in Anspruch genommenen „Altliberalen" von Humboldt und von
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
die Gurtanlegepflicht309 und um die Pflicht zum Tragen von Schutzhelmen bei Kraftradfahrern310 geworden311. Als Problem der sozialen Folgekosten in einem weiteren Sinne lassen sich auch solche Fälle begreifen, in denen selbstverfügende Entscheidungen aus sozialen Not- oder Konfliktlagen getroffen werden312. Hierher gehören etwa Selbstverfugungen, die aus Verhältnissen wirtschaftlichen oder sozialen Ungleichgewichts veranlaßt sind, etwa wenn eine Person bereit ist, unter Mißachtung von Vorschriften zu arbeiten, die ihrem Schutz als Arbeitnehmer dienen313 oder wenn eine Person eine Wohnung anmietet, die gewissen feuerpolizeilichen Anforderungen nicht genügt314 oder wenn eine Person aus wirtschaftlichen Gründen zu einer Organspende bereit ist315. Besondere Schwierigkeiten stellen sich dort, wo die beeinträchtigten Interessen anderer gleichsam weniger „handfest" sind, nämlich lediglich (sozial-) psychologisch vermittelte Beeinträchtigungen in Betracht kommen. Wenn in solchen Fallen unmittelbare Rechtsverletzungen Dritter bzw. der Allgemeinheit gerade nicht ersichtlich sind, dann eröffhet sich hier noch das weiteste Einfallstor ftir Verbote selbstverfügender Entscheidungen bzw. darauf bezogenen Verhaltens Außenstehender. Gerade in diesem Bereich, in dem schon die Begründung von der Selbstverfügung entgegenstehenden Rechten besondere Schwierigkeiten bereitet, ist deshalb auch die Legitimität von Einschränkungen der Selbstverfügungsfreiheit besonders umstritten. (Sozial-) psychologische Folgewirkungen werden vor allem bei der Beurteilung solcher Selbstverfügungen herangezogen, die oben (2. Teil, VI. 3.) durch ihre desorientierende Wirkung auf die anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft oder zumindest durch ihren störenden Einfluß auf das Gefuhlsleben der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft gekennzeichnet worden waren. Es geht hier um solche Konstellationen, bei denen die rechtliche Anerkennung der selbstverfugenden Entscheidung entweder die Achtung der prinzipiellen Unantastbarkeit des Rechtsguts, über das verfügt wird, in Zweifel zieht oder zwar der Achtungsan-
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Rotteck in einer Welt gelebt haben, in der entsprechende soziale Sicherungssysteme nicht existiert haben. BVerfG, N J W 1987, 180; EKMR, EuGRZ 1980, 170. BVerfüE 59, 275, 278 f. Zustimmend zur Vereinbarkeit solcher Pflichten mit Art. 2 Abs. 1 GG etwa Doehring, in: FS für Zeidler, S. 1556 f.; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, S. 77 ff.; v. Münch, in: FS für Ipsen, S. 119 f.; Schwabe, JZ 1998, 72 ff. Kritisch Freund, AT, § 1 Rn. 15 mit Fn. 18; Hillgruber, Der Schutz, S. 99 ff.; Jagusch, NJW 1977, 940 f; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 50ff.;Stretcher, NJW 1977, 282 ff. Seebode, JR 1986, 268 f.; Spendel, in: FS für v.der Heydte, S. 1228 f.; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 98 ff. Hier tritt freilich neben dem Sozialbezug auch der defizitäre Charakter einer solchen Entscheidung in den Blick; vgl. dazu noch unten 4. Teil III. 1. Vgl. OLG Naumburg, NStZ-RR 1996, 229; dazu Otto, JK 97, StGB Vor § 13/9 Vgl. RGSt61,318, 319 f. Freilich wird in solchen Fallen mit Blick auf das bestehende Abhängigkeitsverhältnis vielfach (auch) ein Entscheidungsdefizit vorliegen (siehe dazu noch unten 4. Teil, III.).
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spruch des Rechtsguts nicht leidet, aber die selbstverfügende Entscheidung (gerade wegen der Achtung des Rechtsguts) die Gefiihlswelt anderer Mitglieder der Rechtsgemeinschaft unangenehm berilhrt. Oben (2. Teil, VI. 3.) ist schon herausgearbeitet worden, daß es nicht gegen den rechtsverletzenden Charakter eines solchen Verhaltens spricht, daß sich dessen negative Auswirkungen erst iiber Reaktionen anderer Mitglieder der Rechtsgemeinschaft realisieren und diese Mitglieder hierfur zumindest eine Mitverantwortung tragen. Das ist vor allem an der Gefahr desorientierender Wirkung der rechtlichen Anerkennung gewisser Selbstverfugung deutlich geworden, denn normativ ware freilich zu erwarten, daß die iibrigen Rechtsgenossen den normativen Unterschied zwischen einem bewilligten und einem nicht-bewilligten Verhalten nachvollziehen und sich entsprechend verhalten. Doch ist der Gesetzgeber auch berechtigt, solchen Gefahren fur Rechtsgilter entgegenzuwirken, die sich aus allein empirisch - nicht normativ - erwartbarem Fehlverhalten eines gewissen Teils der Bevölkerung ergeben. Besteht also die Gefahr, daß die rechtliche Anerkennung gewisser Selbstverfugungen einen Geltungsverlust der das jeweilige Rechtsgut schützenden Normen nach sich zieht, so kann sich die Nichtanerkennung der rechtlichen Bedeutsamkeit der selbstverfugenden Entscheidung auf den Schutz dieses Gutes vor dessen Herabwertung stiitzen, denn diese begrilndet die Gefahr von nichtbewilligten Übergriffen auf dieses Gut. Verdeutlichen läßt sich dieser Zusammenhang vor allem am Rechtsgut „Leben", dessen Tabuisierung nach vielfach vertretener Auffassung den normativen Hintergrund zu § 216 StGB316 bietet: Die materiale Berechtigung fur eine Einschränkung der Wirksamkeit solcher Verfugungen iiber das Leben, die in Form der Eingriffsbewilligung ergehen, könnte sich daraus ergeben317, daß eine Freigabe solchen Verhaltens die Achtung vor dem Lebensrecht in einer Gesellschaft insgesamt reduzieren318 und damit eine Atmosphäre schaffen könnte, durch die nicht bewilligte Eingriffe in dieses Recht begtlnstigt wtirden319. Die 316
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Vereinzelt werden solche Erwägungen allerdings auch fiir eine Strafbarkeit der indirekten Sterbehilfe angeführt; so Gössel, B T I, § 2 Rn. 3 3 . Ausgeblendet bleibt hier der Schutz d e s Bewilligenden selbst, da es hier n u n um Schranken aus der Sozialbindung geht. Soweit man in der Freigabe die Gefahr erblickt, daß unter gewissen Umständen - insbesondere zu Lasten schwer kranker oder alter Patienten - ein Bewilligungsdruck entstehen könnte (so Seidler, in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, 6. Ausschuß, Protokoll Nr. 5 1 , Anlage S. 113), handelt es sich u m den Schutz v o r solchen Entscheidungen, die nicht selbstbestimmt ergehen; dazu unten 4. Teil, III. Das aufgezeigte Szenario nimmt dabei bisweilen geradezu dramatische Züge an: Freigabe der Tötung auf Verlangen als „der erste Schritt in Richtung auf eine moralische Wildnis" und als „Sintflut eines moralischen Abstiegs" (Giesen, JZ 1990, 943). In diesem Sinne etwa Dach, Einwilligung, S. 73 f.; Dölling, G A 1984, 8 6 f.; Eser, Sterbehilfe, S. 69; Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 105; Geilen, Euthanasie, S. 29; Giesen, JZ 1990, 935, 9 4 3 ; Herzberg, N J W 1996, 3047; Hirsch, in: FS fur Welzel, S. 779; ders., in: FS fur Lackner, S. 612; Hufen, N J W 2 0 0 1 , 855; v. Lutterotti, M e d R 1992, 11 (unter Hinweis auf den Instinkt der Tötungshemmung und die Verletzlichkeit dieses Prinzips) und S. 12 f. (zu Ergebnissen des „holländischen Experiments"
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rechtliche Wirkungslosigkeit von Verfugungen iiber das Leben in Form von Totungsverlangen könnte sich also aus dem Recht des Staates zum Schutz des Lebens (Art. 2 Abs. 2 GG) legitimieren lassen320. Dagegen wird das „Risiko des nächsten Schritts"m (gleichbedeutend: das „slippery-slope-Argument", die Gefahr einer „schiefen Bahn" oder der „Dammbrucheffekt"322), also die ebenfalls im Kontext einer Freigabe der Tötung auf Verlangen diskutierte Gefahr, daß eine solche Freigabe den Weg fur weitere Lockerungen durch den Gesetzgeber323 bahnen könnte (wie etwa die Ersetzung der Einwilligung durch eine Entscheidung staatlicher Organe) kaum ein ilberzeugendes Argument gegen den ersten Schritt abgeben324'325> 326. Derm der Gesetzgeber kann
- iiberzeugende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der dort wiedergegebenen Berichte bei Reinhard Merkel, Arztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 181 f); Roxin, AT I, § 2 Rn. 18; Saal, NZV 1998, 54; H.-L. Schreiber, NStZ 1986, 339; kritisch Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 19 f. Vgl. Hillgruber, Der Schutz, S. 163 f.; Hufen, NJW 2001, 855. Deutlich zu kurz greift es dagegen, wenn Maatsch, Selbstverfugung, S. 41 in der auf eine Erosion des Totungsverbots gestiitzten Legitimation staatlicher Zwangsrechtseingriffe (nämlich des § 216 StGB) einen Verstoß gegen die Menschenwürde erblickt, weil dem Täter „unmittelbar" kein Unrecht angelastet werde und er deshalb zum bloßen Objekt staatlicher Gewalt werde. Die Verwirklichung von Unrecht ist aber nicht an ein Unmittelbarkeitserfordernis gekniipft und es ist gerade die Frage (deren Beantwortung Maatsch durch seinen Rekurs auf die Menschenwiirde zwar voraussetzt, aber nicht leistet), ob das Rechtsverhältnis zu den anderen auch durch Handlungen verletzt werden kann, die zwar nicht den Achtungsanspruch des konkret vernichteten Lebens, wohl aber den des Lebens ilberhaupt (soweit also die anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft die Rechtsgutsträger sind) herabsetzen. Dach, Einwilligung, S. 72; Eser, Sterbehilfe, S. 69; Hirsch, in: FS für Welzel, S. 791; ders., in: FS für Lackner, S. 613; Tröndle, ZStW 99 (1987), 39 f. Die Begriffe werden freilich nicht einheitlich gebraucht. Verschiedentlich wird mit dem Risiko eines „Dammbruchs" oder der „slippery-slope" ganz allgemein auf einen Verlust der Achtung vor dem Leben und den damit verbundenen Gefahren hingewiesen (in diesem Sinne z.B. Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 358 ff. und - inhaltlich kritisierend - Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 118 f), also nicht nur die Möglichkeit weiterer rechtlicher Freigabe ins Auge gefaßt, sondern auch die Mo'glichkeit tatsächlicher Mißachtungen des Lebensrechts, die vorliegend im Zusammenhang mit der „Tabuisierung" dargestellt wurde. Dezidiert im Sinne der hier getroffenen Unterscheidung aber etwaf.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 567 f. Hier liegt der Unterschied zum Tabu- und auch zum Mißbrauchsargument, die zuweilen in unklarer Weise vermengt werden, so z.B. von Herzberg, NJW 1986, 1642; ders., NJW 1996, 3047. Auch in der eingehenden Untersuchung von Guclces, Das Argument der schiefen Ebene, S. 5 ff. spielt dieser Unterschied keine zentrale Rolle (wobei das Argument in der Variante des „Präzedenztypus" [Guckes, a.a.O., S. 44 ff] das Abgleiten der Judikatur auf die schiefe Ebene zumindest einschließt; zur Bedeutung fur die Sterbehilfe vgl. Guckes, a.a.O., S. 210 ff). Dazu instruktiv Engisch, in: FS fur Schaffstein, S. 2 ff, wo insbesondere (S. 9) darauf hingewiesen wird, daß das Argument des nächsten Schritts nicht überzeugt, wenn zwi-
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sich nicht gleichsam auf eine ihn selbst desorientierende Wirkung seiner Entscheidungen und damit auf seine eigene Unfähigkeit berufen, die grundgesetzlich gezogenen oder in diesem Rahmen fllr richtig gehaltenen Grenzen einzuhalten, um mit dieser Begriindung die Handlungsfreiheit der Bürger über das erforderliche Maß hinaus einzuschränken327. Das gilt sowohl fur die logische als auch fur die empirische Version des Arguments aus dem „Risiko des nächsten Schritts"328. Soweit die Grenzziehung normative Angemessenheit beanspruchen will, ist der nächste Schritt (nämlich der in die Illegitimität) logisch gerade nicht plausibel329. Aber auch empirisch ist er nicht erwartbar330, solange ein Gesetzgeber sich dem rationalen Umgang mit normativen Maßstäben verpflichtet flihlt und der nächste Schritt diesen Maßstäben nicht gerecht werden wiirde (wobei das Erfordernis eines rationalen Umgangs mit normativen Maßstäben nicht etwa im Belieben des Gesetzgebers steht - womit ein normativer Einwand gegen die Zulässigkeit der empiri-
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schen einem geforderten und einem möglichen weiteren Schritt sachliche Differenzierungsgesichtspunkte liegen, die diesen weiteren Schritt nicht bloß als Konsequenz des ersten erscheinen lassen. A.A. — der Gesetzgeber dlirfe d e m D a m m b r u c h - A r g u m e n t R e c h n u n g tragen - Hufen, N J W 2 0 0 1 , 855 (wobei nicht ganz deutlich wird, o b diesem Argument der hier zugrundegelegte Sinn gegeben wird). Gegen das Dammbruchargument ist auch vorgetragen worden, es könne nicht plausibel machen, warum es nicht bereits gegen die Freigabe der Teilnahme a m Suizid zu richten sei (so Herzberg, N J W 1996, 3045; Scheffler, Sterbehilfe mit System, 257). So meint Herzberg, N J W 1996, 3044, daß von den Vertretern des Dammbrucharguments der nicht einzureißende D a m m immer gerade dort errichtet wird, w o nach der jeweiligen Auffassung die Grenze von erlaubter und verbotener Fremdtötung verlaufen sollte. Engisch, in: F S fur Schaffstein, S. 2 hat ilbrigens zu Recht darauf hingewiesen, daß es eher eine perspektivische Frage nach der fur richtig gehaltenen Wegrichtung ist, o b man nicht gerade umgekehrt die in § 216 StGB manifestierte Grenze der Selbstverfugungsfreiheit als den ersten Schritt in eine Gesellschaft interpretiert, in der j e d e Selbstverfilgung verboten wird, also das Selbstbestimmungsrecht ganz unerträglich eingeschränkt ist. Z u dieser Differenzierung Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme z w i schen Leben und Tod, S. 182 ff. Eingehend zu dieser und zu weiteren Differenzierungen Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 15 ff. Feinberg, Harm to self, S. 346; prinzipiell gegen die logische Version des Arguments Guckes, Das Argument der schiefen Ebene, S. 16 ff. - Neben der Sache liegt es deshalb, wenn Tröndle, Z S t W 9 9 (1987), 3 9 die Gefahr des Dammbruchs mit der Erwägung beschwört, wenn „man den Tod im Gewande der Wohltat" gewähre, „dann werden bald auch die Wohltäter d a s Sagen dariiber haben, wem zum Gnadentod zu verhelfen ist". Wird nämlich schon der erste Schritt „im Gewande der Wohltat" gegangen, dann geht schon dieser Schritt in die falsche Richtung und der zweite Schritt zur Fremdbestimmung ist in Wahrheit schon vollzogen. 1st die Begriindung fur den ersten Schritt hingegen das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, dann wird dadurch eine fremdbestimmte Tötung durch „Wohltäter" keineswegs vorbereitet. Dazu auch Hoerster, N J W 1986, 1791 („rational unausgewiesene A d hoc-Annahmen"); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 118 f.
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schen Version des Arguments aus dem „Risiko des nächsten Schritts" ilberhaupt erhoben ist). Wenn H. J. Hirsch beklagt, daß in Gesellschaftsordnungen (und gemeint ist offenbar auch die bundesrepublikanische) „die 'Selbstverwirklichung' des einzelnen zu einem immer höher eingestuften Wert eskaliert"331, dann mag er das persönlich bedauern, ein rechtliches Argument gegen eine gesellschaftspolitische Entwicklung läßt sich daraus so lange nicht gewinnen, wie sich diese im von der Verfassung gezogenen Rahmen bewegt. In solchen Äußerungen macht sich offenbar die Vorstellung geltend, von einer individuell verbindlichen moralischen Warte aus als fehlerhaft empfundene gesellschaftliche Veränderungen mit Mitteln des Rechts korrigieren zu diirfen. Geradezu absurd wird der Zustand eines demokratischen Staates schließlich vorgestellt, wenn gesagt wird: „Die Einstiegsdroge auf dem Weg in die Euthanasiegesellschaft ist die sogenannte 'Tötung auf Verlangen'"332. Mit solchen Überlegungen wird behauptet, daß es ab einer gewissen Schwelle „kein Halten mehr gibt" und die Mündigkeit von Staat und Gesellschaft aufhört333. Ebenfalls im Kontext von psychisch vermittelten Folgewirkungen steht schließlich das ebenfalls zur Legitimierung von § 216 StGB vielfach herangezogene „Mißbrauchsargument'024. Dieses Argument besagt335, daß eine Freigabe der To331 332
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Hirsch, in: FS für Lackner, S. 6 1 3 ; ähnliche Überlegungen bei Pelzl, KJ 1994, 198 f. Aus dem „Kinsauer Manifest; zitiert nach Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 169. Direkt im Gefolge des Dammbrucharguments steht die Zeichnung diisterer Szenarien, die sich aus der Aufhebung des Verbots bewilligter Fremdtötungen - gleichsam automatisch - ergeben sollen: „Tötungskliniken, in denen sozusagen gewerbsmäßig Menschen auf ihren Wunsch hin getötet werden, bis hin zu einer Gebilhrenziffer in der Gebiihrenordnung fur Ärzte für eine solche 'ärztliche Leistung'" (Günter Hirsch, ZRP 1986, 242; Tröndle, ZStW 99 [1987], 40; dazu treffend Hoerster, ZRP 1988, 3). Aber: „Tötungskliniken" sind keine selbstverständliche Folge, sondern ihre Einrichtung ware von einer entsprechenden politischen Entscheidung im demokratischen Staat abhängig. Die „Gebilhrenziffer" hätte nichts Erschreckendes, wenn man sich iiber die Rechtlichkeit der Leistung - und es ware tatsächlich eine ärztliche Leistung, Schwerstkranke auf ihren Wunsch hin zu töten - verständigt hat. E s trägt auch nicht zur Rationalität der Diskussion bei, historische Reminiszenzen an den Nationalsozialismus zu beschwören (so etwa Giesen, JZ 1990, 935; Gössel, B T I, § 2 Rn. 3 3 ; Günter Hirsch, Z R P 1986, 242: „gerade bei uns"; dazu treffend Hoerster, Z R P 1988, 3). Dies ist schon deshalb verfehlt, weil dieser sich gerade durch die M i ß achtung des Selbstbestimmungsrechts ausgezeichnet hat (zutreffend Hufen, N J W 2 0 0 1 , 856). Wer fur das Selbstbestimmungsrecht streitet betont gerade einen Anspruch des Individuums, den der Nationalsozialismus den Btirgern versagt hat (und den auch diejenigen den Bürgern versagen, die an der generellen Unverfugbarkeit des Lebens festhalten). Siehe stwaArzt, ZStW 83 (1971), 36; Dach, Einwilligung, S. 71 f; Engisch, Euthanasie, S. 18; Eser, Zum „Recht des Sterbens", S. 30 f; Hirsch, in: FS für Welzel, S. 791; ders., in: FS fur Lackner, S. 613 f; Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung, S. 139; Roxin, AT I, § 2 Rn. 18; ders., Der Schutz des Lebens, S. 93; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 14, Fn. 2; Tröndle, ZStW 99 (1987), 38; Verrel, JZ 1996, 226.
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tung auf Verlangen mit Blick auf die damit eröffhete Möglichkeit, sich zu Unrecht auf das Vorliegen eines Tötungsverlangens zu berufen, nicht bewilligte Fremdtötungen inspirieren könnte und der strafrechtliche Lebensschutz mit Blick auf diese Mißbrauchsmöglichkeit schließlich unabhängig davon ausgehöhlt würde, ob in den konkret zu beurteilenden Fallen tatsächlich ein Verlangen vorlag. Auch hier werden also Gefahren für das Lebensrecht solcher Grundrechtsträger geltend gemacht, die mit einer Verletzung dieses Gutes gerade nicht einverstanden sind. Auch insoweit ist es grundsätzlich möglich, Einschränkungen der Handlungsfreiheit mit dem Schutz des Lebens zu legitimieren. Kann sich also eine Einschränkung der Handlungsfreiheit bei der Gefahr der Desorientierung oder des Mißbrauchs möglicherweise noch mit Blick auf den Schutz des verfügten Rechtsguts (wenn auch nicht in der Person des Verfugenden, so doch bezogen auf andere Mitglieder der Rechtsgemeinschaft) legitimieren lassen, so trägt diese Begründung für eine Einschränkung der Handlungsfreiheit in solchen Fallen von vornherein nicht, in denen die Achtung vor dem Gut durch die rechtliche Anerkennung der Verfügung unbeeinflußt bleibt, aber bestimmte Gefuhle von Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft verletzt werden. Hier ist es also gerade ein Festhalten an gegenläufigen Wertvorstellungen, aus dem sich individuelle Betroffenheit wie auch ein soziales Risiko ergeben können. Es stellt sich also in einem ersten Schritt die Frage, ob auch „Gefühlsschutz" als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung die allgemeine Handlungsfreiheit beschränken kann. Das ware jedenfalls dann der Fall, wenn Gefuhle grundrechtlichen Schutz genössen und folglich ein staatliches Recht zu deren Schutz vor ungewollter Beeinträchtigung besttinde336'337. In diese Richtung weist etwa die Behauptung eines „Schutzrecht(s) des Einzelnen, nicht in unzumutbarer Weise mit Beeinträchtigungen seiner eigenen Wertvorstellungen konfrontiert zu werden (...)"338. Tatsächlich läßt sich die Bedeutung der psychischen Befindlichkeit fur das Wohlbefinden des Menschen so wenig leugnen wie der Umstand, daß als unangemessen empfundenes Verhalten der Mitmenschen auf dieses Wohlbefinden negativ Einfluß ausüben kann. Zu einer Rechtsbeeinträchtigung kann sich eine negative Einflußnahme auf die menschliche Psyche jedenfalls dort verdichten, wo die Beeinträchtigung des
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Dazu etwa Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 271; F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 570; Wassermann, DRiZ 1986, 296. Differenzierend Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 356 f. Kritisch Dölling, GA 1984, 85 f. (der dem Argument aber dann doch einen gewissen Stellenwert einräumt; siehe S. 88); Herzberg, NJW 1986, 1642 f.; Jakobs, FS für Arthur Kaufmann, S. 471 Fn. 39; ders., Tötung auf Verlangen, S. 21 f. Engisch, in: FS für H. Mayer, S. 412: „eine etwas fadenscheinige Begrtindung der Strafbestimmung" (des § 216 StGB). In seiner legitimen, nicht auf die Möglichkeit einer Verdachtstrafe gegründeten V a riante; siehe dazu noch näher 4. Teil, IV. 2. a) aa) (3). Siehe Schwabe, JZ 1998, 71 zur Schutzbediirftigkeit derer, die mit einer Selbstschädigung besonders nahe konfrontiert werden, wie etwa die Lockführer, vor deren Z u g sich ein Suizident wirft. Zur Schutzpflicht - und dem darin enthaltenen Schutzrecht - siehe oben 1. a). Robbers, Sicherheit, S. 223.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
psychischen Wohlbefindens in eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens umschlägt339 und dort, wo das seelische Leid eine gewisse Erheblichkeit erreicht (wie beim „Quälen" in § 225 Abs. 1 StGB340). Aber auch unterhalb solcher Schwellen, bei deren Erreichen bereits der Einsatz von Strafe gegen den solche Beeinträchtigungen Hervorrufenden in Betracht kommt341, wird man der Bedeutung psychischen Wohlbefindens fur den Menschen rechtliche Anerkennung nicht prinzipiell versagen können. Ein möglicher Ort fur die rechtliche Erfassung eines „Recht(s) auf Achtung der persönlichen Gefuhlswelt und Integrität des Seelenlebens" ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG342. Diese Verortung ist plausibel, wenn man berücksichtigt, daß das Gefuhlsleben einen innersten Bereich der Person ausmacht, der fur ihre Selbstorientierung und Entfaltung wesentlich ist. Erreicht eine Beeinträchtigung des Gefuhlslebens die Qualität einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so ist die Einsicht, daß im Feld der sozialen Beriihrungen die negativen Einflußnahmen auf das Gefuhlsleben vielfältig sind und es in aller Regel Sache des Einzelnen ist, psychisch wirkende Einflußnahmen zu verarbeiten, danach grundrechtsdogmatisch dem Bereich der Schranken zuzuordnen. Häufungen solcher Gefühlsverletzungen können - in einem zweiten Schritt zu Beeinträchtigungen des sozialen Friedens filhren. Im äußersten Fall lassen sich Mißachtungen des staatlichen Gewaltmonopols zur Durchsetzung der als richtig empfundenen Wertvorstellungen denken. Damit tritt die Sicherung der Bedingungen der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens in den Blick, die gleichfalls als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ein möglicher Legitimationsgrund der Einschränkung individueller Handlungsfreiheit ist343. Weitere - teilweise sehr bereichsspezifische - Interessen anderer, die einer Selbstverfugung (oder bestimmten Formen der Selbstverfllgung, insbesondere der Übertragung der Ausfuhrung auf Dritte) entgegenstehen können, ließen sich nennen344. So ist bei der Diskussion um die Frage, ob Ärzte zur Leistung aktiver Sterbehilfe berechtigt sein sollen, auf Gefahren fur das ärztliche Standesethos345 und fur das Vertrauensverhältnis der Patienten zur Ärzteschaft hingewiesen worden, wenn deren Aufgabe nicht ausschließlich Heilung, Linderung und Lebenserhal-
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Für das Verfassungsrecht (Art. 2 Abs. 2 GG) BVerfGE 56, 54, 75 (Fluglärm); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 2 Rn. 62; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 219 ff.; fur das Strafrecht, Lackner/Kühl, § 223 Rn. 5. Siehe Lackner/Kühl, § 225 Rn. 4. Siehe dazu noch Hirsch, in: FS fur Welzel, S. 781. So Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 222 ff.; Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, S. 256 ff. Fur das Strafrecht hat Göbel, Die Einwilligung, S. 39 ff. den Schutz des sozialen Friedens als Legitimationsgrund der Strafbarkeit bewilligter Fremdtötungen nach § 216 StGB geltend gemacht (dagegen Krack, KJ 1995, 74 f ) . Vgl. z.B. eingehend zum Problem der Selbsttötung der in familiären Bezügen stehenden Person Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 121 ff. Dazu - kritisch - Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 353 ff.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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tung, sondern je nach Sachlage auch die Gewährang des „Gnadentodes" ware346. Die Aufzählung denkbarer Interessen ist damit freilich längst nicht abgeschlossen.
bb) Wesensgehalt - Menschenwürde - Verhältnismäßigkeit Mit der Einsicht, daß eine ganze Reihe rechtlich geschiltzter Interessen anderer in unterschiedlichster Weise durch die selbstverfiigende Entscheidung betroffen werden können, ist aber noch nicht gesagt, daß deren Schutz auch einen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Selbstverfügungsfreiheit legitimieren kann. Denn die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung steht ihrerseits unter den Einschränkungen (Schranken-Schranken) des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit347 und der Beachtung der Wesensgehaltsgarantie bzw. der Menschenwiirdegarantie.
(1)
Wesensgehaltsgarantie
Freilich ist sowohl der Inhalt dieser Schranken-Schranken als auch deren Verhältnis zueinander in Judikatur und Literatur tiefgreifenden Unsicherheiten ausgesetzt, die hier nicht vollständig ausgelotet werden können348. So wird der Wesensgehalt der Grundrechte teilweise relativierend im Sinne der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes interpretiert349; teilweise wird aber auch eine absolute Bestimmung vertreten, die den Wesensgehalt in einem Kernbereich der einzelnen Grundrechte erblickt350, wobei dann allerdings die Festlegung dieses unantastbaren Kernbereichs Schwierigkeiten bereitet. Innerhalb der absoluten Theorien lassen sich wiederum objektive und subjektive Theorien unterscheiden. Die Vertreter der letztgenannten Theorien sehen den absolut geschützten Kernbereich als einen dem einzelnen Grundrechtsträger zustehenden Bereich subjektiver Rechte an (Schutz des subjektiven Grundrechtsgehalts). In dem Bemühen um Konkretisierung dieses Bereichs wird der Gedanke vorgetragen, der Wesensgehalt sei mit dem Menschen-
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Bockelmann, Strafrecht d e s Arztes, S. 2 4 ; Giesen, J Z 1990, 932, 934; v. Lutterotti, M e d R 1992, 11. Freilich liegt der Einwand nahe, daß sich das Vertrauen in A u s n a h m e fällen gerade auch auf Hilfe zum Sterben richten mag. Als Nebenwirkung ist die todbringende Hilfe bei der indirekten Sterbehilfe weitgehend anerkannt. Zweifel an den beschriebenen Gefahren fur d a s Vertrauensverhältnis auch bei Birnbacher, T u n und Unterlassen, S. 355 f. Vgl. etwa Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, G G I, Art. 2 Rn. 28. Siehe dazu etwa Bleckmann, D i e Grundrechte, § 12 Rn. 135 ff; Arthur Kaufmann, Was heißt „Wesensgehalt" der Grundrechte?, S. 23 ff.; Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts, S. 76 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 847 ff. B G H S t 4, 375, 377; 4, 385, 392; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 2 7 0 ff; Hesse, Grundziige d e s Verfassungsrechts, Rn. 332; Maunz, in: Maunz/Diirig, G G , Art. 19
Abs. 2Rn. 16. 350
In diesem Sinne auch das BVerfG; vgl. dazu mit zahlreichen Nachw. Stern, Staatsrecht III/2, S. 853 ff.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
wilrdegehalt der einzelnen Grundrechte gleichzusetzen351 oder es bestünden zumindest wesentliche Überschneidungen352. Die Vertreter der objektiven Theorien wollen den absolut geschützten Kernbereich auf das Grundrecht im allgemeinen beziehen353 (Schutz des objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts). Diese Sichtweise liegt insbesondere für ein institutionelles Grundrechtsverständnis nahe. Der unantastbare Kernbereich liegt dann im Erhalt der durch ein Grundrecht gewährleisteten Institution als solcher354. Die objektive Bestimmung des Wesensgehalts, derzufolge „das Grundrecht als solches, die Grundrechtsnorm (...) im wesentlichen erhalten bleiben" müsse355, ist immerhin insofern zutreffend, als bereits darauf hingewiesen wurde, daß auch der subjektive Gehalt der einzelnen Grundrechte einen objektiv-rechtlichen Gehalt voraussetzt, an den der subjektive Gehalt im Sinne einer Schutzdimension anknüpfen kann356. Ohne eine dem Einzelnen objektiv zustehende Freiheit kann es auch kein subjektives Abwehrrecht gegen Eingriffe in diese Freiheit geben. Die Zielrichtung der Wesengehaltsgarantie ist damit aber noch nicht erfaßt. Derm abgesehen davon, daß man fragen kann, welcher objektive Gehalt von einem Grundrecht bleibt, das fur den Einzelnen (oder fur viele Einzelne?) jeden Gehalt verloren hat, verkennt eine Beschränkung der Wesensgehaltsgarantie auf diese objektive Seite die zentrale Bedeutung der Grundrechte als Rechte der Burger (vor allem als Abwehrrechte) und damit deren Bedeutung als subjektiv-öffentliche Rechte357. Der von den Vertretern einer objektiven Theorie geltend gemachte Umstand, daß es Fälle gebe, in denen ein Grundrecht fur den Einzelnen jeden oder praktisch jeden Gehalt verliere (lebenslange Freiheitsstrafe, gezielter Todesschuß) erzwingt keine objektive Theorie358, wenn man sich auf eine Sichtweise einläßt, die den Menschenwiirdegehalt der Einzelgrundrechte nicht mit einem naturalistischen Befund gleichsetzt (dazu näher unten und schon oben 1. b) dd)). Die relative Theorie wird vielfach deshalb abgelehnt, weil sie entgegen dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 2 GG („In keinem Fall ...")359 und entgegen der Inten-
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Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, G G I, Art. 19 Rn. 125-129. Anders BVerfG, N J W 2004, 999, 1001; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 2 3 . Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts, S. 190 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 873 f. Roman Herzog, in: F S für Zeidler, S. 1424 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 7. Z u den unterschiedlichen Möglichkeiten einer absoluten Bestimmung des W e sensgehaltes - und deren Z u s a m m e n h a n g - vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 868 ff. Womit freilich Art. 19 Abs. 2 G G lediglich deklaratorische Wirkung zukommt; siehe Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 234 ff. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 7. Siehe auch Stern, Staatsrecht HI/2, S. 868 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 2 6 8 f.; Arthur Kaufmann, Was heißt „Wesensgehalt" der Grundrechte?, S. 26; Stern, Staatsrecht III/2, S. 870. So aber Roman Herzog, in: F S fur Zeidler, S. 1424; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl., Art. 19 Rn. 7. Stern, Staatsrecht III/2, S. 872 f.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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tion, die Grundrechte in einem Letztbereich vor Relativierungen zu bewahren360 prinzipiell jedes Recht zur Abwägung stellt361. Tatsächlich muß die absolute, auf den subjektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte bezogene Theorie insofern zutreffen, wie die Einzelgrundrechte - und gerade auch der hier maßgebliche Art. 2 Abs. 1 GG - einen Menschenwilrdegehalt aufweisen362. Insoweit ist die Unantastbarkeit freilich bereits in Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt und Art. 19 Abs. 2 GG entfaltet keinen zusätzlichen Gehalt. Doch wenn die Grundrechte, jedenfalls als Freiheitsrechte, bereichsspezifische Sicherungen von Selbstbestimmung als Ausdruck von Menschenwilrde sind, so muß ein Eingriff in diesen Menschenwürdegehalt auch den Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts antasten363. Denn die Grundrechte sind bei dieser Sichtweise insoweit „ihrem Wesen nach" Entfaltungen der Menschenwürde. Mit der Bezugnahme auf die Menschenwürde ist freilich nicht nur das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen angesprochen, sondern immer auch schon dessen Sozialbindung. Dabei darf diese Sozialbindung aber - in den Worten des BVerfG - nicht den „Eigenwert" der Person in Frage stellen. Dieser Eigenwert wird sich aber nicht - und insofern haben die Vertreter der relativen Theorien recht - in einem festen Arsenal unantastbarer Freiheiten verwirklichen oder in einem statischen Bereich persönlicher Lebensgestaltung (etwa in einer „Intimsphäre") verorten lassen. Wenn nämlich die Wiirde des Menschen sich nicht in konkreter Inhaltlichkeit bestimmen läßt, sondern in dem Vermögen zu vernünftiger, d.h. die gleiche Freiheit des anderen berucksichtigender Selbstbestimmung liegt, dann ist der Menschenwilrdegehalt eines Grundrechts dann gewahrt, wenn eine Einschränkung der Willkilr der Person den Anspruch erheben kann, Ausdruck vernünftiger Selbstbestimmung gerade auch dieser Person zu sein. Formuliert man den gleichen Gedanken von der Verletzungsseite her, so ist die Herabwilrdigung des Menschen zum bloßen Objekt nicht als Eingriff in eine fest umrissene Freiheitssphäre vorzustellen, sondern eine objekthafte Rolle erhält die Person dann, wenn sie nicht als Gesetzgeber des dem Eingriff zugrundeliegenden Gesetzes gedacht werden kann, wenn also ihre Selbstbestimmung negiert wird und sie damit als Verniinftige keine Anerkennung findet. Diese Auffassung ist insoweit absolut, als der Menschenwilrdegehalt eine unilbersteigbare Hilrde fur Grundrechtseingriffe bildet; sie ist aber insoweit relativ, als der Wesensgehalt eines Grundrechts nur unter Berilcksichtigung der sozialen
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Stern, Staatsrecht III/2, S. 847, 867. Freilich machen Vertreter der relativen Theorien geltend, auch bei sachgerechter A n w e n d u n g d e s Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bleibe ein absolut geschiltzter Bereich; so Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 271 f.; Hesse, Grundziige des Verfassungsrechts, Rn. 333. Siehe etwa Maunz, in: Maunz/Diirig, GG, Art. 19 Abs. 2 Rn. 17, der explizit die Antastung d e s Wesensgehalts fur zulässig halt. Z u r Kritik zusammenfassend Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts, S. 160 f., 163 ff. Vgl. etwa BVerfGE 34, 238, 245 (unbefugte Tonbandaufnahme). Zutreffend Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, G G I, Art. 19 Rn. 127.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Bezilge bestimmt werden kann, in denen der Einzelne in der konkret zu priifenden Situation steht364. Einer so verstandenen subjektiven Theorie kann auch nicht entgegengehalten werden, sie miisse bestimmte Fälle vernichtender Eingriffe in grundrechtliche Schutzgüter (gezielter Todesschuß, lebenslange Freiheitsstrafe) notwendig als Verletzung des Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts auffassen. Dieser Einwand könnte nur bei einer naturalistischen Bestimmung des Menschenwiirdegehalts der Grundrechte eingreifen. Gegen ein solches Verständnis (wie etwa: Leben als vitale Basis der Menschenwiirde) ist schon oben (1. b) dd)) ein an der Selbstbestimmung orientiertes Verständnis geltend gemacht worden - es ist durchaus möglich (und in der Schrankenbestimmung des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG vorausgesetzt365), in das Leben eines Menschen einzugreifen, ohne ihn in seiner Wiirde zu verletzen366. Diese Möglichkeit besteht dann, wenn der Betreffende als verniinftige Person den Eingriff als nach einem Gesetz erfolgt anerkennen müßte, zu dem er selbst seine Zustimmung geben müßte. Beispielhaft: auch ein Geiselnehmer müßte anerkennen, daß zur Befreiung von Geiseln aus Lebensgefahr einem Staat als letztes Mittel auch die Tötung des Geiselnehmers erlaubt sein muß; eine Pflicht zur Hinnahme gewalttätiger Geiselnahmen mit Rücksicht auf das Leben des Geiselnehmers läßt sich als allgemeines Gesetz, in dem auch die Personhaftigkeit der Geiseln zu berücksichtigen ist, nicht denken. Der Menschenwiirdegehalt der Grundrechte liegt also darin, daß es ausgeschlossen ist, den Einzelnen ohne Rücksicht auf seine Personalität im Dienste der anderen bzw. des Staates zu instrumentalisieren367. Ausgeschlossen sind damit heteronome Freiheitseinschränkungen im Interesse anderer bzw. der Allgemeinheit. Denn damit wiirde die Basis von Individualität überhaupt aufgelöst; das Individuum wiirde in seinem Gemeinschaftsbezug aufgehen und sich in seiner Funktion fur die Gemeinschaft erschöpfen. Selbstbestimmungsfreiheit ist prinzipiell dort ausgeschlossen, wo der Einzelne nur noch in seiner „Gliedhaftigkeit" begriffen wird368. 364
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Ahnlich Arthur Kaufmann, Was heißt „Wesensgehalt" der Grundrechte?, S. 29 ff. Verfehlt dagegen Liiderssen, Moderne Wege, S. 55, wenn er die relativierende Bestimmung gleichsam als eine Einschränkung der Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 2 GG begreift. Vgl. Enders, Die Menschenwürde, S. 340, 4 6 1 . Siehe Hufen, N J W 2001, 850 m.w.N. in Fn. 16. Freilich wird die Menschenwiirde gerade auch dann verletzt, wenn iiberhaupt keine sozialen Belange geltend gemacht werden können (und deshalb auch nicht von einer „Instrumentalisierung" im Dienste der Gemeinschaft gesprochen werden kann), der Eingriff mithin in einem auf die Regelung sozialer Verhältnisse begrenzten Recht willkilrlich ist und die Selbstbestimmungsfreiheit der verniinftigen Person damit prinzipiell negiert wird. Dazu sogleich. So liegt es bei dem von Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 810 ff. behaupteten Unrecht des Suizid, wenn er zu dessen Begriindung anflihrt (S. 817): „Ein Gemeinwesen, das sich selbst ernst nimmt, wird seine Existenz nicht in das Belieben aller einzelnen stellen können, sondern die Achtung vor dem Leben aller seiner Glieder auch gegeniiber der Versuchung zum Selbstmord fordern miissen".
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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Bezogen auf Art. 2 Abs. 1 GG ist der Würdegehalt der Persönlichkeitsentfaltung dann verletzt, wenn eine Person in ihrer Selbstorientierung negiert wird, ohne daß eine Einschränkung möglicher Selbstdefinition sich auf (hinreichende) Griinde sozialer Bindung stützen könnte. Das ist einmal dann der Fall, wenn schon iiberhaupt keine Rechte anderer geltend gemacht werden können, die einen Eingriff in die Selbstverfügungsfreiheit legitimieren können. So liegt es etwa, wenn einer Person ein bestimmtes Selbstverständnis von außen vorgeschrieben wird, etwa mit dem Anspruch, eine bestimmte Moral zu leben. Es sind also zunächst einmal solche Einschränkungen der Handlungsfreiheit Eingriffe in den Menschenwilrdegehalt von Art. 2 Abs. 1 GG, die auf soziale Begriindung ganz verzichten und darauf gerichtet sind, den Menschen nach bestimmten Ideologien zu formen369. Die Peep-Show-Entscheidung ist hierftlr ein Beispiel, soweit sie mit dem Anspruch auf würdegemäßes Verhalten des Einzelnen (und nicht mit sozialen Beeinträchtigungen) begründet wird. Zum anderen ist der Wesensgehalt von Art. 2 Abs. 1 GG aber auch dann verletzt, wenn die Selbstorientierung des Einzelnen gegentlber kollektivistischen Belangen von vornherein ohne Bedeutung bleibt. Dies entspricht einem Verständnis, bei dem der Einzelne nur in seiner „Gliedhaftigkeit" vorkommt. Grenzen sozialer Inpflichtnahme des Einzelnen sind danach dort gezogen, wo die Einschränkung sich nicht aus der Herstellung allgemeiner Freiheit begrilnden läßt. Fehlt es an dem Begründungszusammenhang von Freiheitseinschränkung und Freiheitsgewährleistung, dann läßt sich eine Einschränkung der Willkürfreiheit nicht als rechtlich legitimieren, sondern der Einzelne ist heteronomer Willkür unterworfen. Der Menschenwilrdegehalt eines Grundrechts ist nach dieser Bestimmung aber nicht nur dort angetastet, wo die Person nicht einmal in ihrer Selbstbestimmungsfreiheit zur Kenntnis genommen wird, sondern auch dort, wo ihre Personhaftigkeit zwar prinzipiell anerkannt, aber nur unzureichend in der konkreten rechtlichen Regelung berücksichtigt wird370. Auch in diesem Fall ist eine Einschränkung individueller Freiheit nicht nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit, dem der Einzelne seine Zustimmung hätte geben können, begründbar. Solche Fehlbestimmungen von einem an sich richtigen Ansatz aus, lassen sich ebenfalls als Eingriff in den Wesensgehalt von Grundrechten diskutieren (was sachlich deshalb angemessen ist, weil ein vor dem Einzelnen nicht legitimierbarer Eingriff in seine Freiheit als heteronomer Zwang seine Menschenwürde verletzt). Das trifft sich mit der Sichtweise der relativen Theorien. Ohne Unterschied in der Sache läßt sich das damit angesprochene Problem also auch als Frage nach der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erörtern.
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Vgl. Enders, Die Menschenwürde, S. 458 f., 465 f. Vgl. Enders, Die Menschenwiirde, S. 313 f.
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(2)
Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
(Übermaßverbot371)
Mit der aus dem Begriff der Freiheit von Vernunftwesen abgeleiteten Begründung sozialer Pflichtigkeit ist zunächst „nur" das Prinzip benannt, nach dem Willkiirfreiheit eingeschränkt werden kann. Von diesem Prinzip ausgehend muß jede Konkretisierung im Auge behalten, daß die Freiheit des Einzelnen auch dort konstitutiv fur das Recht bleibt, wo sie den Interessen einer Mehrheit im Wege steht. Traditionell wird das Problem der Herstellung allgemeiner Freiheit (also der Rechtsbegriindung) in der Weise behandelt, daß den Freiheitsinteressen des Einzelnen die Belange der anderen bzw. der Allgemeinheit konfrontiert werden und ein Ausgleich mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gesucht wird372. Jede Einschränkung individueller Freiheit muß danach zunächst erforderlich und geeignet zur Erreichung des gesetzten Zwecks und schließlich verhältnismäßig (i.e.S.) sein. Methodisch setzt eine solche Konfrontation und Abwägung unterschiedlicher Interessen offenbar voraus, daß diese Interessen in ihrer Werthaftigkeit bestimmt und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden können373. Die Bestimmung objektiver Werte und einer entsprechenden Wertrangordnung ist freilich auch dann außerordentlich problematisch, wenn man sie nicht mit der objektiven Wertphilosophie in Verbindung bringt, sondern sich ausschließlich an den grundgesetzlichen Positivierungen und - innerhalb des damit vorgegebenen Rahmens - an den Wertentscheidungen des Gesetzgebers374 orientiert. Derm es wird - jenseits einiger Eckpunkte - kaurn gelingen, dem Grundgesetz eine konsistente Wertrangordnung - weder abstrakt375, noch fur den Einzelfall - zu entnehmen376. Besonders kritisch ist eine Verwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu beurteilen, wenn die der individuellen Freiheit konfrontierten Belange der Allgemeinheit gleichsam ver371
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Argumente fur die Vorzugswiirdigkeit dieses Begriffs bei Stern, Staatsrecht III/2, S. 763. Siehe etwa zu „Lebensschutz und Sterbensfreiheit als Kompromiß" Eser, Zum „Recht des Sterbens", S. 29 ff. Stern, Staatsrecht III/2, S. 7 8 5 , 789, 817 f., 827 ff. Vgl. zur Rechtsprechung des BVerfG Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 ff. Das gilt auch, wenn m a n vom Prinzipiencharakter der Grundrechte ausgeht (zum Verhältnis von Prinzipientheorie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff), denn Prinzipien und Werte unterscheiden sich lediglich in ihrem deontologischen bzw. axiologischen Chrakter: „Was im Wertemodell prima facie das beste ist, ist im Prinzipienmodell prima facie gesollt (...)" (Alexy, a.a.O., S. 133, auch S. 125 ff.). Dazu, daß der Gesetzgeber nicht ausschließlich auf die Verfolgung von durch die Verfassung vorgegebene Ziele festgelegt ist, vgl. etwa Sachs, Verfassungsrecht II, A 10 Rn. 33. Deutlich gerade fur Art. 2 Abs. 1 GG, dessen Schutzbereich eine Vielzahl heterogener Formen der Freiheitsausübung umschließt; vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 792. Vgl. Sachs, Verfassungsrecht II, A 10 Rn. 4 0 ; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 43 ff, 134 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 828 ff; Würtenberger, in: F S für Hollerbach, S 2 3 4 ff. und die Nachweise bei Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 23, 154 f.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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selbständigt vorgestellt werden, die Allgemeinheit also mit eigenen Rechten ausgestattet wird, die an die Freiheit des Individuums nicht mehr zurilckgebunden sind. Gegen ein solches Verständnis sind bereits die oben (II. und 2. Teil, II.) gegen die Fehlbestimmung des Verhältnisses des Einzelnen zur Gemeinschaft erhobenen Einwände zu wiederholen. Hier nun zeigt sich aber auch die methodische Unhaltbarkeit eines solchen Verständnisses. Denn wenn die Interessen des Einzelnen und die der Allgemeinheit einander unverbunden gegeniiberstehen, dann ist ihnen der gemeinsame Boden der Vergleichbarkeit, auf dem jede Verhältnismäßigkeitsprüfung steht, entzogen. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes birgt also ein erhebliches Risiko intuitiver, maßstabsloser und damit dezisionistischer Beurteilung377. Doch ist nicht zu verkennen, daß man auch in dem Bemiihen um Herstellung allgemeiner Freiheit - wenn auch von der unhintergehbarer Basis der Personalität und nicht von der heteronomen Perspektive objektiver Werte aus - danach fragen muß, welche Freiheitsbeschränkungen der Einzelne um der Herstellung allgemeiner Freiheit willen verniinftigerweise auf sich nehmen muß378. Auch von dieser Position aus stellt sich also die Frage, welche der Konkretionen von Freiheit, wie sie in den Einzelgrundrechten geschützt werden, fur die Person besonders bedeutsam sind und welcher konkrete Eingriff personale Freiheit besonders nachhaltig beeinträchtigt. Es ist weiter erforderlich, den so qualifizierten Verlust individueller Willkilrfreiheit zu der hierdurch erzielten Freiheitsmehrung in ein Verhältnis zu setzen. Kurz: auch die verntinftige Person, von der die Rechtsbegriindung ihren Ausgang nimmt, setzt in ihrem Konzept allgemeiner Freiheit die möglichen Freiheitssphären der Einzelnen in ein Verhältnis zueinander. Sie ist allerdings - und das ist wesentlich — unhintergehbar in jedem möglichen Entwurf allgemeiner Freiheit in ihrer eigenen Freiheit aufgehoben. Eine so verstandene Verhältnismäßigkeitsprüfung ist also die Stelle, an der die Sozialbezogenheit der sich selbst bestimmenden Person, wie sie im Menschenbild des Grundgesetzes thematisiert worden ist (oben II.), fur die Bestimmung konkreter Rechtsverhältnisse virulent wird379. Dabei ist fur die Begriindung interpersonal gültiger Maßstäbe klar, daß sich die Bedeutung der unterschiedlichen Ausübungsformen von individueller Freiheit nicht nach dem persönlichen Maßstab der Person, in deren Willktirfreiheit eingegriffen wird, entscheiden kann. Anders als bei der Behandlung der Frage, ob eine Einschränkung der Willkilrfreiheit um des Schutzes der entscheidenden Person selbst willen in Frage kommt, muß sich die Nachhaltigkeit einer Freiheitseinschränkung, bei der es um die Herstellung von Kompatibilität von Freiheiten geht, nach interpersonal akzeptablen Maßstäben beurteilen. Beispielhaft: wenn jemand seinen Lebenssinn in rasanten Motorradfahrten ohne Schutzhelm sieht, kann dies 377 378 379
Starke Kritik deshalb bei Michael Köhler, ZStW 107 (1995), 15 ff.; ders., Das angeborene Recht ist nur ein einziges ..., S. 78 f.; ders., AT, S. 305. Der Vernunftmaßstab wird auch vom BVerfG bei der Priifung der Verhältnismäßigkeit verschiedentlich angelegt, siehe BVerfGE 22, 1, 20; 8 1 , 156, 194. Zum Zusammenhang v o n Verhältnismäßigkeitsgrundsatz u n d Menschenbild siehe Schnapp, JuS 1983, 852 f.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
nicht dazu ftlhren, fur diese Person den in der Schutzhelmpflicht liegenden Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit als schwerwiegender anzusehen als fur einen durchschnittlichen Motorradfahrer, der das Tragen des Schutzhelms weniger als lästig, als vielmehr als niltzlich empfmdet. Es ist deshalb zutreffend, wenn Morlok bei der Bestimmung der Grundrechtsschranken dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers nur wenig Gewicht zumißt380. Dabei geht es freilich nicht um heteronome Inhaltskontrolle, sondern um die Zugrundelegung eines Maßstabs, wie er anzulegen ist, wenn sich eine Person zu anderen in einen Zusammenhang allgemeiner Freiheit stellt. Die Konkretisierung des Verhältnisses der Einschränkung von Willkürfreiheit auf der einen um der Herstellung allgemeiner Freiheit willen auf der anderen Seite bereitet auch nach der getroffenen Festlegung des Prinzips erhebliche Schwierigkeiten381. Derm es sind - abhängig von der konkreten Gestalt einer Gesellschaft unter dem Grundgesetz - sehr unterschiedliche verallgemeinerungsfähige Konzepte denkbar382. So ist der Umfang sozialer Sicherungssysteme - als deren Kehrseite bestimmte Einschränkungen der Selbstverfügungsfreiheit in Betracht kommen (etwa: Gurtzwang) - nicht grundgesetzlich festgelegt. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus dem Sozialstaatsprinzip werden vielfach durch Ermessensentscheidungen des Gesetzgebers deutlich überschritten383, womit auch die freiheitssichernde Funktion solcher sozialer Sicherungssysteme in entsprechend erweitertem Umfang gegen selbstverfugende Verhaltensweisen, die das Funktionieren dieses Systems in Frage stellen, geltend gemacht werden kann. Die Offenheit fur unterschiedliche Lösungskonzepte eröffhet dem Gesetzgeber im Rahmen seines Bemiihens um Herstellung allgemeiner Freiheit einen weiten Spielraum, innerhalb dessen ihm freisteht, welche konkreten Ziele er hierfur verfolgt384 und mit welchen Mitteln er diese Ziele verfolgt. Ffinsichtlich der Auswahl der Mittel ergibt sich dieser Spielraum auch daraus, daß ihm eine Prognosekompetenz hinsichtlich der Beurteilung von deren Effektivität obliegt, die gerichtlich nur begrenzt überprüft werden kann385. Demnach halt des BVerfG solche Einschränkungen fur verhältnismäßig (i.e.S.), die „in einem vernünftigen Verhältnis zu dem gegebenen Anlaß und dem mit ihm verfolgten Zweck stehen"386. Die hohe Toleranz gegeniiber den Entscheidungen des Gesetzgebers wird in den häufig gebrauchten Wendungen deutlich, der Eingriff dilrfe den Einzelnen „nicht übermäßig belasten" und er diirfe ihm nicht „unzumutbar" sein387. Die Bestimmung eines rechtlichen Verhältnisses, in dem die Willkiirfreiheit des Einzelnen mit der der anderen kompatibel ist, ist nach den im vorstehenden Sinne 380
Eingehend Morlok, Selbstverständnis, S. 423 ff. Vgl. eingehend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 131 ff. 382 V g l Würtenberger, in: FS für Hollerbach, S. 232 f. 383 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 24 ff. 384 Vgl. Sachs, Verfassungsrecht II, A 10 Rn. 33. 385 Näher Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 426 ff. 386 BVerfGE81, 156, 194. 387 BVerfGE 22, 1, 20 f.; 22, 380, 385; 27, 88, 100; 68, 193, 219. 381
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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„weichen" Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (i.e.S.) nur dann verfehlt, wenn das den Eingriff erlaubende Gesetz entweder kein schlilssiges Konzept allgemeiner Freiheit ermöglicht (insbesondere, weil es das Maß der fur den Einzelnen akzeptablen Einschränkung seiner Willkürfreiheit überdehnt) oder sich mit den objektivierten Zielvorgaben des Grundgesetzes oder des Gesetzgebers selbst in Widerspruch setzt. Das BVerfG geht davon aus, daß Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit die Bedingungen personaler Entfaltung in unterschiedlicher Intensität betreffen. Es gebe einen - bereits bei der Behandlung der Wesensgehaltsgarantie angesprochenen - unantastbaren Kernbereich der Entfaltungsfreiheit, um den gleichsam in konzentrischen Kreisen Sphären angeordnet seien, in denen der Sozialbezug zu- und die Nähe zum Kernbereich abnehme. Je größer die Nähe zum Kernbereich sei, desto starker müßten die mit dem Eingriff verfolgten Freiheitsinteressen der anderen sein. Je mehr ein Eingriff sich diesem Kernbereich nähert, desto mehr verschärft das BVerfG nicht nur die materialen Anforderungen an eine Einschränkung der Willkürfreiheit, sondern auch die an das Begründungsbemühen: „Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit beriihrt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Grilnde gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Burgers abgewogen werden"388. Problematisch ist an dieser Sichtweise die Annahme eines statischen Kernbereichs, gegen dessen Anerkennung bereits geltend gemacht wurde (oben (1)), daß jede Entfaltungsfreiheit mit sozialen Bezilgen immer nur als Freiheit der vernünftigen Person gedacht werden kann und damit auch Einschränkungen aus dem Sozialbezug - also solche Einschränkungen, die die selbstbestimmte Person vernilnftigerweise akzeptieren müßte -, nicht prinzipiell ausgeschlossen werden können. Die Grenzen der Willkürfreiheit sind immer aus dem Zusammenhang mit der Willkürfreiheit der anderen zu bestimmen. Das BVerfG kommt freilich der Sache nach zu keinem anderen Ergebnis, wenn es trotz seines Bekenntnisses zu einer absolut geschützten Sphäre der Privatheit in der Tagebuch-Entscheidung389 die intimen Aufzeichnungen des Beschuldigten mit Blick auf deren strafrechtlich relevanten Inhalt nicht dem Kernbereich zuordnet390. Bedenkt man, daß es kaum etwas Persönlicheres gibt als ein intimes Tagebuch, so wird mit dieser Entscheidung der prinzipiell abwägungsfeste Bereich zugunsten einer Lösung preisgegeben, die die sozialen Bezlige bei der Beantwortung der Frage, ob ein Eingriff in die Entfaltungsfreiheit zulässig ist, stets mitbedenkt391. Diese Linie zeigt 388 389
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BVerGE17, 306, 314. BVerfGE 80, 367, 374 ff., anders dagegen die vier Richter, deren Auffassung die Entscheidung des BVerfG nicht trägt (S. 380 ff.). Vgl. zuletzt auch BVerfG, N J W 2004, 999 (Großer Lauschangriff). Zusammenfassend zur Entwicklung der Sphärentheorie Geis, JZ 1991, 112 ff. Vgl. Enders, Die Menschenwiirde, S. 148 f. und - kritisch - Geis, JZ 1991, 114 f.; Michael Köhler, ZStW 107 (1995), 30 ff., 34 f. Auch die Entscheidung zum Großen
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz sich schon im Transsexuellen-Beschluß392, wenn das BVerfG den „intimsten Bereich der Persönlichkeit" lediglich „prinzipiell staatlichem Zugriff entzogen" sieht, in den ,jedenfalls nur bei Vorliegen besonderer öffentlicher Belange eingegriffen werden darf.
Die Argumentation des BVerfG zu den den Kernbereich umgebenden Sphären ist dagegen weniger problematisch. Denn die Fixierung besonders schützenswerter Bereiche ist hier kein abschließendes, sondern nur ein die Beriicksichtigung der Sozialbeztiglichkeit vorbereitendes Ergebnis. Dieser Vorgang entspricht letztlich der hier vertretenen Sichtweise: erst mit dem Blick auf beide Seiten des Verhältnisses läßt sich schließlich der angemessene Ausgleich der Freiheiten begründen. Mit diesen Maßgaben bleibt es prinzipiell richtig, daß in einem Konzept allgemeiner Freiheitsentfaltung solche Entscheidungen, die elementare Fragen personaler Selbstorientierung betreffen, regelmäßig die Freiheit anderer (bzw. der Allgemeinheit) nicht in einem Maß berühren, das ihr Verbot legitimieren könnte. Das gilt gerade bei Selbstverftlgungen der Person über ihre Giiter, insbesondere auch über ihr körperliches Befmden und liber ihr Leben. Fiir die Person sind solche Verfilgungen vielfach elementare, mitunter im wahrsten Sinne des Wortes existentielle Entscheidungen ilber ihr Selbst-Sein (oder ihr Nicht-Sein)393. Solche elementaren, die Person in allererster Linie selbst betreffende Entscheidungen kann sie grundsätzlich nach eigener Orientierung fallen394. Freiheiten anderer (bzw. der Allgemeinheit), durch die sich die Person auf einen bestimmten Zustand der äußeren Integrität festgelegt sehen könnte, sind kaum denkbar. Noch weniger kommt eine gegenilber der Gemeinschaft bestehende Pflicht zum Leben in Betracht, die es dem Einzelnen verbietet, seinen Selbsttötungsentschluß in die Tat umzusetzen395. Lauschangriff (BVerfG, NJW 2004, 999) betont zwar das Bestehen eines „absolut geschiitzten Kernbereichs privater Lebensgestaltung", der einer Abwägung unzugänglich sei, macht aber die Zulässigkeit des Abhörens von Gesprächen in Privatwohnungen von den (zu erwartenden) Gesprächsinhalten abhängig: der absolut geschützte Bereich wird also letztlich durch das Gewicht des Sozialbezugs konturiert. Siehe auch schon BVerfGE 27, 344, 352 und dazu Enders, Die Menschenwürde, S. 146. Damit ist freilich noch nichts dariiber gesagt, ob das BVerfG in den genannten Entscheidungen eine zutreffende Abwägung vorgenommen worden ist; kritisch zur Tagebuchentscheidung insoweit Enders, a.a.O., S. 467 f. 392 393 394
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BVerfGE 49, 286, 298. Vgl. BVerfGE 52, 131, 178 (Sondervotum der Richter Hirsch, Niebler, Steinberger). Fiir ein dem „Kernbereich menschlicher Freiheit" zugeordnetes Recht auf Suizid etwa Arndt/v.Olshausen, J u S 1975, 147; Bemmann, in: F S für Klug, S. 568; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 103, 237; Joachim Wagner, Selbstmord, S. 93 f. So aber Schmidhäuser, in: F S für Welzel, S. 817; Klinkenberg, JR 1978, 441 ff.; dagegen Bottke, G A 1982, 3 5 3 ; ders., Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 108 f; Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 2 0 9 ff.; Dach, Einwilligung, S. 6 3 ; Dölling, G A 1984, 8 5 ; Donatsch, SchwZStW 105 (1988), 365; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 113 ff; Frisch, Leben und Selbstbestimmungs-
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfiigungsfreiheit
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Das gilt auch im Rahmen von § 109 StGB, der bei verfassungsgemäßer Interpretation folglich nur solche Selbstverstiimmelungen (bzw. deren Bewilligung) erfaßt, die nicht Ausdruck personaler Selbstorientierung sind. Verfassungsgemäß ist die Vorschrift danach insoweit, als das verbotene Verhalten nicht eine bestimmte Form der Selbstorientierung realisiert, sondern gerade mit Blick auf seinen sozialen Bezug vorgenommen wird, also insbesondere dann, wenn es dem Täter gerade auf die Entziehung von der Wehrpflicht ankommt396. Diese Vorschrift kann demnach nicht auf solche Fälle ausgedehnt werden, in denen die Person durch eine Verfügung über ihre körperliche Integrität oder auch ihr Leben dieses nach eigenem Sinn gestaltet (bzw. zu beenden versucht). Die staatliche Gemeinschaft kann vom Einzelnen weder dessen Existenz noch ein bestimmtes So-Sein fordern, wenn es der Person damit unmöglich gemacht wtirde, sich nach eigenem Sinn zu verwirklichen. Der Sache nach anerkannt ist das insoweit, als jedenfalls keine Pflicht eines Wehrpflichtigen zur Duldung von Operationen besteht, durch die die Wehrpflicht wieder hergestellt werden könnte (§ 17 Abs. 4 S. 6 SoldatG)397. Deutlich verfehlt ist diese Einsicht dagegen dann, wenn F.C. Schroeder eine Strafbarkeit nach § 109 StGB auch dann bejaht, wenn beim Suizidversuch der Suizident fur den Fall des Fehlschlags das Zuriickbleiben körperlicher, die Erfullung der Wehrpflicht ausschließender Schäden billigend in Kauf genommen hat398. Die Verfiigung iiber das Leben ist eine existentielle Entscheidung, die der Person vorbehalten bleiben muß und ihr nicht mit Blick auf die Erfullung der Wehrpflicht als Bestandteil des „Menschenpotential(s) der Landesverteidigung"399 vorenthalten und schließlich sogar unter Strafe gestellt werden kann400. Dagegen bleibt freilich der nach hier vertretener Auffassung ebenfalls aus dem Anwendungs-
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recht, S. 115 ff.; Arthur Kaufmann, in: FS fur Roxin, S. 851; ders., Euthanasie, S. 144; Maatsch, Selbstverfugung, S. 43 ff.; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgriinde, S. 67 f., 78 f.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 114 f.; Joachim Wagner, Selbstmord, S. 92; Wassermann, DRiZ 1986, 293 f.; Wellmann, JR 1979, 182 f.; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 180 ff. Gegen eine Verpflichtung zum Weiterleben, aber fur einen grundgesetzlichen Appell dieses Inhalts, Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 21, der aber vor dem Hintergrund der von ihm behaupteten, aus dem Grundgesetz abgeleiteten Rechtswidrigkeit des Suizids den bloßen Appellcharakter in seiner reduzierten Verbindlichkeit nicht mehr begriinden, sondern nur noch apodiktisch behaupten kann. Vgl. schließlich schon Abegg, Untersuchungen, S. 76 mit der Erwägung, das Leben habe einen sittlichen Zweck und sei „nicht bloßes Mittel fur einen anderen, außer ihm liegenden Zweck". Deshalb iiberzeugt es, wenn Ostendorf, in: A K S t G B , § 109 Rn. 13 fur den subjektiven Tatbestand eine Absicht zur Wehrpflichtentziehung verlangt. Lackner/Kühl, § 109 Rn. 4. Schroeder, in: LK, § 109 Rn. 1, 19; dagegen überzeugend Ostendorf, in: A K S t G B , § 109 Rn. 13; im Ergebnis auch Eser, in: Schönke/Schröder, § 109 Rn. 9. Maurach/Schroeder/Maiwald, B T 2, § 87 Rn. 3; Schroeder, in: LK, § 109 Rn. 1. Siehe auch Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 151.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz bereich von § 109 StGB herauszunehmende Fall einer Selbstverstiimmelung, in der sich die Person selbst verwirklicht, weitgehend akademisch. Das Recht, prinzipielle Entscheidungen des Seins und So-Seins selbst zu treffen, ist auch bei der Interpretation von § 101 StVollzG zu beachten, der die zwangsweise Durchftihrung von medizinischer Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung von Strafgefangenen bei Lebensgefahr und bei schwerwiegender Gefahr fllr die Gesundheit des Gefangenen vorsieht, soweit die Maßnahmen zumutbar und nicht mit erheblicher Gefahr fur Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sind. Das damit verbundene Recht - nicht die Pflicht (§ 101 Abs. 1 S. 2 StVollzG)401 - zur zwangsweisen Behandlung wird auf Fälle (möglicherweise402) defizitärer Entscheidungen beschränkt sein403. Insbesondere in seinem frei gefaßten Entschluß, einer Erkrankung ihren Lauf zu lassen, kann der Strafgefangene nicht weiter reichenden Einschränkungen unterliegen als jeder andere Burger404. Nur ein Reflex dieser Einsicht ist es, daß auch fur einen Arzt die Vornahme einer solchen Behandlung unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten unzumutbar ist405.
1st ein generelles Verbot selbstverfugender Entscheidungen nicht zulässig, so ist damit freilich noch nicht die Unantastbarkeit der Entscheidung ilber die Form garantiert, in der sich die Selbstverfugung nach Vorstellung des Rechtsgutsträgers vollziehen soil. Insbesondere ist die Entscheidung, sich zur Realisierung der Selbstverfugung eines Dritten zu bedienen, nicht ohne weiteres eine elementare 401
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Anders noch § 101 Abs. 1 S. 2 StVollzG a.F. (geändert durch das StrafVollzAndG vom 27.2.1985 [BGB11 1985, 4 6 1 ; B T Dr. 10/172; 10/2781; Sten. Ber. 10/8636 ff.]), der in Fallen „akuter Lebensgefahr" eine Pflicht zur Durchftihrung der M a ß n a h m e n auch dann vorsah, wenn von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden konnte (dazu kritisch Bottke, Suizid, S. 214 f.). Bemmann, in: F S fur Klug, S. 569; Bottke, Suizid, S. 212; Ostendorf, G A 1984, 328. Vgl. Bemmann, in: F S fur Klug, S. 568 f; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 101 Rn. 3; Ostendorf, G A 1984, 3 2 0 f. Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 9 7 Fn. 214; ders., Suizid, S. 212 will ein Behandlungsrecht auch in solchen Fallen bejahen, in denen „der Häftling zwischen suizidaler Neigung u n d Lebensbejahung schwankt". Auch solche Fälle lassen sich - und deshalb ist Bottke im Ergebnis zuzustimmen — als Fälle (möglicherweise) defizitärer Entscheidung auffassen, denn es läßt sich nicht ausschließen, daß die Entscheidung fur einen (passiven) Suizid die Grundhaltung einer Person verfehlt und lediglich eine kurzzeitige Stimmungslage kennzeichnet. Vgl. Bemmann, in: F S fur Klug, S. 567 f. dazu, daß die Argumentation, dem Staat o b liege gegeniiber d e m Strafgefangenen eine besondere Fürsorgepflicht, ein Recht zur Zwangsernährung beim Hungerstreik nicht trägt (a.A. O L G Koblenz, N J W 1977, 1461, 1462; Sonnen, J A 1977, 484). Denn die staatliche Fürsorgepflicht dient lediglich dazu, die besondere Bediirftigkeit als Folge der Freiheitsentziehung auszugleichen; sie geht deshalb nicht weiter als die dem Strafgefangenen mögliche Selbstfürsorge. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 101 R n . 3 ; vgl. auch Ostendorf, G A 1984 mit Nachweisen in Fn. 7.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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Frage personaler Selbstbestimmung. Derm wenn die Selbstverfugung durch Bewilligung eines entsprechenden Eingriffs in gegenüber der Selbstvornahme herausgehobener Weise desorientierende, mißbrauchsermöglichende oder gefuhlsverletzende Wirkung entfalten kann, dann stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit noch einmal bezogen gerade auf diese gewählte Form der Selbstverfugung. Insoweit ist aber in aller Regel nicht eine Frage betroffen, die die Selbstverwirklichung der Person in einem elementaren Punkt betrifft, wie dies bei der Entscheidung iiber die Selbstverfugung als solche der Fall ist. Es wird danach - in der Terminologie des BVerfG - regelmäßig nicht „unzumutbar" sein und wird den Einzelnen „nicht übermäßig belasten", wenn ihm zwar die grundsätzliche Entscheidung fur eine Selbstverfugung freigestellt bleibt, ihm aber das Recht zur Einschaltung anderer zur Realisierung dieser Entscheidung verwehrt wird406. In der anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dabei zudem zu beriicksichtigen, daß dem Gesetzgeber mit Blick auf erhebliche prognostische Unsicherheiten hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit der erwähnten sozialpsychologischen Zusammenhänge ein relativ weiter Gestaltungsspielraum offen steht. Denn die Frage, inwieweit die rechtliche Freigabe der Einschaltung Dritter - praktisch bedeutsam vor allem bei der Tötung auf Verlangen - desorientierende, mißbrauchsermöglichende oder gefuhlsverletzende Wirkung hätte, liegt in der Einschätzungsprärogative407 des Gesetzgebers. Die Verfassung kann diese Entscheidung folglich nicht vorgeben408. Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich allerdings, daß Fälle denkbar bleiben, in denen die selbstverfugende Entscheidung auch hinsichtlich der gewählten Form der Umsetzung der Entscheidung durch die Einschaltung Dritter die Entfaltungsfreiheit der Person in einer elementaren Weise berilhrt. So liegt es bei den — seltenen - Fallen, in denen eine Person zur Verwirklichung einer Selbstverfugung, die unter normalen Umständen von der Person selbst geleistet werden kann, auf andere angewiesen ist409. Bekanntes Beispiel hierftir ist der Fall des in sein 406 407 408
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Ähnlich Hirsch, in: FS für Welzel, S. 786. Dazu BVerfGE 77, 84, 107 f.; ferner etwa Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v. Art. 70 Rn. 2. Näher dazu noch unten 4. Teil, IV. 2. a). BVerfGE 50, 290, 332 ff. (Mitbestimmung). A.A. Krack, KJ 1995, 60 ff, 70 ff, der in der unterschiedlichen Behandlung der Teilnahme am Suizid und der Tötung auf Verlangen einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz erblickt. Akzeptiert man hier die Freiheit zur Einschaltung Dritter nicht, so läuft dies auf eine Pflicht zum Weiterleben hinaus (so BGH, N J W 2003, 2326, 2327, der sieht, daß so „das Lebensrecht zur schwer erträglichen Lebenspflicht werden kann"). Aus der uneingeschränkten Anwendbarkeit des § 216 StGB schließt - von diesem Standpunkt aus folgerichtig - Klinkenberg, JR 1978, 443 f. auf eine solche Rechtspflicht zum Weiterleben. Der Verweis auf die Möglichkeit passiver Sterbehilfe (so Verrel, JZ 1996, 226) fiihrt in vielen Fallen nicht weiter (siehe die nachfolgenden Beispiele im Text). Das gilt selbstverständlich auch in den Fallen, in denen die lebenserhaltenden Maßnahmen in der Grundversorgung des Patienten bestehen (insbesondere Ernährung). Er trägt also nur dort, wo der Patient seinen Sterbewunsch auch dadurch realisieren kann, daß er seine Zustimmung zur Fortsetzung einer lebenserhaltenden medizinischen Behandlung verweigert.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
bremendes Auto eingeklemmten Kraftfahrers, der nicht mehr rettbar auch zum Suizid nicht in der Lage ist und einen anderen bittet, inn zu töten410. Eine solche Entscheidung, mit der die Person die einzige zur Verfugung stehende Möglichkeit ergreifen möchte, einen selbstbestimmten Tod zu sterben (oder - banaler formuliert - die einzige Möglichkeit ergreifen will, nicht elendig zu verbrennen) kann als elementare Entscheidung liber das eigene Schicksal nicht fur unwirksam erklärt werden, ohne die Wiirde des zur Entscheidung über sein eigenes Schicksal berechtigten Menschen zu verletzen4". Ebenso könnte es in dem vom EGMR entschiedenen412, in Großbritannien handelnden Fall einer 43jährigen, an einer fortschreitenden unheilbaren neuro-degenerativen Krankheit der motorischen Zellen im zentralen Nervensystem (MND) Leidenden liegen. Aus dem Sachverhalt: „Bei der Beschwerdeführerin befindet sich die Krankheit in einem fortgeschrittenen Stadium. Sie ist vom Hals abwärts gelähmt, kann nicht mehr verständlich sprechen und wird durch eine Sonde ernährt. Ihre Lebenserwartung beträgt nur einige Wochen oder Monate. Ihre Intelligenz und Entscheidungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt. Das Endstadium der Krankheit ist qualvoll und entwtirdigend. Die Beschwerdeführerin hat Angst davor und den Wunsch, daß ihr das erspart bleibe." Da sie zu einem Suizid nicht selbst in der Lage war, wollte sie erreichen, daß ihr Ehemann ihr straflos Beihilfe leisten könnte, was nach dem Recht von Großbritannien grundsätzlich strafbar ist. Sowohl die innerstaatlichen Gerichte als auch der EGMR haben ein Recht auf Sterbehilfe abgelehnt. Aus deutscher Sicht ware zwar die Beihilfe zum Suizid straflos; es ist aber — nach dem insoweit offenen Sachverhalt - zweifelhaft, ob Sterbehilfe tatsächlich lediglich in Form der Unterstützung einer Selbsttötung oder als aktive Sterbehilfe beabsichtigt war413. Der Zustand der Erkrankten spricht für letzteres. Geht man davon aus, daß sie zur Verwirklichung ihres Entschlusses auf aktive Sterbehilfe angewiesen war, so handelt es sich um einen Fall, in dem die Versagung dieser Möglichkeit ihr 410 411
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Siehe Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 60. Filr die rechtliche Zulässigkeit (bzw. Straflosigkeit, siehe unten) aktiver Sterbehilfe hier z.B. auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 108 ff. (ebenfalls unter Bezugnahme auf die Menschenwürde); Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 176, 184 f.; ders., Früheuthanasie, S. 395 f., 420 ff.; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 60 („Achtung des Sterbenden als Person" erlaube Rechtfertigung); Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 117; Scheffler, Sterbehilfe mit System, S. 261 (Rechtfertigung nach § 34 StGB); F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 579 f. (Rechtfertigung nach § 34 StGB); § 216 Abs. 2 AE-Sterbehilfe. Halt man es fur nicht legitim, der Entscheidung des hilflosen Menschen die rechtliche Wirkung zu versagen, so ist das Verhalten des Außenstehenden infolge der Bewilligung rechtlich erlaubt und damit kein Unrecht. Dahinter bleiben solche Überlegungen zurück, die lediglich auf den Schuldvorwurf oder auf die Verhängung von Strafe verzichten (in diesem Sinne Roxin, a.a.O., AE-Sterbehilfe, S. 36). EGMR, NJW 2002, 2851. So auch Faßbender, Jura 2004, 116.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfügungsfreiheit
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Selbstbestimmungsrecht in elementarer Weise verletzt hat - die Entscheidung des EGMR kann danach nicht iiberzeugen414. In einer gewissen Nähe zu Fallen wie den vorstehenden stehen die Probleme um die sogenannte indirekte Sterbehilfe. Interessen anderer Mitglieder der Rechtsgemeinschaft können keine Pflicht des Leidenden begriinden, schwerste Schmerzen hinzunehmen, deren effiziente Linderung nur durch Medikamente erfolgen könnte, die das Risiko einer Lebensverkiirzung bergen415. Zu Recht wird deshalb die Verabreichung schmerzlindernder Mittel trotz des Wissens um deren lebensverkiirzende Wirkung416 unter gewissen Voraussetzungen fur zulässig gehalten417.
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A.A. Heymann, JuS 2002, 958. So auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 108, unter Berufung auf einen unantastbaren Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts. Vgl. Kutzer, in: F S fur Salger, S. 663 ff. Eine Flucht in Euphemismen nimmt dem Problem nur scheinbar seine Schärfe. So aber Jäger, ZStW 115 (2003), 770 mit Fn. 14: Es gehe bei der indirekten Sterbehilfe „in Wahrheit nicht um einen Eingriff ins Leben, sondern nur um eine (positive) Veränderung der körperlichen Befindlichkeit". V g l . dazu d i e Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, N J W 1998, 3407: „Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, d a ß eine möglicherweise unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf"; ähnlich § 214a AE-Sterbehilfe, S. 22. Aus der Rechtsprechung B G H S t 42, 3 0 1 , 3 0 5 und a u s der Literatur in diesem Sinne etwa Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 114 ff.; Dolling, M e d R 1987, 7; Engisch, Euthanasie, S. 5 ff.; Eser, Sterbehilfe, S. 61 ff.; Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 107 f.; Geilen, in: F S fur Bosch, S. 281 ff.; ders., Euthanasie, S. 22 f.; Giesen, JZ 1990, 935 f.; Gropp, in: Ehrengabe fur Brauneck, S. 303 f.; Günter Hirsch, Z R P 1986, 239 f; H. J. Hirsch, in: F S fur Lackner, S. 6 0 8 f; Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 2 6 f., 3 2 ; Arthur Kaufmann, in: F S fur Roxin, S. 348; Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 172 ff.; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 95 ff.; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 80 f; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 54 ff; ders., Jura 1999, 440 f; ders., ZStW 83 (1971), 73; Pelzl, KJ 1994, 187 ff; Roxin, in: 140 Jahre GA, S. 188 f; ders., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 96 ff; ders., Der Schutz des Lebens, S. 86 ff; Scheffler, Sterbehilfe mit System, S. 262 ff; H.-L. Schreiber, NStZ 1986, 340 f; Tröndle, ZStW 99 (1987), 29 f; Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 281; Wimmer, FamRZ 1975, 438 f; Wolfslast, in: Ehrengabe fur Brauneck, S. 476 ff. zusammenfassend Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 72 ff.; Klimpel, Bevormundung, S. 85 ff; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 54 ff. A.A. etwa noch Gössel, BT I, § 2 Rn. 30 ff.; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, S. 13 f. Einzelheiten zur Reichweite straffreier indirekter Sterbehilfe sind umstritten. Verschiedentlich wird nach der inneren Einstellung des Handelnden differenziert: es entspreche dem Sinn der Tötungsdelikte, „selbst eine geringfügige Verkürzung erlöschenden Lebens durch schmerzlindernde oder betäubende Mittel noch zu erfassen, wenn sie als solche gewollt, Ziel des Handelns gewesen war"; Blei, BT II, S. 17; ebenso Helgerth, JR 1976, 45 f; Hufen, NJW 2001, 854; Kutzer, in: GS für Schlüchter, S. 356; Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 99; BGHSt 42, 301, 305 (dagegen insoweit zutreffend Herzberg, NJW
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
Das Desorientierungsargument verliert hier nicht nur erheblich an Gewicht, weil die Gefahr eines Achtungsverlusts vor dem Recht auf Leben in diesen Fallen kaum plausibel gemacht werden kann (und sich - soweit ersichtlich - durch die Anerkennung der Rechtmäßigkeit indirekter Sterbehilfe auch nicht realisiert hat). Vor allem wären solche Femwirkungen der Zulässigkeit indirekter Sterbehilfe aber nicht von einem Gewicht, das die Zumutbarkeit von Leidenspflichten begriinden könnte418. Die vorstehenden Fallgruppen zeichnen sich freilich (unter anderem) dadurch aus, daß unter dem Druck der Situation eine Realisierung der Entscheidung durch eigenes Verhalten entweder schon physisch nicht möglich oder (wenn dem Patienten eine Selbstvornahme einer schmerzlindernden Maßnahme körperlich möglich ware) jedenfalls nicht zumutbar ist. Bei der indirekten Sterbehilfe ware es auch nicht etwa zumutbar, den Patienten auf eine Selbstvornahme der Maßnahmen zu verweisen, die schließlich als therapeutische in den Aufgabenbereich des Arztes fallen. Dagegen werden sich in vielen Fallen pflegebediirftiger Patienten, die nicht ohne weiteres zur Realisierung einer Selbstverfugung, insbesondere einer Selbsttötung, in der Lage sind, allerdings Möglichkeiten finden lassen, den Betroffenen zur Realisierung seiner Entscheidung in die Lage zu versetzen. So lag es etwa in dem Fall der gelähmten Patientin, deren Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden durch eine Apparatur realisiert werden sollte, die die Patientin mit ihrer Zunge bedienen konnte419. Wenn man der Auffassung ist, die Rechtmäßigkeit einer aktiven Fremdtötung komme auch hier nicht in Betracht (was nach der Verfassungslage zumindest möglich bleibt420), muß man dem Menschen zumindest diese Möglichkeit zur Realisierung seines Selbsttötungsentschlusses einräumen421. Damit können mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsprinzips immerhin einige Eckpfeiler eingeschlagen werden. Eine nähere Entfaltung und weitere Konkretisierung dieses Prinzips wird im dogmatischen Teil der Arbeit erfolgen. 1996, 3048 f.). Nach wieder anderer Auffassung soil danach zu differenzieren sein, ob ein Mittel möglichenveise oder mit Sicherheit das Leben verkiirzt (subjektiv korrespondiert dem die Unterscheidung zwischen dolus eventualis und dolus directus 2. Grades); Arthur Kaufmann, Euthanasie, S. 138 f.; ders., FS für Roxin, S. 848; Laber, Der Schutz des Lebens, S. 205 ff.; H.-L. Schreiber, in: FS für Hanack, S. 738 f; Stratenwerth, SchwZStrW 95 (1978), 80 f. und die oben zitierten Grundsätze der Bundesärztekammer; vgl. auch BGHSt 42, 301, 305 (zur insoweit nicht ganz einfachen Interpretation dieser Entscheidung Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 99). Zur Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung vgl. Kutzer, GS für Schlüchter, S. 356; Reinhard Merkel, Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 173 f. 418
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F ü r eine Begriindung der Strafbarkeit der indirekten Sterbehilfe mit dem Bedtirfnis, ,jedermann den unabänderlichen Willen der Rechtsordnung z u m konsequenten u n d liickenlosen Schutz des Lebens (...) klarzumachen" aber Gössel, B T I, § 2 Rn. 3 3 . BVerfGE 76, 248; dazu auch V G Karlsruhe, JZ 1988, 208. O b man diese Lösung fur richtig halt, bleibt freilich als Problem des einfachen Rechts diskutabel (siehe noch unten 4. Teil, IV. 2. a)); kritisch gegen solche „Sterbearrangem e n t s " etwa Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 4 7 1 . Zutreffend Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 238 f.
IV. Grundgesetzliche Schranken der Verfugungsfreiheit
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b) Die Schranke des Sittengesetzes Die Schranke des Sittengesetzes ist in ihrem Inhalt und in ihrer Berechtigung umstritten. Als eigenständiger Prüfiingsmaßstab soil sie nach vielfach vertretener Meinung deshalb ausscheiden, weil sie in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung und der Rechte anderer aufgehe422. Ein eigenständiger Inhalt kommt dem Sittengesetz zunächst einmal dann nicht zu, wenn es sich „nur auf strukturelle Anforderungen an alle möglichen unter der Geltung der Verfassung stehenden und in der Zeit möglicherweise wechselnden normativen Ordnungen oder auch punktuelle Regelungen" bezieht423. Das Sittengesetz ist nach diesem Verständnis „kein Recht, sondern eine mögliche Anforderung an Recht", die Podlech ganz im Sinne des Kantischen Rechtsgesetzes als die Bedingung formuliert, „unter der die Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen mit der Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit des anderen zusammen bestehen kann"424. Es ist damit das allgemeine Rechtsgesetz, das vorstehend insbesondere bei Behandlung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung immer schon bedacht worden ist425. Einen eigenständigen Sinngehalt erhält die Schranke des Sittengesetzes dagegen dann, wenn man in ihm eine vorgegebene inhaltserfllllte Ordnung erblickt, an der sich der Mensch zu orientieren habe426. Symptomatisch fur einen Rekurs auf eine solche vorgegebene Ordnung ist die Entscheidung des Großen Senats fur Strafsachen zur „Kuppelei gegentlber Verlobten", in der der BGH ausfiihrt: „Normen des Sittengesetzes dagegen (nämlich in Abgrenzung zu Geboten der bloßen Sitte oder Konvention, der Verf.) gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln"427. Für den BGH kann „nicht zweifelhaft sein", daß die geschlechtlichen Beziehungen unter den Menschen dem Sittengesetz unterliegen. Dessen Inhalt ermittelt der BGH mit Hilfe normativer und naturhatter Versatzstilcke: „Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, 422
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Degenhardt, JuS 1990, 164; Sachs, Verfassungsrecht II, B 2 Rn. 32; Starck, in: FS fur Geiger, S. 274. Vgl. auch Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 228; Hillgruber, Der Schutz, S. 172; Isensee, in: F S fur Heckel, S. 745; Jarass, in: Jarass/Pieroth, G G , Art. 2 Rn. 19; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 32. Podlech, in: A K G G , Art. 2 Abs. 1 Rn. 6 5 ; ähnlich Suhr, Entfaltung der Menschen, S. 154 ff. Podlech, in: A K G G , Art. 2 Abs. 1 Rn. 65. Vgl. Podlech, in: A K G G , Art. 2 Abs. 1 Rn. 66. Zusammenfassend zu solchen Positionen m.w.N. Bleckmann, D i e Grundrechte, § 2 2 Rn. 5 3 . B G H S t (GrS) 6, 46, 52; bekräftigt in B G H S t 17, 230, 233.
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weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Um seinetwillen und um der personhaften Wilrde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt"428. Diese Ausfuhrungen, deren Ewigkeitsanspruch durch die Geschichte eingeholt worden ist, verdeutlichen, wie die erkenntnistheoretisch naive429 Inanspruchnahme einer inhaltserfullten Werteordnung zur „Tyrannei der Werte"430 - genauer: zu einer Tyrannei derer, die tlber die geltenden Werte bestimmen431 - flihrt. Dieser Standpunkt bedürfte mittlerweile keiner weiteren Erwähnung432, wenn sich nicht zur Problematik der Vereinbarkeit selbstverfugenden Verhaltens mit dem Sittengesetz Ausfuhrungen fänden, die auf dem gleichen methodischen Fundament stehen433. Hierher gehört die kurz nach der Kuppelei-Entscheidung ebenfalls vom Großen Senat fur Strafsachen entschiedene Frage der sittlichen Beurteilung des Suizids, in der der BGH ausfuhrt, daß „das Sittengesetz jeden Selbstmord - von
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BGHSt(GrS)6, 46, 53. Z u m erkenntnistheoretischen Hintergrund hat sich der frühere President des BGH, Weinkauff, N J W 1960, 1691 f. geäußert: „Unausgesprochen steht dahinter die Vorstellung, das schlechthin Verbindliche der Ordnung der Werte und des daraus entspringenden naturrechtlichen Sollens beruhe auf göttlicher Setzung. Allgemeine rechtsphilosophische Ausfuhrungen darüber zu machen, wie und mit welchem Grade von Gewißheit diese Ordnung erkannt oder erschaut werden könne, ist nicht Aufgabe eines Gerichtes. Es lost diese Aufgabe so, daß es diejenigen naturrechtlichen Sätze findet und ausspricht, auf die es die Entscheidung des Einzelfalles filhrt. Das Kriterium ihrer Wahrheit ist das Gefühl innerer Gewißheit, das sie vermitteln". Weinkauff, N J W 1960, 1696, hat keine Zweifel an „der Geltung und der Zugänglichkeit der Naturrechtsordnung", zeigt sich aber besorgt „iiber das Unvermögen weiter Schichten unseres Volkes und unserer Juristen, den naturrechtlichen Gedanken zu erfassen und zu handhaben, aus einem Unvermögen, in dem sich Relativismus, Skepsis, Wissenschaftsaberglaube und mangelndes Wertgefiihl seltsam und einigermaßen hoffnungslos mischen". Das „richtige" Wertgefiihl ist also die Eigenschaft einer bestimmten Personengruppe. Eine solche Konzeption führt zur Etablierung einer „Wertgefühlelite", so daß dann die Folgerung Weinkauffs, N J W 1960, 1696, nur zu naheliegend ist: er verlangt eine „Änderung der Richterauslese". Carl Schmitt, in: F S fur Ernst Forsthoff, S. 37. Siehe Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 172 mit dem zusätzlichen, auf die Kuppelei-Entscheidung bezogenen Hinweis, daß „die Identität von Recht und Moral vornehmlich das Dogma autoritärer Systeme war und ist". In diesen Z u s a m m e n h a n g gehört nochmals der Hinweis a u f Weinkauffs Forderung (NJW 1960, 1696), die Richterauslese von der persönlichen Fähigkeit zu richtiger Erfassung der Naturrechtsordnung abhängig zu machen, u m Personen v o n diesem Amt auszuschließen, in denen „sich Relativismus, Skepsis, Wissenschaftsaberglaube und mangelndes Wertgefiihl seltsam und einigermaßen hoffnungslos mischen". Wassermann, D R i Z 1986, 294 halt diese Rechtsprechung des B G H fur iiberholt. Vgl. zur einheitlichen Interpretation d e s „Sittengesetzes" in B G H S t (GrS) 6, 4 6 u n d B G H S t (GrS) 6, 147 Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 176; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 13 f; Weinkauff N J W 1960, 1691.
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äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen - streng mißbilligt, da niemand selbstherrlich ilber sein eigenes Leben verftigen und sich den Tod geben darf434. Das BVerfG hat sich - wie auch der BGH in einigen anderen Entscheidungen435 - nicht auf eine Bezugnahme auf ewige Werte eingelassen, sondern beruft sich auf die sittlichen Anschauungen weiter Kreise der Bevölkerung. Diesen Standpunkt hat das BVerfG in der „Homosexuellen-Entscheidung" mit der Bemerkung eingenommen, „auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln; Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt"436'437. Als wichtigen Indikator fur eine solche Mißbilligung hat das BVerfG die Haltung der beiden großen christlichen Konfessionen angesehen438. Diese Entscheidung - insbesondere auch die Bezugnahme auf religiose Inhalte - ist zu Recht auf erhebliche Kritik gestoßen439. Ihr Gegenstand steht insofern dem hier erörterten Thema nahe, als die Mißbilligung der Erwachsenenhomosexualität sich auf ein Verhalten bezieht, das von den Betroffenen einverständlich vollzogen wird. Entsprechend wird denn auch in der Literatur bei selbstverfügendem Verhalten - praktisch insbesondere bei Verfügungen liber das Leben, aber auch bei bestimm434
B G H S t (GrS) 6, 147, 153. B G H S t 32, 367, 375 f. hat dahinstehen lassen, o b diese Begriindung „heute noch in vollem Umfang anerkannt werden kann" und B G H , N S t Z 1988, 127 hat seine Neigung bekundet, dem ernsthaften, freiverantwortlich gefaßten Selbsttötungsentschluß eine stärkere rechtliche Bedeutung beizumessen während sich B G H S t 46, 279, 285 wieder auf B G H S t (GrS) 6, 147, 153 beruft, aber eine neue Begründung (grundgesetzlich festgelegter Wert d e s Lebens) einführt, deren Verhältnis z u m Urteil der Sittenwidrigkeit nicht thematisiert wird (zutreffend kritisch dazu auch Duttge, N S t Z 2 0 0 1 , 547). Z u r Kritik an der Ausgangsentscheidung etwa Bottke, G A 1982, 352 f.; Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 178; Neumann, Deontologische und teleologische Positionen, S. 393 ff.; Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, S. 9 0 ; Simson, in: F S fur Schwinge, S. 101 ff.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 137 f.; Uhlenbruck, Z R P 1986, 214; Joachim Wagner, Selbstmord, S. 9 7 ff. Auch die Motive zu § 216 StGB verweisen auf das „unbestrittene Sittengesetz", daß das Leben ein unveräußerliches Gut sei (Strafgesetzbuch fur den Norddeutschen Bund, Entwurf vom 14.2.1870, § 2 1 1 ; dazu F.-C. Schroeder, Z S t W 106 (1994), 573). Einen A b riß ilber die wechselhafte Geschichte und auf die kulturellen Unterschiede in der ethischen Behandlung des Suizid liefern z.B. Beckert, Strafrechtliche Probleme u m Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 2 8 ff; Joseph Fletcher, In Verteidigung des Suizids, S. 235 ff; Rehbach, DRiZ 1986, 241 ff.
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BGHSt 23, 40, 42 f; 24, 318, 319 f.; BGHSt 4, 24, 31 f. zu § 226a a.F. StGB; BGH, N J W 2004, 1054, 1055 f; N J W 2004, 2458 f. BVerfGE 6, 389, 434. Eine heute freilich nicht mehr haltbare Position; siehe etwa die Urteile des EGMR, EuGRZ 1983, 488 zur Konventionswidrigkeit der Strafbarkeit der männlichen Homosexualität und N J W 2001, 809 zur Entschädigung fur die konventionswidrige Entlassung von Homosexuellen aus den britischen Streitkräften. BVerfGE 6, 389, 434 f. Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 320 ff; Degenhart, JuS 1990, 164 f; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rn. 4 1 .
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ten Eingriffen in die körperliche Integrität (vgl. § 228 StGB) - argumentiert, es werde von der Bevölkerung sittlich mißbilligt440 und unterliege deshalb der Schranke des Sittengesetzes441. Abgesehen davon, daß die sittliche Mißbilligung in weiten Teilen der Bevölkerung erheblichen Zweifeln in tatsächlicher Hinsicht ausgesetzt ist442'443, liegt die Schwäche dieser Auffassung darin, daß das sich als sittlich verstehende Urteil selbst, also seinem inhaltlichen Anspruch nach, die Handlungsfreiheit begrenzt. Maßgeblich ist danach nicht, ob die Verletzung sittlicher Gefühle die Rechtsgemeinschaft belastet (Desorientierung, Gefilhlsschutz, siehe oben a)), sondern der von der Mehrheit erhobene Anspruch geht dahin, daß die Minderheit sich nach ihren Vorgaben zu richten hat, und zwar um der Sittlichkeit selbst willen. Das Gebot der Toleranz in einer pluralistischen Gesellschaft wird damit ohne die Not verletzt, die Einschränkungen um eines gedeihlichen Zusammenlebens willen legitimiert444. Ein so verstandenes Sittengesetz zielt auf Besserung des Abweichlers nach Maßstäben, deren Verbindlichkeit sich allein daraus ergibt, daß sie die Maßstäbe der Mehrheit sind. Um einen inhaltlich begrilndeten, interpersonal akzeptablen Richtigkeitsanspruch bemüht sich ein solches Verständ-
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Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 176. Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 177 f.; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 16 f.; Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 816. Zu § 228 StGB unterfallenden Körperverletzungen Weber, in: FS fur Baumann, S. 47. Eine entsprechende Argumentation zum Verbot der Homosexualität bringt Stratenwerth, Die Homosexualität, S. 123. Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 108; Saliger, KritV 84 (2001), 385. Vgl. auch Ostendorf, G A 1984, 318 zu einer Meinungsumfrage aus dem Jahre 1977, in der sich 4 6 % der Befragten gegen eine Zwangsernährung bei Hungerstreikenden mit dem Argument ausgesprochen haben, die Hungerstreikenden miissen selbst wissen, was sie tun. Nach einer Studie des Instituts fur Demoskopie Allensbach (Allensbacher Bericht Nr. 9, 2001) befürworten 6 4 % der westdeutschen und 8 0 % der ostdeutschen Bevölkerung die Zulassung aktiver Sterbehilfe fur Schwerkranke, was j e denfalls fur bestimmte Suizidentscheidungen auf eine zumindest entsprechend hohe Akzeptanz schließen läßt. Dagegen ist es verfehlt, wenn Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 16 f. aus der von den meisten Menschen empfundenen sittlichen Verpflichtung, bei einem Suizidversuch rettend einzugreifen, auf die fehlende Anerkennung eines Rechts auf Suizid schließt. Denn das Bild des Suizids, das den meisten Menschen vor Augen steht, ist das des vielfach mit solchem Verhalten verbundenen Hilferufs eines verzweifelten Menschen (so auch Otto, a.a.O., S. D 78 f.). Die fehlende Beweiskraft der Argumentation wird deutlich, wenn man den Vergleich zu der Situation zieht, in der eine Person in ihrem Eigentum stehende erhebliche Sachwerte mutwillig zerstört. Auch in dieser Situation werden die meisten Menschen eine sittliche Pflicht annehmen, die Person von ihrem Werk abzuhalten, ohne daß deshalb das Recht zur Zerstörung des Eigentums in Frage gestellt wird. Einen anderen W e g zu begriindetem Zweifel an der allgemeinen sittlichen Mißbilligung beschreitet Joachim Wagner, Selbstmord, S. 100 ff., indem er darzutun versucht, daß auch in den großen christlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere in der evangelischen Ethik, die Auffassung, der Suizid verstoße gegen das Sittengesetz, nicht den allgemeinen Anschauungen entspricht; so auch Wassermann, D R i Z 1986, 293 f. Vgl. Bottke, GA 1982, 353.
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nis nicht einmal mehr, sondern es verweist auf die nackte Faktizität einer herrschenden Meinung. Schranken der Selbstverfligungsfreiheit ergeben sich bei dieser Sichtweise unmittelbar aus deren Mißbilligung durch eine qualifizierte Bevölkerungsmehrheit. Zutreffend faßt Erbel zusammen: „Hier wird das Sittengesetz zu einer verfassungsrechtlichen Einbruchsstelle moralisch-wohlfahrtsstaatlicher Tendenzen, zu einem Instrument der sittlichen 'Erziehung' des Burgers"445. Der Menschenwürdegehalt von Art. 2 Abs. 1 GG wird bei einer solchen Interpretation durch die Schranke des Sittengesetzes ausgehebelt. Diese Probleme verschärfen sich eher noch, wenn Häberle446 das Sittengesetz als die „in der Gemeinschaft lebendigen ethischen Wertvorstellungen" in ihrer Bedeutung nicht nur fur die Gemeinschaft, sondern gerade auch fur die „Persönlichkeitsentfaltung des Grundrechtsberechtigten" betont, dem die Wertvorstellungen der Gemeinschaft zur eigenen Wertverwirklichung verhelfen und die „Wertfindung" erleichtern. Der staatliche Anspruch auf Besserung der Burger kulminiert bei ihm in der Vorstellung, die Verfassung sei ein Buch „fur die Erziehung der Staatsbiirger"447. Die Schranke des Sittengesetzes dient bei diesem Ansatz nicht mehr nur den Interessen der Gemeinschaft, sondern dem Grundrechtsträger selbst. Gegen ein solches Verständnis sind also die Bedenken geltend zu machen, die bereits oben (1. b)) gegen solche Begrenzungen der Freiheit um des Grundrechtsträgers selbst willen erhoben worden sind448. Es ist danach ausgeschlossen, die Handlungsfreiheit des Menschen durch ein inhaltserfulltes Wertkonzept zu begrenzen, an dem sich die Person um eigener oder allgemeiner Wertverwirklichung willen zu orientieren hat. Wenn hiervon auch die Erwägung unberührt bleibt, daß sittlich mißbilligtes Verhalten soziale Folgewirkungen haben kann (Desorientierung, Gefuhlsverletzung), die die Qualität von Rechtsverletzungen erreichen können, so geht es insoweit eben nicht um die inhaltliche Abweichung von den herrschenden sozialethischen Anschauungen, sondern um die sozialen Folgewirkungen der Abweichung. Unter diesem Aspekt sind diese Auswirkungen aber bereits (oben a)) unter der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung bzw. der Rechte anderer behandelt worden449.
4.
Zusammenfassung
Die Freiheit zur Realisierung selbstverftlgender Entscheidungen ist jedenfalls dann, wenn diese Entscheidungen weder defizitär getroffen wurden noch ihre Realisierung Rechte anderer verletzt, durch Art. 2 Abs. 1 GG garantiert. Solche selbstverfllgenden Entscheidungen sind unabhängig davon grundrechtlich geschützt, ob sie der Betroffene selbst exekutiert oder sie durch Bewilligung eines entsprechen445 446 447 448 449
Erbel, Das Sittengesetz, S. 55. Siehe zum Folgenden Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 27. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 28 unter Berufung auf Dohna. Zutreffend Hillgruber, Der Schutz, S. 167 f; Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 256 f. Ebenso Kai Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes, S. 256.
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Teil 3: Die Freiheit zur Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz
den Verhaltens gegenüber einem Außenstehenden realisiert. Eine verfassungswidrige Freiheitseinschränkung ist es deshalb auch, den Schutz des Menschen vor sich selbst durch an Außenstehende gerichtete Verhaltensnormen zu verfolgen. Die Betrachtung unter verfassungsrechtlicher Perspektive hat damit das gleiche Resultat erbracht wie die rechtsphilosophischen Überlegungen: Es ist aus dem Selbstbestimmungsrecht der Person ausgeschlossen, die Person um ihres eigenen „Besten" willen zu bevormunden.
4. Teil: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Es ging im Vorstehenden noch nicht um die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung fur solche Verhaltensweisen, die in Verbindung mit selbstverfugendem Verhalten des Opfers zu dessen Schädigung oder Gefährdung filhren. Die Untersuchung hat vielmehr ihren Ausgang bei den rechtlichen Verhältnissen genommen und sich von dort aus zunächst der Frage zugewandt, welche rechtliche Bedeutung einer (möglichen) selbstverfügenden Opferentscheidung für das je konkrete Rechtsverhältnis zum Außenstehenden zukommt. Es liegt in der Logik dieses Zugangs zum Thema, daß bislang die Begriindungsseite des Rechts und der im Recht verankerte Einfluß der Opferentscheidung auf die Konturierung konkreter Rechtsverhältnisse zu bestimmen war. Dabei konnten die Konturen des rechtlichen Zustandes und der Bedeutung, die der Opferentscheidung in diesem Recht zukommt, in Umrissen entwickelt werden. Die Arbeit ist hierbei schrittweise zu immer weiteren Konkretisierungen vorgedrungen: während der historische Teil insbesondere die Unzulänglichkeit heteronomer und die Schwäche solcher Bestimmungen aufgezeigt hat, die die Selbständigkeit der Person nur unvollständig erfassen, sind im rechtsphilosophischen Teil die Grundlagen zu einem die Opferselbstverantwortung angemessen aufnehmenden Recht aufgezeigt worden, das in der Vernunft der Person seinen Ursprung und sein Ziel hat. Es sind aber zugleich die Grenzen eines rechtsphilosophischen Bemiihens aufgezeigt worden, das den erkenntniskritischen Einsichten Rechnung tragend zwar ein grundlegendes Prinzip von Freiheit aufzeigt, aber kein inhaltserfulltes Wertekonzept vortragen kann. Dieses Konzept muß deshalb fur unterschiedliche soziale Wirklichkeiten und - im vorliegenden Zusammenhang besonders bedeutsam - für unterschiedliche personale Selbstverständnisse offen bleiben. Die nächste Stufe, die Behandlung der Opferselbstverantwortung vor dem Hintergrund des Grundgesetzes, konnte einerseits die Einsichten der rechtsphilosophischen Grundlegung bestätigen und in das positive Recht überführen, aber andererseits durch die in den grundgesetzlichen Vorgaben manifestierten Festlegungen fur eine bestimmte Ordnung auch schon zu einem höheren Grad an Konkretheit vordringen. Die am Verfassungsrecht orientierte Erörterung der Thematik konnte immerhin einen - wichtige Eckpunkte markierenden - Rahmen festlegen, innerhalb dessen das einfache Recht einen weiten Spielraum hat. Die Verbindlichkeit der gefundenen Eckpunkte liegt ebenso wie deren begriffliche Höhe in der Natur des Verfassungsrechts. Als zentrale Aussage sowohl des rechtsphilosophischen als auch des verfassungsrechtlichen Bemühens war die Einsicht herausgearbeitet worden, daß es
308 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens nicht legitimierbar ist, die Handlungsfreiheit der Person um ihres Schutzes vor sich selbst willen zu beschränken; entsprechende Verhaltensweisen sowohl des Opfers als auch Außenstehender verletzen folglich unter diesem Aspekt nicht das Recht. Die von der vernünftigen Person getroffene selbstverfugende Entscheidung kann als solche - d. h. gerade in ihrer Qualität als selbstverfügendes Verhalten nicht Legitimationsgrund von Freiheitseinschränkungen sein. Einschränkungen der Handlungsfreiheit mit Blick auf selbstverfugendes Verhalten können deshalb nur zulässig sein, wenn entweder dieses selbstverfugende Verhalten hinter dem Niveau verniinftiger Selbstverfugung zuriickbleibt, also defizitär ist, oder aber das selbstverfugende Verhalten bzw. das darauf bezogene Verhalten Außenstehender auch die Rechte anderer verletzt, es insoweit also gerade nicht (nur) selbstverfugend ist. Fur die Frage legitimierbarer Freiheitseinschränkungen zum Schutz des defizitär selbstverfügenden Opfers wie auch der Rechte anderer, die infolge der selbstverfügenden Entscheidung und deren Realisierung verletzt sein können, hat das rechtsphilosophische wie auch — mit einigen Präzisierungen - das verfassungsrechtliche Bemühen einen weiten Rahmen möglicher Gestaltung - genauer: der möglichen Aufteilung von Verantwortungsbereichen unter den Beteiligten - aufgezeigt. Die Konturierung der Handlungsfreiheit betrifft zunächst die rechtliche Primärordnung, an die das Strafrecht als Sanktionenordnung anknüpft1. Ein Verhalten muß als Überschreitung rechtlicher Handlungsfreiheit zunächst einmal als Unrecht qualifizierbar sein, bevor zusätzlich die Qualifizierung als Strafimrecht in Betracht kommt 2 . So auch - bezogen auf Selbstverfugungen iiber das Lebensrecht - Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 123; Wassermann, DRiZ 1986, 292. Dagegen setzt die sogenannte „ Viktimo-Dogmatik" mit ihrem Rekurs auf das ultima ratio-Prinzip auf der Ebene des Strafrechts an (vgl. vor allem Schiinemann, in: FS fur Faller, S. 357 ff.; dens., NStZ 1986, 193 ff.). Das ist - jedenfalls was die gewählte Ebene anbelangt (zur inhaltlichen Kritik der Viktimo-Dogmatik grundlegend Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten) - konsequent, soweit es in den erörterten Fallen gar nicht darum geht, durch das Opferverhalten den rechtlichen Freiheitsbereich des Täters zu erweitern, sondern darum, den Einsatz eines Präventionsstrafrechts auf den Bereich zu beschränken, in dem andere Mitte! des Opferschutzes nicht greifen. Dieser Gedanke wird etwa bei „Mitverschulden" des Opfers beim Betrug virulent, wenn das Opfer in einer gegeniiber dem Täter durch geringeres Sachwissen gekennzeichneten untergeordneten Position bleibt (Raimund Hassemer, Schutzbediirftigkeit des Opfers). Dagegen greift Fiedler in seiner Untersuchung zur „einverständlichen Fremdgefahrdung", S. 175 ff, vorschnell auf die Ebene des Ära/unrechts durch, wenn er auch Fallkonstellationen nach dem viktimologischen Prinzip behandeln möchte, in denen alien Beteiligten gleichermaßen das Gefährdungspotential vor Augen steht und dementsprechend vorab die Frage zu klären ware, ob das Verhalten iiberhaupt das Recht verletzt. Zu der gleichen Ebenenverschiebung kommt es bei Schiinemann, Die Stellung des Opfers, S. 5, wenn er die Viktimodogmatik als Erweiterung der traditionellen Einwilligungsperspektive begreift, obwohl die Viktimodogmatik einen - wenn auch dem Opfer selbst anzulastenden - Sozialschaden voraussetzt. - Dagegen kommt Mitsch, Rechtfer-
Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens 309 Nachdem die dem einfachen Recht iibergeordneten Vorgaben herausgearbeitet sind, ist die weitere Konkretisierung der rechtlichen Verhältnisse auf der Ebene des einfachen Rechts wesentlich durch positivrechtliche Anhaltspunkte geprägt. Doch sind längst nicht alle (un-) rechtlichen Verhaltensweisen durch das positive Recht als solche gekennzeichnet oder lassen sich auch nur aus positivrechtlichen Regelungen stringent deduzieren. Diese Einsicht ist in Wissenschaft und Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit der Konturierung der Anforderungen an die Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt bei den Fahrlässigkeitstatbeständen herausgearbeitet worden 3 ' 4 . Die rechtliche Ordnung wird in diesem Bereich neben den iibergeordneten Vorgaben der Verfassung durch Konsistenzerwägungen (insbesondere im Vergleich mit positivierten Verhaltensanforderungen) und nicht zuletzt durch sozial verfestigte Verantwortungsbereiche und korrespondierende Erwartungshaltungen konturiert, soweit sich diese in die positivrechtlichen Vorgaben einfugen. Zu den positivrechtlichen Vorgaben, die Rückschlüsse auf die Konturierung der rechtlichen Verhältnisse unter den Beteiligten zulassen, gehören gerade in dem hier erörterten Bereich, in dem es um die Erlaubtheit oder Verbotenheit von Risikoschaffungen in Richtung auf grundsätzlich strafrechtlich relevante Erfolge geht, insbesondere auch die Vorschriften der Sanktionenordnung. Aus den Vorschriften des materiellen Strafrechts ergeben sich wesentliche Rückschlüsse auf die geltende Primärordnung. Insoweit reflektieren die Normen der Sanktionenordnung also die nach der Primärordnung geltenden Bedingungen rechtlichen Zusammenlebens. Beispielhaft: Die §§ 216 und 228 StGB geben Aufschluß nicht nur iiber die strafrechtliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen, sondern sie belegen gleichzeitig die Grenzen einer nach der Rechtsordnung möglichen
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tigung, S. 71 ff. zutreffend zu der Einsicht, daß sich die Einwilligung nicht iiberzeugend viktimodogmatisch fundieren läßt. Er begründet dies aber im wesentlichen - und damit noch nicht zureichend - mit der in der Viktimodogmatik angelegten „Herabwiirdigung" des Opferverhaltens im Sinne einer „Vernachlässigung zumutbaren Selbstschutzes" und kontrastiert dieses Bild des „unvernünftigen, desinteressierten, nachlässigen, siindigen, pflichtvergessenen Versager(s)" (a.a.O., S. 76) mit den vielfältigen guten Griinden, die fur eine Einwilligung sprechen können. Der entscheidende Punkt, daß auch jenseits solcher Wertungen ilber die inhaltlich Qualität einer Einwilligung der Rechtsgutsträger eine Gestaltungsmacht über die Verhaltensordnung ausiibt, scheint bei Misch (etwa a.a.O., S. 80, 86) eher beiläufig auf (etwas grundsätzlicher dann a.a.O., S. 95 ff.). Vgl. jiingst eingehend Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts; zusammenfassend Roxin, AT I, § 24 Rn. 14 ff. Was freilich nicht bedeutet, daß es allein um ein Problem der Fahrlässigkeitstatbestände ginge. Nur wird das Problem der Konturierung der Verhaltensordnung hier praktisch besonders bedeutsam, weil sich häufiger die Frage der Strafbarkeit von Verhaltensweisen stellt, deren Verbotenheit nicht auf der Hand liegt. Bei den Vorsatzdelikten stellen sich solche Grenzfragen seltener, weil die Mittel, deren sich ein Vorsatztäter bedient, selten auch nur in sachlicher Nähe zu erlaubten Risiken stehen. Vgl. Frisch, in: FS für Roxin, S. 226 ff.
310 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Gestaltung der konkreten Rechtsverhältnisse durch die Zustimmung des Opfers. Die Strafbarkeit bestimmter bewilligter Verhaltensweisen bietet hier also einen positivrechtlichen Anhaltspunkt in der Sanktionenordnung, der den Rückschluß auf die Primärordnung dadurch ermöglicht, daß ein bestimmtes Verhalten sogar strafrechtlich sanktioniert ist. Wenn die strafrechtlichen Normen auf Verbote der Primärordnung verweisen, so benennen sie damit freilich noch nicht auch den materiellen Hintergrund der Verhaltensverbote. Die Sanktionsnormen setzen zwar ein Verhalten als verboten voraus, geben aber nicht ohne weiteres über den legitimierenden Hintergrund der Verbotenheit Auskunft. Das telos der Strafhormen ist ein anderes als das der zugrundeliegenden Primärordnung (die unabhängig von der Strafbarkeit der verbotenen Verhaltensweisen Geltung beansprucht). Die Sanktionsnorm ist gerade unter dem Aspekt der fur ein bestimmtes Verhalten vorgesehenen Strafandrohung legitimierungsbediirftig, nicht unter dem Aspekt der Verbotenheit des Verhaltens, an das sie lediglich anknilpft. Der Zugang zur Primärordnung von der Sanktionenordnung mag zwar unter Umständen Rückschlüsse auf die fur eine Legitimation von Freiheitseinschränkungen geltend gemachten Erwägungen zulassen; mit Blick auf den spezifischen Normzweck von Sanktionsnormen ist dies aber keinesfalls zwingend. Freilich bleiben interpretatorische Möglichkeiten, die in der strafrechtlichen Literatur und Judikatur auch vielfach strapaziert, mitunter auch M^erstrapaziert5 worden sind. Beispielhaft: Eine systematische Auslegung könnte aus der Straffreiheit der (versuchten) Selbsttötung den Schluß ziehen, daß § 216 StGB nicht von der Verbotenheit der Selbstverfiigung als solcher ausgeht, sondern lediglich die Delegation des Vollzugs der Selbstverfiigung auf einen Außenstehenden aus Grilnden als verboten voraussetzt, die mit dem letztlich herbeigefiihrten Verlust des Lebens nichts zu tun haben. Doch eine solche Interpretation beansprucht (auch wenn sie im Ergebnis zutrifft) die Aussagefahigkeit der Sanktionenordnung liber Gebtihr. Derm die strafrechtliche Unverbotenheit (versuchter) Selbsttötung kann unterschiedlich - und vor allem auch: unrechtsunabhängig - begriindet werden (z.B. mit bloßen Erwägungen zur ultima ratio-Funktion des Strafrechts oder solchen zur fehlenden strafrechtlichen Schuld)6. Eine Überinterpretation von § 216 StGB ist es aber auch, Besonders deutliche Beispiele fur Cßerstrapazierungen finden sich bei Klinkenberg, JR 1978, 443 f., der aus § 216 StGB eine Rechtspflicht zurn Weiterleben deduzieren will und H.-W. Mayer, JuS 1990, 788, der aus § 216 StGB die generelle Wirkungslosigkeit von Einwilligungen in selbst geringfugig lebensgefährliche Handlungen ableitet. So verweist etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 963 darauf, die Straffreiheit der Selbstverletzung lasse sich „kriminalpolitisch eher begriinden als bei der einverständlichen Fremdverletzung"; Schmidhäuser, in: FS fur Welzel, S. 814 sieht bei der Selbsttötung lediglich die Schuld entfallen.
Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens 311 wenn der BGH aus dieser Vorschrift den Schluß zieht, daß „die Rechtsordnung die Mitwirkung eines anderen am Freitod eines Menschen grundsätzlich mißbilligt" 7 . Denn diese iiber den unmittelbaren Regelungsgehalt von § 216 StGB hinaus weisende Interpretation in Richtung auf die tatbestandlich nicht erfaßte „Beihilfe zum Suizid", unterschlägt z.B. die Möglichkeit, den Unrechtsgehalt von § 216 StGB gerade darin zu erblicken, daß der Außenstehende täterschaftlich über fremdes Leben verfiigt und damit das Fremdtötungstabu verletzt (das bei bloßen Beihilfehandlungen nicht verletzt ware). Ein weiteres Beispiel: Der Hinweis auf die Sittenwidrigkeit in § 228 StGB könnte die Annahme begründen, Körperverletzungen seien im Anwendungsbereich dieser Vorschrift trotz Bewilligung als Verstöße gegen die herrschende Sozialmoral verboten. Eine Ansicht, wie sie in der älteren Rechtsprechung fur bestimmte Verletzungshandlungen mit sexuellem Hintergrund vertreten worden ist8. Ob solche Einschränkungen der Handlungsfreiheit im Staat des Grundgesetzes noch vertretbar sind, wird man verneinen müssen. Doch diese Einsicht ist nicht von der Sanktionenordnung als solcher getragen. Trotz der begrenzten Aussagekraft der Sanktionsnormen in Bezug auf die Ausgestaltung der Primärordnung, nimmt die strafrechtliche Diskussion um das Problem der Opferselbstverantwortung vielfach von der Sanktionenordnung ihren Ausgang. So heißt es bei Rönnau: „Mit dem Rechtsinstitut der Einwilligung gewährt das Strafrecht dem Berechtigten die Möglichkeit, seine Rechtsgüter zu selbstgewählten Zwecken preiszugeben" 9 . Das ist nicht richtig: die Verfugungsbefugnis 10 wird selbstverständlich nicht durch das Strafrecht gewährt", sondern die Sanktionenordnung kann nur den Umstand reflektieren, daß die Person nach der Primärordnung zu bestimmten Verfugungen berechtigt ist12. BGHSt 46, 279, 286; zutreffend kritisch dazu auch Duttge, NStZ 2001, 547. RG, DR 1943, 234; vgl. auch RG, JW 1938, 30 f. Rönnau, Willensmängel, S. 1 (wortgleich ders., Jura 2002, 595) (Hervorhebung nur hier); siehe dann weiter auch S. 7 ff. („Zur Bedeutung des individuellen Willens im Strafrecht"). Ähnlich (allgemein zu Rechtfertigungsgriinden) Mitsch, Rechtfertigung, S. 5 (auch S. 489): „Die Zubilligung eines Rechtfertigungsgrundes bewirkt also gleichzeitig einen mittelbaren staatlichen Eingriff in Grundrechte des Opfers. Strafrecht schützt somit nicht nur Rechtsgilter, sondern verteilt Freiheit zwischen Täter und Opfer." (Hervorhebungen nur hier). Vgl. Auch Kubink, in: FS fur Kohlmann, S. 54, d e r in kritischer Absicht - von einer „Art von neuer Verfügbarkeit des Strafanspruchs" spricht. Und schon gar nicht die „Möglichkeit" der Preisgabe, wie Rönnau schreibt. Eine solche Sichtweise könnte allenfalls ihre Berechtigung haben, wenn es Einwilligungen gäbe, die nicht schon das Unrecht, sondern lediglich das Strafunrecht ausschlössen — insoweit ginge es dann aber freilich nicht mehr um Verfugungen iiber Rechtsgüter, sondern lediglich um unrechtseinschränkende Verfugungen. Ein Beispiel fur die aus dem schiefen Begründungszusammenhang resultierenden Fehlintuitionen ist die Argumentation von Rönnau, Willensmängel, S. 252, mit der er seine These verteidigt, wonach eine Einwilligung wirksam bleibe, wenn der Einwilli-
312 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Hierher gehört es auch, wenn die Vertreter der Auffassung, daß die Einwilligung nicht bereits den Tatbestand, sondern erst die Rechtswidrigkeit entfallen lasse (sogenannte „Einwilligungslösung"), aufgrand der damit zunächst festgehaltenen tatbestandlichen Verletzung eines Individualrechtsguts zu der Fehlintuition verleitet werden, die Einwilligung sei als „Verzicht auf Rechtsschutz" zu interpretieren13' M. Es bestehe „fur das Recht kein Anlaß (...), Güter zu schützen, die ihr Inhaber bewußt dem Zugriff Dritter preisgibt"15. Doch damit ist noch keinesfalls die ratio der Einwilligung erfaßt, sondern allenfalls noch einmal die technische Abfolge von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit reflektiert. Derm die mit der Tatbestandsverwirklichung konstatierte Rechtsgutsverletzung enthält nur ein vorläufiges, von gewissen Umständen abstrahierendes Urteil, das ilber die Frage einer Verletzung des Rechtsverhältnisses nichts Abschließendes aussagt. Damit ist in der Redeweise vom Rechtsschutzverzicht aber auch die rechtliche Wirkung der
gungsempfänger weiß, daß sie auf einem Motivirrtum beruht. Das „Unbehagen" an den mit dieser Auffassung verbundenen Ergebnissen müsse zurücktreten. Denn: „Ein moralisch gebotenes Unterlassen sollte nur in Bereichen, in denen es fur die Gesellschaft als besonders sozialschädlich erscheint, mit den Mitteln des Strafrechts sanktioniert werden. Es ist daran zu erinnern, daß das Strafrecht als ultima ratio der Sozialpolitik die letzte Verteidigungslinie des Rechts darstellt". Aber es geht doch erst einmal um die Beantwortung der Frage, ob ein Unterlassen (nämlich der Vornahme der bewilligten Handlung) hier wirklich nur „moralisch" geboten ist oder ob es sich nicht um eine Rechtspflicht handelt. Diese Frage beantwortet sich weder aus dem noch auch nur mit Blick auf das Strafrecht, sondern sie beantwortet sich nach der Primärordnung. So z.B. Dolling, GA 1984, 84; H.-L Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 348; Hirsch, in: FS für Welzel, S. 797 mit Fn. 69; Kühl, AT, § 9 Rn. 23; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 33; Otto, in: FS für Geerds, S. 613; Schild, Sportstrafrecht, S. 79; Wessels/Beulke, AT, Rn. 370. Auch Geerds, Einwilligung, S. 45, der allerdings (S. 7) andererseits darauf hinweist, daß infolge der Einwilligung „Unrecht von vornherein undenkbar" sei. Dann wird aber mit der Einwilligung nicht erst auf Schutz verzichtet, sondern es entfällt bereits der Gegenstand möglichen Schutzes. Aus der Rechtsprechung etwa BayObLG, NJW 1957, 1245; BayObLG, NJW 1961, 2072, 2073; KG, JR 1954, 428, 429; OLG Oldenburg, NJW 1966, 2132, 2133. Kritik an der Rechtsschutzverzichtstheorie auch bei Rönnau, Willensmängel, S. 144 f. Zipf, Einwilligung, S. 29 interpretiert den „Verzicht auf Rechtsschutz" als eine „Herausnahme des Rechtsgutes aus dem Schutzkreis der Norm", was zwar auch lediglich eine Freistellung von strafrechtlichen Sanktionen bedeutet {Zipf, a.a.O., S. 31), die aber bereits auf Tatbestandsebene erfolgt. Die von Zipf, a.a.O., S. 29, behauptete Identität mit der Auffassung, die die Einwilligung als „Verzicht auf Rechtsschutz" charakterisiert, dürfte also nicht ganz zutreffend sein, denn nach seiner Auffassung wird nicht erst auf den strafrechtlichen Schutz verzichtet, sondern es entfällt mit der Einwilligung schon der strafrechtlich geschiltzte Gegenstand. So formuliert Zipf, a.a.O., S. 30 schließlich: „Der Rechtsgutsverzicht schließt eine strafrechtlich relevante Verletzung und damit die unrechtsindizierende Wirkung der Tatbestandserfiillung aus". Im Folgenden {Zipf a.a.O., S. 32 ff.) kommt dann sowohl die Rede vom Verzicht auf Strafrechtsschutz als auch die vom Rechtsgutsverzicht vor. Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 33.
Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens 313 Einwilligung auf deren Beziehung zu diesem vorläufigen Befund verkürzt und ihre Begründungsleistung bei der Konturierung des konkreten Rechtsverhältnisses kann nicht mehr in den Blick geraten. Der „Verzicht auf Rechtsschutz" impliziert die Privatisierung einer Rechtsverletzung, nicht deren Aufhebung16. Erkennt man hingegen, daß die Einwilligung nicht nur eine sekundäre Stellungnahme zu einer Rechtsgutsverletzung darstellt, sondern das konkrete Rechtsverhältnis bereits nach dem Sinn des Einwilligenden konturiert, dann sieht man auch, daß mit der Einwilligung zwar nicht notwendig die Rechtsgutsverletzung, wohl aber die Rechtsverletzung entfällt. Wo aber kein Recht verletzt ist, da verliert auch die Rede vom „Verzicht auf Rechtsschutz" ihren Sinn. Die Einwilligung ist also - in ihrer Beziehung auf das Recht - kein Verzicht auf Schutz, sondern sie führt bereits zum Wegfall dessen, worauf sich Schutz beziehen könnte17. Auch hier zeigt sich also, daß die Behandlung als spezifisches Problem der Sanktionenordnung den Blick auf die dieser vorgelagerten Fragen der Primärordnung (die von der Sanktionenordnung lediglich reflektiert werden) versperrt. Besonders deutlich und einflußreich hat sich eine andere strafrechtliche Lehre auf die Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ausgewirkt, nämlich die strafrechtliche Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme in Verbindung mit dem Hinweis auf die akzessorische Natur der letzteren (eingehend dazu insbesondere noch unten II. 1.). Die Straflosigkeit der Selbstverletzung (als solcher) führe danach zur Straflosigkeit des nur teilnehmenden Außenstehenden. Insbesondere der positivrechtliche Ausgangspunkt bei § 216 StGB hat die Diskussion um die Abgrenzung von täterschaftlicher, nach § 216 StGB auch bei Zustimmung des Opfers strafbarer Fremdtötung und mangels Haupttat strafloser Beihilfe zur Selbsttötung in den Vordergrund geriickt18. Die Strafrechtsdogmatik greift damit aber erst in einem mehrfach vermittelten Zugang auf den Gedanken der Selbstbestimmung des Opfers durch und nimmt ihm damit seine prinzipiierende Kraft, die - wie gezeigt - in seiner Bedeutung fur das rechtliche Verhältnis und dessen Konturierung liegt19. Der vermittelte Zugang resultiert schon daraus, daß die Frage nach der strafrechtlichen Behandlung selbstverfugenden Opferverhaltens bzw. des darauf bezogenen Verhaltens eines Außenstehenden enger gestellt ist als die Frage nach der Rechtlichkeit bzw. Unrechtlichkeit dieses Verhaltens nach der Primärordnung und deshalb die Antwort auf die Frage nach der (Un-) Rechtlichkeit nicht ohne weiteres erforderlich macht. Die Tragweite eines „Prinzips der Eigenverantwortlichkeit" ist damit aus dem BlickVgl. auch Neumann, Die Stellung des Opfers, S. 229 f. Auch die damit vielleicht nahegelegte Präzisierung der h.M. im Sinne eines auf die Rechtsgutsverletzung bezogenen Schutzverzichts macht wenig Sinn und kann schon gar nicht die ratio der Einwilligung umschreiben, weil durch die Beziehung auf einen aus deliktssystematischen Gründen gewählten Bezugspunkt eben nicht die rechtliche Bedeutung der Einwilligung erfaßt, sondern nur ein aus der Zweistufigkeit der Unrechtsprüfung resultierender Teilaspekt herausgegriffen wird. Dezidiert Herzberg, JA 1985, 136. Die Bedeutung der Primärordnung gegenüber spezifisch strafrechtsdogmatischen Erwägungen betont auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 123.
314 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens winkel eines strafrechtsdogmatischen Zugangs nur ein (möglicher) Teilaspekt fur die Beantwortung der Frage nach der Strafbarkeit. Dieser strafrechtsdogmatisch-technische Zugang ist die Grundlage der Schwäche des Teilnahmearguments20. Diese liegt im Ansatz schon darin, daß die behauptete Straflosigkeit der Selbstverletzung nicht aus der Rechtlichkeit solchen Verhaltens mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen entwickelt, sondern lediglich auf die Tatbestandslosigkeit gestiitzt wird. Das eröffhet nicht nur die Möglichkeit ebenso dogmatischtechnischer Gegen-21 oder Folgeargumentationen22, sondern läßt vor allem offen, ob die Teilnahme an solchen Selbstverfügungen materiell Unrecht darstellt (das lediglich mangels Haupttat straflos bleibt). Damit fehlt aber der Behauptung, die Straflosigkeit sei auf die fahrlässige Teilnahme an selbstverletzendem oder selbstgefährdenden Verhalten zu übertragen, die Überzeugungskraft23. Der Zugang von den spezifisch strafrechtlichen Kategorien nimmt den Gedanken der Selbstverantwortung also in seiner das Rechtsverhältnis gestaltenden Kraft nicht notwendig, jedenfalls nicht unmittelbar auf. Die Einteilung in die genannten Fallgruppen durch die h.M. reflektiert diese Gemengelage in einem verschwommenen Bild, in dem weder die Grenzen zwischen den einzelnen Fallgruppen noch die normative Relevanz der Unterscheidungen klar erkennbar sind. Der Ausgangspunkt bei der Selbstbestimmung des Opfers und deren Bedeutung fur das Rechtsverhältnis vermag hier einen wesentlichen Beitrag zur Klärung zu leisten. Es läßt sich dann nämlich in einem ersten Schritt zeigen, daß eine Differenzierung nach unterschiedlichen Fallgruppen unter dem Aspekt der (Un-) Rechtlichkeit des Verhaltens der Beteiligten nicht begriindbar ist (unten I.). Die (mögliche) Ausübung des Selbstverfügungsrechts des Opfers legitimiert keine Einschränkung der Handlungsfreiheit. Dieses Ergebnis zur Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden ist in strafrechtsdogmatischen Begriffen zu reformulieren. Es hängt dann von
Zur grundsätzlichen Schwäche des Teilnahmearguments siehe auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 2 ff. Wie z.B. der, daß zumindest der Tatbestand des § 212 seinem Wortlaut nach (Tötung „eines Menschen") die Tatbestandlichkeit der Selbstverletzung nicht ausschließt; siehe Schmidhäuser, in: FS fur Welzel, S. 813. Dazu unten II. 1. a). Wie z.B. der von Schilling, JZ 1979, 163 f., demzufolge die Tatbestandslosigkeit der Selbstverletzung stets zur Tatherrschaft des Außenstehenden fiihre. Dazu Neumann, JuS 1985, 678 und unten II. 1. b) bb). In diesem Sinne etwa Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 159; Sax, JZ 1975, 145; Schilling, JZ 1979, 162. Daß der Gesetzgeber ein strafwilrdiges Unrecht, das er bei vorsätzlichem Verhalten straflos gelassen hat, bei fahrlässigem Verhalten mit Strafe bedroht, mag man kritisieren (obwohl sich auch sachliche Gründe hierfur finden ließen). Als Begründung fur die Straflosigkeit auch des fahrlässigen Verhaltens wiirde eine solche Inkonsequenz dagegen kaum taugen, solange nicht die fehlende Strafwürdigkeit dieses Verhaltens gezeigt ist. A.A. Herzberg, JA 1985, 135.
I. Der normative Ausgangspunkt
315
der Reichweite der einschlägigen strafrechtsdogmatischen Kategorien ab, inwieweit fallgruppenabhängige Differenzierungen sich als sachgerecht erweisen (unten II.). 1st der Schutz des (nicht defizitär entscheidenden) Opfers vor sich selbst als Legitimationsgrund eines an den Außenstehenden gerichteten (strafbewehrten) Handlungsverbots ausgeschlossen, so ist damit Raum geschaffen fur die Erörterung der Frage, inwieweit Defizite der Opferentscheidung oder die Beeinträchtigung der Rechte anderer die strafrechtliche Erfassung unter die vorhandenen Tatbestände erlauben (unten III. und IV.). Es ist also zunächst die Einsicht in die dogmatischen Kategorien zu verlängern, daß die Selbstbestimmungsfreiheit nicht zum Schutz der tiber sich selbst verfugenden Person eingeschränkt ist; es ist dann weiter danach zu fragen, unter welchen Bedingungen ein Defizit der Entscheidung dieser die rechtliche Wirksamkeit nimmt und es ist schließlich zu fragen, inwieweit auch Einschränkungen der rechtlichen Relevanz nicht defizitärer Entscheidungen mit Blick auf die Rechte anderer in Betracht kommen. Es ist also - kurz gesagt - der Gang der Überlegungen, wie er das rechtsphilosophische wie auch das verfassungsrechtliche Bemühen bestimmt hat, nun auch fur das strafrechtsdogmatische Bemiihen zu vollziehen. Zugleich ist die Auseinandersetzung mit der strafrechtsdogmatischen Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens in den vorfmdlichen Stellungnahmen aufzunehmen.
I.
Der normative Ausgangspunkt: Die uneingeschränkte Verfügbarkeit über Individualrechtsgüter- Die Rechte anderer unberührt lassende, nicht defizitäre selbstverfiigende Opferentscheidungen
Als Ertrag der rechtsphilosophischen wie auch der verfassungsrechtlichen Überlegungen war die Einsicht festzuhalten, daß Einschränkungen der Handlungsfreiheit nicht legitimierbar sind, soweit sie ausschließlich dem Schutz der nicht defizitär entscheidenden Person vor sich selbst dienen. Der Umstand, daß ein bestimmtes Verhalten die Option zu einer Selbstverfugung eröffhet, rechtfertigt nicht das Verbot dieses Verhaltens mit Blick auf diese Möglichkeit der (nicht defizitären, nicht drittschädigenden) Selbstverfugung. Weiter sind selbstverfiigende Bewilligungen rechtlich wirksam, modifizieren also das Rechtsverhältnis dahingehend, daß die Orientierung an der Bewilligung ebenfalls rechtmäßig ist. Selbstverfiigendes Opferverhalten legitimiert also - soweit die zugrundeliegende Entscheidung nicht defizitär ist - fur sich genommen (d.h. gerade mit Blick auf seinen selbstverfugenden Charakter) keine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Opfers oder des Täters. Unterscheidungen nach der äußeren Gestaltung der selbstverfugenden Entscheidung fehlt insoweit die normative Relevanz. Es kommt also - immer nur mit Blick auf den selbstverfugenden Charakter der nicht-defizitären Entscheidung nicht darauf an, ob das Opfer an fremdes Verhalten nur anknüpft, sich fremder Hilfe bedient oder den Vollzug der Handlung insgesamt dem Außenstehenden
316 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens überläßt24. Differenzierungen - wie sie positivrechtlich die §§216, 228 StGB nahelegen - können also nicht mit Einschränkungen der Selbstverfügungsfreiheit legitimiert werden. Auch wenn etwa § 216 StGB die Fremdtötung als einwilligungsresistenten Vorgang kennzeichnet, ist damit unter dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts doch noch nichts über die Notwendigkeit einer Unterscheidung gegenüber den Fallen der Beteiligung an einer Selbsttötung gesagt. Wenn also auf den offenkundig der gesetzlichen Regelung zugrundeliegenden Unterschied hingewiesen wird25, so bleibt dieser Hinweis solange von begrenzter Aussagekraft, wie nicht genau der Aspekt herausgearbeitet ist, unter dem die Unterscheidung tragfahig sein kann - es ist dies nicht der Schutz des nicht defizitär über sich selbst disponierenden Menschen vor sich selbst. Die strafrechtsdogmatischen Kategorien milssen den in der Primärordnung gegriindeten Befund aufhehmen. Das selbstverfugende Verhalten als solches kommt dabei als Gegenstand eines strafrechtlich sanktionierten Verbots schon deshalb nicht in Betracht, weil es die Sphäre der Interpersonalität, fur die allein rechtliche Verbote und deren strafrechtliche Sanktionierung legitimierbar sind, nicht berührt. Strafrechtlich bedeutsam ist die rechtliche Unverbietbarkeit selbstverfugender Entscheidungen also erst bezogen auf Dritte, die sich entweder in einer Weise verhalten wollen, durch die selbstverfugendes Verhalten ermöglicht oder erleichtert wird oder die sich an einer vom Opfer getroffenen selbstverfugenden Entscheidung orientieren wollen. Hier ist zwar grundsätzlich die Sphäre der Interpersonalität erreicht, doch steht das Verhalten in beiden Fallen im Einklang mit dem konkreten Anerkennungsverhältnis zum jeweiligen (potentiellen) Opfer. 1st auch der Ausgangspunkt bei der Verfugbarkeit von Individualrechtsgütern von der h.M. anerkannt26 und wird er insbesondere in Zusammenhang mit der Einwilligung im Grundsätzlichen immer wieder betont, so ist doch die Reichweite eines Prinzips der Opferselbstverantwortung in mehrerlei Hinsicht umstritten. Die 24
25 26
Insoweit ist es richtig, wenn etwa Arthur Kaufmann, Euthanasie, S. 144 (und wieder ders., in: FS fur Roxin, S. 851) behauptet, „daß es einen grundsätzlichen wertmäßigen Unterschied zwischen Tötung auf Verlangen und der (aktiven) Teilnahme an der Selbsttötung - Anstiftung und Beihilfe - nicht gibt"; so auch M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 139 ff.; Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 205; Keßler, Einwilligung, S. 68 f.; Klee, GA 48 (1901), 179; Ortmann, GA 25 (1877), 115; Saliger, KritV 84 (2001), 386; R. Schmitt, in: FS für Maurach, S. 117 f. Freilich wollen die genannten Autoren die Differenzierung nicht nur unter dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts einebnen, sondern negieren auch die Existenz anderer sachgerechter Differenzierungsgründe (wie insbesondere entgegenstehende Rechte anderer). Unter Verweis auf die gesetzliche Regelung (§216 StGB) und unterschiedliche Interpretationen von deren ratio a.A. etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 962 f.; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 65 ff.; Roxin, in: FS fur Gallas, S. 250; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 17, 33 ff. Z.B. von Geppert, ZStW 83 (1971), 962 f. Freilich ist der h.M. auch die Vorstellung von Individualrechtsglitern mit (eingeschränkter) Verfugbarkeit geläufig, insbesondere beim Leben und der körperlichen Integrität. Eine solche Vorstellung ist schlicht widersprüchlich.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
317
Diskussion orientiert sich vielfach an der oben genannten Fallgruppenbildung. Ob und in welchem Umfang selbstverfllgendes Opferverhalten die Rechtswidrigkeit oder zumindest die Strafrechtswidrigkeit eines Täterverhaltens ausschließt, wird also vielfach differenzierend danach beantwortet, ob es um bloß gefährdendes oder um verletzendes Verhalten geht und ob das Opfer sich selbst verletzt oder gefährdet oder die Verletzung oder Gefährdung vom Außenstehenden vorgenommen wird. Solche Differenzierungen sind als Ausnahmen des Grundsatzes der Selbstverfügungsfreiheit nicht begründbar. Dies gegen die h.M. zu zeigen ist ein Anliegen dieses Abschnitts (II.). Freilich gibt es - im Folgenden in seiner Berechtigung aufzuweisendes - Differenzierungspotential hinsichtlich der dogmatischen Bewältigung der unter den genannten Aspekten unterschiedlichen Fallgruppen, aber die grundsätzliche Bedeutsamkeit des Selbstbestimmungsrechts des Opfers wirkt sich unabhängig von der Art der Beteiligung des Außenstehenden wie auch unabhängig davon, ob es sich um Verletzungs- und Gefährdungssachverhalte handelt27 (dazu noch näher II. 3.), gleichermaßen aus. Es tritt dann (unten III. und IV.) schließlich hervor, daß (strafbewehrte) Einschränkungen der Handlungsfreiheit nur dort in Betracht kommen, wo das Niveau einer freien Selbstverfllgung nicht erreicht wird oder die Rechte anderer betroffen sind. Es reicht dann freilich nicht aus, daß entsprechende Defizite oder Rechtsverletzungen nach der Primärordnung bedeutsam sind (also dem - etwaigen - zustimmenden Opferverhalten seine rechtliche Relevanz nehmen), sondern es kommt weiter darauf an, daß die Tatbestände der Sanktionenordnung die daraus folgenden Verletzungen der Primärordnung erfassen.
II.
Die strafrechtsdogmatisch angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen - entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit der Fallgruppenbildung der h.M.
Die Fallgruppenbildung der h.M. kann also nichts mit unterschiedlich weitreichenden Möglichkeiten des Schutzes des Opfers vor sich selbst zu tun haben - unter diesem Aspekt läßt sich ein Verbot des Täterverhaltens nicht legitimieren. Ob und welche Berechtigung den Unterscheidungen zukommen kann, hängt - insbesondere auch unter Berücksichtigung der positivrechtlichen Vorgaben in §§ 216, 223 ff., 228 StGB - zum einen von den strafrechtsdogmatischen Kategorien ab, A.A. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 32 ff., 53 ff.; zu dessen Auffassung noch näher II. 3. b) cc).
318 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens davon nämlich, inwieweit mit der Fallgruppenbildung relevante Unterscheidungen reflektiert werden, und hängt zum anderen davon ab, ob die rechtliche Relevanz selbstverfugender Entscheidungen mit Blick auf die Rechte anderer oder wegen des (möglichen) Vorliegens eines Entscheidungsdefizits differenzierter Beurteilung zugänglich ist (darauf wird unten III. und IV. zuriickzukommen sein). Wenn hier die Rede von „der" Fallgruppenbildung der h.M. ist, so ist dies freilich insofera problematisch, als sich die Einigkeit ilber die Einteilung zunächst vor allem auf das Erfordernis von Unterscheidung iiberhaupt und verbal auf die genannten Fallgruppen, nicht aber auf die maßgeblichen Abgrenzungskriterien und schon gar nicht auf die strafrechtsdogmatisch zu ziehenden Konsequenzen bezieht. Es ist also im Folgenden in Auseinandersetzung mit den vorfmdlichen Abgrenzungsversuchen auch darzutun, ob bzw. nach welchen Kriterien eine strafrechtsdogmatisch berechtigte Abgrenzung vorzunehmen ist.
1.
Die Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung - Die Opferentscheidung modifiziert nicht das konkrete Rechtsverhältnis
Im Rahmen einer ersten groben Charakterisierung läßt sich sagen, daß die h.M. unter der Rubrizierung „Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung" solche Fälle behandelt, in denen das Opfer sich „vorsätzlich" selbst schädigt und der Außenstehende hierzu einen untergeordneten Beitrag - entsprechend dem eines Teilnehmers - geleistet hat. Die subjektive Einstellung des Außenstehenden ist hingegen kein Merkmal der Zugehörigkeit zu dieser Fallgruppe, in Betracht kommen also vorsätzliches wie fahrlässiges Verhalten28. Für die hier vertretene Auffassung ist klar: Die Unterstiitzungshandlung des Außenstehenden kommt infolge der selbstbestimmten Entscheidung des Opfers als Verletzung des zwischen beiden bestehenden rechtlichen Verhältnisses nicht in Betracht. Schon nach der Primärordnung ist die Unterstiitzung einer Selbstschädigung kein Unrecht. Die materiale Begriindung fur die Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden (soweit es das selbstverftigende Opferverhalten betrifft), liegt also darin, daß die selbstverfugende Entscheidung bzw. deren Möglichkeit keinen legitimierenden Grund fur eine Freiheitseinschränkung des Außenstehenden darstellt. Während damit der grundsätzlichen Einsicht in die Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden Rechnung getragen wird, rekurriert die h.M. nicht auf das rechtliche Verhältnis unter den Beteiligten und die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts fur die konkrete Gestalt dieses Verhältnisses, sondern setzt unmittelbar strafrechtsdogmatisch an: Die Begriindung der h.M. fur die Straflosigkeit des Verhaltens des Außenstehenden verlagert sich also von der Rechtlichkeit eines Verhaltens auf dessen fehlendes Strafunrecht, also von der Primär- auf die Sanktionenordnung. 28
Siehe den „Schlingen-Fall" (RGSt 70, 313) einerseits und den „Polizeipistolen-Fall" (BGHSt 24, 342) andererseits.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfllgender Opferentscheidungen
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a) Das Teilnahmeargument derh.M. Die Sanktionenordnung ist zugleich der Ausgangspunkt fur die Konturierung der Fälle, die als „Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung" eingeordnet werden, denn die Fallgruppe steht mit dem Hinweis auf die „Eigenverantwortlichkeit" des Opfers fur das Ergebnis - keine Strafbarkeit des Außenstehenden -, das aus der fehlenden Teilnehmerstrafbarkeit des Außenstehenden hergeleitet wird. Das Argument aus der fehlenden Teilnehmerstrafbarkeit des Außenstehenden wird entweder unvermittelt oder über ein maiore ad minus Argument eingefuhrt. Seine unmittelbarste Geltung behauptet es dann, wenn der sich selbst Schädigende gleichsam als Täter qualifiziert wird und der Außenstehende dieses Verhalten vorsätzlich fördert oder dazu anstiftet, also gleichsam als Gehilfe oder Anstifiter tätig wird. Insoweit werden also - wie die Übertragung der Kategorien von Täterschaft und Teilnahme zeigt - nur vorsätzliche Selbstschädigungen durch das Opfer unter vorsätzlicher Mitwirkung des Außenstehenden erfaßt. Der strafrechtsdogmatische Begriindungsgang, mit dem die h.M. die Straflosigkeit des Außenstehenden aufzeigt, ist der folgende29: Bei der eigenverantwortlichen Selbstschädigung sei das Verhalten des Opfers tatbestandslos. Der Außenstehende, der lediglich einen untergeordneten Beitrag zu der Selbstschädigung erbringe, sei dem Gewicht dieses Tatbeitrags nach lediglich Teilnehmer (nach §§ 26, 27 StGB, zumindest analog oder dem Rechtsgedanken nach). Da die „Haupttat", auf die die Teilnahme bezogen sei, jedoch keinen Tatbestand verwirkliche, sei dieses Erfordernis der §§ 26, 27 StGB (analog) nicht erfullt. Eine Teilnehmerstrafbarkeit scheitere also am Akzessorietätsgrundsatz. Schon in der Rechtsprechung des RG gait es als gesicherter Ausgangspunkt, daß eine Teilnahme am Suizid mangels Haupttat als straflos anzusehen sei. In diesem Sinne hat es den sogenannten „Schlingen-Fall" entschieden30: Der Angeklagte und Frau W beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der Angeklagte sollte hierfür einen ihm gehörenden Strick zur Verfugung stellen. „Beide setzten sich an einen Zaun. Der Angeklagte machte an beiden Enden seines Bindfadens je eine Schlinge; die Mitte des Bindfadens schlang er ilber einer Querlatte zweimal um eine Latte des Zaunes. (...) Der Angeklagte und Frau W legten sich dann jeder selbst eine Schlinge um den Hals. Frau W sagte, sie werde bis drei zählen, dann solle Aus der Rspr. des BGH siehe BGHSt 2, 150, 152; 6, 147, 154; 13, 162, 167; 19, 135, 137; 24, 342, 343; 32, 367, 371; 46, 279, 284; ebenso OLG München, NStE Nr. 4 zu § 216 StGB (zusammenfassend zur Rechtsprechung Gropp, NStZ 1985, 97 ff.). Aus der Literatur etwa Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 447; Arzt/Weber, Strafrecht. BT, § 3 Rn. 22; Dölling, GA 1984, 75 ff.; Engisch, Euthanasie, S. 10 f.; Gallas, JZ 1952, 371; Herzberg, NStZ 1989, 560; Horn, in: SK StGB, § 212 Rn. U; Roxin, Der Schutz des Lebens, S. 91, 96; ders., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 110; H.-L Schreiber, NStZ 1986, 343; Wehel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 280 f; Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 43. RGSt70, 313.
320 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens sich jeder nach rechts werfen; das geschah. Als der Angeklagte das Wilrgen am Hals spiirte, sprang er 'in seiner Todesangst' auf und befreite sich durch einen Schnitt mit dem Messer von seiner Schlinge. Er suchte mit der Hand die Schlinge der Frau W zu lockern, was ihm jedoch nicht gelang." Frau W verstarb. Das RG hat im Verhalten des Angeklagten „keine Tötungshandlung" erblickt. Der Angeklagte habe Frau W durch Übergabe des Stricks, das Knoten der Schlinge und dadurch, daß er den Stick um die Zaunlatte schlang, lediglich „geholfen", ihr Leben zu beenden. „Frau W hat sich dann selbst getötet, indem sie sich in die Schlinge hineinwarf31. Es liege demnach eine straflose Beihilfe zu einer Selbsttötung vor. Dieser Befund ist - wenn man die Prämissen akzeptiert (nämlich [analoge] Anwendbarkeit der Teilnahmevorschriften und die Qualifizierung des Außenstehenden als Teilnehmer) - freilich trivial32'33. Der Bedeutungsgehalt des Argumentationsganges wird teilweise erweitert. Zum einen wird gesagt, wenn das Verhalten des Außenstehenden materiell als Teilnahme einzuordnen sei, dann sei es deshalb unzulässig, die Straffreiheit des Außenstehenden durch eine „Hochstufung" seines Verhaltens zur Täterschaft zu umgehen34. Doch ist dieser Begriindungsgang nicht tragfähig, weil die (gegenüber der Teilnehmerstrafbarkeit primäre) Frage, ob eine Person durch ihr Verhalten täterschaftlich einen Tatbestand erfullt hat, unabhängig davon zu beantworten ist, ob bei Nichtvorliegen von Täterschaft nun noch Teilnahme in Betracht kommt35. Erfullt der Außenstehende nicht die Voraussetzungen täterschaftlicher Tatbegehung, dann bedarf es nicht der dargestellten Vorgehensweise, um eine Umdeutung des Verhaltens in eine Täterschaft auszuschließen. In einem zusätzlichen Vermittlungsschritt wird das Teilnahmeargument fur solche Fälle fruchtbar gemacht, in denen der Außenstehende die Selbstschädigung lediglich unvorsätzlich fördert oder zu ihr anstiftet. Eine Teilnehmerstrafbarkeit des 31 32
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RGSt70, 313, 314. Zur Unhaltbarkeit der gegen ihn geführten Angriffe (bei gleichzeitiger Akzeptanz der Prämissen) vgl. unten b) bb). Die Straflosigkeit dessen, der sich an einer Selbstschädigung beteiligt, ist (von an dieser Stelle nicht thematisierten Fallen defizitärer Entscheidungen abgesehen) fur einen Großteil der einschlägigen Fälle in einem M a ß e selbstverständlich, das bereits näherer Erörterung in Judikatur u n d Literatur entgegensteht. Entsprechende Fälle, etwa im R a h m e n von Sachbeschädigungen, sind offenbar noch nicht Gegenstand von gerichtlichen Entscheidungen geworden. Eine Ausnahme, die sich gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen d e m Ergebnis (Straflosigkeit) und der vielfach angenommenen rechtiichen Mißbilligung des Suizids ergibt (dazu noch unten), bilden die Fälle der Beteiligung a m Suizid. Hier findet sich folgerichtig auch die Argumentation mit d e m Teilnahmeargument in der Rechtsprechung. Vgl. Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 189 Fn. 72; Schilling, J Z 1979, 160, sieht in dieser „negativen Aussage", daß der Mitwirkende keine täterschaftliche Fremdverletzung begehe, zu Recht „die eigentliche Bedeutung des Teilnahmearguments" (siehe auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 3 f.; Spendel, JuS 1974, 749). Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 4.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen
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Außenstehenden ware hier nicht nur mangels Haupttat, sondern auch deshalb ausgeschlossen, weil die Strafbarkeit nach §§ 26, 27 StGB den Vorsatz des Teilnehmers voraussetzt. Damit bliebe aber die Möglichkeit einer Haftung des Außenstehenden als Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts noch offen, weil insoweit die Regeln zu Täterschaft und Teilnahme (und also auch der Akzessorietätsgedanke) nicht eingreifen. Nach ganz h.M. gilt im Bereich der Fahrlässigkeitstatbestände ein EinheitstäterbegrifP6, so daß es prinzipiell nicht ausgeschlossen ist, ein Verhalten, das bei vorsätzlicher Begehung eine Teilnahmestrafbarkeit begründen könnte, bei unvorsätzlichem Handeln als täterschaftliche Verwirklichung eines Fahrlässigkeitstatbestandes aufzufassen37. Das Teilnahmeargument der h.M., mit dem eine Fahrlässigkeitshaftung des Außenstehenden ausgeschlossen werden soil, ist das folgende: es fuhre in einen Wertungswiderspmch38, ein Verhalten, das als vorsätzliches mangels Haupttat nicht strafbar sei, bei fehlendem Vorsatz aus einem Fahrlässigkeitstatbestand zu bestrafen39. Dieser Linie ist auch der BGH im „Polizeipistolen-Fall" gefolgt. Diese Entscheidung ist fur den Standpunkt des BGH heute noch grundlegend40: Der Angeklagte, ein Polizeiobermeister, und Frau Sp., „die in engen Beziehungen zueinander standen", suchten gemeinsam eine Gaststätte auf, in der Frau Sp. Alkohol in größeren Mengen zu sich nahm. Der Angeklagte, der „wußte, daß Frau Sp. oft - vor allem nach dem Genuß von Alkohol - plötzlich bedrückt und schwermiltig wurde und bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen hatte" legte - wie er dies stets tat - nach Verlassen der Gaststätte seine geladene Dienstpistole auf das Armaturenbrett. Bei einer 36
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Siehe etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 573, 654 f.; Lackner/Kühl, Vor § 25 Rn. 2. A.A. etwa Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff, S. 2 6 1 ; Schumann, Strafrechtliches H a n d lungsunrecht, S. 110. In seiner unvermittelten Form anwendbar ware das Teilnahmeargument bei unvorsätzlichem Verhalten d e s Außenstehenden dann, wenn auch fur die Fahrlässigkeitstatbestände der restriktive Täterbegriff gelten wiirde, so daß fahrlässiges Verhalten mit Teilnahmequalität mangels einer Strafausdehnungsvorschrift entsprechend der §§ 2 6 , 2 7 StGB nicht strafbewehrt ware. Überzeugend ware eine solche Konzeption nicht; vgl. Puppe, in: N K , Vor § 13 Rn. 161. E s handelt sich also nicht u m einen logischen Schluß; siehe Spendel, JuS 1974, 750 f. Siehe etwa Roxin, in: FS fur Gallas, S. 243 ff.; den., AT I, § 11 Rn. 91. BGHSt 24, 342 = JR 1972, 426 mit Anm. Welp; dazu etwa Arzt/Weber, Strafrecht, BT, § 3 Rn. 2 7 ff.; Bindokat, JZ 1986, 422; Fiedler, Fremdgefährdung, S. 95 ff.; Freund, AT, § 5 Rn. 70 ff.; Geilen, JZ 1974, 145 ff.; Roxin, in: FS fur Gallas, S. 243 ff.; Spendel, JuS 1974, 749 ff. In BGHSt 7, 268 hat das Teilnahmeargument dagegen noch keine Rolle gespielt. Der BGH hat in dieser Entscheidung offenbar noch nicht die Möglichkeit einer fahrlässigen Tötung durch Veranlassen einer Selbsttötung ausgeschlossen (siehe auch BGH, JR 1955, 104 mit Anm. Heinitz), war aber für den konkreten Fall der Auffassung, daß der Verlassen der Ehefrau trotz der vorhersehbaren Möglichkeit einer Selbstto'tung keine Pflichtverletzung darstelle. Denn dies „ware ein unzumutbarer Eingriff in die Freiheit und Wiirde der Perso'nlichkeit und ein unvertretbares Hemmnis der erlaubten Rechtsausübung" (S. 271).
322 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Fahrtunterbrechung ergriff Frau Sp. in einem Augenblick, in dem der Angeklagte es nicht bemerkte, die Pistole vom Armaturenbrett und erschoß sich. Ihr Blutalkoholgehalt betrug zu dieser Zeit 1,45 Promille. Der BGH hat den Angeklagten unter Verweis auf das Teilnahmeargument vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen: Da die vorsätzliche Teilnahme am Suizid straflos sei, verbiete es sich „aus Griinden der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache fur den Tod eines Selbstmörders setzt"41. Unabhängig davon, ob das Teilnahmeargument unmittelbar - bei Vorsatz des Außenstehenden - oder mittelbar - bei fehlendem Vorsatz - fruchtbar gemacht wird, stets erfolgt die Begründung der Straflosigkeit ausschließlich mit solchen Argumenten, die originär der Sanktionsnormenebene zugeordnet sind. Soweit gleichwohl die Auffassung vertreten wird, die Selbstschädigungsfreiheit sei grundsätzlich verfassungsrechtlich geschützt, ist dies im strafrechtsdogmatischen Zusammenhang genauso ein obiter dictum42 wie die Behauptung, dieser Schutz des Grundgesetzes fmde seine Grenzen an der Selbsttötung, die regelmäßig rechtswidrig sei43. Allerdings begründet die verschiedentlich vertretene Annahme, die Selbsttötung sei rechtlich verboten, ein gewisses Spannungsverhältnis zu dessen von der h.M. angenommener Tatbestandslosigkeit44. Läßt sich dieses Spannungsverhältnis noch zugunsten dessen, der einen Suizidversuch unternommen hat, etwa mit Erwägungen zur persönlichen Vorwerfbarkeit4S oder zur Strafbedürftigkeit46 auflösen, muß die Straflosigkeit des „Teilnehmers" als unbefriedigend empfunden wer-
BGHSt 24, 342, 343 f. Diese Erwägung wird (S. 244) durch den Hinweis auf eine praktische prozessuale Konsequenz abgestiitzt, zu der die Gegenauffassung durch ihre Privilegierung des vorsätzlich Handelnden kommen miisse. Sie fiihre nämlich zu dem Ergebnis, daß zu einer sachgerechten Verteidigung des Angeklagten die Behauptung gehören würde, er habe mit Gehilfenvorsatz gehandelt. Vgl. etwa Roxin, AT I, § 11 Rn. 91 mit Fn. 176, der die unterschiedlichen Begriindungsebenen in ein schwer durchschaubares Verhältnis bringt wenn er die Straflosigkeit der Beteiligung an einer Selbstgefährdung mit dem Teilnahmeargument begrtindet und in der zitierten Fußnote ergänzt: „Die Anknüpfung dieser Begründung an das positive Recht darf freilich nicht den Blick auf die dahinter stehende normative Wertentscheidung verdecken: daß nämlich kein Grund besteht, die Handlungsfreiheit der Beteiligten einzuschränken, solange niemand gegen seinen Willen gefährdet wird". So BGHSt 46, 279, 285. Dieser Grundsatz gilt nach Auffassung des BGH „von äußersten Ausnahmefällen abgesehen". Dazu - kritisch - Hoerster, NJW 1986, 1788 mit Fn. 9. Siehe Schmidhäuser, in: FS fflr Welzel, S. 815 f; ders., Lehrbuch, 11/41; vgl. auch schon Kohler, GA 49 (1903), 6, der von einer mit Blick auf das „psychologische Interesse des Täters" fehlenden Strafbarkeitsbedingung ausgeht. Vgl. schon Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., § 276.
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den47, denn materiell liegt mit dem (behaupteten) Unrecht der Selbsttötung Beihilfeunrecht im Sinne eines akzessorischen Rechtsgutsangriffs vor48. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel49, daß vereinzelt versucht worden ist, die Strafbarkeit des an einer Selbsttötung teilnehmenden Außenstehenden nach §§ 26, 27 StGB i.V.m. §§ 211 ff. StGB zu begriinden50. Unter Anerkennung des Akzessorietätsprinzips verlangt dies nach der Annahme, die Selbsttötung sei eine teilnahmefähige Haupttat. Akzeptiert man eine Strafbarkeit wegen (vorsätzlicher) Teilnahme am Suizid, dann zerbricht freilich auch das von der h.M. angeflihrte Wertungsargument gegen die Strafbarkeit einer fahrlässigen Beteiligung am Suizid51. Da die Begrtindung der Strafbarkeit fahrlässiger Suizidbeteiligung mit der Prämisse, die Selbsttötung sei eine teilnahmefähige Haupttat, steht und fällt, kann sich die folgende Darstellung auf diesen, auch in der Diskussion zentralen Gedanken beschränken. Für die Auffassung, die Selbsttötung sei eine teilnahmefähige Haupttat argumentiert Bhngewat mit dem Hinweis, daß bei der Selbsttötung genau so wie bei der Fremdtötung „ein Mensch getötet" werde und also ,jeweils ein und dasselbe Objekt, nämlich das Schutzobjekt der Tötungsdelikte", verletzt werde. Deshalb stelle auch die „Selbsttötung ein rechtsgutsverletzendes Verhalten" dar52. Mit diesen Überlegungen wird freilich schon die Einsicht aus den Augen verloren, daß das Recht auf die Verhältnisse unter Menschen bezogen ist und nur in interpersonaler wechselseitiger Anerkennung seine Wirklichkeit hat53. Die tatbestandliche Erfassung der Selbsttötung unter dem Aspekt der Lebensverletzung könnte sich danach weder auf ein Unrecht beziehen noch ihrerseits Ausdruck von Recht sein; sie ware damit nichts anderes als ein Akt der Willkilr54'55. 47 48 49 50
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So schon Lion, G A 6 (1858), 460; Kohler, G A 49 (1903), 6; ders., Studien, S. 144 f. BGHSt 46, 279,285. So auch Donatsch, SchwZStW 105 (1988), 365. Auch soweit die Straflosigkeit des „Teilnehmers" fur das geltende Recht akzeptiert wird, ist sie doch verschiedentlich Anlaß fur rechtspolitische Kritik geworden, da an die unter Umständen hauchdünne Grenze zur strafbaren Täterschaft (zu) weitreichende Konsequenzen gekniipft wiirden; vgl. Giesen, JZ 1990, 936; Eser, Sterbehilfe, S. 6 4 f. Siehe Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 821 f. Bringewat, Z S t W 87 (1975), 643 f. D i e Auseinandersetzung Herzbergs, J A 1985, 133 f. mit Bringewat iibersieht diesen zentralen Punkt. Der von Herzberg in den Mittelpunkt gestellte Gedanke, die Identität von Täter und Opfer als strafausschließendes persönliches Merkmal i.S.v. § 28 Abs. 2 StGB anzusehen, setzt implizit voraus, daß die Selbsttötung überhaupt als Unrecht in Betracht kommt. Bringewat, Z S t W 87 (1975), 648 f. will schließlich die Straflosigkeit der (versuchten) Selbsttötung auf Gewohnheitsrecht sttltzen; dagegen zu Recht Bottke, Suizid, S. 3 4 ; ders., G A 1983, 27; Neumann, JuS 1985, 678; Schilling, JZ 1979, 160. Z u r Kritik an Bringewat siehe etwa Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 19 f. m.w.N.; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 177 f
324 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Dagegen erreicht Schmidhäuser mit seiner Argumentation fur eine Qualifizierung des Suizid als tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten immerhin insofern die Ebene des Rechts, als er sieht, „daß die Rechtswidrigkeit des Selbstmords nur bejaht werden kann, wenn man zugleich die Pflicht des einzelnen zum Weiterleben gegenilber der Gemeinschaft bejaht"56 und damit einen interpersonalen Bezug dieses Verhaltens einführt. Als Begründung fur diese Lebenspflicht schreibt Schmidhäuser. „Ein Gemeinwesen, das sich selbst ernst nimmt, wird seine Existenz nicht in das Belieben aller einzelnen stellen können, sondern die Achtung vor dem Leben aller seiner Glieder auch gegenüber der Versuchung zum Selbstmord fordern miissen"57. Damit ist freilich das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft gegenilber einer personalen Rechtsbegrilndung (oben 2. Teil, II.) wie auch gegenüber den Festlegungen des Grundgesetzes (oben 3. Teil, II.) geradezu umgekehrt58: Die Einzelnen werden in ihrer „Gliedhaftigkeit" als Teil eines großen Ganzen begriffen, dessen Erhaltung zum eigentlichen Zweck ihrer Existenz wird59. Zu Recht hat Schmidhäusers Ansicht kaum Zustimmung gefunden60.
Schmidhäuser, in: FS fur Welzel, S. 817; so auch Klinkenberg, JR 1978, 441 ff., der diese Pflicht allerdings aus dem vorhandenen Normenbestand und einer bestimmten Auslegung dieser Normen (Polizeirecht, § 216 StGB) deduzieren will, ohne den materialen Hintergrund fur die Berechtigung einer solchen Pflicht iiberhaupt nur in den Blick zu bekommen. Aus der älteren Literatur siehe schon Kleinfeller, GA 62 (1917), 220, der mit der entsprechenden Begriindung aber nicht die Beihilfe, sondern eine mittelbare Täterschaft des Außenstehenden begründen möchte. Schmidhäuser, in: FS fiir Welzel, S. 817. Ähnlich argumentiert Eser, Neues Recht des Sterbens?, S. 397 wonach die Tabuisierung des Lebens auch der „Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft" diene (eine Argumentation, die schon mit der Auswanderungsfreiheit kaum vereinbar ist; vgl. Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 416 f.). Gegen Eser vgl. Hoerster, NJW 1986, 1791, dessen Kritik aber noch an der Oberfläche bleibt, wenn er die Inpflichtnahme des Einzelnen nur dort fur zulässig halten will, wo die Mehrheit aus sozialem Pflichtbewußtsein und die sich verweigernde Minderheit entsprechend parasitär handelt. Doch kommt es nicht auf die Zielrichtung der Mehrheit an (deren Verbindlichkeit fur die Minderheit begründungsbedürftig bliebe), sondern darauf, ob das gemeinsame Unternehmen eines ist, auf das die Beteiligten iiberhaupt verpflichtet sind. Dazu, daß es keine Lebenspflicht im Interesse von Staat und Gesellschaft gibt, siehe den Text. Siehe dazu - gegen Schmidhäuser - schon oben im 3. Teil. Kamlah, Das Recht auf den eigenen Tod, S. 228 bemerkt zur Weiterlebenspflicht gegenilber der Gemeinschaft deshalb auch drastisch, daß man die Niederschrift eines so generellen Satzes „eher den 30er als den 70er Jahren zutrauen wtirde". Kritisch - teilweise mit weiteren Einwänden - z.B. Bottke, GA 1983, 26; Charalambakis, GA 1986, 487; Dolling, GA 1984, 76; Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem zu §§ 211 ff. Rn. 33; Herzberg, JA 1985, 132 f.; Hirsch, JR 1979, 430 f; Ralf Hohmann/König, NStZ 1989, 306; Neumann, JuS 1985, 678; ders., in: NK, Vor § 211 Rn. 37 f; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 18 f; Roxin, Die Mitwirkung beim Suizid, S. 76 f; ders., in: FS für Dreher, S. 336 ff; F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 566; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 175 ff. Ähnlich wie Schmidhäuser aber Klinkenberg, JR 1978, 441 ff. (dagegen zutreffend Wellmann, JR 1979, 182 f.).
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Die Schwäche der h.M. wird durch Schmidhäusers Argumentation allerdings deutlich61. Es ist dies die formale Straktur einer Argumentation62, die vielfach nicht die materiale Qualität der Selbsttötung als (Un-) Recht thematisiert, sondern lediglich auf die Tatbestandslosigkeit des Selbsttötungsunrechts hinweist.
b) Die primäre Frage nach der täterschaftlichen Tatbestandsverwirklichung durch den Außenstehenden aa) Das zur Feststellung täterschaftlicher Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung stehende strafrechtsdogmatische Instrumentarium Auch wenn man das Teilnahmeargument fur richtig halt, ist nicht zu übersehen, daß der Behandlung des Verhaltens des Außenstehenden als strafloser Teilnahme die Antwort auf die Frage logisch vorgeordnet ist, ob der Außenstehende den jeweiligen Tatbestand möglicherweise täterschaftlich erfüllt hat63. Dieser Aufweis ist auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Außenstehende sein Rechtsverhältnis zum Opfer infolge des selbstverfugenden Charakters der Opferentscheidung überhaupt nicht verletzt. Denn mit der Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden ist ilber die strafrechtsdogmatische Verortung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers und seine Bedeutung für die Rechtlichkeit des Täterverhaltens auf Tatbestandsebene noch nicht entschieden. Ob in der Prüfung des Vorliegens einer (täterschaftlichen) Tatbestandsverwirklichung auch der Selbstbestimmungsgedanke zu berücksichtigen ist (oder er etwa erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit Berilcksichtigung findet), ist eine Frage der Konturierung der jeweiligen Verbrechenselemente auf Unrechtsebene. Mit dem Unrechtsausschluß steht also noch nicht fest, an welchem Merkmal des Verbrechens der Unrechtsausschluß strafrechtsdogmatisch seinen Platz hat. Für eine dogmatische Begrilndung täterschaftlicher Tatbestandsverwirklichung kommen zwei Lehren aus der Dogmatik zum Allgemeinen Teil des Strafrechts in Betracht, nämlich zum einen die Beteiligungslehre und zum anderen die Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten bzw. (mit weitreichenden Überschneidungen) die Lehre von der objektiven Zurechnung. Halt man das Teilnahmeargument prinzipiell fur tragfähig, so muß die Beteiligungslehre auch iiber die Reichweite dieses Arguments entscheiden und die Frage, ob der Außenstehende nicht nur „Teilnehmer", sondern Täter ist, wird als Problem 61 62 63
Schmidhäuser, in: FS für Welzel, S. 810 ff. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§211 ff. Rn. 35. Vgl. Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 291 ff. (der die Bahnen des Teilnahmearguments nicht prinzipiell verläßt, vgl. ders., a.a.O., S. 334 ff.)
326 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens der hierfur einschlägigen Lehre diskutiert64. Mit der formalen Begriindung aus dem Fehlen einer tatbestandsmäßigen Haupttat bereitet so das Teilnahmeargument den Boden fur eine Verlagerung der Diskussion auf Fragen nach der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. Freilich ist das Instrumentarium der Beteiligungslehre auf das vorsätzliche Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zugeschnitten und deshalb bei Fahrlässigkeit des Außenstehenden allenfalls in modifizierter Anwendung brauchbar. Doch ergibt sich diese Modiflkation aus der wertenden Verlängerung des Teilnahmearguments auf diese Fälle (dazu schon oben): Ein Verhalten des Außenstehenden, daß bei gegebenem Vorsatz keine Täterschaft ware, ist danach auch zur Begriindung fahrlässiger Täterschaft ungeeignet. Eine Prüfung an den sonst fur die Begriindung von fahrlässiger Täterschaft maßgeblichen Kriterien (insbesondere: Sorgfaltspflichtwidrigkeit) erfolgt danach überhaupt nicht. Halt man dagegen das Teilnahmeargument prinzipiell fur verfehlt (weil der Anwendungsbereich der Beteiligungslehre beim Zusammenwirken von Täter und Opfer nicht eröffnet sei, dazu näher unten), so läßt sich die Frage nach der Täterschaft nicht mehr als Frage nach der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme stellen. Die damit einschlägige Bestimmung des § 25 Abs. 1 StGB zur Alleintäterschaft, wonach Täter ist, „wer die Straftat selbst (...) begeht", verweist lediglich auf den Zusammenhang von Tatbestandserfullung und Täterschaft: Die Täterschaft ist das notwendige Korrelat der Tatbestandsverwirklichung65. Die fur die Beteiligungslehre maßgeblichen Unterscheidungskriterien fur Täterschaft und Teilnahme - insbesondere also das nach h.M. einschlägige Tatherrschaftskriterium - werden danach allenfalls noch im Sinne allgemeiner Zurechnungskriterien relevant. Insbesondere die Tatherrschaft wird dann als Chiffre filr die Erftillung des (restriktiv verstandenen) Tatbestandes herangezogen. Nach moderner Lehre konventioneller - und in seiner Ausdifferenzierung für die gestellte Aufgabe leistungsfahiger66 - sind allerdings die Lehren vom tatbestandsmäßigen Verhalten und der objektiven Zurechnung. Diese Lehren bieten weiter den Vorteil, daß das dogmatische Instrumentarium zur Beantwortung der Frage, ob der (objektive) Tatbestand verwirklicht ist, bei vorsätzlichem und fahrlässigen Verhalten das gleiche ist. Nach einer vertieften Behandlung der Schwächen einer am Tatherrschaftsgedanken orientierten Beurteilung der Täterschaft des Außenstehenden (unten bb) und cc)), ist auf die Anwendung der Lehren des tatbestandsmäßigen Verhaltens bzw. der objektiven Zurechnung und des ihnen immanenten Erfordernisses der Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr zurilckzukommen (unten dd)).
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In diesem Sinne aus der Rechtsprechung grundlegend BGHSt 19, 135, 138 ff.; ferner BGH bei Dallinger, MDR 1966, 382; OLG München, NStE Nr. 4 zu § 216 StGB; aus der Literatur etwa Herzberg, NJW 1986, 1636; ders., NStZ 1989, 559 ff. (anders neuerdings ders., NStZ 2004, 3 ff.); Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 66 ff.; Roxin, Täterschaft, S. 568 ff. Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, § 25 Rn. 3. Vgl. RalfHohmann/König, NStZ 1989, 305.
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bb) Die Tatherrschaft als Kriterium zur Feststellung täterschaftlicher Tatbestandsverwirklichung, insbesondere zur Auffassung Schillings Die h.M. geht mit ihrem Hinweis auf das Teilnahmeargument davon aus, daß eine Täterschaft des Außenstehenden bei nicht-defizitärer Selbstschädigung des Opfers nicht begründet werden kann67. Hinter dieser Annahme steht eine differenzierende Qualifizierung der Beiträge der Beteiligten nach den Maßstäben der Beteiligungslehre. Als maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen Täterschaft und Teilnahme kommt hier — wie auch die Rechtsprechung in diesen Fallen anerkennt68 nicht die subjektive Theorie in Betracht. Denn diese muß gerade in solchen Fallen, in denen das Opfer um das Tätigwerden des Außenstehenden bittet und deshalb nach herkömmlicher Sichtweise mit „Täterwillen" handeln müßte, für eine Grenzziehung von Täterschaft und Teilnahme des Außenstehenden versagen, weil so offenbar die Wertung des § 216 StGB, der eine täterschaftliche Begehung einer Tötung auf Verlangen fur möglich halt, unterlaufen würde. Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme richtet sich also nach der Tatherrschaftslehre69. Bei alien Schwierigkeiten, die diese Lehre in den Randbereichen der Abgrenzung von Selbstschädigungsteilnahme und Fremdschädigungstäterschaft bietet (dazu noch unten 2. a)), besteht doch fur die ganz h.M. Einigkeit, daß eine Abgrenzung zwischen diesen Konstellationen überhaupt möglich ist70 und die Beteiligung an einer Selbstschädigung nicht stets zur Fremdschädigungstäterschaft führt. Diese Auffassung hat Kritik erfahren, die sich ihrerseits auf die Beteiligungslehre stiitzt, und unter deren Anwendung in den Fallen einer Selbstschädigung des Opfers fur den Außenstehenden die Voraussetzungen einer mittelbaren Täterschaft begründet sieht. In neuerer Zeit hat insbesondere Schilling die Auffassung vertreten, daß sich die mittelbare Täterschaft des Außenstehenden bei jeder Form der
Vgl. etwa Roxin, Täterschaft, S. 571. BGHSt 19, 135, 138. Zunächst hatten das RG und der BGH noch auf der Linie der allgemein zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme herangezogenen subjektiven Theorie die Beihilfe zu fremder Selbsttötung von der täterschaftlichen Fremdtötung nach dem Vorliegen von Gehilfen- oder Täterwillen unterschieden; siehe RG bei Kallir, JW 1921, 579; BGHSt 13, 162 und BGH, NJW 1960, 1821 (allerdings jeweils zu Unterlassungsfällen); im letztgenannten Fall argumentiert der BGH zwar bereits mit dem Tatherrschaftsgesichtspunkt, allerdings im Sinne eines Indizes fur den Täterwillen. In der Literatur war die Friktionen der subjektiven Theorie in den Fallen des § 216 StGB schon friih als Argument gegen die subjektive Theorie insgesamt geltend gemacht worden; vgl. Roxin, Täterschaft, S. 56, 566 f. Aus der Rechtsprechung hierfur grundlegend BGHSt 19, 135 = MDR 1964, 335 m. Anm. Dreher; dazu auch Eser, III, Fall 3; Paehler, MDR 1964, 647; Roxin, Täterschaft, S. 566 ff.; im Anschluß an BGHSt 19, 135 ebenso BGH bei Dallinger, MDR 1966, 382 und OLG München, NStE Nr. 4 zu § 216 StGB (Fall Hackethal). Kritisch aber z.B. Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid, S 79.
328 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens vorsätzlichen Mitwirkung an einer Selbstschädigung aus der objektiven wie subjektiven Tatbestandslosigkeit des Verhaltens des Selbstschädigers ergebe 71 ' n . Grundlage dieser Auffassung ist eine Interpretation der Tatherrschaftslehre, die nicht auf die instrumentale Steuerung eines äußeren Geschehensablaufs abstellt (an der es beim Außenstehenden fehlen würde), sondern die „Tatherrschaft hinsichtlich tatbestandlich vertypter Handlungen", also eine „Tatbestandsverwirklichungs-Herrschaft" fur maßgeblich halt73. Diese Herrschaft in Bezug auf die Tatbestandsverwirklichung komme nun allein dem Außenstehenden zu: „Einen Angriff auf fremdes Leben enthält allein das Handeln des Mitwirkenden; deshalb kommt ihm (in Hinblick auf §§ 212, 216 StGB) notwendig die Tatherrschaft zu"74. Da der Suizident sowohl objektiv tatbestandslos handle als auch (wegen des damit fehlenden Bezugspunkts) ohne Vorsatz, sei er lediglich Werkzeug des Außenstehenden75. Richtig ist an dieser Auffassung zunächst einmal, daß Tatherrschaft nicht als Überdetermination kausaler Verläufe auf den Erfolg hin verstanden werden kann, wie dies allerdings einem verbreiteten Verständnis der Tatherrschaftslehre entspricht76, sondern sich auf die Verwirklichung des Tatbestandes beziehen muß77.
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Schilling, JZ 1979, 163 ff.; friiher schon Hegler, in: FG fur Richard Schmidt, S. 71 ff. Siehe ferner Binding, Handbuch, S. 701; ders., Lehrbuch BT I, S. 25 f.; Eb. Schmidt, in: FG fur Frank II, S. 124 f.; Kion, Die Beteiligung am Selbstmord, S. 73 ff. Die Diskussion betrifft vor allem den praktisch wegen § 216 StGB besonders wichtigen Bereich der Abgrenzung von Selbsttötungsteilnahme und Fremdtötungstäterschaft. Doch die nachfolgend referierte Position Schillings wird verdeutlichen, daß die vorgetragenen Argumente nicht auf den Bereich der Tötungsdelikte begrenzt werden müssen. Es ist also lediglich eine Frage vereinfachter Darstellung und der Orientierung am referierten Text, wenn nachfolgend die Mitwirkung zur Selbsttötung im Vordergrund steht. Schilling, }Z 1979, 163. Schilling, JZ 1979, 163; ähnlich Hegler, in: FG für Richard Schmidt, S. 72. Schilling, JZ 1979, 163. Das ist nicht zuletzt eine Folge der Entwicklung der Tatherrschaftslehre auf der Basis einer finalen Handlungslehre (dazu Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 70 ff). Begreift Welzel, ZSfW 58 (1939), 502 „Handeln im engsten und strengsten Sinn" als „menschliche Zwecktätigkeit" und bedeutet ihm Zweckverwirklichung: „Ursachenfaktoren der äußeren Welt zu Mitteln zu machen, die einen bestimmten Erfolg als Ziel verwirklichen", dann ist auch die Tatherrschaftslehre wesentlich durch die Steuerung von Kausalverläufen gekennzeichnet (vgl. etwa Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 100; Maurach, AT, 4. Aufl., S. 627). So schreibt heute noch Kiipper, Grenzen, S. 146: „Im Sinne der finalen Handlungslehre ist der Täter derjenige, welcher durch zweckbewußte Lenkung des Kausalgeschehens auf den tatbestandsmäßigen Erfolg hin Herr iiber die Tatbestandsverwirklichung ist". Aber auch fur ein starker normatives Verständnis der Tatherrschaftslehre steht der Gedanke der Überdetermination kausaler Verläufe häufig im Vordergrund. Dies wird etwa bei Roxins Behandlung der sogenannten Pflichtdelikte deutlich, bei denen er die normative Qualität des Verhaltens durch den Gedanken der Tatherrschaft gerade nicht erfaßt sieht (Roxin, Täterschaft, S. 352 ff., 697; allerdings
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Deshalb ist es auch nicht sehr aussagekräftig, wenn die Kritiker von Schillings Auffassung auf den freien Selbsttötungsentschluß des Opfers hinweisen und damit dessen Werkzeugqualität abstreiten78. Mittelbare Täterschaft wird vielfach auch für möglich gehalten, wenn der Vordermann deliktisch voll verantwortlich handelt79 oder er die Situation zwar voll ilberblickt, aber ein subjektives Merkmal des Tatbestandes in seiner Person nicht erfullt80. Andererseits garantiert die tatsächliche Herrschaft des Hintermannes über einen äußeren Ablauf noch lange nicht dessen normative Zuständigkeit im Sinne einer Tatherrschaft81. Die Tatherrschaft begriindende Gestaltungsmacht ist also richtig gesehen nicht nur die Macht zur Steuerung äußerer Geschehensabläufe, sondern sie hängt als „Herrschaft über die Qualität des Verhältnisses"82 maßgeblich davon ab, wie dieses konkrete Verhältnis beschaffen ist und von welchem Verhalten die Rechtlichkeit des Verhältnisses demgemäß abhängt. Auch die Steuerung des äußeren Geschehens ist normativ nicht um ihrer selbst willen, sondern nur relevant, wenn und soweit sie die Herrschaft iiber die Qualität des Verhältnisses deshalb vermittelt, weil das Opfer im Bestand seiner Freiheit vom Unterlassen entsprechender Handlungen abhängt. Die Schwäche von Schillings Auffassung liegt also nicht in der Tatbestandsbezogenheit des Tatherrschaftskriteriums überhaupt, sondern darin, daß der Tatbestand im Falle der Mitwirkung an fremder Selbstschädigung verkürzt interpretiert wird - und dementsprechend auch die Anforderungen an die Herrschaft iiber die Tatbestandsverwirklichung unterbestimmt bleiben83. Denn der Tötungstatbestand ist nicht gleichsam „automatisch" erfullt, wenn der Suizident nicht haftet und ein Außenstehender einen Beitrag geleistet hat. Vielmehr ware erst einmal zu begründen, daß das rechtliche Verhältnis zwischen Suizident und Außenstehenden so beschaffen ist, daß der Außenstehende durch seine Mitwirkungshandlung dieses Verhältnis in Richtung auf das Leben des Opfers verletzt. Dabei verfehlt es die Problematik der hier erörterten Fälle, wenn man gegen Schilling geltend machen wollte, das Opfer habe durch seine Einwilligung dem
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zeigt sich ders., Täterschaft, S. 698 fur das Bemiihen um eine Synthese durchaus offen). In diesem Sinne etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 652. Deshalb trifft auch die im nachfolgenden dargestellte Kritik an Schilling nicht, wenn dieser (JZ 1979, 163) meint, der Streit betreffe die Frage: „Herrschaft iiber die Tatbestandsverwirklichung oder iiber das 'Geschehen'".
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So Beckert, Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe, S. 154 f.; Bottke, GA 1983, 28; Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 32 Fn. 44; Dolling, GA 1984, 77; Herzberg, JA 1985, 134; Hirsch, JR 1979, 431. Also in den Fallen des „Täters hinter dem Täter"; dazu F.-C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, S. 119 ff.; siehe auch Murmann, GA 1996, 269 ff. Also in den Fallen des „absichtslos dolosen Werkzeugs"; dazu etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 669 f.; Lackner/Kühl, § 25 Rn. 4. Vgl. Hoyer, in: SK StGB, § 25 Rn. 93 ff. Siehe zum Problem der Tatherrschaft beim (auch unvermeidbaren) Verbotsirrtum Murmann, GA 1998, 78 ff. Murmann, Nebentäterschaft, S. 180 ff. Ähnlich Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 296 ff.
330 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Außenstehenden eine Eingriffserlaubnis erteilt. Eine solche Sichtweise würde offenbar die normative Kraft der Einwilligung auf Tatbestandsebene lokalisieren, was zwar möglich, aber nicht zwingend ist und deshalb den Einwand nahelegt, eine Lokalisierung der Einwilligung auf Rechtfertigungsebene miisse die Auffassung Schillings geradezu bestätigen. Denn berücksichtige man die Wirkungen der Einwilligung nicht auf Tatbestandsebene, so könnte gegen die Annahme, der Außenstehende verwirkliche das tatbestandlich vertypte Unrecht, die selbstbestimmte Opferentscheidung nicht mehr geltend gemacht werden. Tatsächlich votiert Schilling ganz in diesem Sinne fur eine Verlagerung des Opferverhaltens auf die Einwilligungslehre84, womit freilich nicht mehr recht ersichtlich ist, wie ein Unrechtsausschluß durch Einwilligung bei der - in den diskutierten Fallen nach Schilling stets verwirklichten - Fremdtötung angesichts von § 216 StGB noch begrilndbar sein könnte85. Der Fehler sowohl der an Schilling geübten Kritik als auch der von ihm favorisierten Einwilligungslösung liegt darin, daß es in den hier erörterten Fallen iiberhaupt nicht urn Konstellationen der Einwilligung geht. Denn das Charakteristikum der Fälle der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung liegt (wie unten dd) noch näher gezeigt werden wird) darin, daß nicht erst die selbstverfugende Entscheidung die rechtlichen Verhaltensoptionen des Täters um solche erweitert, die ihm ohne eine entsprechende Entscheidung nicht offen gestanden hätten, sondern das Verhalten des Außenstehenden ist unabhängig von der konkreten Opferentscheidung rechtlich erlaubt. Das liegt daran, daß das Täterverhalten den Verhaltensspielraum fur das Opfer lediglich in Richtung auf die Möglichkeit einer Selbstschädigung hin erweitert. In der rechtlichen Unverbietbarkeit dieser Verhaltensoption macht sich das Selbstbestimmungsrecht des Opfers geltend: die (noch so naheliegende) Möglichkeit, daß ein bestimmtes Verhalten des Außenstehenden durch das Opfer in den Dienst einer selbstverfugenden Entscheidung gestellt wird oder eine solche Entscheidung hervorruft, legitimiert kein Verbot dieses Verhaltens mit Blick auf diese Optionen. Das Verhalten des Außenstehenden kommt folglich deshalb als Verletzung des rechtlichen Verhältnisses nicht in Betracht, weil die bloße Eröffhung der Möglichkeit zur Selbstschädigung ein - jedenfalls unter diesem Aspekt - rechtlich erlaubtes Verhalten darstellt86. Daraus folgt dann auch, daß sich eine Herrschaft, die sich auf diese Ermöglichung bezieht, gerade nicht Herrschaft ilber ein tatbestandsmäßiges Geschehen ist. Die h.M. kann diesem Begrilndungsgang freilich nicht folgen, soweit sie die Ermöglichung von Selbstschädigungen zumindest im Fall der Selbsttötung für rechtlich mißbilligt halt. Es bleibt dann gegen die Auffassung Schillings nur die Möglichkeit, die tatbestandliche Erfassung der BeteiliSchilling, JZ 1979, 167. Bottke, Suizid, S. 237 weist freilich zutreffend darauf hin, daß die Relevanz der Einwilligung bei der Fremdtötung bei Schilling dunkel bleibt; vgl. zu dieser Unklarheit auch Charalambakis, GA 1986, 488 f. Bottke, Suizid, S. 243; Hirsch, JR 1979, 431. So auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156 ff.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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gung an der Selbsttötung zu leugnen und damit das Problem von der Primär- auf die Sanktionsnormenebene zu verlagern. Fur die fehlende tatbestandliche Erfassung macht die h.M. dann wiederum das Teilnahmeargument fruchtbar, dessen Aussagekraft freilich dadurch begrenzt ist, daß es nicht bei der Qualifizierung des Verhaltens des Außenstehenden als Teilnahme ansetzen kann, sondern positiv aufweisen müßte, daß die Voraussetzungen täterschaftlicher Verwirklichung des Tatbestandes nicht erfüllt sind - damit unterliegt die h.M. dann aber wieder den Einwänden Schillings.
cc) Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Tatherrschaftslehre bei der Bestimmung ihres normativen Gegenstandes In den vorstehenden Ausfllhrungen ist bereits deutlich geworden, daß der Ausgangspunkt von der Beteiligungslehre, wie ihn die h.M. durch ihre Bezugnahme auf das Teilnahmeargument provoziert und wie er auch fur die Kritiker der h.M. das gemeinsame Terrain bildet, auf dem die Auseinandersetzung gefuhrt wird, zwar ein möglicher Ausgangspunkt ist, aber nicht der dogmatisch am besten geeignete. Denn die Tatherrschaft hat ihren Bezugspunkt in der Verwirklichung des tatbestandlich vertypten Unrechts und fällt beim Einzeltäter mit der Tatbestandsverwirklichung zusammen. Die Tatherrschaftslehre zielt nicht auf die Beantwortung der Frage, ob ein strafrechtlich geschütztes Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer verletzt worden ist (auch wenn eine positive Antwort auf diese Frage fur die Annahme von Tatherrschaft immer vorausgesetzt ist), sondern darauf, ob diese Verletzung im Verhältnis zu anderen, die ihr Rechtsverhältnis zum gleichen Opfer verletzt haben, als täterschaftlich anzusehen ist. Die Leistungsfähigkeit der Tatherrschaftslehre liegt also vor allem dort, wo mehrere an einem deliktischen Geschehen Beteiligte ihre jeweiligen Rechtsverhältnisse zum Opfer verletzen und dabei die äußere Seite der Verletzung durch die je anderen Beteiligten in unterschiedlicher Weise in die eigene Verletzung dieses Verhältnisses einbinden. Der Gedanke einer arbeitsteiligen Unrechtsverwirklichung wird allenfalls dann plausibel, wenn Opfer und Außenstehender im Angriff auf ein Rechtsgut verbunden sind, insbesondere also dann, wenn man das Leben für ein unverfügbares Rechtsgut halt, das auch durch das Opfer angegriffen wird. Doch solche Annahmen werden mit der Anwendung der Beteiligungslehre allenfalls impliziert, aber keinesfalls von dieser Lehre getragen und entsprechen auch weithin nicht dem Verständnis ihrer Vertreter. Halt man es dagegen für möglich, daß das Verhalten des Außenstehenden und das des Opfers unterschiedliche Angriffsrichtungen hat (oder das Opferverhalten sich überhaupt nicht als Angriff auf ein Rechtsgut verstehen läßt), dann verfehlt die Rede von der Beteiligung von vornherein ihren normativen Sinn87. Denn sie läßt sich dann allenfalls noch auf ein äußeres Geschehen, aber nicht auf einen von mehreren getragenen Verletzungszusammenhang beziehen. Das bedeutet nicht, Cancio Melid, ZStW 111 (1999), 369 f. Hier zeigt sich auch eine prinzipielle Grenze der von Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 73 ff. erstrebten Harmonisierung von Täter- und Einwilligungslehre.
332 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens daß man mit der Kategorie der Tatherrschaft nicht auch die Tatbestandsverwirklichung durch den Einzeltäter darstellen könnte, aber damit mutiert die Tatherrschaftslehre der Sache nach zu einer Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten und der objektiven Zurechnung. Wenn die h.M. unvermittelt die Frage nach der Tatherrschaft stellt, so ist dies vor allem mit der phänomenologischen Parallele zur Beteiligungslehre zu erklären, deren typisches Kennzeichen der Arbeitsteiligkeit auch bei der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung festgestellt werden kann. Die Regelungen zu Täterschaft und Teilnahme reflektieren ein soziales Phänomen, wie es beim arbeitsteiligen Zusammenwirken von Menschen auch sonst anerkannt ist88. Freilich kann auch die h.M. nicht übersehen, daß der herkömmliche Anwendungsbereich der Beteiligungslehre im Verhältnis von Außenstehendem und Opfer nicht eröffhet ist89, es bei der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung vielmehr darum geht, ob der Außenstehende überhaupt einen Unrechtstatbestand verwirklicht hat90. Die arbeitsteilige Veränderung der sozialen Wirklichkeit gibt keine Auskunft iiber die normative Qualität dessen, worauf sich das Zusammenwirken bezieht91. Wenn dennoch das Tatherrschaftskriterium fur fruchtbar gehalten wird, so liegt dem offenbar der Gedanken zugrunde, daß die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens auch durch die Verneinung von Tatherrschaft ausgeschlossen werden könne92: Beherrscht der Außenstehende nicht das Geschehen, so kann er auf der Grundlage eines restriktiven Täterbegriffs mangels Vorliegens der Voraussetzungen von Täterschaft auch nicht den Tatbestand verwirklichen. Die fehlende Tatherrschaft wiederum scheint sich daraus begründen zu lassen, daß die Tatherrschaft bereits beim Opfer liege, das damit den Außenstehenden von der Tatherrschaft ausschließe93. Für Gallas ist es sogar die einzige Möglichkeit der Abgrenzung gegeniiber einer Fremdtötung durch den Außenstehenden, „in der vom Lebensmüden beherrschten Selbsttötung dessen 'Tat' und daher in der Förderung durch den Dritten eine Teilnahme hieran und nicht die Begehung einer eigenen Tötungstat zu sehen"94. Doch damit erhält der Begriff der Tatherrschaft einen verfehlten (siehe oben bb)) normativen Sinn. Derm die Beherrschung eines äußeren Geschehens tritt bei dieser Sichtweise an die Stelle der Herrschaft iiber das konkrete Verhältnis in seiner Rechtlichkeit95. Insoweit ist es richtig, wenn Dreher gegen Gallas darauf hin88 89
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Vgl. z.B. Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 69. Anders freilich Schmidhäuser, bei dem die unmittelbare Anwendung der Beteiligungsvorschriften daraus folgt, daß das Opfer selbst tatbestandsmäßig handelt. Siehe etwa Roxin, Täterschaft, S. 568. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 40 f. Eine Schwäche, die Neumann, JA 1987, 248 f. und Ralf Hohmann/König, NStZ 1989, 304 durch den Rekurs auf den Gedanken der Eigenverantwortlichkeit ausgleichen wollen. Ähnlich Herzberg, NStZ 2004, 5. Dagegen zutreffend Herzberg, JuS 1988, 772 Fn. 12. Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 189 Fn. 72; siehe auch ders., JZ 1952, 372. Dazu fur die Fälle der Nebentäterschaft, in denen ebenfalls die instrumentelle Herrschaft iiber einen äußeren Geschehensablauf durch die eine Person nicht der Möglich-
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weist, daß die Rede von einer Tatherrschaft des Opfers im Ausgangspunkt verfehlt ist96. Mit dem von der kritisierten Basis gewonnenen Beflind - der Außenstehende steuert nicht das Verhalten des sich selbst verletzenden Opfers, womit die Tatherrschaft und folglich die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen sei - ist ersichtlich implizit behauptet, daß zur Tatbestandsverwirklichung die Steuerung des äußeren Geschehens auf den Erfolg hin gehört, was zwar tatsächlich ein zentraler Gesichtspunkt ist, aber eben nur in dem komplexeren Zusammenhang des konkreten rechtlichen Verhältnisses unter Beriicksichtigung der in diesem bestehenden Pflichten. So bedeutsam also die aufgrund der Eigenverantwortlichkeit des Opfers fehlende Steuerungsmöglichkeit auch normativ ist: eine solche Sichtweise dringt zu dem normativen Hintergrund gerade nicht durch und begreift als Steuerungsproblem, was in Wahrheit eine Frage des Rechts ist. Auch wenn das Ergebnis - fehlende Tatherrschaft und fehlende Tatbestandsverwirklichung - richtig ist, wird doch die Begrilndung dieses Ergebnisses durch die h.M. auf den Kopf gestellt.
dd) Das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung in den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung Will man die Bedeutung der Eigenverantwortlichkeit des Opfers in der dogmatischen Behandlung auf die Füße stellen, so bedarf es in einem ersten Schritt der Einsicht, daß die Herrschaft liber ein konkretes Geschehen nur eingeordnet in einen normativen Zusammenhang Bedeutung erhält und deshalb die Frage nach der rechtlichen Verbotenheit oder Erlaubtheit eines Verhaltens, das die Option zu einer Selbstschädigung ermöglicht, mit dem Hinweis auf die fehlende Steuerungsmöglichkeit nicht beantwortet ist. Nicht die fehlende instrumentale Steuerung auf den konkreten Selbstschädigungserfolg hin ist fur die rechtliche Beurteilung des Verhaltens des Außenstehenden ausschlaggebend, sondern der Umstand, daß dieses Verhalten mit Blick auf die eigenverantwortliche Opferentscheidung nicht verboten, nicht einmal verbietbar ist97. Wenn man dies anders sehen wollte und die Schaffung oder Erhöhung des Risikos von selbstschädigenden Verhaltens als rechtlich mißbilligt ansehen würde, so ließen sich die von Schilling gezogenen Konsequenzen schwerlich vermeiden. Derm wird ein bestimmter Verletzungserfolg durch ein rechtlich mißbilligtes Verhalten herbeigeführt, so ist beim potentiellen Einzeltäter kaum einzusehen, daß die Griinde, die das Mißbilligungsurteil tragen, die Qualifizierung als Täter gerade ausschließen sollen. Auf den normativ allein relevanten Verletzungsvorgang bezieht sich bei einer solchen Sichtweise die Herrschaft, die insoweit ausschließlich beim Außenstehenden liegt.
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keit entgegensteht, daß auch die andere Person Tatherrschaft inne hat, siehe Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 172 ff., 180 ff. Dreher,MDR 1952,713. So schon Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156 ff.
334 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Die Einsicht, die eine an einem instrumentalen Verständnis der Tatherrschaftslehre orientierte Argumentation gleichsam iiberspringt, ist die, daß es bei der Beteiligung an einem selbstschädigenden Verhalten nicht (erst) an der Herrschaft über einen konkreten Verlauf fehlt, sondern das Verhalten des Außenstehenden mit dem Recht in Emklang steht. Nicht fehlende Steuerung, sondern die Selbständigkeit des Opfers überhaupt schließt es aus, das Verhalten des Außenstehenden als verboten zu qualifizieren. Hinter dieser Einsicht bleibt auch der von manchen Autoren favorisierte Ansatz bei der Lehre vom Schutzzweck der Tatbestandsnorm zuriick98. Nach dieser Auffassung soil die Tatbestandserfullung durch Ermöglichung einer Selbstschädigung davon abhängen, ob der jeweilige Tatbestand - also etwa die Tatbestände der Tötungsdelikte - auch ein Verhalten erfassen soil, durch das eine Selbstschädigung (Selbsttötung) des Opfers lediglich gefördert wird. Dies wird etwa mit dem Hinweis auf das „Prinzip der Eigenverantwortlichkeit" verneint, das den Schutzbereich der Fremdverletzungsdelikte dort begrenze, wo eine Schädigung in den danach eröffheten Verantwortungsbereich des Opfers falle". Aber damit wird der Gedanke der Eigenverantwortlichkeit zu Unrecht in seiner Bedeutung erst auf der Ebene der Sanktionenordnung angesiedelt, während in Wahrheit - wie gezeigt das Verhalten des Außenstehenden bereits dem Recht entspricht100 und sich folglich die Interpretation der Tatbestände des StGB auf die Einsicht beschränkt, daß ein strafrechtlich erfaßbares Verhalten zunächst einmal in Widerspruch zur Rechtsordnung stehen muß. Bei der Beteiligung an einer Selbstschädigung ist ein bestimmtes Verhalten trotz des von ihm geschaffenen oder erhöhten Risikos einer Selbstschädigung deshalb und insoweit rechtlich erlaubt, wie das selbstschädigende Verhalten dem Selbstbestimmungsrecht des Opfers entspricht (in seinen Verantwortungsbereich fällt) und damit dessen (mögliche) Vornahme kein Legitimationsgrund fur ein Verbot des darauf bezogenen Verhaltens ist101'102. 98
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Dazu Beulke/Mayer, JuS 1987, 127; Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 0 ff.; Wessels/Hettinger, B T / 1 , R n . 191. Eingehende Kritik bei Degener, „Die Lehre v o m Schutzzweck der N o r m " , S. 7 4 ff. So Wessels/Beulke, AT, Rn. 186. Zutreffend Otto, in: GS fur Schlüchter, S. 80, 84. Eine Einsicht, der sich außerhalb des Bereichs der Beteiligung an einer Selbsttötung und möglicherweise gewisser Selbstschädigungen der körperlichen Integrität auch die h.M. nicht verschließen kann, denn daß z.B. die Beteiligung an der Zerstörung einer Sache durch den Eigentilmer schon nach der Primärordnung kein Unrecht darstellt, wird nicht bestritten. So auch Freund, Erfolgsdelikt, S. 199 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156 ff. Nicht entscheidend ist also - wie Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 3 2 ff. meint - daß bei der Selbstschädigung das Opfer „eine besondere Einheit zwischen Wille, Handlung und Erfolg" herstelle, die es verhindere, „den Beitrag eines anderen zu dieser Aktion
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Das Verhalten des Außenstehenden wird also nicht erst durch eine konkrete Bewilligung rechtlich erlaubt, sondern es ist deshalb nicht mit Buck auf die Möglichkeit einer Selbstverfilgung des Opfers verbietbar, weil erst das Opferverhalten die durch den Außenstehenden ermöglichte oder erleichterte Selbstverfugungsmöglichkeit realisiert. Man kann von einer „generellen Erlaubnis" des Täterverhaltens sprechen, deren materieller Hintergrund das Selbstbstimmungsrecht potentieller Opfer ist103. Diese, aus dem Selbstverfligungsrecht des Einzelnen prinzipiell herausgearbeitete Einsicht wirkt sich strafrechtsdogmatisch in den hier erörterten Fallen dahingehend aus, daß es an einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung fehlt104. Die Verhaltensordnung erlaubt das Verhalten des Außenstehenden unabhängig von der konkreten Entscheidung des Opfers, dem es vorbehalten bleibt, das Verhalten des Außenstehenden durch eigene Entscheidung in den Dienst einer Selbstverfugung zu stellen. Ein von der Rechtsordnung erlaubtes Verhalten kommt als Gegenstand strafrechtlicher Mißbilligung nicht in Betracht. Nicht erst nach der Sanktionenordnung, sondern bereits nach den Maßstäben der Primärordnung ist das Verhalten des Außenstehenden erlaubt. Damit fehlt es nicht erst an einer straftatbestandlichen Erfassung eines sonst verbotenen Verhaltens, sondern das Verhalten ist jedenfalls unter dem Aspekt der Gefahr selbstschädigenden Verhaltens - nach der Primärordnung erlaubt und kann deshalb auch keiner strafrechtlichen Mißbilligung unterliegen. Fiir eine Beurteilung des Verhaltens anhand der Primärordnung spielt es auch keine Rolle, welche subjektive Beziehung der Außenstehende zu der von ihm eröffheten oder verbesserten Möglichkeit selbstschädigenden Opferverhaltens hat. Die Erlaubnis zur Schaffung oder Erhöhung des Risikos selbstschädigenden Verhaltens resultiert aus dem Selbstbestimmungsrecht des Opfers, nicht aus der jeweiligen subjektiven Einstellung des Außenstehenden zu der vom Opfer ergriffenen Verhaltensoption. Unabhängig davon also, ob der Außenstehende „vorsätzlich" oder „fahrlässig" in Beziehung auf die Selbstschädigung gehandelt hat, fehlt
als freiheitsverletzend (in rechtlicher Sicht) und damit als Unrecht zu begreifen" (S. 33). Denn die rechtliche Erlaubtheit des Opferverhaltens (und damit verbunden die fehlende Legitimierbarkeit eines Verbots des Verhaltens des Außenstehenden mit Blick auf die Ermöglichung dieses Opferverhaltens) hängt nicht davon ab, ob das das Risiko voll überblickende Opfer eine Willensbeziehung zum Erfolg herstellt. Darauf wird im Zusammenhang mit der Erörterung der Selbstgefährdung (unten 3.) zurückzukommen sein. Weil diese „generelle Erlaubnis" jedenfalls nicht mit Blick auf selbstverfligende Entscheidungen der vernünftigen Person zurtickgenommen werden kann, sondern sich notwendig aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt, ist es auch sachgerecht, sie als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts zu diskutieren. Wenn Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 172 f. das anders sieht, so deshalb, weil sie dem Staat das Recht paternalistischer Einschränkungen der Handlungsfreiheit zubilligt. Siehe auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 148 ff. für eine Orientierung am Kriterium des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Neuerdings auch Herzberg, NStZ 2004, 3 ff. (im Rahmen der objektiven Zurechnung).
336 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens es bereits an der erforderlichen deliktischen Relevanz des die Selbstschädigung ermöglichenden oder erleichternden Verhaltens105.
ee) Übergang zu den Fallen der einverständlichen Fremdschädigung Das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Gefahr in den Fallen der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung wurde im Vorstehenden damit begriindet, daß der Außenstehende hier lediglich eine Verhaltensoption ftir das Opfer eröffnet. Die damit geschaffene oder verbesserte Möglichkeit zur Selbstschädigung bietet keine Legitimationsgrundlage fur ein rechtliches Verbot des Verhaltens des Außenstehenden. Auf die konkrete Opferentscheidung, die im Zeitpunkt des riskanten Handelns noch überhaupt nicht gefällt sein muß, kommt es danach nicht an. Nun ist es freilich nach dem Gang dieser Untersuchung nichts Neues, daß die Ausiibung der Freiheit zur Selbstbestimmung prinzipiell kein Grund dafür ist, fremdes Verhalten zum Schutz des Opfers vor der Ausiibung dieser Freiheit zu verbieten. Doch mit dieser prinzipiellen Einsicht zur Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden (unter dem Aspekt des Individualschutzes) war noch nicht iiber die strafrechtsdogmatische Verortung des Selbstbestimmungsrechts (und damit der Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden) entschieden. Nachdem fur die Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung aufgezeigt wurde, daß das Selbstbestimmungsrecht des Opfers hier das Vorliegen einer rechtlich mißbilligten Gefahr ausschließt, markiert der Übergang zu der Fallgruppe der „einverständlichen Fremdschädigung" die Frage nach der dogmatischen Behandlung solcher Fälle, in denen das Verhalten des Außenstehenden ohne die zustimmende Entscheidung des Opfers eine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung darstellen würde.
2.
Die Fälle der einverständlichen Fremdschädigung - Die Opferentscheidung modifiziert das konkrete Rechtsverhältnis
Als Fälle der „einverständlichen Fremdschädigung" werden üblicherweise solche bezeichnet, bei denen der Außenstehende eine vorsätzliche Verletzungshandlung vornimmt, die von der Einwilligung des Opfers gedeckt ist. Die nähere Konturierung dieser Fallgruppe vollzieht sich in der Abgrenzung zu den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung. Die Frage nach der sachgerechten Abgrenzung der Fälle der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung von denen der einverständlichen Fremdschädigung nimmt in Rechtsprechung und Literatur breiten Raum ein. Die Intensität der gefuhrten Diskussion könnte auf den ersten Blick iiberraschen, betrifft doch die Unterscheidung nach den bisherigen Darlegungen nicht die grundsätzliche Beachtlichkeit des Selbstbestimmungsrechts des Opfers, sondern lediglich unterschiedliche Weisen, in denen sich dieses Recht geltend macht und damit Vgl. auch Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 48 f.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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nur den deliktssystematischen Ort, an dem es die seiner Bedeutung gemäße Beriicksichtigung findet. Ihre praktische Relevanz erhält die Abgrenzungsfrage insbesondere106 durch § 216 StGB, der fur die Tötungsdelikte verdeutlicht, daß der Gesetzgeber offenbar weitreichende Folgen daran knüpft, ob der Außenstehende schon keine tatbestandliche Tötungshandlung vornimmt oder eine solche lediglich durch das Opfer bewilligt ist. Die Abgrenzungsfrage wird deshalb auch im Bereich der Lebensbeendigung am intensivsten diskutiert. Der Verlauf der Strafbarkeitsgrenze an der Verwirklichung des Tötungstatbestandes hat dazu gefuhrt, die Diskussion urn die Abgrenzung erlaubter Ermöglichung oder Erleichterung selbstschädigender Entscheidungen von der bewilligten Tötungshandlung mit Argumenten zur Strafbarkeit zu belasten. Symptomatisch hierfur ist es, wenn etwa Reinhard Merkel gegen bestimmte, zur Abgrenzung vorgetragene Kriterien einwendet, es sei „alles andere als klar (...) ob sie normativ plausibel und leistungsfähig genug sind, um alleine die Last einer so schwerwiegenden Abgrenzung wie der zwischen Straflosigkeit und (z.B.) Totschlag tragen zu können"107. Es sind vor allem solche teleologische Erwägungen, die in der vornehmlich im Bereich von § 216 StGB um die Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung gefuhrten Diskussion bestimmend geworden sind.
a) Die vorfindlichen (insbesondere im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten diskutierten) Abgrenzungsversuche zur eigenverantwortlichen Selbstschädigung Für die h.M. läßt sich das Spektrum der Fälle der Fremdschädigung zunächst negativ durch das Nichteingreifen des Teilnahmearguments charakterisieren, weil der Außenstehende nicht auf die Rolle des Teilnehmers an einer straflosen Selbstverletzung beschränkt sei. Ihre Abgrenzungsbemiihungen orientieren sich in konsequenter Fortsetzung der mit dem Teilnahmeargument begonnenen Linie weitgehend an Kriterien der Beteiligungslehre. So formuliert der BGH: „Daß der Tatbestand des § 216 StGB von der straflosen Beihilfe zur Selbsttötung nach den Grundsätzen der Teilnahmelehre abzugrenzen ist, kann als gesicherte Rechtsprechung angesehen werden" 108 . Nach Preisgabe der subjektiven Täterschafts-/Teil-
Das entsprechende Problem stellt sich freilich auch in den Fallen des § 228 StGB und auch dort, wo diese Vorschrift - wie von manchen Autoren behauptet - entsprechend anzuwenden ist. Doch in der Diskussion stehen die Fälle um § 216 StGB deutlich im Vordergrund. Schließlich wird verschiedentlich auch die Relevanz von Eintscheidungsdefiziten beim Opfer unterschiedlich beurteilt, je nachdem ob diese Entscheidung das Rechtsverhältnis modifiziert (Einwilligung) oder nicht (Selbstschädigung); dazu noch unten III. 2. b). Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid, S. 78 f. (im Original teilweise kursiv). Um die Abgrenzung von Tötung auf Verlangen und strafloser Beteiligung am Suizid anhand der ratio von § 216 StGB haben sich z.B. bemüht: Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 24 f.; F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 566 ff. BGHSt 19, 135, 137 f; zustimmend Dreher, MDR 1964, 337.
338 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens nahmetheorie109 ist die Ausgangsfrage der h.M. also die, ob der Außenstehende (oder das Opfer) die Tatherrschaft inne hat110. Doch das Kriterium der Tatherrschaft, wie es sonst fur die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme verwendet wird, bereitet bei der Abgrenzung von Selbsttötungsteilnahme und Fremdtötungstäterschaft erhebliche Schwierigkeiten, zu deren Bewältigung unterschiedliche Modifikationen der Tatherrschaftslehre vorgeschlagen worden sind. Hintergrund des vielfach empfixndenen Bedarfs nach Anpassung des Tatherrschaftskriteriums in den hier erörterten Fallen sind die bereits erwähnten teleologischen Überlegungen, nämlich die Annahme, daß mit dem Ergebnis „Fremdtötungstäterschaft" der Weg unaufhaltsam111 zur Strafbarkeit nach § 216 StGB ftihrt, dieses Resultat aber fur bestimmte Fälle vermieden werden soil.
aa) Das Tatherrschaftskriterium der Rechtsprechung Der. BGH hat das Kriterium der Tatherrschaft im sogenannten „Gisela-Fall" grundlegend bestimmt112: Der Angeklagte und die 16jährige Gisela empfanden tiefe Zuneigung fiireinander. Die Verbindung wurde jedoch von den Eltern mißbilligt. Beide BGHSt 19, 135, 138; Andeutungen in diese Richtung schon in BGHSt 2, 150, 156 (dazu Gallas, JZ 1952, 372). Zusammenfassend zur Rechtsprechung Walther, Eigenverantwortlichkeit, S. 166 ff. Zur Abgrenzung auf der Grundlage der subjektiven Theorie siehe aber Heimberger, in: FG fur Frank I, S. 418. Im Gesetzgebungsverfahren war die subjektive Theorie geradezu als Möglichkeit diskutiert worden, die Strafbarkeit durch Annahme der Gehilfenschaft des aktiv Tötenden bei entsprechender Interessenlage zu vermeiden (siehe Ministerialdirektor Schäfer in der 64. Sitzung des Rechtsausschusses des Reichstags [Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, I. Abteilung, Band 3, 2. Teil, S. 660]). Freilich werden solche Überlegungen nicht dem Umstand gerecht, daß die von § 216 StGB erfaßbaren Fälle die Interessenunterordnung als Strukturmerkmal aufweisen, also nicht ein Ausweichen auf Gehilfenschaft von Fall zu Fall möglich ist, sondern bei Zugrundelegung der subjektiven Theorie stets erfolgen müßte, so daß fur § 216 StGB kein Anwendungsbereich verbliebe (so schon Frank, Strafgesetzbuch, § 216 Anm. I.). In diesem Sinne etwa Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 339; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 40; Zippelius, JuS 1983, 660; Wassermann, DRiZ 1986, 296. Zusammenfassend Lackner/Kühl, § 216 Rn. 3. Jedenfalls kann das zustimmende Opferverhalten (allein) diesen Weg nicht mehr versperren; verschiedentlich werden freilich andere Rettungsanker geworfen, in denen die Selbstbestimmung des Opfers nicht mehr das bestimmende Prinzip ist, sondern - wie insbesondere bei § 34 StGB (für dessen Anwendbarkeit bei § 216 StGB eingehend Herzberg, NJW 1986, 1639 ff.; siehe auch Geilen, in: FS für Bosch, S. 288) - lediglich als Abwägungsgesichtspunkt auftaucht. BGHSt 19, 135 = MDR 1964, 335 m. Anm. Dreher; dazu auch Eser, III, Fall 3; Paehler, MDR 1964, 647; Roxin, Täterschaft, S. 566 ff.; im Anschluß an BGHSt 19, 135 ebenso BGH bei Dallinger, MDR 1966, 382 und OLG Miinchen, NStE Nr. 4 zu § 216 StGB (Fall Hackethal).
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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beschlossen auf Initiative von Gisela, gemeinsam in den Tod zu gehen. Auf einen Vorschlag des Angeklagten, mit dem Gisela einverstanden war, schloß er „einen Schlauch an das Auspuffrohr an und fuhrte ihn durch das linke Fenster in das Wageninnere. Dann versperrte er die links Wagentilr von außen, stieg von rechts in den Kraftwagen und setzte sich auf den Sitz des Fahrers. Das linke Wagenfenster drehte er so weit zu, wie es der Schlauch ermöglichte. Gisela, die neben dem Angeklagten auf dem rechten Vordersitz Platz nahm, verriegelte die rechte Tiir von innen. Der Angeklagte ließ nun den Motor an und trat das Gaspedal durch, bis das einströmende Kohlenoxyd ihm die Besinnung raubte". Als beide am nächsten Morgen leblos gefunden wurden, war nur noch der Angeklagte zu retten. Nach der Verwerfung einer Abgrenzung allein nach subjektiven Rriterien könne „es allein darauf ankommen, wer das zum Tode fuhrende Geschehen tatsächlich beherrscht hat. Im Einzelfall ist dafür entscheidend die Art und Weise, wie der Tote über sein Schicksal verfügt hat. Gab er sich in die Hand des anderen, weil er duldend von ihm den Tod entgegennehmen wollte, dann hatte dieser die Tatherrschaft. Behielt er dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung liber sein Schicksal, dann tötete er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe"113. Dieser „Vorbehalt der Entscheidung" des Opfers sei allerdings in den Fallen des „einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes" nicht davon abhängig, ob das Opfer nach dem Handeln des anderen tatsächlich noch die freie Entscheidung über Leben und Tod innehabe. Ausschlaggebend sei vielmehr der Gesamtplan: „Soil nach ihm der Beitrag eines Beteiligten nicht bis zum Eintritt des Erfolges willensgesteuert fortdauern, sondern nur die Ursachenreihe so in Gang setzen, daß nach seinem Vollzug dem anderen Beteiligten noch die voile Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, so liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor, mag sich auch in diesem Beitrag das gesamte Tätigwerden erschöpfen"114. Da der Angeklagte nach dem Gesamtplan das Geschehen bis zuletzt in der Hand haben sollte und „die auf den beiderseitigen Tod abzielende Ausfiihrungshandlung bis zum Eintritt eigener Bewußtlosigkeit fortsetzen" sollte, habe er die Tatherrschaft inne gehabt und sei Täter nach § 216 StGB. Das subjektivierende Kriterium des „Gesamtplans", auf dessen nähere Betrachtung es im Folgenden nicht ankommt, ist offensichtlich nicht haltbar115. Denn danach wiirde die „Tatherrschaft" auch dann beim Angeklagten verblieben sein, wenn dieser längst bewußtlos gewesen ware, während Gisela noch bei Bewußtsein den Wagen jederzeit hätte verlassen können. Eine solche Subjektivierung des Tatherrschaftsgedankens mag zur Versuchsbegriindung herangezogen werden, aber fur die Frage tatsächlicher Herrschaft iiber das Geschehen ist sie nicht maßgeblich.
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BGHSt 19, 135, 139 f. (Hervorhebungen nur hier) BGHSt 19, 135, 140. Zutreffend F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 577.
340 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Im Anschluß an diese Entscheidung hat der BGH auch einen weiteren Fall des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord entschieden, in dem der eine Beteiligte den anderen durch Erwürgen töten und anschließend selbst einen Giftbecher leeren sollte116. Auch hier beherrsche derjenige, der den anderen erwiirgt, nach dem Gesamtplan das zum Tod fuhrende Geschehen, während der andere den Tod entgegennehmen wolle. Auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung im „Scophedal-Fall"ul: Der 70jährige Onkel des Angeklagten litt unter seinem schlechten Gesundheitszustand, so daß sich seine schon länger gehegten Selbstmordabsichten mehr und mehr verfestigten. „Zusammen mit dem Angeklagten, den er liebte und dem er vertraute, der ihn auch seinerseits als Ersatzvater ansah, hatte er bei zwei Gelegenheiten ausdriicklich zur Vorbereitung seines Selbstmordes insgesamt 30 Ampullen Scophedal - ein unter das Betäubungsmittelgesetz fallendes Narkoanalgetikum - in einer Apotheke gekauft." Schließlich zog der Onkel zwanzig Ampullen Scophedal auf eine 20 ml-Spritze. „Als er nach der 5. Ampulle erschöpft aufhören mußte, fragte er den Angeklagten: 'Würdest du mir helfen, die Spritze zu geben, wenn ich es nicht kann?' Als er das erschrockene Zuriickweichen des Angeklagten bemerkte, fugte er sofort hinzu: '(•••) i c n werde dich da raushalten, wenn ich es kann. Ich werde dir nicht sagen, warm ich es machen werde. Du sollst damit nichts zu tun haben'". Zwei Tage später „spritzte sich der Onkel - vom Angekl. unbemerkt - 15 bis 20 ml Scophedal intramuskulär in den linken Oberschenkel. Nachdem der Angekl. dies bemerkt hatte, andererseits aber feststellte, daß der Atem des tief schlafenden Kranken gleichmäßig blieb, befürchtete er, der Selbstmordversuch werde möglicherweise mißlingen. Nach einigem Zögern entschloß er sich, das Leben seines Onkels selbst 'mit Sicherheit' zu beenden, und spritzte ihm seinerseits 0,3 ml Scophedal sowie 0,2 ml Dolantin in die rechte Armvene. Das ftihrte etwa eine Stunde später zum Tod des Onkels, der möglicherweise auch an der von ihm selbst gesetzten Spritze gestorben ware, ohne das Eingreifen des Angeklagten aber mit Sicherheit mindestens eine Stunde länger gelebt hätte". Der BGH hat keinen Zweifel daran gelassen, daß der Angeklagte nicht etwa nur eine Beihilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid geleistet, sondern eine Fremdtötung begangen habe. Zum Zeitpunkt der Injektion habe der Onkel „in tiefer Bewußtlosigkeit" gelegen und deshalb jede Möglichkeit der Beeinflussung des Ge-
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BGH bei Dallinger, MDR 1966, 382. BGHR § 216 Abs. 1 StGB, Tötungsverlangen 1 = MDR 1987, 334 = NJW 1987, 1092 = JR 1988, 336 m. Anm. Kühl = NStZ 1987, 365; dazu Herzberg, NStZ 1989, 559 ff.; ders., JuS 1988, 771 ff; Hohmann/König, NStZ 1989, 304 ff.; Roxin, NStZ 1987, 348 ff.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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schehens verloren. Damit habe die Tatherrschaft allein beim Angeklagten gelegen, von dessen Entscheidungen der weitere Verlauf abgehangen habe"8. Auf den Tatherrschaftsgedanken beruft sich die Rechtsprechung auch in Fallkonstellationen, in denen der Sterbewillige den Außenstehenden über den Tötungssinn seines Handelns getäuscht hatte. Über solche Fälle hatten der BGH119 und das OLG Nürnberg120 erstmals in jilngster Zeit zu entscheiden. Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte übernahm als Zivildienstleistender ohne besondere Vorbereitung die Tagesbetreuung des 28 Jahre alten S. Dieser litt an stark ausgeprägter Muskeldystrophie und vermochte neben einzelnen Fingern - diese aber ohne Kraft - nur noch Mund und Zunge zu bewegen. Seine Arme und Beine waren in Beugestellung fixiert. Deformationen des Brustkorbs und der Wirbelsäule und eine starke Reduzierung der Atemmuskulatur ließen nur noch eine Atmungskapazität von 10% eines Gesunden zu. S verftigte ilber einen herausragenden Intellekt. Er konnte seine Vorstellungen genau artikulieren und dank seiner guten Menschenkenntnis einschätzen, an welche der Pflegekräfte er sich zu wenden hatte, um auch ausgefallene Wünsche erfüllt zu bekommen. Schon länger gehegte Selbsttötungsabsichten wollte er mit Hilfe des Angeklagten verwirklichen. Zunächst hatte er diesen gebeten, ihm statt einer Hose eine Plastiktüte über den Unterleib bis zur Hüfte zu ziehen. Nachdem er dem Angeklagten erläutert hatte, gern Plastik auf der Haut zu spüren, kam der Angeklagte diesem Verlangen nach. Bei späterer Gelegenheit äußerte S den Wunsch, ihn in Müllsäcke verpackt in einen Miillcontainer zu legen. Auf Nachfragen des Angeklagten versicherte er, dies schon öfter gemacht zu haben und daß seine Bergung aus dem Container am Nachmittag sicher sei. Der Angeklagte erftillte in dem Bestreben, dem ihm anvertrauten Schwerstbehinderten so gut wie möglich zu helfen, alle bestimmt vorgebrachten Anweisungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Er packte S nackt in zwei Müllsäcke, schnitt eine Öffnung fur den Kopf in den oberen Milllsack und verklebte beide Säcke. Bis auf eine kleine Öffhung verschloß er ferner - auf besonderen Wunsch des S - dessen Mund mit Klebeband und legte ihn bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt in einen teilweise geftillten Container. S verstarb durch Ersticken, möglicherweise in Kombination mit Unterkilhlung. Der Entscheidung des OLG Nilrnberg lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagte war von ihrem Ehemann bei einer Aussprache iiber die von ihr beabsichtigte Scheidung gefragt worden, ob sie sich vorstellen könne, ihn zu erschießen. Dann forderte er sie auf, eine unter einem Kissen verborgene Pistole zu nehmen und auf ihn zu schießen. Mit Hilfe ihres 118 119 120
BGHR § 216 Abs. 1 StGB, Tötungsverlangen 1, S. 1; dagegen Roxin, NStZ 1987, 347. BGH, NJW 2003, 2326. OLG Niirnberg, NJW 2003, 454. Es bedarf hier keiner weiteren Berücksichtigung, daß es sich um ein Verfahren auf eine sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens gehandelt hat.
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Ehemanns ilberzeugte sich die Angeklagte davon, daß keine Patrone im Magazin war; emeut forderte ihr Ehemann sie auf, auf seine Stirn oder Schläfe zu schießen. Als sie dem nachkam, löste sich ein tödlicher Schuß, da sich - wie allein der Ehemann wußte - noch eine Patrone im Lauf der Waffe befunden hatte. Beide Gerichte sehen die Herrschaft bei den jeweiligen Angeklagten, die das Tötungsgeschehen gesteuert härten. Dem Bedenken, die Angeklagten hätten täuschungsbedingt die Herrschaft nicht innegehabt, begegnen die Gerichte dabei allerdings in unterschiedlicher Weise. Das OLG Niirnberg meint: „Der Gesichtspunkt, daß die den Schuß auslösende Ehefrau über die Patrone im Lauf in Unkenntnis war, verstärkt zwar das Gewicht der Rolle des Ehemanns im hohen Maß gegenüber einem vorsätzlichen Handeln der Ehefrau. Eine bewußte Beherrschung des Tötungsgeschehens fehlt. Aber es bleibt dabei, daß ihr Ehemann die irreversible Handlung ihr überließ, da saß und darauf wartete, daß sie auch wirklich seinem Wunsch entsprechend abdrtlckte."121 Entscheidend ist danach die äußere Steuerung, ohne Riicksicht darauf, daß die Angeklagte aufgrund fehlender positiver Kenntnis vom Tötungssinn ihres Verhaltens eine im Verhältnis zum Opfer defizitäre Entscheidung getroffen hatte. Der BGH sieht das anders und will einen Suizid (und eine straflose Teilnahmehandlung des Außenstehenden) dann annehmen, wenn der Außenstehende lediglich als Werkzeug des Suizidenten handelt. Dies „ware angesichts der eigenhändigen Ausfuhrung der Gefährdungshandlung durch den Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmiide den Angeklagten ilber das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte"122. Einen solchen Irrtum verneint der BGH dann aber mit der Begrilndung, dem Angeklagten seien die konkreten Umstände klar gewesen, aus denen sich die von ihm verursachte extreme Gefährdung ergeben habe. Diese Ablehnung der Werkzeugqualität des Angeklagten durch den BGH ist freilich mit den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft nicht zu vereinbaren. Zutreffend schreibt Otto: „Zwar irrte der Angeklagte in der Tat nicht iiber die konkreten Tatumstände, aber er wurde über die tödlichen Folgen seines Tuns getäuscht. Maßgeblich ist hier die reale Täuschung, nicht aber die Erwägung, ob der Angeklagte die Täuschung hätte erkennen können. Aufgrund der Täuschung ilber die wirkliche Gefahr seiner Handlung erkannte A den sozialen Sinngehalt seines Verhaltens nicht."123 In der Literatur wird daraus verschiedentlich die folgende Konsequenz gezogen: Da die Tatherrschaft beim Opfer liege, somit eine eigenverantwortliche Selbsttötung vorliege, sei eine Fremdtötung durch den Außenstehenden ausgeschlossen; dieser leiste vielmehr lediglich straflose fahrlässige Beihilfe zum Suizid124. Halt man die Tatherrschaftslehre fur das maßgebliche Abgren121 122 123 124
OLG Nürnberg, NJW 2003, 454, 455. BGH, NJW 2003, 2326, 2327. Otto, JK 3/04, StGB§ 216/7. Engländer, JZ 2003, 748; Otto, JK 3/04, StGB § 216/7. Dagegen Herzberg, NStZ 2004, 2 ff.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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zungskriterium zwischen Selbstschädigung und Fremdschädigung bzw. -gefährdung125, so ist diese Sichtweise zutreffend; es liegt danach ein Fall der eigenverantwortlichen Selbstschädigung vor. Diese Auffassung wird dem theoretischen Ansatz nach auch vom BGH geteilt, der fur den konkreten Fall lediglich wegen der — angreifbaren, s.o. - Ablehnung der Werkzeugqualität zu einem anderen Ergebnis kommt. An diesen Fallkonstellationen wird die Schwäche des Gedankens, daß die Tatherrschaft des Opfers fremde Verantwortlichkeit ausschließt, besonders deutlich: Die einer mittelbaren Täterschaft entsprechende Herrschaft des Opfers iiber den Außenstehenden vermag diesen nicht von den Sorgfaltspflichten zu befreien, die im Umgang mit fremdem Leben bestehen. Die Möglichkeit einer Erfullung des Tatbestandes des § 222 StGB bleibt damit offen.126 Unter Bezugnahme auf den „Gisela-Fall" hat das OLG München auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen einen Nichteröffhungsbeschluß schließlich auch den „Hackethal-Falf' entschieden, in dem der Angeschuldigte einer schwer krebskranken Patientin ein Gift zur Verfugung gestellt hatte, das sie selbst - in Abwesenheit des Angeschuldigten - einnahm und daran verstarb127. Da das Gift dem Opfer nicht eingeflößt worden sei, es vielmehr den Giftbecher „ohne Hilfe Dritter selbst zum Mund gefuhrt und das Gift getrunken" und so „den lebensvernichtenden Akt eigenhändig ausgeführt" habe, habe kein Außenstehender, sondern sie selbst das zum Tode fuhrende Geschehen beherrscht. Hier liege also nur straflose Beihilfe zur Selbsttötung vor - auch dieser Fall gehört danach in die oben (1.) erörterte Gruppe der Beteiligung an einer Selbstschädigung128. 125
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Ob man vorliegend von Fremdschädigung- oder -gefährdung sprechen möchte, hängt davon ab, ob man (objektiv) den Grad der Gefahr fur maßgeblich halt oder ob man (subjektiv) auf die Einstellung der Beteiligten abstellt, wobei sich dann weiter die Frage stellt, auf wessen Einstellung es ankommt. Siehe zur Abgrenzung (und deren Bedeutung) noch 4. Teil II. 3. a). Zutreffend Herzberg, NStZ 2004, 3 ff. NStE Nr. 4 zu § 216 StGB = JZ 1988, 201; dazu Herzberg, JZ 1988, 182; Solbach, JA 1987, 579; zur Anklage der Staatsanwaltschaft siehe Herzberg, NJW 1986, 1635. Auf der gleichen Linie liegt der Sachverhalt von BGHSt 46, 279, 284, wo der Beitrag des Außenstehenden, der dem Opfer das tödliche Mittel zur eigenen Einnahme gereicht hatte, als Teilnehmer eines Suizids angesehen wurde. Entsprechend ist in BGHSt 46, 279, 284 entschieden (insoweit zustimmend Duttge, NStZ 2001, 546). Die Richtigkeit der Wertung des OLG Miinchen hat allerdings Kutzer, NStZ 1994, 112 (erwogen auch bei Tröndle, ZStW 99 [1987], 45 f.) mit der Überlegung angezweifelt, der Angeschuldigte habe neben der Patientin ebenfalls die Tatherrschaft innegehabt, denn die Durchfiihrung des Suizids habe „wesentlich auch in seinen Händen" gelegen. „Der Suizid wurde unter seiner fortbestehenden organisatorischen Leitung in seinem Krankenhaus ausgefuhrt und ware sofort abgebrochen worden, wenn er sein Einverständnis zurückgenommen hätte. Er hatte Zeit, Ort und das Totungsmittel bestimmt, indem er das Gift beschafft, das Krankenzimmer fur die Vor-
344 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwottlichen Opferverhaltens
bb) Das Tatherrschaftskriterium der Literatur- Die Behandlung der Fälle der „ Quasi-Mittäterschaft" In der Literatur ist die Grundlagenentscheidung im „Gisela-Fall" einerseits vielfach mit Beifall aufgenommen worden, was die prinzipielle Anerkennung des Tatherrschaftskriteriums (zumindest in Bezug auf § 216 StGB) anbelangt129. Andererseits ist die Art der Verwendung des Tatherrschaftskriteriums durch den BGH gerade in seiner Beziehung auf den Tatbestand des § 216 StGB auf Kritik gestoßen130. Bezogen auf den „Gisela-Fall" wird insbesondere geriigt, der BGH habe den gemeinsam getragenen Zusammenhang klinstlich aufgespalten. Nach den Maßstäben der Tatherrschaftslehre liege vielmehr ein Fall der Mittäterschaft, bzw. - da § 25 Abs. 2 StGB nicht unmittelbar anwendbar sei - der Quasi-Mittäterschaft vor, derm die Beteiligten „haben im Ausfuhrungsstadium zur Erreichung ihres Zieles arbeitsteilig zusammengewirkt"131. Freilich stellt sich damit die Frage nach den normativen Konsequenzen, die aus einer solchen „Quasi-Mittäterschaft" zu ziehen sind. Die akzessorietätsabhängige
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nahme des Suizids und das Personal fur dessen Überwachung zur Verfugung gestellt und mit der Patientin noch unmittelbar vor der Gifteinnahme ein darauf bezogenes ärztliches Gespräch gefuhrt hatte". Abgesehen einmal davon, daß man sich bei manchen dieser Umstände fragt, was sie mit der Beherrschung des Geschehens uberhaupt zu tun haben (z.B. die vorangegangene Gesprächsführung) und bei anderen, ob sie nicht erst durch eine willkiirliche Verzerrung des Sachverhalts konstruiert werden (wenn z.B. behauptet wird, der Angeschuldigte habe das Tötungsmittel bestimmt, obwohl Kutzer, a.a.O., S. I l l selbst zum Sachverhalt ausfuhrt, der Angeschuldigte habe sich „das von der Patientin ausgewählte Gift" beschafft), wird so die Tatherrschaft durch ein Sammelsurium äußerer Umstände begründet, bei denen die Selbstbestimmungsfreiheit der Patientin und der Umstand, daß die gesamte organisatorische Leistung allein deren Verwirklichung dienen sollte, ausgeblendet bleiben. Hier zeigt sich erneut die Schwäche einer instrumental verstandenen Tatherrschaftslehre, die fur die maßgeblichen normativen Gesichtspunkte keinen Begriff hat. (Daß dennoch erhebliche normative Implikationen mit der Ansammlung äußerer Umstände verbunden werden, zeigen die Überlegungen Kutzers, a.a.O., bei dem die Fehlinterpretation der Tatherrschaftslehre den Einstieg in die - ebenfalls nicht haltbare - Haftungsbegriindung des Arztes darstellt. Denn die Tatherrschaft des Arztes ist fur ihn die Basis fur die Annahme einer vom Schutzzweck des § 216 StGB erfaßten Fremdtötungstäterschaft, wenn der Täter zudem eine Garantenstellung für das Leben des Opfers innehat, wie dies im Verhältnis des Arztes zum Patienten der Fall sei. Von dieser Stellung konne der Patient den Arzt nicht entbinden - was wiederum mit dem Fremdtötungsverbot und damit zirkelschlüssig begründet wird.) Für bloße Beihilfe zum Suizid in solchen Fallen dagegen die ganz h.M., etwa Günter Hirsch, ZRP 1986, 241 f.; H. J. Hirsch, in: FS fur Lackner, S. 607 f; Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 110. Siehe Dreher, MDR 1964, 337; Eser, Strafrecht III, Fall 3 Rn. 32; Günter Hirsch, ZRP 1986, 241; Krey, JuS 1971, 142 f.; Roxin, Täterschaft, S. 567; Scholderer, JuS 1989, 919. Otto, in: FS fur Tröndle, S. 161; Roxin, Täterschaft, S. 567 f. Roxin, Täterschaft, S. 567 f.; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 56.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Antwort des Teilnahmearguments kann offenbar nicht gegeben werden132; die vertretenen Auffassungen divergieren erheblich. Die Antwort, die eine (entsprechende) Anwendung der Regeln der Mittäterschaft nahelegen würde, ware die Annahme einer Täterschaft des Außenstehenden. Denn die normative Leistung, die an die Mittäterschaft anknüpft, ist die wechselseitige Zurechnung von Tatbeiträgen. Eine darauf gegründete Täterschaft des Außenstehenden ware allerdings nur sachgerecht, wenn man es akzeptieren wollte, dem Außenstehenden das Verhalten des Opfers wie eigenes zuzurechnen, so daß er zu behandeln ware, als hätte er auch den Beitrag des Opfers in eigener Person verwirklicht. Diese Auffassung hat vorilbergehend133 - Herzberg vertreten: „Suizident und Beteiligter sind dann beide Täter, wenn beide an der Tatausfllhrung, die in der zerstörerischen Einwirkung auf den Körper des Opfers besteht, durch wesentliche Beiträge gestaltend mitgewirkt haben"134. Die Zurechnung bezöge sich danach auf ein äußeres Verhalten, ohne Rücksicht darauf, ob der Beteiligte, dessen Verhalten zugerechnet wird, seinerseits deliktisch handelt135. Mehr noch: nicht nur die deliktische Qualität der zuzurechnenden Handlung ware ohne Relevanz, sondern es käme schon nicht auf deren Qualität als Fremdtötungshandlung an (obwohl es nach Herzbergs Auffassung bei § 216 StGB urn Fremdtötungsunrecht geht136). Das Verhalten des Opfers ist nämlich nicht nur strafrechtlich sanktionslos, sondern es hat eine andere „Angriffsrichtung" als das Verhalten des Täters, dem es zugerechnet wird. Darin liegt auch der sachliche Grund fur die Fehlerhaftigkeit dieser Ansicht137. Das Prinzip wechselseitiger Zurechnung bei der Mittäterschaft zum Unrecht (!) erfährt seine Legitimation aus dessen gemeinschaftlicher Verwirklichung. Dahinter steht der Gedanke, daß die arbeitsteilige Deliktsverwirklichung den je eigenen Unrechtsanteil nicht etwa durch das Abschieben von Verantwortung schmälert, sondern im Gegenteil auf der Grundlage des gemeinsamen Tatentschlusses das Unrechthandeln des je anderen zum Bestandteil der eigenen Verletzung des Rechtsverhältnisses wird. Basis wechselseitiger Zurechnung ist deshalb immer das gemeinschaftlich bewirkte Unrecht; nicht wird ein Verhalten durch Zurechnung zu einer Person zum Unrecht. Freilich gibt es auch ein Alltagsverständnis von Mittäterschaft, also ein soziales Phänomen des Inhalts, das gemeinsames, arbeitsteiliges Bewirken einer Wirklichkeitsveränderung als Gesamtleistung der daran Beteiligten angesehen wird138. Doch stets bedarf es eines bestimmten Blickwinkels, unter dem die Leistung als
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Herzberg, Täterschaft, S. 77. Aufgegeben Herzberg, JuS 1988, 775; siehe auch ders., NStZ 1989, 560. Herzberg, JA 1985, 137; ders., Täterschaft, S. 74 ff.; ders., JuS 1975, 38. Herzberg, Täterschaft, S. 74. Herzberg, JuS 1988, 775. Herzberg, JuS 1988, 775 greift zu kurz, wenn er die Fehlerhaftigkeit seiner friiheren Auffassung mit der Notwendigkeit restriktiver Handhabung strafbarkeitsausdehnender Vorschriften des Allgemeinen Teils begründet. Einen deutlichen Fortschritt stellen dagegen Herzbergs Überlegungen in NStZ 2004, 3 ff. dar. Vgl. Gallas, Strafbares Unterlassen, S. 189 Fn. 72; Neumann, JA 1987, 247.
346 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens gemeinschaftliche begriffen wird; auch im sozialen Sinn ist Mittäterschaft ein normatives Urteil, das eines vorab zu bestimmenden Bezugsrahmens bedarf. Beispielhaft: Bei einem Orchester sind Dirigent und Musiker unter dem Aspekt der musikalischen Leistung als Mittäter anzusehen - unter dem Aspekt der Erzeugung von Lärm ist der Dirigent wohl eher Gehilfe. Ein soziales, noch nicht spezifisch rechtliches Verständnis liegt auch dem Bild der Mittäterschaft in den Fallen zugrunde, in denen der Außenstehende gemeinsam mit dem Opfer dessen Tod herbeifuhrt. Denn bezogen auf den Todeserfolg läßt sich aufgrund der Arbeitsteiligkeit der Beteiligten auf der Grundlage eines gemeinsamen Entschlusses gut sagen, sie seien Mittäter an dessen Herbeiftlhrung. Doch ist die Mittäterschaft an der Todesverursachung noch nicht mittäterschaftlich verwirklichtes tatbestandliches Tötungsunrecht. Denn das in § 216 StGB gemeinte Unrecht ist das Unrecht einer Fremdtötung oder jedenfalls ein an die Fremdtötung anknüpfendes Unrecht (wie etwa die Verletzung des Fremdtötungstabus)139. Auf die Fremdtötung bezieht sich aber die Gemeinschaftlichkeit des Vorgehens von Außenstehendem und Opfer offenbar nicht. Unter diesem Blickwinkel wird noch einmal deutlich, daß eine Zurechnung des Opferhandelns zu Lasten des Außenstehenden nicht in Betracht kommt: das Verhalten des Opfers hat immer Selbsttötungssinn und kann deshalb nicht dazu herangezogen werden, eine Fremdtötung des Außenstehenden zu komplettieren140. Damit ist jedenfalls klar, daß das Bild einer (Quasi-) Mittäterschaft von Außenstehendem und Opfer in seiner Bezogenheit auf die Todesherbeifiihrung keine Begründung für eine Täterschaft des Außenstehenden liefert. Dreher hat aus dem Befund, Opfer und Außenstehender seien Quasi-Mittäter, die genau gegenteilige Schlußfolgerung gezogen und die Anwendbarkeit des § 216 StGB auf den Außenstehenden in diesen Fallen stets fur ausgeschlossen gehalten141. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß das Opfer in den Fallen des § 216 StGB durch die jederzeitige Möglichkeit, den Totungsvorgang durch die Rücknahme seines Verlangens gegentiber dem sich unterordnenden Außenstehenden abzubrechen, zumindest psychische Tatherrschaft inne habe. Daraus folge, daß die Tatherrschaft des Opfers nicht prinzipiell die Täterschaft des Außenstehenden ausschließen können, weil sonst § 216 StGB leer laufe. Die Struktur des § 216 StGB sei vielmehr die, daß das „Opfer Anstifter durch ausdrückliches und ernstliches Verlangen, der Tötende angestifteter Täter" sei. Aus dieser Rollenverteilung von Opfer und Außenstehendem will Dreher die Grenze des Anwendungsbereichs von § 216 StGB ziehen: „Sind beide Quasi-Mittäter, so entfällt § 216, und zwar nicht deshalb, weil der To139
140 141
Auf den die Strafbarkeit nach § 216 StGB legitimierenden Hintergrund kommt es an dieser Stelle nicht an. Die Kritik muß an dieser Stelle die kritisierte Auffassung nicht transzendieren, denn jedenfalls verlangt § 216 StGB auch nach dieser Auffassung eine Fremdtötung. In diesem Sinne auch BGHSt 19, 135, 138; Bottke, Suizid, S. 238 f; Ralf Hohmann/ König, NStZ 1989, 307; Roxin, NStZ 1987, 347. Dreher, MDR 1964, 338 auch zum Folgenden.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfligender Opferentscheidungen
347
tende nicht mehr Täter ist, sondern weil das Opfer aufgehört hat, bloßer Anstifter zu sein. Daftir aber kommt es darauf an, ob das Opfer ilber die oben angefllhrten Merkmale hinaus, die es noch als bloßen Anstifter erscheinen lassen, aktiv wird. Es darf den Tod nicht mehr bloß passiv hinnehmen, sondern muß an der Tötungshandlung fb'rdernd mitwirken". Der Gedanke ware richtig, wenn die Annahme von Quasi-Mittäterschaft fur den Außenstehenden immer bedeuten würde, daß erst die Zurechnung von Beiträgen des Opfers die Tatbestandsverwirklichung begriindet. Denn insoweit ist gezeigt worden, daß die Erfullung von § 216 StGB auf eine solche Zurechnung nicht gegrilndet werden kann. Doch die Fallkonstellationen der Quasi-Mittäterschaft reichen weiter. Dabei ist es noch durchaus richtig gesehen, daß die in § 216 StGB vorausgesetzte Fremdtötungstäterschaft nicht durch das Verlangen ausgeschlossen werden kann, das Tötungsverlangen also eine den Anwendungsbereich von § 216 StGB ausschließende Quasi-Mittäterschaft nicht begründen kann. Doch Drehers Konzeption erfaßt auch noch solche Fälle der Quasi-Mittäterschaft, in denen die Vornahme einer Fremdtötung durch den Außenstehenden nicht von der Zurechnung von Beiträgen des Opfers abhängig ware. Es geht urn solche Konstellationen, in denen das Opfer zwar die Todesherbeifuhrung ilber das bloße Verlangen hinaus aktiv fbrdert und insofern aus der Rolle des Anstifters hinaustritt, aber der zusätzliche Akt fur sich genommen doch untergeordnet bleibt, so daß es fur die Tatbestandsverwirklichung nicht auf ihn ankommt. Roxin hat sich gegen Dreher auf die unmittelbare Plausibilität des Beispiels berufen, wonach der Lebensmiide, der seinem Freund die geladene Pistole mit der Bitte in die Hand gibt, ihn zu erschießen, zwar nicht mehr bloß Anstifter sei, aber der Freund fur den Fall, das er der Bitte Folge leistet, gleichwohl nach § 216 StGB strafbar sei142. In der Tat läßt sich eine täterschaftliche Tötung durch den Außenstehenden in diesem Beispiel ganz unabhängig von den Regeln der Mittäterschaft begründen143. Damit ist deutlich geworden, daß das Etikett einer (Quasi-) Mittäterschaft zur Lösung der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Suizidbeteiligung und Fremdtötungstäterschaft nichts beitragen kann144. Die Unergiebigkeit dieses Kriteriums 142 143 144
Roxin, Täterschaft, S. 568; ebenso Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 38 f.; siehe zur Kritik an Dreher auch Otto, in: FS für Tröndle, S. 160. Herzberg, JuS 1988, 775. Schild, Sportstrafrecht, S. 83 f. Das gilt auch fur die Ausführungen von Otto, in: FS fur Tröndle, S. 165, der für die Fälle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmords in Anlehnung an den „Gisela-Fall" auf die „Zufallsergebnisse" hinweist, die sich je nach Sachverhaltsgestaltung ergeben müßten, wenn etwa der Angeklagte statt seines Fußes einen Ziegelstein auf das Gaspedal gelegt (und damit nicht mehr die Herrschaft iiber den todbringenden Moment inne gehabt) hätte. Aber der Umstand, daß phänomenologisch geringfugige Unterschiede im inszenierten Geschehen über die Abgrenzung von Fremd- und Selbsttötung entscheiden, rechtfertigt es nicht, der todbringenden Handlung deshalb, weil sie vom gemeinsamen Plan gedeckt ist, die Fremdtötungseigenschaft abzusprechen. Es bleibt eben immer noch eine bewilligte Tötung und es ist nicht ersichtlich, was sich daran ändern soil, weil auch der Überlebende mit Suizidabsicht gehandelt hat. Offensichtlich ist es auch hier die drohende Strafbarkeit aus § 216 StGB, die die dogmatische Konstruktion vorschreibt.
348 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
folgt - wie bereits bemerkt - aus seiner Bezogenheit auf den Tötungsvorgang insgesamt, an dem das Opfer durch seine Entscheidung zumindest gleichberechtigt beteiligt ist145. Fragt man hingegen nach der von § 216 StGB geforderten Fremdtötung durch den Außenstehenden, so können alle Bemühungen des Opfers, den Außenstehenden zur Tötung zu bewegen und sie ihm sodann so einfach als möglich zu machen, an einer Fremdtötung nichts ändern, solange der Außenstehende die Tötung als Fremdtötung beherrscht, derm dies - die Tötung eines anderen - ist der Bezugspunkt der Tatherrschaft, auf den es fur § 216 StGB ankommt. Die Einsicht in den tatbestandlichen Bezugspunkt der täterschaftlichen Verwirklichung von § 216 StGB ist die Basis der vor allem von Roxin ausgearbeiteten Auffassung der h.M, derzufolge die „Herrschaft über den todbringenden Moment" das entscheidende Kriterium fur die Abgrenzung von Suizid und Fremdtötung sein soil146: „Selbstmord begeht, wer im kritischen Augenblick, jenseits dessen ein Zurück nicht mehr möglich ist, die Entscheidung über sein Leben in eigener Hand halt; wer die Grenzlinie, die beim Eintritt der Handlungsunfähigkeit liegt, selbst überschreitet. Um einen Fall des § 216 StGB handelt es sich dagegen, wenn das Opfer einem anderen den Vollzug des letzten, irreversiblen Geschehensaktes anvertraut, wenn er sich über die zum Tode fuhrende Schwelle von fremder Hand hinüberstoßen läßt"147. Die Abgrenzung von Suizid und Fremdtötung nach dem Kriterium der „Herrschaft tlber den todbringenden Moment" ist freilich an (mindestens) zwei Stellen der Interpretation fähig. Das gilt zum einen fur den „todbringenden Moment", dessen Bestimmung insbesondere bei mehraktigen Vorgängen oder bei fortbestehender Abwendungsmöglichkeit des Todeserfolges fur unterschiedliche normative Bestimmungen offen ist. Es gilt weiter fur das Kriterium der „Herrschaft", das mit Blick auf das Tötungsverlangen und die Duldung seiner Befolgung, aber auch mit Blick auf mögliche weitere Mitwirkungsakte des Opfers einer Interpretation fahig und bedtirftig ist. In der Literate sind unterschiedliche normative Anpassungen eines speziell auf den Tatbestand des § 216 StGB zugeschnittenen Tatherrschaftsbegriffs vorgeschlagen worden, die teils an der „Herrschaft", teils am „todbringenden Moment" ansetzen.
Vgl. Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 39; Christmann, Jura 2002, 679. Roxin, Täterschaft, S. 570; ders., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. I l l f.; ebenso Bottke, Suizid, S. 239; Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 39, 272 ff.; Dölling, GA 1984, 76; Eser, Strafrecht III, Fall 3 Rn. 33; Geilen, Jura 1979, 203; Kargl, JZ 2002, 393; Laber, Der Schutz des Lebens, S. 261 ff.; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 47, § 216 Rn. 5; Otto, in: FS für Tröndle, S. 162 f.; Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 24 (eigenhändige Selbsttötung liege vor, „wenn der Lebensmiide die letzte Entscheidung darilber trifft, ob die Tat stattfinden soil" - allerdings fuhrt bei Jakobs [a.a.O., S. 29 f., 33] das Gegebensein des nach seiner Auffassung maßgeblichen normativen Kriteriums der zweifelsfreien Vollzugsreife des Sterbewunsches einen Ausschluß der Fremdtötung herbei [„arbeitsteilige Selbsttötung"]). Roxin, Täterschaft, S. 568 f.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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An der „Herrschaft" setzt die Lehre Horns an, der prinzipiell ebenfalls die Herrschaft iiber den unmittelbar lebensbeendenden Akt fllr das maßgebliche Abgrenzungskriterium halt, aber gleichwohl meint, „eine Mitwirkung beim Setzen der letzten Ursache, die hinter den physischen Möglichkeiten des Lebensmtlden nicht zurtickbleibt, macht die Tat zum Selbstmord"148. Diese Mitwirkung könne schon „das Entblößen der Brust fur den Schuß, das Hinstrecken des Armes fur die tödliche Injektion, das Trinken des an die Lippen gesetzten Giftes sein". Man sieht deutlich, daß die Ergebnisse mitunter denen entsprechen, die Roxin in seiner Kritik an Dreher fur inakzeptabel gehalten hat. Aber Horn faßt den Anwendungsbereich des § 216 StGB deutlich weiter, weil er ihn nicht wie Dreher auf die Fälle begrenzt sieht, in denen sich die Mitwirkung des Opfers auf die bloße Anstiftung beschränkt, sondern auf solche Fälle ausweitet, in denen das Opfer die Tat zwar uber die Anstiftung hinaus fordert, diese Förderung der vom Außenstehenden gesetzten „letzten entscheidenden Ursache" aber hinter den physischen Möglichkeiten des Lebensmiiden zurtickbleibt. Dahinter steht der Gedanke, daß ein solches Zuriickbleiben hinter den physischen Möglichkeiten zeige, daß der Suizident die eigene Vornahme der Tötungshandlung „offenbar psychisch nicht verkraftet". Die Vorschrift dient bei einer solchen Sichtweise dazu, den von der natiirlichen Selbsttötungshemmung ausgehenden Schutz des Lebens zu sichern149 und findet ihre Grenze deshalb dort, wo sich der Entschluß in der Handlung manifestiert, die das individuell mögliche Maximum an innerer Entschlossenheit demonstriert. Es ist offenkundig, daß sich diese Überlegungen von einem herkömmlichen Verständnis von Tatherrschaft ebenso weit entfernen wie vom herkömmlichen Begriff einer (Fremd-) Tötung. An beidem ließe sich kaum zweifeln, wenn etwa jemand einen anderen erschießt, der mit letzter Kraft seine Brust entblößt. Das (behauptete) telos von § 216 StGB und damit die Frage nach dem Strafunrecht bestimmt hier die Abgrenzung der Selbst- von der Fremdtötung. Das ist gerade bei Horn nicht recht verständlich, denn dieser ist der Auffassung, § 216 StGB unterscheide sich im objektiven Tatbestand nicht von § 212 StGB; der Unterschied zwischen diesen Tatbeständen liege „lediglich in der besonderen Art und Weise des Zustandekommens des Tötungsvorsatzes"150. Wenn das richtig ist, dann kann es aber fur die im objektiven Tatbestand angesiedelte Frage nach der Vornahme einer Fremdtötungshandlung nicht auf die Modifizierung ankommen, die sich aus dem individuell möglichen Maximum an Mitwirkung des Opfers ergibt. Schließlich ist zu bezweifeln, ob der von Horn gezogene Schluß von dem Maß der Mitwirkung auf die psychische Situation so zwingend ist, wie von Horn dargestellt. Das gilt in beide möglichen Richrungen. Weder ist eine unnötig weitreichende Delegation der Tötungshandlung „offenbar" Ausdruck der Unfähigkeit, deren Selbstvornahme psychisch zu verkraften, noch ist umgekehrt die Vornahme der physisch größtmöglichen Mitwirkung notwendig Ausdruck einer psychischen Entschlossenheit, die - bei Gegebensein der physischen Möglichkeit - auch die Selbstvornahme der den Tod herbeifuhrenden Handlung garantiert hätte. Weder ist also das normative 148 149 150
Horn, in: SK StGB, § 216 Rn. 10 auch zum Folgenden. In diesem Sinne auch Arzt/Wdoer, Strafrecht BT, § 3 Rn. 40. Horn, in: SK StGB, § 216 Rn. 3 (im Original teilweise hervorgehoben).
350 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Kriterium iiberzeugend, noch ist es iiberhaupt angemessen, die Frage der Fremdtötung danach zu entscheiden, ob man den Strafzweck von § 216 StGB fur erfullt halt (dazu noch näher unten). Am „todbringenden Moment" setzen die Interpretationsbemilhungen an, mit denen Roxin eine dem Strafgrund von § 216 StGB kompatible Interpretation der fremdtötenden Handlung erstrebt. Diesen todbringenden Moment sieht Roxin nach seiner oben zitierten Formel im „Eintritt der Handlungsunfähigkeit"151. Für den „Gisela-Fall" ist fur ihn folglich der Eintritt der Bewußtlosigkeit entscheidend; er schreibt: „Indem sie (Gisela, d. Verf.), solange noch Gelegenheit zur Rettung war, das Gas weiter einatmete und diesen Entschluß bis zuletzt durchhielt, ist sie den Weg durch die Todespforte selbst gegangen"'52. Aber das ist nicht richtig, derm der vom BGH beurteilte Sachverhalt läßt zumindest die Möglichkeit offen, daß Gisela friiher als der Angeklagte bewußtlos wurde153 und dessen Durchtreten des Gaspedals erst im weiteren Verlauf zu einem Vergiftungsgrad gefuhrt hat, der schließlich eine Rettung unmöglich machte. Die „Todespforte" ist nicht der Eintritt der Bewußtlosigkeit, sondern der Moment, in dem die Todesursache irreversibel gesetzt ist. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: 1st der gemeinsame Plan der, daß das Opfer sich zunächst durch die Einnahme von Schlaftabletten in Bewußtlosigkeit versetzen will und der Außenstehende sodann zuerst das Opfer und dann sich selbst erschießen soil (oder auch: Gas in den Raum einleiten soil, in dem er und das Opfer sich befinden), dann ist todbringend noch nicht der Eintritt der Bewußtlosigkeit, sondern erst das absprachegemäß weitere Verhalten des Außenstehenden. Richtig ist nur, daß mit dem Eintritt der Bewußtlosigkeit das Opfer nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu retten und in diesem Sinn ist es zutreffend, von einer „unwiderruflichen" Entscheidung zu sprechen154. Aber nur weil das Opfer selbst den Tod nicht mehr abwenden kann, hat es sich nicht schon selbst getötet. Eine solche Sichtweise ware nur zutreffend, wenn das weitere Geschehen von naturhaft wirkenden Kräften vorangetrieben in den Eintritt des Todes münden würde. Hängt es aber von personalem Handeln ab, dann bleibt die Erfolgsherbeiftihrung von einer Entscheidung des Außenstehenden abhängig. Daß das Opfer mit der von diesem getroffenen Entscheidung bis zum letzten Moment eigener Entscheidungsfähigkeit einverstanden war, ändert daran nichts und muß nach der Tatbestandsfassung von § 216 StGB, der der Zustimmung des Opfers gerade keine tatbestandsausschließende Wirkung zukommen läßt, außer Betracht bleiben. Roxin versucht die Vorverlagerung des todbringenden Moments auf den Eintritt der Bewußtlosigkeit mit einer teleologischen Erwägung plausibel zu machen. Danach liege der Grund fur die Strafbarkeit der bewilligten Fremdtötung in Abgren151 152 153 154
Roxin, Täterschaft, S. 568 f. Roxin, Täterschaft, S. 569; ebenso Bottke, Suizid, S. 239 Fn. 1186a. BGHSt 19, 135, 140. Roxin, Täterschaft, S. 569.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen
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zung zur Straflosigkeit der Beihilfe an einer Selbsttötung darin, „daß dem Gesetzgeber die Autonomie des suizidalen Aktes gegen mögliche Fremdbestimmung nur gesichert erscheint, wenn der Sterbewillige den Selbstmord höchstpersönlich begeht, d.h. die 'Herrschaft über den todbringenden Moment' in der Hand behält"155. In der Tat hat Gisela dadurch, daß sie bis zum Eintritt der Bewußtlosigkeit den Wagen nicht verlassen hat, „Durchhaltevermögen" gezeigt und im Rahmen dessen, was nach dem gemeinsamen Plan möglich war, die Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses demonstriert. Und doch hat sie sich, wenn man einmal die im Urteil offen gehaltene Möglichkeit unterstellt, daß sie vor dem Angeklagten ihr Bewußtsein verloren hat, in dessen Hand begeben und ihr Schicksal davon abhängig gemacht, daß der Angeklagte auch weiterhin das Gaspedal durchtrat156. Auch das läßt sich am oben genannten Beispiel verdeutlichen: Die Einnahme eines Schlafinittels mit der Abrede, der Außenstehende solle das Opfer nach Eintritt der Bewußtlosigkeit erschießen oder Gas in den Raum einleiten, demonstriert zwar eine gewisse Ernsthaftigkeit des Entschlusses, wenn das Opfer bis zum Eintritt seiner Bewußtlosigkeit sein Einverständnis aufrecht erhält. Aber die Beteiligten bleiben sich doch auch darüber im klaren, daß die Realisierung des Planes letztlich von der Entscheidung des Außenstehenden abhängig bleibt, in dessen Hand sich das Opfer damit begibt. So plausibel der teleologische Gedanke eines Erfordernisses demonstrierter Ernsthaftigkeit auch sein mag (dazu noch unten III. 4.) - mit der Frage des Vorliegens von Fremdtötungstäterschaft hat er nichts zu tun157. Diese Einwände treffen nicht ohne weiteres das von Arzt favorisierte „psychologische Kriterium", wonach § 216 StGB solche Fälle zuzuweisen seien, „in denen der potentielle Selbstmörder die Hemmung, Hand an sich zu legen, dadurch überwindet, daß er sich in die Hand eines anderen gibt"158. Die Auffassung von Arzt unterscheidet sich insoweit von der von Roxin vertretenen, als sie nicht explizit am Merkmal der Fremdtötungstäterschaft ansetzt, sondern - in allerdings dogmatisch unklarer Weise - unmittelbar auf die ratio der Vorschrift rekurriert. Entsprechendes gilt fur die Auffassung von Jakobs, der ebenfalls fur eine Einschränkung des Tatbestandes Roxin, in: 140 Jahre GA, S. 184; auch schon ders., Täterschaft, S. 569; ders., NStZ 1987, 347 f.; ebenso Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 110; Geilen, Jura 1979, 203. Vgl. auch zum Fehlen hemmender Gegenmotive in den Fallen des § 216 StGB (im Unterschied zum Suizid) Engisch, FS für H. Mayer, S. 412; Dolling, GA 1984, 86. Wenn man weiter die nach dem Urteil ebenfalls offen gehaltende Möglichkeit unterstellt, daß es fur den Eintritt des Todes auf das weitere Durchtreten des Gaspedals ankam. Vgl. auch Herzberg, NStZ 1989, 560 f.; Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 333 f. Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 3 Rn. 40.
352 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens dort plädiert, wo die ratio dieser Vorschrift - nämlich das allgemeine Interesse an Klarheit darüber, „daß der Zweckzusammenhang vollständig vom Lebensmiiden durchdacht wurde"159 — nicht erfullt sei, nämlich dann, wenn die Entscheidung objektiv vernünftig sei160. So soil offenbar nicht die Fremdtötungstäterschaft, wohl aber die Anwendbarkeit von § 216 StGB ausgeschlossen werden. Die mangelnde Aussagekraft demonstrierter Emsthaftigkeit fur das Vorliegen von Fremdtötungstäterschaft verdeutlicht auch die Behandlung des oben geschilderten „Scophedal-Falles" durch Roxin, der die Lösung des BGH, der an der Tatherrschaft des Neffen keinen Zweifel gelassen hat, am Maßstab der „Herrschaft iiber den lebensbeendenden Akt" mit der Erwägung kritisiert, der Onkel habe „die mit Ernst und Entschlossenheit im Zustand voller Verantwortungsfähigkeit geplante Selbsttötung nicht auf den Angeklagten abgeschoben, sondern er hatte sie in die eigene Hand genommen (...)• Er hat auch bewiesen, daß er den letzten, unwiderruflichen Schritt selbst zu tun in der Lage war (...). Es lag also eine in vollem Umfange eigenverantwortliche Tötungshandlung vor, im Verhältnis zu der die nachhelfende Aktivität des Angeklagten als Beihilfe erscheint"161. Doch auch hier ist darauf hinzuweisen, daß die unter Beweis gestellte Emsthaftigkeit des Selbsttötungsentschlusses noch nicht das gleiche ist wie eine Selbsttötung. Wenn der Onkel auch (zumindest subjektiv) „eine" Tötungshandlung vorgenommen hat, so eben doch nicht die Handlung, die tatsächlich zum Tod geführt hat. Ob er nun ohne das Eingreifen des Neffen eine Stunde länger gelebt oder iiberhaupt nicht an dem von ihm selbst injizierten Scophedal gestorben ware, hat keinen Einfluß darauf, daß er in keinem Fall den todbringenden Moment bezogen auf den wirklich eingetretenen Tod selbst beherrscht hat162. Nun läßt sich freilich einwenden, das Kriterium der Tatherrschaft sei eben normativ zu verstehen und seine genaue inhaltliche Bestimmung hänge damit von dem jeweiligen Tatbestand ab, auf den es sich beziehe. Es stelle sich „lediglich wegen der singulären Tatbestandsstruktur des § 216 (Zusammenwirken von Täter und Opfer) in einer von den übrigen Törungsdelikten abweichenden Form dar"163. Aber Roxin selbst weist darauf hin, daß das, was sich mit der Tatbestandsbezogenheit ändere, nicht die strukturell immer gleich bleibende Herrschaft, sondern die „Tat" sei164. Wenn man nun die Tatherrschaftslehre mit der normativen Frage befrachtet, welches Verhalten als tatbestandsmäßiges Verhalten eines Tötungsdelikts in Betracht kommt und ihr damit die Selektion unrechtlichen Verhaltens 159 160 161
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Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 23. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 29 ff. Roxin, NStZ 1987, 347 f.; ferner ders., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. 112. Vgl. auch zur Kritik an Roxin Herzberg, JuS 1988, 772 ff.; ders., NStZ 2004, 7; Otto, in: FS für Tröndle, S. 161 f; F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 570 f. Roxin, Täterschaft, S. 570 f.; ders., NStZ 1987, 347. Dagegen Schneider, in: MK, § 216 Rn. 45. Roxin, Täterschaft, S. 442.
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überhaupt überbürdet, dann sprengt man den Rahmen dieses Kriteriums, das - wie bereits dargestellt - das Problem der Beteiligung mehrerer an einem in seiner Unrechtlichkeit vorausgesetzten Verhalten lösen und die unterschiedlichen Formen der Beteiligung normativ gegeneinander abschichten soil165. Anders formuliert: die Frage, worauf sich die Herrschaft des Täters beziehen muß, ist von einer Tatherrschaftslehre, die nicht auch noch die Leistungen einer Lehre vom rechtlich mißbilligten Verhalten an sich ziehen will, nicht zu beantworten. Denn die Herrschaft bezieht sich zwar auf eine Rechtsverletzung, kann aber nicht angeben, was eine Rechtsverletzung eigentlich ist166. Das ware nur anders, wenn die Tatherrschaft das Kriterium ware, nach dem sich die Tatbestandsmäßigkeit eines unerlaubten Verhaltens bestimmt. Ein solcher Standpunkt ist nicht ausgeschlossen. Aber er wiirde das Merkmal der Tatherrschaft ilber die Begriffe des Verhaltensnormverstoßes und der „Tat" erheblich anreichern und dies vollzöge sich entweder intuitiv oder würde nach einer ausgearbeiteten Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhaltensnormverstoß verlangen - was wieder auf die entsprechenden Lehren verweist. Erneut zeigt sich damit die Fehlintuition, die darin liegt, das soziale Phänomen der Beteiligung mehrerer an einem Vorgang zum Anlaß zu nehmen, eine Rechtsfigur zu aktivieren, die dieses Phänomen in einem begrenzten Bereich behandelt, nämlich dann, wenn der Vorgang in seiner Gesamtheit bereits als tatbestandsmäßiger Verhaltensnormverstoß ausgewiesen ist.
b) Die Abgrenzung anhand des Kriteriums der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung Der damit geforderte Ansatz beim tatbestandsmäßigen Verhalten167 ruft zunächst lediglich die Einsicht in Erinnerung, daß sich die täterschaftliche Fremdschädigung nicht aus einem Kriterium der Täterschaft, sondern aus der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandes ergibt. Das Kriterium der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung im Sinne eines bestimmten Tatbestandes (gleichbedeutend: das Kriterium des tatbestandsmäßigen Verhaltens) ist der Maßstab, an dem sich entscheidet, ob eine tatbestandliche Fremdschädigung vorliegt. Damit ist mehr gewonnen als der Hinweis auf eine Selbstverständlichkeit, die letztlich fur die Abgrenzung von Fremdschädigung und Beteiligung an einer Selbstschädigung nicht weiter ftlhrt als zu neuen Begrifflichkeiten. Denn das Kriterium der Vornahme einer rechtlich mißbilligten Handlung ist in seiner Bezugnahme auf die Rechtlichkeit des Verhaltens iiberhaupt der Tatherrschaftslehre, die in ihrer herkömmlichen Fassung die instrumentale Steuerungsleistung in den Vordergrund stellt und Normati-
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Vgl. auch Stein, Beteiligungsformenlehre, S. 284 f. Es weist deshalb in die richtige Richtung, wenn Roxin, NStZ 1987, 347 mittlerweile darauf hinweist, daß es „nicht unbedingt nötig" ist, die Abgrenzungsproblematik im Begriffder Tatherrschaft zu diskutieren. Grundlegend zu dessen Bedeutung Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten.
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vierungen allenfalls als zusätzliches Moment aufnimmt168, deutlich überlegen, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob der Außenstehende einen Tatbestand erfüllt. Der Herrschaftsgedanke wird damit nicht obsolet, sondern wird zu einem Kriterium, das bei der Bestimmung rechtlich mißbilligten Verhaltens eine Rolle spielt, aber eben nur eingeordnet in einen normativen Zusammenhang und deshalb nur von begrenzter und zudem von durchaus ambivalenter Relevanz. Denn nicht nur Herrschaft fiber eine Gefahr kann ein Argument fur normative Zuständigkeit sein, sondern gerade auch deren Fehlen; ausschlaggebend ist, welche Pflichten dem Einzelnen zur Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse obliegen. So kann es fur die Frage, ob ein Verhalten eine rechtlich mißbilligte Gefahr darstellt, z.B. durchaus darauf ankommen, ob der Täter dieses Risiko bereits „aus der Hand gegeben" hat, so daß es sich unkontrolliert entfalten kann; erst mit dem Herrschaftsverlust ist damit eine rechtlich mißbilligte Gefahr geschaffen169. Die gegenilber der Beteiligungslehre überlegene Leistungsfähigkeit dieses Kriteriums war oben schon fur die Fälle der Beteiligung an einer Selbstschädigung gezeigt worden, wo es um solche Handlungen ging, die bereits unabhängig von der konkreten Opferentscheidung deshalb keine rechtlich mißbilligten Gefahren fur Individualrechtsgüter schaffen, weil sie dem Opfer lediglich eine von seinem Selbstbestimmungsrecht umfaßte Dispositionsmöglichkeit über dieses Gut eröffnen. Die rechtliche Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht des Opfers - nicht (erst) fehlende Herrschaft über den weiteren Geschehensverlauf- war der sachliche Grund der Tatbestandslosigkeit. Bemiiht man sich nun um eine Abgrenzung der Beteiligung an einer Selbstschädigung von der Fremdschädigung anhand des Kriteriums des tatbestandsmäßigen Verhaltens, so ist zunächst die Einsicht festzuhalten, daß der Unterschied nicht in einer differenzierenden Beantwortung der Frage gesucht werden kann, ob der Außenstehende durch sein Verhalten das konkrete Rechtsverhältnis zum Opfer in Richtung auf ein Individualrechtsgut beeinträchtigt. Derm das Selbstverfiigungsrecht des Opfers schließt es unabhängig von den Modalitäten des Vollzugs aus, das in diesen Verfugungssinn eingepaßte Verhalten des Außenstehenden als Verletzung des rechtlichen Verhältnisses zu begreifen, soweit es um das Individualgut geht, auf das sich die Verfugung bezieht.
Diese Betonung der instrumentalen Seite der Tatherrschaft ist zugleich der Hintergrund fur die Auffassung, derzufolge bei Unterlassungs- und bei Pflichtdelikten die Tatherrschaft als Täterkriterium ungeeignet sei (siehe Roxin, Täterschaft, S. 352 ff., 458 ff.). Freilich ein Defizit, das durch eine normative Tatherrschaftslehre ausgeglichen werden könnte (siehe Mwrmann, Nebentäterschaft, S. 180 ff.). Doch sollte sich dieses Bemühen auf die Fälle der Beteiligung mehrerer beschränken. Für die Alleintäterschaft bleibt allein die Tatbestandsverwirklichung maßgeblich. Siehe Murmann, Versuchsunrecht, S. 16 ff.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Unter dem Aspekt einer Verletzung des Rechtsverhältnisses in Richtung auf das verfugte Individualgut ist die Unterscheidung der Fälle der Beteiligung an einer Selbstschädigung und der Vornahme einer Fremdschädigung also von vornherein nicht ergiebig. Nachdem der Unterscheidung dennoch prima facie zumindest bei § 216 StGB erhebliches Gewicht zukommt, liegt es nahe, sie (zumindest im Rahmen dieser Vorschrift) nach dem Sinn zu treffen, der § 216 StGB zugrunde liegt. Dies ist die Sichtweise, die unmittelbar das telos von § 216 StGB fur die Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigungen fruchtbar machen will170. Es ist aber in der kritischen Auseinandersetzung mit der h.M. schon gezeigt worden, daß eine Differenzierung von Selbst- und Fremdschädigung anhand der Schutzrichtung von § 216 StGB diese Unterscheidung überfrachtet und in innersystematische Friktionen fuhrt. Nachdem das telos von § 216 StGB nicht darin liegen kann, das Opfer vor seinen eigenen (nicht-defizitären) Verfugungen iiber sich selbst zu schiitzen, kommen als Schutzgtiter, an denen sich eine Auslegung des Begriffs der Fremdschädigung (d.h. der „Tötung" im Sinne von § 216 StGB) orientieren könnte, entweder Rechte anderer oder ein Interesse des Opfers an der Unwirksamkeit (möglicherweise) defizitär selbstverfligender Entscheidungen in Betracht. Soweit das telos von § 216 StGB im Schutz überindividueller Rechtsgüter gesehen wird (z.B. im Schutz des Fremdtötungstabus) liegt dieses Kriterium gleichsam neben der Unterscheidung nach Selbst- oder Fremdverletzung - maßgeblich fur die Erfiillung dieses Kriteriums ist nämlich die Frage der Verletzung Dritter, also gerade nicht des den Tod Verlangenden. Zwar ließe sich argumentieren, die Beeinträchtigung von Rechten anderer sei gerade die Folge der Fremdschädigung - z.B.: das Fremdtötungstabu werde nur durch entsprechende Fremdschädigungen verletzt - aber dieser Gedanke trägt nichts zur Klärung der Frage bei, was eine Fremdschädigung ist. Dieses Argument besagt letztlich nur, daß eine Tabuverletzung genau in dem Umfang vorliegt, in dem eine Fremdverletzung vorliegt. Offenbar ist auch noch nicht versucht worden, von der Reichweite des Tötungstabus her zu entscheiden, ob ein Fall der Fremdtötung vorliegt. Soweit das Tabu durchbrochen wird - etwa in gewissen Fallen der Notwehr - wird gleichwohl nicht angezweifelt, daß der Angegriffene eine Fremdtötung vornimmt und auch im Fall der indirekten Sterbehilfe wird eine Auffassung, die das Unrecht der Tötungsdelikte hier nicht verwirklicht sieht, eher mit einer Ausnahme vom Tötungstabu argumentieren als behaupten, deshalb liege schon keine Fremdtötung vor. Wenn teleologische Erwägungen zur Abgrenzung der Beteiligung an einer Selbstschädigung und der (einverständlichen) Fremdschädigung herangezogen werden, so steht der Gedanke im Vordergrund, § 216 StGB wolle das Opfer vor (möglicherweise) defizitären Entscheidungen schiitzen. Es ist dieser Gedanke der - in
170
In diesem Sinn dezidiert F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 565; siehe zu solchen teleologischen Interpretationen des Begriffs der „Tötung" in § 216 StGB oben a) bb).
356 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Zusammenhang mit der Tatherrschaftslehre - von Roxin geltend gemacht worden ist (dazu schon oben a) bb)). Aber auch wenn der Gesetzgeber freilich nicht gehindert ist, ein anhand objektiver äußerer Umstände besonders leicht faßbares Defizit gesetzlich zu vertypen (wofur möglicherweise auch zusätzliche kriminalpolitische Erwägungen angefuhrt werden könnten), ist die tatbestandliche Reichweite dieser Vertypung zu akzeptieren. Diese knüpft aber offenbar nicht am tätigen Nachweis überwundener Selbsttötungshemmung überhaupt, sondern nur an den Nachweis an, der darin liegt, daß die Tötungshandlung als solche delegiert wird - die gesetzlich verordnete Relevanz der Fremdschädigung wird also durch das vermutete Defizit plausibel, nicht führt die aus sonstigen Umständen geschlossene Freiheit von Defiziten zum Ausschluß der Fremdschädigung. Die gesetzliche Fassung von § 216 StGB mag also zwar fur eine Interpretation Raum lassen, die den Zweck dieser Vorschrift auf die Erfassung solcher Fälle beschränkt sieht, in denen das Opfer seine Fähigkeit zum Suizid nicht bereits unter Beweis gestellt hat. Sie läßt aber keinen Raum fur die Auffassung, dieses Kriterium schließe bereits das Vorliegen einer Fremdschädigung - also das Merkmal der Tötungshandlung - aus171. Die sonst gegebene Gefahr der Auflösung der Begrifflichkeit der Fremdschädigung bzw. der jeweils geforderten (fremdschädigenden) Tathandlungen zeigt auch ein Blick auf den systematischen Kontext, in dem § 216 StGB steht. In der Systematik der Totungsdelikte stellt § 216 StGB eine Privilegierung von § 212 StGB dar. Nach seinem Wortlaut will § 216 StGB dem Begriff der „Tötung" keinen gegemiber § 212 StGB geänderten Sinn geben, sondern knilpft an die dort vorausgesetzte Tötungshandlung an und will als Unterscheidung nur den Umstand einführen, daß seitens des Opfers zusätzlich ein Verlangen vorliegt, das den Täter zur Tat motiviert hat. § 216 StGB verlangt also die gleiche Tathandlung wie §§ 212 ff. StGB172. Es liegt auf der Hand, daß ein von der demonstrierten Selbstschädigungsfähigkeit abhängiges Verständnis von Fremdschädigung auch im Kreis der sonstigen Verletzungsdelikte einen Fremdkörper darstellen wiirde. Beispielsweise wilrde eine (bewilligte) Sachbeschädigungshandlung eines Außenstehenden nicht bezweifelt werden, weil der Eigentümer der Sache deren Zerstörung bereits vergeblich versucht hat. Die vielfach erstrebte, von anderen Verletzungsdelikten und auch von den sonstigen Tötungsdelikten unterschiedene Bestimmung der Fremdschädigung bzw. der Tötungshandlung, resultiert offenbar aus der Besonderheit des § 216 StGB, der Einwilligung keine unrechtsausschließende Wirkung zuzuerkennen. Während sonst die Vornahme der auf die Verletzung eines Individualrechtsguts gerichteten tatbestandsmäßigen Handlung lediglich ein vorläufiges Urteil iiber deren Verbotenheit darstellt, scheint dieses Urteil bei § 216 StGB auch dann ein abschließendes zu sein, wenn an der Defektfreiheit der Entscheidung kein Zweifel besteht. Dieses als unbefriedigend empfundene Resultat wird unterlaufen, wenn etwa Roxin in seiner Lösung des Scophedal-Falles bereits die Fremdschädi171 172
Siehe auch Herzberg, NStZ 1989, 560 mit Fn. 14. Zutreffend etwa Jakobs, in: FS für Schewe, S. 73 mit Fn. 1; Otto, in: FS für Tröndle, S. 159; Horn, in: SK StGB, § 216 Rn. 3.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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gung bestreitet und so den Fall dem Schema von Fremdschädigung und (unbeachtlicher) Einwilligung entzieht. Aber es ist nicht ersichtlich, warum die gesetzgeberisch gezogene Grenzen wirksamer Einwilligung etwas an dem nach allgemeinen Grundsätzen zu bestimmenden Vorliegen einer Fremdschädigung ändern sollten. Womöglich noch deutlicher werden die interpretatorischen Grenzen bezogen auf die tatbestandlich geforderte Verletzungshandlung schließlich bei den Körperverletzungstatbeständen in Verbindung mit § 228 StGB. Da § 228 StGB keinen Straftatbestand darstellt, müßte eine Modifizierung des Begriffs der Körperverletzung mit Rilcksicht auf die Bedeutung von § 228 StGB im Rahmen der §§ 223 ff. StGB zu einem uneinheitlichen Verständnis dessen ftihren, was mit Körperverletzung gemeint ist. Ob eine Fremdschädigung vorliegt, kann nach alledem nicht nach der ratio von § 216 StGB einschränkend bestimmt werden, sondern hängt - wie bei den anderen Tötungs- und sonstigen Verletzungsdelikten - von den sonst geltenden Grundsätzen ab, nach denen sich das Vorliegen einer Fremdschädigung bestimmt. Das bedeutet - was bei § 216 StGB nach dem Wortlaut der Vorschrift eigentlich selbstverständlich ist -, daß das zustimmende Opferverhalten - also die Einwilligung bzw. das ernstliche Verlangen — einem Verhalten des Außenstehenden auch dann nicht seinen fremdschädigenden Charakter (d.h. die Qualität als „Tötung") nehmen kann, wenn kein Zweifel daran besteht, daß das Opfer aufgrund der Ernsthaftigkeit seines Entschlusses auch zur Selbstvornahme der Tötungshandlung in der Lage gewesen ware und diese Entschlossenheit womöglich auch schon demonstriert hat. Kann die selbstverfugende Opferentscheidung auch dort, wo sie als Ausdruck fester Entschlossenheit interpretiert werden muß, dem Verhalten des Außenstehenden nicht dessen fremdschädigenden Charakter nehmen, so bleibt die konkrete Opferentscheidung bei der Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung überhaupt außer Betracht. Während dies aber bei der Selbstschädigung seinen Grund darin hat, daß das Verhalten des Außenstehenden ohne Rücksicht auf die konkrete Opferentscheidung deshalb erlaubt ist, weil es dem Opfer lediglich eine Selbstverfügungsoption eröffhet, dient die Nichtberilcksichtigung der Opferentscheidung in den Fallen der Fremdschädigung gerade dazu, den prinzipiell unerlaubten Übergriff auf fremde Rechtsgüter als solchen zu kennzeichnen. Die Beteiligung an einer Selbstschädigung unterscheidet sich von der (einverständlichen) Fremdschädigung dadurch, daß bei letzterer erst das zustimmende Opferverhalten dazu führt, daß das Rechtsverhältnis der Beteiligten nicht in Richtung auf das preisgegebene Individualrechtsgut verletzt wird. Das entsprechende Verhalten des Außenstehenden ohne Zustimmung ware eine Verletzung des konkreten Rechtsverhältnisses in Richtung auf das jeweils tatbestandlich geschützte Individualrechtsgut; es handelt sich also um solches Verhalten, das grundsätzlich rechtliche Freiheit in einer bestimmten Konkretion verletzt. Die Einwilligung (und zwar unabhängig von ihrer Verortung auf Tatbestands- oder Rechtswidrigkeitsebene, entsprechendes gilt deshalb auch fur das Einverständnis) verändert also das bestehende Rechtsverhältnis in der Weise, daß ein sonst mit Blick auf ein be-
358 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens stimmtes Individualrechtsgut verbotenes Verhalten erlaubt ist173. Denn das rechtliche Verhältnis wird durch Respektierung der Freiheit des je anderen in deren konkreten Daseinselementen konstituiert und die Anerkennung fremder Freiheit ist immer auf die Anforderungen im konkreten Verhältnis bezogen. In den Fallen der einverständlichen Fremdschädigung ist das Verhalten des Außenstehenden also gleichsam in einer ersten Stufe (als Fremdschädigung) verboten; erst die Berücksichtigung der konkreten Opferentscheidung - auf die es also anders als bei der Beteiligung an einer Selbstschädigung fur die Rechtlichkeit des Verhaltens ankommt - gestaltet das konkrete Rechtsverhältnis im Sinne der Erlaubtheit des bewilligten Verhaltens. 1st die Einwilligung eine Umgestaltung des Rechtsverhältnisses, so ergibt sich daraus zugleich der Bezugspunkt des zustimmenden Opferverhaltens. Es ist dies die Vornahme der (an sich) rechtlich mißbilligten Handlung. Das folgt schon daraus, daß sich Rechtlichkeit im interpersonalen Umgang im Verhalten der Beteiligten erweist. Ein schädigender Erfolg als Folge einer im Rechtsverhältnis erlaubten Handlung ist keine Verletzung dieses Verhältnisses, sondern ein Unglück. Entgegen der h.M. muß sich deshalb die Einwilligung nicht auf (die Handlung und) den Erfolg174, sondern nur auf die Handlung in ihrer mehr oder weniger großen Risikoträchtigkeit beziehen175. Damit ist freilich nicht gemeint, daß die Handlung durch die Einwilligung in all ihren rechtlichen Bedeutungsgehalten, die ihr zukommen mögen (z.B. als Beschädigung einer fremden Sache und als damit verbundene Lärmbelästigung) durch die Einwilligung erlaubt wird, sondern erlaubt wird sie nur bezogen auf die Risikodimension, auf die sich die Einwilligung in rechtlich wirksamer Weise bezieht176. Die Vorstellung, die Einwilligung verlange als eine „täterentlastende Rechtsgutspreisgabe durch das Opfer" die Bewilligung des Erfolgseintritts177, vergegenständlicht den Bezugspunkt der Einwilligung. Im interpersonalen Verhältnis der AnerkenIm Ergebnis ähnlich auch Hansen, Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten, S. 109. Die Einwilligung stellt folglich auch nicht lediglich eine „rein tatsächliche Gestattung" dar (so Lenckner, ZStW 72 [I960], 455), die „keine selbständige Rechtswirkung ins Leben" rufe (so Geerds, Einwilligung, S. 47). So etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 971; Göbel, Die Einwilligung, S. 25; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 275; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 106; Jescheck/Weigend, AT, S. 382; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 34; Rönnau, Willensmängel, S. 191; Roxin, AT I, § 13 Rn. 48 („ziemlich selbstverständlich"); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 214; ausschließlich auf den Erfolg bezieht Zipf, Einwilligung, S. 21 f. die Einwilligung. So Horn, in: SK-StGB, § 228 Rn. 6; Paeffgen, in: NK, § 226a Rn. 4; Rogall, NJW 1978,2345. Deshalb gehen die Einwände von Zipf, Einwilligung, S. 21 f. fehl, der mit der Einwilligung in eine Handlung deren umfassende Erlaubnis identifiziert und nicht die unterschiedlichen Risikodimensionen differenzierend betrachtet, die mit dem einheitlichen Vorgang einer Handlung verbunden sein können. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 214.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfllgender Opferentscheidungen
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nung wird das Rechtsgut aber nicht durch seinen äußeren Bestand, sondern durch ein diesen Bestand nicht iiber das erlaubte Maß gefährdendes Verhalten konstituiert. Nur durch ein das RechtsverMltnis verletzendes Verhalten kann also auch die äußere Beeinträchtigung des Gutes Ausdruck einer Verletzung des Rechtsverhältnisses sein. 1st das Handeln dagegen rechtlich wirksam bewilligt, dann kann ein davon isolierter Erfolgsunwert durch dieses Handeln nicht mehr realisiert werden. Die Bewilligung des Erfolgseintritts hingegen kann nur durch Bewilligung der zum Erfolg fuhrenden Handlung erfolgen, was seinen Ausdruck auch darin findet, daß es dem Opfer freisteht, die Modalitäten der Erfolgsherbeifuhrung zu bestimmen. Auch eine vom Opfer abgegebene Erklärung, die wörtlich genommen den Eintritt des Erfolgs bewilligt, kann danach nur als Bewilligung der risikoträchtigen Handlung verstanden werden, auch wenn damit möglicherweise die Auswahl geeigneter Handlungen dem Außenstehenden überlassen wird oder aber Einschränkungen der Auswahl lediglich durch Interpretation der Erklärung erschlossen werden können. Der psychische Sachverhalt eines Einverstandenseins mit dem Erfolgseintritt ist also fur die rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit der Einwilligung ohne Bedeutung (wobei fehlendes Einverstandensein bei Bewilligung höchst riskanten Täterhandelns ein Indiz fur eine defizitäre Entscheidung sein mag). Da in der Diskussion um die Fälle bewilligter Fremdschädigung der psychische Sachverhalt einer Einwilligung (auch) in den Erfolgseintritt meist vorausgesetzt wird, wird die Problematik regelmäßig erst bei der Frage der Einwilligung in eine Fremdgefährdung diskutiert und soil deshalb auch in der vorliegenden Arbeit erst an dieser Stelle wieder aufgenommen werden (unten 3. c) cc)). Die Fremdschädigung ist bezogen auf die Verletzung des konkreten Rechtsverhältnisses immer nur ein vorläufiges Urteil. Dieses Urteil gibt an, wie das Verhalten des Außenstehenden zu bewerten ist, wenn von der Zustimmung des Opfers abstrahiert wird. Die Unterscheidung zur Selbstschädigung erfolgt danach, ob das Verhalten des Außenstehenden unabhängig von der konkreten Opferentscheidung oder gerade erst infolge dieser Entscheidung das Rechtsverhältnis zum Opfer (bezogen auf das jeweilige Individualrechtsgut) unbeeinträchtigt läßt. Dieser Unterschied läßt sich unabhängig davon festhalten, ob die Einwilligung als Tatbestandsausschließungsgrund oder als Rechtfertigungsgrund aufgefaßt wird. Denn die Zweistufigkeit des Vorgangs bleibt auch auf der unter dem Aspekt typisierten Unrechtshandelns einheitlichen Wertungsebene der Tatbestandsmäßigkeit erhalten, wenn dort das zustimmende Opferverhalten in seiner Besonderheit gegenilber der sonst zu bejahenden Tatbestandsmäßigkeit erfaßt wird. Ausschlaggebend ist stets, daß die Einwilligung das rechtliche Verhältnis dahingehend verändert, daß ein Verhalten seine ihm sonst anhaftende Verletzungsbedeutung in Richtung auf eine bestimmte Dimension von Freiheit des Opfers verliert. Freilich fehlt eine dogmatische Figur, die diesen Befund fixieren könnte, wenn man die Einwilligung im monistischen Modell als Ausschluß der rechtlich mißbilligten
360 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Gefahrschaffung (und nicht als negatives Tatbestandsmerkmal) auffassen wollte. Doch ware der Umstand, daß einem normativ herauszuhebenden Befund (Änderung des konkreten Rechtsverhältnisses) keine dogmatische Kategorie zugewiesen werden könnte, lediglich ein Argument gegen diese Tatbestandslösung (dazu noch unten c). Im Regelfall variiert damit nur die Begrilndung, mit der die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Außenstehenden festgestellt wird: Während bei der Beteiligung an einer Selbstschädigung das Verhalten des Außenstehenden mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht des Opfers stets erlaubt ist, handelt es sich bei der (einverständlichen) Fremdschädigung um prinzipiell verbotenes, aber mit Blick auf die konkrete Ausilbung des Selbstbestimmungsrechts ausnahmsweise erlaubtes Verhalten. Bei § 216 StGB (wie auch in den Fallen des § 228 StGB) ergibt sich freilich insoweit eine Abweichung, als die Bejahung einer Fremdschädigung die Möglichkeit einer Strafbarkeit nach dieser Vorschrift auch und gerade dann eröffhet, wenn eine Einwilligung vorliegt. Da sich die Verbotenheit des Verhaltens des Außenstehenden nicht aus dem Schutz der nicht defizitär entscheidenden Person vor sich selbst legitimieren läßt178 - insofern vielmehr eine wirksame Einwilligung vorliegt -, stellt sich damit freilich die Frage, ob und inwieweit es legitime Griinde daftir gibt, die Verftigungsfreiheit aus anderen Griinden zu begrenzen. Es kommt hier also darauf an, ob der Fremdschädigungssinn, dessen Bedeutung als Verletzung des Rechtsverhältnisses durch die Einwilligung entkräftet wird, zugleich unter einer anderen Perspektive einen Sachverhalt charakterisiert, fur den sich ein strafrechtlich abgesichertes Verbot legitimieren läßt. § 216 StGB setzt ein fremdschädigendes Verhalten voraus, ohne daß die Strafbarkeit nach dieser Vorschrift bei nicht-defizitärer Bewilligung dieses Verhaltens aus dem fremdschädigenden Charakter als solchem zu legitimieren ware. Das wird unten IV. noch näher zu thematisieren sein. Das hier vorgeschlagene Differenzierungskriterium danach, ob das Verhalten ohne die konkrete Opferentscheidung (straf-) rechtlich verboten ware, bietet gegenüber den herkömmlichen Lösungsversuchen erhebliche Vorteile. Zunächst leistet es die Grenzziehung mit einer Schärfe, wie sie überhaupt im Rahmen der ausgearbeiteten Dogmatik zum tatbestandsmäßigen Verhalten bislang geleistet ist. Weiter bezieht sie sich damit auf ein normatives Instrumentarium, das es erlaubt, nicht das jeweilige Verhalten in seiner naturalistischen Komplexität in den Blick zu nehmen, sondern die - tatbestandlich allein relevanten - diesem anhaftenden Risikodimensionen einer - gegebenenfalls differenzierenden - Beurteilung zu unterziehen. Seine sachliche Berechtigung bezieht es schließlich vor allem daraus, daß es in den dafür vorgesehenen strafrechtsdogmatischen Kategorien die diffe178
Unzutreffend Eser, Zum „Recht des Sterbens", S. 33, nach dessen Auffassung in den Fallen des § 216 StGB deshalb, weil dort „die Letzentscheidung über Leben oder Tod einem Dritten anheim gegeben wird", „ein wesentliches Stuck von Fremdbestimmung mit ins Spiel kommt, ja im Grunde die Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung ersetzt wird".
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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renzierte Weise reflektiert, in der sich die Selbstverantwortung des Opfers im Recht (also bereits in der Primärordnung) geltend macht, nämlich als umfassende Kompetenz zum Treffen selbstverftigender Entscheidungen, die es ausschließt, das Verhalten des Außenstehenden deshalb zu verbieten, weil es die Möglichkeit selbstverfugender Entscheidungen schafft (fehlende rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung) oder weil es eine getroffene selbstverfugende Entscheidung exekutiert (bewilligtes Verhalten). Zwar verletzt in keinem dieser Fälle der Außenstehende sein Rechtsverhältnis zum Opfer. Aber im Fall des bewilligten Verhaltens läßt sich doch dann, wenn man von der Einwilligung zunächst noch abstrahiert, immerhin auf einer ersten Stufe - nach h.M. auf der des Tatbestandes - von einem fremdschädigenden Verhalten sprechen. Mit dieser Differenzierung ist ein fur alle Verletzungsdelikte einheitlicher Maßstab geboten. Das gilt auch fur § 216 StGB (und §§ 223 ff., 228 StGB). Wenn hier die Bewilligung der Fremdschädigung nicht die Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden begründet, so verweist der Wortlaut der Vorschrift - wenn man ihn akzeptiert - lediglich auf die Notwendigkeit, nach einer ratio der Vorschrift Ausschau zu halten, die dem fremdschädigenden Charakter des Verhaltens eine zusätzliche Bedeutung abgewinnt oder aber es werden - wo dies nicht möglich ist - Grenzen der Strafbarkeit markiert, die auch dem Gesetzgeber - durch teleologische Reduktion von § 216 StGB - entgegenzuhalten sind. Das genannte Kriterium bewährt sich auch in seiner praktischen Leistungsfähigkeit, wenn man es auf die zitierten Fälle aus der Rechtsprechung anwendet. Freilich eröffnen sich Spielräume zur Diskussion überall dort, wo man über die (von der Bewilligung noch unabhängige) tatbestandlich erfaßte rechtliche Mißbilligung eines Verhaltens des Außenstehenden streiten kann. Solche Unstimmigkeiten sind aber keine Argumente gegen den hier vertretenen Ansatz, sondern sie sind letztlich Streitfragen hinsichtlich der Konturierung der Verhaltensordnung und der Interpretation der jeweiligen Tatbestände179. Im „Gisela-Fall" hängt danach alles davon ab, ob der Angeklagte das Gaspedal noch weiter durchgetreten und damit die Totungshandlung zu einem Zeitpunkt komplettiert hat, als Gisela sich nicht mehr selbst retten konnte, insbesondere sie bereits in Ohnmacht gefallen war180. Denn so lange Gisela jederzeit die Möglichkeit hatte, sich dem einströmenden Gas ohne weiteres zu entziehen, hat der Angeklagte keine rechtlich mißbilligte Todesgefahr gesetzt. Dies ist nicht etwa ein Spezifikum der Fälle des Doppelselbstmords. Es ist im Sinne der Tötungstatbestände keine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung, eine Person, die diese Situation voll iiberblickt und beurteilen kann, einem Gas auszusetzen, dem sich diese Person durch Verlassen des Raumes ohne weiteres entziehen kann. Damit mag das Unrecht einer Nötigung (zum Verlassen des Raumes) verwirklicht sei, aber nicht das Tötungsunrecht. Denn von demjenigen, der sich nicht selbst dazu entscheidet, aus dem Leben zu scheiden, ist zu erwarten, das er den Raum verläßt. Freilich: das Verhalten mag unter dem Aspekt der Möglichkeit von Fehleinschätzungen über die Gefährlichkeit oder den spätest möglichen Zeitpunkt zum Verlassen des Rau179 180
Ähnlich Herzberg, NStZ 2004, 6. So auch Jakobs, AT, 21/58a mit Fn. 124; ders., Tötung auf Verlangen, S. 24 f.
362 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens mes verboten sein - aber diese Risiken181 verwirklichen sich bei dem, der diese Umstände voll tlberblickt und sich dennoch zum Bleiben entschließt, nicht im eingetretenen Erfolg. Man sieht auch an dieser Stelle die Schärfe dieses Kriteriums im Verhältnis zum Tatherrschaftskriterium (obwohl mit der Herrschaft freilich auch ein fur die rechtliche Mißbilligung bedeutsamer Gesichtspunkt angesprochen ist). Das zeigt sich auch, wenn es um die Grenzziehung zur Schaffung eines unerlaubten Risikos geht: Auch diese Grenzziehung ist eine normative und setzt das Bemiihen um die Konturierung von Verantwortungsbereichen im Umgang mit eigenen und fremden Gütern voraus. Es ist danach angemessen, das Verhalten des Außenstehenden ab dem Zeitpunkt in Richtung auf das Leben des Opfers als rechtlich unerlaubt zu qualifizieren, in dem das Risiko nicht mehr kontrollierbar ist, wenn nämlich das Vermögen zur Beurteilung der Situation oder zum Verlassen des Raumes durch die Wirkung des Gases reduziert ist und jederzeit Bewußtlosigkeit eintreten kann. Tritt bei Gisela dieser Verlust sicherer Kontrolle bzw. schließlich sogar Bewußtlosigkeit ein und handelt der Angeklagte nun weiter, so hat sich die Sachlage folglich geändert: es stellt eine rechtlich mißbilligte Gefahr für das Leben des Opfers dar, es einem Gas auszusetzen, dem es sich nicht ohne weiteres entziehen kann182. Dagegen hat Zaczyk geltend gemacht, eine Selbstverletzung liege dann vor, wenn das Opfer den Zusammenhang von Verletzungswille, Handlung und Erfolg herstelle183. „Die letzte Aktion des Opfers muß also in dem BewußtDie Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen, beispielsweise um unbekannte Risikofaktoren in der körperlichen Konstitution des Opfers. Die Differenzierung zwischen der Situation des Fortbestehens und des Verlusts sicherer Kontrolle durch das Opfer will Herzberg, NStZ 2004, 6 offensichtlich nicht vornehmen. Er begrilndet die Tatbestandslosigkeit des Verhaltens des Außenstehenden bezogen auf das Gesamtgeschehen unter Hinweis auf den Gleichheitssatz: Der Unterschied zum „benachbarten Fall - der Täter drückt das Pedal mit einem schweren Stein nieder und bleibt dann passiv" - sei „äußerlich und zu gering", um die Grenze zu ziehen. Aber mit dieser „fallvergleichenden" Methode ist - wie Herzbergs Gedankengang gerade zeigt - die Gefahr verbunden, normative Gesichtspunkte nicht klar herauszuarbeiten und sich von Intuitionen leiten zu lassen. Tatsächlich hat der Unterschied zwischen Tun (Betätigen des Gaspedals) und Unterlassen (Nichtwegnehmen des Steins) normatives Gewicht. Die - bei positivem Tun nicht erforderliche - Begründung einer Sonderpflicht fur eine Haftung wegen Unterlassens (§ 13 StGB) macht dies sehr deutlich. Eine Handlungspflicht zum Wegnehmen des Steins läßt sich mit Blick darauf, daß das vorangegangene Beschweren des Gaspedals mit dem Stein erlaubt war (nämlich nur eine eigenverantwortliche Selbstschädigung ermöglicht hat, weshalb keine Ingerenzgarantenstellung besteht) nicht begründen. Für die Verpflichtung, ein positives Tun zu unterlassen, das das Leben eines Bewußtlosen gefährdet, gelten solche Einschränkungen nicht. Es ist zwar richtig, daß die Fälle normativ nicht weit auseinander liegen. Aber fur eine Abgrenzungsfrage, bei der der „Schmerz der Grenze" unvermeidlich ist, ist das kein hinreichendes Argument fur eine Gleichbehandlung. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 32 f, 42.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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sein geschehen, mit ihr den Erfolg durch eigenen Entschluß tätig herbeizuführen, und dies muß sich auch realisieren"184. Da Gisela das Gas selbst eingeatmet hat, habe in diesem Fall ein Suizid vorgelegen185. Aber das kann - auch von diesen Prämissen aus - nur richtig sein, wenn anschließend keine weiteren Aktivitäten des Außenstehenden mehr erforderlich waren. Denn wenn der Außenstehende nach Bewußtlosigkeit des Opfers zur Herbeifuhrung des Todes noch weiteres Gift einleiten muß, dann wird das Opfer zwar wunschgemäß hierdurch getötet, aber durch sein eigenes willensgetragenes Handeln stellt es den Zusammenhang von seiner Handlung und dem schließlich eingetretenen Erfolg gerade nicht mehr her. Es scheint allerdings so, als hielte Zaczyk gerade nicht die letzte Handlung des Außenstehenden, sondern die letzte „Aktion" des Opfers für maßgeblich186. Aber warum es darauf ankommen soil - auch und gerade wenn das Opfer sogar die Möglichkeit weiteren Handlungsbedarfs des Außenstehenden in Rechnung stellen muß - ist nicht einsichtig. Auch im Fall des Wilrgens des Opfers187 gehört es zum Verständnis der Situation, daß der Außenstehende bei einem Veto des Opfers sein weiteres Handeln abgebrochen hätte und damit der Todeserfolg je nach Zeitpunkt des Abbruchs voraussichtlich nicht eingetreten ware. Doch ist die Gefahrbewältigung für das Opfer hier in einem sehr fhlhen Zeitpunkt in mehrerlei Hinsicht problematischer als im „Gisela-Fall". Zum einen kann sich das Opfer nicht zuverlässig durch eine Handlung retten, die nur von ihm abhängt. Dagegen ließe sich zwar einwenden, daß anzunehmen ist, daß sich der Außenstehende dem Veto gebeugt und sofort mit dem Würgen aufgehört hätte. Aber es bleiben die Schwierigkeiten, einem solchen Veto überhaupt noch Ausdruck zu verleihen und der weitaus engere zeitliche Rahmen, in dem das Verhalten des Außenstehenden den Tod herbeifUhrt. Vor allem aber ist das Wiirgen des Opfers eine von Anfang an lebensgefährliche Handlung. Auch die vorhandene Bereitschaft zum Aufhören wird also nichts daran ändern, daß der Außenstehende das Leben des Opfers vom ersten Augenblick seines Handelns an unkontrollierbar und damit unerlaubt gefahrdet, womit die Rechtlichkeit dieses Verhaltens erst durch eine wirksame Einwilligung begründet werden könnte. Für den „Scophedal-Fall" gilt: es ist in Richtung auf das Leben des Opfers rechtlich mißbilligt, eine tödliche Dosis eines Giftes zu injizieren. Das gilt auch dann, wenn dem ein Suizidversuch des Opfers vorausgegangen war. Das wird deutlich, wenn man von der Einwilligung abstrahiert, denn die gegenteilige Sichtweise wiirde den, der einen Suizidversuch unternommen hat, rechtlos stellen. Es 184 185 186
Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 42. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 42 f. Dafiir spricht auch seine {Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 42 f.) Lösung des von Herzberg gebildeten Falls, daß sich das Opfer absprachegemäß vor das Auto des Außenstehenden wirft und von ihm iiberfahren wird. Denn eine Differenzierung nach der Anhaltemöglichkeit des Außenstehenden wird nicht diskutiert. Zu diesem Fall sogleich näher im Text. BGH bei Daltinger, MDR 1966, 382.
364 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ist deshalb sachgerecht, auch in diesem Fall alles auf die Frage ankommen zu lassen, ob sich die Begriindung von Unrecht - jenseits eines (nicht defizitär) bewilligten Eingriffs in das Lebensrecht - überhaupt legitimieren läßt. In den zitierten Fallen, in denen das Opfer den Außenstehenden über den Tötungssinn von dessen Handlung täuscht188, schafft der Außenstehende durch Hineinlegen des Schwerstbehinderten in den Container bzw. durch das Schießen mit einer Waffe, deren Gefahrlichkeit fur einen Nichtfachmann nicht zuverlässig zu beurteilen ist, jeweils die rechtlich mißbilligte Gefahr des tödlichen Ausgangs189. Im „Hackethal-Fall" hingegen ist klar, daß es keine rechtlich mißbilligte Gefahr in Richtung auf das Lebensrecht einer selbstbestimmt handelnden Patientin ist, wenn das Verhalten des Arztes dieser lediglich eine Option zum selbstbestimmten Umgang mit ihrem Leben eröffhet. In der literarischen Auseinandersetzung um die Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung sind weitere Beispiele gebildet worden, an Hand derer die Tauglichkeit des Tatherrschaftskriteriums diskutiert worden ist. Einer dieser Fälle ist der folgende: „B will seinen Selbstmord aus Versicherungsgriinden als Arbeitsunfall tarnen. Mit Geld gewinnt er den Arbeitskollegen A fur den Plan einer Totung im Hof ihrer Speditionsfirma. Zur verabredeten Tatzeit fährt A mit seinem Lkw auf ein Zeichen des B langsam los. B wirft sich, scheinbar stolpernd, unter die Räder"190. Während Reinhard Merkel diesen Fall fur „von der herrschenden Dogmatik nicht erfaßt" halt, weil „hier beide, Suizident und Teilnehmer, den point of no return gleichermaßen und völlig ebenbürtig beherrschen"191, will Roxin den 188 189
190
191
BGH, NJW 2003, 2326; OLG Nürnberg, NJW 2003, 454. Zutreffend Herzberg, NStZ 2004, 3 ff. Freilich mag man (weil auf Seiten des Außenstehenden lediglich Gefahrdungsbewußtsein besteht und es am Tötungsvorsatz fehlt, mithin nur eine Haftung nach § 222 StGB in Betracht kommt) in solchen Fallen von Fremdgefährdung (und nicht von Fremdschädigung) sprechen. Fur die Beurteilung unter dem Aspekt der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung ändert sich damit aber nichts (dazu auch 4. Teil II. 3.). Herzberg, JA 1985, 137; für Herzberg ist „völlig klar", daß sowohl A las auch B „Täter der Tötung" sind. Solche Fälle will er „in Anwendung einer eng gefaßten Mittäterschaftsdogmatik" in der Weise lösen, daß auch der Außenstehende - trotz der Eigentötungstäterschaft des Opfers - Täter einer Fremdtötung ist. Daß hier die nicht deliktische Selbstschädigung zur Komplettierung einer Fremdschädigung (auf die es tatbestandlich allein ankommt) herangezogen wird, hat Herzberg, JuS 1988, 775 zwar später selbst erkannt und deshalb von seiner früher vertretenen Auffassung Abstand genommen, allerdings ohne auf das von ihm eingeführte Beispiel zurückzukommen, so daß unklar ist, ob er sein Ergebnis auch unabhängig von seinen Überlegungen zur Mittäterschaft aufrechterhalten will. Nach seinen friiheren Ausfuhrungen ist das allerdings schwer möglich, denn wenn die Eigentötungstäterschaft des B „völlig klar" ist, dann dilrfte es schwierig sein, ohne Bezugnahme auf die mittäterschaftlichen Zurechnungsgrundsätze an der Fremdtötungstäterschaft des A festzuhalten; andererseits hat Herzberg die Ablehnung einer Strafbarkeit nach § 216 StGB friiher (JA 1985, 137) für „anstößig" gehalten. Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid, S. 79.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Fall mit Hilfe des Kriteriums der Herrschaft über den todbringenden Moment einer differenzierenden Lösung in Abhängigkeit von einer Präzislerung der Fallkonstellation zuführen: „Wirft sich B so unter die Räder, daß A nicht mehr ausweichen oder stoppen kann, ist ohne Zweifel dem B die letzte, todbringende Handlung zuzurechnen, so daß A's diesen Selbstmord vorsätzlich ermöglichende Autofahrt nur als straflose Beihilfe anzusehen ist. Wenn dagegen B sich auf die Straße legt und A ihn überfährt, ohne daß B dem noch entkommen könnte, hat A eine Totung auf Verlangen begangen"192. Das ist im Ergebnis richtig, und zwar deshalb, weil das Verhalten A's nicht mit Blick auf die Möglichkeit, daß sich B vor die Räder wirft, rechtlich mißbilligt werden kartn. Autofahren ist prinzipiell nicht mit Blick auf die Möglichkeit fremder Suizidbegehung rechtlich mißbilligt und man mag hier nur fragen, ob das Sonderwissen des A, daß nämlich B einen entsprechenden Suizid beabsichtigt, hieran etwas ändert. Dieses Sonderwissen betrifft aber nur eine quantitative Veränderung des Risikos. In seiner Qualität bleibt das Risiko unverändert, bleibt nämlich das Risiko der Ausnutzung eines Verhaltens zur Realisierung einer Selbstschädigung. Für die Beantwortung der Frage, ob A die Fahrt vornehmen darf, kommt es auf die Entscheidung des B, ob er sich nun vor die Räder wirft oder nicht, nicht an. Ein Verhalten ist nicht deshalb verbietbar, weil es Möglichkeiten der Selbstverfügung eröffhet und es ist nicht entscheidend, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß es zu einer solchen Selbstverfügung kommt. Die Erlaubtheit resultiert daraus, daß (und soweit) das ermöglichte Verhalten selbstverfiigend (und nicht defizitär) ist. Das Verhalten ist auch nicht etwa deshalb rechtlich mißbilligt, weil A im entscheidenden Augenblick die Vermeidung nicht mehr möglich ist. Denn die rechtliche Pflicht geht auch nicht dahin, sich im entscheidenden Moment zur Verhinderung von selbstschädigenden Handlungen vermeidefahig zu halten. Es ist also nicht so, daß die konkrete Opferentscheidung das Rechtsverhältnis verändert, sondern das Verhalten ist ganz ohne Rilcksicht auf die konkrete Entscheidung erlaubt, weil die Verhaltensordnung Einschränkungen der Handlungsfreiheit allein mit Blick auf die Möglichkeit der Selbstschädigung nicht vorsehen kann. Liegt B dagegen bereits auf der Straße und wird er von A trotz (zumindest anfänglich) bestehender Anhaltemöglichkeit überfahren, so verlangt die Situation eine geänderte Beurteilung: Soweit B sich noch zuverlässig in Sicherheit bringen kann, begriindet A's Verhalten fur B noch nicht das rechtlich mißbilligte Risiko des Überfahrenwerdens. Insoweit entspricht die Sachlage der im Gisela-Fall zu dem Zeitpunkt, in dem sich das Opfer noch ohne weiteres retten kann. Hat B dagegen die Möglichkeit, sich zu retten, verloren, so besteht nicht mehr die zuvor gegen die Qualifizierung als Tötungshandlung geltend zu machende Risikoabwendungsmöglichkeit. Das Zufahren auf eine hilflose Person schafft eine tötungstatbestandlich erfaßte rechtlich mißbilligte Gefahr fur das Leben, sobald A dem am BoRoxin, in: 140 Jahre GA, S. 185. Diese Überlegungen fügen sich in die von Roxin geltend gemachte ratio der Vorschrift ein, denn wenn das Opfer in einer Weise handelt, die dem Außenstehenden jede Vermeidemöglichkeit abschneidet, dann hat es die Ernsthaftigkeit seines Entschlusses dadurch demonstriert, daß es die letzte Entscheidung selbst getroffen und nicht delegiert hat.
366 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
den liegenden B so nahe gekkommen ist, daß ihm ein Anhalten oder Ausweichen nicht mehr ohne jedes Risiko möglich ist. Auch insoweit erfolgt die Lösung also parallel zum Gisela-Fall. Durch die Dynamik der Situation entsteht allerdings in Abweichung zum Gisela-Fall eine zusätzliche Schwierigkeit insofern, als es denkbar ist, daß A bereits zu einem Zeitpunkt die Macht zur Beendigung der Fahrt verliert, zu dem B sich noch ohne weiteres in Sicherheit bringen könnte. Der Verlust der Vermeidemacht auf Seiten des A ändert nun freilich noch nichts daran, daß von B zu erwarten ware, daß er das Risiko des Überfahrenwerdens selbst meistert und A's Verhalten insoweit noch nicht als lebensgefährdend zu mißbilligen ist. Aber der Verlust der Vermeidemacht besteht fort, wenn schließlich auch B die Möglichkeit, sich zu retten, verloren hat. Es ist dieser Aspekt, an den das Urteil rechtlicher Mißbilligung anknüpft: Derm das Überfahren einer hilfiosen Person ist eine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung auch dann, wenn die Hilflosigkeit daraus resultiert, daß das Opfer frühere Rettungsmöglichkeiten nicht ergriffen hat. 1st es A also rechtlich verboten, den hilfiosen B zu tlberfahren, dann ist es konsequent, auch solches Verhalten zu verbieten, mit dem sich A außer Stand setzt, das verbotene Verhalten zu vermeiden. Das Zufahren auf das Opfer unter Verlust der (sicheren) Möglichkeit, anhalten oder ausweichen zu können, ist also auch bei zunächst noch bestehender Selbst-Rettungsmöglichkeit des Opfers deshalb rechtlich mißbilligt, weil damit die Situation nicht mehr vermieden werden kann, deren Herbeifuhrung ihrerseits rechtlich mißbilligt ist, nämlich das Überfahren einer Person, die sich nicht (mehr) retten kann. Auch insoweit liegt also eine tatbestandliche Totungshandlung vor. Ein weiteres Beispiel ist als Priifstein des Tatherrschaftskriteriums von Reinhard Merkel eingefuhrt worden: „Der Arzt injiziert das tödliche Gift und sagt dem Sterbewilligen, nun seien noch fünf bis acht Minuten Zeit für rettende Gegenmaßnahmen und er, der Arzt, werde diese auch sofort einleiten, wenn ihn der Kranke nur dazu auffordere. Dieser schweigt. Der Arzt fragt noch mehrmals und halt sich zur Rettung bereit - bis der andere gestorben ist"193. Roxin lost auch diesen Fall im Ergebnis richtig, wenn er meint: „Da der Kranke auch nach der Injektion die Entscheidung über Leben und Tod in der Hand hatte, hat er erst durch seine Behandlungsablehnung, als die das Schweigen zu deuten ist, den point of no return iiberschritten"194.
193 194
Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid, S. 80. Roxin, in: 140 Jahre GA, S. 185; wohl ebenso Otto, in: FS für Lampe, S. 509 f. Freilich wird die teleologische Abstiltzung dieser Sichtweise mit Hilfe des Kriteriums der demonstrierten Emsthaftigkeit des Entschlusses hier schon problematischer, weil diese Demonstration in den sonstigen Beispielen in der aktiven Vornahme der Selbsttötungshandlung erblickt wird, was plausibel wird, wenn man gerade das selbst „Hand an sich legen" als den Schritt ansieht, den zu gehen durch die Selbsttötungshemmung besonders schwer ist. Im nun diskutierten Beispiel ist diese Schwierigkeit aus dem Weg geräumt und es dem Opfer so leicht wie nur irgend möglich gemacht, die todbringende Entscheidung zu treffen ohne die todbringende Handlung vornehmen zu müssen. Roxin diskutiert diese Frage nicht, obwohl die gewählte Art der Todesherbeiführung gerade-
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfligender Opferentscheidungen
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Die Tatherrschaftslehre trägt diese Lösung aber in Wahrheit nicht195. Die „Herrschafit ilber den todbringenden Moment" hat der Kranke deshalb nicht inne, weil er zu seiner Rettung auf den Arzt angewiesen ist. Die durch den Arzt verabreichte Giftspritze begrtlndet also dessen Handlungsherrschaft und das Opfer ist ihm, wenn man in Kategorien instrumentaler Herrschaft denkt, ausgeliefert. Das könnte nur anders sein, wenn das Opfer seinerseits den Arzt beherrscht. Eine solche Herrschaft iiber eine andere Person, wie sie nach der Tatherrschaftslehre in den Fallen mittelbarer Täterschaft durch die sogenannte Willensherrschaft begrtlndet wird196, liegt hier aber offensichtlich nicht vor, weil der Arzt in seiner Willensbildung gegeniiber dem Patienten in keiner Weise unterlegen ist. Soweit aber der Kranke den Arzt nicht in der Hand hat, ist es auch nicht zutreffend zu behaupten, er habe „die Entscheidung iiber Leben und Tod in der Hand". Nach den hier vorgeschlagenen Kriterien läge eine Fremdtötung dann vor, wenn der Arzt trotz der Ankilndigung seiner Rettungsbereitschaft durch sein Verhalten eine rechtlich mißbilligte Gefahr fur das Leben des Kranken geschaffen hätte. Bei einer solchen Fragestellung läßt sich zum einen adäquat erfassen, daß es hierflir nicht auf die Entscheidung des Opfers in ihrer (fehlenden) instrumentalen Mächtigkeit ankommt, sondern darauf, ob eine Orientierung des Arztes an dieser Entscheidung normativ erwartet werden darf und deshalb die subjektive Bereitschaft des Arztes zur Vornahme von Rettungsmaßnahmen als hinreichende Garantie dafür aufgefaßt werden kann, daß die Entscheidung tlber Leben oder Tod insoweit197 tatsächlich beim Opfer liegt. Da man die Berechtigung solcher normativer Erwartungen grundsätzlich - soweit nicht gegenteilige Anhaltspunkte vorliegen bejahen muß198 und der Beispielsfall zu diesbezüglichen Zweifeln keinen Anlaß bietet, ist das Verhalten des Arztes insoweit nicht mit Blick auf die Gefährdung des Lebens des Opfers rechtlich mißbilligt, wie die Realisierung der Todesgefahr ausschließlich von der Entscheidung des Opfers abhängig gemacht wird. Das Verhalten des Arztes ist hier also insoweit in seiner Erlaubtheit nicht von der Zustimmung des Opfers abhängig, sondern es eröffhet - soweit es allein das Risiko betrifft, daß das Opfer die Rettung verweigert - diesem eine Option fur eine selbstverfugende Entscheidung199.
195 196 197 198 199
zu auf die „Überlistung" der Selbsttötungshemmung ausgerichtet zu sein scheint. Kritisch gegen Roxin Herzberg, NStZ 2004, 7; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 53 f. So auch Herzberg, NStZ 2004, 7. Roxin, Täterschaft, S. 141 ff. Zu anderen Risiken siehe sogleich. Näher (im Kontext der „Regreßverbotsfälle") Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 274 ff. A.A. Herzberg, N S t Z 2004, 7 mit dem pauschalen Hinweis, das Verhalten des Arztes sei „Tötung" im Sinne von § 2 1 6 StGB. Unklar bleibt, warum Herzberg damit eine scharfe Grenze zu den Fallen zieht, in denen sich das Opfer der todbringenden Handlung des Außenstehenden etwa durch Verlassen des mit giftigen Dämpfen befüllten Raums entziehen könnte. Für solche Konstellationen meint Herzberg nämlich, das der Außenstehende, der den Gashahn aufdreht, das in dem Raum verharrende Opfer nicht tote (a.a.O., S. 6). Es fehlt eine Begriindung dafur, warum die (richtigerweise: normativ maßgebliche) Gemeinsamkeit der Fälle, nämlich das Fortbestehen der sicheren
368 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Man mag freilich die Frage diskutieren, inwieweit einem anderen das Erfordernis, eine solche Entscheidung zu treffen - unabhängig von der zuverlässigen Gefahrabwendungsmöglichkeit - auferlegt werden darf. Aber als tötungstatbestandlich erfaßtes Risiko kommt diesem Aspekt allenfalls im Blick auf etwaige Schwächen des Entscheidenden, die hier noch außer Betracht bleiben sollen, Bedeutung zu. Freilich liegt es nahe, das Verhalten des Arztes zwar nicht mit Blick auf das Risiko, das der Patient nicht nach der Einleitung von Rettungsmaßnahmen verlangt, wohl aber mit Blick auf sonstige, mit seinem Verhalten verbundene Risiken fur das Leben des Patienten als rechtlich mißbilligt anzusehen. Zu denken ware etwa an die Gefahr, daß die Gegenmaßnahmen aufgrund einer bestimmten Konstitution des Opfers nicht wirken. Insoweit handelt es sich allerdings um eine Konstellation der Gefährdung, bei der wiederum die Frage aufzuwerfen ist, ob ein Fall der Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Auf diese Diskussion wird zurückzukommen sein (unten 3.). Für den vorliegend diskutierten Fall ändert der Gefährdungsaspekt jedenfalls nichts an der Unverbotenheit des Verhaltens des Arztes, soweit es lediglich die Möglichkeit der Entscheidung iiber Leben und Tod fur das Opfer eröffhet. Bevor die Gefährdungsfälle behandelt werden, ist die bislang noch offen gelassene Frage zu erörtern, wo die materiellen Erwägungen zur Bedeutsamkeit der Einwilligung im Deliktsaufbau ihren Platz fmden sollten.
c) Die deliktssystematische Verortung der Einwilligung aa) Grundlagen Es ist im Vorstehenden gezeigt worden, daß mit der Einwilligung ein an sich rechtlich unerlaubtes, fremdschädigendes Verhalten durch Umgestaltung des konkreten Rechtsverhältnisses von Täter und Opfer zu einem erlaubten wird; die konkrete Zustimmung ist also die Bedingung fur die Rechtlichkeit des Verhaltens des Außenstehenden. Mit dieser materiellen Charakterisierung der Einwilligung ist aber noch nicht die davon zu unterscheidende Frage nach der deliktssystematischen Verortung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers im Falle der Einwilligung beantwortet. Der Unterschied zu den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung kann nicht etwa darin liegen, daß sich das Selbstbestimmungsrecht in unterschiedlicher Stärke Geltung verschafft - in keinem Fall kann eine Beschränkung seiner Ausiibung oder auch nur der Möglichkeit seiner Ausübung durch den Schutz der Person vor sich selbst legitimiert werden. Der Unterschied muß vielmehr darin liegen, daß die Merkmale des Verbrechensaufbaus in ihrer Stufenfolge dem Gedanken der Selbstbestimmung des Opfers in unterschiedlicher Weise Rechnung traMöglichkeit der Erfolgsabwendung in Abhängigkeit von einer Entscheidung des Opfers, nicht zur rechtlichen Gleichbehandlung fiihren soil.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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gen. Anders formuliert: welches Deliktsmerkmal durch das Selbstbestimmungsrecht des Opfers ausgeschlossen ist und ob das Selbstbestimmungsrecht den Tatbestand oder die Rechtswidrigkeit ausschließt, hängt von diesen Kategorien ab, nicht von der prinzipiellen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts fur das rechtliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer und dessen Verletzung. Der Unterschied zwischen eigenverantwortlicher Selbstschädigung und einverständlicher Fremdschädigung - fehlende Verbietbarkeit eines Verhaltens mit Blick auf die Möglichkeit einer selbstverfugenden Entscheidung auf der einen und fehlende Verbietbarkeit mit Blick auf die getroffene Entscheidung auf der anderen Seite - kann strafrechtsdogmatisch refiektiert werden, wenn es eine deliktssystematische Kategorie gibt, die zunächst noch von der konkreten Bewilligung eines (erst dann erlaubten) Verhaltens abstrahiert. Wenn nach hier vertretener Auffassung das Ergebnis - kein Unrecht einer Indiviudualgutsverletzung bei vollverantwortlich selbstverfugender Opferentscheidung - bereits feststeht, dann ist die Diskussion um die Frage, ob das Verhalten des Außenstehenden als (täterschaftliche) Verwirklichung des Tatbestandes anzusehen ist, die Diskussion um die Frage des Tatbestandsbegriffs200. Genauer geht es um die Frage, inwieweit bei der Konturierung des Tatbestandes zustimmendes Opferverhalten zu beriicksichtigen ist. Die schon klassisch zu nennende Diskussion um die Unterscheidung des tatbestandsausschließenden Einverständnisses von der Einwilligung, deren Verortung auf Tatbestands- oder Rechtfertigungsebene umstritten ist, ist also nicht etwa eine Diskussion um die rechtliche Bedeutsamkeit des Selbstbestimmungsrechts ilberhaupt, sondern eine Diskussion um die sachgerechte Bestimmung der deliktssystematischen Kategorien in Bezug auf dessen Beriicksichtigung.
bb) Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund Die auf Geerds201 zuriickgehende Unterteilung in tatbestandsausschließendes Einverständnis und rechtfertigende Einwilligung ist in jüngerer Zeit zunehmend Angriffen ausgesetzt, die darauf abzielen, die Einwilligung bereits auf Tatbestandsebene zu beriicksichtigen202. Begründet wird die tatbestandliche Relevanz der Einwilligung vor allem unter Bezugnahme auf die Rechtsgutslehre. Die Herstellung des Zusammenhanges von Einwilligung und Rechtsgut203 ist insoweit berechtigt, als die Erfullung der unterschiedlichen Tatbestände materiell eine Verletzung der durch sie geschützten Rechtsgüter voraussetzt, so daß der Ausschluß einer Rechtsgutsverletzung infolge Einwilligung die Verwirklichung von Unrecht ausschließt. 200 201 202
203
Zutreffend Kargl, JZ 2002, 394. Geerds, Einwilligung. Eingehend Roxin, AT I, § 13 Rn. 1 ff. In diesem Sinne etwa Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand, S. 65 ff.; Kühne, JZ 1979, 241 f.; Rönnau, Willensmängel, S. 116 ff.; Zipf, Einwilligung, S. 28 ff. Eingehend zur Diskussion um die unterschiedliche deliktssystematische Verortung von Einverständnis und Einwilligung anhand des jeweiligen Rechtsgutsverständnisses Rönnau, Willensmängel, S. 14 ff., auch S. 141.
370 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Über diesen Zusammenhang geht es allerdings hinaus, wenn Roxin schreibt: „Der entscheidende Grand fur die Annahme, daß jede wirksame Einwilligung den Tatbestand ausschließe, liegt in der hier entwickelten liberalen, auf das Individuum bezogenen Rechtsgutslehre"204. Diese liberale Rechtsgutslehre sieht Roxin in der nach Art. 2 Abs. 1 GG geschiitzten Handlungsfreiheit verankert, wonach Rechtsgiiter der freien Entfaltung des Einzelnen dienen und folglich durch die Ausilbung dieser Handlungsfreiheit nicht verletzt sein könnten205. Doch damit wird der Einfluß der Verfassung auf die Rechtsgutslehre und deren Verortung innerhalb der Stufen des Deliktsaufbaus überschätzt: Wenn die Verfassung - wie auch hier vertreten wird (oben 2. Teil) - die Dispositionsfreiheit im Umgang mit eigenen Gütern garantiert, so gibt sie doch nicht die leiseste Auskunft darüber, ob dieses Freiheitsrecht es verbietet, ein bestimmtes Verhalten tatbestandlich zu erfassen und seine Erlaubtheit erst durch einen Rechtfertigungsgrund sicherzustellen. Die Verfassung verlangt die rechtliche Erlaubtheit bewilligter Eingriffe in Individualrechtsgüter und macht damit eine Aussage liber den möglichen Umfang (strafrechtlich sanktionierten) Unrechts. Die technische Umsetzung der Erlaubtheit eines Verhaltens - als Tatbestandsausschließungs- oder Rechtfertigungsgrund - ist aber selbstverständlich nicht Gegenstand von Art. 2 Abs. 1 GG. Ob die Einwilligung bereits die Rechtsgutsverletzung ausschließt, ist nach alledem keine Frage, die sich aus der rechtlichen Erlaubtheit des Verhaltens beantworten läßt. Ihre Klärung setzt voraus, sich des Inhalts des Rechtsgutsbegriffs im Verhältnis zum Rechtsbegriff zu versichern. Dazu ist an die Einsichten der rechtsphilosophischen Grandlegung anzuknüpfen. Dort war aufgezeigt worden, daß sich die Rechtlichkeit eines Verhaltens an der Respektierung des je anderen in einem wechselseitigen Verhältnis der Gleichheit und Freiheit bemißt. Mit dem gegenseitigen Anerkennungsverhältnis war freilich erst ein Prinzip und nicht etwa eine konkrete Handlungsanweisung formuliert. Welches Verhalten sich innerhalb des Anerkennungsverhältnisses bewegt, hängt von den konkreten Bedingungen ab, unter denen Personen als gleiche und freie in einer bestimmten Rechtsordnung verbunden sind. Die Achtung der Willkiirfreiheit der anderen im Rahmen der allgemeinen Gesetze vollzieht sich in der sozialen Wirklichkeit also vor dem Hintergrund der Einsicht, daß Freiheit im praktischen Verhältnis von gewissen Voraussetzungen abhängig ist, die man Rechtsgüter nennen kann206. Rechtsgüter sind danach „Daseinselemente der Freiheit und werden in einem Prozeß wechselseitiger Anerkennung konstituiert"207.
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Roxin, ATI, § 13 Rn. 12. Roxin, A T I, § 13 Rn. 12, 14; ders., in: GS fur Noll, S. 275 f.; zustimmend Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 40; Vicente Remesal, in: FS fur Roxin, S. 387; Woitkewitsch, Strafrechtlicher Schutz, S. 131 f. Siehe dazu und zum Folgenden Zaczyk, Das Unrecht, S. 165 ff.; Murmann, Die Nebentäterschaft, S. 169 ff. Zaczyk, Das Unrecht, S. 165; Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 148; vgl. auch Michael Köhler, AT, S. 24 f.
II. Die angemessene Beriicksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen
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Das bedeutet zunächst, daß Rechtsgüter nicht lediglich als Bestand an Giitern gedacht werden können, die nur auf der einen Seite des Verhältnisses - beim Opfer - angesiedelt sind. Wesentlich ist vielmehr die interpersonal Konstituierung der Rechtsgiiter. Danach trifft auch das vielfach vertretene sogenannte „personale" Rechtsgutsverständnis den Punkt noch nicht, wenn es gleichsam die Beziehung der Person zu den Gegenständen in den Vordergrund riickt208. Ein solcherart reduziertes Rechtsgutsverständnis ist auch eine mögliche Basis fur die oben bereits kritisierte Auffassung, wonach sich die Einwilligung zumindest im Sinne eines dolus eventualis auch auf den Erfolgseintritt beziehen müsse. Konstituiert man nämlich den Rechtsgutscharakter einer Sache durch deren freiheitserweiternde Beziehung auf die Person, dann bezieht sich auch die Einwilligung auf dieses Verhältnis der Person zur Sache und sie ist in diesem Sinne „ein Instrument, von dem Selbstbestimmungsrecht im Umgang mit eigenen Giitern Gebrauch zu machen"209. Dann liegt es nahe zu fordern, daß der Gutsinhaber mit der Preisgabe des Gutes einverstanden, den Erfolgseintritt also zumindest billigen miisse. „Denn derjenige, der auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut, verwendet das Gut gerade nicht zu eigenen Zwecken"210. In einem solchen „personalen" Rechtsgutsverständnis liegt freilich insoweit ein deutlicher Fortschritt, als die Freiheitsrelevanz der in Bezug genommenen Gegenstände für den Rechtsgutsträger zum ausschlaggebenden Kriterium gemacht wird211. Der darin eigentlich schon angelegte Schritt zu einer interpersonalen Begriindung von Rechtsgiitern wird dann aber noch ausgelassen, wenn einseitig das Freiheitspotential bestimmter Elemente äußerer Wirklichkeit fur das Opfer in den Blick genommen wird. Eine solche Einseitigkeit kann aber noch nicht richtig sein, denn sie schließt es nicht aus, Freiheitsanspriiche auf Kosten der anderen geltend zu machen. Die Begrenzung der Freiheit im Umgang mit bestimmten Gegenständen muß also im Begriff des Rechtsguts bereits berücksichtigt sein. Als Ausschnitt eines Rechtsverhältnisses wird das Rechtsgut erst dann begriffen, wenn iiber die Bedeutsamkeit eines Gegenstandes fur individuelle Freiheitsentfaltung auch die Wechselseitigkeit des Verhältnisses, in dem sich Freiheit verwirklicht, in den
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Michael Marx, Rechtsgut, S. 6 4 ; Otto, in: F S für Geerds, S. 610. Daran ändert sich auch nichts durch das von Rönnau, Willensmängel, S. 69, 85 ff. vertretene „Basismodell", wonach die tatbestandlich geschützten Gegenstände „nicht nur als Bezugs- und Begrenzungspunkte fur den Willen, sondern als Speicher für zukünftige Handlungsoptionen fungieren". Rönnau, Willensmängel, S. 191 f. So Rönnau, Willensmängel, S. 191 f, auch S. 194. Siehe Olaf Hohmann, G A 1992, 77 f.; Jakobs, AT, 2/14; Michael Marx, Rechtsgut, S. 62; Otto, Rechtsgutsbegriff und Deliktstatbestand, S. 6; Rönnau, Willensmängel, S. 85 f.
372 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Blick genommen wird212. Erst die aus dem Verhältnis wechselseitiger Freiheit als richtig eingesehene Anerkennung von Medien möglicher Entfaltung begründet deren Rechtsgutsstatus. Man kann auch sagen: Die Achtung der Summe der Rechtsgiiter ist stets auch die rechtlich geforderte Achtung der Rechtsperson. Man sieht leicht, daß der Rechtsgutsbegriff in diesem Verständnis213 nicht die Funktion der Abgrenzung vom Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen tragen kann214, sondern lediglich einen bestimmten Ausschnitt aus dem rechtlichen Verhältnis kennzeichnet, das seinerseits noch nicht zwischen strafrechtlich relevanten und den Rechtsbeziehungen nach der Primärordnung differenziert215. Der Rechtsgutsbegriff hat danach keine begründende, sondern lediglich eine die verschiedenen Dimensionen des Rechtsverhältnisses ausdifferenzierende Funktion216. Man kann auch sagen: Die Achtung der Summe der Rechtsgüter begründet stets die Rechtlichkeit des Verhaltens217. Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis ist allerdings auch mehr als die Summe seiner Entfaltungen in die einzelnen Daseinselementen. Wenn es nämlich bei der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs darum geht, die einzelnen „Daseinselemente der Freiheit" zu erfassen, dann ist es sinnvoll, diesen Begriff nicht mit der ganzen Komplexität des Anerkennungsverhältnisses zu belasten und also solche Bedingungen, bei deren Vorliegen der Eingriff in ein konkretes Daseinselement ausnahmsweise mit dem Anerkennungsverhältnis in Einklang steht, nicht zur Konturierung des jeweiligen Rechtsguts heranzuziehen. Es ist also sachgerecht, die Rechtfertigungsgrlinde nicht als Begrenzungen der einzelnen Rechtsgüter zu begreifen, sondern sie auf einer zusätzlichen Ebene anzusiedeln, auf der die Verletzung eines Rechtsgutes bereits vorausgesetzt, aber noch nicht abschließend über
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Otto, Rechtsgutsbegriff und Deliktstatbestand, S. 8; ders., in: F S für Geerds, S. 6 1 0 erweitert seine Bestimmung durch das Erfordernis der Anerkennung durch die Rechtsordnung, womit das normativ-interpersonale Problem gekennzeichnet, aber die M a ß stäbe fur seine Lösung zwar formal, aber noch nicht material angesprochen sind. Freilich ist die Möglichkeit eröffnet, von dem Rechtsgut das „Strafrechtsgut" zu unterscheiden, d a s einen in bestimmter Art qualifizierten Ausschnitt a u s d e m Anerkennungsverhältnis bezeichnet. Vgl. auch Hirsch, in: FS für Welzel, S. 785; Roxin, A T I, § 2 Rn. 14. Die kritische Funktion kommt - wie hier aufgezeigt - in einem an der personalen Freiheit entwickelten Prinzip von Recht zum Tragen, d a s in der Verfassung als Maßstab fur die Kontrolle des einfachen Rechts positiv Geltung erhalten hat; der Rechtsgutsbegriff erfüllt nur eine konkretisierende und differenzierende Funktion. In diesem Sinne ist es berechtigt, wenn die Leistungsfahigkeit und Legitimation einer kritischen Funktion d e s Rechtsgutsbegriffs bestritten wird (so von Appel, Verfassung und Strafe, S. 333 ff; Lagodny, Grundrechte, S. 145 ff). Er erfullt in dieser Eigenschaft eine Einteilungsfunktion fur die verschiedenen strafrechtlichen Tatbestände; vgl. etwa Jescheck/Weigend, AT, S. 259. Dabei handelt es sich um eine hinreichende, nicht aber um eine notwendige Bedingung der Rechtlichkeit des Verhaltens (denn es bleibt - wie sogleich zu zeigen sein wird noch die Möglichkeit des rechtmäßigen Eingriffs in Rechtsgüter [nämlich bei Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes]).
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen
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das Vorliegen einer Verletzung des Rechtsverhältnisses entschieden ist. Dieses Konzept ist im gängigen dreistufigen Deliktsaufbau verwirklicht. Die Begründung der Rechtsgüter aus dem Anerkennungsverhältnis würde die gegenteilige Sichtweise prinzipiell zulassen, denn das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes prägt das konkrete interpersonale Verhältnis in dem Sinne, daß bestimrnte äußere Verletzungen als erlaubte die rechtlich garantierte Freiheit des Verletzten nicht herabdriicken und das gegenseitige Anerkennungsverhältnis folglich nicht beeinträchtigen. Das Rechtsgut ware bei dieser Sichtweise insgesamt als ein Verhältnis der Rechtlichkeit bezogen auf ein bestimmtes Daseinselement der Freiheit zu umschreiben. Damit wiirde aber die Konkretisierungsleistung bezogen auf bestimmte Dimensionen des Daseins von Freiheit teilweise verloren gehen; die Konturierung der Rechtsgilter wiirde von einer komplexen Situationsbestimmung abhängen, in die insbesondere auch Ausnahmesachverhalte einzubeziehen wären2'8. Beispielhaft: Ware etwa ein Eingriff in die körperliche Integrität durch das Vorliegen der Notwehrvoraussetzungen gerechtfertigt, dann ware die körperliche Integrität (in dem Rahmen, in dem die Verletzung erlaubt ist) bei einem die Rechtfertigung einbeziehenden Rechtsgutsbegriff kein Rechtsgut, weil unter diesen Bedingungen der Erhalt der körperlichen Integrität gerade nicht mehr zum Bestand rechtlich geschiltzter Freiheit gehören würde. Im Interesse der Möglichkeit, die unterschiedlichen Daseinselemente der Freiheit unabhängig von bestimmten Ausnahmesituationen begrifflich festzuhalten, ist es also sinnvoll, den Rechtsgutsbegriff entsprechend zu beschränken. Das gilt jedenfalls für solche Rechtfertigungsgründe, die nach der am dreistufigen Deliktsaufbau orientierten Strafrechtsdogmatik unstreitig auf Rechtfertigungsebene zu thematisieren sind. Noch nicht entschieden ist damit iiber die Behandlung der Einwilligung. Wenn hier vielfach vertreten wird, sie schließe bereits die Rechtsgutsverletzung aus, so bedeutet dies am Beispiel: 1st ein Eingriff in die körperliche Integrität infolge einer Einwilligung erlaubt, dann ware die körperliche Integrität für eine Auffassung, die diese Erlaubnis bei der Konturierung des Rechtsguts berilcksichtigt, in dem durch die Einwilligung bewilligten Rahmen kein Rechtsgut. Auch hier fiihrt also die Einbeziehung der Einwilligung dazu, daß „körperliche Integrität" nicht mehr generell als Rechtsgut bezeichnet werden könnte. Hinter solchen Konzeptionen steht vielfach der Gedanke, daß Rechtsgilter nicht etwa einen Bestand freiheitsrelevanter Positioner! umschreiben, die diesen Charakter zunächst einmal unabhängig davon innehaben, wie der Rechtsgutsträger diesen Freiheitsbezug realisiert, sondern die Dispositionsmacht wird bereits als Teil des Rechtsguts aufgefaßt oder ist sogar selbst das Rechtsgut, so daß mit der Einwilligung nicht etwa ein Rechtsgut zur Verletzung freigegeben wird, sondern das Gut als Rechtsgut seine Existenz verliert. So heißt es bei Rudolphi: „Rechtsgut und Verftlgungsbefugnis ilber das Rechtsgut bilden nicht nur eine Einheit, sondern
Siehe dazu Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 154 ff. und - in kritischer Wiirdigung der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen - Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem§§ 13 ff. Rn. 17 f.
374 Tei! 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Verfiigungsgegenstand und Verfiigungsbefugnis sind in ihrem Aufeinanderbezogensein selbst das im Tatbestand geschiltzte Rechtsgut"219. Es wurde oben schon gezeigt, daß diese auch von Roxin vertretene These220 sich nicht auf verfassungsrechtliche Vorgaben berufen kann. Da das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung noch nicht iiber die Rechtswidrigkeit des Verhaltens abschließend entscheidet, ist es eine Frage sinnvoller Begriffsbildung221, ob der 219
Rudolphi, Z S t W 86 (1974), 87; in diesem Sinne auch Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 6 3 , 65 (wobei dann unklar bleibt, warum Heinrich [a.a.O., S. 131, 187 f.] den Unrechtsausschluß bei der Einwilligung nicht mit dem Fehlen einer Rechtsgutsverletzung begriindet, sondern mit dem v o n ihm herausgestellten [S. I l l ff.] Aspekt des fehlenden Verstoßes gegen einen „strafrechtlichen Verhaltensappell); Roxin, A T 1, § 13 Rn. 14; ders., in: G S fur Noll, S. 2 7 5 ; Schmidhäuser, Lehrbuch, 8/123. In Anlehnung an Rudolphi auch Rönnau, Willensmängel, S. 88 ff. {ders., Jura 2002, 597), nach dessen „Basismodell" es fur die Rechtsgutsmodellierung zwar nicht auf den Willen des Rechtsgutsinhabers (S. 9 1 , 112), wohl aber auf das Fehlen eines zustimmenden Willens a n k o m m e (S. 129 ff.), so daß er der Einwilligung eine die Rechtsgutsverletzung ausschließende Wirkung zuerkennt (S. 95, 124 f ) . (In Wahrheit wird aber auch nach dieser Auffassung fur die Konturierung der Rechtsgilter der [potentielle] Wille der Inanspruchnahme der in einem Gut gespeicherten Handlungsmöglichkeiten vorausgesetzt. D e n n mit der Annahme, die Einwilligung sei gerade eine mögliche Inanspruchn a h m e dieser Handlungsmöglichkeiten [weshalb es bei Vorliegen einer Einwilligung an einer Rechtsgutsverletzung fehle, S. 161] ist noch nicht erklärt, warum auch der mit der Preisgabe des Gutes verbundene Verzicht auf die weiteren Möglichkeiten einer Inanspruchnahme der mit diesem Gut verbundenen Handlungsfreiheiten einer Rechtsgutsverletzung entgegenstehen soil. Dies wird erst plausibel, wenn der Einwilligende nicht n u r mit der Preisgabe des Gutes eine der in diesem Gut „gespeicherten" Handlungsmöglichkeiten ergreift, sondern zugleich auf die anderen Handlungsmöglichkeiten verzichtet - was n u r dann eine Rechtsgutsverletzung ausschließen könnte, wenn der potentielle Wille zum Ausschöpfen weiterer Handlungsmöglichkeiten schon z u m Rechtsgut gehört.) Ähnlich auch Stratenwerth, Z S t W 68 (1956), 4 2 f.; ders./Kuhlen, A T I, § 9 Rn. 5, der aber die Einwilligung dennoch als Rechtfertigungsgrund behandelt. Eine Rechtsgutsverletzung liegt nach dieser Konzeption also erst bei einem tatbestandsmäßigen u n d rechtswidrigen Verhalten vor, was fur die Einwilligung bedeutet, daß ihr Vorliegen auf Rechtfertigungsebene eine Rechtsgutsverletzung ausschließt (Stratenwerth/Kuhlen, A T I, § 9 Rn. 9). Unter Aspekten sinnvoller Begriffsbildung scheint es aber nicht gelungen, einen solchen, die Rechtswidrigkeit einbeziehenden Begriff des Rechtsguts zu bilden; dazu schon oben im Text. Einen „Widerspruch zu seiner Rechtsgutskonzeption" (so Rönnau, Willensmängel, S. 56) wird man Stratenwerth wegen seiner Verortung der Einwilligung auf Rechtfertigungsebene dagegen nicht vorwerfen können.
220
Roxin, AT I, § 13 Rn. 14; ders., in: GS fur Noll, S. 279 f. Dazu, daß es nur um ein Definitionsproblem geht (das folglich auch fur die Beantwortung materialer Fragen nicht präjudiziell sein kann) zutreffend Perron, Rechtfertigung, S. 107; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 59 f. Nach Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 470 Fn. 34, gilt dies auch fur die Verortung des nach seiner Auffassung fur das Unrecht von § 216 StGB maßgeblichen Kriteriums des Schutzes vor Voreiligkeiten. Fehlt jeder Bedarf an einem solchen Schutz, so könne dies entweder als
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II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Rechtsgutsbegriff bei den Individualrechtsgiltern durch das Nichtvorliegen einer Einwilligung charakterisiert wird222. Die stärkeren Argumente sprechen gegen ein solches Verständnis. Denn es scheint nicht sinnvoll, das klarstellende Potential zu vergeben, das in der Markierung der grundsätzlich - vor der Verfugung - bestehenden Rechtsposition (und deren Verletzung) liegt223. Gegenüber der zunächst bestehenden Verfugungsmacht ist die konkrete Verfügung nämlich bereits in dem Sinne eine (Selbst-) Beschränkung, als sich in ihr nur ein Ausschnitt aus der ursprtlnglichen Macht (die auch die Nicht-Verfügung und unter Umständen eine Vielzahl weiterer Optionen umfaßt) zeigt. Die rechtswirksame Einwilligung bestätigt recht besehen diese urspriingliche Mächtigkeit der Person; der rechtsändernde Wille setzt gerade die prinzipielle Unantastbarkeit des Gutes, dessen Verletzung bewilligt wird, voraus. Auch in der Bewilligung ist also die gegenteilige Option nicht schlechterdings preisgegeben, sondern in ihrer grundsätzlichen Unantastbarkeit gerade noch einmal bestätigt. In dem konkreten Anerkennungsverhältnis bleibt das Gut - auch soweit seine Verletzung bewilligt ist - doch anerkannt. So bleibt z.B. der Körper unabhängig von der Bewilligung seiner Verletzung in einem ersten Schritt doch fur den Menschen die „Bedingung der Möglichkeit aller seiner Äußerungen"224 und wird erst in einem zweiten Schritt durch eine solche Äußerung in seinen Möglichkeiten beschränkt. Diese Zweistufigkeit läßt sich nicht mehr dezidiert erfassen, wenn die Einwilligung bereits das Rechtsgut konturiert (und dementsprechend die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt). Gegen eine Berücksichtigung der Einwilligung bereits bei der Konturierung des Rechtsguts - also auf Tatbestandsebene — machen sich deshalb die Argumente geltend, die sonst gegen die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen erhoben werden: es macht einen normativ erst einmal festzuhaltenden Unterschied, ob man eine Fliege verletzt, oder einen Menschen mit dessen Einwilligung. Hier wie auch bei den anderen Rechtfertigungsgriinden geht es also um das Vorliegen besonderer Umstände, die in ihrer normativen Bedeutung das konkrete Rechtsverhältnis umgestalten. Daran, daß eine Dimension von Freiheit tangiert wird und mit der Verwirklichung des bewilligten Verhaltens möglicherweise an-
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Tatbestandsausschluß oder als Rechtfertigungsgrund interpretiert werden. Der Wortlaut des Gesetzes, wonach auch das ernsthafte Verlangen den Tatbestand nicht ausschließt, ist mit der Tatbestandslösung freilich nicht ohne weiteres kompatibel. Explizit für die Tatbestandslösung nun aber Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 29 (zu gewissen Modifikationen seiner Auffassung als Hintergrund hierfiir siehe noch unten IV. 2. a) aa) (4)). E s ist deshalb auch nicht richtig, wenn Rönnau, Willensmängel, S. 20; ders., Jura 2002, 596 ff. meint, das Zentralproblem fur das Verständnis der Einwilligung sei das Rechtsgutsverständnis - auch das „Rechtsgut" ist gewissermaßen nur ein Zwischenbegriff; entscheidend ist das Rechts\erständnis. Ähnlich Kargl, JZ 2002, 394; Stratenwerth/Kuhlen, AT I, § 9 Rn. 9. Die Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund hat folglich nicht (notwendig) etwas mit der Vorstellung zu tun, dem Verfugungsgegenstand komme ein von seinem Träger gelöster Eigenwert zu (so aber Vicente Remesal, in: FS für Roxin, S. 382, 386, 387 f.) Zaczyk, Das Unrecht, S. 168.
376 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens dere Optionen endgültig untergehen, ändert die Bewilligung gerade nichts und auch der, der sich im Einklang mit dem konkreten, durch die Bewilligung geformten Verhältnis weiß, weiß sich doch aufgrund der Bewilligung in einem besonderen Recht. Nichts anderes findet in der Einwilligung - die ja gerade den Ausnahmecharakter der Eingriffsberechtigung hervorhebt - seinen Ausdruck. Auch im konkreten Interpersonalverhältnis, wie es durch die Einwilligung gestaltet wird, ist doch als Grundsachverhalt immer die Unverletzlichkeit der konkreten Dimension mitgedacht. Eine Beriicksichtigung der Einwilligung erst auf Rechtfertigungsebene - und damit die Irrelevanz der Einwilligung fur die Konturierung des Rechtsguts - fiihrt auch nicht in einen Widerspruch zu einem Recht, das auf der Autonomie der Beteiligten griindet225. Derm der Rechtsgutsbegriff, dem im Verbrechenssystem die Tatbestandsmäßigkeit korrespondiert226, abstrahiert - wie gezeigt - von gewissen Bestimmungen des Anerkennungsverhältnisses und es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, von welchen Bestimmungen zunächst noch abgesehen wird. Dann macht es aber Sinn, die freiheitsrelevanten Dimensionen des Daseins in ihrer prinzipiellen Schutzwürdigkeit erst einmal als Rechtsgiiter festzuhalten, um so den Fall der im Einklang mit dem Anerkennungsverhältnis stehenden Schädigung um so deutlicher abzuheben227. Freilich kann diese Konzeption nicht übersehen, daß das positive Recht in zahlreichen Tatbeständen das sogenannte Einverständnis als Tatbestandsausschluß ansieht (oder eine entsprechende Interpretation auch unter den Befurwortern der Rechtfertigungslösung zumindest diskutiert wird228) und damit folglich die Willenswidrigkeit fur die Rechtsgutsverletzung voraussetzt. Hierfilr gibt es bei einer ganzen Reihe von Tatbeständen gute Griinde; ob die Abgrenzung stets überzeugend gelungen ist, mag hier dahinstehen, wenn man im Blick behält, daß etwaige sachliche Unterschiede - auch was die gestellten Anforderungen an die Wirksamkeit von Einverständnis und Einwilligung anbelangt - nicht von der Rubrizierung, sondern von normativen Erwägungen abhängen229. Gute Gründe dafür, die Willensbildung 225
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So aber Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, S. 570. Freilich wird verschiedentlich die Berücksichtigung der Einwilligung erst auf Rechtfertigungsebene mit „der Bedeutung auch des Individualrechtsguts als objektivem Wert der Gemeinschaft" begriindet, was gegen eine „Subjektivierung des Rechtsgutsbegriffs" spreche (Jescheck/ Weigend, AT, S. 375). Aber auch hier zeigt sich, daß es nicht die Einordnung im Deliktsaufbau, sondern die hierfur gegebene Begrilndung ist, mit der die Autonomie unzureichend bemcksichtigt wird. Näher zu diesem Zusammenhang etwa Rönnau, Willensmängel, S. 121 ff. So auch Michael Köhler, AT, S. 243 f. Ein Befund, aus dem Rönnau, Willensmängel, S. 156 f. die mangelnde Paktikabilität der Differenzierungslösung ableiten will. A.A. z.B. Geppert, ZStW 83 (1971), 959 mit Fn. 57; Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 39 („höchst folgenreiche Unterscheidung") und S. 42 f; Jescheck/Weigend, AT, S. 375. Wie hier dagegen etwa Mitsch, Rechtfertigung, S. 161; Roxin, A T I, § 13
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfllgender Opferentscheidungen
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des Opfers bereits bei der Konturierung des Rechtsguts zu beriicksichtigen, gibt es insbesondere dort, wo die Freiheitsrelevanz eines Gutes gerade auch in der Möglichkeit willkürlicher Preisgabe der Gutsobjekte liegt230. So liegt die freiheitserweiternde Dimension des Eigentums nicht zuletzt in der Möglichkeit der Übertragung der einzelnen Gutsobjekte, denn diese Möglichkeit gehört zur Realisierung des Tauschwerts der Eigentumsobjekte. Es ist deshalb sachgerecht, insoweit die Willensrichtung des Eigentfimers be-
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Rn. 30; Rönnau, Willensmängel, S. 182 f.; Schlehofer, Einwilligung, S. 83; Stratenwerth, AT I, § 9 Rn. 11. Die vielfach aufgestellte Behauptung (vgl. etwa Wessels/Beulke, AT, Rn. 367), fur das Einverständnis sei nur der natiirliche Wille entscheidend und nicht die fur die Einwilligung formulierten zusätzlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen, ist also allenfalls eine Faustformel, die nur soweit Gilltigkeit hat, wie sie normativ berechtigt ist (siehe Arzt, Willensmängel, S. 10 ff.; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 100; Jescheck/Weigend, AT, S. 374). Welche Wirksamkeitsvoraussetzungen ein Einverständnis erfllllen muß, hängt nicht von allgemeinen Erwägungen, sondern von dem jeweils geschützten Rechtsgut und von der Funktion und der Fassung des jeweiligen Tatbestandes des Besonderen Teils, insbesondere von dem Tatbestandsmerkmal, dessen Erflillung durch die Zustimmung des Opfers ausgeschlossen werden kann, ab (vgl. Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 100; Kühl, AT, § 9 Rn. 44; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 32; Zipf, Einwilligung, S. 15 ff.). Nicht überzeugend, weil die Typisierungsleistung des Tatbestandes nicht hinreichend beachtend, ist dagegen der Abgrenzungsvorschlag von Mitsch, Rechtfertigung, S. 162 f, auch S. 424, demzufolge die Einwilligung bereits den Tatbestand ausschließe, wenn der Rechtsgutsinhaber kein „Rechtsgutserhaltungsinteresse" hat. An einem solchen Interesse fehle es, „wenn der Einwilligung keine interne Interessenabwägung vorausgeht". Damit verläuft die Grenze zwischen tatbestandsausschließender und rechtfertigender Einwilligung quer zu den Tatbeständen; es fehle z.B. das Rechtsgutserhaltungsinteresse, wenn sich ein Grundstückseigentümer von dem Gartner den Rasen mähen läßt (schon keine Erfullung des Tatbestandes von § 303 StGB). Zudem wird die Grenze unscharf (vielleicht wägt der Grundstückseigentümer das Interesse an einem gepflegten Rasen mit einem gleichfalls vorhandenen Interesse an einer naturbelassenen Wiese ab - Grundsätzlicher: kommt es auf die wirklich vorgenommene Interessenabwägung [und damit auf Interna des Entscheidenden] oder auf typischerweise vorzunehmende Interessenabwägungen an? - Mitsch scheint fur das erstere zu votieren, vgl. a.a.O., S. 424 mit Fn. 11). Hintergrund dieser, im System der Tatbestände nicht reflektierten Unterscheidung ist das Bemühen, eine einheitliche Rechtfertigungskonzeption zu entwickeln, bei der das Problem der Interessenkumulation im Mittelpunkt steht (vgl. Mitsch, a.a.O., S. 163 f.) (die Geschlossenheit der Rechtfertigungskonzeption geht also gewissermaßen auf Kosten der typisierenden Kraft der Tatbestände). Unklar bleibt schließlich die Vereinbarkeit der so verstandenen tatbestandsausschließenden Einwilligung mit Mitschs eigenem Tatbestandsverständnis (a.a.O., S. 169: „In die Interessenabwägung des Gesetzgebers, die ilber die Errichtung eines Straftatbestandes entscheidet, fließen nur solche Gegeninteressen ein, die mit der Verwirklichung des zu schaffenden - oder wegen Überwiegens der Gegeninteressen nicht zu schaffenden - Tatbestands zwangsläufig verbunden sind und deren Befriedigung daher immer durch das Tatbestandsverwirklichungsverbot verhindert wird, wenn die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes nicht erfullt sind.").
378 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens reits bei der Konturierung des Rechtsgutes zu beriicksichtigen und auf die Formulierung einer Verhaltensnorm, die das Ansichnehmen fremder Gegenstände verbietet, zu verzichten. Dies ist beim Diebstahl nach § 242 StGB geschehen, wo die geschiitzte Verfugungsbefugnis231 bei Preisgabe des Eigentumsobjekts nicht verletzt wird. Wenn fur die Sachbeschädigung nach § 303 StGB, die ebenfalls das Eigentum schiitzen will, nach dem Wortlaut des Tatbestandes eine andere Lösung nahe gelegt wird, so läßt sich die Differenzierung offenbar nicht mit dem (insoweit gleichen) Schutzobjekt, sondern nur durch den Inhalt der Verfügung ilber das konkrete Eigenrumsobjekt erklären. Zwar steht außer Frage, daß der Eigentümer nach § 903 BGB mit der Sache „nach Belieben" verfahren, sie also auch beschädigen oder zerstören (lassen) kann; entsprechende Verfugungen gehören zu seiner Willkürfreiheit232. Gleichwohl betrifft die Einwilligung in Beschädigung oder Zerstörung eines Eigentumsobjekts nicht den typischerweise freiheitsmehrenden Zuweisungsgehalt des Eigentums. Beschädigungen oder Zerstörungen fremder Eigentumsobjekte fllhren im Gegenteil regehnäßig zu Minderungen des Freiheitsstatus des Eigentiimers. Es bleibt deshalb auch hier zur Hervorhebung des Ausnahmecharakters rechtmäßiger Sachbeschädigung durchaus sinnvoll, in einem ersten Schritt den Bestand der Eigentumsobjekte noch ohne Rilcksicht auf den Beschädigungs- oder Zerstörungswillen des Berechtigten als Rechtsgut festzuhalten und dort, wo die Bewilligung ausnahmsweise zu einer abweichenden Gestaltung des konkreten Anerkennungsverhältnisses fuhrt, diesen Befund auf Rechtfertigungsebene zu beriicksichtigen. Damit ist auch nicht etwa ein (abwertendes) Urteil tlber die (fehlende) Sinnhaftigkeit bewilligter Sachbeschädigungen gefällt233, sondern es ist lediglich eine gewisse Typik hervorgehoben, fur deren Spiegelung es in der Systematik von Tatbestand und Rechtswidrigkeit gute Grilnde gibt. Ob das eigentumsverletzende Unrecht der Sachbeschädigung verwirklicht ist, entscheidet sich schließlich erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß auch selbstverfugende Entscheidungen, mit denen das Opfer einer (zunächst) bestehenden Garantenpflicht ihr Ende setzt (insbesondere also bei Zurückweisung einer Behandlung, zu der der Arzt nach seinem zum Patienten bestehenden Verhältnis verpflichtet ware), bereits die Tatbestandsverwirklichung ausschließen soilten234. Das ist deshalb sachgerecht, weil die Verletzung ihre Typik hier gerade in Abhängigkeit von der Gestalt des rechtlichen Verhältnisses erhält, die ihr die Beteiligten geben. Auch das Verhältnis des Patienten zum Arzt ist nicht durch eine umfassende Behandlungs- oder Lebenserhaltungspflicht gekennzeichnet, sondern es erhält seine Typik - gerade dort, wo der 231 232
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Siehe Eser, in: Schönke/Schröder, § 242 Rn. 1. Deshalb wird vielfach fur einen Tatbestandsausschluß bei zustimmendem Opferverhalten votiert; so Gropengießer, J R 1998, 91 f.; Zaczyk, in: N K , § 303 Rn. 2 1 . So Gropengießer, JR 1998, 92. Siehe dazu Murmann, JuS 1998, 631 f.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Patient etwa schwer leidend und sterbewillig ist - erst durch die bestehende Vereinbarung. Die Entscheidung des Opfers hebt hier nicht ein „an sich" bestehendes Verbot auf, sondern sie modifiziert ein Verhältnis, das von dieser Entscheidung immer schon abhängt. Damit ist - als Problem sinnvoller Kategorienbildung - geklärt, daß die von den Tatbeständen in Bezug genommenen Rechtsgtiter nicht immer durch die konkret beteiligten Personen konturiert werden, sondern vielfach die typischerweise freiheitskonstituierenden Verhältnisse zugrundegelegt werden. Die unterschiedliche Behandlung zustimmenden Willensverhaltens wird durch die positivrechtlichen Tatbestände vorgegeben, die damit die Aufgabe erfullen, typischerweise rechtsverletzendes Verhalten zu markieren. Das entscheidende normative Datum, ob ein Verhalten schließlich das Rechtsverhältnis verletzt oder nicht, ist aber nicht davon abhängig, auf welcher Ebene im Deliktsaufbau dem zustimmenden Willensverhalten Bedeutung zukommt.
3.
Die Fälle der eigenverantwortlichen Selbst- und der einverständlichen Fremdgefährdung
a) Die vorfindlichen Bemühungen um die Abgrenzung derFälle der Gefährdung gegen die der Schädigung Eine Abgrenzung der (Selbst- bzw. Fremd-) gefahrdung gegen die (Selbst- bzw. Fremd-) schädigung wird kaum einmal explizit thematisiert235, sondern regelmäßig in ihrer Plausibilität, gestützt durch die Wahl „eindeutiger" Beispielsfälle, vorausgesetzt. Dabei kann der Unterschied nicht darin liegen, daß im einen Fall „nur" eine Gefahrdung, im anderen Fall dagegen ein Schadenseintritt vorliegt. Denn einerseits ist auch die Schädigung im Handlungszeitpunkt „nur" eine Gefahrdung236 und andererseits liegt auch im Begriff der Gefahrdung schon die Potentialität zur Schadensrealisierung237. Die Abgrenzung zielt auch nicht auf eine Betrachtung ex post, denn normative Relevanz fur das Verhalten des Außenstehenden kann diese Abgrenzung allenfalls entfalten, wenn sie bereits fur den Handlungszeitpunkt eine Aussage iiber dieses Verhalten bzw. die Qualität des (antizipierten) Opferverhaltens erlaubt, also bereits ex ante feststeht, ob eine Fremdschädigung oder -gefahrdung vorliegt bzw. sich die Beteiligung auf eine Selbstschädigung oder -gefahrdung bezieht. Geht es so gesehen in jedem Fall um gefährdendes Verhalten, ware eine Abgrenzung nach objektiven Kriterien allenfalls noch nach dem Grad der Gefahrdung möglich. Tatsächlich scheint die h.M. den Grad der Gefahrdung für einen
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Dazu kritisch auch Otto, in: FS für Tröndle, S. 169. Zutreffend Prittwitz, N J W 1988, 2942. Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 339 mit Fn. 839.
380 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
abgrenzungswesentlichen Gesichtspunkt zu halten238. Allerdings wird sich ein schädigendes Verhalten nicht durch eine konkret bestimmbare Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts auszeichnen, sondern wohl eher dadurch, daß es als ein sinnvolles Programm zur Herbeifuhrung des Erfolges aufgefaßt werden kann239. Umgekehrt gehören danach solche Verhaltensweisen in den Bereich der Gefährdung, deren Vomahme man nicht als sinnvolles Programm zur Erfolgsherbeifuhrung begreifen kann. Gefahrdungen wird damit bei sozialer Betrachtung nicht der Sinngehalt der Schädigung beigemessen, sondern das Schadensrisiko haftet hier lediglich einer Handlung an, die ihren sozialen Sinn aus anderem bezieht, etwa aus der Vornahme sportlicher Aktivitäten oder der Herbeifiihrung von „Nervenkitzel". Diese Abgrenzung deckt sich regelmäßig mit der subjektiven Einschätzung von Opfer und Täter. Wer sich selbst oder einen anderen schädigen will, wird nach einem Programm vorgehen, das diese Zweckverwirklichung möglichst sicherstellt. Die Schädigung wird demnach durch einen entsprechenden „Schädigungsvorsatz" gekennzeichnet, während die an einer Gefahrschaffung Beteiligten regelmäßig auf das Ausbleiben des Gefahrerfolgs vertrauen werden. Aber zwingend ist diese Übereinstimmung von sozialem Sinn und subjektiver Einstellung der Beteiligten keinesfalls. Die subjektive Einstellung des Opfers und/ oder des Täters zum möglichen Eintritt des Erfolges muß sich nicht notwendig mit dem Sinngehalt decken, den eine soziale Betrachtung dem Verhalten beimißt. Konkret: eine Gefahrschaffung, die gegeniiber anderen Möglichkeiten der Erfolgsherbeifuhrung eine deutlich geringe Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts begriindet, kann von den Beteiligten oder zumindest von einem der Beteiligten gleichwohl mit dem Ziel der Schädigung inszeniert werden. Umgekehrt mag es auch bei der Schaffung sehr großer Gefahren, die als sinnvolles Programm einer Schädigung anzusehen wären, vorkommen, daß das Opfer und/oder der Täter wider alle Wahrscheinlichkeit auf ein Ausbleiben des Erfolges vertrauen240. Diese Einsicht entspricht der, die auch in der Abgrenzung der vorsätzlichen von der fahrlässigen Deliktsbegehung reflektiert wird, wo gleichermaßen rechtlich mißbilligte Risikoschaffungen je nach subjektiver Tatseite die Tatbestände eines Vorsatz- oder eines Fahrlässigkeitstatbestandes erfüllen können. Das legt die Frage nahe, ob die subjektive Einschätzung der Beteiligten auch fur die Abgrenzung der Sachverhalte der Schädigung und der Gefährdung im hier diskutierten Kontext 238 239
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Siehe Helgerth, NStZ 1988, 262. Entsprechend d e m Kriterium der „Vorsatzgefahr" v o n Puppe, Vorsatz u n d Zurechnung, S. 39; dies., Z S t W 103 (1991), 15, 41 f. In den normativen Konsequenzen entspricht dies der Auffassung von Dölling, G A 1984, 92, der in Fallen, in denen „die Lebensgefahr so hoch (ist), daß die Tat praktisch einer vorsätzlichen Tötung gleichkommt", eine Rechtfertigung nach § 216 StGB fur ausgeschlossen halt, also den Fall obwohl er ihn der Gefahrdung zuordnet - nach den Grundsätzen der Schädigung behandeln will. Wobei hier freilich in Anlehnung an die entsprechende Diskussion im Bereich der Vorsatzdogmatik noch fraglich ware, o b nicht die Einsicht in das erhebliche Risiko den Vorsatz im Sinne eines „Billigens im Rechtssinne" oder einer „Ernstnahme" begriindet.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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maßgeblich ist und - wenn ja - ob es auf die Perspektive des Täters oder des Opfers ankommt. Als einer der wenigen, die sich iiberhaupt dezidiert zu der Frage geäußert haben, hat Otto die Auffassung vertreten, maßgeblich sei die subjektive Perspektive des Täters. Ein Verletzungssachverhalt liege also dann vor, wenn der Außenstehende mit Verletzungsvorsatz handelt; eine Gefährdungssituation dagegen dann, wenn er lediglich fahrlässig handelt241. Diese Sichtweise führt nach Otto z.B. dazu, daß die Fälle des ungeschiitzten Geschlechtsverkehrs eines Aids-Infizierten mit einem ilber die Infektion unterrichteten Partner als Fälle der Schädigung einzuordnen wären, wenn man mit einer vielfach vertretenen Auffassung den Verletzungsvorsatz des Infizierten bejaht242'2n. Allerdings halt Otto dieses Differenzierungskriterium nur fur die Grenzziehung zwischen Fremdschääigung und -gefährdung für maßgeblich. Eine SWfofgefährdung hingegen soil stets dann vorliegen, „wenn jemand sich freiverantwortlich und in voller Kenntnis des Risikos und der Tragweite seiner Entscheidung in eine Gefahrensituation begibt"244. Es ist nicht ersichtlich, daß sich daran etwas ändern sollte, wenn der Außenstehende auf die Realisierang der eingegangenen Gefahr hofft245. Die Annahme, fur die Abgrenzung der Fälle der Selbstschädigung von denen der Selbstgefährdung sei es maßgeblich, ob das Opfer den Erfolg wünscht oder lediglich bewußt eine das sozialübliche Risiko übersteigende Gefahr eingeht, ist auch sonst verbreitet246. Die subjektive Situation des Opfers bei der Gefährdung 241 242
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Otto, in: FS für Tröndle, S. 169 f. Siehe B G H S t 36, 1, 9 ff.; BayObLG, N J W 1990, 131, 132. Freilich ist die A n n a h m e von Vorsatz hier regelmäßig verfehlt; vgl. Frisch, Jus 1990, 366 ff.; Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 155. Siehe zu diesem Fall Otto, in: F S für Tröndle, S. 166; dagegen hat d a s B a y O b L G , N J W 1990, 131, 132 eine Selbstgefährdung des Opfers angenommen (so auch Dolling, JR 1990, 4 7 5 ; Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 155). Otto, in: F S für Tröndle, S. 175; ders., in: FS für Lampe, S. 510. Eine Fremdgefährdung liege erst dann vor, wenn der Außenstehende „über ein besseres Sachwissen hinsichtlich des Risikos und/oder der Tragweite der Entscheidung" verfüge (Otto, in: FS für Tröndle, S. 175). Christmann, Jura 2002, 680 (mit allerdings unklarer Begrifflichkeit); Herzberg, J A 1985, 265, allerdings explizit nur auf den Erfolg der Totungsdelikte bezogen. Die Terminologie Herzbergs ist allerdings deshalb verwirrend, weil er zunächst die Fälle der beabsichtigen gegen die der „absichtslosen Selbsttötung" abgrenzt (S. 265), der er die Akte „bewußter Selbstgefährdung" zuordnet (S. 269 ff.). Die gleiche Gegeniiberstellung findet sich S. 270: „Fehlt aber dem Opfer die Absicht der Selbsttötung, stirbt es aufgrund eines Aktes bloßer Sdbstgefährdung (...)". Damit bleibt unklar, ob die Fälle des dolus eventualis in Richtung auf den Erfolgseintritt der bewußten Selbstgefährdung zuzuordnen sind (denn es handelt sich bei ihnen offenbar um Fälle fehlender Absicht). Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 32 f, 49, 53 der die &»/toschädigung dadurch kennzeichnet, daß „das Opfer mit Wissen um die Folgen eine Handlung vornimmt, die ein eigenes Rechtsgut beeinträchtigt, und dabei diesen Erfolg auch will", während dieser Wille bei dem sich selbst Gefährdenden gerade fehle und deshalb der Erfolg „nicht
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wird durch die Kenntnis der Gefahr und die Erwartung, diese werde sich nicht verwirklichen - also durch einen der bewußten Fahrlässigkeit entsprechenden Sachverhalt -, charakterisiert247. Gemeinsam ist also diesen Autoren, daß es auf die bewußte Eingehung des Risikos ankommt. Vereinzelt geblieben ist dagegen die Auffassung, daß Gefährdungssachverhalte auch dann vorliegen können, wenn das Opfer mit einer der unbewußten Fahrlässigkeit vergleichbaren Einstellung handelt248. Diese Unsicherheiten iiber die Grenzziehung von den Schädigungs- zu den Gefährdungsfällen sollten letztlich nicht überbewertet werden. Sieht man nämlich, daß schon in den Schädigungsfällen nicht die Verteilung von (finaler) Herrschaft den normativen Maßstab fur eine Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung bereitstellt, dann wird der Weg fur die Einsicht frei, daß die Behandlung der Gefährdungsfälle nicht zu einem grundsätzlichen Wechsel (oder zumindest zu einer Modifizierung) der fur die Schädigungsfälle maßgeblichen Kriterien nötigt. Der Abgrenzung der Schädigungsfälle zu denen der Gefährdung kommt danach längst nicht die Bedeutung zu, die durch die Einteilung in die verschiedenen Fallgruppen impliziert wird249. Über diese Fallgruppen hinweg ist vielmehr entscheidend, ob das Verhalten des Außenstehenden grundsätzlich - d.h.: zunächst noch ohne Blick auf die konkrete Opferentscheidung - rechtlich erlaubt oder verboten ist250 und ob - bei grundsätzlicher Verbotenheit des Verhaltens - das Rechtsverhältnis schließlich durch die konkrete Opferentscheidung im Sinne einer Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden umgestaltet worden ist251. Weder das dogmatische Instrumentarium noch die materialen Kriterien, die die Anwendung dieses Instrumentariums bestimmen, werden durch den Wechsel zu den Gefährdungsfallen beriihrt. Dies in Auseinandersetzung mit den vorfindlichen Stellungnahmen zu zeigen, ist das Anliegenden der folgenden Ausfuhrungen.
b) Die Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung - Die Opferentscheidung modifiziert nicht das konkrete Rechtsverhältnis Die Diskussion um die Fälle der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefahrdung (und deren Abgrenzung zur einverständlichen Fremdgefährdung) hat in den letzten Jahren besondere Konjunktur gehabt. Wesentlicher Auslöser hierfür waren einige höchstrichterliche Entscheidungen, insbesondere ein mit
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in den Handlungszusammenhang als Ziel integriert" sei (S. 49). Vgl. auch O L G Zweibrücken, J R 1994, 518, 519. Weber, in: FS fur Baumann, S. 4 3 , 46. Peter Frisch, Das Fahrlässigkeitsdelikt, S. 118 ff. Kritisch zur Bedeutung der Abgrenzung v o n Selbstverletzung und Selbstgefahrdung auch Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 339. So auch schon Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 148 ff. Bedeutung kommt der Unterscheidung dann freilich insoweit zu, wie etwa die §§ 216, 228 StGB sie in ihrem Anwendungsbereich berilcksichtigen. Das Feld eigenverantwortlicher Selbstverfugungen, um das es im vorliegenden Kontext geht, ist damit aber verlassen (dazu noch unten III. und IV.).
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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BGHSt 32, 262 eingeleiteter Richtungswechsel der Rechtsprechung. Eine Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen kann sich mit Blick auf mehrere bereits in der Literatur vorhandene Darstellungen kurz fassen252.
aa) Die Rechtsprechung In der früheren Rechtsprechung hat sich im dogmatischen Ausgangspunkt der Umstand geltend gemacht, daß als Fälle der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefahrdung meist insbesondere solche eingeordnet werden, bei denen fur den Außenstehenden allenfalls ein Fahrlässigkeitsvorwurf in Betracht kommt253. Für eine Strafbarkeit vorausgesetzt sind damit der Eintritt des Verletzungserfolgs beim Opfer, der Kausalzusammenhang des Verhaltens des Außenstehenden mit dem Erfolgseintritt und die sich in diesem Erfolg realisierende Sorgfaltspflichtwidrigkeit. Dabei betreffen der Eintritt des Verletzungserfolgs und die Kausalität des Verhaltens des Außenstehenden fur diesen Erfolgseintritt nicht das spezifische Problem der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefahrdung254 und werfen in den hier erörterten Fallen keine Schwierigkeiten auf.
Siehe insbesondere Eschweiler, Beteiligung, S. 3 ff.; Fiedler, Fremdgefährdung, S. 8 ff.; Frisch, NStZ 1992, 1 ff.; Otto, Jura 1984, 537 ff; Walther, Eigenverantwortlichkeit, S. 7 ff; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 5 ff. Fehlender Verletzungsvorsatz des Außenstehenden ist allerdings - wie oben schon angedeutet und unten noch näher zu zeigen sein wird - kein tragfähiges Abgrenzungskriterium zu den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung. Allerdings wird vorsätzliches Handeln des Außenstehenden vielfach auf bessere Einsicht in das Risiko und damit auf die Möglichkeit einer (mittelbaren) Täterschaft des Außenstehenden hindeuten. Überblickt der sich selbst Gefährdende hingegen das Risiko, dann kann die subjektive Einstellung des Außenstehenden nicht über die Frage entscheiden, ob das Risiko ein erlaubtes ist. In dem bekannten Fall RGSt 61, 318, 319 (Vermieten einer feuergefährlichen Wohnung) hat sich das RG allerdings auch mit der von der Revision vorgebrachten Erwägung auseinandergesetzt, das Verhalten der Familie habe den Kausalzusammenhanges unterbrochen, weil sie „trotz der erkannten Gefahr auf eigenes Risiko in dem gefahrdeten Hause wohnen geblieben sei". Dazu führt das RG (St 318, 320) aus, daß „fahrlässige Handlungen des Verletzten selbst zur Unterbrechung des Ursachenzusammenhanges niemals geeignet sind, mag es sich um bewußte oder unbewußte Fahrlässigkeit handeln". Auch die Nachkriegsrechtsprechung hat verschiedentlich noch darauf hingewiesen, daß das Verhalten des Opfers den Kausalzusammenhang nicht unterbreche; siehe etwa BGH bei Holtz, MDR 1980, 985; BGH, NStZ 1983, 72. Als Problem (auch) der Kausalität hat auch das LG München, JW 1920, 922 m. Anm. Kitzinger einen Fall behandelt, in dem der Direktor einer Filmfabrik einen Artisten dazu angestellt hatte, zur Aufnahme eines Sensationsfilmes aus ca. 60 m Höhe von einem Flugzeug in einen See zu springen, wobei der Artist urns Leben kam. Wenn auch der Direktor dem Artisten zu dem Sprung „Gelegenheit gegeben" habe, so sei dieser doch „in seiner Entschließung frei" gewesen und sei auch nicht von dem Filmdirektor zu seiner Handlung gedrängt worden. Es liege „demnach auch keine mittelbare Verursachung vor".
384 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Die Rechtsprechung geht deshalb - prinzipiell zutreffend - von der Frage aus, ob dem Verhalten des Außenstehenden das Prädikat der objektiven Sorgfaltswidrigkeit mit Blick auf die mögliche Vornahme einer nicht-defizitären Selbstgefahrdung des Opfers anhaftet. Dabei bereitet es in den praktisch bedeutsamen Fallen keine Schwierigkeiten, die in den Zusammenhang der objektiven Sorgfaltswidrigkeit einzuordnende255 Frage der objektiven Vorhersehbarkeit der Möglichkeit des Erfolgseintritts zu beantworten. Denn zur Entscheidung gelangen nur solche Fälle, bei denen es nach den konkreten Umständen zumindest nicht fern liegt, daß es in Anknüpfung an das Verhalten des Außenstehenden zu selbstgefährdendem Opferverhalten kommen wird. Mit der Vorhersehbarkeit der Selbstgefährdung ist aber noch nicht die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens begrilndet, an das die (Selbst-) Gefährdung des Opfers anknüpft256. Mit dieser Frage hat sich der BGH schon früh im sogenannten „Wettfahrt-Fair beschäftigt257: Der Angeklagte und K. veranstalteten eine Wettfahrt, bei der K., weil er nur ein Leichtkraftrad fuhr, ein Vorsprung eingeräumt wurde. Als der Angeklagte mit seinem Motorrad K. erreicht hatte und zum Überholen ansetzte, steuerte K. sein Rad nach links. „Der Angeklagte war fast neben K. und versuchte, links auf der äußersten Straßenseite vorbeizufahren, obwohl 255
Vielfach werden allerdings „objektive Sorgfaltspflichtverletzung" und „Vorhersehbarkeit" als getrennt nebeneinander stehende Voraussetzungen der Fahrlässigkeitshaftung dargestellt (z.B. B G H S t 10, 3 6 9 ; aus der Literatur vgl. Jescheck/Weigend, AT, S. 564; Tröndle/Fischer, § 15 Rn. 14). D a ß dies nicht zutreffend ist, ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Die Verletzung der gebotenen Sorgfalt ist nichts anderes als die tatbestandsmäßige Verletzung einer Verhaltensnorm, also die Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr (siehe Frisch, Straftat und Straftatsystem, S. 197; im Grundsatz ebenso - wenn auch als T h e m a der objektiven Zurechnungslehre formulierend - Roxin, A T I, § 2 4 Rn. 10; Triffterer, A T , 8. Kap. Rn. 8 6 ff, 13. Kap. Rn. 9 ff.). Das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung ist nicht isoliert zu sehen, sondern ist bereits Bestandteil der rechtlich mißbilligten Gefahr (siehe auch (Lackner/Kühl, Roxin, A T I, § 2 4 Rn. 13) oder aber auch der Sorgfaltspflichtverletzung § 15 R n . 3 6 ; Wessels/Beulke, AT, R n . 6 6 7 ; eingehend dazu Kaminski, Der objektive Maßstab, S. 38 ff). Das ergibt sich daraus, daß die den Tatbeständen vorgelagerten Verhaltensnormen nur solche Verhaltensweisen verbieten können, die bereits zum Handlungszeitpunkt mit Blick auf tatbestandlich geschützte Rechtsgüter (bekannte oder noch unbekannte) Risiken bergen. Ob dies der Fall ist, läßt sich aber nur ex ante danach beurteilen, ob der Handlungsvornahme - vorhersehbare - Gefahren fur geschützte Rechtsgüter anhaften oder dies - weil denkbare Auswirkungen bestimmter Handlungen noch ungeklärt sind - jedenfalls nicht auszuschließen ist.
256
Siehe Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 152, 186 f. (vgl. auch S. 231 f f ) . Freilich finden sich auch Entscheidungen, die die Pflichtwidrigkeit unmittelbar aus der Vorhersehbarkeit ableiten; vgl. BGH, N J W 1981, 2015; zur entsprechenden Judikatur des BGE vgl. Donatsch, SchwZStW 105 (1988), 376 f. BGHSt 7, 112.
257
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
385
K. fast bis auf 1 m an den linken Bordstein herangefahren war. Der Angeklagte kam mit dem Bordstein in Berührung und stürzte. Er berilhrte zwar K. nicht, doch stilrzte auch dieser und erlitt schwere Verletzungen", denen er schließlich erlag. Seine BAK lag bei 1,5 Promille. Zur Frage der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens258 schließt sich der BGH der früheren Rechtsprechung259 an, die er zu dem Grundsatz zusammenfaßt, daß ein Verhalten nicht pflichtwidrig sei, „wenn bei gemeinsamer gefährlicher Tätigkeit erwachsener und verständiger Menschen jemand in klarer Erkenntnis die Gefahr in Kauf nimmt und tödlich verunglückt, der andere aber seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht gentigt"260. Jedoch sei die Frage, „wann bei gemeinsamer gefährlicher Tätigkeit die Mitwirkung an fremder fahrlässiger Selbstverletzung als pflichtwidrig zu bezeichnen ist, von den Umständen des Falles abhängig". Als maßgebliche Kriterien nennt der BGH: „Das etwaige Einverständnis voll verantwortlicher Personen mit der klar erkannten Gefahr; Anlaß und Zweck des Unternehmens; die etwaigen Vorsichtsmaßnahmen sowie das Maß der Sorglosigkeit und die Größe der Gefahr"261. Für den konkreten Fall hat der BGH vor allem mit Blick auf die Gefährlichkeit und Sinnlosigkeit der Wettfahrt, „zumal da um eine Runde Bier zwei Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurden" und wegen des Umstands, daß K „angetrunken" gewesen sei „während der Angeklagte nur wenig Alkohol getrunken hatte und die Gefahr deutlicher übersah als K", ein pflichtwidriges Verhalten des Angeklagten bejaht. Während der Gesichtspunkt der Alkoholisierung das hier noch ausgesparte Problem der defizitären Opferentscheidung betrifft, zielen die anderen Kriterien offenbar nicht darauf ab, die rechtliche Relevanz der Opferentscheidung mit Blick auf Defizite, die in der Person des Opfers liegen, in Zweifel zu ziehen. Der BGH ist vielmehr der Auffassung, daß auch die Ermöglichung einer nicht-defizitären Selbstgefährdung262 mit Blick auf das in § 222 StGB geschiitzte Individualgut ein 258 259 260 261 262
Die nach damaliger Fahrlässigkeitsdogmatik noch der Schuld zugeordnet wurde. Nämlich RGSt 57, 172; RG, J W 1925, 2250; B G H S t 4, 88. B G H S t 7, 112, 115. B G H S t 7, 112, 115. I m Vorgriff auf die nähere Abgrenzung sei hier schon darauf hingewiesen, daß es sich nicht etwa u m einen Fall der Fremdgefährdung handelt, denn der Angeklagte hat dem Opfer die Gelegenheit verschafft, sich durch die schnelle und riskante Fahrt selbst zu gefährden (siehe Roxin, in: F S fur Gallas, S. 246). Diese Gefahr hat sich in dem Sturz ohne unmittelbare Fremdbeteiligung realisiert (siehe B G H S t 7, 112, 113 und den ersten Leitsatz der Entscheidung). Soweit von dem grundsätzlich unerlaubten Fahrstil des Angeklagten eine Gefährdung fur das Opfer ausgegangen ist, ist zumindest nicht sicher feststellbar, o b sich diese Gefahr im Erfolg realisiert hat (anders Schiinemann, NStZ 1982, 6 1 , der den Fall der „einverständlichen Fremdgefährdung" zuordnet und - in deutlicher Abweichung v o n d e m in der Entscheidung mitgeteilten Sachverhalt und dem Leitsatz - schreibt, der Täter habe „das Opfer bei einer gefährlichen Wettfahrt zu Fall gebracht"). Das Verhalten des Angeklagten weist zwar neben der Förderung einer Selbstgefährdung auch Komponenten einer (einverständlichen) Fremdgefährdung auf, die sich aber nicht im Erfolg verwirklicht haben.
386 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens sorgfaltspflichtwidriges Verhalten darstellen kann. Das Opfer nimmt also in seiner Entscheidung fur die gefährliche Fahrt nicht etwa eine rechtliche Freiheit zur Selbstverfugung wahr, sondern die Reichweite der VerfUgungsfreiheit wird durch eine Vielzahl zusätzlicher Kriterien bestimmt, von denen abhängt, ob eine bestimmte Selbstverfugung die Akzeptanz der Rechtsordnung findet. Welchen Gefahren sich eine Person aussetzen will und aus welchen Grilnden sie dies tut, ist fur die rechtliche Beurteilung damit nicht Sache der Person, sondern das Recht hat einen eigenen Maßstab, an dem die individuelle Entscheidung beurteilt und über ihre rechtliche Beachtlichkeit entschieden wird. Der Gedanke einer rechtlichen Selbstbestimmung der Person, die auch ihre eigenen Maßstäbe mitbringt, ist hier nicht erwogen. - Dies ist eine Sichtweise, die sich in die bereits kritisierte (oben 3. Teil, IV. 1. b)) wertethische Haltung insbesondere der frühen Rechtsprechung einfugt. Die Vernachlässigung des Selbstbestimmungsrechts bei der Konturierung der Sorgfaltspflichten war es wohl auch, die dem BGH im bekannten „PockenarztFair2a den Blick auf die Frage der Sorgfaltspflichtwidrigkeit ilberhaupt versperrt hat. Der angeklagte Arzt kam von einer Reise aus Indien und Ceylon an Pocken erkrankt zuriick. Obwohl er sich iiber die Art seiner Erkrankung nicht im klaren war, trat er ohne Priifung seines noch angegriffenen Gesundheitszustandes seinen Dienst in der Klinik an, wo er andere Personen ansteckte. Auch der Klinikseelsorger steckte sich an, als er sich zu den Kranken in die Quarantäne begab. Der BGH hat den Umstand, daß der Seelsorger „freiwillig" gehandelt hat, lediglich im Zusammenhang mit der Erörterung der Voraussetzungen einer Einwilligung angesprochen264, wo diese Frage dahingestellt bleiben konnte, weil sich die Einwilligung „notwendig auf ein bevorstehendes, in der Zukunft liegendes Verhalten eines anderen beziehen" miisse. Eine Rechtfertigung komme folglich unter diesem Aspekt hier nicht in Betracht, weil das fahrlässige Verhalten des Angeklagten - also der Dienstantritt trotz Krankheitssymptomen - „längst abgeschlossen vorlag"265. Das Selbstbestimmungsrecht des Seelsorgers wird also nicht einmal als Problem der Sorgfaltspflichtwidrigkeit thematisiert266.
263
BGHSH7, 359.
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Zutreffend gegen diese Erörterung als Problem der Einwilligung z.B. Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 3 ; Rudolphi, JuS 1969, 556 mit Fn. 57. BGHSt 17, 359, 360. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob die Entscheidung des BGH nicht im Ergebnis deshalb zutrifft, weil die Entscheidung des Seelsorgers mit Blick auf die vom Angeklagten geschaffene Konfliktlage möglicherweise nicht frei von Entscheidungsdefiziten war; dazu noch unten III.
265 265
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfllgender Opferentscheidungen
387
Eine ganze Reihe von Entscheidungen hatte sich mit der fahrlässigen Tötung durch Abgabe von Heroin oder anderen Drogen zu befassen267. Auch hier kann eine Betrachtungsweise, die die Beurteilung der Sorgfaltspflichtwidrigkeit davon abhängig macht, ob das (selbst-) gefährdende Verhalten der Beteiligten einen rechtlich schützenswerten Sinn verfolgt, an einem Pflichtverstoß kaum Zweifel aufkommen lassen. Wird die (mögliche) Entscheidung des Opfers einer inhaltlichen Beurteilung anhand der rechtlichen Wertordnung zugänglich gemacht, so können bestimmte Optionen selbstbestimmten Entscheidens, wie etwa der Drogenkonsum, als wertlos oder wertwidrig rechtlich vernachlässigt werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, daß die Rechtsprechung zu diesen Fallen das Problem der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens, das sich erst ilber eine Entscheidung des Opfers in einem Schädigungserfolg realisieren kann, allenfalls einiger kurzer und apodiktischer Hinweise fur wert gehalten hat268. Teilweise wird lediglich behauptet, es stehe der Anwendung von § 222 StGB „nicht entgegen", daß sich das Opfer „bewußt der Gefährdung ausgesetzt hat"269. Die später so große Bedeutung erlangende wertende Verlängerung des Teilnahmearguments auf die Fälle der Selbstgefährdung wird mit dem Hinweis beiseite geschoben, das Opfer habe „sich nicht selbst töten wollen" und seinen „Tod nicht billigend in Kauf genommen", weshalb „der Hinweis auf die straflose Mitwirkung bei einem Selbstmord" versage270. Die Begriindung des Vorwurfs der Fahrlässigkeit erschöpft sich dann schließlich in dem Hinweis auf die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts. So meint der BGH: „Verursacht (...) ein Heroinhändler den Tod eines Heroinabhängigen durch Verkauf oder Übergabe von Heroin, so reicht es fur die Annahme von Fahrlässigkeit i.S. des § 222 StGB in der Regel aus, wenn ihm bekannt ist oder er damit rechnen muß, daß der Käufer das Räuschgift injiziert, und wenn er von der Gefährlichkeit des überlassenen Stoffes gewußt hat oder - z.B. durch die eingehen267
268 269
270
Aus der Rechtsprechung vor B G H S t 32, 262 (dazu unten) etwa B G H bei Holtz, M D R 1980, 985 (mit weiteren Nachweisen im unveröffentlichten Teil des Urteils 1 S t R 324/79 vom 31.7.1979 auf die unveröffentlichten Beschlüsse 2 StR 329/78 vom 1.9.1978 und 4 StR 97/79 vom 22.3.1979, die allerdings nach § 349 Abs. 2 StPO ergangen sind und deshalb keine Begründung enthalten); BGH, N J W 1981, 2015 (= JR 1982, 341 mit Anm. Loos; dazu auch Schünemann, NStZ 1982, 60 ff.); BayObLG, StV 1982, 73; OLG Celle, M D R 1980, 74. Auf solche Entscheidungen, die auf die fehlende Eigenverantwortlichkeit des Drogenkonsumenten abstellen (z.B. BGH, NStZ 1983, 72: „Intoxikationspsychose"), ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Zu deren mangelnder Tragfähigkeit Schünemann, NStZ 1982, 61 f. BGH, Urt. vom 31.7.1979 - 1 StR 324/79, S. 7 (bei Holtz, M D R 1980, 985); BayObLG, StV 1982, 73, 74; OLG Celle, M D R 1980, 74 (die in den beiden OLGEntscheidungen enthaltene Verweisung auf BGH, JR 1979, 429 trägt nicht [vgl. auch Schünemann, NStZ 1982, 61 f.], weil dort das Problem der Selbstgefährdung im Gegenteil in prinzipiell weiter fllhrender Weise angesprochen, dann aber offen gelassen wurde, weil die Entscheidung auf eine Garantenstellung des Außenstehenden als Arzt gestützt wurde). BGH, Urt. vom 3.6.1980 - 1 StR 20/80, S. 6 (insoweit nicht zitiert bei Holtz, M D R 1980,985).
388 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
den Darstellungen und Berichte in Presse, Rundfiink und Femsehen - hätte wissen können"271. Gegen diese Art der Behandlung des Problems stellt die Entscheidung in BGHSt 32, 262 („Heroinspritzen-Fall") eine deutliche Zäsur dar272: Der Angeklagte, der „gelegentlich Drogen konsumierte" und H. waren sich „seit langem freundschaftlich zugetan". „H. sagte dem Angeklagten, er habe Heroin, 'das man zusammen drücken könne'. Der Angeklagte entschloß sich, die erforderlichen Spritzen zu besorgen, als H., der als Konsument harter Drogen bekannt war, ihm eröffhete, er bekomme 'nirgends mehr' eine Spritze". H. filllte den Stoff in die zwei vom Angeklagten gekauften Einwegspritzen und überließ eine dem Angeklagten. „Alsbald nach der Injektion des Stoffes, der neben Heroin auch Koffein enthielt, wurden H. und der Angeklagte bewußtlos". Bei H. fuhrte die Injektion zum Tode. Der BGH verlängert in dieser Entscheidung die im „Polizeipistolen-Fall"273 entwickelten Grundsätze auf die Fälle der Selbstgefährdung. „Auch die eigenverantwortlich gewollte - erstrebte, als sicher vorausgesehene oder in Kauf genommene - und vollzogene Selbstgefährdung unterfällt nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, gleichgültig, ob das mit der Gefährdung bewußt eingegangene Risiko sich realisiert (der Handelnde sich verletzt oder tötet) oder ob der 'Erfolg' ausbleibt. Wer lediglich den Akt der eigenverantwortlich gewollten und bewirkten Selbstgefährdung (vorsätzlich oder fahrlässig) veranlaßt, ermöglicht oder fördert, nimmt an einem Geschehen teil, das - soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht - kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang 1st"274. Auch wenn Gegenstand dieser Entscheidung das Besorgen einer Spritze zum Drogenkonsum war, hat sich doch in der Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, daß die genannten Grundsätze auch fur die praktisch wichtigeren Fälle der Weitergabe von Drogen Geltung beanspruchen275. 271
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275
B G H , N J W 1981, 2 0 1 5 ; der an das Zitat anschließende Hinweis auf die Entscheidung B G H , J R 1979, 429, geht fehl (dazu Schünemann, N S t Z 1982, 61 f.). Allein auf die Vorhersehbarkeit abstellend schon RG, G A 42 (1894), 386 f. = J R 1984, 511 mit Anm. Horn = N S t Z 1984, 410 m. Anm. Roxin und N S t Z 1985, 2 4 Anm. Dach = J Z 1984, 7 5 0 m. Anm. Kienapfel = J u S 1984, 7 2 4 (Hassemer) = JA 1984, 533 f. (Seier). B G H S t 24, 342 (dazu oben 4. Teil II. 1 .a). B G H S t 32, 262, 263 f. Die an dieser Stelle nicht interessierende Grenze für die Anw e n d u n g dieses Grundsatzes zieht der B G H (S. 265) dort, w o der „sich Beteiligende kraft iiberlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdend e " (zur Schwäche dieser Auffassung unten III. 2. b) bb)). BGH, NStZ 1985, 25 („Stechapfeltee-Fall"); NStZ 1985, 319 f; StV 1985, 56 m. Anm. Fünfsinn; NStZ 1986, 266 (Alkohol); StV 1993, 128 m. Anm. Hoyer; NJW 2000, 2286 = NStZ 2001, 205 m. Anm. Hardtung; skeptisch (aber letztlich offengelassen) dagegen BGHSt 37, 179, 181.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfligender Opferentscheidungen
389
Im Anschluß an den „Heroinspritzen-Fall" hat die Rechtsprechung den Gedanken der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung auch ihrer Beurteilung entsprechenden Verhaltens in anderen Lebensbereichen zugrundegelegt. Ein Beispiel hierfiir ist eine Entscheidung des OLG Stuttgart zum Überlassen eines Pkw an eine Person, die nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis war276. Wahrend frilher noch das BayObLG an der Pflichtwidrigkeit eines solchen Verhaltens keinen Zweifel hatte und aufgrund der „Inkaufhahme des Risikos" den „Rechtfertigungsgrund des § 226a StGB" (§ 228 StGB n.F.) erfllllt sah277, beruft sich das OLG Stuttgart auf einen Ausschluß strafrechtlicher Verantwortlichkeit aufgrund des Umstandes, daß der das Fahrzeug Weitergebende lediglich eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung ermöglicht habe278. Im Anschluß an den „Heroinspritzen-Fall" steht auch die Entscheidung des BayObLG im „SkateboardfahrerFall"219:
Der Angeklagte hatte einem Skateboardfahrer auf dessen Wunsch erlaubt, sich an sein Kraftrad anzuhängen. Der Skateboardfahrer verlor schließlich die Kontrolle und stürzte tödlich. Da der Skateboardfahrer aufgrund seines Sachwissens das Risiko in mindestens gleichem Umfang erfaßt habe wie der Angeklagte, liege lediglich eine Mitwirkung an einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung vor280. Der mit BGHSt 32, 262 eingeleitete Wandel ist insgesamt also nicht nur im Bereich des Drogenkonsums, sondern auch fur die Beurteilung vergleichbarer Sachverhalte aus anderen Lebensbereichen ein wichtiger Schritt zum zutreffenden Ergebnis. Doch die „aufsehenerregende Wendung in der Rechtsprechung", als die die Entscheidung in der Literatur gepriesen wird281, ist mit ihr nicht geleistet282 (und auch in der weiteren Judikatur noch nicht geleistet worden). Denn die Ent276 277 278 279 280
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O L G Stuttgart, M D R 1985, 162. B a y O b L G , N J W 1968, 665. O L G Stuttgart, M D R 1985, 162; so nun auch BayObLG, N S t Z - R R 1997, 5 1 . B a y O b L G , N Z V 1989, 80 m. zustimmender Anm. Molketin. Im Unterschied zu dieser dogmatischen Einordnung - mit der bereits der objektive Fahrlässigkeitsvorwurf ausgeschlossen ist - hat BayObLG, J R 1978, 296 mit kritischer Anm. Kienapfel bei einem entsprechenden Sachverhalt (Anhängen eines Radfahrers an ein Kfz mit Einwilligung von dessen Fahrer) eine Fremdgefahrdung angenommen und die Frage diskutiert, o b eine Einwilligung des Radfahrers in die aus diesem Verhalten resultierenden Gefährdungen und Verletzungen in Betracht kommt. Tatsächlich geht es aber nicht um einen Fall der Fremd-, sondern der Selbstgefahrdung (so auch Kienapfel, JR 1978, 297 f.), denn die Fahrt als solche ist ein unabhängig von der Entscheidung des Radfahrers erlaubtes Verhalten. Die dem Radfahrer eingeräumte Option, sich an den Wagen anzuhängen, begründet für diesen lediglich eine Möglichkeit, sich selbst zu gefährden. Roxin, A T I, § 11 Rn. 94. Siehe auch Dach, N S t Z 1985, 2 4 : der B G H habe „das richtige Ergebnis getroffen", seine Argumente „bezeichnen aber nicht den Kern des Problems".
390 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens scheidung hat vor allem eines getan: sie hat die Begründungsebenen gegenüber der fhiheren Rechtsprechung verschoben, und zwar von einem (allerdings mit falschen Inhalten gefullten) materialen Begründungsansatz bei der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens zu einer formal-strafrechtsdogmatischen Begründung, die ihren Ausgangspunkt von der fur die Teilnahme am Vorsatzdelikt geltenden Akzessorietätsregel nimmt und in ihren weiteren Ableitungen folglich immer relativ zu dieser Akzessorietätsregel bleibt283. Wenn also aus dem Gleichheitsgedanken abgeleitet wird, daß eine strengere Behandlung der Gefährdungsfälle gegenüber den Fallen der vorsätzlichen Schädigung nicht gerecht sei, dann steht und fallt dieses Argument mit seinem Bezugspunkt, also der Straflosigkeit der Teilnahme an einer nicht tatbestandsmäßigen Haupttat284. Gleichsam unterhalb der Oberfläche der Sanktionsnormenebene kann die Auffassung der fhiheren Rechtsprechung zur rechtlichen Bedeutungslosigkeit selbstverfugender Entscheidungen, mit denen der Einzelne die Inhalte rechtlich gestifteten Sinns verfehlt, weiter Geltung beanspruchen. Es ist lediglich - und auch das nur aus relativen, nicht aus absoluten Grilnden der Strafgerechtigkeit - nicht mehr möglich, die rechtliche Bedeutungslosigkeit der Opferentscheidung zum Anlaß .rfrq/rechtlicher Mißbilligung des Verhaltens des Außenstehenden zu nehmen. Die Diskussion um die Frage der Sorgfaltswidrigkeit (der rechtlichen Mißbilligung) des Verhaltens des Außenstehenden, die nicht erst an der strafrechtlichen Beurteilung, sondern schon an der Beurteilung nach der Primärordnung ansetzen müßte, ist also durch die neuere Rechtsprechung nicht einmal aufgenommen worden. Dieser Mangel wird nicht etwa angesichts des vom BGH erzielten - zutreffenden - Ergebnisses marginal. Derm das Teilnahmeargument in seiner Schwäche (oben 1. a)) sichert dieses Ergebnis nicht zuverlässig und das Spannungsverhältnis, das aus der unbewältigten Annahme pflichtwidrigen Verhaltens nach der fhiheren Rechtsprechung und der Straflosigkeit nach der neueren Rechtsprechung resultiert, sucht nach seiner Auflösung285, die es z.B. in einer Ausdehnung der Strafbarkeit nach den Regeln der mittelbaren Täterschaft, des Unterlassens oder der Vorschriften des Nebenstrafrechts (praktisch bedeutsam: BtMG) findet.
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Genau umgekehrt wertet Horn, J R 1984, 513, der den festgestellten Sachverhalt fur „rechtlich denkbar einfach" und den Gedanken der „Selbstgefahrdung" fur überflüssig halt: „Denn die Haftung für Fahrlässigkeit kann nicht weiter reichen als die fur Vorsatz". 284 V g | friscn> NStZ 1992, 5 mit Fn. 53; dens., Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 3 ff. 285 Als Versuch der Auflösung dieses Spannungsverhältnisses war oben z.B. die Auffassung Schmidhäusers (in: FS fur Welzel, S. 804, 809, der sich ausdriicklich auf bestehende Strafbediirfnisse beruft) dargestellt worden.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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bb) Die Literatur Die Literatur286, die die ältere Rechtsprechung vielfach kritisch beurteilt hatte287, ist sich in der grundsätzlich positiven Beurteilung der neueren Judikatur weitgehend einig288 und hat diese Zustimmung zum Teil auch auf das Teilnahmeargument erstreckt289. Aber in der Literatur wird teilweise auch gesehen, daß dieses Teilnahmeargument durch den weiteren Vermittlungsschritt, dessen es zu seiner Ausdehnung auf die Sachverhalte bloßer Gefährdung bedarf, nur noch weiter an Überzeugungskraft verloren hat290. Der unmittelbare Bezug des Teilnahmearguments auf die Sanktionenordnung versperrt zum einen den Blick auf die Frage nach der rechtlichen Mißbilligung nach der Primärordnung und formalisiert die Argumentation durch die Bindung an das Akzessorietätserfordernis. Dessen unstreitige Nichtgeltung im hier erörterten Bereich durch einen wertenden Vergleich zu überspringen setzt voraus, daß sich die Unterscheidung in Täterschaft und Teilnahme auf Gefährdungssachverhalte übertragen läßt. Abgesehen davon, daß das Bild von Täterschaft und Teilnahme in Fallen des Zusammenwirkens mit dem Opfer ohnedies selbst fur die Fälle vorsätzlicher Schädigung - schief ist (siehe oben 1. b) cc)), läßt sich dessen Übertragung auf Fälle der Gefährdung nicht überzeugend leisten (siehe noch c))291. Nicht ein wertender Vergleich mit den Fallen der Schädigung, sondern nur eine materiale Begründung für das fehlende Unrecht vermag die Straffreiheit zu begriinden292. Es geht dann nicht um einen Erst-Recht-Schluß, sondern
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A u c h bezogen auf die Stellungnahmen aus der Wissenschaft gibt es eine ganze Reihe zusammenfassender Darstellungen, z.B. von Otto, Jura 1984, 539 f.; Walther, Eigenverantwortlichkeit, S. 20 ff.; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 9 ff. Siehe Hirsch, J R 1979, 4 3 2 f.; Loos, J R 1982, 342 f.; Roxin, in: F S für Gallas, S. 246; Rudolphi, JuS 1969, 556 f.; dens., Die Gleichstellungsproblematik, S. 149 f.; Schünemawr, N S t Z 1982, 6 0 ff. Siehe etwa Beulke/Mayer, JuS 1987, 126 f.; Eschweiler, Beteiligung, S. 16 ff; Fünfsinn, StV 1985, 57 f.; Jakobs, AT, 21/114a; Kienapfel, JZ 1984, 751 f.; Otto, Jura 1984, 536 ff; Roxin, NStZ 1984, 411 f; ders., A T I, § 11 Rn. 94 f; Stree, JuS 1985, 180 f; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 6 1 . Im Ergebnis zustimmend Dach, NStZ 1985, 24 f. Kritisch aber - soweit es die Weitergabe von Drogen anbelangt - z.B. Hardtung, NStZ 2001, 208; Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 165 ff; Weber, in: FS für Baumann, S. 52 f.; ders., in: FS fur Spendel, S. 376 ff; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 60 f.; auch Michael Köhler, M D R 1992, 740 f., der allerdings von einer defizitären Entscheidung des Drogenkonsumenten ausgeht. Z.B. Beulke/Mayer, JuS 1987, 126 f; Dolling, GA 1984, 77; ders., in: FS für Gössel, S. 213; Geppert, JK 0 1 , StGB § 222/5; Horn, JR 1984, 513; Krey, BT/1, Rn. 129; Kühl, AT, § 4 Rn. 87; Seier, JuS 1989, L 14; Stree, JuS 1985, 181. Siehe zur Kritik Frisch, NStZ 1992, 5; dens., Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 3 ff; Fünfsinn, StV 1985, 57; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 164 ff; Weber, in: FS für Spendel, S. 376. Zutreffend Puppe, in: N K , V o r § 13 Rn. 163, 167. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 3 ff.
392 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens darum, daß es die gleichen Gesichtspunkte wie bei den Schädigungsfällen sind, die auch bei den Gefährdungsfällen zur Straflosigkeit fiihren. Freilich fmden sich in der Literatur auch Bemühungen um eine materiale Begründung der Straffreiheit des Außenstehenden. Eine Frage der dogmatischen Verortung des Problems und nicht eine solche der inhaltlichen Begriindung ist allerdings die These, die Selbstgefahrdung werde nicht vom Schutzzweck des jeweiligen Verletzungsverbots (z.B. des Tötungsverbots) umfaßt, weshalb sich die Reichweite der strafrechtlichen Tatbestände nicht auf solche Erfolge erstrecke293' 294 . Daß damit keine Begriindung geleistet ist, wird vor allem deutlich, wenn diese Überlegungen zum Schutzzweck unmittelbar als Folgerungen aus dem Teilnahmeargument präsentiert werden295. Es bleibt aber auch zirkulär und damit nur behauptet, wenn gesagt wird, die Mitwirkung an einer voll verantwortlichen Selbstgefahrdung sei tatbestandlich nicht die Gefährdung eines anderen296. Derm es ist ja gerade die Frage, ob diese Mitwirkung wegen der ihr anhaftenden Risikodimension, selbstgefährdendes Verhalten zu ermöglichen oder zu fördern, auch als Fremdgefahrdung den Tatbestand erfullt. Weiter greift auch die im Rahmen von Schutzzwecküberlegungen vorgenommene Verortung des Problems als Frage der „Reichweite des Tatbestandes" zu spät, nämlich auf Sanktionsnormenebene. So soil nach Roxin die von ihm unter der Kategorie der „Reichweite des Tatbestandes" diskutierte Haftungseinschränkung die Überschreitung des erlaubten Risikos gerade voraussetzen. Gleichwohl könne im Einzelfall „eine Zurechnung noch daran scheitern (...), daß die Reichweite des Tatbestandes, der Schutzzweck der Tatbestandsnorm, (also des Tötungs-, Verletzungs-, Beschädigungsverbotes usw.) Erfolge von der Art des eingetretenen nicht erfaßt, daß der Tatbestand derartige Geschehnisse nicht zu verhindern bestimmt ist"297. Ein solcher Fall liege bei der Mitwirkung an einer „vorsätzlichen Selbstgefahrdung" vor298.
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Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 1 ; Beulke/Mayer, JuS 1987, 127; Beulke/Schröder, NStZ 1991, 393; Wessels/Hettinger, B T / 1 , Rn. 191; vgl. auch Roxin, in: FS für Gallas, S. 246 (allerdings zur fahrlässigen Beteiligung an einer Selbstschädigung). Es ist in Abgrenzung zu den unten im Text dargestellten Überlegungen zur objektiven Zurechnung wichtig zu sehen, daß der hier geltend gemachte Schutzzweck nicht der der verletzten Verhaltensnorm, sondern der des jeweiligen Straftatbestandes (also z.B. von § 222 StGB) ist; dazu Roxin, A T I, § 11 Rn. 75. Z u r Kritik der Schutzzwecklehre siehe Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 80 ff.; Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 74 ff. So Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 1 ; Überlegungen zum materialen Hintergrund aber dort in Fn. 176. Schmoller, in: FS für Triffterer, S. 249 f. (der diesen Einwand sieht [S. 250 f ] und unter Bezugnahme auf eine Gegeniiberstellung von § 75 und § 78 öStGB - also durch strafbarkeitsregelnde Vorschriften - zu entkräften versucht; zur Schwäche solcher Begriindung sogleich im Text). Roxin, A T I, § 11 Rn. 90. Roxin, ATI, § URn. 91 ff.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
393
Es ist aber schon nicht ersichtlich, waram das Verhalten des Außenstehenden in den von Roxin diskutierten Fallen ein unerlaubtes Risiko begriindet299. Wenn z.B. A dem ,,leichtsinnige(n), die Gefahr aber durchaus übersehende(n)" B die Überquerung eines Sees bei briichigem Eis rät300, dann ist dieser Rat zwar gefährlich, aber mit Blick auf B's Selbstbestimmungsrecht nicht unerlaubt gefährlich. Das hat nichts mit irgendwelchen Wertungen zu tun, die der Strafgesetzgeber in den Tatbeständen der §§211 ff. StGB zum Ausdruck gebracht habe, sondern folgt daraus, daß es B allein zum Schutz seiner eigenen Person rechtlich ilberhaupt nicht verboten werden kann, das dünne Eis zu betreten. Wenn Roxin selbst darauf hinweist, die Argumentation mit dem Teilnahmeargument diirfe „nicht den Blick auf die dahinter stehende normative Wertentscheidung verdecken", die darin liege, daß „kein Grund besteht, die Handlungsfreiheit der Beteiligten einzuschränken, solange niemand gegen seinen Willen gefährdet wird"301, dann ist das zwar richtig, steht aber beziehungslos neben der Begriindung aus der fehlenden Reichweite des Tatbestandes. Denn wenn das Verhalten des Außenstehenden tatsächlich von dessen Handlungsfreiheit gedeckt ist (und damit offensichtlich die nach Art. 2 Abs. 1 GG geschtltzte Handlungsfreiheit gemeint ist), dann ist schlechterdings unerfindlich, wie ein solches Verhalten zugleich die Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr darstellen (und damit verboten sein) soil. Ein Verhalten, das in Richtung auf mögliche Selbstgefa'hrdungen erlaubt ist, ist dies nicht erst mit Rücksicht auf die Reichweite des Tatbestandes, sondern umgekehrt kann die Reichweite des Tatbestandes solches erlaubtes Verhalten deshalb nicht erfassen, weil es eben bereits nach der Primärordnung erlaubt ist302. Der Lösung näher kommen solche Autoren, die sich auf die Lehre von der objektiven Zurechnung beziehen303. Allerdings ist diese Rubrizierung deshalb zumindest ungenau, weil die objektive Zurechnungslehre grundsätzlich erst bei der Herstellung eines normativen Zusammenhanges von Handlung und Erfolg ansetzt304. Das wird besonders deutlich, wenn innerhalb der objektiven Zurechnungslehre das Kriterium des Schutzzweckzusammenhangs zwischen sorgfaltswidriger Handlung 299 300 301 302 303
304
Vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156 ff. So ein Beispiel von Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 1 . Roxin, A T I, § 11 Rn. 9 1 , Fn. 176. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156. S o etwa Rudolphi, l u S 1969, 556; ders., in: S K StGB, V o r § 1 Rn. 79; Schünemann, N S t Z 1982, 6 1 . Der im weiteren Text gerilgte Mangel der Rubrizierung (und die vielfach damit einhergehende Fehlbestimmung des Handlungsunrechts) wird besonders deutlich in einer Fallbearbeitung von Seier, JuS 1989, L 14, w o der in der Weitergabe von Drogen liegende Handlungsunwert in Richtung auf das Leben des Empfängers bejaht wird, u n d sodann „in Ermangelung eines anderweitigen Ansatzpunktes" danach gefragt wird, o b der infolge der Drogenweitergabe an einen freiverantwortlich h a n delnden Konsumenten eingetretene Todeserfolg dem Dealer objektiv zurechenbar ist. W e n n Seier die objektive Zurechnung dann weiter mit der Erwägung verneint, daß der Konsument das Risiko der Gefahrrealisierung trage, dann ist freilich unerfindlich, w a rum die Weitergabe der Droge mit Blick auf das Risiko freiverantwortlich tödlichen K o n s u m s rechtlich mißbilligt sein (also einen Handlungsunwert verwirklichen) soil. Dazu Frisch, in: F S fur Roxin, S. 231 ff.
394 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
und Erfolg flir maßgeblich gehalten wird305 und es damit in den Fallen der Selbstgefährdung des Opfers darauf ankommen soil, ob der tatsächlich eingetretene Erfolg ein solcher ist, wie er durch die verletzte Verhaltensnorm vermieden werden sollte306. Nichts anderes gilt fur die Bemtlhungen Ottos, die eigenverantwortliche Selbstgefährdung als „Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs" einzuordnen. Eine solche soil vorliegen, „wenn sich in der Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht die von der als Täter in den Blick genommenen Person begründete oder erhöhte Gefahr realisiert hat, sondera eine Gefahr, die auf eine andere Person als verantwortlichen Urheber zurückzuführen ist"307. Das maßgebliche normative Kriterium, das iiber die Beantwortung der Frage der Gefahrverwirklichung entscheide, sei das der Steuerbarkeit, die Otto als „Rilckfuhrbarkeit eines Geschehens auf eine Person als Subjekt des Geschehens" begreift308. Damit rekurriert Otto auf die Vorstellung einer personalen Verursachung309, wie sie strafrechtsdogmatisch in unterschiedlicher Gestalt und in unterschiedlichen Zusammenhängen - etwa in der finalen Handlungslehre oder in der Diskussion um das Regreßverbot310 - erhebliche Bedeutung erlangt hat. Aber Otto gelangt nicht zu einer scharfen Bestimmung dieses Begriffs. Gelegentlich wird Steuerbarkeit - gerade wo es um die Behandlung der hier interessierenden Fälle selbstverfügender Opferentscheidung geht - in deutlich instrumentalem Verständnis als das Vermögen der Umweltgestaltung durch „Überdetermination von Kausalverläufen" interpretiert311. „Wer lediglich die Selbstgefährdung durch einen anderen veranlaßt, fbrdert oder ermöglicht, beherrscht das Geschehen weder aktuell noch potentiell, wenn der andere sich des Risikos voll bewußt ist und freiverantwortlich handelnd den gefährlichen Kausalverlauf selbstgefährdend steuert"312. Es ist tatsächlich offenkundig, daß die Freiheit des Opfers eine solche instrumentale Gestaltungsmacht des Hintermannes ausschließt. Es ist aber ebenso offenkundig - und oben (1.) bereits ausgeführt -, daß eine in diesem Sinne verstandene Steuerungsmacht fur die Verletzung rechtlicher Verhältnisse nicht notwendig vorausgesetzt ist313. Dies steht weder im Widerspruch zu der — zu305 306
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Kienapfel, JR 1978, 298; Schünemann, NStZ 1982, 61. Dazu, daß die Lehre vom Schutzzweckzusammenhang iiber die materialen Kriterien fur dessen Bestehen oder Nichtbestehen keine Aussagen treffen kann (lediglich auf die Erforderlichkeit solcher Kriterien verweist) und neben einer präzisen Bestimmung der im Rahmen der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung maßgeblichen Gefahrendimension auch keine zusätzlichen Inhalte aufweisen kann, siehe Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 84 f. Vgl. auch Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der verletzten N o r m " , S. 243 ff. Otto, AT, § 6 Rn. 53 ff. Otto, AT, § 6 Rn. 4 4 (im Original kursiv). Deutlich Otto, Jura 1984, 540: Die fur die Zurechnung erforderliche Fähigkeit zur Steuerung von Kausalverläufen sei ein Vermögen der „Person als Person" - womit auch die Grenzen der Zurechnung sich aus der Personqualität ergeben. Dazu Naucke, ZStW 76 (1964), 427 ff. Otto, Jura 1984, 540; ders., AT, § 6 Rn. 54. Otto, Jura 1984, 540. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 234.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
395
treffenden — Annahme, daß eine Haftung nur so weit reichen kann, wie der Täter in der Lage gewesen ware, den Erfolgseintritt zu vermeiden314 noch zu einem Verantwortungsprinzip, das Otto dadurch charakterisiert, „daß jede Person nur fur ihr eigenes Verhalten verantwortlich ist und nicht fur das Verhalten frei verantwortlich handelnder anderer"315. Denn vermeidbar ware der Erfolgseintritt nicht nur durch die instrumentale Steuerung des sich selbst gefährdenden Opfers (die tatsächlich unmöglich ware), sondern auch dadurch, daß schon das Verhalten unterbleibt, das die Selbstgefährdung des Opfers ermöglicht oder erleichtert316. Und auch die Geltung des zitierten Verantwortungsprinzips steht einer Haftung des Außenstehenden nicht ohne weiteres entgegen, denn zur Diskussion steht (selbstverständlich) auch dann nur eine Haftung fur dessen eigenes Verhalten, wenn dieses gerade mit Blick auf daran anknüpfendes Opferverhalten verboten sein sollte317. Die danach erforderliche Normativierung der Steuerungsmacht erfolgt bei Otto dadurch, daß er die Verwirklichung der ursprünglich geschaffenen Gefahr („Ausgangsgefahr") unter Bezugnahme auf das erwähnte Verantwortungsprinzip davon abhängig macht, daß sich nicht eine neue, etwa durch das Opfer begriindete Gefahr in dem Erfolg realisiert hat318. Ausschlaggebend ist bei dieser Sichtweise also nicht die fehlende instrumentale Steuerungsmöglichkeit bezogen auf das Verhalten des Opfers, sondern der Umstand, daß dessen Verantwortlichkeit eine Zurechnung zum Außenstehenden spent. Das Verantwortungsprinzip soil es danach prinzipiell ausschließen, für die Realisierang solcher Gefahren zu haften, die von einem frei verantwortlich handelnden Anderen geschaffen wurden319. Auch dies ist freilich evident, soweit damit gesagt ist, daß jeder nur fur die Erfolge haftet, in denen sich eine von ihm geschaffene Gefahr realisiert. Die Haftungsgrenze verlöre erst dann ihre Trivialität, wenn sie auch bei solchen Gefahren eingriffe, die gerade durch die Möglichkeit einer schadensverursachenden Zweithandlung definiert sind. Die entscheidende Frage ist also die, ob es das Verantwortungsprinzip grundsätzlich ausschließt, eine unerlaubte Gefahr - und folglich auch deren Realisierung - dadurch zu charakterisieren, daß es durch ankniipfendes Dritt- bzw. Opferverhalten zum Schadenseintritt kommen kann. In diesem Sinne versteht Otto sein Verantwortungsprinzip aber gerade nicht; dieses filhre nicht automatisch zur (alleinigen) Haftung des Letztverursachers. Vielmehr seien dem Erstverursacher „trotz des Dazwischentretens Dritter auch solche Erfolge zuzurechnen, die sich noch als Realisierung der von ihm geschaffenen Ausgangsgefahr darstellen", wozu auch gehöre, daß die durch das Zweithandeln vermittelte Realisierung der Erstgefährdung durch deren Verbot vermieden werden solle320. Der Täter hafte also „kraft Verantwortungszuweisung" innerhalb bestimmter „Verant-
314
Otto, Jura 1984, 539 f. Otto, AT, § 6 Rn. 49 (im Original kursiv); so auch Diel, Das Regreßverbot, S. 279. 316 v g l . Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 100. 317 So denn auch Otto, AT, § 6 Rn. 52. 318 Otto, AT, § 6 Rn. 49 f. 319 Otto, AT, § 6 Rn. 49 f.; ders., in: FS für Tröndle, S. 171 f.; ders., Jura 1984, 538 f. 320 Otto, AT, § 6 Rn. 50. 315
396 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens wortungsbereiche" auch dann, wenn eine Gefahr durch das Verhalten eines anderen vermittelt wird321. Hängt die Haftung also davon ab, ob sich eine in den Verantwortungsbereich des Täters fallende Gefahr realisiert, dann verliert das Kriterium der „Steuerbarkeit" freilich seine Bedeutung, denn als steuerbar muß jede Gefahrverwirklichung gelten, die in den Verantwortungsbereich des Täters fällt. Es ist nicht zu verkennen, daß sich das Kriterium der Steuerbarkeit in der Frage auflöst, unter welchen Aspekten ein bestimmtes Verhalten verboten ist. Es ist deshalb nicht nur eine verunglilckte Formulierung, wenn Otto schreibt: „Der durch das Verantwortungsprinzip begrilndete Zurechnungszusammenhang wird danach durch die Steuerbarkeit des gefahrbegründenden bzw. -erhöhenden Verhaltens begründet"322, sondern diese doppelte Begriindung des Zurechnungszusammenhangs kennzeichnet eine Unklarheit in der Sache. Diese Unklarheit wird auch nicht beseitigt, wenn es dann weiter heißt: „Derjenige haftet fur den Erfolg, der eigenverantwortlich und steuerbar die Gefahr begründet oder erhöht hat, die sich im Erfolg realisiert hat"323. 1st fur die Haftung also bei genauerem Hinsehen lediglich die „Verantwortungszuweisung" ausschlaggebend, mit der auch iiber die Steuerbarkeit eines Geschehens entschieden ist, dann erhält das Verantwortungsprinzip eher den Charakter einer Auslegungshilfe bei der Konturierung der Verantwortungsbereiche und stellt insoweit den Grundsatz auf, daß prinzipiell davon auszugehen ist, daß frei verantwortliches Handeln anderer die Haftung des Verursachers der „Ausgangsgefahr" ausschließt. In diesem Sinne läßt es sich dann auch verstehen, wenn Otto bei der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung eine Haftung des Außenstehenden wegen einer „Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs" ablehnt, wenn das Tatopfer „sich frei verantwortlich und in voller Kenntnis des Risikos einer Gefahr fur die eigenen Rechtsgliter aussetzt"324. Eine Verantwortungszuweisung an den Außenstehenden soil nicht in Betracht kommen, was Otto durch eine Reformulierung des Verantwortungsprinzips aus der Perspektive des Opfers zum Ausdruck bringt: Das Opfer trage dadurch, daß es sich eigenverantwortlich in eine Gefahrsituation begebe, auch die Folgen seiner Entscheidung und könne hierfür Dritte nicht strafrechtlich verantwortlich machen325. Das Verantwortungsprinzip ist aber offenbar in seiner Abhängigkeit von der Konturierung der maßgeblichen Verantwortungsbereiche noch zu schwach und zu unscharf, um auch in diesen Fallen die Möglichkeit einer „Verantwortungszuweisung" abzuwehren. Abgesehen von diesem Mangel, der sich aus der zu abstrakten Bestimmung des Verantwortungsprinzips ergibt, diirfte aus dem Vorstehenden bereits deutlich geworden sein, daß es in den Fallen der Selbstgefährdung des Opfers in Wahrheit nicht - wie Otto meint - um ein Problem der Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs gehen kann. Denn daß sich die vom Außenstehenden 321 322 323 324 325
Otto, AT, §6Rn. 51 f. Otto, AT, § 6 Rn. 52. Otto, AT, § 6 Rn. 52 (im Original kursiv). Otto, AT, §6Rn. 61. Otto, AT, § 6 Rn. 62.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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geschaffene „Gefahr" im Erfolg realisiert hat, ist so lange evident, wie durch das Verhalten des Außenstehenden die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem Schadenseintritt aufgrund selbstgefährdenden Verhaltens kommt, erhöht worden ist. Wenn Otto trotz der Schaffling einer solchen Gefahr den Zurechnungszusammenhang bei selbstgefahrdendem Opferverhalten in Frage stellt, dann deshalb, weil diese Gefahr mit Blick auf bestimmte Verläufe als rechtlich irrelevant definiert wird, also unter diesem Aspekt nicht rechtlich mißbilligt ist326. Dann zeigt sich aber, daß es in Wahrheit nicht erst um eine Frage der Realisierung der Gefahr im Erfolg geht, sondern um die vorgelagerte Frage, ob die Gefahrschaffung gerade unter dem Aspekt solcher Verläufe eine rechtlich mißbilligte ist327. Weil ein Verhalten nicht mit Blick auf die Möglichkeit daran anküpfenden selbstgefährdenden Opferverhaltens rechtlich mißbilligt ist, kann sich in solchem Opferverhalten auch keine rechtlich mißbilligte Gefahr im Erfolg realisieren. Ob es tatsächlich zu selbstgefahrdendem Opferverhalten kommt, spielt fur die Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden aber freilich keine Rolle. Zusammenfassend: Es geht also nicht erst um die Frage, ob dem Außenstehenden ein eingetretener Verletzungserfolg zugerechnet werden kann, sondern schon darum, ob sein Verhalten (auch mit Blick auf die bloße Möglichkeit des Eintretens solcher Erfolge) rechtlich erlaubt ist; es geht also schon um die Frage, ob der Außenstehende ein (tatbestandlich erfaßtes) Handlungsunrecht verwirklicht. Diese Frage nun wird in der Sache - wenn auch unter der irrefuhrenden Rubrizierung der objektiven Zurechnungslehre - von denen thematisiert, die die Fälle des selbstgefährdenden Opferverhaltens als Problem der Schaffling einer rechtlich mißbilligten Gefahr thematisieren328. Es geht also als Voraussetzung jedes tatbestandsmäßigen Verhaltens darum, ob der Täter eine Verhaltensnorm verletzt, die und dies ist der berechtigte Kern der Schutzzwecklehre - dazu dienen soil, das Opfer gerade vor selbstgefahrdendem Verhalten zu schiitzen. Freilich ist auch mit dieser Einsicht erst die richtige Rubrizierung des Problems geleistet.
cc) Das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung Die Begründung für die Straffreiheit des Außenstehenden - und zwar schon als Folge der Rechtlichkeit seines Verhaltens mit Blick auf die Gefährdung der Individualgüter des Opfers - ist die gleiche wie auch in den Fallen der Beteiligung an einer Selbstschädigung: das Verhalten des Außenstehenden ist deshalb erlaubt, weil es dem Opfer lediglich die Möglichkeit einer Selbstgefährdung einräumt und weil diese Möglichkeit als zum Bestand des Selbstbestimmungsrechts gehörend keinen Grund fur eine Einschränkung der Handlungsfreiheit Dritter bietet329. Es spielt demnach für die Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden keine Rolle, ob das Opfer auch wirklich durch eine selbstverfügende Entscheidung an 326
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So auch schon - allgemein gegen eine Verortung des Problems in der objektiven Zurechnungslehre - Frisch, N S t Z 1992, 5. Dazu grundlegend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 33 ff., 148 ff.; Rudolphi, JuS 1969, 556. So eingehend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 156 ff.
398 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
dieses Verhalten ankniipft oder nicht. Es kommt nicht auf eine zustimmende Stellungnahme des Opfers zum Verhalten des Außenstehenden an, sondern die Fälle liegen so, daß mit Blick auf die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers die Eröffhung der Selbstgefährdungsmöglichkeit rechtlich erlaubt ist. Daraus folgt, daß es verfehlt ist, in solchen Fallen eine Einwilligung in das Verhalten des Außenstehenden als Grund fur dessen Rechtlichkeit anzugeben330. Denn die Einwilligung ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß erst ihr tatsächliches Vorliegen ein prinzipiell verbotenes Verhalten zu einem erlaubten macht. Auf eine solche Umgestaltung der Verhältnisse durch das Opfer kommt es aber in den hier erörterten Fallen nicht an. Das Verhalten ist erlaubt, ohne daß das Opfer sein Selbstbestimmungsrecht tatsächlich in die eine oder andere Richtung ausiibt. Am Beispiel des Heroinspritzenfalls: das Verhalten des Außenstehenden ist deshalb erlaubt, weil die Verwendung der Spritze der selbstbestimmten Entscheidung des Opfers unterliegt. Die Weitergabe als solcher bedarf deshalb unter dem Aspekt möglicher Selbstgefährdung keiner Zustimmung des Opfers. Da der Selbstbestimmungsfreiheit die Eingehung von Risiken ohne Rilcksicht darauf unterliegt, welche innere Einstellung der selbstverfilgend Handelnde zur Möglichkeit der Risikorealisierung einnimmt, ist es auch ohne Bedeutung fur die Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden, ob das Opfer den Erfolgseintritt „vorsätzlich" oder „(bewußt) fahrlässig" herbeiführt, so lange es nur iiber die Größe des eingegangenen Risikos orientiert ist (also nicht defizitär handelt, was möglicherweise - aber nicht notwendig - eine Haftung des Außenstehenden begründet;dazuIII.)331'332. Die am tiefsten gründende Formulierung der Gegenposition stammt von Zaczyk, der an die von ihm in Abhängigkeit von der subjektiven Einstellung des Opfers zum Erfolg getroffenen Unterscheidung in Selbstschädigung und Selbstgefährdung weitreichende rechtliche Folgerungen kniipft. Zaczyk meint, der sich selbst Verletzende stelle „eine besondere Einheit zwischen Wille, Handlung und Erfolg her" und es sei „gerade dieser selbsthergestellte Zusammenhang, der es verhindert, den Beitrag eines anderen zu dieser Aktion als freiheitsverletzend (in rechtlicher Sicht) und damit als Unrecht zu begreifen"333, während bei der Selbst-
So aber Dach, NStZ 1985, 25; Weber, in: FS für Baumann, S. 46, 52 f. (bei dem die Behandlung des Problems als eines der Einwilligung in den Fallen der Weitergabe von Betäubungsmitteln allerdings deshalb konsequent ist, weil er die Weitergabe unter dem Aspekt des Individualgilterschutzes fur verboten halt, also gerade von einem prinzipiell verbotenen Verhalten ausgeht. Es ist von diesem Ausgangspunkt dann weiter folgerichtig, daß auch die Einwilligung die rechtliche Verbotenheit nicht beseitigen kann). Zutreffend dagegen Frisch, NStZ 1992, 7. So auch Freund, Erfolgsdelikt, S. 199; vgl. auch Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 342 ff. Ob also bei „unbewußter Fahrlässigkeit" des Opfers im Hinblick auf die Riskantheit des Verhaltens eine defizitäre Entscheidungssituation vorliegt, die eine Haftung des Außenstehenden begründet, ist eine zusätzliche Frage der normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten, dazu unten III. 2., 3. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 33.
II. Die angemessene Beriicksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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gefährdung „gerade der vom Opfer gestiftete Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg, der eine Sperre gegenüber fremder Beherrschung bildet", fehle334. Deshalb schließe das (bloße) Gefährdungsbewußtsein des Opfers eine Fahrlässigkeitshaftung des Außenstehenden dann nicht aus, wenn es ,,fur den Bestand seines Rechtsguts auf die Verantwortung einer anderen Person bauen kann"335. Die Frage, warm dies der Fall sei, beantwortet Zaczyk in zwei Priifungsschritten: ein Fall der „Fremdgefahrdung" (womit auch gemeint ist: der Fahrlässigkeitshaftung336) liege zunächst dann vor, wenn „das Opfer in rechtlich fester Form darauf vertrauen (kann), daß der andere (Täter) den zur Verletzung führenden Verlauf durch pflichtgemäßes Verhalten beherrscht"337. Aber auch wenn ein solches Vertrauen nicht berechtigt ist (und deshalb insoweit eine Selbstgefährdung vorliege) sei weiter zu fragen, ob „das Opfer in rechtlich fester Form darauf vertrauen (konnte), daß ihm schon gar nicht die Möglichkeit eröffnet wird, den Schritt in die Selbstgefährdung zu tun"338. Erst wenn auch darauf nicht vertraut werden kann (was der Regelfall sei), scheide eine Haftung des Außenstehenden aus; es stehe dann fest, „daß das Opfer sorgfältiges Verhalten eines anderen nicht in den Handlungszusammenhang als Garantie fur das eigene Rechtsgut einsetzen kann; es übernimmt also das Risiko der Verletzung in die eigene Verantwortungssphäre, wenn es sich freiwillig in die Situation begibt oder sich ihr nicht entzieht"339. Die Abgrenzung der Selbst- von der Fremdgefahrdung erhält insoweit einen geänderten Sinn (der sich mit der hier vertretenen Konzeption nicht deckt), als die Fremdgefahrdung mit der Haftung des Außenstehenden identifiziert wird. Soweit Konstellationen angesprochen werden, in denen sich das Opfer einem gefährlichen, grundsätzlich rechtlich mißbilligten 334
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Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 5 3 ; ähnlich Puppe, in: N K , V o r § 13 Rn. 166; Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 124 f., 139 ff. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56. Diese Gleichsetzung v o n Fremdgefahrdung u n d Fahrlässigkeitshaftung (in Abgrenzung zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung) findet sich auch bei Otto, AT, § 6 Rn. 6 3 . Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56. So auch Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 140, die aber in Wahrheit nicht mehr die Fälle einverständlicher Fremdgefahrdung thematisiert, wenn sie als Beispiel den Fall eines professionellen Bergfuhrers bildet, der die Gruppe entgegen der iiblicherweise zu erwartenden Erfullung seiner Pflicht an besonders lawinengefänrdete Hänge flihrt und aufgrund seiner Unachtsamkeit dort v o m W e g abkommt. Lost sich in dem gefährlichen Gelände nun eine Lawine, so liegt die Pflichtverletzung des Bergfuhrers bereits darin, daß er die Gruppe durch die gewählte Route in Gefahren gebracht hat, auf die sich die Einwilligung der Gruppe nicht bezogen hat. Die Gruppe konnte also wegen fehlender Zustimmung in das erhöhte Risiko in rechtlich fester Form darauf vertrauen, daß der Täter die Gefahren einer solchen Wanderung auf das Mindestmaß reduziert. Dies entspricht letztlich auch der Auffassung von Schiirer-Mohr, a.a.O., wie sich daran zeigt, daß sie den Fall anders entscheiden will, wenn die Gruppe mit der besonders gefährlichen Route einverstanden gewesen ware. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56 f.
400 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Verhalten des Außenstehenden aussetzt, handelt es sich nach der hier getroffenen Differenzierung um Fälle der Fremdgefährdung, die deshalb später (c)) zu behandeln sind. Das gilt unabhängig davon, ob das Opfer in „rechtlich fester Form" auf die Gefahrbeherrschung durch den Außenstehenden vertrauen darf340 (also in den Fallen, die auch Zaczyk der Fremdgefährdung zuschlägt) oder ob ein solches Vertrauen nicht berechtigt ist. Auch nach der hier vertretenen Einteilung um Fälle der Selbstgefährdung handelt es sich dann, wenn der Außenstehende dem Opfer lediglich die Möglichkeit zu dem gefährdenden Verhalten eröffhet oder erleichtert hat. Zutreffend geht Zaczyk davon aus, daß solches Verhalten des Außenstehenden prinzipiell nicht den Vorwurf fahrlässigen Verhaltens trägt. Soweit die „Ausnahmefälle" von diesem Grundsatz solche sind, in denen eine „Schwäche oder Unselbständigkeit des Opfers" dadurch auszugleichen ist, daß diesem erst gar nicht die Möglichkeit zu selbstgefährdendem Verhalten eröffnet wird341, ist - ebenfalls prinzipiell zu Recht - auf Grenzen rechtlicher Selbstbestimmung bei Entscheidungsdefiziten verwiesen. Allerdings will Zaczyk die Haftung des Außenstehenden ftlr selbstgefährdendes Verhalten nicht auf solche Fälle defizitärer Opferentscheidung begrenzen342. Praktisch bedeutsam wird dies vor allem in den Fallen der Weitergabe von Rauschgift. Der Sinn der im BtMG statuierten Verbote liege darin, „den einzelnen den Gefahren des Rauschgifts nicht auszusetzen". Zu diesen Gefahren seien auch körperliche Beeinträchtigungen und daraus resultierende Lebensgefahren zu rechnen, die „gleichsam akut" werden, „wenn ein anderer dem Opfer Rauschgift zugänglich macht"343. „Das Opfer kann also in rechtlicher Hinsicht - unabhängig von seiner aktuellen Zustimmung - darauf rechnen, daß ihm diese nahe Möglichkeit der Selbstgefährdung nicht eröffnet wird"344. Diese Auffassung kann in ihrer paternalistischen Tendenz nicht ilberzeugen345. In ihr wird dem Staat die Kompetenz des Schutzes der Person vor sich selbst zugesprochen und die Person wird als eine vorgestellt, die dieses Schutzes bedarf. Es bleibt dann aber ganz unklar, wie so gedachte Personen mit einem so gedachten Staat in einen Begriindungszusammenhang gebracht werden sollen. Der bloße Hinweis auf die positivrechtlichen Vorschriften des BtMG vermag in einem An340
341 342
343 344 345
So daß bei normativer Betrachtung schon gar keine Gefahr besteht. Deshalb läge es eigentlich nahe, die Zustimmung des Opfers auf solches Täterhandeln zu beschränken, das infolge Beherrschung des Geschehens letztlich ungefährlich ist. W e n n sich das O p fer gerade auf ein solches Verhalten einläßt, das seine Riskantheit mangels Gefahrbeherrschung behält, dann wird ihm insoweit die Zustimmungskompetenz zu seinem eigenen Schutz abgesprochen und es setzt sich ein das Opfer entmündigender Paternalismus durch. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 56 spricht „insbesondere" v o n „Schwäche oder Unselbständigkeit des Opfers" als Grundlage des Fahrlässigkeitsurteils. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 60. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 60. Zutreffend kritisch insoweit auch Neumann, G A 1996, 38 f.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
401
satz, der sich selbst gerade in seiner Inanspruchnahme eines Prinzips der Selbstverantwortung dem positiven Recht als Maßstab versteht346, nicht zu erklären, warum das positive Recht nun ohne weiteres staatliche Bevormundung als Recht begründen können soil. Dabei ist diese bevormundende Interpretation des Verbots der Abgabe von Rauschgift durchaus eine gewählte und keinesfalls die einzig mögliche. Denn die in Rede stehenden Vorschriften lassen sich sehr wohl auch durch die (sei es auch ganz fernliegende, meist aber durchaus naheliegende) Möglichkeit legitimieren, daß es zu nicht selbstbestimmtem Umgang mit Betäubungsmitteln kommt (insbesondere infolge jugendlicher Unreife oder infolge der suchtbedingten Unfahigkeit, den Umgang mit der Droge zu kontrollieren) und auch ilberindividuelle Belange der Gemeinschaft, wie etwa die Leistungsfähigkeit des Sozialsystems, können tangiert sein. Wenn also unabhängig von tatsächlich bestehenden Defiziten der Schutz individueller Güter der Person vor sich selbst zum Schutzgut des BtMG erklärt wird, dann liegt darin eine das Selbstbestimmungsrecht der Person verkilrzende Interpretation dieser Vorschriften, die am Maßstab dieses Rechts auf selbstbestimmten Umgang mit eigenen Gütern gerade auszulegen gewesen wären. Die Annahme, die paternalistische Kompetenz der anderen könne deshalb bestehen, weil das Opfer durch seinen Willen nicht den Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg herstelle (während in Fallen der Selbstschädigung gerade die vom Opfer hergestellte Einheit von Handlung, Wille und Erfolg fremde „Beherrschung" sperre347), vermag nicht zu überzeugen. Dabei geht es nicht darum, mit der bewußten Eingehung eines Risikos auch ein Einverstandensein mit dem Erfolgseintritt zu fingieren348, sondern es ist schon nicht einsichtig, warum die Einstellung des Täters zum Erfolgseintritt ilberhaupt ein Kriterium sein soil, anhand dessen das Selbstbestimmungsrecht - ausgeübt im Sinne des selbstbestimmten Eingehens eines Risikos - reduziert werden soil. Die Schwäche liegt darin, daß die lediglich mit Gefährdungsbewußtsein vorgenommene Handlung bei der von Zaczyk vorgenommenen Differenzierung gleichsam als defizitär angesehen wird349. Doch in der Hoffhung, ein bestimmtes Risiko werde sich nicht verwirk346 347 348 349
Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 19 ff., insb. S. 22. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 53. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 4 9 f., 5 1 . Vgl. Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 35 und S. 38, w o ausgefuhrt wird, wie im Falle eines Willensmangels der Zusammenhang v o n Wille, Handlung u n d Erfolg gelöst wird. Siehe auch S. 5 1 , w o die konsentierte Gefährdung von Gütern des Opfers einer solchen Gestaltung des personalen Zusammenhangs konfrontiert wird, bei der durch „richtiges Verhalten" die Existenz des Rechtsguts gesichert wird; dazu noch unten c) cc). Ausdrücklich im Sinne eines Defizits bei Fahrlässigkeit Herzberg, JA 1985, 270, der meint, es gebe „bei der Selbstgefährdung ohne Todeswunsch nicht den absolut freiverantwortlich gefällten Handlungsentschluß". Danach soil das Opfer immer schon dann „das Risiko verkannt" haben, wenn es kein „vollkommenes Tatsachen und naturgesetzliches Wissen" hat u n d deshalb - etwa im Fall B G H S t 32, 262 - seinen T o d nicht „als zwangsläufige oder doch so hochwahrscheinliche Folge seines Handelns" erkannt hat, daß es zur Vermeidung dieses Erfolges auf den Drogengenuß verzichtet. Aber im Recht kann nicht eine in diesem Sinne „absolute" Freiverantwortlichkeit ge-
402 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens lichen, liegt - abgesehen von Fallen eines nicht nachvollziehbaren (etwa euphorischen) Optimismus, der auf eine defizitäre Einstellung zum Risiko verweisen mag - keine Schwäche des Entscheidenden, die ihre rechtliche Nichtemstnahme legitimieren könnte. Nicht der Wille zum Erfolg als psychologisches Datum schließt den Außenstehenden von dem vom Opfer gestifteten Zusammenhang von Handlung und Erfolg aus, sondern das Selbstbestimmungsrecht des Opfers, das sich auch in der Entscheidung fur die Eingehung eines Risikos verwirklicht. Das läßt sich auch aufzeigen, wenn man die Perspektive des Außenstehenden einnimmt: Der ihn treffende Fahrlässigkeitsvorwurf müßte in der kritisierten Konzeption gerade davon abhängen, daß das Opfer eine bewußte Selbstgefährdung ohne den Willen zur Erfolgsherbeimhrung vornimmt. Diese Einstellung des Opfers zum Erfolg - die wie gesagt keinen Mangel ausdrückt - wird so zu einem Grand der Haftung und dieser Grand entfällt, wenn das Opfer den Erfolg in seinen Willlen aumimmt. Bezogen auf die Fälle der Abgabe von Heroin bedeutet dies: konsumiert der Empfänger die Droge nicht nur in dem Bewußtsein der Gefahr, sondern auch mit (zumindest bedingt) vorsätzlicher Einstellung zur Realisierung dieser Gefahr im Erfolg, dann fehlt es unter diesem Aspekt an einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung durch den Außenstehenden, denn das Opfer soil nicht davor geschiitzt werden, durch seinen Willen die Einheit von Handlung und Erfolg herzustellen. Das könnte nur richtig sein, wenn es eine Pflicht des Außenstehenden geben wtirde, solche Handlungen zu unterlassen, die von einem bestimmten Willlen getragene Handlungen ermöglichen. Es kann aber keine Pflicht des Außenstehenden bezogen auf die Willensrichtung geben, mit der der andere eine Handlung vornimmt. Es ist also festzuhalten: Wie schon fur die Fälle der Selbstschädigung herausgearbeitet, ist das eine Selbstverfügung des Opfers ermöglichende oder erleichternde Verhalten des Außenstehenden nach der Verhaltensordnung unabhängig davon erlaubt, ob das Opfer tatsächlich mit einer selbstverftigenden Entscheidung an dieses Verhalten anknüpft. Ob das Opfer dieses Verhalten nun in den Dienst einer Selbstgefährdung stellt, also auf den Nichteintritt des Erfolges vertraut, oder ob der Erfolgseintritt von seinem „Vorsatz" umfaßt ist, ändert nichts an der Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden. Einschränkungen der Handlungsfreiheit der Beteiligten lassen sich nicht aus einer Willenshaltung legitimieren, die das Opfer einnimmt. Ein (iiber Verhaltensvorschriften, die an den Außenstehenden gerichtet
fordert werden, die übermenschliche Fähigkeiten voraussetzt und jedes Risiko eines naturgesetzlich vermittelter Schadenseintritts zur Gewißheit werden läßt. Aber selbst die nach dem Wissensstand der Zeit höchstmögliche Einsicht in ein Risiko wird fur eine freiverantwortliche Entscheidung nicht gefordert werden können (auch in diesem Sinne hätte etwa der Drogenkonsument nicht freiverantwortlich gehandelt, denn sein persönliches Risiko hätte etwa durch eine Untersuchung seines körperlichen Zustandes und eine Analyse der konsumierten Droge weiter aufgeklärt werden können). Ob eine Entscheidung defizitär ist, ist eine normative Frage, zu deren Beantwortung es entscheidend darauf ankommt, welche Kenntnis der risikorelevanten Faktoren in einer Rechtsordnung als hinreichende Entscheidungsgrundlage akzeptiert wird; näher unten III. 2., 3.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfiigender Opferentscheidungen
403
sind, vermitteltes) Verbot, sich in riskante Situationen zu begeben, ist nicht legitimierbar. Als nach der Primärordnung rechtlich erlaubtes Verhalten kommt es auch nicht als rechtlich mißbilligte Gefahrschaffling im Sinne eines individualgüterschützenden Tatbestands in Betracht. Wird das Risiko unterschätzt oder überhaupt nicht erkannt, so ist die Entscheidung defizitär. Zwar steht auch damit noch nicht fest, ob der Außenstehende sich pflichtwidrig verhalten hat, weil das Entscheidungsdefizit in den Verantwortungsbereich des Opfers fallen kann, aber es ist zumindest die Möglichkeit eröffiiet, daß sich der Außentstehende (jedenfalls bei Erkennbarkeit des Defizits) pflichtwidrig verhalten hat.
c) Die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung - Die Opferentscheidung modifiziert das konkrete Rechtsverhältnis Die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung sind analog denen der einverständlichen Fremdschädigung dadurch charakterisiert, daß erst die Umgestaltung des konkreten Rechtsverhältnisses durch eine Entscheidung des Opfers dem Außenstehenden ein gefährdendes Verhalten, das prinzipiell verboten ware, ausnahmsweise erlaubt. Das Selbstbestimmungsrecht der Person bezogen auf den Umgang mit sich selbst und ihren Giltern deckt (soweit die Entscheidung nicht defizitär ist oder ihre Realisierung drittverletzend ware) auch solche selbstverfugenden Entscheidungen, bei denen sich die Person einer sonst verbotenen Gefahrschaffung durch den Außenstehenden aussetzt. Der Unterschied zu den Fallen der Selbstgefahrdung liegt (ebenfalls analog zur Behandlung der Fremdschädigung im Verhältnis zur Selbstschädigung) in der dogmatischen Verortung der selbstbestimmten Opferentscheidung: ist diese in das Rechtsverhältnis modifizierender Weise tatsächlich ausgeübt, schließt sie nicht bereits die Tatbestandsmäßigkeit, sondern erst die Rechtswidrigkeit aus. Dies ist im Folgenden in Auseinandersetzung mit den vorfindlichen Stellungnahmen zu zeigen. Rechtsprechung und Literatur haben demgegenilber weder hinsichtlich der Abgrenzung zu den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstgefahrdung, noch hinsichtlich der deliktssystematischen Verortung, noch hinsichtlich der sachgerechten Behandlung der Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung eine konsistente Linie entwickelt. Bevor die Fruchtbarkeit des eigenen Ansatzes aufgezeigt werden kann (cc), ist auch hier das Bemiihen von Rechtsprechung (aa) und Literatur (bb) kritisch aufzunehmen.
aa) Die Rechtsprechung Ausgangspunkt der Judikatur zur einverständlichen Fremdgefährdung ist die Entscheidung des RG im beriihmten „
RGSt 57, 172.
404 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Zwei Reisende hatten einen Fährmann dazu gedrängt, sie bei stiirmischem Wetter tlber die Memel zu setzen. Der Fährmann hatte beide über die Gefährlichkeit dieses Vorhabens informiert. Trotz sorgfältiger Ausführung des Unternehmens kenterte die Fähre und die Reisenden ertranken. Das RG hat das Verhalten des Fährmanns als nicht pflichtwidrig351 angesehen. Die Reisenden „waren erwachsene und verständige Manner, die das Gefährliche der beabsichtigten Fahrt vollständig in genau demselben Maße wie der Angeklagte übersahen. Irgendwelche Tatsachen, die diesem eine Obhut oder Ftlrsorge hinsichtlich beider auferlegt hätten, wie sie unter Umständen aus dem Bestehen eines Vormundschafts- oder Pflegeverhältnisses, aus dem Unterschied der Einsicht und Erfahrung oder der Lebensjahre und ähnlichem mehr entnommen werden könnten, sind nicht erkennbar. Der Angeklagte hat auch nichts getan, die beiden über die Gefährlichkeit ihres Beginnens zu täuschen, noch sich etwa vorschnell aus Übermut oder Gleichgültigkeit um persönlicher Vorteile willen auf ihr Ansuchen eingelassen, er hat vielmehr beide auf das Gefährliche des Unternehmens wiederholt und nachdrilcklich hingewiesen, sie davon abzuhalten gesucht und erst auf ihr unausgesetztes Drängen (...) nachgegeben (,..)"352. Fehlende Pflichtwidrigkeit - und damit nach modernem Verständnis: fehlende Tatbestandsmäßigkeit - würde freilich nach der hier getroffenen Unterscheidung bedeuten, daß es sich um einen Fall eigenverantwortlicher Selbstgefährdung handelt. Der BGH hat diese Einordnung später unter Bezugnahme auf den MemelFall für solche Fälle bestätigt, in denen ,jemand eine gewisse Gefahr in deren klarer Erkenntnis in Kauf genommen und der Täter seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht genügt hat"353. Aber diese „allgemeine Sorgfaltspflicht", die der Fährmann bei der Fahrt beachtet hat, schließt nicht aus, den Vorwurf der Sorgfaltspflichtverletzung bezogen auf den Fahrtantritt zu erheben. Dementsprechend hat auch das RG die Frage, ob der Fährmann beim Übersetzen die erforderliche Sorgfalt beachtet hat, nicht unter dem Gesichtspunkt der Zustimmung der Reisenden thematisiert354, derm es war nicht zu bezweifeln, daß die Zustimmung der Reisenden zum Fahrtantritt mit der Maßgabe erteilt war, daß der Fährmann bei der Überfahrt die gebotene Sorgfalt walten lassen wilrde. Bewilligt war nicht das Risiko von Fahrfehlern, mit denen der Fährmann hinter dem nach den erschwerten Bedingungen Möglichen zurückgeblieben ware, sondern allein das angesichts der erschwerten Bedingungen erhöhte Risiko, daß auch ein sorgfältig agierender Fährmann die Gefahr nicht meistert. Der Hinweis auf die „allgemeine Sorgfaltspflicht" bezieht sich demnach auf einen anderen Anknüpfungspunkt, nämlich auf die sachgerechte Durchfuhrung der Fahrt unter erschwerten Bedingungen, während sich die Bewilligung auf den Fahrtantritt trotz dieser Bedingungen bezieht355. 351
352
Das heißt nach damaligem Verständnis zur Einordnung dieses Erfordernisses: als nicht schuldhaft (siehe RGSt 57, 172, 173). RGSt 57, 172, 173 f.
353
BGHSt4, 88, 93.
354
RGSt 57, 172, 174. So auch Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 95.
355
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
405
Nach der hier vertretenen Auffassung sachgerecht ist die Einordnung als Fall der einverständlichen Fremdgefährdung, was sich aus dem Umstand ergibt, daß der Transport der Reisenden mit Blick auf seine besondere, liber den normalen Fährbetrieb deutlich hinausgehende Gefährlichkeit für die Reisenden grundsätzlich eine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung in Richtung auf deren Leben darstellt (und zwar auch dann, wenn der Fährmann sich unter diesen erschwerten Bedingungen sorgfaltsgemäß verhält). Schon der Antritt der Fahrt war mit Blick auf die Gefahren fur das Leben der Reisenden nur in Abhängigkeit von der Zustimmung der Passagiere erlaubt (und die Einhaltung der allgemeinen Sorgfalt bei Ausfuhrung des Unternehmens war Inhalt dieser Zustimmung). Verdeutlichen läßt sich dies daran, daß ein Transport der Reisenden gegen ihren Willen nicht etwa nur als Nötigung oder Freiheitsberaubung faßbar ware, sondern auch das Handlungsunrecht von Delikten gegen die körperliche Integrität und das Leben verwirklicht hätte. Das prinzipiell als Fremdgefährdung rechtlich verbotene Verhalten des Fährmanns kann rechtlich erlaubt erst durch eine Entscheidung der Reisenden sein, die das konkrete rechtliche Verhältnis umgestaltet. Freilich hat das RG seine Beurteilung der Pflichtwidrigkeit des Täterverhaltens nicht allein von der bewußten Eingehung des Risikos durch die Reisenden abhängig gemacht. Vielmehr finden sich auch eine Reihe von Erwägungen, die mit der freien Entscheidung der Reisenden nicht in Zusammenhang zu bringen sind, wenn es etwa heißt, daß der Fährmann sich nicht „etwa vorschnell aus Übermut oder Gleichgültigkeit um persönlicher Vorteile willen auf ihr Ansuchen eingelassen" habe. Soweit solche subjektiven Tendenzen beim Täter die von den Opfern erkannte Gefahr nicht erhöhen, können sie offenbar nichts an der bewußten Entscheidung fur die Eingehung dieser Gefahr ändern. Da die geschilderten Umstände aber tatsächlich nicht vorlagen, läßt sich nicht abschließend beurteilen, welche Bedeutung das RG diesen Erwägungen beigemessen hat. Die weitere Interpretation der Entscheidung im „Memel-Fall" durch das RG (und später durch den BGH) ist jedenfalls nicht davon ausgegangen, daß das RG einen allgemeinen Grundsatz aufstellen wollte, wonach die Zustimmung zu einer Gefährdung das Unrecht einer fahrlässigen Verletzung von Individualrechtsgütern ausschließe. Das RG hat ausgefuhrt: „Jenes Urteil (zum „Memel-Fall", der Verf.) bewertet das Einverständnis des Gefährdeten lediglich als einen der Umstände, unter denen man eine gefährliche, aber aus irgendwelchen triftigen Gründen geboten oder zweckmäßig erscheinende Handlung ohne Pflichtverletzung vornehmen darf, und zwar unter dem Gesichtspunkte der vorherigen völligen Aufklärung eines Mitgefährdeten iiber die Art und Tragweite der Gefahr; es sagt aber keineswegs, daß ein solches Einverständnis schon für sich allein gegen die Erfolgshaftung decke, geht vielmehr davon aus, daß die Vornahme der gefährdenden Handlung keiner Pflicht, namentlich keinem Rechtsverbot widerspricht, und daß sie mit schuldiger Sorgfalt erfolgt"356. Nach diesen Ausfuhrungen im sogenannten „MoRG,JW 1925,2250,2252.
406 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
torrad-Fall" komme eine den Täter entlastende Einwilligung des von ihm auf seinem Motorrad mitgenommenen und dabei tödlich verunglückten Opfers deshalb nicht in Betracht, weil dem Täter als dem „Leiter der Fahrt" die „gewissenhafte Ausführung des Untemehmens" oblegen habe. Diese Verantwortung habe „seinem Begleiter gegeniiber genauso gut wie gegenüber der Allgemeinheit" bestanden, denn sie sei eine „absolute" gewesen „und ihm von dem, der sich ihm anvertraut hatte, weder ausdrücklich noch (durch bloßes Dulden der Fahrweise) stillschweigend erlassen worden"357. Soweit diese Unverfllgbarkeit unter Hinweis auf Rechte der Allgemeinheit begründet wird358, gehört diese Argumentation in den Zusammenhang der noch ausstehenden Erörterung von Einschränkungen der Handlungsfreiheit mit Blick auf Rechte anderer (IV.)- Doch der Hinweis auf die „absolute" Verantwortung gegenüber dem Beifahrer zeigt, daß auch dessen Disposition iiber seine eigene (Lebens-) Gefährdung rechtlich nicht möglich sein soil. Auch in dieser Entscheidung diskutiert das RG das zustimmende Opferverhalten in Auseinandersetzung mit dem „Memel-Fall" noch als Problem der Sorgfaltswidrigkeit. Sowohl die geänderte Terminologie - nämlich die Bezeichnung der Zustimmung als „Einwilligung" -, als auch der Gedanke, daß die Einhaltung der Sorgfaltspflicht in Richtung auf das Leben des Beifahrers der Verfugungsbefugnis der Beteiligten entzogen sei, riickt die Entscheidung aber schon in die Nähe zur späteren Rechtsprechung. In der Rechtsprechung des BGH und der Instanzgerichte hat sich von Anfang an und ohne prinzipielle Begriindung die Auffassung durchgesetzt, daß in den vielfach entschiedenen Fallen der mit Blick auf die aus unterschiedlichen Grilnden unerlaubt erhöhten Gefährdung359 für einen in einem Fahrzeug mitgenommenen Beifahrer eine sorgfaltswidrige Handlung des Fahrers im Sinne der §§ 222, 229 StGB ungeachtet des Gefährdungsbewußtseins des Beifahrers vorliege360. Das praktisch wichtigste Beispiel für solche Fälle ist die Autofahrt mit einem Betrunkenen, der - wie der Beifahrer weiß - nicht mehr fahrtiichtig ist361. Die Zustim357 358 359
360
361
RG,JW 1925, 2250, 2251. In diesem Sinne auch BayObLG, N J W 1957, 1245 f. Das O L G Oldenburg ( N J W 1966, 2132, 2133) sieht die Einwilligung in eine Fremdgefahrdung auf die Fälle unerlaubt riskanten Täterverhaltens begrenzt und verneint deshalb eine Einwilligung des Beifahrers in d a s Risiko, daß es auch beim fahrtilchtigen Fahrer zu sorgfaltswidrigem Fehlverhalten kommt. Das gilt auch fur die Entscheidung O L G Zweibrücken, J R 1994, 518, 519 f., denn die dort vorgenommene normative Gleichstellung eines Falles der einverständlichen Fremdgefährdung (durch Mitnahme auf der Ladefläche eines Kleintransporters) mit den Fallen der Selbstgefahrdung des Opfers hat die Tatbestandsmäßigkeit des Täterverhaltens unberührt gelassen und lediglich Bedeutung fur die Beantwortung der Frage erlangt, o b die Einwilligung des Opfers bezogen auf die Lebensgefahr rechtlich wirksam war. BGHSt 6, 232; BayObLG, JR 1963, 27; OLG Celle, NJW 1964, 736; OLG Hamm, VRS 4, 39; MDR 1971, 67; DAR 1972, 77; OLG Koblenz, DAR 1973, 219; OLG Köln, NJW 1966, 895; OLG Schleswig, DAR 1961, 310; OLG Zweibrücken, OGSt, § 226a StGB, 1. Andere Fälle erhöhter Riskantheit für den Beifahrer sind etwa dessen Mitnahme auf der Ladefläche (OLG Hamm, VRS 7, 202; OLG Oldenburg, DAR 1959,
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
407
mung des Opfers in die erhöhte Gefährlichkeit der Fahrt wird danach nicht mehr bei der Frage der Sorgfaltswidrigkeit des Täterverhaltens diskutiert, sondern als Problem der rechtfertigenden Einwilligung362. Weitere praktisch wichtige Fälle363, in denen die Gerichte sorgfaltswidriges Verhalten des Außenstehenden trotz bewußten Hineinbegebens des Opfers in eine gefährliche Situation bejaht und die Möglichkeit eines Unrechtsausschlusses anhand der Einwilligung geprüft haben, sind Verletzungen im Zusammenhang mit sportlichen Betätigungen. Hier neigt die Rechtsprechung dazu, nicht nur bezogen auf die von regelgerechtem Verhalten ausgehenden Gefahren eine Einwilligung zu bejahen, sondern die Einwilligung auch auf leicht fahrlässige Regelverstöße zu erstrecken364. Unter welchen Gesichtspunkten die Abgrenzung der die Sorgfaltspflichtverletzung ausschließenden eigenverantwortlichen Selbstgefährdung von der einverständlichen Fremdgefährdung, bei der das Täterverhalten durch eine Einwilligung gerechtfertigt sein kann, vorzunehmen ist, ist damit freilich noch nicht expliziert.
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128; O L G Zweibrücken, J R 1994, 518 m. Anm. Dolling) oder sonst in vorschriftswidriger Weise (BGH, M D R 1959, 856 - „Motorroller-Fall" [Fahrt zu viert auf einem Motorroller]), d i e Teilnahme an einer Fahrt mit einem polizeilichen Einsatzwagen (OLG Celle, M D R 1969, 69) oder die Teilnahme an einer Fahrt, zu deren V o r n a h m e der Fahrzeugfuhrer nicht die erforderliche Fahrerlaubnis und dementsprechend ungenügende Fähigkeiten aufweist (KG, JR 1954, 428; siehe auch schon die oben erwähnte Entscheidung des RG, J W 1925, 2250 m. Anm. Mittermaier, w o aber die fehlende Fahrerlaubnis letztlich nicht der ausschlaggebende Gesichtspunkt war, weil der Täter gleichwohl z u sorgfältigerer Fahrt in der Lage gewesen ware, während im vom K G entschiedenen Fall dem Angeklagten nicht das zum Unfall fuhrende Fahrverhalten, sondern die Übernahme der Steuerung des Kfz trotz fehlender Befähigung hierzu zum Vorwurf gemacht wurde). Vgl. etwa B G H S t 6, 232, 234; B a y O b L G , J R 1963, 27, 28; O L G Celle, N J W 1964, 736; O L G Hamm, M D R 1971, 67; D A R 1972, 77; O L G Koblenz, D A R 1973, 219, 220; O L G Köln, N J W 1966, 895, 896; O L G Schleswig, D A R 1961, 310, 312; O L G Zweibrücken, OLGSt, § 226a StGB, 1, 2. Zu - nicht begriindeten - Ausnahmen siehe im weiteren Text. Siehe noch einen vom O L G Schleswig Holstein, SchlHA 2 0 0 1 , 131 entschiedenen Sonderfall, der die unsachgemäße V o r n a h m e von Baumfallarbeiten bei Anwesenheit des späteren Opfers im Gefahrenbereich betraf. Das Gericht hat diesen Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung zugeordnet, was allerdings dem Umstand nicht gerecht wird, daß es wohl prinzipiell den Vorwurf fahrlässigen Verhaltens begründet, in Anwesenheit von Personen im Gefahrenbereich Baumfallarbeiten vorzunehmen. Es lag also ein Fall der Fremdgefährdung vor, der zu seiner Rechtfertigung einer wirksamen Einwilligung des Opfers in seine Gefährdung bedurfte (dazu näher im weiteren Text). Ob eine solche erteilt war, ist mit Blick auf die sorgfaltswidrige V o r n a h m e der Arbeiten durch den Täter zweifelhaft. O L G Braunschweig, NdsRpfl 1960, 2 3 3 ; BayObLG, J R 1961, 72; BayObLG, N J W 1961, 2072; ferner LG Bielefeld, VersR 1993, 108. B G H Z 6 3 , 140 beschränkt den Haftungsausschluß dagegen auf Verletzungen, die auch bei regelgerechtem Spiel nicht zu vermeiden sind.
408 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Nicht weiter ftihrt es jedenfalls, werm der BGH unter „besonderen Voraussetzungen" einen Ausschluß der Pflichtwidrigkeit (und damit einen Fall eigenverantwortlicher Selbstgefährdung) dann bejahen will, wenn das Opfer nicht nur in der Erkenntnis der Gefahr zugestimmt hat, sondern zudem „der Täter seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht genügt hat"365. Es ist oben bereits dargetan, daß diese Erwägungen lediglich den Ankniipflingspunkt der Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung verlagern von der Frage, ob eine solche Gefahrschaffiing überhaupt rechtlich erlaubt ist, auf die Frage, ob der Täter den fur die Bewältigung der erhöhten Gefahr geltenden Sorgfaltsmaßstab beachtet hat. Die zweite Frage nach der sorgfältigen Bewältigung des erhöhten Risikos stellt sich aber nur dann, wenn der Täter dieses Risiko fur das Opfer Uberhaupt schaffen durfte. Wenn die Schaffung dieses Risikos aber prinzipiell verboten ist, dann kann nicht die Einhaltung einer „allgemeinen Sorgfaltspflicht" dieses Verbot beseitigen, sondern nur die Zustimmung des Opfers, eben seine Einwilligung366. Erst in der neueren Rechtsprechung finden sich Entscheidungen, in denen die Abgrenzungsfrage explizit gestellt und schließlich fur die Fälle der Gefährdung nach den gleichen Kriterien entschieden wird, wie zuvor schon fur die der Schädigung, nämlich anhand der Tatherrschaff67. Nur undeutlich in diese Richtung weist es allerdings, wenn das OLG Zweibriicken die Fremdgefährdung dadurch kennzeichnet, daß der Täter „durch eine eigene Handlung das Leben des Mitfahrers gefährdef' (indem er nämlich im konkreten Fall den Pkw geführt hat, auf dessen Ladefläche sich das Opfer ungesichert mitnehmen ließ)368. In Anknilpfung an Äußerungen aus der Literatur hat vor allem das BayObLG die Abgrenzungsfunktion des Tatherrschaftsgedankens in den Gefährdungsfällen betont. Danach liege eine Selbstgefährdung vor, „wenn jemand selbstgefährdende Handlungen vornimmt oder sich in eine schon bestehende Gefahr hineinbegibt". Eine einverständliche Fremdgefährdung sei hingegen anzunehmen, „wenn sich jemand der von einem anderen erst drohenden Gefährdung in vollem Bewußtsein des Risikos aussetzt, wenn also der 'Täter' allein die Tatherrschaft über das die Rechtsgutsgefahrdung herbeiführende Geschehen ausiibt und das 'Opfer' sich lediglich den Wirkungen der gefährlichen Handlung aussetzt, so daß sein Schicksal letztlich in den Händen des Waters' liegt"369. Nach Maßgabe dieser Unterscheidung hat das BayObLG die Eingehung des Risikos einer Infektion mit dem Hi-Virus als Ausdruck einer eigenverantwortlichen Selbstgefahrdung interpretiert370:
365 366 367 368 369 370
BGHSt 4, 88, 93; siehe auch BayObLG, NJW 1957, 1245, 1246. Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 95. B G H , N J W 2004, 1054, 1055. O L G Zweibriicken, J R 1994, 518, 519 (Hervorhebung nur hier). B a y O b L G , N J W 1990, 131, 132. B a y O b L G , N J W 1990, 131 (Vorinstanzen: A G Kempten, N J W 1988, 2 3 1 3 ; LG K e m p ten, N J W 1989, 2068); der B G H (St 36, 1, 17) hatte die Frage der Übertragbarkeit der Grundsätze aus B G H S t 32, 262 zunächst noch offengelassen.
II. Die angemessene Beriicksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
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Der Aids-infizierte Angeklagte war von seinem Hausarzt ilber die Folgen seiner Infizierung und über die Übertragungsmöglichkeiten bei Ausübung des Geschlechtsverkehrs informiert worden. Die ca. 17 Jahre alte Gymnasiastin H., die von seiner Infizierung Kenntnis hatte, wurde von ihm auf die Gefahren eines ungeschtitzten Geschlechtsverkehrs hingewiesen. „Der Angeklagte lehnte es zunächst ab, ohne Verwendung von Kondomen mit der Zeugin (H.) zu verkehren, gab aber schließlich, wenn auch mit starken Bedenken, ihrem Drängen nach ungeschützten Verkehr nach." Es kam dann in der Folgezeit wiederholt zu ungeschütztem Verkehr; eine Infizierung der H. konnte nicht festgestellt werden. Für die Frage, wem die Tatherrschaft zukomme, sei vorliegend nicht der Umstand entscheidend, daß in einem medizinisch-virologischen Sinne die Gefahr vom Angeklagten ausgehe, sondern das gefährliche Verhalten, „das unter dem Gesichtspunkt der Tatherrschaft von Belang" sei, sei der einverständlich ausgeübte Geschlechtsverkehr, den beide Partner gemeinsam beherrscht hätten. „Auch wenn neben dem Opfer noch ein weiterer am Geschehen notwendig Beteiligter Mitträger der Tatherrschaft ist, ist die Gefährdung - als gewollte Selbstgefährdung - nur dem Verantwortungsbereich des Opfers zuzurechnen"371. Die Schwäche des Tatherrschaftskriteriums war bereits bei der Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung hervorgetreten. Im Kontext der Abgrenzung der Selbst- von der Fremdgefährdung372 ist die mangelnde Leistungsfähigkeit des Tatherrschaftsgedankens noch gravierender, und die zitierte Entscheidung des BayObLG illustriert diesen Mangel. Das Kriterium der Tatherrschaft ist nach herkömmlichem Verständnis in seiner Bezogenheit auf die „Tat" immer schon von der vorgängigen Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens abhängig, auf das sich die Steuerung - die Herrschaft - bezieht (dazu schon oben). Wenn das BayObLG dem Kriterium der Tatherrschaft nun auch im Bereich der Fahrlässigkeit die Konturierung des tatbestandsmäßigen Verhaltens zutraut, dann erhält der Begriff eine geänderte Bedeutung, die eine Begriindung der Leistungsfähigkeit ebenso gefordert hätte wie eine Versicherung der inhaltlichen Bestimmung dieses Kriteriums. Von der Tatherrschaft von Opfer oder Täter soil nunmehr nicht die Einordnung eines Tatbeitrags in das System der Beteiligungsformen abhängen, sondern die Antwort auf die Frage, ob überhaupt ein rechtlich mißbilligtes Verhalten des Außenstehenden vorliegt. Das Verhalten ist danach also gerade dann rechtlich mißbilligt, wenn der Außenstehende die Herrschaft ilber die Gefahr ausiibt bzw. es fehlt an der rechtlichen Mißbilligung, wenn das Opfer die Gefahr beherrscht. 371 372
BayObLG, N J W 1990, 131, 132. Freilich ist fur die Rechtsprechung, die aus der Kenntnis der mit ungeschütztem G e schlechtsverkehr verbundenen Infektionsrisiken grundsätzlich auf Körperverletzungsvorsatz des Infizierten hinsichtlich einer Erkrankung des Sexualpartners schließt (BGHSt 36, 1,9 ff.), schon die Einordnung als Fall der bloßen Gefährdung problematisch, wenn diese Einordnung von der subjektiven Einstellung des Täters abhinge {Otto, in: F S fürTröndle, S. 166).
410 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Es geht damit in Wahrheit auch nicht mehr um „Tat"-Herrschaft, derm was die Tat ist, wird gerade erst durch die Herrschaft begründet. Entfällt aber der normative Bezugspunkt der Herrschaft, dann kann sie sich nur auf ein äußeres Geschehen beziehen373: Es geht dann um die Herrschaft iiber die Gefahr als eines Zustands, der die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts begriindet. In diesem Sinne versteht auch das BayObLG die „Tatherrschaft". Übt diese Herrschaft der Außenstehende aus, so begeht er die Tat. Beherrscht hingegen das Opfer die äußeren Umstände, die die Gefahr begründen, dann soil dies den Außenstehenden von der Herrschaft ausschließen. Das ist nun freilich bezogen auf das äußere Geschehen gar nicht zu bestreiten. Aber welches das Geschehen ist, das man als das maßgebliche definiert, läßt sich anhand des Kriteriums der Herrschaft gerade nicht entscheiden. Die Herrschaft über eine Gefahr hängt maßgeblich davon ab, durch welche Umstände zuvor die gefährliche Situation definiert worden ist374. Ob man das Verhalten des Außenstehenden, durch das eine bestimmte Selbstgefährdung des Opfers erst ermöglicht wird, als Bestandteil des gefährlichen Geschehens versteht, entscheidet dann darüber, ob der Außenstehende das gefährliche Geschehen beherrscht oder an dieser Herrschaft zumindest Anteil hat. Die Einsicht, daß die Herrschaft ilber die Gefahr als Abgrenzungskriterium zwischen Selbst- und Fremdgefährdung nicht ilberzeugen kann, zeigt sich gerade auch dann, wenn das Geschehen dahingehend interpretiert wird, daß diese Herrschaft von dem Opfer und dem Außenstehenden gemeinsam getragen wird. Obwohl das BayObLG im Aids-Fall von einer solchen Konstellation ausgegangen ist, hat es in diesem Non Liquet nicht etwa eine ansatzbedingte Grenze gesehen, sondern gemeint, trotz Tatherrschaft des Außenstehenden sei die Gefahr als Selbstgefährdung dem „Verantwortungsbereich des Opfers zuzurechnen"375. Damit ist freilich ein normativer Gedanke eingeführt, der sich aus der Gemeinschaftlichkeit der Gefahrbeherrschung nicht ergibt. Die Annahme, der die gefährliche Situation mit konstituierende Beitrag des Außenstehenden falle in den Verantwortungsbereich des Opfers, läßt sich aus dessen Beitrag zur Gefahrschaffung nicht begriinden. Fur eine Übernahme des Anteils des Außenstehenden in dem Sinne, daß auch dieser dem Verantwortungsbereich des Opfers zuzurechnen ware, ließe sich nur geltend machen, daß diese Mitwirkung vom Willen des Opfers gedeckt war. Eine Zurechnung fremden Verhaltens nur wegen dessen Bewilligung ist aber gerade ausgeschlossen, will man nicht überhaupt jede bewilligte Gefährdung als Selbstgefährdung interpretieren. Gibt es aber fur eine Zurechnung des 373 374 375
Vgl. auch Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 163. Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 163. BayObLG, N J W 1990, 131, 132. Gerade umgekehrt votiert der BGH (NJW 2004, 1054, 1055): „Liegt die Tatherrschaft liber die Gefährdungshandlung nicht allein bei dem Gefährdeten, sondern zumindest auch bei dem sich hieran Beteiligenden, begeht dieser eine eigene Tat und kann nicht aus Grilnden der Akzessorietät wegen fehlender Haupttat des Geschädigten straffrei sein (...)." Über die Frage der Verantwortlichkeit ist damit freilich auch nach Auffassung des BGH noch nicht entschieden; die Antwort auf diese Frage hängt dann vielmehr von der Wirksamkeit einer erteilten Einwilligung ab.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
411
vom Außenstehenden getragenen Anteils an der Gefahr zum Opfer keine Grundlage, dann hätte es auch vom Ausgangspunkt des BayObLG näher gelegen, die Herrschaft ilber die Gefahr, soweit sie beim Außenstehenden verbleibt, als Fremdgefährdung anzusehen376. Es wird unten (cc)) noch näher zu begründen sein, daß diese Einordnung die im Ergebnis zutreffende ist: der ungeschiltzte Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten, der nach h.M. bei Unkenntnis des Sexualpartners von der Erkrankung als rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung in Richtung auf das Leben und die körperliche Integrität in Betracht kommt377, kann nur erlaubt sein, wenn das Opfer das Verhältnis durch seine Zustimmung umgestaltet378. Erst eine Einwilligung kann also dem Verhalten seinen das Rechtsverhältnis verletzenden Charakter nehmen. 1st die Abgrenzung der Selbst- von der Fremdgefährdung in der Rechtsprechung noch nicht überzeugend geleistet, so ist doch im Ergebnis jedenfalls in den „Mitnahme-Fällen" die Einordnung bei der Fremdgefährdung zutreffend. Damit treten Aspekte in den Blickpunkt, die das RG im „Memel-Fall" durch die Verortung des Opferverhaltens bei der Sorgfaltspflichtverletzung nicht thematisiert hat. Es wird nämlich mit der Einordnung als Fall der Fremdgefährdung die Verfugbarkeit der betroffenen Güter gerade bei den bedeutsamen Delikten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu einem Problem, für dessen Lösung die positivrechtlichen Vorgaben der §§ 216, 228 StGB starker in den Blick riicken. Der BGH hat schon friih die Auffassung vertreten, diese Vorschriften seien auch auf Fahrlässigkeitstaten anwendbar, mit der Folge, daß die Einwilligung in lebensgefa'hrliche Handlungen überhaupt nicht und die Einwilligung in gesundheitsgefährdende Handlungen nur unter dem Vorbehalt fehlender Sittenwidrigkeit der Tat möglich sei379. Soweit es die Zustimmung zu einer Gefährdung der körperlichen Integrität anbelangt, hat die Einordnung als Problem der Einwilligung allerdings sogar eine gewisse Stärkung des Selbstbestimmungsrechts zur Folge. Denn begreift man die rechtfertigende Einwilligung überhaupt als Ausdruck der Selbstbestimmungsfreiheit, dann ist deren prinzipielle Relevanz positivrechtlich abgesichert und die nach § 228 StGB verbliebene Möglichkeit einer Einschränkung wegen einer trotz der
376
377 378 379
In diesem Sinne auch (vor der Entscheidung des BayObLG, aber bezogen auf den dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt) unter Bezugnahme auf das Kriterium der Tatherrschaft Helgerth, N S t Z 1988, 262. Anders aber etwa Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987, 367 ff. Zutreffend Frisch, JuS 1990, 371 f. B G H S t 4, 88, 9 3 ; B G H , V R S 17 (1959), 277, 279 (nur teilweise abgedruckt - soweit es § 226a StGB anbelangt - in M D R 1959, 856); auch B G H S t 7, 112, 114, wobei dort die Ausfuhrungen zur Einwilligung insoweit verfehlt sind, als ein Fall der Selbstgefährdung vorliegt (dazu oben b) aa)).
412 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Einwilligung verbleibenden Sittenwidrigkeit der Tat bedarf als gesetzessystematische Ausnahme besonderer Begrilndung380. Soweit hingegen die Zustimmung zu einer Lebensgefährdung als Problem der Einwilligung diskutiert wird, hat der BGH damit gerade umgekehrt die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts prinzipiell negiert. Daß eine Abkehr von RGSt 57, 172 damit gleichwohl nicht verbunden sein sollte, hat der BGH durch die bereits zitierte und kritisierte Auffassung zu erreichen versucht, daß es unter „besonderen Voraussetzungen" beim Ausschluß der Pflichtwidrigkeit bleiben sollte, nämlich dann, wenn das Opfer nicht nur in der Erkenntnis der Gefahr zugestimmt hat, sondern zudem „der Täter seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht genügt hat"381. Da mit diesen Erwägungen (wie oben bereits dargetan) lediglich der tatsächliche Anknüpfungspunkt der Prtifiing der Sorgfaltspflichtverletzung verlagert wird auf die Frage, ob die zur Bewältigung der einmal geschaffenen Gefahr erforderliche Sorgfalt eingehalten wurde, flihren sie fur die Beantwortung der vorausliegenden und entscheidenden Frage, ob der Täter dieses Risiko fur das Opfer überhaupt schaffen durfte, nicht weiter. Dies hängt aber (auch wenn der Täter sich in der gefahrlichen Situation sorgfaltig verhält), davon ab, ob das Opfer durch seine Zustimmung dem Täter eine prinzipiell verbotene Gefahrschaffung erlauben konnte. Der Ausschluß der Pflichtwidrigkeit kann demnach nicht überzeugen und es bleibt auch in diesen Fallen dabei, daß das Verhalten des Täters erst durch die Einwilligung des Opfers zu einem erlaubten werden kann. Das vom BGH offenbar favorisierte Ergebnis, wonach auch die bewilligte Schaffung einer Lebensgefahr nicht ohne weiteres die Haftung nach § 222 StGB nach sich zieht, läßt sich also nur mit einer Einschränkung der Bedeutung des § 216 StGB im Bereich der einverständlichen Fremdgefährdung begründen, wie sie mittlerweile auch in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte vertreten wird382. Die Frage nach der Bedeutsamkeit von § 216 StGB (wie auch der von § 228 StGB) in Fallen der einverständlichen Fremdgefährdung hängt eng mit der Frage zusammen, worauf sich die Zustimmung des Opfers in diesen Fallen beziehen muß383. War für das RG im „Memel-Fall" noch klar, daß allein die Einsicht der Reisenden in die Gefahrlichkeit des Unternehmens für den Ausschluß der Sorgfaltswidrigkeit entscheidend sein konnte (weil es - nach moderner Auffassung 380
381 382 383
So etwa BGHSt 6, 232, 234; 40, 341, 347; BayObLG, JR 1961, 72, 73 f; BayObLG, JR 1963, 27 f.; OLG Celle, N J W 1964, 736; O L G Celle, M D R 1969, 69, 70; O L G Düsseldorf, NStZ-RR 1997, 325, 327; OLG Hamm, M D R 1971, 67; KG, J R 1954, 428 ff.; O L G Köln, N J W 1966, 895, 896; O L G Oldenburg, D A R 1959, 128, 129; O L G Oldenburg, N J W 1966, 2132, 2133; O L G Schleswig, D A R 1961, 310, 312; O L G Zweibrücken, V R S 30 (1966), 284, 285. BGHSt 4, 88, 93; siehe auch BayObLG, N J W 1957, 1245, 1246. So O L G Karlsruhe, N J W 1967, 2321; OLG Zweibrücken, J R 1994, 518, 519 (dazu DollingJR 1994,520). Bei der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung hat der B G H (St 32, 262, 265) dagegen keinen Zweifel daran gelassen, daß der sich selbst Gefährdende auch dann, wenn er auf das Ausbleiben des Erfolgs vertraut, das Risiko der Realisierung der Gefahr übernimmt.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
413
um den Ausschluß des Handlungsunrechts ging), legt die Verortung im Bereich der Einwilligung eine Übertragung der traditionellen Einwilligungsdogmatik nahe, wonach sich die Einwilligung nicht (nur) auf die Handlung, sondern (auch) auf den Erfolg beziehen muß384. Sieht man es so, dann ist klar, daß es nicht nur an der Inkaufhahme des Todeseintritts regelmäßig fehlen wird, sondern daß eine Einwilligung in eine Lebensgefährdung jedenfalls deshalb ausgeschlossen ist, weil die vorausgesetzte Einwilligung auch in den Todeserfolg nach § 216 StGB gerade unbeachtlich sein soil385. Soweit es um Körperverletzungen geht, kommt es fur das Vorliegen einer Einwilligung zunächst darauf an, ob sich die Zustimmung des Opfers auf den konkret eingetretenen Körperverletzungserfolg bezogen hat. Dies ließe sich vor allem bei erheblichen Verletzungen bezweifeln386. Soweit die Rechtsprechung die Einwilligung in den Verletzungserfolg überhaupt für erforderlich gehalten hat (zu abweichenden Auffassungen sogleich), hat sie diesen Zweifel aber regelmäßig durch die Überlegung ausgeräumt, daß mit der Einwilligung in das Risiko auch der Eintritt der konkreten Verletzungsfolge bewilligt werde387. Muß sich die Einwilligung auch auf den eingetretenen Erfolg beziehen, so liegt es weiter in der Konsequenz dieses Ansatzes, auch beim Sittenwidrigkeitsurteil nach § 228 StGB die Frage mit einzubeziehen, ob gerade der (gravierende) Erfolg der Tat der Einwilligung ihre Wirksamkeit nimmt388. Die Annahme, die unrechtsausschließende Einwilligung in eine Fremdgefährdung erfordere auch die Einwilligung in den Eintritt des Erfolges, ist aber auch
384
O L G Hamm, D A R 1972, 7 7 f. Dazu, daß die Erfolgsbezogenheit der Einwilligung bei den vorsätzlichen Verletzungsdelikten nahezu allgemein anerkannt ist, vgl. Geppert,
ZStW83(1971), 971. 385 386
387
388
Vgl. B a y O b L G , N J W 1957, 1245 f. A u s der Literatur Zipf, Einwilligung, S. 7 3 . Eine Einwilligung selbst in leichte Körperverletzungen durch Teilnahme an einer Trunkenheitsfahrt ablehnend O L G Hamm, V R S 4, 39, 4 3 . B G H , V R S 17 (1959), 277, 279; O L G Hamm, V R S 7, 202, 2 0 3 ; O L G Schleswig, D A R 1961, 310, 312; O L G Zweibriicken, V R S 3 0 (1966), 284 f; wohl auch B G H S t 40, 3 4 1 , 347; auch O L G Hamm, D A R 1972, 77 schließt offenbar aus der Einsicht in die Gefahr unmittelbar darauf, daß d a s Opfer die Folgen bewußt in Kauf genommen habe. Zusammenfassend zur älteren Rechtsprechung Hansen, Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten, S. 8 9 f. Dieser Schluß von der Einwilligung in die Gefährdung auf die in den Erfolg ist freilich auch von Seiten der Rechtsprechung der Kritik ausgesetzt. Vor allem in der zivilrechtlichen Judikatur hat sich nach Vorarbeiten der Wissenschaft die Einsicht durchgesetzt, daß eine positive psychische Stellungnahm e zum eingetretenen Erfolg auch dann eine wirklichkeitsfremde Fiktion ist, wenn das Opfer die Gefährlichkeit der Situation erfaßt hat ( B G H Z 34, 355, 360 f.). Diese Kritik trifft allerdings nicht solche Judikate, die die Einwilligung in den Erfolg wohl nicht im Sinne eines psychischen Sachverhalts begreifen, sondern ein normatives Urteil in dem Sinn fallen, d a ß wer in die Gefahr einwilligt, „auch deren sämtliche Folgen auf sich n e h m e n " m u ß (BayObLG, J R 1961, 72, 74). O L G Hamm, M D R 1971, 67; O L G Hamm, D A R 1972, 77 f.
414 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
von Seiten der Rechtsprechung der Kritik ausgesetzt389. Dabei wird als Begriindung dafür, daß sich die Einwilligung allein auf das Risiko beziehen miisse, dem sich das Opfer aussetzt, noch nicht der Hinweis ausreichen, daß es bei „Fahrlässigkeit" seitens des Opfers an der Billigung des Erfolges gerade fehle390. Denn dieses Argument erhält erst Gewicht, wenn die mit der Gegenauffassung verbundene Einschränkung des Anwendungsbereichs der Einwilligung bei Fahrlässigkeitsdelikten als sachwidrig erwiesen ist. Hier setzt die Begriindung des KG an, demzufolge die Einwilligung „ihrem Wesen nach nicht Aufgabe des Rechtsguts, sondern Preisgabe des Rechtsschutzwillens" sei. „Bezugsobjekt des Rechtsschutzwillens ist zwar mittelbar das geschiitzte Rechtsgut (so z.B. die körperliche Unversehrtheit), unmittelbar jedoch die den Rechtsschutz gewährende konkrete Verbotsnorm"391. Die Norm des § 229 StGB schiitze die körperliche Integrität durch das Verbot fahrlässiger Verletzung, also durch das Verbot solcher Handlungen, zu deren gefahrloser Durchführung der Schädiger für ihn erkennbar nicht in der Lage war392. Allein auf diese Handlungen beziehe sich folglich auch die Einwilligung393. Mit dieser Verlagerung des Bezugspunkts der Einwilligung vom Erfolg auf die Gefährdung verliert die Argumentation aus der wirksamkeitsbegrenzenden Vorschrift des § 216 StGB an Überzeugungskraft, denn der Kernbereich dieser Vorschrift liegt jedenfalls dort, wo es um die Bewilligung solcher Handlungen geht, die final auf die Herbeifuhrung des Todes gerichtet sind394. Bei der Anwendung von § 228 StGB wiederum ist klar, daß die Wirksamkeit der Einwilligung nicht mit Blick auf die Schwere der tatsächlich eingetretenen Folge, sondern allenfalls mit Rücksicht auf die Größe der Gefahr problematisiert werden kann. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung hierfur bietet eine Entscheidung des OLG Dilsseldorf zum „Auto-Surfen"395: Der Angeklagte und vier seiner Freunde, darunter auch das spätere Opfer, veranstalteten ein sogenanntes „Auto-Surfen", bei dem in wechselnder Besetzung eine oder mehrere Personen auf dem Dach des von einem der 389
390 391 392 393
394
395
O L G Celle, N J W 1964, 736; O L G Celle, M D R 1969, 69, 70; O L G Düsseldorf, N S t Z R R 1997, 325, 327; K G , J R 1954, 428 f. (die Einwilligung in Gefährdung soil jedenfalls dann ausreichen, wenn auch der Täter fahrlässig handelt); O L G Schleswig, SchlHA 1959, 154. O L G Celle, N J W 1964, 736. KG, JR 1954, 428, 429. KG, JR 1954, 428, 429. W e n n auch mit dieser Auffassung die Einwilligung erst auf Sanktionsnormenebene angesiedelt wird (was wiederum mit einer [zu] gegenständlichen Vorstellung des Rechtsguts zusammenhängt), so bleibt doch die Einsicht richtig, daß die Einwilligung d e s Opfers ein Verhaltensverbot aufhebt (auch wenn das Verhalten mit Rücksicht auf die Vermeidung prinzipiell unerwünschter Erfolge verboten ist). V g l . O L G Karlsruhe, N J W 1967, 2 3 2 1 ; vgl. auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 124. O L G Düsseldorf, N S t Z - R R 1997, 325 (dazu Hammer, J u S 1998, 7 8 5 ff.; Saal, N Z V 1998, 49 ff.; Trüg, JA 2002, 214 ff); Vorinstanz: LG Mönchengladbach, NStZ-RR 1997, 169. Vgl. auch BGH, NJW 2004, 1054, 1056.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
415
Freunde gesteuerten Pkw lag. Als der Angeklagte den Wagen steuerte, stürzte das Opfer vom Dach und verletzte sich schwer. Das OLG Diisseldorf hat die Konstellation als Fall der einverständlichen Fremdgefährdung eingeordnet und grundsätzlich eine Einwilligung in die Gefährdung für möglich gehalten. Es hat aber die fahrlässige Körperverletzung trotz der Einwilligung fur rechtswidrig gehalten, weil das Verhalten des Angeklagten gegen die guten Sitten verstoßen habe (§ 228 StGB). Maßgeblich fur diese Beurteilung seien „der Grad der eingegangenen Gefahr und sein Verhältnis zum Tatzweck. Je größer die Gefahr und je geringer der Wert ist, der dem Tatzweck zukommt, desto eher ist ein Verstoß gegen die guten Sitten gegeben"396.
bb) Die Literatur In der Literatur spielt das Kriterium der Tatherrschaft für die Abgrenzung der Selbst- von der Fremdgefährdung eine herausragende Rolle397. Das BayObLG hat sich in seiner Entscheidung zum Aids-Fall auf Stimmen aus der Literatur berufen398 und seine Orientierung am Tatherrschaftskriterium ist vielfach zustimmend kommentiert worden399. Der Umgang der Literatur mit dem Kriterium der „Tafherrschaft, das als Abgrenzungskriterium der Selbst- von der Fremdgefährdung seinen Bezugspunkt nur im äußeren Geschehen haben kann (oben 1. b)), verdeutlicht dessen Schwäche noch einmal. Wenn in Fallen, in denen die Gefahrschaffung eine Gemeinschaftsleistung von Täter und Opfer ist, der Befund einer „Quasi-Mittäterschaft" zwar ein Phänomen beschreibt, aber kein Haftungsproblem lost400, dann ist dies nicht etwa 396 397
O L G Düsseldorf, N S t Z - R R 1997, 325, 327. Siehe z.B. Bottke, A I F O 1988, 6 3 3 ; Beulke/Mayer, JuS 1987, 127; Dölling, G A 1984, 77 f.; ders., J R 1990, 4 7 5 ; ders., J R 1994, 520; ders., in: F S für Gössel, S. 2 1 2 ; Geppert, Jura 1996, 49; Hammer, JuS 1998, 787 f.; Helgerth, N S t Z 1988, 2 6 2 ; Hellmann, in: F S fflr Roxin, S. 272, 284; Hugger, JuS 1990, 974 f; H.-W. Mayer, JuS 1990, 7 8 7 ; Prittwitz, N J W 1988, 2942 f.; ders., J A 1988, 4 3 2 ; Roxin, in: F S für Gallas, S. 2 4 9 f.; Rudolphi, in: S K StGB, V o r § 1 R n . 81a; Saal, N Z V 1998, 5 3 ; Wessels/Hettinger,
BT/l,Rn. 270. 398 399
400
B a y O b L G , N J W 1990, 131, 132. So von Dolling, JR 1990, 475; Hugger, JuS 1990, 974 f.; Kühl, AT, § 4 Rn. 89; Wessels/Beulke, AT, Rn. 190 f.; auch Helgerth, NStZ 1988, 262 (im Vorfeld der Entscheidung). Auch wenn mitunter dieser Eindruck erweckt wird. So wenn /. Sternberg-Lieben, JuS 1998, 430 fur einen Fall der gemeinsamen Nachhausefahrt eines betrunkenen Ehepaars fur das Vorliegen „mittäterschaftlicher Züge" auf ein „gemeinsames außertatbestandliches Ziel" von Fahrer und Beifahrer (nämlich: im eigenen Wagen nach Hause zu fahren), auf die Austauschbarkeit der Rollen von Fahrer und Beifahrer und schließlich auf die Möglichkeit der Beteiligten, jederzeit von der Fahrt Abstand zu nehmen, verweist. Abgesehen einmal davon, daß man schon iiber diese Einordnung in den Bereich der „Mittäterschaft" streiten kann (da tatsächlich die Ehefrau den Wagen gefuhrt und schließlich den Unfall verursacht hat), ist vor allem mit dieser Einordnung nicht be-
416 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens durch weitere Präzisierungen des Herrschaftskriteriums zu leisten, sondern markiert die aus dem naturalistischen Ausgangspunkt resultierende Grenze des Kriteriums. Das wurde schon anhand der Entscheidung des BayObLG aufgezeigt und wird durch die unterschiedliche Einordnung des Aids-Falls in der Literatur bestätigt. Es ist nämlich unter dem Aspekt der äußeren Geschehensherrschaft ebenso sinnvoll auf die vom Außenstehenden ausgehende Ansteckungsgefahr hinzuweisen 401 wie auf die erforderliche Mitwirkung des Opfers zu deren Realisierung 402 - mehr als
401
402
griindet, warum sie - trotz der auch bei der Mittäterschaftslösung unbestreitbar bestehenden Elemente einer Fremdgefährdung (vgl. Geppert, Jura 2001, 565) - „fur eine Wertung des beiderseitigen Verhaltens als selbstgefahrdendes Handeln" spricht. Denn es ist auch bei Anerkennung „mittäterschaftlicher Züge" geradezu ein Charakteristikum der Fremdgefährdung, daß der Täter, der sein Handeln vom Einverständnis des Opfers abhängig macht, auch in dessen Interesse handelt und die Gestaltungswtinsche des Opfers berücksichtigt. Daß schließlich das Opfer jederzeit von dem gefährlichen Unternehmen Abstand nehmen kann, macht das Einverständliche des Handelns überhaupt erst aus. So Helgerth, NStZ 1988, 262; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 273; Roxin, AT I, § 11 Rn. 108. H.-W. Mayer, JuS 1990, 787 halt es für ausschlaggebend, „daß unter Mittatherrschaft des Infizierten ausschließlich der Nichtinfizierte gefährdet wird" und meint: „Dieses Geschehen kann aber vom Sprachverständnis, von der Intention und dem zu Grunde liegenden Topoigefuge her, schlechthin nur als strafbare einverständliche Fremdgefährdung defmiert werden". Es wird also letztlich ein ganzes Biindel unterschiedlichster zusätzlicher, in einem unaufgeklärten Verhältnis zueinander stehender Erwägungen dafilr angefuhrt, die Mittatherrschaft des Opfers nicht fur ausschlaggebend zu halten. Tatsächlich können diese Erwägungen aber gar keinen Beitrag dazu leisten aufzuklären, warum es entscheidend sein soil, daß nur einer der Beteiligten der Nichtinfizierte - ein Risiko eingeht. Denn eine in dem Geschehen angelegte Selbstgefährdung auch des Täters (wie sie etwa seitens des Fährmanns im Memel-Fall vorlag) kann nicht die Art der Gefahrschaffung in Richtung auf das Opfer, um die es fur die strafrechtliche Beurteilung ausschließlich geht, modifizieren. Letztlich scheint hier die - verfehlte - Billigkeitserwägung ausschlaggebend gewesen zu sein, daß derjenige, der ausschließlich das Opfer gefährdet, schlechter stehen soil als derjenige, der sich bei gleicher Gelegenheit zusätzlich auch selbst in Gefahr bringt. So Hugger, JuS 1990, 974; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 284 spricht davon, daß beide Beteiligte „das Geschehen in gleicher Weise beherrschen, zumal die 'Tatbeiträge' sogar völlig gleichwertig sind"; vgl. ferner fur eine Einordnung als Fall der Selbstgefährdung Bruns, N J W 1987, 693 f; Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987, 366; Kurtz, SchwZStrW 107 (1990), 53; Prittwitz, JA 1988, 432 f.; auch Bottke, AIFO 1988, 633 f., der allerdings zusätzlich zur fehlenden Tatherrschaft des Außenstehenden geltend macht, das Opfer bestimme „mit der konsensuellen Interaktion" den möglichen Übertragungsakt in einer Weise, „die einer Eigengefährdung gleichsteht". Dieser Gleichstellungsgedanke wird sonst in Fallen der Fremdgefährdung als Argument für eine normative Gleichbehandlung mit den Fallen der Selbstgefährdung strapaziert (so etwa Roxin, AT I, § 11 Rn. 107; näher dazu unten). Es ist nicht ersichtlich, welche Bedeutung ihm in Fallen zukommen soil, in denen das für maßgeblich gehaltene Kriterium der Tatherrschaft bereits eine Selbstgefährdung begründet (dann bedarf es keiner Gleich-
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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die Einsicht, daß beide die Gefahr einer Ansteckung beherrschen, läßt sich von diesem Ausgangspunkt schlechterdings nicht gewinnen. Das läßt sich auch anhand der literarischen Behandlung des vom OLG Dilsseldorf entschiedenen Falles des „Auto-Surfens" demonstrieren. Während Saal den Fall - wie auch das OLG Diisseldorf - der Fremdgefährdung zuschlägt, weil „der Fahrzeugfuhrer (...) - im wahrsten Sinne des Wortes - das Fahrzeug und damit das Tatgeschehen (lenkt)" und ihm die auf dem Dach liegenden Autosurfer „ausgeliefert" seien403, meint Hellmann: „Im Falle des Autosurfens hängt der Ausgang der gefährlichen Fahrt sogar in erster Linie von der Beherrschung des Risikos durch den Gefährdeten ab, nämlich von seiner Fähigkeit, sich auf dem Autodach zu halten"404'405. Keine dieser Schwerpunktbildungen ist der anderen in irgendeiner Weise überlegen und so zeigen beide, daß zwar Aussagen ilber die Erforderlichkeit des Verhaltens der Beteiligten zur Begrilndung der zuvor durch beide Umstände defmierten Gefahr gemacht werden können - in diesem Sinne beherrschen beide die Gefahr406 -, aber eine normativ reflektierte Gewichtung ist mit dem Hinweis auf diese „Herrschaft" nicht zu leisten. Sofern das Verhalten des Außenstehenden als Fremdgefährdung aufgefaßt wird, wird auch in der Literatur die Frage diskutiert, in welcher strafrechtsdogmatischen Kategorie die Relevanz des zustimmenden Opferverhaltens zu diskutieren und nach welchen inhaltlichen Kriterien iiber dessen Relevanz zu entscheiden ist. Während ein Teil der Literatur die Auffassung der Rechtsprechung teilt, wonach die Zustimmung des Opfers als Einwilligung das Unrecht der Tat ausschließen kann, wollen andere Teile der Literatur die Fremdgefährdung verschiedenen andestellung mit einer solchen). Möglicherweise ist auch daran gedacht, das Tatherrschaftskriterium normativ durch diesen Gleichstellungsaspekt aufzuladen. 403 404 405
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Saal, N Z V 1998, 5 3 ; zustimmend Trüg, JA 2002, 219 f. Hellmann, in: F S für Roxin, S. 284. Offenkundig fehl geht es schließlich, wenn Hammer (JuS 1998, 788) behauptet, die dem Opfer zukommende (dessen Selbstgefährdung begründende) Tatherrschaft bestehe darin, daß es „während der Fahrt nicht j e d e Einflußmöglichkeit auf das Geschehen verloren" habe, weil der Fahrer bereit gewesen sei, das Fahrzeug auf Klopfzeichen der Autosurfer hin zu stoppen. Aber der Umstand, daß der Außenstehende sein Handeln von der fortdauernden Zustimmung des Opfers abhängig macht, kennzeichnet auch die Fälle der Einwilligung (in eine Fremdgefährdung). So gesehen beherrscht d a s Opfer stets durch seine Zustimmung und durch die Möglichkeit von deren Zuriicknahme das Geschehen. Wenn also die Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung nicht iiberhaupt aufgegeben werden soil, dann bleibt fur die kritisierte Auffassung nur die M ö g lichkeit, sie davon abhängig zu machen, o b die geschaffene Gefahr iiber einen längeren Zeitraum hinaus aufrechterhalten wird. D e n n in diesen Fallen beherrscht d a s Opfer durch sein mögliches Veto nicht nur das O b einer Gefahrschaffung, sondern bei schon bestehender Gefahr auch deren Beendigung oder Verminderung. W a r u m aber d a s mögliche Veto bezogen auf eine Gefahr, der d a s Opfer bereits ausgesetzt ist, zur Selbstgefährdung führen soil, während das Veto, das bereits die Gefahrschaffung ausschließt, solche Herrschaft nicht begmndet, bleibt unerfindlich. So denn auch Hammer, JuS 1998, der diese Fallgruppe deshalb „als - mittäterschaftlich begangene - Selbstgefährdung" qualifiziert.
418 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ren dogmatischen Instituten unterwerfen, meist solchen, die dem auf die Gefahrschaffung bezogenen zustimmenden Opferverhalten bereits auf Tatbestandsebene Bedeutung beimessen407. Innerhalb des Teils der Literatur, der die Zustimmung in eine Fremdgefährdung als Einwilligung behandelt, besteht weithin Einigkeit, daß es hierflir ausreicht, wenn sich die Einwilligung auf die riskante Handlung bezieht408. Damit entfalten auch die positivrechtlichen Vorschriften der §§ 216, 228 StGB allenfalls auf eine Anwendung ihres Rechtsgedankens eingeschränkte Bedeutung, so daß auch Einwilligungen in erheblich die körperliche Integrität oder auch das Leben gefährdende Handlungen nicht von vornherein ausgeschlossen sind409. Soweit in der Literatur die Erfolgsbezogenheit der Einwilligung vorausgesetzt wird410, ist mit den insoweit erhöhten Anforderungen an einen Unrechtsausschluß 407 408
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Siehe zu Nachweisen fur die verschiedenen Positionen den weiteren Text. B a u m a n n / W e W M i t s c h , AT, § 14 Rn. 74, § 22 Rn. 53; Bickelhaupt, N J W 1967, 713; Dach, Einwilligung, S. 59; Dolling, GA 1984, 83 f; ders., ZStW 96 (1984), 64; ders., JR 1994, 521; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 149; Hansen, Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten, S. 109 f.; Hillenkamp, JuS 1977, 170 f.; Hirsch, in: LK, § 226a Rn. 4; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 95, 107; Hirsch, ZStW 74 (1962), 95 ff. (wonach die Risikoeinwilligung allerdings bereits den objektiven Sorgfaltsmaßstab bei der Fahrlässigkeit modifiziert); Jescheck/Weigend, AT, S. 591; Lackner/Kühl, § 228 Rn. 2a; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 102; H. Mayer, AT, S. 167, 188; Mezger, GS 89 (1924), 278 f.; Samson, in: SK StGB, Anh zu § 16 Rn. 33; Schaffstein, in: FS für Welzel, S. 564 ff.; Schrey, Der Gegenstand der Einwilligung, S. 51 ff. (mit einer Zusammenfassung des älteren Schrifttums); F.-C. Schroeder, JuS 1994, 848; Triig, JA 2002, 220. Vgl. dazu etwa Dach, Einwilligung, S. 68 ff.; Dolling, GA 1984, 85 ff.; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 95, 105; H. Mayer, AT, S. 188; Samson, in: SK StGB, Anh zu § 16 Rn. 33. Anders aber Bickelhaupt, N J W 1967, 713, der aus § 216 StGB folgert, daß auch niemand in das Risiko seiner Tötung einwilligen könne. Ebenso Jescheck/Weigend, AT, S. 590: eine Einwilligung in eine individuelle Lebensgefährdung „die im Ergebnis zum Tode des Verletzten filhrt", sei ohne rechtliche Wirkung. Allerdings bleibt unklar, welche Bedeutung dem Erfolgseintritt zukommt, ob er etwa (rtickwirkend?) Einfluß auf die Wirkung der Einwilligung haben soil. Sowohl bei Bickelhaupt als auch bei Jescheck/Weigend bleibt unklar, wie eine Lebensgefahr zuverlässig von Gefahrschaffungen fur die körperliche Integrität - deren Bewilligung in den Grenzen von § 228 StGB wirksam sein soil - abgegrenzt werden kann. Denn selbst bei leichten Sorgfaltsverstößen (z.B. bei sportlichen Wettkämpfen) wird ein tödlicher Ausgang häufig nicht inadäquat sein (auch wenn er statistisch nicht allzu häufig vorkommen mag), so daß anzunehmen ist, daß die zum Schutz der körperlichen Integrität bestehenden Sorgfaltsnormen regelmäßig auch den Schutz des Lebens bezwecken. Allfeld, Lehrbuch AT, S. 143 mit Fn. 35; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, S. 162; Donatsch, SchwZStW 105 (1998), 373; Fiedler, Fremdgefährdung, S. 69; Geppert, ZStW 83 (1971), 974; Göbel, Die Einwilligung, S. 25; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 275 ff; Holer, Die Einwilligung, S. 74 ff; Honig, Die Einwilligung, S. 173; Krey, BT/1, Rn. 126; Mittermeier, JW 1925, 2251; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 98, 121 ff; Ostendorf, JuS 1982, 432; Otto, in: FS für Geerds, S. 6 2 1 ;
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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nicht ohne weiteres eine Ausdehnung der Strafbarkeit des Außenstehenden verbunden411. Dabei besteht weitgehend Einigkeit, daß ein Unrechtsausschluß nach den Grundsätzen der Einwilligung regelmäßig nicht durch die Annahme zu erreichen ist, der in die Gefahrdung Einwilligende realisiere eine psychische Beziehung zum Erfolgseintritt412. Denn eine solche Annahme wiirde offenbar in den meisten Fallen die Wirklichkeit verfehlen4'3. An dem von der Einwilligung in vorsätzliche Schädigungen übernommenen Erfordernis der Erfolgsbezogenheit414 wird offenbar415 häufig deshalb festgehalten, weil die im Ergebnis fur richtig gehaltene Behandlung der Fälle einverständlicher Fremdgefährdung - also meist: die Freistellung des Außenstehenden von Strafe auf anderem Weg für (besser) erreichbar gehalten und außerdem die Einwilligung als dogmatische Figur durch die einheitliche Behandlung in den Vorsatz- und den Fahrlässigkeitsfällen durch das gemeinsame Erfordernis der Erfolgsbezogenheit klarere Konturen zu erhalten scheint416. Die Erfolgsbezogenheit der Einwilligung
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Preuß, Untersuchungen, S. 139; Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 156; Rönnau, Willensmängel, S. 191; Rössner, in: FS fur Hirsch, S. 316; Roxin, A T I, § 11 Rn. 105, § 24 Rn. 101; Eb. Schmidt, J Z 1954, 371 f.; Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 122 ff.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 217; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 51 f.; Zipf, Einwilligung, S. 70 ff., 83. W a s freilich davon abhängt, ob tiberhaupt und wenn j a welche dogmatischen Institute an Stelle der Einwilligung favorisiert werden und inwieweit diese Institute einen Unrechtsausschluß tragen können. So fuhrt das Erfordernis der Erfolgsbezogenheit der Einwilligung z.B. bei Geppert, Z S t W 83 (1971), 9 8 0 ff., 991 ff. in den „Mitnahme-Fällen" zu einer erheblichen Ausdehnung der Strafbarkeit. Im Ergebnis ähnlich kommt auch Zipf, Einwilligung, S. 83 durch die Erfolgsbezogenheit der Einwilligung einerseits und die Anwendung des auf den Handlungsunwert bezogenen Instituts der sozialen Adäquanz andererseits in den Fallen der Beforderung durch einen betrunkenen Autofahrer weder zur Einwilligung noch zum Tatbestandsausschluß infolge Sozialadäquanz. Noch weiter dehnt Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 9 8 ff. die Strafbarkeit aus, wenn er bei Sportverletzungen die Einwilligung auf adäquate Verletzungen beim Kampfspiel beschränkt und sonst die Lösung im subjektiven Tatbestand sucht, was etwa dann zur Haftung fuhrt, wenn eine leicht fahrlässige Regelverletzung zu einer erheblichen Verletzung fuhrt. So aber z.B. Hartung, N J W 1954, 1226: wer ein Risiko eingehe nehme auch den möglichen Mißerfolg in Kauf. Siehe etwa Dach, Einwilligung, S. 15 f; Eb. Schmidt, J Z 1954, 372; Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 124; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 218 ff; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 5 1 ; Zipf, Einwilligung, S. 74 ff. Freilich sind auch Fälle denkbar, in denen das Opfer tatsächlich eine solche zustimmende Haltung zum Erfolgseintritt einnimmt; vgl. Honig, Die Einwilligung, S. 174 f. Bei vorsätzlichen Schädigungen ist das Erfordernis der Erfolgsbezogenheit der Einwilligung nahezu unbestritten; vgl. etwa Roxin, A T I, § 13 Rn. 49. Dazu - kritisch - oben II. 2. b). Ahnlich dazu auch Dach, Einwilligung, S. 28. So z.B. Fiedler, Fremdgefährdung, S. 70, 75, 175 ff. („viktimologisches Prinzip"); Göbel, Die Einwilligung, S. 26; Krey, B T / 1 , Rn. 122 ff. („Handeln auf eigene Gefahr"
420 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens wird also nicht notwendig im Sinne einer Einschränkung der Handlungsfreiheit der Beteiligten gefordert, sondern mitunter geradezu als Argument für das Erfordernis geltend gemacht, andere Lösungswege fur die Fälle einverständlicher Fremdgefahrdung einzuschlagen417, insbesondere dafiir, sie im objektiven Tatbestand zu verorten418. Damit wird dann auch regelmäßig die Auffassung verbunden, der bei Erfolgsbezogenheit der Einwilligung naheliegende Geltungsanspruch der Verfugungsgrenzen aus §§ 216, 228 StGB419 entfalle oder sei jedenfalls auf eine entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens dieser Vorschriften eingeschränkt, wenn das Einverständnis des Opfer sich nur auf die unerlaubt gefährliche Handlung beziehen müsse420'42'. In der Literatur wird allerdings nicht nur die dogmatische Verortung eines auf die gefährliche Handlung bezogenen Einverständnisses des Opfers außerhalb der Einwilligung diskutiert, sondern teilweise auch ein Verzicht auf das individuelle
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als Unterfall des „erlaubten Risikos"); Preuß, Untersuchungen, S. 134 ff., 144 ff. („Handeln auf eigene Gefahr" als Unterfall des „erlaubten Risikos"); Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 175 (Ausschluß der Sorgfaltswidrigkeit); Eb. Schmidt, JZ 1954, 373 (Grundsätze der „Zwecktheorie"); Roxin, AT I, § 11 Rn. 107 (Schutzzweck des Tatbestandes); Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 122 ff., 137 ff. („erlaubtes Risiko"); Zipf, Einwilligung, S. 77 ff. („Sozialadäquanz"). Eine Zusammenstellung der Lösungsversuche bietet Dach, Einwilligung, S. 8 ff. Freilich werden verschiedentlich auch trotz Anerkennung der Möglichkeit einer Risikoeinwilligung bereichsspezifisch andere dogmatische Figuren favorisiert; so etwa fur die mit Regelverstößen beim Sport verbundenen Gefahren Eser, JZ 1978, 372 ff. („erlaubtes Risiko") (dazu sogleich). So etwa Preuß, Untersuchungen, S. 144. So etwa Roxin, A T I, § 11 Rn. 105; ders., in: FS für Gallas, S. 250 ff. D i e Einwilligung in die Todesherbeiführung i m R a h m e n einer einverständlichen Fremdgefahrdung halten z.B. für ausgeschlossen; Geppert, Z S t W 83 (1971), 9 8 3 , 987; Krey, B T / 1 , Rn. 124; ders., JuS 1971, 250; H.-W. Mayer, JuS 1990, 788; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 9 8 ; Roxin, A T I, § 11 Rn. 105; Zipf, Einwilligung, S. 9 9 f. Für die Relevanz der Verletzungsfolgen bei der A n w e n d u n g von § 228 StGB Geppert, ZStW 83 (1971), 983. Vgl. etwa Krey, B T / 1 , Rn. 126; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 104; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 176; Roxin, A T I, § 11 Rn. 105; Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 143 ff; Vogel, Norm und Pflicht, S. 206. Anders aber Saal, N Z V 1998, 54, der § 2 1 6 StGB in den Fallen der einverständlichen Fremdgefahrdung im Rahmen der objektiven Zurechnung schon auf Tatbestandsebene berilcksichtigen will und die Einwilligung in solche Gefährdungen für ausgeschlossen halt, bei denen „von einem unverantwortlichen Spiel mit dem Leben gesprochen werden kann". D a auf die riskante Handlung abgestellt wird, ist es folgerichtig, wenn Saal, a.a.O. die Sperrwirkung des § 2 1 6 StGB auch auf entsprechend lebensgefährliche Handlungen erstreckt, mit denen letztlich nur ein Körperverletzungserfolg realisiert worden ist. Zutreffend kritisch gegen die Annahme, Anderungen in der deliktssystematischen Kategorialisierung könnten liber die Anwendbarkeit von §§ 216, 228 StGB entscheiden, FracA,NStZ1992, 67.
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Einverstandensein mit bestimmten Gefährdungen überhaupt422. Soweit aber das Institut der Einwilligung deshalb fur unanwendbar gehalten wird, weil es in den Fallen der Fremdgefahrdung vielfach nicht auf eine individuelle Stellungnahme des Opfers ankomme, sondern auf die Einhaltung der in einem bestimmten Lebensbereich geltenden Regeln423, wird zwar ein fur die Fahrlässigkeitshaftung bedeutsamer Gesichtspunkt benannt, dessen Relevanz aber jenseits der Problematik der Einwilligung in eine Gefährdung liegt. So begriindet z.B. die unerwünschte Mitnahme in einem Pkw, die unter Einhaltung sämtlicher Verkehrsvorschriften erfolgt, trotz der mit jeder Autofahrt verbundenen Restrisiken keine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung fur die körperliche Integrität. Die mit der Autofahrt verbundene Gefahrschaffung ist ohne Rücksicht auf die Zustimmung des Opfers nicht tatbestandsmäßig im Sinne der §§ 222 oder 229 StGB, auch wenn sich dieses Risiko (also nicht das Risiko eines sorgfaltswidrigen Fehlers des Fahrers) realisiert424. Andererseits kann die Einhaltung bereichsspezifischer, vom Recht anerkannter Regeln dann eine Haftung des Außenstehenden nicht mehr unabhängig von einer dieses Verhalten billigenden Opferentscheidung ausschließen, wenn es mit Blick auf die in diesem Lebensbereich auch bei Einhaltung der dort geltenden Regeln bestehenden Gefahren bereits rechtlich mißbilligt ware, eine Person ohne deren Zustimmung den Bedingungen in diesem Bereich auszusetzen: Beispielhaft: wer einen anderen zur Teilnahme an einem Rugby-Spiel zwingt, haftet für körperliche Schäden, auch wenn sich alle Spieler regelgerecht verhalten425. Offenbar gibt es Gefahren, denen niemand auch bei Einhaltung aller rechtlichen Vorschriften gegen seine Entscheidung ausgesetzt werden darf. Es bedarf also einer individuell zustimmenden Entscheidung des Opfers, die freilich bei Betreten des entsprechenden Lebensbereichs zumindest konkludent erklärt wird. Dabei spricht es entgegen verschiedentlich vertretener Auffassung426 nicht gegen das Erfordernis einer solchen individuellen Entscheidung, daß der Eintritt in manche Gefahrenbereiche mit dem Akzeptieren der dort geltenden Haftungsbegrenzungen untrennbar verknilpft
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Eingehend Schild, Sportstrafrecht, S. 78 ff., 9 4 ff.; zusammenfassend Kubink, JA 2 0 0 3 , 257 ff. Preuß, Untersuchungen, S. 1 4 1 ; Zipf, Einwilligung, S. 77 ff.; mit Einschränkungen Dölling, Z S t W 9 6 (1984), 55 ff. Diese Auffassung meint etwas anderen als solche P o sitionen, die sich gegen die Einwilligung als eines (rein) psychischen Sachverhalts wenden (Cancio Meliä, Z S t W 111 [1999], 365 f.), denn ein normatives Verständnis v o m Vorliegen einer selbstbestimmten Entscheidung ist von d e m Verzicht auf eine solche zu unterscheiden. Vgl. Roxin, A T I, § 11 Rn. 60. Anders wohl Zipf, Einwilligung, S. 93 ff. Dagegen betont Dolling, Z S t W 96 (1984), 6 0 (allerdings in Widerspruch zu ders., a.a.O., 42), d a ß die bereichsspezifische Sozialadäquanz eines Verhaltens fur dessen Tatbestandslosigkeit nicht ausreicht, es vielmehr auch auf die Freiwilligkeit der Teilnahme a m Wettkampf ankomme, woraus sich auch nach seiner Auffassung „Berührungspunkte zur Einwilligungslösung" ergeben. Ä h n lichEyer, JZ 1978, 372 f. So Eser, JZ 1978, 372; Dolling, ZStW 96 (1984), 60 f.; Rössner, in: FS für Hirsch, S. 316 f.; Zipf, Einwilligung, S. 92 f.
422 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ist427. Sind also z.B. bei der Ausilbung einer Sportart bestimmte Gefahrschaffungen rechtlich erlaubt (wobei auch sportliche Regelverstöße nicht notwendig zur Rechtsverletzung fiihren, weil sie vielfach nach dem bereichsspezifischen Konsens als typische Risiken hinzunehmen sind), so muß derjenige, der an der Ausübung dieser Sportart teilnehmen will, die Eingehung dieser Risiken auf sich nehmen428. Solche Einschränkungen von Gestaltungsmöglichkeiten durch die fehlende Bereitschaft zur Modifikation der üblicherweise geltenden Regeln auf Seiten derer, gegenüber denen die Einwilligung erfolgt, sind nicht ungewöhnlich, sondern in Bereichen, in denen sich gewisse Standards der Risikoverteilung durchgesetzt haben, die Regel. So wird z.B. ein Patient eine risikoträchtige ärztliche Behandlung nicht erhalten, wenn er gleichzeitig erklärt, die mit ihr verbundenen Risiken nicht tragen zu wollen. Während freilich in diesem Beispiel der Arzt den Eingriff unter diesen Umständen verweigern wird, kann der Sportier seine fehlende Bereitschaft zur Hinnahme der bereichsspezifisch als rechtmäßig anerkannten gefährlichen Handlungen nur durch Nichtteilnahme an entsprechenden Wettkämpfen kundtun. Derm die Haftungsbegrenzungen gehören zu den Bedingungen, unter denen die ausgeiibte Sportart den ihr eigenen Charakter und die ihr eigene Dynamik iiberhaupt erst entfaltet. An einem entsprechenden sportlichen Wettkampf teilnehmen kann nichts anderes bedeuten, als zu den Bedingungen an ihm teilzunehmen, die fur diesen Sport gelten429. Eine davon abweichende Erklärung, bestimmte Risiken nicht tragen zu wollen oder bestimmte Mitspieler von der Einwilligung auszunehmen 430 , ist bei gleichzeitiger Fortsetzung des Spiels als selbstwidersprlichliches Verhalten ohne rechtliche Bedeutung. Der Inhalt der durch das Spielen einerseits und die Zurilckweisung der fur dieses Spiel geltenden Regeln andererseits abgegebenen Erklärung bedarf einer Interpretation, die den objektiven Sinn des Verhal-
Nicht haltbar ist offensichtlich, aus der Charakterisierung der Einwilligung als „individuellen Verzicht auf Rechtsschutz" zu folgern, diese erfordere stets „Sachverhaltskenntnis tiber Zeitpunkt, Ort, Person und Art der Verletzung" (Rössner, in: FS fur Hirsch, S. 316). Solche naturalistischen Daten haben mit den Bedingungen individueller Entscheidung tiber die Rechtlichkeit eines Verhaltens gar nichts zu tun. Selbstverständlich kann jemand vor einer zwei Jahre dauernden Weltreise seinem Nachbarn gestatten, eine bestimmte (oder aber auch vom Nachbarn zu bestimmende), in seinem Besitz stehende Sache zu zerstören. Es berilhrt (wenn nicht eine besondere Interessenlage gegeben ist) die Wirksamkeit der Einwilligung nicht, wenn der Zeitpunkt der Zerstörung offen bleibt und es dem Nachbarn überlassen ist, an welchem Ort er die Zerstörungshandlung vornimmt. Es spielt auch keine Rolle, mittels welcher Werkzeuge er die Zerstörung vornimmt und in welchem Umfang die Sache zerstört wird. Die Einwilligung kann sich auch darauf erstrecken, daß die Zerstörung von einer beliebigen Person vorgenommen wird. So auch - allerdings begrenzt auf die aus regelgerechtem Spiel resultierenden Gefahren - Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 193 und Eser, JZ 1978, 372, der diesen Gedanken aber deshalb nicht fur den tragenden halt, weil bei Einhaltung der Spielregeln bereits die Pflichtwidrigkeit entfalle. Zutreffend Stree, in: Schönke/Schröder, § 228 Rn. 16; Paeffgen, in: NK, § 226a Rn. 83. So die Beispiele von Zipf, Einwilligung, S. 92.
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tens beriicksichtigt. Ob eine Einwilligung vorliegt, hängt nicht (allein) von subjektiven Einstellungen ab, sondern entscheidend davon, welchen Sinn ein Verhalten fur den Entscheidenden zumindest erkennbar - trägt431'432. Danach kann aber ein Teilnehmer an einem sportlichen Wettkampf nicht erwarten, daß seine Erklärung Verbindlichkeit hat und so fur die anderen Teilnehmer das Spiel modifiziert. Diese Grundsätze gelten allerdings nur dort, wo die Geltung der üblichen (Verbands-) Regeln mit Riicksicht auf die Einheitlichkeit der ausgeilbten Sportart fur die Teilnehmer außer Frage steht. Bei rein privaten sportlichen Betätigungen sind Modifizierungen der Regelungen dagegen denkbar und können sogar konkludent vereinbart sein, wenn etwa gewisse Härten, die bei öffentlichen Wettkämpfen rechtlich erlaubt sind, nach der Art und Weise der gemeinsamen Ausübung des Sports gerade ausgeschlossen werden sollen433. Hier ist es dann auch nicht ohne weiteres ausgeschlossen, daß die Erklärung eines Mitspielers, mit der Schaffung bestimmter Risiken nicht einverstanden zu sein, ernstzunehmen ist. Die Möglichkeit, durch individuelle Gestaltung die Geltung der sonst iiblichen bereichsspezifischen Regeln zu begrenzen, kann freilich nur dann plausibel gemacht werden, wenn man schon die Geltung der allgemeinen Regeln von der Entscheidung der Beteiligten abhängig gemacht hat. Dagegen legt es eine generalisierende, die individuellen Vorstellungen der einzelnen Mitspieler nicht berilcksichtigende Auffassung nahe, auch private sportliche Betätigungen im Freizeitbereich einem zwar modifizierten Maßstab zu unterstellen, innerhalb dessen aber den Erklärungen der Mitspieler keine Bedeutung einzuräumen434. Während also eine generalisierende, die individuelle Stellungnahme vernachlässigende Sichtweise einerseits dazu ftihrt, der Person bestimmte Risiken unabhängig von deren Zustimmung aufzuladen, tendiert sie andererseits dazu, einer konkreten individuellen Stellungnahme zugunsten der Eingehung gewisser Risiken mit Blick auf das Erfordernis der Erfolgsbezogenheit der Einwilligung keine 431
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Deshalb geht auch der weitere Einwand von Zipf, Einwilligung, S. 92 fehl, ein Sportier müsse häufig gegen seinen Willen an den Start gehen, etwa wenn er einem Verband als Mitglied angehört und einen Titel verteidigen muß. Aber natürlich trifft den Boxer trotz seiner Verbandspflichten keine rechtliche Verpflichtung im Verhältnis zu seinem Gegner, diesem gesundheitsgefährdende Handlungen zu gestatten. Der Verbandsdruck begriindet keinen die Wirksamkeit der Einwilligung ausschließenden Willensmangel, denn auch dessen Vorliegen ist eine normative Frage, die mit dem Hinweis auf einen psychischen Befund nicht beantwortet ist (unten III. 2., 3.). Mit der Teilnahme am Kampf erklärt der Boxer konkludent seine Einwilligung, die er - auch dies ware selbstwiderspriichlich - nicht durch die Erklärung konterkarieren darf, er wolle zwar weiter kämpfen, aber der Gegner diirfe ihn nicht schlagen. Insofern weist Schild, Sportstrafrecht, S. 94 f. zu Recht auf Normativierungen hin. So im Fall BayObLG, JR 1961, 72 (Beteiligung von 8 und 10 Jahre alten Spielern an einem barfuß geführten Fußballspiel). Für solche Fälle auch Schild, Sportstrafrecht, S. 99. So etwa Dolling, ZStW 96 (1984), 63 f., wenn er „die Grenzen der Sozialadäquanz urn so enger" fassen will, ,je mehr sich die sportliche Betätigung in der Freizeit nicht als Kampf, sondern als Spiel darstellt".
424 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Bedeutung einzuräumen435. Damit werden aber die Möglichkeiten selbstbestimmter Gestaltung des Verhältnisses in freiheitswidriger Weise unterschätzt. Als eine weitere Möglichkeit, die einverständliche Fremdgefährdung aus dem Bereich der Einwilligung herauszunehmen, hat in der jüngeren Diskussion die Auffassung besondere Bedeutung erlangt, die Fremdgefährdung sei unter bestimmten Voraussetzungen der Selbstgefährdung im Sinne eines Zurechnungsausschlusses unter dem Aspekt des Schutzzwecks des jeweiligen Straftatbestands gleichzustellen436. Diese Gleichstellung zeigt fur den beanspruchten Geltungsbereich zunächst einmal die mangelnde normative Tragfähigkeit einer differenzierenden Betrachtung anhand des Tatherrschaftskriteriums, das danach offenbar gerade nicht den normativ maßgeblichen Gesichtspunkt trifft. Dabei soil nach Roxin eine generelle Gleichstellung deshalb nicht möglich sein, weil das Opfer einer Fremdgefährdung dem Geschehen „mehr ausgeliefert" sei als ein sich selbst Gefährdender437. Unter diesem Aspekt soil also der Tatherrschaftsgedanke normative Relevanz behalten438. Die dennoch erfolgende Gleichstellung erscheint Roxin unter zwei Voraussetzungen als „angemessen": „Der Schaden muß die Folge des eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler sein, und der Gefährdete muß fur das gemeinsame Tun dieselbe Verantwortung tragen wie der Gefahrdende". Letzteres hänge (auch?) davon ab, daß er - wie auch bei der Selbstgefährdung — das Risiko im selben Maß übersehe wie der Gefahrdende439. Aber diese Kriterien umschreiben lediglich die Situation einer Fremdgefahrdung, in die das Opfer frei von Defiziten eingewilligt hat. Selbstverständlich ist fur das Vorliegen einer einverständlichen Fremdgefährdung vorausgesetzt, daß der Außenstehende lediglich solche Risiken schafft, mit deren Schaffung das Opfer auch einverstanden ist. Realisiert sich ein anderes Risiko, dann kann dieser Fall mangels Einverständnisses offenbar nicht als einverständliche Fremdgefährdung diskutiert werden440. Das weitere Kriterium, wonach das Opfer „dieselbe Verant435 436
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Siehe etwa Zipf, Einwilligung, S. 8 3 ; vgl. auch Schild, Sportstrafrecht, S. 9 3 . S o etwa Geppert, Jura 2 0 0 1 , 565; Hammer, JuS 1998. 788; Hellmann, in: F S fur R o xin, S. 280 ff.; Otto, Jura 1991, 445 („Unterbrechung des Kausalzusammenhangs"); Roxin, AT I, § 11 Rn. 107. Für eine umfassende Gleichstellung - und damit für normative Irrelevanz der zuvor anhand des Tatherrschaftskriteriums getroffenen Unterscheidung in Selbst- und Fremdgefährdung - Schünemann, JA 1975, 722 f.; ähnlich, aber die Gleichstellung bereits auf die Tatherrschaft beziehend, Otto, Jura 1984, 540. Der Gleichstellungsgedanke wird teilweise nicht im Sinne eines Zurechnungsausschlusses in Fallen auch der einverständlichen Fremdgefährdung, sondern im Sinne einer Gleichstellung der Ergebnisse - d.h.: Unrechtsausschluß infolge wirksamer Einwilligung fruchtbar gemacht (so O L G Zweibrücken, JR 1994, 518, 519 f.; dazu Dölling, JR 1994, 520 f.). Bei dieser letztgenannten Sichtweise wird aus der Straffreiheit der Selbstgefährdung auf den Umfang der Wirksamkeit von Einwilligungen geschlossen. Roxin, AT I, § U R n . 107. Der unterschiedliche Grad des Ausgeliefertseins sei der „tiefere Sinn" der Differenzierung in Selbst- und Fremdgefährdung anhand des Tatherrschaftskriteriums; siehe Roxin, in: FS für Gallas, S. 250.
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Roxin, ATI, § URn. 107.
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So auch Hellmann,
in: FS fur Roxin, S. 281.
II. Die angemessene Berilcksichtigung selbstverfligender Opferentscheidungen
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wortung" tragen müsse wie der Außenstehende, wird erst erhellt durch die Erläuterung, daß dies bei tätergleicher Risikokenntnis seitens des Opfers der Fall sei. „Mehr ausgeliefert" ist das Opfer also darm, wenn es gemessen am Täterwissen defizitär entscheidet. Damit bleiben aber als Fälle der Herrschaft des Außenstehenden nur solche, in denen das Opfer das Risiko im Verhältnis zum Täter nicht voll überblickt und insoweit defizitär entscheidet. Im Verhältnis zum Außenstehenden defizitäre Risikokenntnis soil aber auch bei der Selbstgefährdung eine Zurechnung des Erfolgs zum Verhalten des Außenstehenden begründen441. Bei relevanten Defiziten sind Selbst- und Fremdgefahrdung damit in Wahrheit ohnedies nicht zu unterscheiden, womit eine die Zurechnung ausschließende „Gleichstellung" schon aus diesem Grund ausscheidet. Liegt hingegen kein Defizit vor, so zeigen die von Roxin angestellten Überlegungen zur Gleichstellung von Selbstund Fremdgefährdungen also letztlich nur eines, nämlich daß die zuvor erfolgte Differenzierung in Selbst- und Fremdgefährdung anhand des Tatherrschaftskriteriums normativ bedeutungslos ist. Diese Überlegungen sagen demzufolge dann nichts iiber die Berechtigung einer Gleichstellung, wenn die zuvor erfolgte Differenzierung nach normativ sachgerechten Kriterien erfolgt ist. Hellmann will die einverständliche Fremdgefährdung dann mit der Selbstgefährdung gleichbehandeln, wenn sie ihr „gerade unter dem Aspekt der Eigenverantwortlichkeit" gleichsteht, was in den „typischen Fremdgefährdungskonstellationen" der Fall sei. Das Opfer handle dann „eigenverantwortlich, wenn es das Geschehen mindestens in dem gleichen Maße beherrscht wie der 'Täter'"442. Dies verlange neben einer „im Wesentlichen korrekte(n) Einschätzung des Risikos" auch „die Abwesenheit von Zwang und erheblichen psychischen Defekten, welche die Willensbildung beeinträchtigen"443. Läßt sich die Bestimmung der Eigenverantwortlichkeit als des maßgeblichen Gleichstellungskriteriums insoweit noch als Präzisierung der Auffassung Roxins begreifen444, so bleibt deren Verhältnis zur gleichberechtigten Herrschaft, die nach der oben zitierten Definition der Eigenverantwortlichkeit gerade deren Inhalt ausmachen soil, letztlich unklar. Entgegen dem ersten Anschein ist nämlich offenbar nicht gemeint, daß die Eigenverantwortlichkeit im Sinne der Abwesenheit von Defiziten bei der Willensbildung mit der Herrschaft identifiziert werden kann. Denn in den weiteren Beispielen wird ein äußerst naturalistisches Verständnis einer Herrschaft iiber äußere Geschehensabläufe zugrundegelegt, wenn etwa die Herrschaft des Autosurfers mit dessen Fähigkeit begründet wird, sich am Autodach festzuhalten oder es an einem „Übergewicht in der Beherrschung des Geschehens" auf Seiten des Fährmanns im Memel-Fall fehle, weil dieser trotz Aufbietung aller Sorgfalt nicht in der Lage gewesen sei, „die von den Naturgewalten ausgehenden Gefahren zu bewältigen"445. Im Aids-Fall ftihre das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit zum Ausschluß der objektiven Zurechnung, da „beide das Geschehen in 441 442 443 444 445
Roxin, A T Hellmann, Hellmann, Hellmann, Hellmann,
I, § 11 Rn. 97. in: F S fur Roxin, in: F S fur Roxin, in: F S fur Roxin, in: F S fur Roxin,
S. 283 f. S. 284. S. 2 8 1 , 285. S. 284.
426 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens gleicher Weise beherrschen, zumal die 'Tatbeiträge' sogar völlig gleichwertig sind"446. Da offenbar auch eine Person, die das Risiko vollständig überblickt und sich dennoch ohne Zwang und auch nicht unter dem Einfluß psychischer Defekte fur dessen Eingehung entscheidet, an dessen Bewältigung scheitern kann, fuhrt das von Hellmann „so verstandene Prinzip der Eigenverantwortlichkeit"447 letztlich zu einer undurchsichtigen Vermengung der Abwesenheit von Entscheidungsdefiziten mit dem Vermögen zu instrumentaler Beherrschung einer Situation. Dabei trägt es auch nicht zur Klarheit bei, daß das Kriterium der Herrschaft iiber die Rechtsgutsgefährdung bereits bei der Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung für tragfähig gehalten wurde und dort etwa zur Begriindung einer Fremdgefährdung im Aids-Fall mit der Erwägung herangezogen wurde, daß die Gefahr fur Leib und Leben jedenfalls vom Infizierten ausgehe448. Dann drängt sich aber doch die Frage auf, warum (wie oben erwähnt) die Beteiligten im Aids-Fall bei der Gleichstellungsfrage das Geschehen - nun offenbar unabhängig davon, daß die Gefahr nur von einem ausgeht - in gleicher Weise beherrschen sollen. Das Kriterium der Herrschaft muß also inhaltlich mutieren, denn anders ware nicht zu erklären, daß ein Kriterium einmal bei der Abgrenzung der Selbst- von der Fremdgefährdung herangezogen wird und dann wieder als Bedingung fur deren Gleichbehandlung angeftihrt wird. Die undurchsichtige Befrachtung des Begriffs der Eigenverantwortlichkeit zeigt sich schließlich an Hellmanns Überlegungen zur Vereinbarkeit seiner Konzeption mit §§ 216, 228 StGB. Denn nach herkömmlichem Verständnis zeigen diese Vorschriften, daß auch eine von Defiziten freie Entscheidung fur bestimmte Eingriffe in Leben und körperliche Integrität nicht ohne weiteres rechtlich relevant ist. Nur die Vermengung mit Herrschaftskriterien erklärt, daß es „sich nunmehr von selbst" verstehe, „daß diese Sicht mit § 216 StGB nicht in Konflikt gerät, da die Eigenverantwortlichkeit ebenfalls die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beteiligung an einer Selbsttötung markiert"449. Und zu § 228 StGB fuhrt er aus: „Da die Vorschrift nur für "fremdverantwortliche' Körperverletzungen gilt, also solche, bei denen der Täter das Geschehen in größerem Maße beherrscht als das Opfer, bedarf es einer Übertragung der strengeren Anforderungen auf die Fälle eigenverantwortlicher Gefährdungen oder Verletzungen nicht"450. Grenzen der Verfugungsmacht werden also mit solchen der Eigenverantwortlichkeit identifiziert. Hellmanns Konzeption stellt danach im Verhältnis zur h.M. keinen Fortschrirt an gedanklicher und begrifflicher Präzision dar. Die Überlegungen zur normativen Gleichstellung der Fremd- mit der Selbstgefährdung mit der Folge eines Ausschlusses schon der objektiven Zurechnung in Fallen der Fremdgefährdung können letztlich deshalb nicht 446 447 448 449 450
Hellmann, Hellmann, Hellmann, Hellmann, Hellmann,
in: FS in: FS in: FS in: FS in: FS
für für fur für für
Roxin, Roxin, Roxin, Roxin, Roxin,
S. S. S. S. S.
284. 284. 273. 285. 285.
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfugender Opferentscheidungen
427
überzeugen, weil jede Gleichstellungsiiberlegung der Sache nach die normative Irrelevanz der Unterscheidung behauptet. Dies wird freilich nahe gelegt, wenn man die Unterscheidung anhand einer instrumental verstandenen Tatherrschaft trifft, die letztlich zwar phänomenologische Auffälligkeiten kennzeichnet, deren Relevanz aber normativ nicht ausgewiesen ist. Hat man die Unterscheidung hingegen anhand eines fur die strafrechtsdogmatische Behandlung relevanten Kriteriums getroffen (was fur ein strafrechtsdogmatisches System die einzig sinnvolle Differenzierung iiberhaupt ist), dann ist eine normative Gleichstellung ausgeschlossen. Der normativ relevante Unterschied kann nur dann zu einer Gleichbehandlung im Ergebnis fuhren, wenn dieses Ergebnis durch die Anwendung der nach der Differenzierung sachgerechten unterschiedlichen dogmatischen Instrumentarien erzielt wird. Das ist nach der hier vertretenen Auffassung freilich der Fall.
cc) Fremdgefährdung als (bewilligte) Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr Das Selbstbestimmungsrecht der Person schließt es aus, Selbstgefa'hrdung und einverständliche Fremdgefährdung der nicht defizitär entscheidenden Person mit Blick auf den Schutz der Individualgiiter der Person differenziert zu behandeln451 - in keinem Fall verletzt der Außenstehende durch sein Verhalten das konkrete Rechtsverhältnis zum Opfer. Wie beim Verhältnis von Selbst- zu Fremdschädigung liegt also die Unterscheidung auch hier darin, daß das Selbstbestimmungsrecht sich in unterschiedlicher Weise im jeweiligen rechtlichen Verhältnis zum Außenstehenden Geltung verschafft. Diese Unterscheidung wird im Deliktsaufbau in der Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit reflektiert. Nicht anders als die Fremdschädigung ist auch die Fremdgefährdung dadurch gekennzeichnet, daß das Täterverhalten ohne Berücksichtigung der konkreten Zustimmung des Opfers eine rechtlich mißbilligte Gefährdung des jeweiligen Individualguts des Opfers darstellt452. Eine Gleichstellung mit der Selbstgefährdung kommt damit bei Zugrundelegung dieses Abgrenzungskriteriums nicht in Betracht. Die Fremdgefährdung ist ein Verhalten, das den objektiven Tatbestand des jeweiligen Verletzungsdelikts - und zwar den objektiven Tatbestand von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten gleichermaßen - erfüllt. 451 452
Vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 116 f. Das wird sich regelmäßig im Ergebnis mit der Unterscheidung danach treffen, o b das Opferhandeln d e m Täterhandeln zeitlich nachfolgt (Selbstgefährdung) oder o b die Handlungen zeitlich nebeneinander liegen (Fremdgefährdung); vgl. Schünemann, D i e Rechtsprobleme der Aids-Eindämmung, S. 474. Die zeitliche Abfolge ist aber freilich kein materielles Unterscheidungskriterium, sondern lediglich ein Reflex des Umstandes, daß mit dem Erfordernis zeitlich nachfolgenden Opferverhaltens diesem eine Entscheidungsoption eröffnet ist bzw. im anderen Fall die Erlaubtheit des Täterverhaltens von der bereits erfolgten Ausiibung der Entscheidungsoption des Opfers abhängt.
428 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Erst eine Umgestaltung des konkreten Rechtsverhältnisses durch die selbstbestimmte Entscheidung des Opfers kann also dem Täterverhalten seine das Rechtsverhältnis verletzende Wirkung nehmen. Diese verhältnisgestaltende Entscheidung des Opfers ist - wie auch in den Fallen der Schädigung - dessen Einwilligung, die die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens ausschließt453. Modifiziert die Einwilligung die im rechtlichen Verhältnis bestehenden Handlungskompetenzen, so muß sich die Einwilligung auf die Schaffung der Gefahr, nicht auch auf den Erfolg beziehen454. Dies ist eine selbstverständliche Konsequenz aus der Einsicht, daß sich die Rechtlichkeit eines Verhaltens nicht danach bestimmen kann, ob als Folge eines sozialen Kontakts ein Schaden eingetreten ist (was zu einer ex post-Beurteilung der Rechtlichkeit des Verhaltens führen müßte455), sondern danach, ob sich dieses Verhalten - auch und gerade mit Blick auf seine Schadensträchtigkeit - innerhalb der rechtlichen Ordnung bewegt456. Das
Ähnlich, allerdings auf den Sorgfaltsmaßstab bei der Fahrlässigkeit bezogen, Dach, Einwilligung, S. 53 ff. Die oben (2. c) bb)) vorgebrachten Argumente fur die Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund gelten aber unverändert auch bei der Gefährdung. So auch Dolling, GA 1984, 83 f.; ders., JR 1994, 521; Hansen, Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten, S. 109 f.; Hillenkamp, JuS 1977, 171; Hirsch, in: LK, § 226a Rn. 1, 4; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 95, 107; Mezger, GS 89 (1924), 278 f.; Schaffstein, in: FS für Welzel, S. 564 ff. A.A. etwa Geppert, ZStW 83 (1971), 974; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 275 ff; Mittermeier, JW 1925, 2251; Otto, in: FS fur Geerds, S. 621; Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 156; Rössner, in: FS fur Hirsch, S. 316; Roxin, AT I, § 11 Rn. 105; Eb. Schmidt, JZ 1954, 371 f; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 217; Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 51 f; Zipf, Einwilligung, S. 70 ff, 83. Zur Unhaltbarkeit einer solchen Konzeption schon Mezger, GS 89 (1924), 279. Geppert (ZStW 83 [1971], 971) hat gegen Mezger eingewendet, „daß die Einwilligung lediglich fur den Fall des Erfolgseintritts erteilt sein kann", so daß bei Eintritt des Erfolgs die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens bereits von Anfang an feststehe. Aber das ist nicht überzeugend, denn es muß auch unabhängig vom Erfolgseintritt möglich sein, die Rechtlichkeit einer Handlung zu beurteilen. Deshalb geht es auch fehl, wenn Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 121 eine entsprechende Argumentation gegen Mezger mit dem Hinweis abstützen will, daß „beim Fahrlässigkeitsdelikt ganz allgemein häufig erst durch einen später eintretenden Erfolg Rechtwidrigkeit oder Erlaubtheit der Handlung bekannt" würden. Ähnlich wie Geppert argumentiert auch Zipf, Einwilligung, S. 71 f, der zwar ebenfalls zu Recht betont, daß die rechtliche Qualifikation einer Handlung nicht bis zum Erfolgseintritt in der Schwebe bleiben könne, aber dadurch, daß sich die Einwilligung nicht auf die Handlung beziehen solle, sei lediglich von Anfang an ausgeschlossen, daß der Erfolg im Falle seines Eintretens von einem bestimmten Straftatbestand erfaßt sei. Die Qualität der Handlung als rechtlich mißbilligter Gefahrschaffung bleibt in dieser Konzeption gerade unangetastet, was aus den im Text genannten Grilnden nicht ilberzeugt. So auch Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 107 (der diesen Gedanken allerdings zu Unrecht auf die Rechtfertigung des fahrlässigen Delikts beschränkt; siehe Hirsch, a.a.O., Rn. 106).
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
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Recht ist eine Verhaltensordnung, und so kann der Einwilligende den Außenstehenden auch nicht von einem Verbot der Erfolgsverursachung freistellen, sondern muß - auch wo er die Erfolgsherbeifiihrung explizit bewilligt - das zu dessen Vermeidung bestehende Verhaltensverbot aufheben. Diese Grundsätze gelten fur die Fremdgefährdung und fur die Fremdschädigung gleichermaßen und es ist deshalb schon im Ansatz verfehlt, die Frage des Gegenstands der Einwilligung bei der Gefährdung als ein dort im Verhältnis zur Schädigung auftretendes Sonderproblem zu diskutieren. Der rechtliche Umgang unter Personen vollzieht sich durch die Einhaltung der vom Recht gezogenen Handlungsspielräume. Sind diese eingehalten, so können weder die guten noch die bösen Wünsche der Beteiligten hinsichtlich der Folgen des Handelns an dessen Rechtlichkeit etwas ändern457. Dagegen hat Zaczyk geltend gemacht, bei der Risikoeinwilligung werde „das gegenseitige Verhältnis von Täter und Opfer nicht willentlich umgestaltet, sondern das je in Frage stehende Rechtsgut auf die Zufälligkeit seiner Existenz herabgesetzt, wo durch richtiges Verhalten seine Existenz gesichert wtlrde"458. Mit dem Hinweis auf ein „richtiges" Verhalten wird also ein inhaltlicher Maßstab an die individuelle Gestaltung des Rechtsverhältnisses zwischen den Beteiligten herangetragen, anhand dessen die „Zufälligkeit" des Verlaufs einer negativen Bewertung unterzogen und deshalb die gewählte Art der Verhältnisgestaltung in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit überhaupt herabgesetzt wird. Selbst wenn man sich einmal prinzipiell darauf einlassen wollte, solche Bewilligungen individualrechtsgutsgefährdender Handlungen, bei denen das Opfer auf das Ausbleiben des Erfolgseintritts hofft, einer inhaltlichen Bewertung zu unterziehen, so ist doch schon die Richtigkeit der von Zaczyk vorgenommenen Abwertung solcher Bewilligungen in dieser Allgemeinheit nicht überzeugend. Es ist nämlich nicht ohne weiteres fur jedes den Erfolg nicht wiinschende Opfer „richtig", die Existenz seines Rechtsguts durch die Aufrechterhaltung des seinem Schutz dienenden Handlungsverbots zu sichern, also die gefährliche Handlung nicht zu bewilligen. Es gibt eine Vielzahl von Griinden, die eine Person dazu bewegen können, sich dem Risiko einer gefährlichen Handlung auch dann auszusetzen, wenn sie hofft, das eingegangene Risiko möge sich nicht realisieren. Dies kann auch nach konsentierten Maßstäben durchaus die "richtige" Entscheidung der Person sein, etwa wenn sie mit der Eingehung des Risikos die Verwirklichung bedeutender Werte verfolgt. So mag es fiir die Reisenden im Memel-Fall Grilnde fur das schnelle Erreichen des anderen Ufers gegeben haben, deren Relevanz in einer Weise konsentiert ist, daß die Eingehung des Todesrisikos zumindest vertretbar gewesen ware459.
Eine völlig andere Frage ist, ob bei Realisierung der Gefahr das Recht als Kehrseite der Gefahrdungserlaubnis dem Verletzer gewisse Sonderpflichten - insbesondere in Form von Garantenpflichten - auferlegt (in diesem Sinne etwa Freund, AT, § 6 Rn. 69 ff.). Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 51; vgl. auch Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 124 f. Mit inhaltlich wertenden Erwägungen dieser Art operiert Dölling, GA 1984, 92 f.
430 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Aber diese inzidente Kritik trifft noch nicht den entscheidenden Punkt. Es ist nämlich in Wahrheit ilberhaupt nicht zu legitimieren, die Grilnde zu diskutieren, aus denen jemand ein Risiko fur seine Gilter eingehen darf60. Auch eine Bewilligung, die bezogen auf den Erfolgseintritt eine „Offenheit des Verlaufs" begründet, bleibt eine das Verhältnis in diesem Sinne gestaltende Option der sich selbst bestimmenden Person und die Gründe, die die Person fur diese Art der Verhältnisgestaltung haben mag, unterliegen nicht fremder Beurteilung. Nicht der Zusammenhang von Wille, Handlung und Erfolg in der Person des Opfers schließt den Außenstehenden von der Haftung aus461, sondern der Zusammenhang des Täterhandelns mit der Entscheidung des Opfers. Für das Erfordernis einer Einwilligung in den Erfolgseintritt wird schließlich vielfach geltend gemacht, dieses Erfordernis ergebe sich aus der positivrechtlichen Fassung der Tatbestände. Derm wenn die Tatbestandserfullung vom Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges abhängig gemacht werde, so zeige dies, daß auch eine die Tatbestandserfullung ausschließende bzw. eine diese Erfiillung rechtfertigende Einwilligung sich auf den gesamten Tatbestand - einschließlich des Erfolges - beziehen müsse. So schreibt Hellmann: „Um den Erfolgsunwert zu beseitigen, ist es erforderlich, daß der Rechtsgutsinhaber in die Verletzung einwilligt. 1st er lediglich mit der Risikoschaffung durch den Täter einverstanden, akzeptiert er also dessen sorgfaltswidriges Verhalten oder wilnscht er es sogar, so könnte dieser Umstand allenfalls das in dem sorgfaltswidrigen Verhalten bestehende Handlungsunrecht ausschließen"462. 460 461 462
Dazu schon eingehend im 2. und 3. Teil dieser Untersuchung. So Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 33. Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 277; ähnlich Geppert, ZStW 83 (1971), 974; Honig, Die Einwilligung, S. 173; M.E. Mayer, AT, S. 291, Fn. 15; Ostendorf, JuS 1982, 432 (der allerdings sieht, daß bei Fahrlässigkeitsdelikten infolge der Einwilligung das Handlungsunrecht - und damit der Unrechtstatbestand insgesamt - entfallen kann); Schiirer-Mohr, Erlaubte Risiken, S. 135; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 217 f. Nun meint Hellmann (a.a.O., S. 277, 273 ff.) allerdings, daß auch der Sorgfaltsverstoß bei einverständlicher Hinnahme der Gefährdung durch den Rechtsgutsinhaber nicht entfalle. Begriindet wird dies unter Hinweis auf den Verstoß gegen allgemeine Sorgfaltspflichten, den der Täter einer Fremdgefährdung begehe, z.B. der Fährmann durch Antritt der Fahrt (S. 274) oder der betrunkene Autofahrer durch die Fahrt in fahruntüchtigem Zustand (S. 276). Das ist zwar jedenfalls im letztgenannten Beispiel unbestreitbar, tut aber nichts zur Sache, weil die Frage des Sorgfaltspflichtverstoßes trotz Einwilligung nicht die nach der allgemeinen Verbotenheit des Verhaltens ist, sondern darauf abzielt, ob durch die Einwilligung solche Sorgfaltspflichten entfallen können, die gerade zum Schutz bestimmter individueller Giiter des Opfers bestehen. Das allgemeine, etwa zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer bestehende Verbot des Fahrens in fahruntüchtigem Zustand ist also ohne jede Aussagekraft fur die Beantwortung der Frage, ob eine Sorgfaltswidrigkeit in Richtung auf solche Gtiter besteht, in deren Gefährdung das Opfer eingewilligt hat. Es gibt - entgegen einer auch von Zipf, Einwilligung, S. 21 geäußerten Auffassung - keinen Grundsatz, demzufolge eine Handlung nur „entweder rechtmäßig oder rechtswidrig" sein könne, sondern es ist durchaus möglich, daß ihr verschiedene Risiken anhaften und sie hinsichtlich bestimm-
II. Die angemessene Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen
431
Dieser Auffassung liegt nun offenbar eine verfehlte Vorstellung des Erfolgsunwerts zugrunde. Plausibel ware sie nur, wenn der Erfolgsunwert auch durch eine Handlung realisiert werden könnte, die keinen Handlungsunwert verwirklicht. Der Erfolgsunwert ware dann nicht durch die Realisierung einer unwertigen Handlung im tatbestandsmäßigen Erfolg gekennzeichnet, sondern ausschlaggebend ware die Herbeiführung des äußeren Schadens. Nur unter dieser Voraussetzung ließe sich denken, daß eine Einwilligung zwar den Handlungsunwert, nicht aber den Erfolgsunwert beseitigt. Eine solche Sichtweise ist freilich seit der Entwicklung der objektiven Zurechnungslehre mit ihren Erfordernissen des Pflichtwidrigkeits- und des Schutzzweckzusammenhangs nicht mehr haltbar. Seither hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß der tatbestandsmäßige Erfolg nicht nur durch kausale Beziehungen mit einem Verhalten des Täters verbunden sein muß, sondern es entscheidend darauf ankommt, daß sich gerade die Sorgfaltspflichtverletzung (oder gleichbedeutend: die rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung) im Erfolg realisieren muß. Fehlt es also aufgrund der Einwilligung an einem sorgfaltspflichtwidrigem Handeln und damit am Handlungsunwert, dann kann durch eine solche Handlung zwar kausal ein Erfolg herbeigeführt werden, aber kein Erfolgsw/wer/463. Der Erfolgsunwert ist nichts anderes als der Handlungsunwert, der sich im tatbestandsmäßigen Erfolg objektiviert hat. Einen Erfolgsunwert ohne Handlungsunwert gibt es nicht464.
ter Risiken rechtmäßig und hinsichtlich anderer rechtswidrig ist (zutreffend Dach, Einwilligung, S. 60). Die h.M. berücksichtigt die Schutzrichtung der Verhaltensnorm beim Zurechnungserfordernis des Schutzzweckzusammenhanges. Wenn man also die Zustimmung des Opfers iiberhaupt bereits auf der Ebene des Tatbestandes beriicksichtigt, dann kann ihre Relevanz fur den Handlungsunwert nicht unter Hinweis auf die Verbotenheit des Verhaltens unter beliebigen anderen Aspekten geleugnet werden. Deshalb geht auch die Begriindung fehl, mit der Schaffstein, in: FS fur Welzel, S. 567 die Einwilligung in eine fahrlässige Tat auf die riskante Handlung beschränkt. Schaffstein vertritt nämlich die Auffassung, daß die Einwilligung „nur deren Unwert, also den Aktunwert" aufhebe, nicht aber den Erfolgsunwert und begrilndet den Verzicht auf das Erfordernis einer Einwilligung in den Erfolg mit dem „überragenden, das Unrecht bereits fur sich allein begriindenden Rang" des Handlungsunwerts (ähnlich Hillenkamp, JuS 1977, 171: der Aktunwert sei der das Fahrlässigkeitsunrecht „entscheidend konstituierende" Unwert). Eingehend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 519 ff. So auch Roxin, AT I, § 10 Rn. 96, der sich damit in Widerspruch zu der von ihm vertretenen Auffassung setzt, daß eine Einwilligung in die Fremdgefährdung den Unrechtsausschluß nicht tragen könne, weil auch der Erfolg „wesentlicher Bestandteil des Unrechts" sei (a.a.O., § 11 Rn. 105). Zumindest mißverständlich ist es dagegen, wenn Dach, Einwilligung, S. 28, 58 f. meint, ein Erfolgsunwert ohne Handlungsunwert sei „strafrechtlich irrelevant" und damit impliziert, ein solcher Erfolgsunwert bestehe zwar, werde aber nicht von der Sanktionenordnung erfaßt; ähnlich Amelung/Eymann, JuS 2001, 945.
432 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Diese Einwände greifen auch dann, wenn man - wie hier vertretenen - der Auffassung ist, daß die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund den tatbestandlichen Handlungsunwert (und damit auch die Verwirklichung des Erfolgsunwerts) unberührt läßt. Derm damit verlagert sich das Problem der Bestimmung des Verhältnisses von Handlungs- und Erfolgsunwert unter Berilcksichtigung der Zustimmung des Opfers lediglich von der Ebene des Tatbestandes auf die der Rechtswidrigkeit, ohne daß dies inhaltlich etwas ändert. Überträgt man die vorstehenden Überlegungen auf die Ebene der Rechtswidrigkeit, so gilt: Das mit der Tatbestandsverwirklichung festgestellte Datum einer typisierten Unrechtserfullung verliert durch die rechtfertigende Einwilligung seine vorläufige Bewertung als Unrecht deshalb, weil infolge der Umgestaltung des Rechtsverhältnisses die grundsätzlich rechtlich mißbilligte Handlung ausnahmsweise erlaubt ist. Damit ist aber nun auch ein schädigender Erfolg, der infolge der einwilligungsbedingt erlaubten Handlung eintritt, nicht mehr Ausdruck einer Verletzung des rechtlichen Verhältnisses, also keine Objektivierung von Unrecht. Die Bestimmung des Verhältnisses von Handlungs- und Erfolgsunwert betrifft das Unrecht überhaupt; sie verändert ihren Charakter nicht durch die zweistufige Priifung des Unrechtsvorwurfs, die sich aus der Typisierungsfunktion des Tatbestandes ergibt. Die Einsicht, daß es fur eine Umgestaltung des rechtlichen Verhältnisses nicht auf eine zusätzliche Bewilligung des Erfolgseintritts ankommt, beruht nicht etwa auf der Annahme, der „Schwerpunkt des Fahrlässigkeitsunrechts" liege auf dem Handlungsunrecht und der Erfolg stehe „beziehungslos zur Fahrlässigkeitshandlung" und werde so „auf eine nur zufällig eingetretene Bedingung der Strafbarkeit reduziert"465. Die Zurechenbarkeit eines Erfolges zum Täterhandeln weist den Erfolg vielmehr als einen aus, der das Opfer gerade nicht schicksalhaft trifft, sondern als Objektivation der Unrechtshandlung Bestandteil des Unrechts ist. Gerade weil der Erfolg nicht beziehungslos zum Täterhandeln steht, muß die Beseitigung des Handlungsunrechts infolge der Bewilligung der Risikoschaffung auch den Unwert des Erfolges beseitigen. Bezieht sich die Einwilligung auf die in Richtung auf das Leben oder die körperliche Integrität gefährliche Handlungen, so hängt die Beachtlichkeit der §§ 216, 228 StGB (ihrem Rechtsgedanken nach) von der ratio dieser Vorschriften ab. Insgesamt bleiben Einschränkungen der Erlaubtheit bewilligter Risikoschaffungen mit Rticksicht auf defizitäre Entscheidungen oder die Rechte anderer möglich. (Siehe zu diesen Fragen noch unten III. und IV.).
465
So aber der Vorwurf von /. Sternberg-Lieben, JuS 1998, 429 f. gegen die Einwilligungslösung. Freilich kann manche Begriindung des Verzichts auf die Erfolgsbezogenheit der Einwilligung (wie die von Schaffstein, in: FS fur Welzel, S. 567) eine solche Kritik nahelegen.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverftigungen wegen Entscheidungsdefiziten
4.
433
Zusammenfassung
Über alle von der h.M. gebildeten Fallgruppen hinweg kann eine Begrilndung der Strafbarkeit aus individualgüterschützenden Tatbeständen nicht darauf gestiltzt werden, daß ein Verhalten des Außenstehenden ein nicht-defiziäres selbstverfügendes Opferverhalten erleichtert oder ermöglicht (eigenverantwortliche Selbstverletzung oder -gefahrdung) bzw. eine nicht defizitäre selbstverfligende Opferentscheidung exekutiert (einverständliche Fremdverletzung bzw. -gefahrdung). Strafrechtsdogmatisch wird dieser Sachverhalt in differenzierter Weise danach erfaßt, ob das Verhalten des Außenstehenden lediglich eine Option fur eine selbstverfugende Opferentscheidung eröffhet (keine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung) oder ob die Erlaubtheit des Verhaltens des Außenstehenden erst durch die Opferentscheidung, die das konkrete Rechtsverhältnis zum Außenstehenden in diesem Sinne umgestaltet, begriindet wird. In diesem Fall liegt zwar eine rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung vor, die aber von einer Einwilligung gedeckt ist. Diese Unterscheidung bietet den berechtigten Hintergrund fur die Differenzierung der h.M. in eigenverantwortliche Selbstschädigung/-gefährdung einerseits und einverständliche Fremdschädigung/-gefährdung andererseits. Die Differenzierung nach dem Kriterium der Schädigung versus dem der Gefahrdung hat sich dagegen - soweit es den Schutz der nicht-defizitär entscheidenden Person vor sich selbst betrifft - als nicht berechtigt erwiesen. Für Einschränkungen der Verfügungsbefugnis, wie sie etwa in §§ 216, 228 StGB vorgesehen sind, hat die hier vorgetragene Interpretation weitreichende Auswirkungen. 1st es nämlich ausgeschlossen, Grenzen der Verfugungsbefugnis mit dem Schutz der ohne Defizit über sich verfugenden Person vor sich selbst zu legitimieren, so geht es bei diesen Grenzen der Selbstverfugungsfreiheit entweder urn defizitäre Entscheidungen (und so gesehen iiberhaupt nicht um die vorausgesetzte Freiheitsausiibung) oder um Beeinträchtigungen der Rechte anderer (und so gesehen nicht um die Gefahren der Selbstverfiigung als solcher, sondern um dieser bzw. ihrer rechtlichen Freigabe anhaftende andere Gefahren). Inwieweit diese Einschränkungen berechtigt sind und inwieweit die Tatbestände des StGB vor solchen Risiken Schutz gewähren, ist Gegenstand der weiteren Überlegungen.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten Entscheidungsdefizite können - müssen aber nicht - der Selbstbestimmungsfreiheit Grenzen ziehen, weil das die Entscheidung (mit-) tragende Defizit die Qualität dieser Entscheidung als Ausdruck personaler Selbstbestimmung mindert. Die Lehre von den Defiziten, seien es konstitutionell bedingte oder seien sie Ausdruck situativer Willensmängel, ist vor allem in der Einwilligungslehre zu hoher Differenzierung (wenn auch vielfach nicht zu Einheitlichkeit) gebracht worden. Die Erträge dieser Diskussion beanspruchen nach hier vertretener Auffassung sowohl
434 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens filr die Fälle der einverständlichen Fremdschädigung als auch fur die der einverständlichen Fremdgefährdung Beachtung. Im Bereich der eigenverantwortlichen Selbstschädigung und -gefährdung ist die Diskussion weniger weit entwickelt. Hier wird vor allem dariiber gestritten, ob die fur die Wirksamkeit der Einwilligung entwickelten Kriterien auf diese Fälle übertragen werden können oder ob ein anderer Maßstab anzuwenden ist, wobei insbesondere an eine entsprechende Anwendung der Regeln iiber die Schuldunfahigkeit und Entschuldigung nachgedacht wird. Es ist offenkundig, daß es hier nicht darum gehen kann, die Grenzen der Wirksamkeit von Entscheidungen bzw. die Grenzen, ab denen die Handlungsfreiheit des Außenstehenden mit Rücksicht auf (mögliche) Defizite beim Entscheidenden einzuschränken ist, in ihren Einzelheiten zu konturieren. Dies ist eine schon mehrfach monographisch angegangene Aufgabe466. Ziel der folgenden Ausfuhrungen soil es dagegen sein, im Ausgang von dem entwickelten Selbstbestimmungsrecht der Person einige grundsätzliche Erwägungen zu Entscheidungsdefiziten und ihrer rechtlichen Relevanz vorzutragen; es geht um die Prinzipien, nach denen sich die rechtliche Relevanz eines Defizits bestimmt oder auch nur bestimmen kann. Diese Akzentuierung erscheint auch deshalb berechtigt, weil die sonst geläufige Beschränkung auf die Untersuchung bestimmter Fallgruppen oder dogmatischer Figuren - wie etwa die Einwilligung oder die mittelbare Täterschaft -, die Gefahr von Blickverengungen bietet, der eine das Selbstbestimmungsrecht des Opfers in einer diese Rubrizierungen übersteigenden Weise behandelnde Arbeit nicht unterliegt. So läßt sich zeigen, wie sich das Selbstbestimmungsrecht in unterschiedlichen Fallkonstellationen unter unterschiedlichen dogmatischen Instituten entfaltet, ohne dabei etwa anderes zu werden als: das Selbstbestimmungsrecht.
1.
Das Defizit als psychischer Sachverhalt
Unabhängig von den unterschiedlichen Auffassungen kann von einer Einsicht ausgegangen werden, die immerhin weithin unbestritten - wenn auch selten deutlich herausgestellt - ist: das einer Entscheidung anhaftende Defizit ist immer ein (momentanes oder dauerhaftes) Defizit der entscheidenden Person, d.h. ein psychischer Sachverhalt, mit dem die Person aus den unterschiedlichsten Grunden hinter einer nicht defizitär entscheidenden Maßstabsperson zurückbleibt. Dabei ist nicht ein bestimmter Zustand in seiner zeitlichen Extension ausschlaggebend, sondern ausschlaggebend ist ein Defizit immer nur insoweit, wie es sich in einem bestimmten Entscheidungsprozeß bzw. in dessen Ergebnis niedergeschlagen hat. Auch in der Diskussion um die sogenannte „Einwilligungsfähigkeit" geht es also nicht um einen bestimmten Zustand in seiner Dauerhaftigkeit, sondern um das defizitäre Zustandekommen der Siehe zuletzt zu Willensmängeln bei der Einwilligung Rönnau, Willensmängel; zum Ausschluß der Autonomie durch Irrtum im Rahmen mittelbarer Täterschaft siehe etwa M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie.
III. Wirksarakeitsgrenzen von Selbstverftigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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konkreten Entscheidung, das freilich durch einen dauerhaften konstitutionellen Mangel bedingt sein mag. Versteht man die Einwilligungsfahigkeit schon bezogen auf die Fähigkeit, gerade eine konkret in Rede stehende Entscheidung frei von Defiziten zu treffen, dann ist dieser Bezug auf die Begründung des defizitären bzw. defizitfreien Charakters der konkreten Entscheidung bereits durch die Beurteilung der Einwilligungsfahigkeit hergestellt. Ansonsten sind konstitutionelle Defizite lediglich ein Gesichtspunkt, aus dem sich der defizitäre Charakter einer konkreten Entscheidung ergeben kann - ebenso wie umgekehrt die Freiheit von konstitutionellen Defiziten lediglich ein Argument dafür ist, daß auch die konkrete Entscheidung nicht defizitär getroffen wurde. Es ist oben (3. Teil, IV. 2.) bereits herausgestellt worden, daß damit schon ein gravierendes normatives467 Problem angesprochen ist, nämlich die Bestimmung des Maßstabs der Person, deren Entscheidung als nicht-defizitär anzusehen ist. Diese Bestimmung ist unverzichtbar, derm das Defizit läßt sich als negative Abweichung von einer nicht-defizitären Entscheidung nicht ohne eine Konturierung dieses Maßstabs leisten468. Da der Maßstab, an dem die Freiheit von Defiziten zu messen ist, nicht die Selbstbestimmungsfreiheit konterkarieren darf, sondern die in der positiv begrilndeten Selbstbestimmungsfreiheit liegende Grenze deren gelungener Ausübung ist - also gewissermaßen das Ende begrilndeter Selbstbestimmung markiert und nicht etwa Ausdruck eines Gegenprinzips ist, das mit der Selbstbestimmungsfreiheit abzuwägen ware - ist es ausgeschlossen, den Maßstab gelungener Selbstbestimmung heteronom zu bestimmen469. Der Maßstab, an dem die konkrete Entscheidung auf ihre Freiheit von Defiziten zu priifen ist, ist also die entscheidende Person selbst in ihrer individuellen Verntlnftigkeit. Diesen Ausgangspunkt gilt es weiter zu entfalten: Verfehlt die Person nicht nur situativ das (fur sie) Vernilnftige, sondern hat sie den Status der verniinftigen Person noch nicht erreicht (Kind) oder kann sie ihn nicht erreichen (z.B. geistige Defekte), so ist der Maßstab des Menschen die allgemeine Menschenvernunft470. Die Einsicht, daß z.B. der Schwachsinnige zu bestimmten vernünftigen Entscheidungen nicht in der Lage ist, bedeutet richtig ver-
Zur Normativität der Bestimmung der „Freiwilligkeit" einer Einwilligung Amelung, ZStW95(1983), lOf. Zutreffend Amelung, JR 1999, 46: es mlisse ein „Bezugsobjekt der Einwilligungsfahigkeit" bestimmt werden. Vgl. auch Tomäs Valiente Lazuna, Rechtstheorie 30 (1999), 456 f. Zutreffend Amelung/Eymann, JuS 2001, 942; Amelung, JR 1999, 46 f.; ders., Recht und Psychiatrie 1995, 23 ff.; ders., Die Einwilligungsfahigkeit, S. 29; Mitsch, Rechtfertigung, S. 524 ff., 530 ff; siehe auch Amelung, ZStW 95 (1983), 14; Küper, JZ 1986, 225. Vgl. zu dem Erfordernis, sich in solchen Fallen an „objektiv" verniinftigen Wertungen zu orientieren, auch Amelung, Recht und Psychiatrie, 25.
436 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens standen nicht dessen Beurteilung an einem fur ihn fremden Maßstab 471 . Der Maßstab der verniinftigen Person überhaupt bestätigt die Teilhabe der defizitären Person an einer Vernunft, die sie zwar nicht konkret ausiibt, die aber doch der fur sie als Mensch gültige Maßstab ist und an der sie in diesem Sinne teilhat. Es gehört also zur Anerkennung auch der defizitären Person als einer Person, daß das Defizit nicht Abweichung von einem fur sie fremdem Maßstab, sondern Abweichung von einer Vernunft ist, die prinzipiell auch die ihre als eines Menschen ist. Dies ist auch die einzig legitime Grundlage dafiir, daß dieser Maßstab fur diese Person rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen kann. Daraus, daß Maßstab fur die Beurteilung der Qualität einer Entscheidung als defizitär oder nicht-defizitär die vernünftige Person selbst ist, folgt, daß grundsätzliche Einstellungen und Haltungen der Person als Basis für defizitäre Entscheidungen nur dann in Betracht kommen können, wenn sie als konstitutionelles Defizit einen pathologischen Befund aufweisen oder auf eine entwicklungsbedingte Unreife zuriickzufuhren sind (dazu schon oben 3. Teil, IV. 2.) 472 ' 473 . In die Definition
Was allerdings der Fall ware, wenn dieser Maßstab (nur) durch gesellschaftlichen Konsens ermittelt wiirde (so Enders, Die Menschenwürde, S. 500). So auch Amelung/Eymann, JuS 2001, 942; Amelung, JR 1999, 47; ders., Recht und Psychiatrie, 24 f.; ders., Die Einwilligungsfahigkeit, S. 28 ff.; vgl. auch Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 167 f.; Hruschka, JR 1978, 520. Dieses Problem ist mit der üblichen Formulierung zur Einwilligungsfahigkeit, der Betroffene miisse die „Fähigkeit" besitzen, „Bedeutung und Tragweite des tatbestandsmäßigen Eingriffs zu beurteilen" (Stratenwerth, AT I, § 9 Rn. 23; ebenso Jescheck/ Weigend, AT, S. 382), noch nicht zu lösen {Amelung, JR 1999, 45 spricht von einer „Leerformel"; ders., Recht und Psychiatrie 1995, 22: „formelhaft und vage"; ders., Die Einwilligungsfahigkeit, S. 25, 27). Denn diese Formulierung ist eine einigermaßen deutliche Konkretisierung des Maßstabs der vernünftigen Person allenfalls insoweit, als bestimmte kognitive (die Berücksichtigung voluntativer Fähigkeiten fehlt; dazu Amelung, Die Einwilligungsfahigkeit, S. 27, 31 f.) Fähigkeiten der Person vorausgesetzt werden, die fehlen, wenn der Einwilligende nicht in der Lage ist zu erfassen, daß und mit welcher Intensität ein bestimmtes Rechtsgut durch einen bewilligten Eingriff angetastet wird. Die Formel zur Einwilligungsfahigkeit meint zwar nicht nur diese Fähigkeiten, die im Einzelfall durchaus auch einem Schwachsinnigen bescheinigt werden konnen, sondern gefordert wird mit ihr auch, daß der Einwilligende die Nachhaltigkeit des Eingriffs wertend - auch in Relation zu einem etwa mit der Einwilligung verfolgten Zweck - erfaßt. Dieser Gesichtspunkt ist allerdings nur undeutlich mit dem Hinweis auf "Bedeutung und Tragweite", manchmal auch mit einem Hinweis auf das „Wesen" der gegen den Einwilligenden gerichteten Tat angesprochen (so etwa Kiihl, AT, § 9 Rn. 33). Ob eine Person diese Fähigkeit zur Bewertung des bewilligten Eingriffs besitzt, hängt aber davon ab, ob ihre Wertewelt als die einer verniinftigen Person akzeptiert oder als Ausdruck eines Defizits defmiert wird. Die zu vernünftiger Wertung befahigte Maßstabsperson ist damit in dieser Definition vorausgesetzt, aber nicht bestimmt. Beispielhaft: Wer im Glauben an ein Leben nach dem Tod sein irdisches Leben weniger hoch achtet als die meisten Menschen, mag die Bedeutung eines lebensgefährlichen Eingriffs anders beurteilen als der Durchschnitt. So hat die den Eingriff bewilligende Person zwar an ihrem eigenen Maßstab „Bedeutung und Tragweite des
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der Maßstabsperson gehen also solche Einstellungen und Haltungen nicht ein, die lediglich die nicht-pathologische und nicht durch entwicklungsbedingte Unreife geprägte Individualität der Person ausmachen474. Die konkrete Entscheidung ist demnach nur dann Ausdruck einer defizitären Persönlichkeit, wenn dieses Defizit pathologisch oder entwicklungsbedingt ist. Das Defizit kann entweder die Fähigkeit zum Setzen eigener Entscheidungsmaßstäbe oder die Fähigkeit zur Orientierung an diesen Maßstäben betreffen475. Für die Frage, wann ein Defizit als pathologisch anzusehen ist, ist freilich nicht das Verständnis der jeweiligen Fachwissenschaft ausschlaggebend, sondern der Gesetzgeber hat hierrur in den §§ 19, 20 StGB die wichtigsten Orientierungspunkte gegeben. Für den Maßstab, an dem entwicklungsbedingte Defizite zu messen sind, hat die Rechtsordnung Grenzen gezogen, die es ausschließen, entwicklungsbedingte Unreife auch dort zu behaupten, wo Volljährigkeit eingetreten ist476. Die (nicht durch pathologische Persönlichkeitsveränderungen geprägten) Wertvorstellungen eines Achtzehnjährigen sind also auch dann als Maßstab fur eine von Defiziten freie Entscheidung zu akzeptieren, wenn abzusehen ist, daß die Entwicklung dieser Person noch nicht abgeschlossen ist und damit diese Einstellungen vorläufig sind. Die Irrelevanz individueller (nicht pathologischer) Einstellungen fur die Beurteilung der Qualität einer Entscheidung als defizitär gilt auch - praktisch wichtig - fur die Einstellung des Entscheidenden zum Eintritt eines Erfolges, der mit der Vornahme einer in Richtung auf diesen Erfolg riskanten Handlung oder mit der Bewilligung einer solchen Handlung möglicherweise verbunden ist. Allein der Umstand, daß die Person (entsprechend der bewußten Fahrlässigkeit) auf ein Ausbleiben des Erfolges hofft, begrtlndet kein Entscheidungsdefizit477. Es gehört nicht zu den Anforderungen an eine nicht-defizitär entscheidende Person, Risiken generell zu vermeiden, deren
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tatbestandsmäßigen Eingriffs" zutreffend beurteilt, nicht aber am Maßstab der meisten anderen Menschen. Halt man ihren abweichenden Maßstab für defizitär - wozu mancher vielleicht im Falle religiösen Fanatismus geneigt sein wird -, so kann auch die nach dem Maßstab des Handelnden zutreffende Beurteilung des Eingriffs die diesen Eingriff bewilligende Entscheidung nicht als Ausdruck v o n Selbstbestimmung ausweisen. Insoweit ist die vielfach formulierte Kritik an der „Zahnextraktionsentscheidung" d e s B G H (NJW 1978, 1206) zutreffend; siehe dazu zusammenfassend Amelung, J R 1999, 45 f. (m.w.N.); Taupitz, Grenzen, S. 92. Amelung, Recht u n d Psychiatrie 1995, 23 f.; ders., D i e Einwilligungsfähigkeit, S. 29 ff. W a s freilich nicht ausschließt, daß die Rechtsordnung diese Grenze j e nach Art der Entscheidung unterschiedlich festsetzt; so z.B. bei der Altersgrenze in § 2 Abs. 1 Nr. 3 KastG. Siehe bereits die oben (II. 3 . b) cc) und c) cc)) ausgefiihrten Kritik an der Auffassung von Zaczyk, dessen Ausfuhrungen aber (wohl) nicht auf ein die Wirksamkeit der Entscheidung aufhebendes individuelles Defizit abheben, sondern Maßstäbe der inhaltlichen Richtigkeit postulieren, bei deren Verfehlung die Entscheidung keine rechtliche Anerkennung findet.
438 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Realisierung sie nicht wünscht. Abgesehen davon, daß die Eingehung solcher Risiken vielfach als durchaus verniinftig und geradezu als unvermeidbar angesehen wird, wenn nämlich der Nutzen der Eingehung des Risikos in einem angemessenen Verhältnis zur Erfolgswahrscheinlichkeit und dem Gewicht der drohenden Beeinträchtigung steht, läßt sich auch derjenige nicht als defizitär charakterisieren, dessen Risikobereitschaft ilber den Rahmen des Üblichen hinausgeht. Persönliche Risikobereitschaft und die fur ausreichend gehaltenen Griinde zur Eingehung von Risiken, kennzeichnen Einstellungen der Person, die nicht schon deshalb defizitär sind, weil die Mehrheit diese Einstellung nicht teilt. Wer etwa nur um eines „Nervenkitzels" willen erhebliche Risiken fur Leib und Leben bei Ausilbung einer gefährlichen Sportart eingeht oder sich von einem Betrunkenen chauffieren läßt, entscheidet deshalb nicht schon defizitär478. Wünscht der Entscheidende nicht den Eintritt des Erfolges, dann begründet dies folglich auch keinen „Willensmanger. Weil die Einstellung zum Erfolgseintritt fur sich genommen (soweit sie nicht ihrerseits auf einer mangelhaften Basis, etwa auf einer Fehleinschätzung über das eingegangene Risiko beruht) fur das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits nicht relevant ist, ist es auch verfehlt, wenn verschiedentlich die Auffassung vertreten wird, Willensmängel bei der Risiko-Einwilligung seien prinzipiell anderen Maßstäben zu unterwerfen als bei einer Einwilligung, bei der der Entscheidende den Eintritt des Erfolges zumindest billigend in Kauf nimmt479. Diese Auffassung hängt freilich mit der hier zurückgewiesenen Annahme zusammen, die Einwilligung miisse sich auch auf den Eintritt des Erfolges beziehen. Außerhalb der Fälle, in denen die maßstabbildende Qualität konkreter Einstellungen der individuellen Person aufgrund der genannten Defizite ausgeschlossen ist (und damit die Vernunft iiberhaupt den Maßstab abgibt), ist die Einstellung des Entscheidenden der Maßstab, an dem sich das Vorliegen einer defizitären Entscheidung beurteilt. Dieser Maßstab wird jedenfalls dort verfehlt, wo sich die Person nötigendem Druck beugt, also gerade nicht die Entscheidung trifft, die sie unabhängig von dieser Einflußnahme getroffen hätte. Der Nötigung verwandt (wenn auch nicht [notwendig] die Schwelle des § 240 StGB erreichend) und dennoch selten unter dem Weshalb es in dem letztgenannten Beispiel auch nicht möglich ist, eine Haftung des Fahrers damit zu begründen, daß der Beifahrer „darauf vertrauen" könne, „daß der Täter entweder seine Fahrweise seinem (noch vorhandenen) Fahrvermögen anpaßt oder aber die Fahrt ganz unterläßt, wozu er strafrechtlich verpflichtet ist" (so Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 59). Denn die Riskantheit der Trunkenheitsfahrt resultiert fur den Beifahrer j a gerade daraus, daß er eben nicht auf die Beherrschung des Fahrzeugs vertrauen kann. Erfaßt er aber das Risiko, dann ist auch nicht nachvollziehbar, warum er darauf vertrauen können soil, daß der Betrunkene die Fahrt unterläßt. Es gibt - weil der Beifahrer nicht defizitär entscheidet - keinen Grund, dem Außenstehenden (d.h.: dem Fahrer) die Verantwortung für die riskante Entscheidung aufzuerlegen. So etwa Rönnau, Willensmängel, S. 193 f.
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Aspekt des Willensmangels diskutiert, sind weiter bestimmte Not- oder Konfliktlagen, mit Blick auf deren Bestehen eine Person eine selbstverfiigende Entscheidung trifft480. Das ist etwa der Fall, wenn eine Person aus wirtschaftlichen Riicksichten, etwa als Arbeitnehmer481, Mieter482 oder potentieller Organspender483 eine selbstverfugende (selbstgefährdende oder -schädigende) Entscheidung trifft. Der Entscheidungsdruck wird hier mitunter nicht (nur) durch denjenigen aufgebaut, zu dessen Gunsten schließlich die selbstverfugende Entscheidung getroffen wird, sondern diese Entscheidung wird als Chance ergriffen, eine als unbefriedigend empfundene wirtschaftliche oder soziale Situation zu verbessern. In eine Zwangslage wird auch derjenige gebracht, der vom Außenstehenden weitere Beeinträchtigungen zu befurchten hat, denen er sich nur durch selbstschädigendes oder -gefährdendes Verhalten entziehen kann484. Gleiches gilt für den, der nach einer vom Außenstehenden zugefügten Primärverletzung über die Eingehung zusätzlicher Behandlungsrisiken entscheiden muß485. Besondere Konfiiktlagen motivieren schließlich auch den zum Handeln, der eine Gefahrensituation für Dritte unter Inkaufnahme eigener Gefährdung oder Schädigung abwenden will. Hierher gehören insbesondere die sogenannten „Retterunfälle"486, bei denen der Retter zwar weder unter dem Druck einer Nötigung im engeren Sinne (von § 240 StGB) noch unter Verkennung der Gefahren handelt, aber dennoch in einer Entscheidungssituation steht, die wesentlich durch den vom
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Siehe zu solchen Konstellationen auch Freund, Erfolgsdelikt, S. 208 f.; Puppe, in: NK, Vor§ 13 Rn. 179. Vgl. OLG Naumburg, NStZ-RR 1996, 229; dazu Otto, JK 97, StGB Vor § 13/9. Siehe ferner LG München, JW 1920, 922 m. Anm. Kitzinger. Vgl. RGSt 61, 318, 319 f.; auf das Zwangsmoment in diesem Fall weist etwa hin Vogel, Norm und Pflicht, S. 207. Zum Problem, ob die Verhinderung der Ausnutzung wirtschaftlicher Notlagen als Schutzzweck von § 17 TPG in Betracht kommt, siehe Schroth, in: FS fiir Roxin, S. 877 ff. Vgl. BGHSt 19,382, 386 f. (Tod des seiner Freiheit beraubten Opfers bei Fluchtversuch); BGH, N J W 1992, 1708 (Tod des weitere Mißhandlungen befürchtenden Opfers infolge Sprungs von einem Hochhaus, wobei hier zusätzlich panische Angst und Benommenheit aufgrund der bereits erfolgten Mißhandlungen die Willensbildung beeinträchtigten). Vgl. OLG Celle, NJW 2001, 2816 = StV 2002, 366 (Ablehnung einer Operation, bei der die Mortaliltätsquote bei 5 bis 15% liegt) m. Anm. Walther. Dabei steht es freilich einer Haftungsbeschränkung des Außenstehenden unter dem Gesichtspunkt der Opferselbstgefährdung noch nicht entgegen, daß das selbstgefährdende Verhalten in einem Unterlassen (der Einwilligung in eine Behandlung) besteht (so aber Walther, StV 2002, 369). Siehe etwa Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 472 ff.; ders., in: FS fur Nishihara, S. 66 ff; Kühl, AT, § 4 Rn. 96; Roxin, AT I, § 11 Rn. 99 ff; Radtke, Brandstiftungsdelikte, S. 288 ff.
440 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Verursacher der Gefahr veranlaßten Konflikt zwischen Solidarität mit dem Gefährdeten und der eigenen Sicherheit gekennzeichnet ist487'48S. Der Maßstab des Entscheidenden wird aber nicht schon durch jedes Zurilckbleiben hinter einer optimalen Entscheidungssituation verfehlt. Es ist deshalb auch von vornherein nicht richtig, einen „Idealfall" selbstbestimmter Entscheidung zu defmieren, in dem etwa vorausgesetzt ist, daß die Person eine auf umfassender Tatsachenkenntnis und höchstmöglichem prognoserelevanten Wissen basierende, von Zwängen aller Art freie Entscheidung trifft489. Ein solcher Maßstab würde nicht nur das Menschenmögliche übersteigen. Der Verzicht auf eine Optimierung der Entscheidungsbasis und auf das umfassende Durchdenken der Sachgerechtigkeit einer Entscheidung ist vor allem vielfach ausgesprochen rational, nämlich eine Folge nur begrenzt zur Verfugung stehender Ressourcen an Zeit und Energie und der Einsicht, daß viele Entscheidungen zu einem solchen Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis stünden. Vielfach wird sich der Entscheidende an einem (oder einigen) fur ihn „schlagenden" Argument(en) orientieren und die marginale Möglichkeit, durch die Berücksichtigung weiterer Umstände von seiner Entscheidung abgebracht zu werden, aus Gesichtspunkten der Entscheidungseffizienz vernachlässigen. Jedenfalls dort, wo die Person sich dieses Verzichts bewußt ist und in dem Maße, wie sie ein Fehlentscheidungsrisiko in Kauf nimmt, läßt sich eine solche Entscheidung nicht an einer Maßstabsperson als defizitär erweisen, die durch größere Vorsicht gekennzeichnet ist und deshalb die Risikobereitschaft des Entscheidenden nicht aufweist. Derm die Bereitschaft zur Eingehung von Fehlent487
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Siehe auch Amelung, NStZ 1994, 338; Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 362 ff.; Mitsch, Rechtfertigung, S. 104 (zu den parallelen Fallen „aufoktroyierter Einwilligungslage"); Puppe, Die Erfolgszurechnung, S. 173; dies., in: NK, Vor § 13 Rn. 179, die von einer „Nötigungssituation" spricht. Dabei ist die Rettungshandlung als solche nicht etwa unfrei (insoweit zutreffend Biewald, Regelgemäßes Verhalten, S. 178 ff.); eine unerlaubte Einschränkung von Freiheit liegt aber darin, daß der Retter überhaupt in eine Situation gebracht wird, in der er entweder dem potentiellen Opfer seine Solidarität verweigern oder seine eigenen Gilter in Gefahr bringen muß. Biewald (Regelgemäßes Verhalten, S. 184 ff., 199 ff.) nimmt für Rettungshandlungen, mit denen der Retter eine Pflicht (entsprechend: eine Obliegenheit, S. 254 ff.) erfullt, fehlende Freiheit des Retters im Kontext des pflichtwidrigen Verhaltens des Ersthandelnden an. Damit ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Feld der Retterunfälle thematisiert, bei denen es meist um Konstellationen geht, in denen die Rettungshandlung lediglich rechtlich erlaubt (aber nicht rechtlich gefordert) ist. In diesen Zusammenhang gehört auch der „Pockenarzt-Fall" (BGHSt 17, 359; siehe auch zum Zusammenhang mit den „Retterunfällen" - Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 493 f; Rudolphi, JuS 1969, 556 f), in dem das Opfer sich aus „seelsorgerischer Verantwortung" in die bestehende Ansteckungsgefahr begeben hat. Weshalb insoweit auch die Bedenken von Kubink, in: FS fur Kohlmann, S. 58 f. fehlgehen. Zutreffend weist Rönnau, Willensmängel, S. 210 (s. auch S. 220 f, 224, 226, 229 f, 354, 436, 445) darauf hin, „daß Einwilligungen, die auf Irrtum oder Zwang beruhen, nichts Außergewöhnliches sind, sondern vielmehr den Normalfall darstellen". Entsprechend zum Einfluß von Zwang Amelung/Eymann, JuS 2001, 944; Rönnau, Willensmängel, S. 228 ff, 436, 445.
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scheidungsrisiken ist kein „Mangel" der Person, sondern ein Charakterzug, der nicht deshalb zum Defekt wird, weil andere mit ihren Glitern vorsichtiger umzugehen pflegen. Solche Einstellungen gehen also nicht in die Definition der Maßstabsperson ein. Sie gehören erst dann zum Profil der Maßstabsperson, wo die Risikobereitschaft pathologische Zilge von normativ relevanter Qualität annimmt; hier gilt also Entsprechendes wie bei den konstitutionellen Defiziten. Freilich bleibt auf eines hinzuweisen: es ist denkbar, daß die Person in einer bestimmten Entscheidung eine Haltung einnimmt - insbesondere auch eine erhebliche Risikobereitschaft zeigt - die nicht der grundsätzlichen Einstellung und dem Charakter dieser Person entspricht490. Hier stellt sich also die Frage, ob der Maßstab, an dem die Qualität einer solchen Entscheidung als selbstbestimmt oder nicht-selbstbestimmt beurteilt wird, die situative oder die grundsätzliche Einstellung der Person ist. Auch hier wird man berücksichtigen müssen, ob die Person sich der Abweichung von ihren sonst fur sie geltenden Maßstäben bewußt ist. Wer sich aus einer Laune heraus auf Risiken einläßt, die er - wie er weiß - sonst nicht eingehen würde, muß sich auch dann nicht an dem Maßstab einer vorsichtigeren Person messen lassen, wenn dieser Maßstab sonst der seine ist. Auch hier verlangt die Achtung der Person in ihrer Individualität, daß die Maßstabsperson nicht dadurch gekennzeichnet werden kann, daß sie sich nicht situativ über selbst gesetzte Grenzen hinwegsetzt - soweit diese Grenziiberschreitung nicht wiederum als pathologisch-defizitär begriffen werden muß. Geht die Person hingegen das Risiko einer Fehlentscheidung (entsprechendes gilt fur Abweichungen von den sonst fur sie verbindlichen Maßstäben) nicht bewußt und gewollt ein, so bleibt sie hinter dem fur sie selbst geltenden Maßstab zurück, wenn sie nach diesem Maßstab dieses Fehlentscheidungsrisiko bei entsprechender Kenntnis von den Schwächen der Entscheidung nicht eingegangen ware. Dabei spielen fur den personalen Maßstab die in der Diskussion vorfmdlichen Relevanzkriterien - etwa die Rechtsgutsbezogenheit oder der Ausschluß von Motivirrtümern - noch keine Rolle. Diese Kriterien betreffen erst die Frage, ob einem Defizit normative Relevanz zukommt491. Der Maßstab fur die Beurteilung des Vorliegens von Entscheidungsdefiziten wird auch dann vom Entscheidenden selbst gebildet, wenn ein Fehlentscheidungsrisiko zwar ubiquitär, aber nach Maßstäben des Entscheidenden dennoch zu hoch ist. Die Ubiquität von Defiziten ist kein hinreichender Grand dafur, insoweit höhere Anforderungen des Entscheidenden unberiicksichtigt zu lassen (so daß entsprechende Defizite beim Entscheidenden keine Abweichung von der Maßstabsperson wären). Denn das Fallen einer Entscheidung ohne die Kenntnis vom Bestehen gewisser, fur die vernilnflige Person prinzipiell behebbarer492 Fehlentscheidungsrisi-
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Beispiel von Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 50: Jemand läßt sich aus einer Laune heraus tätowieren, was er später bereut. Im gleichen Sinne Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff, S. 82; Rönnau, Willensmängel, S. 2 2 3 . Der Maßstab der nicht defizitären Entscheidung kann freilich keine Anforderungen stellen, deren Erfullung das Menschenmögliche übersteigt. So kann die Kenntnis von
442 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ken, ist allemal ein Zurückbleiben der Qualität dieser Entscheidung hinter dem der Person Möglichen. Die Frage nach der Relevanz dieses Zuriickbleibens ist ein normatives Problem, das nicht schon durch Negation des defizitären Charakters der Entscheidung erledigt werden sollte. Für diese Sichtweise spricht auch, daß die Abgrenzung ubiquitärer Entscheidungsdefizite von anderen Entscheidungsdefiziten kaum gelingen dürfte und schließlich ist die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Schwächen der Entscheidungsfindung noch kein hinreichendes Kriterium fur deren normative Irrelevanz. Der Maßstab, an dem das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Defiziten gemessen werden muß, wird also nicht unter Einbeziehung ubiquitärer Defizite gebildet, sondern er bemißt sich nach den Ansprilchen, die die entscheidende Person selbst an den Ausschluß von Fehlentscheidungsrisiken stellt. Bleibt die Person hinter ihren eigenen Maßstäben zurück, so ist der Entscheidungsvorga«g defizitär. Doch mit dem defizitären Zustandekommen einer Entscheidung ist noch nicht gesagt, daß auch die konkrete Entscheidung im Ergebnis defizitär ist. Denn auch dann, wenn die Person etwa nicht erkennt, daß zusätzliche Umstände fur die Entscheidung Relevanz erlangen können und deshalb der Entscheidungsvorgang in seiner Komplexität hinter dem zuriickbleibt, was eine nach den Anspriichen der entscheidenden Person selbst gebildete Maßstabsperson leisten würde, ist damit noch nicht gesagt, daß die Beriicksichtigung dieser Umstände zu einer im Ergebnis abweichenden Entscheidung gefuhrt hätte. Es wird vielfach so sein, daß bei maßstabsgerechtem Verhalten zwar weitere Umstände in der Entscheidung zu verarbeiten gewesen wären, dies aber auf die letztlich von der Person getroffene Entscheidung ohne Einfluß geblieben ware. Defizitär ist eine Entscheidung in ihrem Ergebnis also erst dann, wenn sich die Schwächen hinsichtlich der Entscheidungsfindung auch in diesem Ergebnis niedergeschlagen haben. Das hängt davon ab, ob und in welcher Weise die konkrete Person die zusätzlichen Faktoren nicht nur in ihrer Entscheidungsfindung erwogen, sondern schließlich auch in ihrer Entscheidung - in Abweichung von ihrer tatsächlich getroffenen Entscheidung - berücksichtigt hätte. Der Maßstab, an dem die Qualität der getroffenen Entscheidung in ihrem Ergebnis als defizitär oder nicht defizitär zu messen ist, kann also letztlich von solchen Umständen abstrahieren, die ergebnisneutral sind. Beispielhaft: Sind einem Patienten bestimmte Nebenwirkungen einer Operation unbekannt, hätte er aber seine Einwilligung auch in Kenntnis dieser Nebenwirkungen erteilt, dann ist zwar sein Entscheidungsvorgang (möglicherweise infolge einer Verletzung der Aufklärungspflicht) defizitär, nicht aber die getroffene Entscheidung in ihrem Ergebnis. Ob der defizitäre Entscheidungsvorgang jeglicher rechtfertigenden Wirkung der Einwilligung in den Eingriff entgegensteht oder ob der Umstand, daß sich der Mangel der Einwilligung nicht im Erfolg niedergeschlagen hat, zumindest eine Haftung fur das Unrecht einer vollendeten Tat ausschließt, ist freilich eine zusätzliche - normative - Frage493.
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Umständen, die in einer bestimmten Situation von niemanden erlangt werden kann, nicht den Maßstab fur die Freiheit von Entscheidungsdefiziten prägen. Siehe dazu mit Nachw. zu den unterschiedlichen Auffassungen Rönnau, Willensmängel, S. 428 f.; eingehend und weiterfiihrend Kuhlen, in: FS für Müller-Dietz, S. 431 ff.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Überlegungen zur Bestimmung des Maßstabes, an dem sich eine Entscheidung als defizitär erweist, üblicherweise im Kontext der Frage nach der Wirksamkeit der Einwilligung angestellt zu werden pflegen. Die Frage, ob ein Defizit vorliegt, ist aber in gleicher Weise auch bei selbstschädigendem und -gefährdenden Verhalten zu stellen und zu beantworten. Die Antwort auf die Frage, ob die Person ihre eigenen Maßstäbe als eine verniinftige verfehlt, hängt nicht davon ab, ob sich der selbstverfUgende Charakter einer Entscheidung durch die Selbstvoraahme der entsprechenden Handlung oder durch deren Bewilligung realisiert. Zusammenfassend: Der Maßstab, an dem das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Entscheidungsdefizits zu beurteilen ist, wird vom Entscheidenden in seiner prinzipiellen Qualität als Vernunftperson selbst defmiert. Insofern kann man verkürzt von der Maßgeblichkeit des „wahren" Willens des Entscheidenden sprechen494. Verfehlt der Entscheidende seine eigenen Maßstäbe (ohne sich in der konkreten Entscheidung bewußt und gewollt von ihnen abzukehren, ohne sie also situativ zu modifizieren), so ist zumindest der Entscheidungsvorgang defizitär; die Entscheidung ist auch im Ergebnis defizitär, wenn ein den Maßstäben des Entscheidenden entsprechender Entscheidungsvorgang zu einem anderen Ergebnis gefuhrt hätte.
2.
Die normative Relevanz von Defiziten - kritische Aufnahme vorfindlicher Bemiihungen
Das Vorliegen eines psychischen Sachverhalts, dessen Abweichung von einem Maßstabssachverhalt als Entscheidungsdefizit definiert werden kann, ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, daß einem Defizit in dem Sinne normative Relevanz zukommt, als eine Entscheidung nicht mehr als Ausdruck von Selbstbestirnmungsfreiheit zu akzeptieren ist495.
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Z u m Fall einer durch vorsätzliche Täuschung erschlichenen Einwilligung B G H , StV 2004, 376 f. (dazu Kuhlen, JR. 2004, 227 ff.). R G S t 4 1 , 392, 396; B G H S t 16, 309, 310; Geerds, Einwilligung, S. 178; Hirsch, in: LK, § 226a Rn. 18. Die Kritik von Rönnau, Willensmängel, S. 224 f. an diesem Kriterium, w o n a c h statt nach d e m hypothetischen Willen des Entscheidenden auf die Verantwortung fur den Willensdefekt zu fragen sei, betrifft ein zusätzliches normatives Problem, das von der Frage nach der Abweichung vom wahren Willen zu trennen ist. Richtig ist an dieser Kritik freilich, daß die Feststellung einer Abweichung dieses normative Problem noch nicht lost und allein der Befund, daß ein Defizit vorliegt, noch nicht die Unwirksamkeit einer Einwilligung begriinden kann. Freund, Erfolgsdelikt, S. 198 mit Fn. 18, 204, 270; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 162 ff.; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 150. Eine normative Entscheidung ist es selbstverständlich auch, wenn auf normative Einschränkungen hinsichtlich der Bedeutsamkeit gewisser Defizite gerade verzichtet wird (so Baumann/ Weber/Mitsch, AT, § 17 Rn. I l l , der gegen die Lehre vom rechtsgutsbezogenen Irrtum die Auffassung verteidigt, jeder fur eine Erklärung kausale Irrtum stehe der Wirksamkeit der Einwilligung entgegen).
444 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Die Möglichkeit normativer Einschränkung der Relevanz von Entscheidungsdefiziten bedarf insoweit der Rechtfertigung, als die Person mit diesen Entscheidungen - zumindest im Entscheidungsprozeß, unter Umständen aber auch im Ergebnis - ihr Selbstverständnis gerade verfehlt496. Es ist damit ausgeschlossen, sich etwa bei Orientierungen an einer bestimmten defizitären Bewilligung darauf zu berufen, diese sei Ausdruck konkret ausgeilbter (gleichsam gelungener) Selbstbestimmungsfreiheit497. Deshalb ist es auch richtig, wenn Arzt meint, daß allein das Abstellen auf eine autonome Entscheidung (i.S. von gelungener Selbstbestimmung) dazu fuhren müßte, daß jedes Motiv zu berücksichtigen ware, das der Entscheidende fllr wesentlich halt498. Wenn Roxin dagegen halt, es sei „nicht eine Frage subjektiver Beliebigkeit des Einwilligenden, sondern ein Problem objektiver rechtlicher Bewertung, ob eine von Fehlvorstellungen begleitete Einwilligung noch als Ausdruck einer freien Verfugung des Gestattenden beurteilt wird"499, dann werden die Ebenen gelungener Selbstbestimmung über eigene Güter (die sich nach subjektiven Maßstäben bemißt) und des Rechts, das fur die normative Relevanz von Entscheidungsdefiziten ausschlaggebend ist, vermischt500. Damit wird die Legitimationsbedürftigkeit der rechtlichen Wirksamkeit subjektiv fehlerhafter Entscheidungen vernebelt und dementsprechend nach einer Lösung dieses Problems nicht einmal gesucht. Die Lösung dieser Schwierigkeit fordert folgenden Gedanken: Wird defizitären Entscheidungen die rechtliche Anerkennung nicht versagt, so kann dies seine Berechtigung in einem Recht, das als Ausdruck der Autonomie der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft begriffen werden muß, nur damit legitimiert werden, daß die Irrelevanz des Entscheidungsdeflzits ihrerseits Ausdruck von Vernunft ist501. Ver496
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Amelung, ZStW 109 (1997), 512 hat deshalb insoweit Recht, wenn er meint, daß ein Willensmangel es ausschließt, die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung mit dem Vorliegen eines zustimmenden Willens des Opfers zu begründen. Ebenso zutreffend sieht Kiiper, JZ 1986, 226, daß die „Autonomie" bei jeder irrtumsbedingten Einwilligung beeinträchtigt wird; die normative Relevanz eines solchen Autonomiemangels hänge vom Schutzzweck der jeweiligen Tatbestände ab. Auch wenn die Person dazu in der Lage gewesen ware, eine nicht defizitäre Entscheidung zu treffen (also gleichsam der Fall der „Fahrlässigkeit"), ändert dies nichts daran, daß die konkrete Entscheidung hinter dem zuriickbleibt, was eine von Defiziten freie Entscheidung ausmacht. Arzt, Willensmangel, S. 19 in Fn. 24. Roxin, in: GS fur Noll, S. 281. Ähnlich M.-K. Meyer, Ausschluß von Autonomie, S. 165, 176. Weshalb es sich Roxin gefallen lassen muß, wenn Amelung, ZStW 109 (1997), 506 f.; ders., Irrtum und Täuschung, S. 29 f. (siehe auch S. 63) iiber diese Konzeption schreibt: „Autonomie und Selbstbestimmung werden nicht näher umschrieben. Sie sind fur Roxin nicht mehr als undefinierte Rahmenbegriffe fur kasuistische Billigkeitserwägungen (...)". Entsprechende Kritik an M.-K. Meyer bei Kiiper, JZ 1986, 224 f., 225 f., 229. Es ist nur selbstverständlich, daß hierbei die Interessenlage der Beteiligten Berilcksichtigung findet (grundlegend zur Einwilligung als „interner Interessenkumulation" Mitsch, Rechtfertigung, S. 409 ff). Unzutreffend (weil eine verkürztes Verständnis
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
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antwortung filr defizitäre Fehlentscheidungen wird in diesem Sinne von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft iibemommen; Verantwortungsbereiche werden also nicht (heteronom) zugewiesen, sondern ihre Konturierung ist eine rechtliche Leistung, die als solche vor der Vernunft des Einzelnen bestehen muß502. Es wurde oben bereits gezeigt, daß sowohl vor diesem rechtsphilosophischen Hintergrund (2. Teil, VI. 2.) als auch mit Buck auf dessen verfassungsrechtliche Positivierung und Konkretisierung (3. Teil, IV. 2.) ein weiter Rahmen bleibt, innerhalb dessen eine Rechtsgemeinschaft Defizite bei konkreten Entscheidungen in den Verantwortungsbereich des Entscheidenden stellen kann503. Dieser Bereich geht so weit, wie die Person iiberhaupt in der Lage ist, Verantwortung fur bestimmte selbstbezügliche Entscheidungen zu tragen (woran es insbesondere bei konstitutionellen Defiziten fehlen kann). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn der Entscheidende dazu in der Lage ist, die defizitäre Entscheidung (sei es auch durch entsprechende Vorsorge bevor es zur Entscheidungssituation kommt) zu vermeiden. Aber auch unabhängig davon ist es vernünftigen Personen nicht verwehrt, Verantwortung fur das Risiko defizitärer Entscheidungen innerhalb bestimmter Bereiche auch dort zu ilbernehmen, wo die konkrete Vermeidemacht fehlt. Andererseits begrilndet Vermeidbarkeit nicht auch schon normative Verantwortlichkeit. Es steht in der Kompetenz einer Rechtsgemeinschaft, auch denjenigen von Verantwortung zu entlasten, der dazu in der Lage ware, diese Verantwortung zu tragen, sich also zur Vermeidung defizitärer Entscheidungen entsprechend einzurichten. Ein „Verantwortungsprinzip", das nicht auf die konkrete Qualität einer Entscheidung, sondern auf die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln abhebt, ist nicht etwa verfassungsrechtlich vorgegeben504 - solche Vorgaben wiirden vielmehr gerade die Kompetenzen der im Staat vereinigten Rechtspersonen verkürzen. Die weitere Konkretisierung der Verantwortungsbereiche innerhalb des verfassungsrechtlich eröffneten Spielraums ist freilich nicht (nur) durch Dezision zu leisten, sondern sie verlangt - wiederum mit Blick auf den Status der Personen, die sich selbst ihr Recht geben - nach der Einhaltung bestimmter Prinzipien, zu denen etwa das Willkürverbot und die Konsistenz einer Regelung gehören; das war oben (3. Teil, IV. 2.) fur die Wirksamkeit solcher Entscheidungen dargestellt worden, die dem Entscheidenden strafbar abgenötigt wurden.
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von „Freiheit" zugrundelegend) ist demgegeniiber die Annahme, eine von der Freiheit ausgehende Einwilligungsdogmatik erlaube keine differenzierenden Lösungen (so Mitsch, a.a.O., S. 569, 577, 579). Vgl. auch Carter, Canadian Journal of Philosophy 7 (1977), 133 ff. E s besteht auch die Möglichkeit, die Verantwortlichkeit des Opfers filr seine defizitären Entscheidungen abhängig vom betroffenen Lebensbereich unterschiedlich zu b e stimmen. So ist es diskutabel, im Bereich der Sorge fur das eigene Vermögen sogar gewisse täuschungsbedingte Defizite dem Verantwortungsbereich des Opfers zuzuschlagen (wird damit allerdings eine teleologische Reduktion des § 263 StGB begründet, so berührt diese Konturierung der Verantwortungsbereiche freilich erst die Sanktionsnormenebene). In diesem Sinne Hennings, Teleologische Reduktion, S. 183, 188. So aber Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 1 f. (Konsequenzen aus diesem Verständnis z.B. auf S. 101, 104 ff.).
446 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Mit dem Vorstehenden ist auch deutlich geworden, daß mit der normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten nicht in erster Linie ein strafrechtsdogmatisches Problem505, sondern ein Problem der Primärordnung, an die die Sanktionsordnung lediglich anknüpft, angesprochen ist. Ein Blick auf die vorfindlichen Bemühungen zeigt, daß es die vorgetragenen Konzepte, die sich um die Beurteilung der normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten bemtihen, vielfach an der erforderlichen Differenziertheit fehlen lassen. Die bisherigen Versuche zur Klärung der normativen Relevanz von Defiziten sind einerseits an der Einwilligungsdogmatik, vornehmlich bei der Behandlung von Willensmängeln, entwickelt worden. In den Fallen der Selbstschädigung oder -gefährdung wird hingegen bei vorsätzlichen Verhalten des Außenstehenden vielfach auf die Maßstäbe mittelbarer Täterschaft, d.h. auf ein Verhältnis der Über-/Unterordnung abgestellt und bei nicht-vorsätzlichem Verhalten des Außenstehenden wird der Sorgfaltsmangel als Sitz des Problems lokalisiert. Über diese dogmatischen Verortungen hinweg wird fur die Bestimmung eines die Haftung des Außenstehenden auslösenden Defizits beim Opfer vor allem die Übertragung der fur die Einwilligung entwickelten Maßstäbe (versus der analogen Anwendung der strafrechtlichen Regelungen zu Schuldunfähigkeit und Entschuldigung) diskutiert. Es finden sich also mehrere dogmatische Figuren, bei denen es für eine täterschaftliche Haftung des Außenstehenden auf ein Defizit der Opferentscheidung ankommt. 1st eine defizitäre Entscheidung in unterschiedlichen dogmatischen Zusammenhängen für die Haftung des Außenstehenden bedeutsam und stellt sich damit jeweils die Frage danach, unter welchen Bedingungen eine Entscheidung als defizitär anzusehen ist, so ist doch nicht zu übersehen, daß die defizitäre Opferentscheidung bzw. (in den Fallen der Selbstschädigung und -gefährdung) deren Möglichkeit506 in unterschiedlichen Beziehungen zur Begrilndung der Haftung des Außenstehenden steht. Während bei der Einwilligung das Entscheidungsdefizit nur mittelbar fur die Haftung des Außenstehenden bedeutsam ist, nämlich soweit es einer Einwilligung die Wirksamkeit nimmt und damit die im nicht modifizierten Rechtsverhältnis geltenden Verhaltensnormen ihre Wirksamkeit behalten, kommt das Defizit in den Fallen der bewußten Selbstschädigung und -gefährdung gleichsam unmittelbar als Grund dafur in Betracht, daß das Verhalten des Außenstehenden das Rechtsverhältnis verletzt. Ein sonst erlaubtes Verhalten wird gerade mit Blick auf eine (mögliche) defizitäre Opferentscheidung rechtlich mißbilligt. Das Defizit hat hier fur das Unrecht begriindende, nicht nur eine einem Unrechtsausschluß entgegenstehende Bedeutung. Ob und - wenn ja - welche Unterschiede sich daraus fiir die normativen Relevanzkriterien bei Vorliegen (der Möglichkeit) einer defizitären Entscheidung ergeben, ist in der Diskussion nicht geklärt. Hängt die Rechtlichkeit des Verhaltens davon ab, ob das Opfer sein Rechtsverhältnis zum Außenstehenden durch eine Einwilligung wirksam umgestaltet hat, so 505 506
So aber offenbar Rönnau, Willensmängel, S. 224. „Möglichkeit" hier also nicht im Sinne einer Unsicherheit über das Vorliegen von Defiziten, sondern im Sinne einer Unsicherheit darüber, daß es iiberhaupt zu einer selbstverfiigenden Entscheidung kommt.
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ist die Diskussion um die Grenzen der Wirksamkeit von Einwilligungen bei Entscheidungsdefiziten einschlägig. Das ist unstreitig jedenfalls insoweit, wie der Einwilligende den Eintritt des Verletzungserfolges zumindest billigend in Kauf genommen hat (wie es die h.M. fur das Vorliegen einer Einwilligung voraussetzt). Außerhalb dieses klassischen Bereichs der Einwilligung liegen die unter den Begriffen der „Risikoeinwilligung" oder der „einverständlichen Fremdgefährdung" thematisierten Fälle, in denen das Opfer hinsichtlich des Erfolgseintritts nicht vorsätzlich handelt. Die h.M. kann hier insoweit zu einer von den Fallen der Einwilligung abweichenden Bestimmung der defizitären Entscheidung gelangen, wie das Verhältnis zum Erfolgseintritt als zusätzliche Quelle möglicher Defizite begriffen wird. Diese Auffassung ist hier bereits zurückgewiesen worden: Die Einwilligung erfordert stets nur den Bezug auf die Gefahrschaffung. Wird durch die Einwilligung eine Handlungskompetenz des Außenstehenden erweitert, dann kommt es allein auf Mangel in der Entscheidung fur die Bewilligung der Handlung an. Die Einstellung zum Erfolgseintritt begriindet als solche kein Defizit, sondern sie ist nur Ausdruck einer bestimmten individuellen Haltung. Insoweit kann also die Darstellung im Folgenden auf die Diskussion um die Einwilligung (im so verstandenen Sinn) begrenzt werden - die Fälle der einverständlichen Fremdgefahrdung kennzeichnen kein Sonderproblem. Hängt die Rechtlichkeit des Verhaltens dagegen davon ab, ob eine mögliche Indienststellung dieses Verhaltens im Rahmen einer Selbstschädigung oder -gefährdung auf einer defizitären Entscheidung beruhen würde, so wird die Frage nach einer Haftung des Außenstehenden mit Blick auf die Gefahr einer defizitären Entscheidung in solchen dogmatischen Kategorien diskutiert, in denen die Konturierung (täterschaftlicher) Tatbestandsverwirklichung stattfindet. Es sind dies insbesondere die Kategorien der Täterlehre und der Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten bzw. der Zurechnungslehre. Die Täterlehre wird - vor allem in Gestalt der mittelbaren Täterschaft507 - dort als Sitz des Problems angesehen, wo der Außenstehende vorsätzlich hinsichtlich der Selbstschädigung bzw. hinsichtlich der Erfolgsrealisierung bei einer Selbstgefahrdung handelt. Handelt der Außenstehende dagegen nicht vorsätzlich, so kommt nur eine Haftung als Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht. Damit scheidet eine (unmittelbare) Anwendung der Grundsätze der mittelbaren Täterschaft aus. Diskutiert wird hier die Frage, ob den Außenstehenden mit Blick auf eine mögliche defizitäre Entscheidung ein Fahrlässigkeitsvorwurf trifft. Es kommt also darauf an, ob sein Verhalten tatbestandsmäßig im Sinne des jeweiligen Fahrlässsigkeitsdelikts ist. Damit ist vorausgesetzt, daß es objektiv sorgfaltspflichtwidrig ist bzw. gleichbedeutend - eine rechtlich mißbilligte Gefahr schafft. Der Streit um die richtige Antwort auf diese Frage kreist wesentlich darum, ob die fur die Einwilligung Eingehend zur Diskussion um die Frage, ob die irrtumsbedingte Selbstverletzung mittelbare oder unmittelbare Täterschaft des Hintermannes zu begründen geeignet ist, MK., Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 8 ff. (die selbst - S. 30 - für mittelbare Täterschaft votiert). Mittlerweile hat - auch in der Rechtsprechung - die Auffassung deutlich an Boden gewonnen, wonach solche Fälle zumindest eine der mittelbaren Täterschaft „verwandte Struktur" aufweisen; siehe BGHSt 43, 177, 180.
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entwickelten Kriterien übernommen werden können oder ob andere Kriterien fur die normative Relevanz von Defiziten anzulegen sind, wobei hier insbesondere an eine Übertragung der positivierten strafrechtlichen Regelungen zur Schuldunfähigkeit und zu den Entschuldigungsgriinden gedacht wird. Der Blick auf die vorfindlichen Bemiihungen um eine Konturierung der normativen Relevanz von Defiziten muß also danach differenzieren, ob die Entscheidung auf eine Erweiterung der rechtlichen Kompetenzen des Außenstehenden zielt (Einwilligung, dazu a) oder ob die mögliche Entscheidung mit Blick auf ihren defizitären Charakter die rechtliche Freiheit des Außenstehenden einschränkt (Selbstschädigung bzw. -gefährdung, dazu b).
a) Die normative Relevanz von Defiziten bei der Einwilligung Die Diskussion um die normative Relevanz von Defiziten bei der Einwilligung läßt sich grob in vier Phasen unterteilen508. Nach einer zivilistischen Sicht der Einwilligung als einer Willenserklärung folgt eine Emanzipation strafrechtlicher Begriffsbildung, die inhaltlich auf eine pauschale Anerkennung der Relevanz von Willensmängeln hinausläuft (dazu aa). In der dritten Phase folgen Bemiihungen um normative Begrenzungen der Relevanz von Willensmängeln (dazu bb). Schließlich wird neuerdings wieder fur eine weitgehende normative Relevanz von Willensmängeln plädiert; nun allerdings mit erheblichem Begründungsaufwand. Diese Position wird in Gestalt der Lehre Amelungs thematisiert (cc).
aa) Die umfassende Relevanz von Defiziten Nachdem die zivilistische Betrachtung, derzufolge die Einwilligung als Willenserklärung mit der Folge der Anwendbarkeit der Regelungen der Geschäftsfähigkeit und der §§ 119 ff. BGB anzusehen sei509, iiberwunden war510, setzte sich in der nun auf die Bildung eigener Maßstäbe angewiesenen strafrechtlichen Wissenschaft511 zunächst ohne grundsätzliche Diskussion512 die auch im jüngeren Schrifttum noch stark vertretene Auffassung durch, daß Entscheidungsdefizite grundsätz-
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Vgl. Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 10 ff., der freilich nur drei Phasen unterscheidet, während hier die Position Amelungs als eine neue - vierte - Phase in der Diskussion aufgenommen ist. Siehe R G S t 25, 375, 3 8 1 ; Zitelmann, A c P 99 (1906), S. 4 8 ff. D i e Kritik setzt freilich an unterschiedlichen Punkten an; siehe RGSt 4 1 , 392, 3 9 5 ; Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 16 f; Blei, AT, S. 135; Kühne, J Z 1979, 242 f.; Roxin, A T I, § 13 Rn. 68. Die Rechtsprechung hat kein geschlossenes differenzierendes Konzept vorgelegt; siehe dazu Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 11 mit Nachw.; Lackner/Kühl, § 228 Rn. 8; Rönnau, Willensmängel, S. 2 7 1 . Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 11.
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lich die Unwirksamkeit der Einwilligung nach sich ziehen513. Lediglich fur Motivirrtümer werden Ausnahmen diskutiert514. Aber eine solche unvermittelte Relevanz psychischer Defizite läßt sich in Wahrheit bei gleichzeitiger Anerkennung des Instituts der Einwilligung schon deshalb nicht durchhalten, weil bestimmte Defizite - wie gezeigt - geradezu die normale Entscheidungssitutation kennzeichnen515. Normative Einschränkungen der Relevanz solcher Defizite waren damit der Sache nach immer vorausgesetzt, wurden aber nicht systematisch entwickelt516. Aber auch jenseits der Schwierigkeiten im Umgang mit ubiquitären Entscheidungsdefiziten fehlt dieser Lösung zumindest eine angemessene Begriindung ihrer Richtigkeit, weil sie die Frage, inwieweit Defizite in den Verantwortungsbereich des Entscheidenden fallen können, nicht einmal thematisiert517. Ob etwa eine Fehlvorstellung, die der Erlärungsempfänger nicht hervorgerufen hat, in den Risikobereich des Einwilligenden fällt oder ob es etwa Sache des Entscheidenden ist, einer geringfugigen Drohung standzuhalten, kann so nicht zum Problem werden. Der 513
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Siehe Baumann/Weber/Mtec/i, AT, § 17 Rn. 109; eingehend ders., Rechtfertigung, S. 495 ff. (Relativierungen S. 548 ff. und S. 554 ff.); Blei, AT, S. 135 (Begrenzung auf „wesentliche" Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung); Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 119, 121; August Köhler, AT, S. 416; Michael Köhler, AT, S. 254; Stratenwerth, AT I, § 9 Rn. 26; Welzel, Strafrecht, 11. Aufl., S. 95. Blei, AT, S. 136; Hirsch, in: LK, Vor § 32 Rn. 121. Dabei greift es zu kurz, die normative Relevanz psychischer Unfreiheit nur dort zu verneinen, w o das Opfer unter dem Druck der Situation mit der Einwilligung eine optimale Befriedigung seiner Interessen erreicht (Mitsch, Rechtfertigung, S. 555 f.). Auch wenn die ubiquitäre Beschränkung d e s Tatsachenstoffes eine im Ergebnis optimale Entscheidung d e s Einwilligenden vereitelt, hat er damit keine in einem normativen Sinn defizitäre Entscheidung getroffen. Unzutreffend ist es allerdings, wenn Rönnau, Willensmängel, S. 324 f. die normative Irrelevanz gewisser Defizite unvermittelt aus deren Ubiquität erschließt, also etwa aus d e m Umstand, daß praktisch jede Entscheidung auf einer fehlerhaften Informationsbasis beruhe, den Schluß ziehen will, daß die auf einem eigenverursachten Irrtum beruhende Einwilligung als (im Rechtssinne) autonom anzusehen sei. Vgl. Rönnau, Willensmängel, S. 207. Mitsch, Rechtfertigung, S. 548 f. (auch S. 585, 607 f.) erklärt dies damit, daß die Einwilligung allein den Interessen des Einwilligenden, nicht aber den Interessen des Einwilligungsempfängers diene. Eine Entlastung des Einwilligungsempfängers bei Orientierung an einer defizitären Einwilligungserklärung k o m m t fur ihn deshalb nur unter dem Gesichtspunkt der „Verhinderung unerwiinschter Ausstrahlungseffekte auf Einwilligungsfälle ohne Willensdefekt", also letztlich im Interesse des Instituts der Einwilligung, in Betracht (S. 549). Aber wenn der wirksamen Einwilligung eine das Rechtsverhältnis von Opfer und Einwilligungsempfänger gestaltende Wirkung zukommt, sie also interpersonal wirkt, dann besteht auf Seiten des Einwilligungsempfängers zumindest ein rechtlich geschütztes Interesse an Orientierungssicherheit. Das Rechtliche seiner Orientierung an der erklärten Einwilligung kann nicht nur als Reflex aus dem Interesse am Institut der Einwilligung abgeleitet werden, sondern es ist ein Rechthandeln deshalb, weil der Einwilligende als Rechtsperson Verantwortung fur die Gestaltung des Verhältnisses übernehmen kann (auch w o die konkrete Entscheidung nicht frei von Defiziten ist).
450 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens einseitige Blick auf den defizitären Charakter der Entscheidung berücksichtigt nicht die Zweiseitigkeit des Verhältnisses, innerhalb dessen die Einwilligung auf eine Modifiziemng des rechtlich Erlaubten zielt.
bb) Normative Einschränkungen der Relevanz von Defiziten Die Frage nach normativen Einschränkungen der Relevanz von Defiziten mit Blick auf den Verantwortungsbereich des Entscheidenden in seinem Verhältnis zum Erklärungsempfänger stellt sich naturgemäß weniger bei konstitutionellen Defiziten (fur die die Person regelmäßig nicht verantwortlich ist) als vielmehr bei den sogenannten Willensmängeln5™. Hier nun sind es wiederum vor allem „ eigenerzeugte " - d.h. insbesondere nicht durch eine Täuschung des Erklärungsempfängers hervorgerufene - Irrtümer, bei denen es nahe liegt, mit Blick auf das Interesse der Erklärungsempfängers am Schutz seines Vertrauens in das Erklärte und mit Blick auf die grundsätzlich beim Entscheidenden liegende Kompetenz zur Vermeidung solcher Fehlvorstellungen die Relevanz des Entscheidungsdefizits einzuschränken. Damit wird die einseitige Berilcksichtigung der konkret fehlgeschlagenen Selbstbestimmung aufgegeben zugunsten der Berticksichtigung des interpersonalen Charakters der Einwilligung als einer Umgestaltung eines konkreten Rechtsverhältnisses. So beriicksichtigt Arzt in seiner wegweisenden Untersuchung zu den Willensmängeln bei der Einwilligung deren interpersonale Dimension und setzt die Selbstbestimmung des Entscheidenden mit „der Verantwortung gegenliber demjenigen, der eine Willenserklärung in bestimmter Weise verstehen mußte" ins Verhältnis und schließt daraus für die Fälle des Erklärungsirrtums, daß es das Verantwortungsprinzip verbiete, das Risiko dem Einwilligungsempfänger aufzubürden519. Kühne hat den Gedanken, daß bestimmte Irrtümer über den Inhalt des Erklärten, über die Erklärung selbst oder iiber deren entscheidungsrelevante Grundlagen, in den Risikobereich des Einwilligenden fallen können, weiter entfaltet520. Offensichtlich liegen Gegenkorrekturen etwa dort nahe, wo das Irrtumsrisiko dem Entscheidenden partiell abgenommen wird, weil den Einwilligungsempfänger eine besondere rechtliche Pflichten trifft, gewisse Fehlvorstellungen zu beseitigen, wie dies beim aufklärungspflichtigen Arzt der Fall ist521. Auch kann der Gedanke des Vertrauensschutzes an Gewicht verlieren, insbesondere dann nämlich, wenn der Einwilligungsempfänger den Irrtum durchschaut. Hier wird die Berufung auf die Einwilligung verschiedentlich für rechtsmißbräuchlich gehalten522. 518 519
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Überblick über die Diskussion bei Rönnau, Willensmängel, S. 273 ff. Arzt, Willensmängel, S. 48 ff., insb. S. 50 mit Fn. 79, siehe auch S. 29 f. In diesem Sinne auch Roxin, A T I, § 13 Rn. 79. Dagegen M.-K. Meyer, Ausschluß von Autonomie, S. 168 ff. Kühne, JZ 1979, 243 ff. Siehe Roxin, A T I, § 13 Rn. 80; Tag, Der Körperverletzungstatbestand, S. 382; eingehend zur Aufklärungspflicht dies., a.a.O., S. 332 ff. Kühne, J Z 1979, 244 f.; Roxin, A T I, § 13 Rn. 79. Kritisch gegen den Rechtsmißbrauchsgedanken Mitsch, Rechtfertigung, S. 497 ff.
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Aber nicht nur bei eigenerzeugten Irrtilmern, sondern auch bei täuschungsbedingten Irrtiimern hat der Gedanke Anhänger gefunden, daß der Einwilligende bei bestimmten täuschungsbedingten Fehlvorstellungen selbst das Risiko seiner Rechtsgutspreisgabe trägt523. Nach einer von Arzt eingefllhrten und vielfach ilbernommenen Unterscheidung sollen nur sogenannte „rechtsgutsbezogene" Fehlvorstellungen die Wirksamkeit der Einwilligung beeinträchtigen524. Handelt der Entscheidende bezogen auf die Rechtsgutspreisgabe als solche nicht defizitär (weiß er also, was er preisgibt525), so könnten insbesondere Fehlvorstellungen iiber die Bereitschafit des Erklärungsempfangers, vereinbarte Gegenleistungen zu erbringen, die Wirksamkeit der Einwilligung nicht tangieren. Das Interesse am Erhalt der Gegenleistung sei entweder durch andere Vorschriften geschützt (insbesondere § 263 StGB) oder nicht schutzwürdig526. Das Opfer ist also - wie Arzt erkennt - nicht immer durch § 263 StGB geschiitzt, wenn es die Rechtsgutspreisgabe urn einer bestimmten Gegenleistung willen bewilligt und vom Erklärungsempfänger über dessen Bereitschaft zur Erbringung dieser Leistung - und damit: nicht rechtsgutsbezogen - getäuscht worden ist. Der lediglich auf das Vermögen bezogene Schutz des § 263 StGB versagt nämlich immer dann, wenn das zugesicherte Verhalten nicht in der Erbringung einer wirtschaftlichen Gegenleistung fur die Erteilung der Einwilligung besteht. Es wird aber auch hier in Wahrheit vielfach nicht an der Schutzwtirdigkeit des Einwilligenden fehlen, wenn er einen altruistischen Zweck verfolgt und der Erklärungsempfänger ihm die Bereitschaft, die Einwilligung in dessen Dienst zu stellen, vorspiegelt. So liegt es z.B. in dem Fall, in dem dem Opfer vorgespiegelt wird, daß ein bestimmter körperlicher Eingriff zu Forschungszwecken diene, während es dem Täter in Wahrheit nur um die Schädigung des Opfers geht. In solchen Fallen halt etwa Roxin auch den nicht-rechtsgutsbezogenen Irrtum für beachtlich527. 523 524
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Dagegen Mitsch, Rechtfertigung, S. 537 ff., 549 f. Arzt, Willensmängel, S. 19 ff., 29 f. Zustimmend z.B. Dach, Einwilligung, S. 89 ff.; Gropp, AT, § 6 Rn. 4 3 ; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 4 6 m.w.N.; M.-K. Meyer, Ausschluß von Autonomie, S. 166 ff, zusammenfassend S. 182; im Ausgangspunkt auch Tag, Der Körperverletzungstatbestand, S. 368 ff; differenzierend Bloy, ZStW 96 (1984), 715 ff. Eingehende Kritik bei Mitsch, Rechtfertigung, S. 511 ff. Arzt, Willensmängel, S. 22. Arzt, Willensmängel, S. 17 ff; zur Kritik etwa Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff S. 47 ff, 333 ff; Rönnau, Willensmängel, S. 282 ff. Roxin, in: GS fur Noll, S. 286; ders., AT I, § 13 Rn. 74; siehe auch Kühne, JZ 1979, 246, der die Orientierung an einer solchen Einwilligung fur rechtsmißbräuchlich halt. Roxin fllhrt diese fjberlegungen freilich nicht als Begrenzungen der normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten ein, sondern er geht - vor dem Hintergrund eines Rechtsgutsverständnisses, das die Güter gerade in ihrer dynamischen Dimension erfassen will {Roxin, in: GS fur Noll, S. 279; vgl. auch Rönnau, Willensmängel, S. 282 ff.) — davon aus, daß eine wirksame Einwilligung verlangt, daß der Einwilligende die konkrete Entscheidung seiner Selbstbestimmung bzw. Autonomie gemäß trifft. Soil diese Sichtweise nicht zu einer umfassenden Relevanz von Willensmängeln zurückführen, muß sie freilich angeben, welche Zweckbindungen von Einwilligungsentscheidungen
452 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Schließlich werden auch fur durch Drohung oder Zwang erzeugte Willensmängel normative Einschränkungen von deren Relevanz diskutiert. Das gilt einmal fur solchen Zwang und solche Drohungen, die zur rechtlich geschiltzten Freiheit des Außenstehenden gehören. So liegt es etwa, wenn in einem von Roxin gebildeten Beispiel eine Frau die Annahme eines Heiratsantrags davon abhängig macht, daß ihr von dem Antragenden die Zerstörung einer in dessen Eigentum stehenden Sache bewilligt wird528. Freilich findet die Irrelevanz solcher Drohungen ihren Grund nicht erst darin, daß das Verhalten der Frau nicht nach § 240 StGB faßbar ist529, sondern schon darin, daß es nach der Primärordnung zur Handlungsfreiheit gehört, die zustimmende Antwort auf einen Heiratsantrag mit beliebigen Bedingungen zu
als Entfaltungsfreiheiten in den jeweiligen Rechtsgütern tatbestandlich geschützt werden {Roxin, in: GS fur Noll, S. 281). Das Kriterium der Selbstbestimmung bzw. Autonomie kann offenbar eine Abgrenzung zwischen relevanten und irrelevanten Irrtiimern nur tragen, wenn es seinen Maßstab nicht von der entscheidenden Person erhält. Denn wiirde die Person selbst die fur sie maßgeblichen Entscheidungskriterien vorgeben, so ware jede Fehlvorstellung, auf der die Einwilligungsentscheidung beruht, nicht mehr Ausdruck freier Verfügung. Roxins Verständnis von Selbstbestimmung setzt folglich eine „normative Durchformung des psychischen Befundes voraus" {Roxin, in: GS fur Noll, S. 281). Die Aufgabe eines Rechtsbegriffs der Einwilligung liege dann „darin, die Täuschungen, die eine selbstbestimmte Entscheidung des Rechtsgutsträgers ausschließen, von denen zu trennen, die nach rechtlichen Maßstäben eine freie Verfugung des Einwilligenden bestehen lassen" {Roxin, in: GS furNoll, S. 281; ders., AT I, § 13 Rn. 70). So wird als Begründung fur die zitierte Auffassung, wonach der Irrtum bzgl. eines altruistischen Zwecks beachtlich sein soil, angefiihrt, das Geschehen bringe nicht „die Handlungsfreiheit des Zustimmenden zum Ausdruck"; es zeige „vielmehr einen durch Täuschung raffmiert manipulierten Willen". Die Zweckerreichung sei hier endgültig ausgeschlossen und die altruistische Tat sei nur noch eine „sinnlose Schädigung" {Roxin, in: GS fur Noll, S. 286; ders., AT I, § 13 Rn. 74). - Aber der Maßstab der in der je konkreten Entscheidung realisierten oder nicht realisierten „Selbstbestimmung" ist mit dieser Aufgabe offensichtlich überfrachtet. Selbstbestimmung ist in der von Roxin geforderten normativen Durchformung kein Begriff mehr, der etwas mit dem „Selbst" der Person (mit deren Maßstäben) zu tun hat, sondern ihre Verwirklichung hängt davon ab, ob eine Entscheidung aus den unterschiedlichsten Erwägungen als selbstbestimmt definiert wird. So kommt es, daß Roxin von einer selbstbestimmten Entscheidung auch dort spricht, wo die Person auf einer manipulierten Entscheidungsbasis einer Beeinträchtigung zustimmt, mit der sie sonst niemals einverstanden gewesen ware. Die Kritik von Amelung ist demnach berechtigt, wonach Autonomie und Selbstbestimmung „fur Roxin nicht mehr als undefinierte Rahmenbegriffe fur kasuistische Billigkeitserwägungen" seien {Amelung, ZStW 109 [1997], 506 f., ders., Irrtum und Täuschung, S. 29 f, 63; ebenso Rönnau, Willensmängel, S. 313 ff). Die materialen Erwägungen mögen berechtigt sein - aus dem Gedanken einer in der konkreten Entscheidung zum Ausdruck (oder nicht zum Ausdruck) kommenden Selbstbestimmung lassen sie sich nicht entwickeln. 528 529
Roxin, ATI, § 13 Rn. 82. So aber die Argumentation von Roxin, A T I, § 13 Rn. 82.
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verknüpfen. Daß das Verhalten dann auch nicht strafbar ist, ist lediglich eine notwendige Folge des Bestehens dieser rechtlichen Freiheit. Die fehlende sfrq/rechtliche Mißbilligung ist allerdings als Argument daftir geltend gemacht worden, daß der Gesetzgeber seine Entscheidung fur die Straffreiheit gewisser Drohungen konterkarieren wilrde, wenn diese zur Unwirksamkeit der Einwilligung und damit zur Strafbarkeit des an dieser orientierten Täterverhaltens fuhren würde530. Dieser Begründungszusammenhang ist aber deutlich schwächer als der von der Rechtmäßigkeit der Einflußnahme auf die Wirksamkeit der Entscheidung. Demi wenn auch das Abnötigen einer Erklärung straffrei sein mag, so spricht doch die davon unberiihrte Rechtswidrigkeit nach der Primärordnung dagegen, daß sich der Erklärungsempfänger nun auch noch bei seiner Orientierung an dieser Erklärung auf Straffreiheit verlassen können muß. Der Eingriff in die Giiter des Opfers ist eine zusätzliche Rechtsverletzung, deren Strafbarkeit nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil der Gesetzgeber beim bloßen Nötigungsakt die Schwelle der Strafbarkeit höher gelegt hat. Allerdings ist einzuräumen, daß bei § 240 StGB eine Abschichtung von nach der Primärordnung verbotenen Drohungen gegenilber solchen, die zudem das Unrecht von § 240 StGB verwirklichen, praktisch keine große Rolle spielt; rechtswidrige Drohungen sind regelmäßig auch strafrechtswidrig. Es ist also vor allem eine methodische Klarstellung, daß der zwingende Schluß nicht von der fehlenden Strafrechtswidrigkeit, sondern von der fehlenden Rechtswidrigkeit zur Irrelevanz des drohungsbedingten Willlensmangels ftihrt. Entsprechendes gilt fur die durch Zwang bedingte Einwilligung: 1st dieser Zwang rechtlich erlaubt, handelt es sich etwa um rechtmäßigen Zwang, der durch die Einsperrung gegenüber einem Strafgefangenen ausgeübt wird, dann kann dieser Zwang, soweit er sich auf rechtmäßig mit der Freiheitsentziehung verfolgte Ziele bezieht, nicht zur Unwirksamkeit von Entscheidungen ftihren, die der Gefangene gerade mit Rücksicht auf diese Ziele trifft531. Sind Drohung oder Zwang freilich (sogar) strafrechtswidrig und stellen sie damit eine besonders herausgehobene Beeinträchtigung der Willensfreiheit dar, so ist dies für die h.M. Grund genug, eine auf dieser Grundlage erfolgende Einwilligung für unwirksam zu erklären. 1st nämlich eine bestimmte Einflußnahme gerade mit Blick auf die Freiheit des Willens strafrechtlich mißbilligt, dann läßt sich daraus schließen, daß eine solche Einflußnahme auch einer Bindung an die getroffene Entscheidung entgegensteht532. Vereinzelt wird die Verantwortung des Opfers fur eine infolge Drohung oder Zwang abgegebene Einwilligung allerdings sogar auf die Fälle strafbar abgenötigter Erklärungen erstreckt und deren Unwirksamkeit erst dann angenommen, wenn 530 531 532
Rudolphi, ZStW 86 (1974), 85. Siehe eingehend Amelung, ZStW 95 (1983), 13 ff. In diesem Sinne etwa Roxin, AT I, § 13 Rn. 8 1 ; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem SS 32 ff. Rn. 48 m.w.N.
454 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens sich das Opfer in einer „unausweichliche(n) Zwangssituation entsprechend § 34 StGB" befmdet533 oder sogar in einer §35 StGB entsprechenden, die Verantwortung ausschließenden Zwangslage handelt534. Die erstgenannte Auffassung zielt vor allem darauf ab, solche Entscheidungen in den Verantwortungsbereich des Opfers zu stellen, bei denen das vom Täter angedrohte Verhalten keinen höheren Schaden zur Folge hat als das bewilligte, wenn also etwa der Täter mit der Zerstörung einer dem Opfer gehörenden Sache fur den Fall droht, daß das Opfer nicht in die Zerstörung einer anderen, gleichwertigen Sache einwilligt535. Solche Drohungen können dazu geeignet sein, das Opfer im Sinne des Täterverlangens zu motivieren, kommen also als empfindliches Übel im Sinne von § 240 StGB in Betracht536. M.-K. Meyer sieht hier dennoch „die Autonomie des Rechtsgutsträgers nicht berührt", derm die Drohung gehe „gewissermaßen ins Leere. Ein Ausweichen läßt sich leicht vorstellen; ein Nachgeben muß als unsinnig bezeichnet werden; aber das Opfer kann letztlich das tun, was es möchte"537. Kiiper hat dagegen schon zutreffend darauf hingewiesen, daß die Autonomie des Entscheidenden selbstverständlich in solchen Fallen deshalb angetastet ist, weil er Uberhaupt vor die Wahl zwischen zwei Übel gestellt wird53S. Entscheidet sich das Opfer für eine Einwilligung, dann mag diese „unsinnig" sein, aber sie bleibt doch abgenötigt und ist deshalb kein Ausdruck von Autonomie. Hat die von M.-K. Meyer vorgeschlagene Erweiterung der Wirksamkeit drohungsbedingter Entscheidungen folglich nichts damit zu tun, daß solche Entscheidungen Ausdruck der Selbstbestimmung der Person wären, so ist damit freilich noch nicht die Diskussion um die Frage abgeschnitten, ob es berechtigt sein könnte, defizitäre Entscheidungen dieser Art im Verantwortungsbereich des Einwilligenden anzusiedeln - womit sie aber auch nicht als strafbare Nötigung faßbar wären. Die zweitgenannte Auffassung, derzufolge sich die Verantwortlichkeit des Entscheidenden nach den Maßstäben des § 35 StGB bestimmen solle, beruft sich auf die in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Wertung des Gesetzgebers fur den Ausschluß der Verantwortlichkeit in Fallen der Nötigung539. Gegen diese Auffassung liegt freilich der Einwand nahe, daß die Grenzen täterschaftlicher Verantwortlichkeit vom Gesetzgeber mit Rücksicht auf den Schutz von Opfern in ganz anderer Weise gezogen wurden als bei der Verantwortlichkeit fur eine gegen sich selbst gerichtete Entscheidung. Bei der Beeinträchtigung Dritter verlangt das Recht größeren Widerstand des Genötigten als bei der Bewilligung von Beeinträchtigung eigener Güter540. Diese Überlegungen können die Diskussion um die normativen Grenzen der Relevanz von Entscheidungsdefiziten offenbar nur anreißen. Sie verdeutlichen 533 534 535 536 537 538 539 540
So M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 161. So noch RGSt 70, 107, 108 f.; erwogen von Rudolphi, M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 161 f. Vgl. Tröndle/Fischer, § 240 Rn. 32. M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 161 f. KüperJZ 1986,225. Rudolphi, ZStW86(1974), 85. Siehe Roxin, A T I, § 13 Rn. 83 m.w.N.
ZStW 86 (1974), 85.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfügungen wegen Entscheidungsdefiziten
455
aber - bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertung - bereits die Vielfalt der Gesichtspunkte, die in den Blick kommen, wenn die Einwilligung nicht einseitig als (gelungene) Verwirklichung des wahren Willens des Entscheidenden begriffen wird, sondern ihr interpersonaler Charakter in den Blick genommen wird. In der Abkehr von der Berücksichtigung dieser Bipolarität unterscheidet sich der Ansatz von Amelung grundsätzlich von diesen Bemühungen:
cc) Die normativ begriindete umfassende Relevanz von Defiziten (Amelung) Amelung541 setzt mit seinen Überlegungen zur Relevanz von Willensmängeln bei der Einwilligung bei der Normart an, auf die sich die Einwilligung beziehe542. Dabei handle es sich um „regulative" Normen, das seien solche, die vorhandene Giiter schiltzen. Solche Normen würden durch die Einwilligung gegenilber dem Erklärungsempfänger außer Kraft gesetzt. Damit ist nicht etwa eine Neugestaltung des rechtlichen Verhältnisses gemeint, die flir den Erklärungsempfänger einen Vertrauenstatbestand schafft (das sei vielmehr gerade ein Unterschied zu Willenserklärungen). Die Einwilligung sei vielmehr „nur ein rechtlich anerkanntes Informationsmittel, mit dem der Einwilligende seinen Partner über seine gegenwärtige Einstellung zu seinem Gut in Kenntnis setzt"; sie liefere demnach fur den Erklärungsempfänger „eine bloße Information"543. Damit ist die Basis fur die Bestimmung der Kriterien, nach denen sich die normative Relevanz von Willensmängel bestimme, auch schon gelegt: Nicht das Vertrauen in die Wirksamkeit der Einwilligung sei zu schiitzen, sondern es gehe „um den Ausgleich zwischen dem Interesse des Erklärenden am Bestand seiner Giiter und dem Interesse des Erklärungsempfängers daran, daß er fur eine Giiterverletzung, die er auf eine mangelhafte Einwilligung stiitzt, nicht verantwortlich gemacht wird"544. Dieser Ausschluß der Verantwortlichkeit müsse aber nicht durch die Unwirksamkeit der Einwilligung erreicht werden - der Bestand der Giiter kann damit umfassend geschützt bleiben -, sondern sie sei ein Problem der (subjektiven) Zurechnung545. 1st die Einwilligung unwirksam, so fuhre dies zwar zur Rechtswidrigkeit, aber nicht (notwendig) zur Strafbarkeit des Außenstehenden546. Könnten damit Belange des Einwilligungsempfängers fur die Frage der Wirksamkeit der Einwilligung ausgeblendet werden, so richte sich deren Wirksamkeit ganz nach der ratio der Einwilligung als Ausübung von Handlungsfreiheit iiberhaupt547. Die Einwilligung sei Ausdruck von Autonomie, d.h. der Orientierung an
541 542 543 544 545 546 547
Zustimmend zu Amelung Mitsch, JZ 1999, 513. Siehe zum Folgenden Amelung, ZStW 109 (1997), 494 ff., 516; ders., Irrtum und Täuschung, S. 14 ff. Amelung, ZStW 109 (1997), 495 f.; ders., Irrtum und Täuschung, S. 16, 42. Amelung, ZStW 109 (1997), 496; ders., Irrtum und Täuschung, S. 16 f. Amelung, ZStW 109 (1997), 496, 517; ders., Irrtum und Täuschung, S. 34, 36 ff., 4 3 . Amelung, ZStW 109 (1997), 510; ders., Irrtum und Täuschung, S. 34. Amelung, ZStW 109 (1997), 514 f.
456 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens den eigenen Wertmaßstäben des Entscheidenden548. Bei der Behandlung der Wirksamkeitsfrage könne nun „ohne weiteres in Rechnung gestellt werden, daß grundsätzlich jede Bindung des Einwilligenden an eine mangelbehaftete Einwilligung dessen Interessen beeinträchtigt"549. Wirksam sei demnach „eine Einwilligung, die der Einwilligende in Übereinstimmung mit seinem Wertsystem abgibt; unwirksam eine solche, die im Widerspruch dazu steht"550. Normative Einschränkungen der Relevanz von Defiziten, aufgrund deren der Person in der konkreten Entscheidung die Realisierung ihrer Selbstbestimmungsfreiheit mißlingt, werden damit zuriickgewiesen. Amelung gelangt so - auf neuer rechtstheoretischer Grundlage - wieder zu den Ergebnissen der älteren Auffassung (oben aa)). Er kann diese Auffassung aber deshalb an Konsequenz überbieten - insbesondere auch in der Annahme, daß auch Motivirrtiimer zur Unwirksamkeit der Einwilligung fuhren551 -, weil er aus der Unwirksamkeit der Einwilligung nicht unmittelbar auf die Haftung des Einwilligungsempfangers schließt, sondern durch die Unwirksamkeit nur die Frage nach der (subjektiven) Zurechnung der Verletzungshandlung eröffhet sieht, die Haftungsfrage also durchaus noch offen halt552. Überzeugen kann aber schon die Annahme nicht, bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Einwilligung sei ausschließlich auf die Frage abzustellen, ob sich in der konkreten Entscheidung die „Autonomie" des Einwilligenden verwirklicht. Die Behauptung, es seien keine Interessen des Einwilligungsempfängers an der Wirksamkeit der Einwilligung zu beriicksichtigen, halt schon intrasystematischer Kritik nicht stand. Amelung selbst weist auf ein naheliegendes Gegeninteresse des Einwilligungsempfangers hin: 1st nämlich die Einwilligung bei jedem Autonomiedefizit unwirksam, so steht dem Einwilligenden auch dann ein Notwehrrecht gegen die Vornahme des von der Einwilligungserklärung gedeckten Eingriffs zu, wenn der Einwilligungsempfanger in das Vorliegen einer von Willensmängeln 548
549 550 551 552
Amelung, ZStW 109 (1997), 515; ders., Irrtum und Täuschung, S. 4 1 . Amelung (a.&.O.) meint freilich, dieses Verständnis von Autonomie erfordere als Zwischenschritt eine durch Definition der Einwilligung als „ein Instrument der Interessenwahrnehmung Rechtsgutspreisgabe" und damit ein utilitaristisches Verständnis von Autonomie, denn in der idealistischen Denktradition Deutschlands erscheinen Freiheit und Autonomie „leicht als zweckfreie Selbstwerte". Aber ein Verständnis von Autonomie als das Vermögen zur Orientierung an einem selbstgesetzten Wertsystem (wie es Amelung zugrundelegt) steht gerade in idealistischer Tradition und bedarf des zusätzlichen utilitaristischen Schrittes nicht, der letztlich auch nicht weiterfuhrt, denn ein aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitetes Recht zur Einwilligung setzt gerade nicht voraus, daß der Einwilligende zusätzliche Zwecke verfolgt. Amelung (a.a.O.) sieht selbst, daß es auf die Verfolgung solcher Zwecke jedenfalls in dem Fall, in dem eine Einwilligung aus bloßer Gleichgültigkeit bezüglich des Rechtsgutsobjekts erteilt wird, nicht ankommen kann. Wenn aber auch dieser Fall von der rechtlich geschiitzten Einwilligungsfreiheit der Person umfaßt ist, dann steht damit fest, daß die Verfolgung zusätzlicher Interessen als Definitionsbestandteil der Einwilligung ausscheidet. Amelung, ZStW 109 (1997), 513 f.; ders., Irrtum und Täuschung, S. 39. Amelung, ZStW 109 (1997), 515; ders., Irrtum und Täuschung, S. 42. Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 5 1 . Amelung, ZStW 109 (1997), 518; ders., Irrtum und Täuschung, S. 44.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfügungen wegen Entscheidungsdefiziten
457
freie Einwilligung vertraut hat und auch vertrauen durfte553. Doch halt Amelung die daraus dem Einwilligungsempfanger erwachsenden Risiken fur die Frage der Wirksamkeit der Einwilligung nicht fur beachtlich, denn das Notwehrrecht stelle ein differenziertes Instrumentarium erlaubter Reaktionen auf Angriffe zur VerfUgung, das es erlaube, auch mit Blick auf die Verantwortlichkeit des Einwilligenden für den Irrtum des Angreifers zu gerechten Ergebnissen zu kommen. Dies ist insoweit zutreffend, als das mildeste Mittel zur Abwehr des Angriffs vielfach in der Aufklärung des Irrtums bzw. im Widerruf der Einwilligung bestehen wird und auch dort, wo dies nicht möglich ist, ergeben sich nach allgemeinen Grundsätzen Einschränkungen des Notwehrrechts zu Lasten desjenigen, der fur eine Notwehrsituation verantwortlich ist. Aber ein vollständiger Ausschluß von Notwehrrechten zu Lasten des irrtümlich Einwilligenden wird - wenn nicht der Grundsatz der Unwirksamkeit der defizitären Einwilligung stillschweigend aufgeopfert werden soil - auch in solchen Fallen nicht in Betracht kommen, in denen den Einwilligungsempfanger keinerlei Verantwortung fUr die defizitäre Entscheidung trifft und in denen auch Amelung der Erklärungsempfänger als „schutzwürdig" erscheint554. D.h. es bleiben auch in diesem Bereich Fälle denkbar, in denen das reduzierte Notwehrrecht des Einwilligenden zu Eingriffen in Güter des Angreifers berechtigt. Amelung bestätigt das, wenn er einräumt, daß die Eröffhung des Notwehrrechts gegen den Einwilligungsempfanger „fur diesen nachteilig" sei, meint aber, dieser Nachteil wiege - mit Rilcksicht auf die oben dargestellten Grenzen des Notwehrrechts - „gering"555. Aber wenn der Nachteil auch nur gering wiegt, ist doch nicht plausibel, warum ihm Amelung letztlich tiberhaupt kein Gewicht gibt und dem Einwilligungsempfanger eine Belastung auferlegt, die möglicherweise aus einer fur ihn undurchschaubaren Obliegenheitsverletzung des Einwilligenden herrilhrt. Es ist für solche Fälle gerade nicht gesichert, daß das Instrumentarium des § 32 StGB „gerechte Ergebnisse gewährleistet"556. Doch das Scheitern des Versuchs Amelungs, unter Verweis auf Einschränkungen des Notwehrrechts den Interessen des Einwilligungsempfängers Rechnung zu tragen, trifft noch nicht den grundlegenden Mangel des Konzepts557. Dieser liegt in den Grtinden fur die Annahme, in solchen Fallen liege Uberhaupt eine Notwehrlage vor. Es kann nämlich schon nicht iiberzeugen, die Einwilligung als Außerkraftsetzung einer güterschützenden Norm zu interpretieren und denjenigen, dem gegeniiber die Erklärung erfolgt, bloß als Empfänger einer Information iiber die gegenwärtige Einstellung des Einwilligenden zu seinem Gut anzusehen. Die Einwilligung gestaltet bei dieser Sichtweise nicht das Verhältnis des Einwilligendem 553
554 555
556 557
Zum Folgenden Amelung, ZStW 109 (1997), 510 f., 514; ders., Irrtum und Täuschung, S. 34 f., 39 f. Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 43. Amelung, ZStW 109 (1997), 514, auch schon S. 510; ders., Irrtum und Täuschung, S. 34 f. Amelung, Z S t W 109 (1997), 514; ders., Irrtum und Täuschung, S. 40. Weitere Kritik an der „Trennung v o n Unwirksamkeits- und Zurechnungsurteil" bei Rönnau, Willensmängel, S. 345.
458 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens zum Einwilligungsempfänger, sondern sie betrifft allein die Stellung des Einwilligenden zu einer Norm, deren Geltung durch die Einwilligung suspendiert wird (was dem Einwilligungsempfanger lediglich zur Kenntnis gebracht wird). Aber Rechtsverhältnisse bestehen zwischen Personen, nicht zwischen Personen und Normen. Die Norm, die dem Einwilligungsempfanger ein bestimmtes Verhalten grundsätzlich verbietet, gehört zum Bestand der Voraussetzungen, unter denen zwischen den Beteiligten ein rechtliches Verhältnis besteht. Wird das grundsätzlich verbotene Verhalten nun erlaubt, so entfallt damit nicht nur die Geltung einer Norm, sondern es ändert sich die rechtliche Position des Einwilligungsempfangers in dem Sinne, daß dieser den Einwilligenden auch dann in seinem Recht anerkennt, wenn er die sonst verbotene Handlung vornimmt. Diese Sichtweise ist von der Haftungsfreistellung, die Amelung vorschwebt, deutlich zu unterscheiden. Derm es gent nicht nur darum, daß eine Person fur eine Verletzung der Giiter des Einwilligenden nicht haftet, sondern es geht um die Rechtlichkeit des Verhaltens. Diese Rechtlichkeit ist - anders als in der Konzeption Amelungs - nämlich nicht etwa eine Marginalie, die dem Einwilligungsempfanger solange gleichgtiltig sein kann, wie er nur nicht fur eine Rechtsverletzung haftet558. In der Orientierung am Recht verwirklicht sich die Rechtsperson. Es ist nicht nur normativ unangemessen, sondern auch empirisch unzutreffend, ein Interesse des Einwilligungsempfangers an der Rechtlichkeit seines Verhaltens zu negieren. Es wird vielmehr grundsätzlich so sein, daß bewilligte Handlungen gerade im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit dieses Verhaltens vorgenommen werden. Insbesondere dann, wenn der Einwilligungsempfanger ausschließlich im Interesse des Einwilligenden tätig wird, ware die in der Konzeption Amelungs praktisch nie ausräumbare Unsicherheit iiber die Wirksamkeit der Einwilligung fur den Erklärungsempfänger vielfach Grund genug, von der Handlung Abstand zu nehmen - der Hinweis, er verletze zwar möglicherweise das Recht, hafte dafiir aber nicht, wird ihn kaum beruhigen559. Aber nicht nur die Position des Erklärungsempfängers bleibt unterbestimmt, auch der Einwilligende ist als Rechtsperson nicht angemessen erfaßt, wenn seinen defizitären Erklärungen die rechtliche Wirksamkeit auch dann genommen wird, wenn das Defizit in seinen Verantwortungsbereich fällt. Hat die Person in ihren rechtlichen Verhältnissen zu anderen eine Gestaltungsmacht, dann trägt sie nicht erst fur die Zurechnung einer Verletzung, sondern schon fur die Gestaltung des rechtlichen Verhältnisses Verantwortung. Es ist auch hier schon empirisch nicht 558
559
Unzutreffend deshalb auch Rönnau, Willensmängel, S. 198, 411 (soweit ein rechtsgutsbezogener Irrtum dazu fuhren soil, daß überhaupt keine Einwilligung vorliegt, wobei „dem Vertrauen des Eingreifenden auf die Wirksamkeit der Einwilligung" insbesondere durch § 16 StGB Rechnung getragen sein soil); M.-K. Meyer, Ausschluß von Autonomie, S. 169 f; Mitsch, JZ 1999, 513, der ebenfalls in der Konzeption Amelungs den Vertrauensschutz durch § 16 StGB befriedigt sieht und fragt: „Was will man mehr?" - Die Antwort lautet: Man will sich rechtmäßig, nicht nur unvorsätzlich rechtswidrig verhalten. Auch Weber, GA 2000, 78 zweifelt an der hinreichenden Berilcksichtigung der Täterinteressen in Amelungs Konzept.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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richtig, daß die Person allein ein Interesse daran hat, daß in ihre Giiter nicht aufgrund einer defizitären Entscheidung eingegriffen wird. Das „Interesse des Erklärenden am Bestand seiner Güter" schöpft die Belange des Erklärenden als Rechtsperson nicht aus560. Die Person hat vielmehr auch ein Interesse daran, daß sie grundsätzlich mit ihren Erklämngen ernst genommen werden kann und nicht jeder, der sich an ihren Äußerungen orientiert, Gefahr läuft, sich rechtswidrig zu verhalten. Der Schutz, den Amelung dem Einwilligenden gewähren will, mag zwar fur den Gutsbestand optimal sein, aber der Freiheit und Verantwortlichkeit der Person wird er nicht gerecht. Es bleibt also grundsätzlich sachgerecht, normative Einschränkungen der Relevanz von Entscheidungsdefiziten bereits bei der Frage nach der Wirksamkeit der Einwilligung zu verorten561.
dd) Zusammenfassung - Zugleich zu den Grenzen der Möglichkeit, allgemeine Aussagen zur strafrechtlichen Relevanz von Entscheidungsdefiziten zu treffen Damit kann einstweilen festgehalten werden, daß die Beurteilung der normativen Relevanz von Defiziten von der Berilcksichtigung komplexer Interessenlagen und rechtlicher Vorwertungen abhängt. 1st die Einwilligung infolge eines Defizits nicht Ausdruck von Selbstbestimmung, dann entfällt zwar ein zentraler Grand fur ihre Wirksamkeit. Aber der grundsätzliche Status einer Person als zur Selbstbestimmung fähig erlaubt auch ein Verständnis fur die Grande, die dafur sprechen, trotz in concreto verfehlter Selbstbestimmung an der Wirksamkeit einer Entscheidung festzuhalten562. In der Übernahme von Verantwortung fur eine defizitäre Entscheidung verdeutlicht sich zum einen der prinzipielle Status der Person, zum anderen und vor allem wird - weil es um die rechtliche Beurteilung defizitärer Entscheidungen geht - bereits die sachgerechte Lösung im Gegenseitigkeitsverhältnis bedacht, werden also die Interessen des Erklärungsempfangers mit berilcksichtigt. Diese Überlegungen, die das Rechtsverhältnis überhaupt betreffen, bedürfen freilich einer spezifisch strafrechtlichen Ergänzung, deren prinzipielle Berechtigung als bleibende Einsicht der Lehre von Arzt - unabhängig von deren angreifbaren Einzelergebnissen - erhalten bleiben sollte. Es ist dies die Einsicht, daß es 560
In diesem Sinne aber tendenziell Mitsch, Rechtfertigung, S. 4 9 3 , 607 (vgl. dazu auch noch unten dd). 561 D a s Anliegen, die „Schutzbediirftigkeit des Erklärungsempfängers zu berücksichtigen", halt auch Amelung, Irrtum und Täuschung, S. 48 fur berechtigt. 562 j ) a g e g e n s c h e i n t Mitsch, Rechtfertigung, S. 4 9 3 , 607 und passim, den fur die Einwilligung maßgeblichen Gedanken der optimalen Interessenbefriedigung auf Opferseite mit d e m Interesse an Gutserhalt eines vollständig informierten Opfers zu identifizieren. Die Bereitschaft der Person, im Verhältnis der Gegenseitigkeit Verantwortung fur Fehlentscheidungen zu übernehmen (vgl. dazu auch Chatzikostas, D i e Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 161 f.) u n d so den Einwiliigungsempfänger zu entlasten, kann damit freilich nicht in den Blick kommen. (Eine gewisse Entlastung des Einwilligungsempfängers wird aus dem Interesse am Institut der Einwilligung begrilndet; Mitsch, a.a.O., S. 549.)
460 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens auch eine Frage des Schutzbereichs des jeweiligen individualgüterschützenden Tatbestandes ist, ob eine Einwilligung trotz ihres defizitären Charakters eine bestimmte Modifikation des konkreten Rechtsverhältnisses in Hinblick auf das tatbestandlich geschütze Rechtsgut zu bewirken vermag563. Ob also etwa der Irrtum über die Bereitschaft zur Erbringung der fur das bewilligte Verhalten versprochenen Gegenleistung zur Unwirksamkeit der Einwilligung in eine bestimmte Tatbestandsverwirklichung führt oder ob diese Täuschung allein dem Betrugstatbestand unterfallen soil, ist eine Frage der Reichweite der Tatbestände des Besonderen Teils (auch in ihrem Verhältnis zueinander). Diese Frage läßt sich nicht allgemein, auch nicht mit allgemeinen Erwägungen zum „Wesen" des Rechtsguts beantworten564. Derm ob die „Tauschfreiheit" im Umgang mit einem Individualrechtsgut tatbestandlich geschützt ist, hängt allein davon ab, ob der jeweilige Tatbestand diese Freiheit seinem Wortlaut nach schützen kann und nach seiner weiteren Auslegung auch schiltzen soil. Daß ein solcher Schutz prinzipiell möglich ist, wird auch von denen nicht bestritten, die etwa das in §§ 223 ff. StGB geschtltzte Rechtsgut der körperlichen Integrität als statisches Gut verstehen. Damit soil nämlich offenbar lediglich eine auf einen bestimmten Tatbestand begrenzte Interpretation von dessen Schutzbereich vorgetragen, aber nicht die Auffassung vertreten werden, die Begrenzung auf statisch gedachte Güter liege im Rechtsgutsbegriff und es gebe folglich überhaupt keine Tatbestände, die bestimmte Güter in ihrer Das räumt auch Rönnau, Willensmängel, S. 138 ein (siehe dort S. 159 auch zu Besonderheiten, z.B. beim KastrG, wo der Betroffene eine Entscheidung fällt, die nach herkömmlichen Maßstäben nicht als frei anzusehen ware). A.A. Mitsch, Rechtfertigung, S. 517 ff., der insoweit eine „Vermengung von Schutzgegenstand und Schutzgrund' rilgt: Der Schutzgegenstand werde bereits auf Tatbestandsebene festgelegt; „Thema der Rechtfertigungssituation ist dagegen die Begriindetheit des strafrechtlichen Schutzes, also das etwaige Durchgreifen oder Fehlen von stärkeren Gegengründen" (S. 517). Es ist natürlich richtig, daß der Täter im Falle der Unwirksamkeit der Einwilligung nur aus dem verwirklichten Tatbestand (in dessen Schutzgegenstand nach der Wertung auf Tatbestandsebene tatsächlich eingegriffen wurde) bestraft werden kann: „Die Ausschaltung eines Rechtfertigungsgrundes fiihrt nicht dazu, daß das Eingriffsinteresse, dessen Befriedigung ratio des Rechtfertigungsgrundes ist - z.B. Erlangung eines Geldbetrags -, nunmehr strafrechtlich geschiitzt wird" (S. 518 f). Damit ist aber noch nicht gesagt, daß die in Betracht kommenden Gegengründe ohne jede Rücksicht auf den Schutzgegenstand Bedeutung erlangen können. Die Frage bleibt also, ob die Verfehlung des Eingriffsinteresses (etwa wenn der Täter über seine Bereitschaft, die vereinbarte Gegenleistung zu erbringen, täuscht) als der Rechtfertigung entgegenstehender Gesichtspunkt ilberhaupt geltend gemacht werden kann, ob also die bei einer Einwilligung grundsätzlich gegebenen „stärkeren Gegengründe" durch Motivirrtümer über die Leistungsbereitschaft des Täters unangetastet bleiben oder ihre Wirkung gerade verlieren. Diese Frage läßt sich nun nicht ohne einen Blick darauf beantworten, ob neben dem tatbestandlich typisierten Unrecht auch das materielle Unrecht unter Einbeziehung der Rechtswidrigkeit trotz der mit einem Motivirrtum behafteten Einwilligung verwirklicht ist. Und diese abschließende Bewertung eines Verhaltens als Unrecht kann von der ratio des jeweiligen Tatbestandes nicht abstrahieren. In diese Richtung aber Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 65 f, 333 f.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
461
dynamischen Funktion schützen565. Vielmehr ist letzteres etwa bei § 263 StGB der Fall, soweit diese Vorschrift das Vermögen auch in seiner Tauschfimktion schützt566. Wenn auch ein Verständnis von Rechtsgiitern als Verwirklichungsbedingungen von Freiheit jedenfalls die Möglichkeit offenhält und vielfach sicherlich auch nahelegt, nicht nur den Bestand sondern auch die konkreten Entfaltungsmöglichkeiten einschließlich der Preisgabe zugunsten einer bestimmten Gegenleistung in den Schutzbereich der jeweiligen individualgüterschützenden Tatbestände einzubeziehen, so flrhrt doch von der damit eröffheten Möglichkeit der Gewährung strafrechtlichen Schutzes allein noch kein zwingender Weg zu der Annahme, das geltende Strafrecht gewähre diesen Schutz auch tatsächlich. So ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, den Schutz der in der Achtung der körperlichen Integrität des anderen konkretisierten Freiheit auf den Bestand der körperlichen Integrität als Bedingung physisch vermittelter Entfaltung zu begrenzen. Auch Bestandsschutz ist Freiheitsschutz, wenn auch der tatbestandlich erfaßte Schutzbereich weniger weit ist. Welche Sichtweise im Einzelnen sachgerecht ist, muß mit Hilfe der ilblichen Auslegungsmethoden den jeweiligen Tatbeständen des Besonderen Teils entnommen werden - und wiirde den Umfang der vorliegenden Untersuchung sprengen567.
b) Die normative Relevanz von Defiziten, die zu Selbstschädigungen Oder -gefährdungen führen können Die normative Relevanz von Defiziten bei Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen wird unter unterschiedlichen dogmatischen Kategorien diskutiert. Dabei spielt es für die dogmatische Verortung keine Rolle, ob das Opfer nur mit dem Wissen um den selbstgefährdenden Charakter seines Verhaltens handelt oder zusätzlich auch mit dem Willen, sich selbst zu schädigen. Unterschieden wird vielmehr danach, ob der Außenstehende mit dem Willen (zumindest im Sinne billigender Inkaufhahme) handelt, daß sich die defizitäre Opferentscheidung im Erfolg realisiert. Handelt der Außenstehende in diesem Sinne vorsätzlich, so stellt die h.M. die Frage, ob das Defizit der Opferentscheidung das Verhalten des Hintermannes zur mittelbaren Täterschaft qualifiziert. Handelt der Hintermann hingegen unvorsätzlich, so wird gefragt, ob der Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfllllt ist. 565
566 567
Kaum haltbar dürfte es sein, wenn Manfred Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 337 meint, die Notwendigkeit (strafrechtlichen) Schutzes der Verftigungsfreiheit ergebe sich zwingend aus Art. 2 Abs. 1 GG. Siehe Am, Willensmängel, S. 17 ff., 45 ff. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß über die Frage der Reichweite des tatbestandlichen Schutzes das jeweilige Rechtsgutsverständnis nicht abschließend entscheidet. Der Schutzbereich steht erst nach dem Rechtswidrigkeitsurteil endgültig fest, weil erst damit über das Vorliegen einer /tecteverletzung entschieden ist. Es kommt also letztlich darauf an, ob das Rechtsverhältnis bezogen auf den Umgang mit bestimmten Giitern durch einen bestimmten Tatbestand geschützt sein soil. Dazu schon oben 4. Teil II. 2. c) bb).
462 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
aa) Mittelbare Täterschaft des Außenstehenden und defizitäre Opferentscheidung Seit der grundlegenden Arbeit Roxins liber „Täterschaft und Tatherrschaft" werden unterschiedliche Formen der Willensherrschaft in Abhängigkeit der jeweiligen Defizite auf Opferseite unterschieden568. Zentral sind die Fälle der Willensherrschaft kraft Nötigung569, kraft Irrtums570 (= Wissensherrschaft) und kraft Unzurechnungsfähigkeit oder Minderjährigkeit des Vordermannes571 (der im hier erörterten Problemkreis zugleich das Opfer ist). Hinter all diesen Formen der Willensherrschaft steht der Gedanke, daß ein Defizit beim Vordermann eine Herrschaft des Hintermannes iiber die Begehung der Tat begrilnden kann. Handelt es sich im hier diskutierten Problemkreis auch nicht um die herkömmlichen Fälle mittelbarer Täterschaft, in denen der als Werkzeug eingesetzte Vordermann und das Opfer personenverschieden sind, so besteht doch - jenseits der Diskussion um die Frage, ob bei Identität von Vordermann und Opfer von mittelbarer oder unmittelbarer Täterschaft gesprochen werden sollte572 - strukturell zwischen beiden Fallgruppen die Übereinstimmung, daß als Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung durch den Täter nur ein solches Verhalten in Betracht kommt, das iiber fremdes menschliches Handeln, dessen Zurechnung zum Hintermann begriindet werden kann, vermittelt ist. Dies hat dazu geführt, daß überwiegend auch in solchen Zwei-Personen-Verhältnissen, in denen der Außenstehende über ein selbstgefährdendes oder selbstschädigendes Opferverhalten die Willensherrschaft in einer der genannten Formen innehat, von mittelbarer Täterschaft gesprochen wird573. Innerhalb der mittelbaren Täterschaft werden diese Fälle vielfach einer eigens fur sie gebildeten Gruppe zugeordnet, die durch die Tatbestandslosigkeit des Verhaltens des Werkzeugs gekennzeichnet wird. Freilich kann nicht schon diese Tatbestandslosigkeit fur sich genommen, sondern erst das Hinzukommen einer der genannten Herrschaftsformen eine Täterschaft des Außenstehenden begründen574. Der Befund, daß in den Fallen selbstverfugenden Opferverhaltens der objektive Tatbestand solcher Delikte, die gerade den Schutz des Opfers bezwecken, nicht erfüllt ist, kann keine materiale Aussagekraft entfalten. Die Nichterfullung von bestimmten Voraussetzungen deliktischen Verhaltens 568
Roxin, Täterschaft, S. 141 ff. Roxin, Täterschaft, S. 142 ff. 570 Roxin, Täterschaft, S. 170 ff. 571 Roxin, Täterschaft, S. 233 ff. 572 Zur Überflüssigkeit der Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft in diesen Fallen etwa Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 155 f. Eingehend dazu M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 8 ff. Nach Roxin, Täterschaft, S. 173 gehe es hier lediglich um eine „terminologische Frage"; dagegen Küper, JZ 1986, 220; Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 92 f. 573 Siehe etwa Kiiper, J Z 1986, 220 und die Nachw. in der nachfolgenden Fn. in: Schönke/Schröder, § 25 Rn. 9; Jescheck/Weigend, A T , S. 574 Y g | Cramer/Heine, 665 f; MM, AT, § 20 Rn. 46 ff; Wessels/Beulke, AT, Rn. 539a. 569
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfligungen wegen Entscheidungsdefiziten
463
durch das Werkzeug indiziert in den sonstigen Fallen mittelbarer Täterschaft einen Mangel an Verantwortung, der gleichsam eine Liicke fur fremde Sinngestaltung läßt, deren AusfUllung die mittelbare Täterschaft des Hintermannes begründen kann. Das Verhalten des Vordermannes ist in diesen Fallen nur deshalb nicht seinerseits deliktisch, weil es defizitär ist. Die Tatbestandslosigkeit der SelbstverfUgung weist nicht auf einen solchen Mangel hin, sondera ist die Folge der prinzipiellen Rechtlichkeit solcher Verfugungen. Die defizitäre wie die nicht-defizitäre SelbstverfUgung ist fur das Opfer rechtlich erlaubt und damit nicht tatbestandsmäßig. Nicht die Tatbestandslosigkeit des Opferhandelns, sondern nur die genannten Formen der Willensherrschaft auf Seiten des Hintermannes kommen folglich als Begrilndungen fur dessen mittelbare Täterschaft in Betracht.
(1)
Die Diskussion um die Qualität der Defizite, die für die Begriindung von Tatherrschaft des Außenstehenden in Betracht kommen
Welche Defizite des Opfers eine Tatherrschaft des Außenstehenden begründen können, ist freilich in vielen Punkten umstritten575. Die formale Struktur des Teilnahmearguments zeigt hier deutlich dessen immanente Grenze: Ob der Außenstehende nur „Teilnehmer" oder vielmehr Täter ist, ist gerade die zu beantwortende Frage - und zur Antwort auf diese Frage kann das Teilnahmeargument naturgemäß nichts beitragen. Es lassen sich zwei prinzipielle Ausgangspunkte unterscheiden: Die tradierte Auffassung will die Maßstäbe, die fur die herkömmlichen Fälle der mittelbaren Täterschaft im Drei-Personen-Verhältnis entwickelt worden sind, auf das Zwei-Personen-Verhältnis übertragen576. In den Drei-Personen-Verhältnissen, also bei Personenverschiedenheit von Tatmittler und Opfer, soil die voile strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vordermannes es - von (umstrittenen) Ausnahmefällen des Täters hinter dem Täter577 abgesehen - prinzipiell ausschließen, eine Haftung des Hintermannes als mittelbarer Täter zu begründen. Hierfur wird vor allem geltend gemacht, daß die Bewertung eines Verhaltens als frei es grundsätzlich ausschließe, dasselbe Verhalten am Maßstab der gleichen Rechtsordnung zugleich in einer Weise als unfrei anzusehen, die es erlaubt, eine durch Tatherrschaft begriindete
Gute Zusammenfassung bei Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 248 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 165 ff. je m.w.N. In diesem Sinne etwa Bottke, Suizid, S. 250 f.; Roxin, in: FS für Dreher, S. 343 ff.; ders., Täterschaft, S. 161 ff., 240 f, 667 ff. Vgl. F.-C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, S. 119 ff. Also insbesondere die Fälle der Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate (dazu Murmann, GA 1996, 269 ff.); hierher gehören aber auch die Fälle, in denen der Vordermann in einem vermeidbaren Verbotsirrtum handelt (dazu Murmann, GA 1998, 78 ff).
464 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Verantwortung des Hintermannes anzunehmen578. Eine Übertragung dieser Maßstäbe auf die Fälle selbstschädigenden oder -gefährdenden Opferverhaltens führt also dazu, daß eine Haftung des Hintermannes als mittelbarer Täter nur dann in Betracht komme, wenn das Defizit des Opfers von einem Gewicht ist, das bei einem entsprechenden drittschädigenden bzw. -gefährdenden Verhalten zur Freistellung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit fuhren würde. So könne ein konstitutionelles Defizit erst dann zur mittelbaren Täterschaft fuhren, wenn es einem der in §§ 19, 20 StGB, § 3 JGG vorausgesetzten Zustände entspricht579; ein Irrtum könne die mittelbare Täterschaft erst dann begrtinden, wenn er entsprechend einem Tatumstandsirrtum dem Opfer den rechtsgutsbezogenen Sinn seines Verhaltens verdunkelt580 und fur eine Tatherrschaft kraft Nötigung schließlich sei vorausgesetzt, daß die Nötigung eine Intensität erreicht, die auf Seiten des Opfers eine § 35 StGB entsprechende Lage begrundet58'1582. Die Gegenauffassung plädiert für eine (modifizierte) Anwendung der Grundsätze, wie sie fiir die Wirksamkeit von Einwilligungen entwickelt worden sind583. Da578
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Das ist im Grundsatz anerkannt; eingehend zur Entwicklung dieses Gedankens M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 109 ff. Umstritten ist allerdings, o b dieser Grundsatz durchgehend Geltung beansprucht, wie dies die (von Hillenkamp, 3 2 Probleme, S. 145 so genannte) „strenge Verantwortungstheorie" meint (in diesem Sinne etwa Bloy, Die Beteiligungsform, S. 345 ff.; Bockelmann/Volk, AT, S. 182, 191 f; Jescheck/Weigend, AT, S. 669 [zum vermeidbaren Verbotsirrtum], S. 670 [zum „organisatorischen Machtapparat]) oder o b sich gleichwohl Fälle eines Täters hinter dem Täter (als A u s nahmen v o n diesem Verantwortungsprinzip) begriinden lassen ( s o die iiberwiegende Meinung; siehe etwa Lackner/Kühl, § 25 Rn. 2, 4; Tröndle/Fischer, § 25 Rn. 3 , 3c, d; Wessels/Beulke, AT, Rn. 541 f.; siehe auch Stratenwerth, A T I, § 12 Rn. 53 und 65, w o das Verantwortungsprinzip zwar noch fur den vermeidbaren Verbotsirrtum, nicht aber fur die Fälle der Organisationsherrschaft durchgehalten wird). Roxin, Täterschaft, S. 240 f. Freilich werden hier auch fur die mittelbare Täterschaft im Drei-Personen-Verhältnis Durchbrechungen d e s auf das jeweilige Delikt bezogenen Verantwortungsprinzip diskutiert, wenn es um die Frage geht, o b ein „Irrtum iiber den konkreten Handlungssinn" eine mittelbare Täterschaft des Hintermannes begriinden kann (siehe Roxin, Täterschaft, S. 212 ff). Solche Einschränkungen der Deliktsbezogenheit des Verantwortungsprinzips müßten in der Konsequenz auf die Zwei-Personen-Verhältnisse übertragen werden. Roxin, Täterschaft, S. 161 ff. Siehe zusammenfassend Amelung, Z u m Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 249 f. In diesem Sinne etwa Amelung, Z u m Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 2 5 1 ff; Brandts/Schlehofer, J Z 1987, 444; Degener, „Die Lehre v o m Schutzzweck der Norm", S. 308 ff; Freund, AT, § 10 Rn. 97, § 5 Rn. 75 mit Fn. 9 7 ; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 166 ff, 173; Geilen, J Z 1974, 150 f; Gropp, AT, § 10 Rn. 7 4 mit Fn. 74; Herzberg, JuS 1974, 378 f; ders., JA 1985, 336 ff; ders., Täterschaft, S. 3 9 f; Jähnke, in: LK, Vor § 211 Rn. 26; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 52a; M.-K. Meyer, Ausschluß von Autonomie, S. 182 ff; Neumann, JuS 1985, 679 f; ders., in: NK, Vor § 211 Rn. 6 1 .
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfügungen wegen Entscheidungsdefiziten
465
ftlr wird vor allem geltend gemacht, es sei unangemessen, die Haftung des Außenstehenden bei selbstschädigendem oder -gefährdendem Opferverhalten von Verantwortungsmaßstäben abhängig zu machen, die in ganz anderen Zusammenhängen entwickelt worden sind. Diese Kritik ist berechtigt: Denn die Voraussetzungen, von denen ein Ausschluß strafrechtlicher Haftung abhängig gemacht wird, reflektieren die hochgesteckten normativen Anforderungen, die an die Person im Umgang mit anderen zur Achtung von deren Rechtssphären gestellt werden. Dahinter steht eine Abgrenzung von Verantwortungsbereichen, wonach es grundsätzlich Sache der dazu fähigen Person ist, im Rahmen ihrer sozialen Kontakte Entscheidungsdefizite zu vermeiden, aus denen Rechtsverletzungen zu Lasten anderer Personen erwachsen können. Das findet etwa bei Fehlvorstellungen im Tatsächlichen seinen Ausdruck in der Fahrlässigkeitshaftung und bei Fehlvorstellungen über die Rechtswidrigkeit in der in § 17 StGB zum Ausdruck gebrachten Pflicht, sich Verbotskenntnis zu verschaffen. Bei Notstandssituationen wird es deutlich im numerus clausus der notstandsfähigen Rechtsgüter in § 35 StGB. Solche Anforderungen an die Vermeidung defizitärer Entscheidungen (deren Verletzung strafrechtliche Verantwortlichkeit des Entscheidenden begriindet), muß eine Rechtsordnung aber nicht formulieren, wo das Entscheidungsdefizit nicht zu Lasten Dritter, sondern allein zu Lasten des Entscheidenden selbst geht. Hier stellt sich also von vornherein nicht die Frage, inwieweit die Vermeidung von Defiziten im Interesse potentieller Opfer in die Verantwortung des Entscheidenden gestellt ist. Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit das Opfer fur seine Entscheidungsdefizite zur Entlastung des Außenstehenden Verantwortung trägt bzw. - umgekehrt - inwieweit der Außenstehende dafür Verantwortung trägt, Entscheidungsdefizite des Opfers auszugleichen. Damit ist noch nicht der fur das geltende Recht anzulegende Maßstab formuliert und auch die Richtigkeit der von der traditionellen Auffassung erzielten Ergebnisse ist noch nicht ausgeschlossen (wenn auch schon auf den ersten Blick unwahrscheinlich). Es ist aber offensichtlich, daß für bestimmte Regelungsbereiche positivierte Vorschriften zur Frage der Verantwortlichkeit nicht unbesehen auf gänzlich andere Zusammenhänge übertragen werden können584. Die konkrete Ausgestaltung der Verantwortungsbereiche ist ein normatives Problem, das nicht kontextunabhängig gelöst werden kann. Bei der Entwicklung eines Maßstabs, anhand dessen die Relevanz von Entscheidungsdefiziten seitens des Opfers beurteilt werden kann, wird fur die Übertragung der Grundsätze zur Wirksamkeit von Einwilligungen geltend gemacht, daß es sich bei der Einwilligung wie auch bei Selbstschädigungen und Selbstgefährdungen des Opfers um selbstverfiigende Entscheidungen handelt. Erblickt man in der Einwilligung lediglich eine delegierte Selbstschädigung bzw. -gefährdung, so liegt eine einheifliche Beurteilung der Verantwortlichkeit für defizitäre Entscheidungen nahe585. Doch wird teilweise auch eine Modifizierung der bei der
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So auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 164. Eingehend in diesem Sinn M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 139 ff.; so auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 169; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 52a; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 114. Für
466 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Einwilligung anzulegenden Maßstäbe mit der Erwägung vertreten, wonach sich der Einwilligende einem fremden Eingriff unterwerfe, wohingegen der Selbstschädiger selbst handelt586. Die Einzelheiten darzustellen ist hier nicht der Ort. Dies schon deshalb, weil weiterfuhrende Bemilhungen um die Konturierung eines Verantwortungsmaßstabs zunächst in einen angemessenen normativen Kontext zu stellen sind. Diesen Kontext bietet die Figur der mittelbaren Täterschaft, in deren Rahmen Ublicherweise die Diskussion um die normative Bedeutung etwaiger defizitärer Opferentscheidungen geführt wird, gerade nicht.
(2)
Die mangelnde A ussagekraft der Figur der mittelbaren Täterschaft für die normative Bedeutung etwaiger defizitärer Opferentscheidungen
Die normative Relevanz eines Defizits läßt sich nicht nach Maßstäben bestimmen, die in der Tatherrschaftslehre selbst liegen587. Ein instrumentales Verständnis von Tatherrschaft würde es vielmehr nahelegen, jedes Defizit des Vordermannes fur tatherrschaftsbegriindend zu halten, soweit es die Entscheidungsrationalität des Vordermannes in der konkreten Situation einschränkt und der Hintermann vorsätzlich das Risiko einer solchen defizitären Entscheidung schafft oder erhöht. Mit der Inanspruchnahme des Verantwortungsprinzips ist bereits eine Normativierung der Tatherrschaftslehre vorgenommen, die nicht mit dem dogmatischen Instrumentarium dieser Lehre erreicht wird, sondern eine Bezugnahme auf rechtliche Verantwortungsbereiche voraussetzt588. Die normative Relevanz von Entscheidungsdefiziten steht zwar in engem Zusammenhang mit der Begrilndung von Tatherrschaft, bezieht aber ihre Maßstäbe nicht von dieser Lehre. Das gilt schon fur die klassischen Fälle mittelbarer Täterschaft, in denen Vordermann und Opfer personenverschieden sind. Die normative Relevanz des Defizits ist hier zunächst kein Problem der Tatherrschaftslehre, sondern von der normativen Relevanz des Defizits des Vordermannes hängt es ab, ob seine Verantwortlichkeit fur eine Verletzung des Opfers eingeschränkt oder ausgeschlossen ist. Im Verhältnis des Hintermannes zum Opfer stellt sich die Frage nach der normativen Relevanz des Defizits neu; hier geht es darum, ob die Möglichkeit, daß der
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eine grundsätzliche Harmonisierung von Täterschafts- und Einwilligungslehre neuerdings ManfredHeinrich, Rechtsgutszugriff, S. 73 ff., 327 ff. Amelung, Z u m Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 2 5 1 . A u s diesem Phänomen wird teilweise auf eine gegenüber d e m Selbstschädiger höhere Schutzbedürftigkeit des Einwilligenden geschlossen, die sogar eine grundsätzliche Abkehr von der Einwilligungslösung und die Anlegung der fur die strafrechtliche Verantwortlichkeit entwickelten Maßstäbe rechtfertige; so Roxin, Täterschaft, S. 668 f.; dagegen zu Recht Amelung, Z u m Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 252 f.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 170, Fn. 6 3 . Vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 211 ff. Das Verantwortungsprinzip ist also lediglich eine Bezugnahme auf Verantwortungsbereiche, deren Umfang damit iiber die Reichweite von Tatherrschaft entscheidet.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Vordermann eine defizitäre Entscheidung zu Lasten eines potentiellen Opfers trifft, die Handlungsfreiheit des Hintermannes im Interesse dieses Opfers einschränkt. Auch dies ist noch keine Frage der Tatherrschaft, sondern eine Frage nach der Konturierung von Verantwortungsbereichen; es ist nicht ausgeschlossen, daß der Ausgleich von Defiziten des Vordermannes, die dessen Verantwortung in seinem Verhältnis zum Opfer ausschließen oder einschränken, nicht in den Verantwortungsbereich des Hintermannes fällt. Die h.M. überspringt diese Frage und geht davon aus, daß einem Verantwortungsausschluß oder einer Einschränkung der Verantwortlichkeit des Vordermannes in seinem Verhältnis zum Opfer eine Erweiterung des Verantwortungsbereichs des Hintermannes gleichsam automatisch entspricht und gelangt bei Schaffung oder Erhöhung des Risikos einer entsprechenden defizitären Entscheidung des Vordermannes ohne weiteres zur Annahme von Tatherrschaft des Hintermannes589. Die h.M. behauptet also implizit, daß die fehlende Verantwortung des Vordermannes die rechtliche Mißbilligung des Verhaltens des Hintermanns rechtfertigt. In Wahrheit stellt sich die Frage nach der Tatherrschaft freilich erst dann, wenn feststeht, daß der Hintermann rechtlich dazu verpflichtet ist, mit Rücksicht auf das Defizit des Vordermannes gewisse Handlungen zu unterlassen. Dabei ist es richtig - und wahrscheinlich der Grund fur die Vermengung der Problemkreise -, daß das Verantwortung ausschließende oder einschränkende Defizit des Vordermannes regelmäßig tatsächlich zur rechtlichen Mißbilligung des Verhaltens des Hintermannes fiihrt und eine mit Blick auf ein Defizit des Vordermannes begriindete Pflicht zum Unterlassen gewisser Handlungen die täterschaftliche Verantwortlichkeit des Hintermannes begriindet. Aber die beim Hintermann liegende instrumental Gestaltungsmacht ist auch bei Entlastung des Vordermannes nicht per se ein Grund, solches Verhalten des Hintermannes zu verbieten. Es gibt durchaus auch Konstellationen, in denen solche Defizite, die die Verantwortung des Vordermannes ausschließen oder einschränken, keine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Hintermannes begriinden. Dies ist fur die Unrechtseinsicht, die selbst im Falle eines unvermeidbaren Verbotsirrtums grundsätzlich in den Verantwortungsbereich des Handelnden fällt und nicht zur Begriindung von Sonderpflichten Außenstehender im Umgang mit dem Irrenden (gerade mit Blick auf seinen Irrtum) fuhrt, bereits entwickelt worden590. In den hier interessierenden Fallen, in denen Vordermann und Opfer personenidentisch sind, ist die mangelnde Leistungsfähigkeit des unvermittelten Zugangs von der Tatherrschaftslehre her noch deutlicher. Die Berufung auf eine Verantwortungsverteilung, die in den Drei-Personen-Verhältnissen aus den gesetzlich geregelten Grenzen der Verantwortung des Vordermannes fur eine Verletzung des Opfers resultieren soil, scheidet hier aus591. Die Frage, welche Rolle die (mögli589
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591
Zutreffend zu diesem Verständnis der h . M . und zu deren Kritik Hoyer, in: SK StGB, § 25 Rn. 93 f. Siehe Murmann, G A 1998, 78 ff. (dazu kritisch Roxin, Täterschaft, S. 674; ders., A T II, § 25 Rn. 90); vgl. auch Jakobs, G A 1997, 570 f. Das ist auch dann zwingend, wenn man die Maßstäbe der Verantwortung fiir deliktisches Verhalten auf die Selbstverfügungen übertragen wollte. Denn die gesetzliche Regelung ist jedenfalls auf deliktisches Verhalten begrenzt und ihre entsprechende Uber-
468 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens che) defizitäre Entscheidung eines (potentiellen) Opfers fiir die Handlungsfreiheit des Außenstehenden spielt, ist hier gleichsam originär zu beantworten. Erst wenn nach der Verhaltensordnung feststeht, daß das Verhalten des Außenstehenden mit Rücksicht auf eine mögliche defizitäre Opferentscheidung rechtlich mißbilligt ist, stellt sich die weitere Frage, ob auch die Tatherrschaft des Hintermannes begriindet ist. Fiir die hier erörterten Fälle, in denen das Handlungsverbot gerade aus dem defizitären Charakter der möglichen Opferentscheidung resultiert, wird daran dann allerdings kein Zweifel mehr bestehen: Wenn das Defizit des Opfers gerade die Verbotenheit des Verhaltens des Außenstehenden begründet, dann beherrscht der Außenstehende durch dieses Verhalten auch notwendig die Qualität des Verhältnisses unter diesem Gesichtspunkt592. Der Tatherrschaft kommt dann keine eigenständige Bedeutung zu. Es gibt auch andere Fälle, die aber hier deshalb nicht in Rede stehen, weil das Verhalten des Außenstehenden mit Blick auf seine individualgiitergefährdende Qualität nur wegen dessen möglicherweise defizitären Charakters, nicht aber mit Blick auf einen Schutz der Person vor sich selbst, rechtlich mißbilligt sein kann. Raum fur das Problem, ob ein aus anderen Griinden bereits verbotenes Verhalten durch ein hinzukommendes Defizit beim Vordermann notwendig mittelbare Täterschaft begründet, bleibt also nur in Fallen, in denen Vordermann und Opfer personenverschieden sind. Ein Beispiel, bei dem die Frage einer täterschaftlichen Verantwortlichkeit des einen Irrtum des Opfers ausnutzenden Außenstehenden diskutiert wird, ist der Fall, in dem eine kurzsichtige Mutter ihrem Kind ein Medikament geben will und eine zufällig anwesende Person darum bittet, ihr hierfiir ein Glas Wasser zu reichen, was diese Person auch tut, obwohl sie erkennt, daß die Mutter die Mittel verwechselt hat und im Begriff ist, dem Kind ein Gift zu verabreichen593. Das Verhalten des Außenstehenden ist hier nicht erst wegen der defizitären Entscheidung der Mutter rechtlich mißbilligt. Würde die Mutter vorsätzlich ihr Kind vergiften wollen, so ware die entsprechende Handlung des Außenstehenden als Beihilfe strafbar und es stellt sich die Frage, ob dieses Verhalten seinen untergeordneten Charakter durch die defizitäre Entscheidung der Mutter, die fur ihre Handlung Verantwortung als Täterin eines fahrlässigen Tötungsdelikts trägt, verliert594.
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tragung auf selbstverfiigende Entscheidungen kann sich nicht darauf berufen, dies sei deshalb angemessen, weil die Belastung des Hintermannes die Kehrseite der Entlastung des Vordermannes sei. Den Vordermann trifft nämlich - ob er sich nun defizitär oder nicht defizitär fiir eine Selbstverfugung entscheidet - keine deliktische Verantwortlichkeit. Der Sache nach iibereinstimmend Stein, Beteiligungsformenlehre, S. 285. A.A. offenbar Freund, A T , § 5 Rn. 75 in Fn. 97. Nowakowski, JZ 1956, 549. Täterschaft bejahend etwa Roxin, Täterschaft, S. 173 f.; Stratenwerth, A T I, § 12 Rn. 36. Nowakowski, J Z 1956, 549 verneint die Tatherrschaft und halt die Annahme von
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Die Figur der mittelbaren Täterschaft reflektiert also lediglich in einem bestimmten Umfang die Erträge, die das Bemühen um eine Konturierung der Verhaltensordnung in Hinblick auf die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen zuerst erbringen muß. Auch von dieser Seite zeigt sich also nochmals deutlich, daß die Maßstäbe fur die Beurteilung der normativen Relevanz defizitärer Entscheidungen, wie sie fur die klassischen Fälle mittelbarer Täterschaft im Bereich der DreiPersonen-Verhältnisse entwickelt worden sind, nicht unbesehen auf die rechtliche Bedeutsamkeit defizitärer Selbstverfiigungen übertragen werden können. Es ist noch ein mögliches Mißverständnis auszuräumen: Die Einsicht, daß es bei der Haftung fur defizitäre Opferentscheidungen zunächst um ein Problem der Konturierung von Verantwortungsbereichen auf der Ebene der Verhaltensordnung geht, bedeutet nicht, daß der Außenstehende in beliebigem Umfang mit Entscheidungen des Vordermannes belastet werden kann. Aber es ist darauf hinzuweisen, daß die zu ziehenden Grenzen nicht Ausfluß eines Kriteriums der Herrschaft sind, sondern aus Entscheidungen iiber die normative Gestalt einer Gesellschaft fließen, die von den beteiligten vernimftigen Personen getroffen werden. Ob der Außenstehende erst dann haften soil, wenn das Entscheidungsdefizit des Opfers einen Intensitätsgrad erreicht hat, der einem Ausschluß deliktischer Verantwortlichkeit entspricht, oder ob er bereits bei Defiziten haften soil, die denen entsprechen, die bei der Einwilligung deren Wirksamkeit ausschließen würden, liegt in der Kompetenz der Rechtsgemeinschaft. „Herrschaft" ist nicht vom Vorliegen eines Defizits bestimmter Qualität abhängig, sondern ihr Umfang hängt davon ab, wie der Sachverhalt zuvor normativ konturiert wurde, auf den sie sich bezieht. Der sachgerechte normative Ausgangspunkt liegt in der Frage, welche (möglichen) defizitären Entscheidungen eines (potentiellen) Opfers es angemessen erscheinen lassen, die Handlungsfreiheit des Außenstehenden mit Rücksicht auf das Risiko solcherart selbstverfügenden Opferverhaltens einzuschränken595. An dieser Stelle ist der Gedanke später wieder aufzunehmen (unten 2.). Zuvor ist aber zu zeigen, daß mit dem zutreffenden normativen Ausgangspunkt in der Verhaltensordnung auch der Geltungsbereich der dort zu entwickelnden Grundsätze weiter reicht, als es eine Verortung des Problems im Bereich der mittelbaren Täterschaft ermöglichen würde. Dazu ist der Blick auf die Fälle zu lenken, in denen der Au-
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Täterschaft fur einen „Lückenbüßer", mit dessen Hilfe Straflosigkeit vermieden werden könne. Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 98 f. lehnt mittelbare Täterschaft ab, weil es fur eine Irrtumsherrschaft nicht ausreichen könne, den Irrenden in seinem Handeln zu unterstützen. Möglich sei aber eine Strafbarkeit nach § 323c StGB (Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 102). Ebenso Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 314 f. (fur mittelbare Täterschaft seien „Einwirkungen und Aktivitäten von initiierendem Niveau" erforderlich). Zu dieser Abschichtung von Täterlehre und Verhaltensordnung siehe auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 155 f.
470 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ßenstehende nicht vorsätzlich bezogen auf die Realisierung einer defizitären selbstverfügenden Opferentscheidung handelt.
bb) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung des Außenstehenden und defizitäre Opferentscheidung Auch die h.M. sucht nach einer neuen dogmatischen Verortung des Problems in solchen Fallen, in denen eine mittelbare Täterschaft deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Außenstehende nicht mit dem Vorsatz zur Tatbestandsverwirklichung handelt596. Da die subjektive Einstellung zur Tatbestandsverwirklichung aber die rechtliche Erlaubtheit oder Verbotenheit eines Verhaltens nicht beriihrt, weist auch diese gewandelte dogmatische Rubrizierung durch die h.M. darauf hin, daß die Einordnung bei der mittelbaren Täterschaft eine Fehlrubrizierung darstellt. In den Fallen, in denen der Außenstehende unvorsätzlich handelt, wird die Frage, inwieweit er sich auf mögliches defizitäres Opferverhalten einzustellen hat, als Problem der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung oder - gleichbedeutend, aber in der klassischen Terminologie zum Fahrlässigkeitsdelikt: als Problem der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung - erörtert. Damit ist ein erheblicher Gewinn an Präzisierung der maßgeblichen Kriterien in ihrer normativen Qualität zu erzielen, der freilich nicht immer ausgeschöpft wird. Mit Blick auf die Voraussetzungen fur das Vorliegen einer rechtlich mißbilligten Gefahr unzureichend bleibt noch die in Rechtsprechung und Literatur verbreitete Formel, wonach ein die Haftung des Außenstehenden begründendes Defizit des Opfers dann vorliege, „wenn der sich Beteiligende kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende"597. Diese Überlegenheitsformel trifft den Kern des Problems aber offensichtlich nicht598. Denn das Verhalten des Außenstehenden wird nicht deshalb verboten, weil er das Geschehen besser tiberblickt, sondern das Verhalten des Außenstehenden ist objektiv rechtswidrig immer dann, wenn die defizitäre Entscheidung nicht (allein) in den Verantwortungsbereich des Opfers, sondern (auch) in den des Außenstehenden fallen wiirde. Das gilt auch bei etwaigem, rechtlich nicht erwartbarem Sonderwissen des Außenstehenden hinsichtlich des Risikos, daß es zu einer defizitären Entscheidung des Opfers kommt. Nicht dieses ilberlegene Wissen als solches kann die Verbotenheit einer Handlung begriinden, sondern allein der Umstand, daß die beabsichtigte Handlung, die in ihrer Gefährlichkeit durch das Sonderwissen lediglich zur Kenntnis des Handelnden gebracht wird, wegen dieser objektiven Gefährlich-
Das ist freilich bei solchen Autoren anders, die die Rechtsfigur einer fahrlässigen mittelbaren Täterschaft anerkennen; so M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 64 ff., 73; Schmidhäuser, Lehrbuch, 14/36. BGHSt 32, 262, 265; 36, 1, 17; BayObLG, NJW 2003, 371, 372; Otto, in: FS fur Tröndle, S. 175; Arzt, in: GS für Schlüchter, S. 167 f.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 97. In diesem Sinne der Sache nach - wenn auch an Einwilligungsfällen entwickelt Kreuzer, ZStW 100 (1998), 801; Kunz, SchwZStrR 107 (1990), 50 f., 55 f.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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keit unerlaubt ist599. Auch die nach zutreffender h.M. bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht gebotene Beriicksichtigung von Sonderwissen600 ändert also nichts daran, daß es nicht das Sonderwissen als solches ist, welches die Verbotenheit eines Verhaltens begründen kann. Daß die Konturierung der Verantwortungsbereiche für Entscheidungsdefizite unabhängig vom konkreten Wissensstand des Außenstehenden auch praktisch bedeutsam ist, zeigt sich an der Möglichkeit einer Fahrlässigkeitshaftung dort, wo der Außenstehende zwar kein überlegenes Sachwissen hatte, dieses aber hätte haben miissen. Zutreffend ist deshalb eine Entscheidung des OLG Karlsruhe, das bei fehlendem iiberlegenen Sachwissen aus der Stellung des Angeklagten als Schiffseigner den Schluß gezogen hat, daß er die Gefahrlichkeit einer einem Matrosen erteilten Weisung hätte erkennen miissen601. Im übrigen entsprechen die grundsätzlich in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Positionen denen, wie sie auch im Rahmen der Begriindung von mittelbarer Täterschaft diskutiert werden. Auf der einen Seite soil also eine mißbilligte Gefahrschafiung davon abhängig zu machen sein, daß das Opfer (möglicherweise) eine Entscheidung treffen könnte, die in einer Weise defizitär ist, wie sie bei entsprechendem drittschädigenden Verhalten eine strafrechtliche Verantwortung ausschließen oder zumindest beschränken würde602. Auf der anderen Seite steht die Auffassung, daß rechtlich mißbilligt bereits solche Verhaltensweisen seien, die das Risiko einer Entscheidung schaffen oder erhöhen, die in einer Weise defizitär ist, wie sie bei einer Einwilligung deren Wirksamkeit ausschließen würde603.
cc) Die normative Relevanz von Defiziten, die zu Selbstschädigungen oder -gefährdungen führen können, im Kontext der Verhaltensordnung Mit der Einsicht, daß die normative Relevanz des Defizits fur die Beantwortung der Frage, ob die Handlungsfreiheit des Außenstehenden mit Blick auf eine (mögliche) Entscheidung des (potentiellen) Opfers eingeschränkt ist, sich unabhängig von der Vorsätzlichkeit oder Unvorsätzlichkeit des Außenstehenden stellt, ist der Boden bereitet fur einige Hinweise, die bei der Konturierung der Verantwortungsbereiche zu beachten sind. Die Gewinnung eines Maßstabs, an dem sich die normative Relevanz des Defizits (möglicher) selbstverfügender Entscheidungen beurteilt, ist schon mit der Einsicht vorbereitet, daß es um die Beantwortung der Frage geht, welche Einschränkungen seiner Freiheit der Außenstehende mit Blick auf eine (mögliche) defizitäre Entscheidung des (potentiellen) Opfers hinnehmen muß. Der Konflikt ist von ei599 600
601 602 603
Zutreffend Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, S. 65; Frisch, Straftat und Straftatsystem, S. 182 ff.; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 180. Siehe Eser, Strafrecht II, Fall 21 Rn. A 15c; Kaminski, Der objektive Maßstab, S. 87; Quentin, JuS 1994, L 50; Wessels/Beulke, AT, Rn. 670; differenzierend Jakobs, AT, 7/47 ff. O L G (SchiffObGer.) Karlsruhe, N Z V 1996, 325 f. In diesem Sinne z.B. Roxin, A T I, § 11 Rn. 92, 98. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 166 ff.
472 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
ner kaum einmal in seinem vollem Umfang gesehenen Komplexität. Es geht nicht nur - aber auch und vor allem - um die Handlungsfreiheit des Außenstehenden und die Gutserhaltungsinteressen des Opfers604, sondern es geht z.B. auch um ein durchaus denkbares Interesse des Opfers, in seinen defizitären Entscheidungen Verantwortung zu tragen. Denn die Erhaltung des Gutes mag fur die Person mitunter kein hinreichender Grund dafür sein, fremde Rucksichtnahme zu verlangen und sich damit gleichsam unter fremden Schutz zu stellen, wo sie an sich in der Lage gewesen ware, die defizitäre Entscheidung zu vermeiden. Aber nicht nur dort, wo die Person die defizitäre Entscheidung in der konkreten Situation oder in deren Vorfeld hätte vermeiden können, ist es denkbar, daß die Begründung von Verantwortung des Außenstehenden nicht im Interesse des Entscheidenden liegt. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen dafür, in einem bestimmten Bereich Verantwortung fur Entscheidungen selbst dort tragen zu wollen, wo in der konkreten Entscheidungssituation eine selbstbestimmte Gestaltung nicht mehr gelingen konnte. So mag es in einem engen persönlichen Bereich durchaus im Interesse des Entscheidenden liegen, Defizite grundsätzlich selbst zu vertreten und damit der sonst naheliegenden Begriindung von Obliegenheiten des Außenstehenden zur Erforschung etwaiger Defizite den Boden zu entziehen. Dem korrespondiert ein Interesse des Außenstehenden, möglichst wenig auf die Erforschung fremder Interna angewiesen zu sein. Auch dann, wenn man eine Obliegenheit des Außenstehenden zur Erforschung etwaiger Entscheidungsdefizite nicht fordera wiirde, mag es fur beide Beteiligten keine angemessene Regelung sein, wenn bei Unsicherheit iiber das Risiko einer defizitären Entscheidung der Außenstehende möglicherweise zum Unterlassen der Handlung verpflichtet ware605. Es geht schließlich bei einer sachgerechten Konturierung der Verantwortungsbereiche auch darum, inwieweit der Außenstehende etwa durch Täuschung oder Zwang das Defizit hervorgerufen hat606. All diese Gesichtspunkte kommen zudem in unterschiedlicher Intensität und Gewichtung zur Geltung, je nach der Bedeutung der betroffenen Freiheit des Außenstehenden (insbesondere in Bezug auf die Verfolgung eigener Interessen), je nach der Bedeutung des auf seiten des Opfers bedrohten Rechtsgutes, je nach der Wahrscheinlichkeit seiner Schädigung, je nach der Art des Defizits und all der weiteren Umstände, die im je konkreten Rechtsverhältnis bei der interessengerechten Verteilung von Verantwortung eine Rolle spielen können607. Neben solchen Gesichtspunkten, mit deren Nennung naheliegende Interessen der Beteiligten in ihrer normativen Relevanz fur die Konturierung von Verantwor604
So Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 164, 167. 605 Y g l f r i s c h t Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 160 ff. 606 Neumann, JA 1987, 254. 607 Die Variabilität der Standards fur die Beurteilung von Entscheidungen als verantwortlich findet sich auch bei Feinberg, Harm to self, S. 117 ff. betont. Dessen „rules of t h u m b " lauten: 1. „The more risky the conduct the greater the degree of voluntariness required if the conduct is to be permitted" (S. 118); 2. "The more irrevocable the risked harm, the greater the degree of voluntariness required if it is to b e permitted" (S. 120); 3. "In still other ways the standard of voluntariness must be tailored to various special circumstances" (S. 121).
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
473
tungsbereichen erinnert werden, stehen weiter auch solche Verantwortlichkeiten fur Defizite, die nicht mehr auf ihren rationalen Hintergrund reflektiert werden, sondern in der Dimension der Geschichte eine Verfestigung erfahren haben, die entweder als Ausdruck von Rationalität rekonstruiert werden kann, oder aber auch dort, wo rationale Grilnde fehlen oder überholt sind, nur mehr die Notwendigkeit einer (dann: dezisionistischen) Verantwortungsverteilung oder die Dignität des Hergebrachten und Vertrauten fur sich haben608. Die Rechtsordnung bietet fur die Auflösung dieser teils gegenläufigen Interessen nur einige explizite Anhaltspunkte (wie z.B. die Regelung des § 216 StGB, dazu noch unten 4. b)). Vor allem wird das Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit unter dem Postulat der Freiheitsmaximierung zur Auflösung von Konflikten heranzuziehen sein. Die angedeutete Komplexität der Interessenlage und der Mangel an positivrechtlichen Vorgaben machen bereits eines deutlich, nämlich daß eine holzschnittartige Lösung, die von den fur die Entfaltung von Freiheit im wechselseitigen Verhältnis relevanten Gesichtspunkten abstrahiert, kaum die angemessene sein kann. Wenn auch die Klarheit und Orientierungssicherheit durchaus Kriterien sind, die fur die Sachgerechtigkeit eines materialen Konzepts angefuhrt werden können, so kann die Klarheit einer Regelung doch nicht den Anspruch an deren Sachgerechtigkeit dominieren609.
3.
Voriiberlegungen zur Verantwortlichkeit für (mögliche) defizitäre Entscheidungen bei Einwilligung und Selbstschädigung bzw. -gefährdung
Die Komplexität der relevanten Gesichtspunkte ist bereits ein Argument daftir, daß es im Grundsatz angemessen ist, die normative Relevanz (möglicher) defizitärer Entscheidungen eher in Anlehnung an die Bemiihungen zu entwickeln, wie sie im Bereich der Einwilligungslehre angestellt worden sind, als unter Riickgriff auf die Regeln zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit 610 . Denn das System der Wirksamkeitsbedingungen der Einwilligung bei defizitären Entscheidungen ist darauf eingerichtet, die Freiheitsinteressen der Beteiligten umfassend aufzunehmen und entsprechende Differenzierungsleistungen zu erbringen, während die Regeln zum strafrechtlichen Verantwortungsausschluß grundsätzlich an dem Vermögen zur
Die Orientierung an der Tradition schafft Erwartungssicherheit, der - vor aller Sinnhaftigkeit der konkreten Regelung - bereits eine freiheitssichernde Funktion zukommt; vgl. Hösle, Was darf und was soil der Staat bestrafen?, S. 29 mit Fn. 29. Zutreffend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 167, 177; daran anschließend Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm", S. 320. Zudem fuhrt eine Übertragung der fur die Einwilligung entwickelten Maßstäbe kaum zu größerer Unsicherheit als etwa die Anwendung des Maßstabes aus § 20 StGB; siehe dazu Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 253. Siehe - auch nur nachfolgenden Argumentation - Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 167 f.
474 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Befolgung von Rechtsnormen und der Zumutbarkeit rechtstreuen Verhaltens festhalten und Ausnahmen von diesem Grundsatz erst dort postulieren, wo die Person zu rechtstreuem Verhalten nicht in der Lage oder ihr dies - in engen Grenzen nicht zumutbar ist. Der wechselseitige Anspruch auf Anerkennung als gleicher und freier im rechtlichen Verhältnis verlangt diese Anstrengung zur Verwirklichung des Rechts. Die Festlegung der Ausnahmen - also der Grenzen deliktischer Verantwortung - wird im Wesentlichen nicht durch Überlegungen bestimmt, in denen die Handlungsfreiheit des Täters oder eine Verantwortungstlbernahme durch das Opfer eine Rolle spielen611. Denn die deliktische Qualität des Verhaltens impliziert bereits, daß der Täter die Grenzen seiner Handlungsfreiheit iiberschritten hat und das Opfer fur seine Verletzung keine (voile) Verantwortung trägt. Geht es hingegen — wie bei der Beurteilung der normativen Relevanz defizitärer Selbstschädigungen bzw. -gefährdungen - nicht um die Verantwortlichkeit fur ein deliktisches Geschehen, sondern um die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten mit Riicksicht auf die Möglichkeit einer defizitären Entscheidung überhaupt deliktischen Charakter erhält, so tragen die zur Konturierung deliktischer Verantwortlichkeit maßgeblichen Überlegungen nichts zur Lösung bei. Denn während bei deliktischem Verhalten bereits durch diese Vorwertung als „deliktisch" feststeht, daß weder die Handlungsfreiheit des Täters noch das Selbstbestimmungsrecht des Opfers einen Ausschluß der Verantwortung tragen, ist dies im Rahmen der Konturierung von Verantwortungsbereichen, deren Bestimmung erst iiber die deliktische Qualität des Verhaltens entscheidet, gerade noch offen. Diesen Überlegungen verwandt ist es auch, wenn Herzberg fur die Einwilligungslösung geltend macht, bei der Selbstschädigung entfalle die Appellwirkung des rechtlichen Verbots, welche bei der Drittschädigung überwunden werden müsse, was in diesen letztgenannten Fallen die Verantwortung ausdehne612. Diese Überlegungen verfehlen freilich in ihrem psychologisierenden Verständnis der Norm den entscheidenden Punkt613. Nicht die hemmende Wirkung der Strafdrohung, sondern die Qualität eines Verhaltens als Unrecht führt dazu, daß die Person im Rahmen des Zumutbaren alle ihre Fähigkeiten aufbieten muß, um sich rechtlich zu verhalten. Es ist die Qualität des Täters als Rechtsperson, aufgrund deren diese Anstrengung zu verlangen ist. Es fUhrt deshalb auch nicht weiter, wenn Roxin sich zur Verteidigung der Gegenposition auf die psychologisierenden Überlegungen zum „Gegenmotiv der Furcht vor Strafe" einläßt und Herzberg entgegenhält, daß „der Mensch immer noch lieber andere als sich selbst Wo das Verhalten des Opfers doch eine Rolle spielt, wie insbesondere bei § 33 StGB, spielt es diese Rolle zum einen bereits in Richtung auf ein vermindertes Unrecht und zum anderen in einer spezifischen Weise, die mit einer defizitären Selbstschädigung/gefährdung nicht gleichgesetzt werden kann. Herzberg, JuS 1974, 378. Siehe zu diesem Gedanken schon (beiläufig) Engisch, in: FS fllrH. Mayer, S. 412. So auch Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 256 f.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfilgungen wegen Entscheidungsdefiziten
475
schädigt" und diese Furcht vor der Beeinträchtigung eigener Interessen eine hemmende Wirkung entfalte, die der Furcht vor Strafe in ihrer Intensität entspreche614. Das ist normativ belanglos, weil die Überwindung einer Selbstschädigungshemmung psychisch noch so schwer sein mag - ihre Überwindung sagt nichts darüber aus, daß der sich selbst Schädigende deshalb auch die Verantwortung fur diese Schädigung selbst trägt. Denn die Vermeidung von Selbstschädigungen ist keine Obliegenheit des Einzelnen, der seine psychischen Widerstände gegen ein solches Verhalten im Interesse Außenstehender zu aktivieren hätte. Geht es bei der defizitären Selbstschädigung/-gefährdung also wie bei der Einwilligung um die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der Beteiligten in Hinblick auf eine defizitäre selbstverfugende Entscheidung des einen von ihnen, geht es also in beiden Fallen um eine Konturierung des Rechtsverhältnisses unter Berilcksichtigung der Freiheitsinteressen der Beteiligten, so verlangt dieser sachliche Zusammenhang danach, grundsätzlich von den fur die Bewältigung dieser Problemlage entwickelten Grundsätzen zur (Un-) Wirksamkeit von Einwilligungen auszugehen615. Dennoch greift es zu kurz, die Art der Verfugung des Opfers lediglich als eine naturalistische Unterscheidung zu apostrophieren und deshalb fiir eine bei Einwilligung und Selbstschädigung/-gefährdung gleiche Konturierung der Verantwortungsbereiche zu plädieren616. Dabei kann freilich noch nicht die von Roxin vorgetragene Kritik an der unmodifizierten Übertragung der im Bereich der Einwilligung entwickelten Kriterien die Stärke einer solchen Konzeption erschlittern617. Nach Roxin sei der Einwilligende deshalb starker schutzbedtirftig, weil er „meist keinen Einfluß mehr auf das weitere Geschehen" habe, während der sich selbst Schädigende „bis zuletzt Herr der Situation" sei und „die Entscheidung, ilber das was geschieht, in der Hand" habe618. Das ist schon phänomenologisch nicht sonderlich überzeugend, da der 614 615 616
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Roxin, Täterschaft, S. 668. So auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 166. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 169 ff., der freilich auf S. 171 f. in Fn. 67, S. 222 ff. auch Modifizierungen formuliert. Kritisch zur unveränderten Übertragung der Maßstäbe auch Derksen, Handeln auf eigene Gefahr, S. 188 ff. Daß dies fur die von Roxin, Täterschaft, S. 669 gegen Herzberg vorgetragene, an einem Fallbeispiel illustrierte Polemik gilt, sei nur am Rande erwähnt. Roxin fragt: „Soil denn wirklich ein Ehemann, der seiner Frau androht, ihr untreu zu werden, falls sie nicht ihre nach seiner Meinung unmoderne Frisur durch Stutzung ihrer langen Haare seinem Geschmack anpasse, wegen Körperverletzung bestraft werden, wenn die Frau um des Ehefriedens willen dem Wunsche ihres Mannes nachkommt?" Das „Nein" auf diese Frage bedarf zu seiner Begründung keiner Ablehnung der Einwilligungslösung, denn die Antwort müßte die gleiche sein, wenn der Ehemann mit dieser Drohung erreichen würde, daß seine Frau ihm erlaubt, ihr die Haare zu schneiden. Roxin, Täterschaft, S. 668; ders., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, S. I l l f. Ähnliche Überlegungen bei Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 109 f. („allein das todbringende Behandlungsveto und die eigenkörperlich
476 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Einwilligende seine Zustimmung jederzeit widerrufen kann619. Wenn dies den Täter auch nicht von der Vomahme der verletzenden Handlung abhalten muß (was aber freilich in den Fallen außerhalb der abgenötigten Einwilligung vielfach der Fall sein wird), so flihrt ein solcher Widerruf doch dazu, daß eine Rechtfertigung nicht erst wegen mangelnder Wirksamkeit der Einwilligung, sondern wegen deren Fehlens ausgeschlossen ist; was bleibt ist eine ganz „normale" Fremdverletzung, deren Qualität durch die voriibergehende Bewilligung nicht berührt wird. Das Opfer bedarf also nicht mit Blick auf die Steuerung des äußeren Geschehens durch den Außenstehenden besonderen Schutzes durch die Statuierung enger Wirksamkeitsvoraussetzungen der Einwilligung. Die Unterschiede in der Herrschaft ilber das Geschehen bei Einwilligendem und Selbstschädigendem werden in dieser Allgemeinheit auch bei Roxin nicht durchgehalten, der selbst davon spricht, der Einwilligende habe „meist" keinen Einfluß mehr auf das weitere Geschehen - dann fragt sich freilich, warum sich nicht auch der Maßstab fur die Beurteilung der normativen Relevanz eines Entscheidungsdefizits nach den Herrschaftsverhältnissen im Einzelfall bestimmt. Das läßt sich wohl nur so erklären, daß die behauptete Sachgerechtigkeit einer Differenzierung anhand der Herrschaftsverhältnisse hinter der Klarheit der Maßstäbe zurückstehen soil, die durch eine Orientierung am Kriterium strafrechtlicher Verantwortlichkeit in den Fallen der Selbstschädigung und -gefährdung gewährleistet sein soil620. Aber nicht nur der — der Sache nach eingeräumte - Verzicht auf die sachgerechte Beurteilung im Einzelfall spricht gegen diese Sichtweise. Selbst wenn man demjenigen, der das Opfer auf eine infolge eines Defizits unwirksame Einwilligung hin verletzt, eine größere instrumentale Steuerungsmacht als demjenigen einräumt, der das Opfer durch Täuschung oder Nötigung zu einer Selbstverfugung bewegt, ist nicht einzusehen, warum dieser Unterscheidung fur die normative Relevanz von Entscheidungsdefiziten Gewicht zukommen soil. Dabei sollte zunächst klar sein, daß eine Argumentation aus Unterschieden in der
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vollzogene Selbsttötung wahren dem Todsuchenden die Herrschaft iiber das Geschehen. Allein sie belassen dem seinen Tod Begehrenden die Möglichkeit, seinen Sinn zu ändern, noch vorhandene Rettungschancen anzunehmen oder auf Weiterhandeln lebenserhaltend zu verzichten". Bei der bewilligten Fremdtötung sei hingegen das Opfer des Täter „Tun und dessen Macht unterworfen"); Eser, Zum „Recht des Sterbens", S. 33; ders., Neues Recht des Sterbens?, S. 400 (während es beim Suizid „nur um einen Konflikt von Lebensschutz und Selbstbestimmung" gehe, komme „iiberall dort, wo die Letztentscheidung iiber Leben oder Tod einem Dritten anheim gegeben wird, damit auch ein wesentliches Stuck von Fremdbestimmung mit ins Spiel"; es werde sogar „im Grunde die Selbstbestimmung durch die Fremdbestimmung ersetzt"); Giesen, JZ 1990, 934 („Wer die Entscheidung iiber sein Leben einer anderen Person überläßt, handelt nicht autonom, sondern heteronom"); Wassermann, DRiZ 1986, 296 (bei der aktiven Sterbehilfe gehe es „nicht um Selbst-, sondern um Fremdbestimmung"); Wilms/Jäger, ZRP 1988, 44, 45 („Die Tötung auf Verlangen stellt eine Fremdbestimmung der Person des Todeswilligen insgesamt dar"). Siehe dazu zutreffend Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft, S. 252 f. Roxin, in: FS für Dreher, S. 345 f., 347.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
477
Steuerungsmacht sich nicht auf das Kriterium der Tatherrschaft stiltzen kann. Denn ob der Außenstehende die Tatherrschaft inne hat, hängt nach dem sonst auch und gerade von Roxin - propagierten Verständnis von Tatherrschaft maßgeblich davon ab, ob ein Entscheidungsdefizit des Vordermannes die Herrschaft des Hintermannes begründet. Es wilrde aber in einen Zirkel ftlhren, aus dem Kriterium der Tatherrschaft ableiten zu wollen, welches Defizit zur Begründung von Tatherrschaft ausreicht621. Folglich karm der Hinweis auf das Fehlen dieser „Herrschaft" - die nicht die herkömmliche Tatherrschaft sein kann - auch nicht fur den quasi nur teilnehmenden Charakter des Außenstehenden angeführt werden622. Die (behaupteten) Unterschiede in der instrumentalen Steuerungsmacht könnten allenfalls dann Rückschlüsse auf Unterschiede hinsichtlich der fur eine Haftung des Außenstehenden erforderlichen Defizite zulassen, wenn den Defiziten je nach Umfang der Steuerungsmacht eine das Opfer in unterschiedlicher Weise dem Täter ausliefernde Bedeutung zukäme. Tatsächlich schwebt Roxin offenbar der Gedanke vor, daß die instrumentale Steuerung eines Geschehens durch den Entscheidenden zugleich auf eine Festigkeit und Überlegtheit des Entschlusses hinweise, an der es bei der Einwilligung, welche vielfach „ein schnell gesprochenes, oft mißdeutbares oder übereiltes und bisweilen bereutes Wort" sei623, fehle. Die Einwilligung ware so gesehen anfalliger fur Defizite als die Selbstschädigung und könnte deshalb größere Schutzbedürfnisse wecken. Am Fall des abgenötigten selbstschädigenden Verhaltens, an dem sich der Unterschied zur Einwilligungslösung am deutlichsten zeigen läßt, würde dies bedeuten, daß es gewissermaßen „leichter" ware, eine Person zu einer Einwilligung als zu einer Selbstschädigung zu nötigen. In diesem Kontext steht auch die Überlegung Roxins, daß die Widerstandsfähigkeit des Genötigten durch die natürliche Selbstschädigungshemmung gestärkt sei (und zwar in einer Weise, die eine parallele Behandlung zu den Fallen der mittelbaren Täterschaft bei der Nötigung zu einem drittschädigenden Verhalten erlaubt, bei der die hemmende Wirkung von der strafrechtlich sanktionierten Verbotsnorm ausgehe624)625. Aber es geht ja auch gar nicht darum, dem Außenstehenden die Verantwortung für defizitäre Entscheidungen aufzubürden, die der sich selbst Schädigende unter Berücksichtigung der natürlichen Selbstschädigungshemmung leicht vermeiden konnte. Da eine Unterschreitung der Schwelle rechtlich (regelmäßig auch: strafrechtlich) verbotener Nötigung unter den vertretenen Auffassungen nicht zur Diskussion steht, kann es nur um die Frage gehen, inwieweit der Hintermann für solche Entscheidungsdefizite die Verantwortung tragen soil, bei denen er rechtlich verbotenen Druck auf das 621 622 623 624
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Ähnlich Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 444. Wie dies bei Roxin, Täterschaft, S. 668 f. der Fall ist. Roxin, in: F S für Dreher, S. 345. Den Gedanken, daß der zu einer Drittschädigung Genötigte durch die Verbotsnorm ein hemmendes Gegenmotiv verspüre, d a s bei der Selbstschädigung fehle, hat Herzberg, JuS 1974, 378 als Argument daflir in die Diskussion gebracht, daß die Schwelle fur die Haftung des Nötigers bei selbstschädigendem Verhalten niedriger zu hängen sei als bei drittschädigendem Verhalten (dazu schon oben). Roxin, Täterschaft, S. 668.
478 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
Opfer ausgeiibt hat. Übt der Hintermann aber Entscheidungsdruck in einer Weise aus, die ihm mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht (nach § 240 StGB) verboten ist, dann ist nicht recht einzusehen, warum er nicht im Verhältnis zum Opfer auch die Verantwortung fur die abgenötigte Entscheidung tragen soil626. Der Gesetzgeber hat in diesen Fallen doch gerade die Annahme zugrundegelegt, daß die natürliche Selbstschädigungshemmung das Opfer nicht hinreichend davor schützt, dem nötigenden Druck nachzugeben627. Wenn also bei der Erteilung von Einwilligungen einerseits und selbstschädigenden bzw. -gefährdenden Verhaltensweisen andererseits Unterschiede in dem Vermögen bestehen, nötigendem Druck standzuhalten, so müßten diese Unterschiede ihre normative Berilcksichtigung doch schon bei der Beantwortung der Frage finden, ob ein nötigendes Verhalten die Entscheidungsfreiheit in einer Weise beeinträchtigt, die ein Verbot der Nötigungshandlung (bzw. sogar ihre Strafbarkeit nach § 240 StGB) begriindet. Lassen sich Differenzierungen hinsichtlich der normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten auch nicht aus der unterschiedlichen instrumentalen Mächtigkeit bei der SelbstschadigungZ-gefahrdung einerseits und der Fremdschädigung/gefährdung andererseits begründen, so ist damit noch nicht fur eine unterschiedlose Behandlung der Entscheidungsdefizite in diesen Fallgruppen plädiert. Andere Unterschiede zwischen den Fallen der Selbstschädigung bzw. -gefährdung zu denen der bewilligten Fremdschädigung bzw. -gefährdung zeigen eine normative Relevanz, die freilich nicht die Übertragung der Verantwortungsmaßstäbe fur drittschädigendes Verhalten auf selbstschädigendesAgefährdendes Verhalten legitimiert, wohl aber bei der Konturierung der Verantwortungsmaßstäbe Berilcksichtigung verlangt. Sachgerecht ist also eine durchaus eigenständige Konturierung der Verantwortungsbereiche, wobei mit Blick auf den selbstverfügenden Charakter der selbstschädigenden bzw. -gefährdenden Entscheidung und die damit begrilndete sachliche Nähe zur Einwilligung die dort entwickelten Prinzipien eine Ftihrungsfunktion übernehmen. Die Aufgabe, fur die Fälle der Selbstschädigung bzw. -gefährdung Maßstäbe zu entwickeln, nach denen sich beurteilt, ob ein Defizit einer (möglicherweise) vom Opfer zu treffenden Entscheidung in dem Sinne relevant In diesem Sinne auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 170 f.; Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 64. Eine ganz andere Frage ist die nach der Verantwortung des Vordermannes in seinem Verhältnis zu einem Dritten, wenn er nicht zu einer Selbstschädigung, sondern zu einer Schädigung dieses Dritten genötigt wird. Während eine Nötigung nach § 240 StGB den Vordermann in seinem Verhältnis zum Hintermann mit Blick auf die abgenötigte Entscheidung entlastet, muß der Vordermann sich gegenilber dem Dritten nach den Maßstäben verantworten, die in diesem Verhältnis des Vordermannes zum Dritten gelten. Freilich beruft sich auch die Gegenauffassung auf den Gesetzgeber, insbesondere auf den positivrechtlich gezogenen „engen Kreis der Griinde, die strafrechtliche Eigenverantwortlichkeit ausschließen" (Bottke, Suizid, S. 254). Aber um strafrechtliche Verantwortlichkeit geht es beim Selbstschädiger gerade nicht und die Berufung auf diese gesetzgeberische Entscheidung müßte aufweisen, daß der Verantwortlichkeit fur Fremdschädigungen die gleichen Grenzen gezogen sind wie der fur Selbstschädigungen. Dazu, daß dies nicht gelingen kann, siehe schon oben.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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ist, daß es als Begründung für eine Einschränkung der Handlungsfreiheit eines Außenstehenden trägt, verlangt also danach, ausgehend vom Bestand der fur die Einwilligung zugrundegelegten Regeln die Unterschiede zu diesen Fallen auf ihre normative Relevanz fur etwaige Modifizierungen der anzulegenden Maßstäbe zu untersuchen. Die Forderung, differenzierte Lösungen zu entwickeln, um zu sachgerechten Entscheidungen zu gelangen, ist praktisch nicht weniger einlösbar als die Entwicklung der Maßstäbe, die bei der Einwilligung anzulegen sind. Hier wie dort geht es daram, im Rahmen und in konsistenter Fortfuhrung der rechtlichen Vorgaben dort zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen, wo der Gesetzgeber eine explizite Entscheidung nicht getroffen hat. Die normativen Gesichtspunkte, die im Verhältnis zur Einwilligung Differenzierungen nahelegen, sind nicht neu, verlangen vielmehr gerade deshalb Beachtung, weil sie auch sonst fur die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen und fur die Beantwortung der Frage, warm eine Risikoschaffung rechtlich mißbilligt ist, herangezogen werden. Dabei liegt es nahe, von den normativen Implikationen der hier entwickelten Unterscheidung zwischen den Fallen der (einverständlichen) Fremdschädigung-/ gefährdung einerseits und den Fallen der Selbstschädigung-/gefährdung andererseits auszugehen. Es war gezeigt worden, daß der Unterschied zwischen diesen Fallgruppen darin liegt, daß das Opfer in den erstgenannten Fallen erst durch eine Umgestaltung des Rechtsverhältnisses ein grundsätzlich verbotenes Verhalten zu einem erlaubten macht, während es bei den zweitgenannten Fallen darum geht, ob ein bestimmtes Verhalten ohne Rilcksicht auf eine konkrete Opferentscheidung deshalb erlaubt ist, weil eine selbstverfugende Entscheidung des Opfers vom Recht zu respektieren ware und deshalb ein Verbot des Verhaltens des Außenstehenden mit Blick auf das Selbstverfugungsrisiko nicht legitimierbar ware. Die normative Relevanz eines Defizits liegt damit im Fall der Einwilligung darin, daß eine Erweiterung des rechtlichen Handlungsspielraums des Außenstehenden mißlingt, während die mit Blick auf ein mögliches Entscheidungsdefizit mißbilligte Schaffung des Risikos einer Selbstschädigung bzw. -gefahrdung gerade umgekehrt die Einschränkung einer sonst dem Außenstehenden zustehenden Freiheit bedeutet. Das Defizit ist im einen Fall ein Argument fur die Versagung einer Freiheitserweiterung, im anderen Fall ein Argument fur eine Freiheitseinschränkung. Diese Einsicht ist fur die Konturierung von Verantwortungsbereichen fur defizitäre Entscheidungen bedeutsam. Derm die bloße Nichterweitung von Handlungsfreiheit mit Blick auf die Unwirksamkeit einer defizitären Einwilligung stellt einen weniger weit reichenden Eingriff dar als die Reduzierung grundsätzlich gegebener Handlungsfreiheit mit Rücksicht auf die Defizite anderer. Im letzteren Fall ist es deshalb besonders begründungsbedürftig, wenn der Außenstehende die Lasten des Defizits tragen soil und nicht der sich (möglicherweise) defizitär Entscheidende. Das folgt nicht nur aus der relativ größeren Freiheitseinbuße bei Einschränkung sonst bestehender Handlungsfreiheit, sondern zusätzlich daraus, daß auch andere Freiheiten in ihrem Schutzbereich betroffen sind als dort, wo infolge Unwirksamkeit einer Einwilligung eine Freiheitserweiterung bloß mißlingt. Die Freiheitserweiterung durch die Einwilligung hängt nämlich von vornherein von deren wirk-
480 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens samer Erteilung ab und auch im Falle ihrer wirksamen Erteilung hat eine Erweiterung rechtlicher Handlungsfreiheit und die Verfolgung sonstiger grundrechtlich geschützter Zielsetzungen (etwa der Berufsausilbung) durch den Erklärungsempfanger nur solange Bestand, wie der Einwilligende seine Erklärung nicht zuriicknimmt. Die jederzeitige Möglichkeit, eine erteilte Einwilligung zuriickzunehmen, zeigt, daß der Außenstehende in seinem Verhältnis zum Einwilligenden nicht in einem Recht auf Vornahme der bewilligten Handlung geschützt ist. Ein rechtlich geschiitztes Interesse kann vielmehr nur bezogen auf Orientierungssicherheit an der Wirksamkeit einer einmal erteilten und nicht zurückgenommenen Einwilligung bestehen 628 . Nicht das Interesse an der Vornahme der Handlung als solches ist im Verhältnis zum Einwilligenden geschützt, sondern daß Interesse daran, daß die Orientierung an einer erteilten (und nicht widerrufenen) Einwilligung das Rechtsverhältnis grundsätzlich nicht verletzt. Die Vornahme solcher Handlungen dagegen, die das Risiko von Selbstschädigungen bzw. -gefährdungen erhöhen, hängt in ihrer Rechtlichkeit nicht von einer zustimmenden Entscheidung des potentiell liber sich selbst Verfugenden ab. Die Handlungsfreiheit des Außenstehenden wie auch die rechtlich erlaubte Verfolgung sonstiger Zwecke (etwa der Berufsausilbung) bleibt auch unabhängig von einer Bewilligung des Opfers schutzwürdig. Die als solche anerkannten Freiheiten des Außenstehenden sind folglich fur den Fall einer (möglichen) defizitären Opferentscheidung mit den Interessen des Opfers am Unterbleiben der Handlung ins Verhältnis zu setzen. Damit gewinnt das zumindest unter dem Aspekt der allgemeinen Handlungsfreiheit, vielfach aber auch nach speziellen Freiheitsgrundrechten geschützte Interesse an der Vornahme der Handlung selbst Gewicht im Verhältnis zu den Interessen des Opfers 629. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Anspruch auf „Orientierungssicherheit" nicht notwendig mit dem Erkennen oder der Erkennbarkeit eines Entscheidungsdefizits seine Berechtigung verliert. Es ist - insbesondere im Geschäftsverkehr - auch gut möglich, daß sich der Erklärungsempfanger auch dann noch auf eine erklärte Einwilligung verlassen können soil, wenn er deren defizitären Charakter erkennt. Orientierungssicherheit meint also normativ ein „Sich-Verlassen-Dürfen" auf die Wirksamkeit der Entscheidung, nicht das der Außenstehende auch in einem psychologischen Sinn ein Vertrauen in die Freiheit von Defiziten realisiert. Damit werden nicht etwa die Unterschiede zum nachfolgend erörterten Schutz des Interesses an der Vornahme der Handlung selbst nivelliert. Denn auch bei der normativen Bestimmung der Orientierungssicherheit bleibt es dabei, daß nicht etwa das wirtschaftliche Interesse an der Vornahme der Handlung selbst geschiltzt wird, sondern nur das Interesse an einem Geschäftsverkehr, der durch Unsicherheiten über die Wirksamkeit von Erklärungen nicht tangiert werden soil. Dies ist wohl auch der Hintergrund der Forderung von Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 223, wonach nur ein Verhalten, daß „seinem Sinngehalt nach wirklich als Veranlassung zu jenem Verhalten oder als Ermöglichung oder Forderung jenes Verhaltens zu qualifizieren ist, durch welches sich das Opfer unbewußt selbst gefährdet" als tatbestandsmäßige Risikoschaffung in Betracht komme. Dieser Sinngehalt soil dort fehlen, wo ein Verhalten „nur zufällig die entsprechenden Effekte hat" (a.a.O., S. 224), was nach der hier vorgetragenen Konzeption deshalb und insoweit richtig ist, wie das
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Das gilt selbstverständlich insoweit nicht, wie der Außenstehende seine Handlungsfreiheit iiberschreitet, was insbesondere dann auch hinsichtlich der sonst bestehenden Freiheit, eine selbstverfllgende Opferentscheidung zu ermöglichen oder hervorzurufen, der Fall ist, wenn sein Verhalten gerade mit Blick auf das Hervorrufen einer defizitären Entscheidung rechtlich mißbilligt ist, wie dies etwa bei der Nötigung zu einer Selbstschädigung der Fall ist630. Dabei ist nicht erst die strafrechtliche Erfassung nach § 240 StGB ausschlaggebend631, sondern die rechtliche Verbotenheit. Das läßt sich an den bereits erwähnten (4. Teil III. 1.) „Retterunfallen" verdeutlichen, bei denen der Retter sich ohne nötigenden Druck im Sinne von § 240 StGB fur die Vornahme von Rettungshandlungen entscheidet. Zwar ist es dem Entscheidenden hier (soweit nicht im Untätigkeitsfall eine Strafbarkeit aus einem echten oder unechten Unterlassungsdelikt eingreift632) rechtlich wie auch psychisch durchaus möglich, im Schutz der Passivität zu bleiben, aber solidarisches Handeln ist nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen Pflicht (verfassungsrechtlich z.B. in Art. 14 Abs. 2 GG oder als Ausfluß des Sozialstaatsgedankens [Art. 20 Abs. 1 GG]; einfachgesetzlich z.B. nach § 323c StGB), sondern es kann auch dort noch rechtlich schutzwtirdig sein, wo der Einzelne mehr leistet, als das Recht von ihm verlangt633. Erst die Anerkennung der Solidarität als gilltiges Prinzip der Rechtsgemeinschaft macht es iiberhaupt plausibel, Gefahren fur Dritte als Grund einer Konfliktlage fur einen potentiellen Retter in einem mehr als nur subjektiven Sinn zu begreifen. Dann ist es aber auch nicht zwingend, die Konfliktentscheidung zu privatisieren, sondern es eröffhet sich die Möglichkeit, die Herbeifuhrung der Konfliktsituation als Schaffung unerlaubten Entscheidungsdrucks zu erfassen634. Die Parallele zur Nötigung ist offensichtlich635: unter dem Druck der Situation trifft die Person eine im Rahmen des Verniinftigen lie-
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Interesse des Außenstehenden an der Verfolgung seines Handlungsziels in einer Weise ins Gewicht fällt, die es sachgerecht erscheinen läßt, das Risiko einer defizitären Selbstschädigung/-gefährdung beim Opfer zu belassen. Entsprechendes gilt aber selbstverständlich auch dann, wenn nicht eine Selbstschädigung bzw. -gefährung, sondern eine Einwilligung in die Vornahme einer Schädigung bzw. Gefährdung dem Opfer abgenötigt wurde. A.A. Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 64; Otto, in: FS für E.A. Wolff, S. 402. Dazu Frisch, in: FS fur Nishihara, S. 80 f. Allerdings wird eine Handlungspflicht bei solchen Rettungshandlungen, die fur hochwertige Giiter des Retters mehr als nur unerhebliche Risiken bergen, meist mit Blick auf das Zumutbarkeitserfordernis ausgeschlossen sein. Frisch, in: FS fur Nishihara, S. 82 f.; Rudolphi, JuS 1969, 557. Geppert, Jura 2001, 495. Besteht ein besonderes Näheverhältnis zum Geretteten, so wird verschiedentlich die Verantwortlichkeit des Gefahrverursachers mit Blick auf eine § 35 StGB entsprechende Zwangslage des Retters begrtindet (so Roxin, A T I, § 11 Rn. 101; Hellmann, in: FS fur Roxin, S. 283). Diese Lösung greift freilich nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen und sie ist insofern grundsätzlich von der „Nötigungslösung" zu unterscheiden, als es prinzipiell bei der Privatisierung der Konfliktlage des Retters bleibt. Dessen Entscheidung ist keine mit Blick auf ihre inhaltliche Vertretbar-
482 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens gende Entscheidung; aber es ist schon eine Freiheitseinschränkung der Person, in eine solche Entscheidungssituation gebracht zu werden636. Wenn die Handlungsfreiheit des Außenstehenden in den unterschiedlichen Fallkonstellationen in prinzipiell unterschiedlichem Maße betroffen ist, dann zeigt dies deutlich, daß es eine inkonsistente Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte ware, möglichen Schutzbedürfhissen des Opfers mit Blick auf defizitäre selbstverfügende Entscheidungen in den beiden Fallgruppen in gleichem Umfang Geltung zu verschaffen und so gleichbleibende Schutzbedürfhisse zur Begrilndung unterschiedlich intensiver Freiheitseingriffe zu Lasten des Außenstehenden heranzuziehen. Es ist folglich sachgerecht, die Verantwortungsbereiche des Opfers fur Defizite bei selbstschädigenden/-gefährdenden Entscheidungen im Verhältnis zum Außenstehenden weiter zu schneiden als bei der Einwilligung. Es spricht einiges dafür, daß der geschilderte Hintergrund nicht nur in dem Sinne in der Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im einfachen Recht seinen Niederschlag gefunden hat, daß in jedem einzelnen Fall nach den je betroffenen Freiheiten und nach der Schutzwiirdigkeit der mit der allgemeinen Handlungsfreiheit verfolgten Ziele gefragt werden müßte. Vielmehr wird sich aus dem Umstand, daß der Außenstehende bei der Schaffung oder Erhöhung des Risikos selbstschädigenden/-gefährdenden Opferverhaltens grundsätzlich erlaubte, vielfach mit der Verfolgung schutzwiirdiger Ziele verbundene Handlungen vornimmt, ein Prinzip entwickeln lassen, wonach defizitäre Opferentscheidungen bei Selbstschädigungen/-gefährdungen grundsätzlich in weiterem Umfang dem Verantwortungsbereich des Opfers unterfallen als Defizite bei der Einwilligung. Diese Verallgemeinerung entlastet in begrenztem Umfang von Interessenabwägungen im Einzelfall und ermöglicht damit insbesondere den Verzicht auf die Aufklärung von Interna des Außenstehenden, die in der Einzelfallabwägung zu beachten wären. Positivrechtlichen Ausdruck findet diese Verallgemeinerungsleistung etwa in § 216 StGB, wo mit dem auf Fremdtötungen begrenzten Erfordernis des „ernstlichen Verlangens" die Verantwortung für Defizite dem Entscheidenden in weiterem
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keit rechtlich geschützte, sondern sie ist eine defizitäre Entscheidung, fur die das Recht lediglich Verständnis aufbringt und deshalb denjenigen, der die Defektsituation veranlaßt, mit der Haftung belastet. Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 179. Entsprechendes gilt doit, wo das Opfer Risiken eingeht (BGHSt 19, 382, 386 f.) oder eingehen müßte (OLG Celle, N J W 2001, 2816 = StV 2002, 366 f. mit Anm. Walther), um vom Außenstehenden geschaffene Gefahren von sich selbst abzuwenden. - Trifft das Opfer in solchen Fallen eine Entscheidung, die die sonst von ihm anerkannten Maßstäbe rationalen Entscheidens verfehlt, so ist noch nicht ausgeschlossen, daß der die Gefahr durch sein deliktisches Verhalten begründende Außenstehende auch fur diese Entscheidungsdefizite Verantwortung trägt (besonders deutlich in BGH, N J W 1992, 1708; defizitäre Reaktionen, fur die der Außenstehende Verantwortung trägt, können bereits Folge des „Viktimisierungserlebnisses" sein, vgl. Walther, StV 2002, 369).
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
483
Umfang abgenommen ist als dort, wo der Außenstehende lediglich das Risiko eines defizitären Suizidentschlusses schafft oder erhöht637. Es würde selbstverständlich den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, das Gemeinte fur die Vielzahl denkbarer Fallkonstellationen zu konkretisieren; es soil aber immerhin an einigen Beispielen verdeutlicht werden: Wer etwa seinem Nachbarn ein nicht-verschreibungspflichtiges Medikament zur Behandlung einer bestimmten Erkrankung weitergibt, handelt auch dann nicht pflichtwidrig, wenn offensichtlich ist, daß der Nachbar weder die genaue Anwendungsweise kennt noch die Absicht hat, sich durch Lesen des Beipackzettels kundig zu machen, und es deshalb wahrscheinlich ist, daß die Einnahme des Mittels zu leichteren638 Beeinträchtigungen der Gesundheit fllhren wird. Der das Medikament Aushändigende ist in seinem Verhältnis zum Nachbarn weder zu Belehrungen noch dazu verpflichtet, seinen Ruf als hilfsbereiter Mensch durch die Verweigerung der Herausgabe zu ruinieren. Bittet hingegen der zur Einnahme des Mittels nicht mehr fähige Nachbar den Besitzer des Medikaments in offensichtlicher Unkenntnis der richtigen Anwendungsweise darum, ihm das Medikament in einer für ihn schädlichen Dosis einzuflößen, so ist diese Einwilligung aufgrund des Entscheidungsdefizits unwirksam. Das ist nicht etwa die Folge einer äußeren Herrschaft - zumal der Besitzer des Medikaments den Vorgang auf ein Wort des Kranken einstellen wiirde -, sondern hängt unter anderem damit zusammen, daß das Interesse an der Weitergabe bestimmter Gegenstände in weiterem Umfang geschiitzt ist als deren Verwendung im Rahmen bewilligter Fremdschädigungen bzw. -gefährdungen. Die hier vertretene Auffassung fmdet auch den sachgerechten Mittelweg in den Fallen, in denen das defizitär selbstschädigende Verhalten ein Suizid ist. Die Vertreter der Einwilligungslösung modifizieren hier ihren Maßstab entsprechend den Erfordernissen, die an eine unrechtsmindernde Einwilligung gestellt werden, verlangen also, daß der Todeswunsch des Suizidenten als „ernstlich" entsprechend § 216 StGB eingestuft werden kann639. Doch damit wird dem Außenstehenden eine Verantwortung auferlegt, die er nach den Vorstellungen des Gesetzgebers eben nur im Rahmen einer bewilligten Fremdtötung tragen soil640. Das läßt sich an Fallen illustrieren, in denen der Außenstehende in einer Weise auf das Opfer einwirkt, die unterhalb der Schwellen von Täuschung oder Nötigung auf die Hervorrufung eines Selbsttötungsentschlusses gerichtet ist. Im Rahmen von § 216 StGB ist unstreitig bereits das „Überreden" zur Erklärung einer Einwilligung ein Verhal637 638
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Insoweit zutreffend Roxin, Täterschaft, S. 669. A.A. Herzberg, JA 1985, 340 ff. Bei schwereren Beeinträchtigungen oder gar der Gefahr des Todes wird dagegen die Handlungsfreiheit zur Weitergabe des Mittels hinter dem Schutz vor der defizitären Entscheidung zurilckzutreten haben. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 36; Herzberg, JA 1985, 337; M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 221 ff. Kritisch gegen die damit verbundene Ausdehnung der Strafbarkeit etwa Degener, „Die Lehre v o m Schutzzweck der N o r m " , S. 325 und Roxin, Täterschaft, S. 669, der daraus freilich zu Unrecht das Erfordemis ableitet, es bei der von ihm vertretenen analogen A n w e n d u n g der Maßstäbe des Verantwortungsausschlusses bei deliktischen Verhalten zu belassen.
484 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ten, welches die Ernstlichkeit eines Tötungsverlangens ausschließt. Die Übertragung dieses Maßstabs auf die Selbstschädigung würde dazu führen, daß entsprechende Überredung zur Vornahme einer Selbsttötung bereits die Haftung des Außenstehenden nach § 212 StGB begründen würde, obwohl die geltend gemachten Argumente fur einen Selbsttötungsentschluß weder täuschenden Charakter noch eine nötigende Qualität haben, wie sie § 240 StGB fur eine strafrechtlich verbotene Beeinträchtigung der Willensbildung verlangt. Eine solche Verschiebung des Verantwortungsbereichs fur defizitäre Entscheidungen zu Gunsten des Entscheidenden und zu Lasten des Außenstehenden wird auf den unmittelbaren Anwendungsbereich solcher Vorschriften begrenzt sein, die dem Außenstehenden solche Verantworrung explizit auferlegen bzw. eine solche Auferlegung voraussetzen, wie dies bei § 216 StGB der Fall ist. Psychischer Druck etwa wird also auch dort, wo er auf die Begehung eines Suizids gerichtet ist, erst dort die freie Willensbeeinträchtigung in einer die Verantwortung im Verhältnis zum Nötiger ausschließenden Weise beeinträchtigen, wo die Grenze verbotener Nötigung erreicht ist. Einen Fall, in dem (unter anderem) eine Täuschung für einen Selbsttötungsentschluß ursächlich geworden war, hatte der BGH zu entscheiden641: Die Angeklagte, die ein ehebrecherisches Verhältnis unterhielt, plante ihren Ehemann in der Weise beseitigen, daß sie ihn dazu überreden wollte, das tödliche Gift selbst zu trinken. Zu diesem Zweck schlug sie ihm vor, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der Ehemann, der sehr an seiner Frau hing und unter ihrer Untreue litt, erklärte sich damit einverstanden. „Die Angeklagte sagte, sie habe die Gifhnischung bereits fertiggestellt. Auf ihren Vorschlag fuhren beide an einen einsamen Ort. Die Angeklagte fuhrte den Wagen. Um ihren Ehemann weiterhin in Sicherheit zu wiegen, daß sie mit ihm sterben werde, versprach sie ihm, noch ein letztes Mai mit ihm geschlechtlich zu verkehren. Auf einem menschenleeren Großparkplatz hielt sie an. Beide entkleideten sich teilweise. H.M. (der Ehemann) nahm einen kräftigen - nach den Feststellungen bereits tödlichen - Schluck der giftigen Mischung". Der BGH hat die täterschaftliche Verantwortlichkeit der Angeklagten darauf gestützt, daß sie „ihren Ehemann nicht nur durch die Täuschung in den Tod treiben, sondern zugleich auch die Herrschaft über den von ihr geplanten Geschehensablauf fest in der Hand behalten wollte und behalten hat"; ob dagegen die Täuschung über die Bereitschaft, mit ihm zu sterben, allein ausgereicht hätte, um eine Täterschaft zu begründen, hat der BGH offen gelassen642. Eine tragfähige Begründung der Täterschaft des Angeklagten ist so nicht geleistet643. Denn auch die Grilndlichkeit der Vorbereitung und die Intensität der Unterstützung begründen kein rechtliches VerBGH, GA 1986, 508; dazu Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 442 ff; Charalambakis, GA 1986, 485 ff.; Freund, AT, § 10 Rn. 63 ff., 99; Munoz Conde, ZStW 106 (1994), 549 ff; Neumann, JA 1987, 244 ff; Roxin, Täterschaft, S. 596 ff. BGH, GA 1986, 508; ähnlich, Zaczyk, Selbstverantwortung, S. 46. Zutreffend Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 443; Roxin, Täterschaft, S. 598.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverftigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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bot der - erlaubten - Förderung eines selbstbestimmten Suizids. Schafft oder erhöht der Außenstehende das Risiko einer selbstschädigenden Handlung, dann setzt dies fur eine stafrechtliche Haftung aus einem individualgüterschützenden Tatbestand voraus, daß die intendierte selbstschädigende Handlung des Opfers auf einer defizitären Entscheidung beruhen wilrde. Sorgfältige Planung und Förderung einer Selbstschädigung führen aber noch nicht dazu, daß die so unterstiltze Entscheidung defizitär ist. Ein Entscheidungsdefizit liegt hier vor allem in der Fehlvorstellung, die Angeklagte wolle mit ihrem Mann aus dem Leben scheiden644. Im Rahmen von § 216 StGB wiirde eine solche Fehlvorstellung das Vorliegen eines ernstlichen Tötungsverlangens ausschließen645; die Übertragung dieser Grundsätze auf den hier vorliegenden Fall der Selbstschädigung wiirde also die Täterschaft der Angeklagten begriinden. Aber dieses Ergebnis diirfte sich allein mit Blick auf die Versagung der Priviligierung im Einwilligungsfall nicht begriinden lassen. Vielmehr gehört die Abgabe der Erklärung, aus dem Leben scheiden zu wollen, grundsätzlich zur Freiheit der Person, und zwar unabhängig davon, ob sie ernst gemeint ist oder nicht646. Am deutlichsten wird diese Freiheit vor dem Hintergrund, daß die spezifische Gefährlichkeit des Verhaltens nicht etwa durch den inneren Vorbehalt des Erklärenden, sondern allein durch den objektiven Erklärungsinhalt begründet wird. Jedenfalls fur die ernstgemeinte Äußerung eines Sterbevorhabens ist aber klar, daß sie nicht mit Blick auf ihre möglicherweise motivatorische Kraft, die sie auf andere haben kann, verboten ist. Grund der Verbotenheit kann also nicht die Äußerung als solche, sondern nur der Umstand sein, daß die Angeklagte in Wahrheit nicht bereit war, ihrem Ehemann in den Tod zu folgen. Soil die Angeklagte fflr diese Fehlvorstellung - und damit schließlich fur die Suizidbegehung - auch rechtlich verantwortlich sein, so setzt dies aber voraus, daß es hinsichtlich der Äußerung von Suizidwünschen eine rechtliche Pflicht zur Wahrhaftigkeit gibt. Nur unter dieser Voraussetzung könnte umgekehrt der Empfänger einer solchen Erklärung auch seine eigene Planung im Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit der Erklärung einrichten. Es gibt aber prinzipiell - unabhängig von der inneren Einstellung zum Erklärten - keine Verpflichtung, eine solche Erklärung deshalb zu unterlassen, weil sie andere zur Suizidbegehung motivieren könnten. Dies gilt auch dann noch, wenn der andere in - nicht pathologischem Sinne - niedergeschlagen und deprimiert ist. Eine in der bisherigen Auseinandersetzung noch nicht adäquat gewürdigte Besonderheit des BGH-Falles liegt allerdings darin, daß die Vorspiegelung gerade durch die Ehefrau erfolgt war, die als solche ihrem Mann durch ein 644 645 646
Dieses Entscheidungsdefizit halten etwa Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 448; Jescheck/ Weigend, AT, S. 666 fur den maßgeblichen, tatherrschaftsbegründenden Umstand. Siehe Eser, in: Schönke/Schröder, § 216 Rn. 8; Horn, in: SK StGB, § 216 Rn. 8. A.A. Neumann, in: NK, Vor § 211 Rn. 67, wenn die daraufhin getroffene Entscheidung fur einen Suizid eine „nachvollziehbare Reaktion auf die fragliche Fehlvorstellung darstellt".
486 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
rechtlich besonders geschütztes Vertrauensverhältnis verbunden ist647. Zwar sind auch Eheleute einander nicht verpflichtet, die Realisierung des selbstbestimmten Suizidwunsches des je anderen zu vereiteln648, aber das schließt noch nicht aus, daß im Rahmen der durch die Ehe begründeten besonderen rechtlichen Beistandspflicht das Vertrauen darauf geschiltzt wird, daß ein Ehegatte nicht durch wahrheitswidrige Behauptungen Motive fur den Suizid des anderen setzt. Berilcksichtigt man die pflichtverletzende Qualität, die Handeln und garantenpflichtwidriges Unterlassen je fur sich genommen haben können, dann liegt es nahe, ein fur sich genommen nichthaftungsbegrilndendes Handeln in Verbindung mit einer fur sich genommen nicht-haftungsbegründenden Garantenstellung als pflichtverletzendes Verhalten ausreichen zu lassen. Dahinter steht der Gedanke, daß bei der Bestimmung der im konkreten Rechtsverhältnis bestehenden Pflichten neben dem Achtungsanspruch, den Personen einander aus ihrem wechselseitigen Verhältnis der Gleichheit gleichsam in ihrem Grundverhältnis schulden, auch besondere Verpflichtungen bestehen können, die etwa in der wechselseitigen Zusicherung von Beistandsleistungen ihren besonderen Grund haben können. Eine sonst nicht rechtsverletzende Handlung kann dann vor dem Hintergrund der besonderen Pflichtenstellung gegeniiber dem anderen fur eine tatbestandliche Verletzung des Rechtsverhältnisses ausreichen649. Mit dem Gedanken, daß die Handlungsinteressen des Außenstehenden in den Fallen der Einwilligung und denen der Selbstschädigung/-gefährdung in unterschiedlicher Weise Beriicksichtigung verdienen, ist freilich nur ein erstes Kriterium in seinem Differenzierungsvermögen bei Beurteilung der Verantwortung fur defizitäre Entscheidungen erwiesen worden. Es handelt sich um den auch sonst anerkannten Gesichtspunkt, daß bei der Abgrenzung von Verantwortungsbereichen das Gewicht der kollidierenden Freiheiten der Beteiligten zu beriicksichtigen ist.
Charalambakis, GA 1986, 503 ff. erfaßt das Problem noch nicht voll, weil er zwar die Fragen thematisiert, ob die Angeklagte in ihrer Eigenschaft als Ehefrau oder infolge ihrer vorangegangenen Einwirkung auf die Willensbildung des Opfers als Garantin haften könnte. Aber in diesen gegeneinander isolierten Fragestellungen läßt sich nicht das Problem erfassen, ob die Täuschungshandlung gerade deshalb, weil sie von der Ehefrau des Opfers vorgenommen wurde, pflichtwidrig war. Vgl. dazu Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 41 ff; a.A. etwa Herzberg, NJW 1986, 1638. Ein solcher Gedanke muß freilich solchen Autoren fernliegen, die die täterschaftliche Haftung des Außenstehenden bei Tun und Unterlassen aus grundsätzlich unterschiedlichen Instituten entwickeln wollen. Halt man bei positiven Tun eine instrumental verstandene Tatherrschaft fur das haftungsbegriindende Kriterium, dann ist es ausgeschlossen, Sonderpflichten, wie sie fur die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte näher konturiert worden sind, bei der Begründung täterschaftlicher Verantwortlichkeit zu berücksichtigen.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Ein weiteres Differenzierungskriterium ist von der objektiven Zurechnungslehre her geläufig, nämlich der Gedanke, daß die Größe der Realisierungswahrscheinlichkeit eines Risikos auch Einfluß auf die Beantwortung der Frage hat, ob dieses Risiko (in Relation zu der mit seiner Schaffung realisierten Freiheit) rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soil. Bezogen auf die Unterscheidung zwischen defizitären Selbstverfiigungen in Gestalt der Bewilligung von Fremdschädigungen/-gefahrdungen einerseits und in der Form von Selbstschädigungen/-gefährdungen andererseits bedeutet dies650: Bei der defizitären Bewilligung einer Fremdschädigung bzw. -gefährdung liegt die defizitäre selbstverfügende Entscheidung bereits vor. Ob sich die defizitäre Entscheidung in einer äußeren Verletzung des Opfers realisiert, hängt in tatsächlicher Hinsicht allein von der Orientierung des Außenstehenden an der Bewilligung und in rechtlicher Hinsicht davon ab, ob ihm diese Orientierung an der Bewilligung erlaubt ist. Schafft oder erhöht das Verhalten des Außenstehenden dagegen erst das Risiko, daß es zu einer defizitären selbstschädigenden bzw. -gefährdenden Entscheidung des Opfers kommt, so ist mit diesem Verhalten gerade noch nicht dariiber entschieden, ob es tatsächlich zu einer defizitären Selbstverfügung kommt. Während sich mit der Orientierung an einer defizitären Einwilligung das Entscheidungsdefizit immer schon in der (an sich unerlaubten) Gefährdung bzw. Verletzung realisiert, ist bei Vornahme einer Handlung, die nur das Risiko einer defizitären Entscheidung schafft oder erhöht, die Realisierung dieses Risikos gerade noch offen. Die Größe des Risikos, daß sich eine defizitäre Entscheidung im Verletzungserfolg niederschlägt, ist bei der Konturierung der Verantwortungsbereiche zu berücksichtigen. Während dieser Gesichtspunkt bei der Einwilligung fur ein Verbot der Orientierung an einer defizitären Entscheidung spricht, ist er bei der Schaffung oder Erhöhung des Risikos einer selbstschädigenden/-gefährdenden Entscheidung grundsätzlich ein Argument daftlr, die Verantwortung im Verhältnis zum Außenstehenden in weiterem Umfang dem (möglicherweise) defizitär Entscheidenden aufzuerlegen. Dabei ist freilich in dieser Fallgruppe noch zu berücksichtigen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer defizitär selbstverfügenden Entscheidung tatsächlich kommt, von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein kann. Auch die Leistungsfähigkeit dieses Differenzierungskriterium läßt sich am oben dargestellten Fall der ihren Ehemann über ihre Suizidabsichten täuschenden Angeklagten illustrieren: Die Vorspiegelung eigener Suizidabsichten schafft ein gewisses Risiko, daß der Ehemann sich irrtumsbedingt ebenfalls zur Selbsttötung entschließt. Je geringer dieses Risiko ist, desto eher wird man daran denken können, es als erlaubtes Restrisiko einzustufen651. Bei einer unter entsprechenden Bedingungen erteilten bewilligten Fremdtötung hingegen stünde das Vorliegen einer defizitären selbstverfügenden Entscheidung bereits fest. Wenn der Einwilligung hier keine (strafmildernde) Wirkung zuerkannt wird, so trägt dies auch dem Umstand Rechnung, daß die Realisierung des Entscheidungsdefizits im Verletzungserfolg allein vom Verhalten des Erklärungsempfängers abhängt. 550 651
Siehe dazu auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 171 f., Fn. 67. So auch Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 448.
488 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Es liegt auf der Hand, daß die vorstehenden Überlegungen die Probleme mehr andeuten als lösen. Es ging vor allem darum zu verdeutlichen, daß eine konsistente Abgrenzung der Verantwortungsbereiche für defizitäre Entscheidungen von Außenstehendem und (potentiellem) Opfer Unterschiede zwischen den Fallen der Einwilligung und der Selbstschädigung bzw. -gefährdung zu beachten hat. Denn die Handlungsfreiheit des Außenstehenden einerseits und die Interessen des (potentiellen) Opfers andererseits sind in beiden Fallgruppen durchaus unterschiedlich bzw. unterschiedlich stark betroffen. Es stellt sich damit als weitere Aufgabe, die Konturierung der Verantwortungsbereiche fur defizitäre Einwilligungsentscheidungen weiter voranzutreiben und die dort entwickelten Kxiterien auf ihre Übertragbarkeit auf die - bislang vergleichsweise weniger subtil ausdifferenzierte - Dogmatik zur normativen Relevanz von Entscheidungsdefiziten bei Selbstschädigungen/-gefährdungen zu überprüfen. Das kann hier nicht mehr geleistet werden. Eingegangen werden soil aber noch auf ein naheligendes Differenzierungskriterium, fur dessen Geltungsanspruch auch eine positivrechtliche Stütze angeführt werden kann. Es ist dies die im Einwilligungsfall unter gewissen Umständen größere Wahrscheinlichkeit fur das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits im Verhältnis zu den Fallen der Selbstschädigung- oder Selbstgefährdung. Die Vorschriften, die diese Annahme stützen, sind §§ 216, 228 StGB.
4.
Unsicherheiten iiber den defizitären Charakter einer (möglicherweise bevorstehenden) selbstverfiigenden Entscheidung - zum Hintergrund von § 216 StGB und § 228 StGB
a) Unsicherheiten iiber den defizitären Charakter von Einwilligungsentscheidungen und (möglichen) Selbstschädigungs- oder Selbstgefährdungsentscheidungen Es war oben (3.) als Differenzierungskriterium fur die Konturierung der Verantwortungsbereiche im Falle von (möglichen) defizitären Entscheidungen bei der Einwilligung einerseits und bei der Selbstschädigung bzw. -gefährdung andererseits bereits auf Unterschiede hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit hingewiesen worden, mit der sich das Verhalten des Außenstehenden in der Verletzung realisiert. Es ging dort aber nicht um eine etwaige Unsicherheit dariiber, ob die tatsächlich getroffene Entscheidung (im Fall der Einwilligung) bzw. die möglicherweise zu treffende Entscheidung (im Fall der Selbstschädigung/-gefährdung) defizitär ist bzw. sein würde, sondern es ging allein um die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, mit denen eine (wenn auch nur möglicherweise bevorstehende, dann aber:) tatsächlich defizitäre Entscheidung zum Eintritt der Verletzungsfolge führt. Während sich mit der Vornahme der bewilligten Handlung das Entscheidungsdefizit notwendig realisiert, schaffen solche Handlungen, die defizitäre Selbstschädigun-
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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gen/-gefährdungen ermöglichen oder erleichtern, lediglich ein mehr oder weniger großes Risiko, daß es tatsächlich zu einer solchen Selbstverfiigung kommt. Der damit festgestellte prinzipielle Unterschied zwischen Einwilligung und Selbstschädigung/-gefährdung besteht aber nicht hinsichtlich einer anderen Unsicherheit, nämlich der nun zu erörternden Unsicherheit darilber, ob eine Entscheidung tatsächlich unter dem Einfluß eines Defizits getroffen wurde (bei der Einwilligung) bzw. getroffen wiirde (bei der Selbstschädigung/-gefährdung). Das Defizit als psychischer Sachverhalt (siehe oben 1.) ist vielmehr grundsätzlich unmittelbarer Wahrnehmung entzogen; die Unsicherheit über sein Vorliegen entspricht damit den Besonderheiten ihres Gegenstandes652. Das schließt freilich intersubjektiv giiltige Gewißheit liber die richtige Einsicht dort nicht aus, wo die (eigene oder [wissenschaftlich] vermittelte) Erfahrung eine als evident akzeptierte Annahme über einen psychischen Sachverhalt erlaubt. So liegt es etwa, wenn das Entscheidungsvermögen eines Kleinkindes iiber einen komplexen Sachverhalt negiert wird oder sich der Entscheidende offensichtlich in Unkenntnis über einen entscheidungsrelevanten Umstand befmdet. Stets vollzieht sich dieser Prozeß der Beurteilung einer psychischen Befindlichkeit aber in der Weise, daß aus äußeren Umständen in Verbindung mit gewissen Erfahrungswerten auf den psychischen Sachverhalt zuriickgeschlossen wird. Die Annahme, eine bestimmte Entscheidung sei defizitär, beruht demnach immer nur auf Indizien und dementsprechend ist Sicherheit nur in dem Maße zu erreichen, wie der Schluß von Indizien auf einen bestimmten Befund als zuverlässig akzeptiert wird. Diese Grenzen sicherer Erkenntnis bestehen nun in grundsätzlich gleicher Weise unabhängig davon, ob eine bereits getroffene Entscheidung auf ihren defizitären Charakter befragt wird oder ob man die gleiche Frage in Bezug auf eine möglicherweise in Zukunft zu treffende Entscheidung stellt. Es kann hier nicht im Einzelnen entwickelt werden, in wessen Verantwortungsbereich verbleibende Zweifel iiber die Qualität einer (künftigen) Entscheidung fallen, ob also bestimmte Verhaltensweisen des Außenstehenden mit Blick auf eine nur möglicherweise defizitär getroffene oder noch zu treffende Entscheidung rechtlich verboten ist oder aber dieses Risiko in den Verantwortungsbereich des (potentiell) Entscheidenden fällt. Relativ klar ist nur, daß in einem Recht, das von der Autonomie der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft abgeleitet (und überhaupt erst deshalb Recht) ist, der Zweifel an der Verntinftigkeit des Einzelnen nicht unabhängig von konkreten Anhaltspunkten geltend gemacht werden kann653. Denn ein Recht, das grundsätzlich das Vermögen zu vernünftiger Entscheidung in Frage stellen wollte, wiirde sich selbst die in den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft verankerte Legitimation entziehen. Sind also jedenfalls konkrete tatsächliche Anhaltspunkte (auch als Basis einer prognoseabhängigen Beurteilung) dafür vorausgesetzt, daß überhaupt die MögEs muß hier nicht die Frage gestellt werden, inwieweit (sichere) Erkenntnis ilberhaupt möglich ist. Es geht hier nur darum, daß Erkenntnis iiber psychische Sachverhalte jedenfalls nicht unmittelbar möglich ist und deshalb gegenüber solcher Erkenntnis, die sich auf unmittelbare Wahrnehmung beruft, eines zusätzlichen Begründungsschrittes bedarf. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 188.
490 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens lichkeit eines Entscheidungsdefizits zur Grundlage daflir werden kann, die Handlungsfreiheit des Außenstehenden einzuschränken, dann ist damit freilich immer noch offen, wie stark der indizielle Charakter dieser Tatsachen sein muß, damit die Möglichkeit einer (künftigen) defizitären Entscheidung normative Relevanz erhält. Dabei ware es verktlrzend, diese Frage allein als Problem von größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeiten einer defizitären Entscheidung zu behandeln. Denn die Unsicherheit über das Vorliegen (oder die Erwartbarkeit) einer defizitären Entscheidung ist in den gesamten Komplex der Umstände eingebettet, die fur die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche mit Rücksicht auf positivrechtliche Vorgaben und die Interessen der Beteiligten relevant werden. So liegt es etwa nahe - und entspricht, wie noch zu zeigen sein wird, auch den Vorstellungen des Gesetzgebers - bei der Verfugung über hochwertige Rechtsgüter bereits geringere Zweifel am Vorliegen einer selbstbestimmten Entscheidung zum Anlaß fur ein Verhaltensverbot ausreichen zu lassen als bei Rechtsgütern, die fur die personale Entfaltung weniger zentral sind654. Unabhängig von diesen weiteren Variablen, die der Anlegung eines einheitlichen Maßstabes fur die Annahme eines normativ relevanten Risikos einer defizitären Entscheidung entgegenstehen, ist aber klar, daß die Größe der Wahrscheinlichkeit, daß das Opfer eine defizitäre Entscheidung trifft bzw. zu treffen droht, bei der Beantwortung der Frage, ob die Handlungsfreiheit des Außenstehenden mit Rücksicht auf dieses Risiko beschränkt wird, nicht ausgeblendet werden darf. Dies folgt wiederum daraus, daß eine Konturierung der Verantwortungsbereiche zu berilcksichtigen hat, wie hoch das Risiko ist, daß es durch ein bestimmtes Verhalten überhaupt zu Beeinträchtigungen fremder Interessen kommt. Je geringer also die Wahrscheinlichkeit ist, daß eine defizitäre Entscheidung getroffen wurde (bzw. getroffen wird), desto eher kommt die Möglichkeit in Betracht, dieses Risiko beim Entscheidenden zu belassen - und umgekehrt. Mit Blick auf diese Relevanz der Größe des Risikos einer defizitären Entscheidung läßt sich trotz der grundsätzlich fur bereits getroffene und kiinftig erst zu treffende Entscheidungen in gleicher Weise bestehenden Unsicherheit liber deren defizitären Charakter an dieser Stelle mit der Überlegung einsetzen, ob sich zwischen den Fallen der Einwilligung und denen der Selbstschädigung/-gefährdung ein Unterschied aufzeigen läßt, der fur eben diese Größe des Risikos, daß eine defizitäre Entscheidung getroffen wurde bzw. in Zukunft getroffen wird, bedeutsam ist. Dabei kann ein solcher Unterschied noch nicht darin gefunden werden, daß im letzteren Falle insoweit vielfach eine größere Unsicherheit besteht, als die Tatsachenbasis, die fur die Beurteilung der Qualität einer künftigen Entscheidung ausschlaggebend ist, nur prognostisch konstruiert werden kann, während sie im Einwilligungsfall der Vergangenheit bzw. Gegenwart angehört. Denn die zusätzliche Unsicherheit hinsichtlich der kiinftigen Tatsachenlage bedeutet nicht ohne weiteres eine relevante Veränderung des Risikos einer defizitären Entscheidung. Die Ungewißheit über die künftige personale Basis einer Entscheidung (genauer: die Ungewißheit über die künftige Tatsachenlage, aus der sich diese personale Basis Vgl. auch Dworkin, Paternalism, S. 31; Feinberg, Harm to self, S. 118ff.,347.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
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erschließen könnte) ist nämlich bezogen auf das Risiko, daß es schließlich zu einer defizitären Entscheidung kommt, neutral, wirkt sich also nicht einseltig im Sinne einer Erhöhung oder Verminderung dieses Risikos aus. Ob etwa eine Fehlvorstellung einer Person bis zum Zeitpunkt einer in Zukunft zu treffenden Entscheidung ihre Aufklärung oder ihre Verfestigung erfährt, hängt von gewissen hinzutretenden Umständen ab, ist aber nicht durch die Dependenz von prognostischen Annahmen als solcher in die eine oder andere Richtung prajudiziert. Erwägenswert bleibt dagegen die Möglichkeit, daß ein für das Risiko einer (künftigen) defizitären Entscheidung bei der Einwilligung einerseits und der Selbstschädigung/-gefährdung andererseits relevanter Faktor die äußere Form der selbstverfugenden Entscheidung selbst sein könnte. Denn - und insoweit hat Roxin mit seinem Gedanken der Selbstschädigungshemmung recht - die durch eine bloße Erklärung erfolgende Umgestaltung des Rechtsverhältnisses ist unter bestimmten Umständen psychisch „leichter" als die unmittelbare Vornahme der selbstschädigenden bzw. -gefährdenden Handlung. Deshalb ist es diskutabel, die Delegation der Ausfuhrungshandlung durch Umgestaltung des konkreten Rechtsverhältnisses als Indiz fur ein Entscheidungsdeflzit jedenfalls dann anzusehen, wenn die Rechtsgutsbeeinträchtigung von der Art ist, die bei eigenhändiger Vornahme die Überwindung einer psychischen Selbstschädigungs/-gefährdungshemmung voraussetzt und andere gute Griinde fur die Delegation der Handlung, mit der die selbstverftigende Entscheidung realisiert wird, nicht ersichtlich sind. Wenn es dann weiter - wie hier gezeigt - so ist, daß Entscheidungsdefizite ilberhaupt nur durch Indizien erschlossen werden, dann wtlrde dies bedeuten, daß unter den vorstehenden Voraussetzungen das Risiko einer defizitären Entscheidung bei der Einwilligung höher ist als bei der SelbstschädigungAgefährdung. Unter der weiteren - hier ebenfalls als berechtigt erwiesenen - Voraussetzung, daß die Erlaubt- oder Verbotenheit eines Verhaltens nicht ohne Blick auf die Größe des Risikos, daß es zu einer Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfreiheit des Opfers kommt, beurteilt werden kann, ware dieser Gesichtspunkt prinzipiell jedenfalls dann zu beriicksichtigen, wenn die Unterschiede zwischen den beiden Fallgruppen eine gewisse Erheblichkeit erreichen. Freilich wird es bei vielen selbstverfugenden Entscheidungen so liegen, daß die gewählte Form einer Selbstverfugung durch Umgestaltung des konkreten Rechtsverhältnisses (Einwilligung) ihren Grund nicht in psychischen Hemmnissen hat, die sich gegen eine eigenhändige Realisierung der SchadigungA-gefahrdung stemmen. So wird man etwa zur Zerstörung von Eigentumsobjekten ohne bedeutenden Wert keine nennenswerten inneren Widerstände überwinden müssen - das ist besonders plastisch dann, wenn es sich um Gegenstände handelt, an deren Erhalt man kein Interesse (mehr) hat, die man etwa ohnedies wegwerfen möchte. Erhebliche innere Widerstände, die sich auch gerade gegen die Se/fofvornahme einer Rechtsgutsbeeinträchtigung geltend machen, werden vielmehr vor allem bei solchen Handlungen bestehen, die sich gegen die körperliche Integrität oder das Leben der Person richten. Und auch bei diesen gibt es neben einem möglichen Entscheidungsdeflzit vielfach auch andere Griinde, die fur eine Delegation der Ausfuhrungshandlung sprechen. So liegt es besonders bei solchen Handlungen, die die Person selbst gar
492 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens nicht vornehmen kann oder wo der besondere - etwa sportliche - Reiz gerade davon ausgeht, daß die Handlung von einem anderen vorgenommen wird. Unter den Fallen, in denen eine eigenhändige Vornahme der schädigenden bzw. gefährdenden Handlung regelmäßig gar nicht möglich ist, hat vor allem der ärztliche Heileingriff erhebliche praktische Bedeutung. Soweit mit einem Heileingriff die Vornahme einer die körperliche Integrität schädigenden und mitunter das Leben gefährdenden Handlung bewilligt wird, kann diese Delegation offenbar nicht als Indiz einer defizitären Entscheidung interpretiert werden. Die Umgehung eines psychischen Henunnisses durch Delegation wird weiter auch bei den gegen die körperliche Integrität und das Leben gerichteten Handlungen vor allem dort plausibel, wo solche Handlungen in Rede stehen, die unmittelbar den Verletzungserfolg nach sich ziehen (d.h. solche Handlungen, die mit einem hohen Risiko behaftet sind, welches nicht durch die Verletzung vermittelnde Zwischenschritte relativiert wird). Die Selbstschädigungshemmung wird nämlich gerade dann am stärksten sein, wenn die Person eine (nahezu) sicher schädigende Handlung an sich selbst vornehmen will. Vergleicht man dagegen die psychische Situation bei einer nur mäßig riskanten Selbstgefährdung mit der bei der Bewilligung einer entsprechend moderaten Gefahrschaffung, so wird das Hemmnis bei Selbstvornahme der Handlung vielfach kaum größer sein als das bei der Einwilligung. Das rührt auch daher, daß bei der Eingehung moderater Risiken vielfach die Hoffhung dominieren wird, der Erfolg werde nicht eintreten. Das gilt gerade bei der Selbstvornahme entsprechender Handlungen, bei denen diese Hoffhung in der Vorstellung grimdet, das Risiko etwa durch eigene Geschicklichkeit zu beherrschen. Was bleibt, sind also zum einen (regelmäßig von „Selbstschädigungsvorsatz" getragene655) Bewilligungen von sehr riskanten, gegen die körperliche Integrität gerichteten Handlungen, bei denen sich kein plausibler Grund fur die Delegation der Ausführungshandlung angeben läßt, und zum anderen (regelmäßig von „Selbstschädigungsvorsatz" getragene) Bewilligungen von sehr riskanten Handlungen, die sich gegen das Leben richten. Es ist nicht zu übersehen, daß fur beide Bereiche gesetzliche Vorgaben vorhanden sind, deren Interpretation als individualgüterschützende Normen nach den bisherigen Überlegungen - also soweit es den Schutz der nicht defizitär entscheidenden Person vor sich selbst betrifft - nicht möglich ist. Nach den vorstehenden Überlegungen erscheint es nun aber immerhin denkbar, zumindest eine Teilerklärung fur § 216 StGB (unten b) und § 228 StGB (unten c) anzubieten656.
Zu Konstellationen, die der bewilligten Fremdgefährdung zugehören, vgl. Frisch, in: FS für Hirsch, S. 499 f. Zweifel an der Freiheit der Entscheidung halt auch Singer, JZ 1995, 1139 ff. - insbesondere auch bezogen auf Einschränkungen der Vertragsfreiheit - fur den tragenden Grund eines Schutzes des Menschen vor sich selbst.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
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b) Das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung als ratio von § 216 StGB Unsicherheiten ilber das Vorliegen einer defizitären Entscheidung können freilich nur dort die Handlungsfreiheit des Außenstehenden begrenzen, wo das Entscheidungsdefizit - wiirde es tatsächlich vorliegen - eine solche Einschränkung der Handlungsfreiheit begriinden könnte: Das Risiko, daß einer Entscheidung ein rechtlich irrelevantes Defizit anhaftet, kann selbstverständlich nicht relevant sein. § 216 StGB weist nun die Besonderheit auf, daß nach der Fassung dieses Tatbestandes bei Vorliegen gewisser Entscheidungsdefizite bereits eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift ausgeschlossen 1st657 - fehlt es an einem ernstlichen Tötungsverlangen, so kommen §§ 212, 211 StGB zum Zuge. Mit dem Erfordernis des ernstlichen Tötungsverlangens stellt § 216 StGB Anforderungen an die Freiheit von Defiziten des Todeswunsches, deren Erfullung nach den allgemeinen, fur die Wirksamkeit von Einwilligungen entwickelten Grundsätzen es ausschließen würde, eine Einwilligung als defizitär einzustufen658. Der Versuch, § 216 StGB als eine Vorschrift zu interpretieren, mit der das Opfer vor der Realisierung von (möglicherweise) defizitären Entscheidungen geschützt werden soil, setzt damit notwendig voraus, daß es sich um das Risiko solcher defizitären Entscheidungen handelt, deren (mögliches) Vorliegen nicht die Anwendung von § 216 StGB gerade ausschließt. Damit kommt eine Interpretation von § 216 StGB als einer Vorschrift zum Schutz vor möglicherweise defizitären Entscheidungen nur unter der Voraussetzung in Betracht, daß die Wirksamkeit einer Einwilligung in eine Fremdtötung das Vorliegen einer von Defiziten freien Entscheidung in einem Umfang voraussetzen wiirde, der noch iiber die Voraussetzungen eines ernstlichen Tötungsverlangens hinausgeht. Für diese Annahme spricht vieles. Ausgehend von der grundsätzlichen Einsicht, daß Einschränkungen der Handlungsfreiheit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit um so eher in Betracht kommen, je größer die von einer Handlung ausgehenden Gefahren fur die Freiheit der anderen sind, läßt sich fur eine Verschiebung der Verantwortungsbereiche zu Lasten des Außenstehenden zunächst der besondere Wert des Rechtsguts „Leben" geltend machen, iiber den das Opfer verftigt. Dieser Wert resultiert neben dem Umstand, daß das Leben die Basis fur alle weiteren Entfaltungsmöglichkeiten darstellt, daraus, daß der Verlust dieses Gutes fur den je Einzelnen nicht reparabel und auf keine Weise auszugleichen ist. Mit der Orientierung des Außenstehenden an einem defizitären Fremdtötungsverlangen erleidet folglich der Einwilligende eine kaum nachhaltiger denkbare, weil die freie Person selbst unwiderruflich zu ihrem Ende bringende Freiheitseinbuße. Sonst mitunter bestehende Interessen des Entscheidenden, die dafur spreDabei spielt es im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, ob das ernstliche Verlangen lediglich besondere Voraussetzungen an die „Art und Weise des Zustandekommens des Tötungsvorsatzes" stellt (so Horn, in: SK StGB, § 216 Rn. 3) oder ob sich der Vorsatz des Täters auf das Vorliegen eines ernstlichen Verlangens beziehen muß (so Lackner/Kühl, § 216 Rn. 5; Eser, in: Schönke/Schröder, § 216 Rn. 4). Siehe etwa M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie, S. 224 m.w.N.
494 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens chen können, selbst die Verantwortung fur eine defizitäre Entscheidung iibernehmen zu wollen, können hier kaum zum Tragen kommen, denn diese Interessen beziehen ihre Plausibilität regelmäßig aus dem in die Zukunft berechneten Anspruch auf Achtung personaler Selbständigkeit; eine Perspektive, die bei einem defizitären Tötungsverlangen gerade nicht659 einbezogen werden kann. Auf der anderen Seite wiegen Interessen des Außenstehenden an der Orientierungsfunktion der vom Opfer getroffenen Entscheidung schon deshalb leicht, weil bei der Befolgung eines Tötungsverlangens regelmäßig allein altruistische Motive legitime Interessen des Außenstehenden darstellen können und die Interessen des Opfers hier gerade einer Orientierung an dem Verlangen entgegenstehen. Der Umfang der normativen Relevanz von Defiziten ist also praktisch ausschließlich mit Blick auf die Interessenlage des Entscheidenden zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund kann eine widerspruchsfreie Konturierung der Verantwortungsbereiche fur defizitäre Entscheidungen es kaum erlauben, das defizitäre Tötungsverlangen in gleicher Weise zu behandeln wie Defizite bei dem Verlangen der Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter. Es ist also nicht nur möglich, sondern auch sachgerecht, etwa die Erklärung des ungliicklich Verliebten, mit der er die Zerstörung seines Verlobungsrings fordert, rechtlich anders zu bewerten als ein aus dem gleichen Grund ausgesprochenes (je nach den Umständen durchaus ernstliches660) Tötungsverlangen661. Es liegt auf der Hand, daß das Tötungsverlangen auf der einen Seite und etwa die Bewilligung der Beeinträchtigung (geringer) Sachwerte auf der anderen Seite nur zwei Enden auf einer Skala markieren, die unzählige Zwischentöne aufweist. Ein konsistentes System der Verteilung der Verantwortung für defizitäre Entscheidungen muß diese Zwischentöne im Rahmen dessen, was mit Blick auf die Rechtsklarheit möglich ist, aufnehmen. Unter Berücksichtigung dieser Einsicht sieht man auch, daß etwa eine pauschale Diskussion um die Frage, ob Motivirrtümer zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen, nicht sinnvoll geführt werden kann, weil durchaus zu erwägen ist, daß diese Frage in Abhängigkeit von den betroffenen Rechtsgütern unterschiedlich beantwortet werden muß. Wenn der Rechtsprechung bisweilen vorgeworfen wird, sie zeige bei der Behandlung von Willensmängeln bei der Einwilligung keine klare Linie662, so hängt dies möglicherweise damit zusammen, daß sich die am Einzelfall orientierend Judikatur angesichts der Komplexität der relevanten Umstände bislang auf eine einheitliche Behandlung von Defiziten weder festlegen konnte noch wollte. Wenn es also angemessen ist, den Verantwortungsbereich des Opfers für Defizite im Rahmen eines Tötungsverlangens enger zu ziehen als bei Defiziten im Rahmen der geforderten Beeinträchtigung anderer Rechtsgiiter, dann ist insoweit auch die 659 660 661 662
Oder allenfalls im Sinne eines postmortalen Schutzes. Vgl. BGHSt 19, 135. Vgl. Hoerster, ZRP 1988, 3; ders., N J W 1986, 1789. So etwa Arzt, Willensmängel, S. 7; Rönnau, Willensmängel, S. 272.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverftigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Möglichkeit eröffhet, das bloße Risiko, daß ein Tötungsverlangen trotz seiner Ernstlichkeit Ausdruck einer defizitären Entscheidung ist, fur eine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Außenstehenden geltend zu machen. Freilich verlangt eine Interpretation von § 216 StGB, wonach dieser Vorschrift die rechtliche Unwirksamkeit eines Tötungsverlangens bereits mit Blick auf das bloße Risiko eines Entscheidungsdefizits vorausliegt663, einen zusätzlichen Schritt, der mit der Einsicht, daß Defizite im Rahmen von Tötungsverlangen in besonders weitem Umfang zur Unwirksamkeit dieses Verlangens führen können, noch nicht gegangen ist664. Dieser zusätzliche Schritt liegt in der Annahme, daß es mit Blick auf die bloße Möglichkeit eines Entscheidungsdefizits berechtigt sein kann, auch solchen Entscheidungen die Wirksamkeit zu versagen, die in Wahrheit nicht defizitär getroffen wurden. Diese Möglichkeit ist, auch wo sie den Einzelnen in einer konkreten Situation bevormundet, deshalb noch nicht Bevormundung der Person als Rechtsperson665. Denn bei der Begründung rechtlicher Regeln ist von der verniinftigen Person zu bedenken, daß in einem Lebensbereich, in dem sich das Vorliegen tatsächlicher Zustände nur über Indizien erschließen läßt, Sicherheit schlechterdings nicht erreichbar ist und es deshalb immer nur um die Frage gehen kann, welche Indizien dafiir ausreichen sollen, von einem nicht mehr tolerablen Risiko einer defizitären Entscheidung auszugehen. Die kurzschlüssige Annahme, hier gehe es um Paternalismus und Bevormundung, nimmt die Person nur in ihrer konkreten Entscheidung in den Blick und verkennt die konstitutive Bedeutung eben dieser Person fur das Recht666. Als das eigene - autonom gesetzte - Recht ist eine rechtliche Regelung niemals Bevormundung. Auch hier hängt die Gestaltung der rechtlichen Verhältnisse von einer komplexen Abwägung ab, in deren Rahmen vor allem der Wert des Rechtsgutes, das im Falle einer defizitären Entscheidung betroffen ist, die Höhe des Risikos, daß eine defizitäre Entscheidung getroffen wurde bzw. wird, aber auch die Möglichkeit, die selbstbestimmte Entscheidung noch im Falle ihrer Unwirksamkeit in anderer Weise zu realisieren, zu berücksichtigen sein werden. Gemessen an dem oben bereits dargestellten Gewicht der Gefahr, daß eine defizitäre Entscheidung exekutiert wird, wird das Risiko, daß einer selbstbestimmt getroffenen Entscheidung die Wirksamkeit versagt wird (und die „Vorausliegt" deshalb, weil § 216 StGB diese Unwirksamkeit nach der hier vorgefiihrten Interpretation nicht anordnet, sondern sie als Festlegung der Primärordnung voraussetzt. Dieser Schritt ist deshalb notwendig, weil § 216 StGB jedenfalls nicht in dem Sinne verstanden werden kann, daß die Vorschrift das tatsächliche Vorliegen einer defizitären Entscheidung verlangt. Das Erfordernis der Delegation der Ausführungshandlung läßt keinen zwingenden Schluß auf ein Defizit zu. Ähnlich Hoerster, ZRP 1988, 3; ders., NJW 1986, 1789; Herzberg, NJW 1996, 3046 f., wobei diese Autoren mit ihrer unvermittelten Betonung einer „interessenorientierten Sichtweise" oder eines „objektiven Interesses" noch nicht den entscheidenden Punkt die Legitimation der rechtlichen Unwirksamkeit einer konkreten Entscheidung aus der rechtspersonalen Qualität des Entscheidenden selbst - treffen. Weniger unzutreffend ist die - freilich das Problem nicht ausschöpfende - Rede von einem „weichen" Paternalismus. Vgl. zur Unterscheidung in „hard and soft paternalism" Feinberg, Harm to self, S. 12 ff.
496 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Person so auf andere Wege zur Realisierung ihres Vorhabens verwiesen ist) vielfach hinnehmbar sein. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls legitimierbar, einer Entscheidung schon dort die Wirksamkeit zu versagen, wo nur das durch bestimmte Anhaltspunkte untermauerte Risiko besteht, daß sie - obgleich ernstlich geäußert, dennoch - defizitär getroffen woirde. Interpretiert man § 216 StGB in dem Sinne, daß mit dieser Vorschrift mit Rücksicht auf das Risiko defizitärer Entscheidungen an der Strafbarkeit der bewilligten Fremdtötung auch dann festgehalten wird, wenn ein im Sinne dieser Vorschrift ernstliches Tötungsverlangen vorliegt, so muß das Indiz fur das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits offenbar in dem Umstand erblickt werden, daß das Opfer seinen Entschluß, aus dem Leben zu scheiden, durch Bewilligung einer Fremdtötung realisieren will667. Eine solche Vorgehensweise ist nicht nur mit Blick auf den naheliegenden Gedanken, daß sich eine Schwäche des Entschlusses in der Delegation der Ausfllhrungshandlung äußert (siehe oben) plausibel, sondern auch mit Blick darauf, daß die als relevante Defizite zu erfassenden Motivirrtümer sich fur den nur begrenzt den Hintergrund der Entscheidung erfassenden Erklärungsempfänger vielfach nicht in anderer Weise objektivieren werden. Soil das Risiko der Orientierung an einer defizitären Entscheidung mit Rtlcksicht auf den Wert des gefährdeten Gutes weitgehend minimiert werden, so erscheint es zumindest für viele Fälle adäquat, bereits die gewählte äußere Form der Realisierung eines Selbsttötungsentschlusses als Indiz fur ein Entscheidungsdefizit ausreichen zu lassen. Diese Argumentation ist strikt von Überlegungen abzugrenzen, wonach § 216 StGB seine Rechtfertigung darin fmden könne, daß der Todeswillige mit Blick auf den Wert des Rechtsguts „Leben" und dessen Unwiederbringlichkeit „vor einer leichtsinnig oder ilbereilt getroffenen Entscheidung zur Lebensbeendigung geschützt werden" milsse668. Eine solche Argumentation erfaßt nicht das Spezifische des § 216 StGB und kann deshalb nicht erklären, warum ein solcher Schutz gerade bei der Tötung auf Verlangen nicht aber bei der Mitwirkung an einer Selbsttötung - gewährt wird669. Als Hintergrund von § 216 StGB kommt der Schutz vor (möglichen) Entscheidungsdefiziten eben nur in Betracht, wenn man die indizielle Bedeutung des Fremdtötungsverlangens in Rechnung stellt. § 216 StGB läßt sich also (auch) als eine Norm lesen, die - auch dort noch, wo die Voraussetzungen eines „ernstlichen Verlangens" erfüllt sind - davon ausgeht, daß dieses Verlangen gerade als Verlangen - also weil es auf eine Delegation der Aus-
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Andere konkrete Hinweise auf das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits würden regelmäßig bereits die Ernsthaftigkeit des Tötungsverlangens in Frage stellen. Dazu - kritisch - Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 111 f. So denn auch der Einwand von Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 112.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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fxihrungshandlung zielt - ein Indiz filr das Vorliegen einer defizitären Entscheidung bietet670. § 216 StGB rilckt bei dieser Interpretation, was den Handlungsunwert angeht, zumindest in die Nähe der sogenannten abstrakten Gefährdungsdelikte, weil die Vorschrift von der Annahme ausgeht, daß generell aus einem bestimmten Umstand auf das Vorliegen einer unerlaubt riskanten Sachlage geschlossen werden könne671. Freilich ist die ilbliche Kennzeichnung der abstrakten Gefahrdungsdelikte als solcher Strafbestimmungen, die ein bloß typischerweise gefährliches Verhalten zum Gegenstand haben672, auf solche Konstellationen hin entworfen, bei denen sich die typische Gefährlichkeit eines bestimmten Verhaltens aus gewissen erfahrungsgegriindeten Annahmen über mögliche künftige Geschehensverläufe ergibt. Nicht das Risiko, daß ein bestimmtes Verhalten aufgrund einer zum Tatzeitpunkt bereits gegebenen Tatsachenlage das Rechtsverhältnis verletzt, soil von abstrakten Gefährdungsdelikten üblicherweise erfaßt werden, sondern das Risiko, daß ein bestimmtes Verhalten sich im weiteren Geschehensverlauf in Verbindung mit (statistisch häufig) hinzukommenden weiteren Umständen in einem Verletzungserfolg realisiert. Trotz dieses Unterschieds bleibt aber als wesentliche Parallele zu den sonst geläufigen abstrakten Gefährdungsdelikten das Charakteristikum einer Beschränkung auf das Erfordernis einer durch bestimmte Merkmale gekennzeichneten Handlungssituation, bei deren Vorliegen von einem die Bestrafung legitimierenden Risiko ausgegangen wird, daß ein bestimmtes Rechtsgut ohne wirksame Einwilligung verletzt wird. Die Vorschrift entspricht so gesehen also einem ab-
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Auf einen (möglichen) Zusammenhang von Delegation und „Ernsthaftigkeit der Disposition" weisen auch hin: Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn, S. 110; Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 264 ff.; Engisch, in: FS fur Dreher, S. 317 f. Hirsch, in: FS für Lackner, S. 612, 614; Roxin, Der Schutz des Lebens, S. 9 3 ; Verrel, JZ 1996, 226. Vgl. auch Singer, JZ 1995, 1141, der allerdings nicht die Frage aufwirft, weshalb der „latente Zweifel an einer wirklich freien Entscheidung" gerade bei der aktiven Sterbehilfe zum Tragen kommt. Der Unterschied zum konkreten Gefährdungsdelikt liegt also zunächst darin, daß bestimmte gefahrindizierende Umstände gesetzlich bestimmt sind und nicht - wie beim konkreten Gefährdungsdelikt - das konkrete Gefahrurteil erst nach Ausschöpfung aller im Einzelfall relevanten Umstände gefällt werden kann. Sind die gefahrindizierenden Umstände gegeben, dann läßt sich immer dann, wenn ihre indizielle Wirkung nicht in concreto entkräftet ist (dann läßt sich gar nicht mehr von einer Gefahr sprechen), auch beim abstrakten Gefahrdungsdelikt die Gefahr als eine konkrete - nämlich wirkliche begreifen. Ob liber die gesetzliche Vorgabe der gefahrindizierenden Umstände hinaus ein sachlicher Unterschied zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten gegeben ist, hängt danach davon ab, ob man mit einer verbreiteten Auffassung beim sicheren Fehlen einer Gefahr den Tatbestand auch der abstrakten Gefährdungsdelikte fur nicht verwirklicht halt - der Sache nach also auch hier eine konkrete Gefahr voraussetzt - oder ob man abstrakte Gefährdungsdelikte auch in solchen Fallen fur einschlägig halt und damit auf das Vorliegen einer Gefahr gänzlich verzichtet; vgl. Jescheck/Weigend, AT, S. 264 f. Siehe Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 15 mit zahlreichen Nachw.
498 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens strakten Gefährdungsdelikt, das dem Schutz vor defizitär - und damit unwirksam - bewilligten Fremdtötungen dienen soil. In diese Interpretation ist der verschiedentlich als Hintergrund von § 216 StGB herangezogene Gedanke, die Vorschrift solle der auf Artikulation eines Tötungsverlangens zielenden Einflußnahme auf hierfur besonders anfallige alte und kranke Menschen entgegenwirken673, ohne Bruch zu integrieren. Denn wenn es richtig ist, daß eine Einwilligung psychologisch leichter fallt als eine Selbsttötung, so ist es auch plausibel, das Risiko solcher Einflußnahmen höher einzuschätzen als das Risiko, daß jemand durch entsprechende Einflußnahme selbst Hand an sich legt674. Weiter ist diese Interpretation auch mit dem Gedanken kompatibel, gerade beim Kranken und Leidenden verzerre mitunter Schmerz die selbstbestimmte Entscheidung675. Das kann der Person nicht die Kompetenz der Entscheidung iiber ihr Leben prinzipiell nehmen. Doch kann dieses Problem ein Argument dafür sein, dem Leidenden die tödliche Handlung nicht abzunehmen. Die Selbstschädigungshemmung wird beim schwer Leidenden an Kraft verlieren; wenn sie noch stark genug ist, daß sich die Person zur Selbsttötung psychisch nicht in der Lage sieht, so ist dies ein umso stärkeres Argument dafur, daß dem Entschluß die geforderte Festigkeit fehlt. Im Vorstehenden ist lediglich aufgezeigt worden, daß die Interpretation von § 216 StGB als einer Vorschrift, die vor defizitär bewilligten Fremdtötungen schützen will, eine interpretatorische Möglichkeit — wenn auch eine mit einiger Überzeugungskraft im System der Verteilung von Verantwortlichkeiten - darstellt. Beriicksichtigt man, daß eine individualgüterschützende Dimension dieser Vorschrift überhaupt nur gerettet werden kann, wenn man diese Interpretationsmöglichkeit akzeptiert, dann liegt es nahe, sie auch als dem Gesetz zugrundeliegende InterpreGeilen, in: FS fur Bosch, S. 289; Kutzer, in: GS für Schlüchter, S. 357; Otto, in: FS für Tröndle, S. 159; ders., Recht auf den eigenen Tod?, S. D 54; Schöch, ZRP 1986, 239; H.-L. Schreiber, in: FS für Hanack, S. 738; Trbndle, ZStW 99 (1987), 38. Vgl. auch Bimbacher, Tun und Unterlassen, S. 357 f.; Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 471 Fn. 39, mit dem Hinweis, daß diese Gefahr auch bei der passiven Sterbehilfe bestehe. Das ist zwar richtig, aber kein Argument dagegen, den Hintergrund von § 216 StGB im Schutz vor (möglicherweise) defizitären Entscheidungen zu erblicken. Dieser Schutz bleibt bei der aktiven Sterbehilfe schon deshalb dringlicher, weil die Verweigerung therapeutischer Maßnahmen (der auf Seiten des Garanten die passive Sterbehilfe korrespondiert) regelmäßig über einen längeren Zeitraum durchgehalten werden muß und der Patient meist noch Gelegenheit zur Anderung seines Entschlusses auch unter anderweitiger Einflußnahme hat. A.A. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 20; Scheffler, Sterbehilfe mit System, S. 257, die keinen Unterschied zwischen dem Risiko einer Überredung zum Suizid und dem Risiko sehen, daß jemand zur Formulierung eines Tötungsverlangens überredet wird. Brändel, ZRP 1985, 90; Engisch, in: FS fur Dreher, S. 316 ff.; Eser, Sterbehilfe, S. 68; Geilen, in: FS fur Bosch, S. 289; H.-L. Schreiber, NStZ 1986, 342; Tröndle, ZStW 99 (1987), 38 f.
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfugungen wegen Entscheidungsdefiziten
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tation zu akzeptieren (zu diesem Gedanken der möglichst weitgehenden Verwirklichung des gesetzgeberischen Ziels noch näher unten IV. 2.). Akzeptiert man den so verstandenen individualgüterschützenden Charakter von § 216 StGB, so läßt sich fur eine Vielzahl der Fälle bewilligter Fremdtötungen ein angemessener Hintergrund fur eine Bestrafung des Außenstehenden angeben. Andererseits ist freilich auch auf Grenzen hinzuweisen, an denen sich zeigt, daß so erst eine Teilerklärung geleistet ist, womit dann allerdings noch nicht abschließend darüber entschieden ist, ob insoweit die Legitimation zu einer Bestrafung endgültig fehlt (dazu ergänzend unten IV. 2.). Eine bloße Teilerklärung von § 216 StGB bietet der Schutz vor defizitären Entscheidungen insoweit, als Fälle bleiben, in denen - trotz Delegation der Ausfiihrungshandlung - an einem nicht defizitären Verlangen kein Zweifel besteht oder dieser Zweifel seinen Grund jedenfalls nicht in dieser Delegation fmden kann. Das entspricht der von der Dogmatik der abstrakten Gefahrdungsdelikte her bekannten Problematik, daß der gefahrindizierende Umstand seine indizielle Kraft durch gegenläufige Tatsachen im konkreten Sachverhalt einbüßen kann. Für solche Fälle, in denen dem Sterbewilligen die physischen Möglichkeiten zur Realisierung seines Wunsches fehlen, liegt es auf der Hand, daß die Delegation ihre indizielle Kraft einbüßt. Das erledigt freilich nicht die Frage danach, ob eine Entscheidung (gemessen an den im Bereich der Tötung auf Verlangen anzulegenden strengen Maßstäben) möglicherweise defizitär ist676. Doch muß sich das Bemiihen um Beantwortung dieser Frage an anderen Hinweisen auf die Qualität der Entscheidung orientieren. Eine generelle Verweigerung der Wirksamkeit eines solchen Verlangens mit Blick auf die bloß theoretische, nicht durch konkrete Anhaltspunkte gestützte Möglichkeit des Vorliegens einer defizitären Entscheidung ware jedenfalls ein nicht legitimierbarer Eingriff in elementare Entscheidungskompetenzen der Person (siehe oben 3. Teil, IV. 3. a) bb)). Erblickt man den Hintergrund von § 216 StGB im Schutz vor der Exekution (möglicherweise) defizitärer Entscheidungen, so ist die Vorschrift insoweit teleologisch zu reduzieren (womit nach den bisherigen Überlegungen eine Bestrafung aus einem individualgüterschützenden Tatbestand überhaupt ausscheidet). Neben diesen Fallen, in denen die Delegation der Ausführungshandlung mit Blick auf das physische Unvermögen zur Selbstvornahme entsprechender Handlungen als Indiz fur eine defizitäre Entscheidung nicht in Betracht kommt, sind freilich noch vielfältige Fallkonstellationen denkbar, in denen trotz eines Totungsverlangens - also trotz Delegation der Totungshandlung - an der Freiheit von Defiziten kein ernsthafter Zweifel besteht. Es ist nämlich gerade in engen persönlichen Näheverhältnissen von Entscheidendem und Außenstehenden nicht auszuschließen, daß die dem Außenstehenden erkennbaren Hinweise auf eine von Defiziten freie Entscheidung ein Bild zeichnen, das auch von der gewünschten Delegation der Totungshandlung nicht verändert werden kann. Von besonderer Deutlichkeit sind diese Hinweise dann, wenn der Entscheidende die Festigkeit seines Entschlusses bereits unter Beweis gestellt hat, wie dies insbesondere bei einem vorangegangenen, offenbar ernstlichen Selbsttötungsver676
Zutreffend Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 420.
500 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens such der Fall ist. So lag es im Scophedal-Fall des BGH677, wo die Selbsttötungshandlung zudem nicht nur Aufschluß über eine zeitlich weiter zuriickliegende Bereitschaft zur eigenhändigen Vomahme der Tötungshandlung gegeben hat, sondern der Handlung des Außenstehenden unmittelbar vorausging, so daß auch ein zwischenzeitliches Nachlassen der Festigkeit des Selbsttötungswunsches praktisch ausgeschlossen war. Dies ändert zwar freilich nichts daran, daß der Außenstehende den Sterbewilligen auch dann tötet, wenn er an eine eigenhändige Selbsttötungshandlung anschließt678, schließt es aber aus, eine Strafbarkeit mit Blick auf ein durch die Delegation der Tötungshandlung indiziertes Defizit zu legitimieren. Weitere typische Fälle, in denen die Delegation der Tötungshandlung ihre indizielle Kraft einbüßt, stehen in einer gewissen Nähe zu den Fallen des physischen Unvermögens. Es handelt sich um solche Konstellationen, in denen eine Selbsttötung dem Sterbewilligen zwar möglich ist, aber nur mit Hilfe von außen einzurichtender spezieller Vorrichtungen zum Ausgleich bestimmter physischer Defizite. So lag es etwa im Fall der vom Kopf abwärts gelähmten Frau, deren Sterbewunsch mit Hilfe eines Arztes durch das Anschließen an einen Tropf realisiert werden sollte, dessen eine Kammer Traubenzuckersaft und dessen andere Kammer eine tödlich wirkende Narkoselösung enthalten sollte. Ein entsprechender Mechanismus sollte es der Suizidentin ermöglichen, mit ihrer Zunge zwischen den Inhalten der beiden Kammern zu wählen679. Hier kann es kaum iiberzeugen, die Ernsthaftigkeit des Entschlusses von der geschilderten Weise der Selbstvornahme der unmittelbar todesherbeifuhrenden Handlung abhängig zu machen680. Denn wenn derjenige, der zu jeder körperlichen Verrichtung auf fremde Hilfe angewiesen ist, solche Hilfe auch zur Herbeifilhrung seines Todes in Anspruch nehmen will, so läßt ein solches Verlangen keinen Schluß auf mangelnde Ernsthaftigkeit des Todeswunsches zu. Die Delegation der Ausftihrungshandlung ist hier der naheliegende Ausgleich des physischen Defizits; sie ist Zeichen der physischen, nicht einer psychischen Schwäche. Auch in solchen Fallen kann also die Annahme, die Delegation indiziere eine Schwäche der Entscheidung, nicht die Strafbarkeit der bewilligten Fremdtötung tragen. Schließlich findet die auf ein Entscheidungsdefizit hinweisende indizielle Kraft der Delegation der Ausführungshandlung ihre - der Sache nach weithin anerkannte - Grenze an der indirekten Sterbehilfe6M, also dort, wo eine lebensverkiirzende Wirkung eine (mögliche oder auch sichere) Begleiterscheinung der Verabreichung von Schmerzmitteln ist. Die Delegation ist hier einerseits deshalb ohne Aussagekraft, weil die Verabreichung solcher Mittel - etwa wenn sie intravenös erfolgt zu den ärztlichen Leistungen gehört, die nur bei vorhandener Sonderfähigkeit oder 677 678 679 680
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BGHR § 216 Abs. 1 StGB, Tötungsverlangen 1. Zur abweichenden Auffassung Roxins siehe bereits oben II. 2. a) bb). BVerfGE 76, 248; VG Karlsruhe, JZ 1988, 208. Vgl. auch den Sachverhalt EGMR, N J W 2002, 2851. Vollkommen unhaltbar hat das VG Karlsruhe, JZ 1988, 208 ff. mit Erwägungen zum absoluten Lebensschutz im Rahmen einer objektiven grundrechtlichen Wertordnung fur eine Pflicht zum Weiterleben entschieden. Vgl. B G H S t 42, 3 0 1 , 305 und mit zahlreichen Nachw. oben 3. Teil, IV. 3. a) bb) (2).
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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durch komplexen technischen Aufwand durch den Patienten selbst erbracht werden könnte. Vor allem aber besteht hier kein ernsthafter Zweifel daran, daß der schmerzgepeinigte Patient einen von Defiziten freien Entschluß faßt, wenn er mit der Verabreichung von Schmerzmitteln auch dann einverstanden ist, wenn diese sein Leben verkürzen. Zusammenfassend: Plausibel bleibt die Relevanz der Delegation der Ausfiihrungshandlung als Indiz fur ein Entscheidungsdefizit also nur dort, wo fur ernsthaften Zweifel an der Qualität der Entscheidung Raum bleibt. Daran fehlt es vor allem vielfach dann, wenn sich besondere Griinde fur die gewählte Form der Realisierung einer selbstverfligenden Entscheidung aufdrängen. Verliert die Delegation der Ausfuhrungshandlung ihre indizielle Kraft und besteht intersubjektiv vermittelbar kein ernsthafter Zweifel an der Freiheit von Defiziten, so vermag die verbleibende theoretische Möglichkeit des Vorliegens einer defizitären Entscheidung keine Einschränkung der Handlungsfreiheit der Beteiligten zu legitimieren. Der Schutz vor möglicherweise defizitären Entscheidungen kommt also nur begrenzt als ratio von § 216 StGB in Betracht. Es bleibt abschließend noch darauf hinzuweisen, daß § 216 StGB bei dieser Interpretation nicht mehr nur Privilegierung zu § 212 StGB ist, sondern aufgrund der prinzipiell von § 212 StGB als einem Verletzungsdelikt abweichenden Deliktsstruktur adäquat nur als selbständiger Tatbestand erfaßt werden kann682. Eine weitere Begründung erfährt diese Auffassung, soweit die Vorschrift zusätzlich dem Schutz der Rechte anderer dient (dazu unten IV. 2. a)).
c) Das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung als ratio von § 228 StGB Ganz entsprechend zur ratio des § 216 StGB läßt sich auch die in § 228 StGB verordnete Unwirksamkeit der Einwilligung interpretieren, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt". Wolfgang Frisch hat bereits den Gedanken in die Diskussion eingeführt, daß die Sittenwidrigkeit der Tat ein - gesetzgeberisch mißglücktes - Chiffre fur das Vorliegen einer defizitären Entscheidung sei683. Dabei kann es allerdings noch nicht ilberzeugen, wenn die Orientierung an objektivierbaren Sachverhalten mit Unsicherheiten hinsichtlich der „Extension der Sachverhalte der Einwilligungsunfähigkeit und der relevanten Willensmängel" begründet wird684. Denn ob ein Defizit ein Gewicht hat, welches der Wirksamkeit der Einwilligung entgegensteht, muß allemal auch dann feststehen, wenn man dieses Defizit aus bestimmten objektiven Umständen erschließen will: Die objektiven Umstände milssen einen Mangel indizieren, dessen Vorliegen einer wirksamen Einwilligung entgegenstehen soil. Zweifel hinsichtlich des erforderlichen Gewichts solcher Mangel sind in 682 683 684
So im Ergebnis auch Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem zu §§ 211 ff. Rn. 7. Frisch, in: F S für Hirsch, S. 491 ff. Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 493 f.
502 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens der Diskussion auszuräumen und körmen nicht durch die Orientierung an äußeren Umständen dahingestellt bleiben - schon deshalb, weil sich die maßgeblichen äußeren Umstände nur benennen lassen, wenn man weiß, welches Gewicht die durch diese Umstände indizierten Defizite haben sollen. Richtig ist aber freilich, daß es nicht auf die genaue Beschreibung des psychischen Sachverhalts ankommen kann, der für das Vorliegen einer defizitären Entscheidung vorausgesetzt ist685: Nicht die Charakterisierung des psychischen Befunds ist entscheidend, sondern die - normativ begründete - Annahme, daß jedenfalls ein Defizit von einem Gewicht vorliegt, das es erlaubt, der Einwilligung ihre Wirksamkeit zu versagen. Die Interpretation von § 228 StGB als einer Vorschrift zum Schutz vor der Exekution nicht wirksam bewilligter Körperverletzungen tragend ist schließlich der Gedanke, daß das Vorliegen von - relevanten - Entscheidungsdefiziten nur über äußere Umstände zu erschließen ist und einiges dafür spricht, daß in gewissen Fallkonstellationen die Art des bewilligten Eingriffs fur das Vorliegen eines Entscheidungsdefizits spricht686. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn gravierende (möglicherweise sogar irreversible) körperliche Beeinträchtigungen ohne plausiblen Grund bewilligt werden687. Rönnau hat gegen diese Konzeption in ihrer von Frisch vorgetragenen Gestalt eingewandt, sie fuhre zu einer „unangemessene(n) 'Vernünftigkeitskontrolle'" und stelle eine „paternalistische Bevormundung der Person dar"688. Begtlnstigt wird diese Kritik dadurch, daß Frisch offenbar aus der objektiven Unvernunft einer Entscheidung darauf schließen will, daß auch tatsächlich eine defizitäre Entscheidung vorliegt; die objektiv unvernünftige Entscheidung gilt damit als eine solche, die die sonst (d.h. außerhalb der konkreten Entscheidungssituation) von der Person geteilten Vorstellungen von einer verniinftigen Entscheidung wirklich verfehlt689. 685 686 687 688
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Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 494. Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 494 f. Frisch, in: FS fflr Hirsch, S. 499. Rönnau, Willensmängel, S. 168; ähnlich Duttge, in: G S für Schlüchter, S. 776 f.; Kargl, JZ 2002, 397; Sternberg-Lieben, GS für Keller, S. 309. Vgl. auch Hardtung, in: MK, § 228 Rn. 22, der sich allerdings nicht prinzipiell gegen eine paternalistische Erklärung der Norm wendet, sondern nur die Reichweite einer solchen Erklärung fur unzureichend halt. So spricht Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 495 von einer „nicht autonome(n) Einwilligung", auf S. 499 heißt es, es sei unter bestimmten Umständen von einer unvernilnftigen Entscheidung „auszugehen", auf S. 500 heißt es, bestimmte Einwilligungen ließen sich „aus der Perspektive des Verniinftigen regelmäßig nur a!s Ausdruck der Unfreiheit verstehen", und auf S. 506 ist schließlich davon die Rede, die Einwilligung in bestimmte Verletzungen sei nicht als Ausdruck einer autonomen Willensentscheidung eines Verntlnftigen begreifbar. Der Gedanke, daß der objektive Sachverhalt lediglich zu Zweifeln an einer nicht-defizitären Entscheidung berechtigt, klingt an, wenn es bei Frisch (in: FS fur Hirsch, S. 495) heißt, daß gewisse Daten „das Gegebensein einer autonomen Entscheidung in Frage" stellen können und wird deutlicher, wenn Frisch, a.a.O., S. 498 von einer „aus der Sicht Dritter gegebenen oder naheliegenden" Unverniinftigkeit spricht (dann aber die Ausnahmefälle, in denen eine Einwilligung unwirksam sein soil, auf solche Fälle beschränkt, in denen der Einwilligende „ein Handeln
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfiigungen wegen Entscheidungsdefiziten
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Diese Annahme greift aber zu weit. Die objektive - d.h. nach den in einer Rechtsgemeinschaft akzeptierten Maßstäben festgestellte690 - Unvernunft einer Entscheidung garantiert noch nicht, daß es sich tatsächlich um eine unvernünftige Entscheidung handelt. Die Person kann auch anhand von Maßstäben selbstbestimmt entscheiden, die kraß von den sonst akzeptierten Wertvorstellungen abweichen. Soweit dies aber empirisch allenfalls die Ausnahme ist, bleibt es immerhin berechtigt, bei den erwähnten Entscheidungen, mit denen die Person ohne interpersonal vermittelbare plausible Begründung erhebliche, möglicherweise irreversible Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Integrität bewilligt, zumindest von der naheliegenden Möglichkeit auszugehen, daß eine solche Entscheidung nicht nur die objektiv anerkannten Maßstäbe selbstbestimmter Entscheidungen verfehlt, sondern auch die Maßstäbe der entscheidenden Person selbst. Es wird also nicht behauptet, daß eine objektiv vernunftwidrige Entscheidung auch die Vernunft des Entscheidenden verfehlt, aber es wird darauf hingewiesen, daß dies bei besonders krassen Abweichungen von der Norm immerhin nahe liegt. Die geforderte Indizienlage fur das Vorliegen einer defizitären Entscheidung ist bei dieser Sichtweise offenbar dichter als im Rahmen von § 216 StGB. Indiziell fur ein Entscheidungsdefizit ist hier nämlich nicht - wie bei § 216 StGB - schon die Delegation der Ausfuhrungshandlung in Zusammenhang mit dem besonderen Gewicht des Eingriffs (das bei Beeinträchtigungen des Lebens immer anzunehmen ist), sondern nur diese Umstände in Zusammenhang mit dem Fehlen plausibler Motive fur die Vornahme des Eingriffs. Während selbst bei einem interpersonal nachvollziehbaren Todeswunsch (etwa des schwer Leidenden) schon die Delegation der Tötungshandlung als hinreichendes Indiz fur das Vorliegen einer defizitären Entscheidung angesehen wird691, muß der defizitäre Charakter der Entscheidung bei Eingriffen in die körperliche Integrität auch dadurch indiziert werden, daß die Art des Eingriffs - gekennzeichnet insbesondere durch dessen Intensität und (fehlende) Sinnhaftigkeit692 - auf eine defizitäre Entscheidung zurückweist. Diese erhöhten Anforderungen an die Indizienlage finden ihre Berechtigung zum einen darin, daß der niedrigere Rang des Rechtsguts „körperliche Integrität" die Exekution von in Wahrheit defizitären Entscheidungen leichter erträglich erscheinen läßt. Vor allem aber liegt es nach der phänomenologischen Struktur der Fälle der Verfugung ilber das Leben näher, daß selbst ein nachvollziehbares Tötungsverlangen defizitär ist. Derm die Nachvollziehbarkeit grilndet sich hier auf die intersubjektive Vermittelbarkeit von Gefuhlen der Aussichtslosigkeit und Hoff-
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entsprechend dieser Einwilligung nicht wilnscht, weil nicht wiinschen kann" - womit dann offenbar doch nur die wirklich defizitäre Entscheidung erfaßt sein soil). Frisch, in: FS für Hirsch, S. 502. Mit der bloßen Nachvollziehbarkeit ist damit noch nicht gemeint, daß in solchen Fallen auch schon interpersonal gültige Gewißheit an der Defizitfreiheit des Entschlusses besteht. Es geht hier also noch nicht um die (oben b) thematisierten) Sachverhalte, in denen die Delegation ihre indizielle Kraft verloren hat. Kriterien also, die auch die moderne, von moralisierenden Erwägungen sich lösende Rechtsprechung zur Konkretisierung des Sittenwidrigkeitsurteils heranzieht; vgl. insb. BGH, N J W 2004, 2458, 2459.
504 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
nungslosigkeit, also auf psychische Zustände in denen ein Mangel an Perspektive den Menschen zur Aufgabe bewegen kann. Es entspricht der Erfahrung, daß solche Zustände vielfach nur temporär sind und nicht der „wahren" Einstellung der Person entsprechen. Die Plausibilität von Entscheidungen zugunsten von Eingriffen in die körperliche Integrität gründet dagegen regelmäßig darauf, daß solche Entscheidungen Ausdruck von Gestaltungsmöglichkeiten sind, die ihre Nachvollziehbarkeit gerade daraus beziehen, daß sie sich in geläufige Vorstellungen von einer sinnvollen Lebensgestaltung einfugen. Sind diese Perspektiven nachvollziehbar, dann liegt es zum einen nahe, daß die getroffene Entscheidung tatsächlich das Selbstbestimmungsrecht der Person realisiert. Zum anderen ware aber auch die Exekution einer defizitären Entscheidung deshalb weniger fatal, weil interpersonal nachvollziehbare Eingriffe in die körperliche Integrität regelmäßig solche sind, die auch dann, wenn sie schließlich doch die individuellen Maßstäbe der Person verfehlen, auch fur die betroffene Person keine unerträglichen und sinnlosen Einbußen nach sich ziehen. Wenn nun ein Recht mit Rilcksicht auf die naheliegende Möglichkeit des Vorliegens einer defizitären Einwilligung dieser ihre rechtliche Wirksamkeit nimmt, dann ist dies keine „unangemessene 'Vernünftigkeitskontrolle'", sondern entspricht auch der Vernunft des Abweichlers, wenn er sich auf eine solche rechtliche Regelung im Interesse der Herstellung allgemeiner Freiheit einlassen müßte. Ein Recht, das zur Bewältigung solcher Situationen der Unsicherheit angemessene Regeln bereitstellen muß, kann nicht unter Berufung auf die „Basis eines freiheitlichen Ansatzes"693 darauf festgelegt werden, diese Unsicherheit zu Lasten derer aufzulösen, bei denen der Schluß von der objektiven Vernunftwidrigkeit auf das Verfehlen auch der individuellen Vernunft berechtigt ist. Das Recht muß nicht die Wirksamkeit einer nicht-defizitären Entscheidung auch dort garantieren, wo bestimmte objektive Umstände die Möglichkeit nahelegen, daß es sich um eine defizitäre Entscheidung handelt. Halt die Regelung vor der Vernunft des Abweichlers stand, dann kann die Unwirksamkeit seiner Einwilligung auch keine Bevormundung sein - denn sie ist Ausdruck einer rechtlichen Festlegung, die er selbst mit trägt (siehe schon oben 2. Teil). Wenn Frisch schreibt, der durch § 228 StGB gewährte Schutz habe „nichts mit einer paternalistischen Bevormundung des einzelnen zu tun" und entspreche im Gegenteil „dem, was das vernünftige Individuum selbst für solche Sachverhalte will"694, so ist dieser Vernunftbezug jedenfalls dann noch ungenau erfaßt, wenn damit der „wahre" Wille der Person fur die konkrete Situation gemeint sein soil. Denn es ist - wie gezeigt - nicht vorausgesetzt, daß die konkrete Person ihre eigenen Maßstäbe einer vernünftigen Entscheidung verfehlt hat und deshalb zur Verwirklichung ihrer eigenen Wertvorstellungen vor einer Exekution ihrer Entscheidung geschützt werden müßte, sondern es geht darum, daß es mit Blick auf das bloße, durch bestimmte Tatsachen gestützte Risiko einer defizitären Entscheidung rechtlich (und d.h.: auch vor der Person, die in concreto nicht defizitär entscheidet) zulässig ist, solchen Entscheidungen die rechtliche Wirksamkeit zu versagen. 693 694
Rönnau, Willensmängel, S. 168. Frisch, in: F S fur Hirsch, S. 495 (im Original teilweise kursiv).
III. Wirksamkeitsgrenzen von Selbstverfügungen wegen Entscheidungsdefiziten
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§ 228 StGB ist in seiner Bezugnahme auf die „guten Sitten" freilich alles andere als eine gelungene Normierung der Unwirksamkeit solcher Einwilligungen, bei denen das Risiko einer defizitären Entscheidung als hoch und deshalb als - mit Blick auf die Bedeutung des bewilligten Eingriffs - nicht tragbar erscheint. Deutlich wird aus der Vorschrift aber immerhin ein Wechsel der Perspektive von dem Bemühen um Aufklärung des konkreten Defizits auf das Vorliegen solcher äußerer Umstände, die ein relevantes Defizit indizieren695. Es steht dem Wortlaut auch nicht entgegen, die Orientierung an einer Einwilligung, die nach dem Gewicht des bewilligten Eingriffs und mit Blick auf das Fehlen plausibler Griinde fur eine Bewilligung mit einiger Wahrscheinlichkeit defizitär ist, als sittenwidrig zu bezeichnen696. Freilich hat eine solche Vorgehensweise weniger etwas mit Auslegung als damit zu tun, einen berechtigt erscheinenden Norminhalt einer Vorschrift zu unterlegen. Die Sittenwidrigkeit ist bei dieser Sichtweise nicht Anknüpfungspunkt der Auslegung, sondern lediglich ein Reflex, der bei Vorliegen der maßgeblichen Kriterien sichtbar wird697. Die geläufige Behauptung, § 228 StGB sei aufgrund seiner Unbestimmtheit verfassungswidrig698, mag damit gegen Interpretationen gerichtet ihre Berechtigung haben, die dem Kriterium der Sittenwidrigkeit Maßstabsqualitäten abverlangen. Entwickelt man die Berechtigung von Einschränkungen der Wirksamkeit von Einwilligungen aus allgemeinen Grundsätzen, so bleiben diese Einschränkungen von dem Bestand der positivierten Vorschrift unabhängig - ihre Geltung hängt (wie die Geltung der iibrigen, von Rechtsprechung und Wissenschaft konturierten Einwilligungsgrenzen) von ihrer Anerkennung in der Rechtspraxis ab699. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Annahme, die Unwirksamkeit von Einwilligungen lasse sich aus dem durch gewisse objektive Umstände begründeten Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung begründen, den §§ 223 ff. StGB gleichsam einen Doppelcharakter verleiht. Das von ihnen erfaßte Unrecht liegt einerseits (und vor allem) darin, daß der Außenstehende sein Rechtsverhältnis zum Opfer durch einen willenswidrigen Eingriff in dessen körperliche Integrität verletzt und zum anderen darin, daß er in die körperliche Integrität durch eine Verletzungshandlung eingreift, der das rechtlich unerlaubte Risiko anhaftet, daß sie nicht vom Willen des Opfers gedeckt ist. Es dtlrfte nichts dagegen sprechen, beide rationes in ihrer gemeinsamen individualgüterschützenden Zielrichtung denselben Tatbeständen - und denselben Strafrahmen - zu unterwerfen.
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Frisch, in: FS für Hirsch, S. 505. Frisch, in: FS für Hirsch, S. 505. Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 505 f. So etwa Sternberg-Lieben, in: GS fur Keller, S. 289 ff.; ders., Die objektiven Schranken, S. 162 mit zahlreichen Nachw. Vgl. Frisch, in: FS fur Hirsch, S. 505, der fur den von ihm entwickelten Unwirksamkeitsgrund ebenfalls in Anspruch nimmt, daß ihn „eine sorgfältig entworfene Einwilligungsdogmatik selbst dann enthalten müßte, wenn es eine Vorschrift wie § 228 StGB nicht gäbe".
506 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
IV. Grenzen der Selbstverfiigungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer Es ist eine von der Einwilligungsdogmatik geläufige Einsicht, daß die Verfügungsfreiheit dort endet, wo Rechte anderer entgegenstehen, ilber die der Entscheidende nicht disponieren kann. Solche Einschränkungen richten sich nicht gegen die selbstverfügende Entscheidung als solche, sondern gegen den Fremdverfugungssinn, der mit einem selbstverfugenden Verhalten verknüpft sein kann; es geht insoweit also nicht um Selbstverfugungen, sondern um Fremdverfiigungen700. Fehlt dem Opfer die rechtliche Macht, das Verhältnis des Außenstehenden zum Dritten zu gestalten, so bleibt eine entsprechende Entscheidung insoweit rechtlich wirkungslos und eine grundsätzlich zum Schutze dieser Rechte Dritter verbotene Risikoschaffung bleibt verboten. Weil sich aber ein mit einem Verhalten verbundenes Risiko nicht durch ein isoliertes Verbot dieser Risikodimension untersagen läßt, kann das bewilligte Verhalten nur insgesamt verboten werden. Freilich steht dieses Verbot im Dienste des Schutzes der Rechte des Dritten, nicht der des Opfers. Der Wirksamkeit der Gestaltung des Rechtsverhältnisses von Außenstehendem und Opfer steht die Unwirksamkeit im Verhältnis von Außenstehendem und Dritten also nicht entgegen701. In den Fallen der einverständlichen Fremdschädigung und -gefährdung können Rechte anderer also dazu führen, daß das bewilligter Verhalten wegen seiner mit ihm verbundenen fremdschädigenden bzw. -gefährdenden Dimension verboten bleibt. In den Fallen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung und -gefährdung macht sich das Prinzip der Selbstverantwortung - wie gezeigt - nicht in Form einer Umgestaltung des Rechtsverhältnisses von Täter und Opfer geltend, sondern in der Weise, daß Verhaltensweisen des Außenstehenden, die selbstverfugendes Verhalten ermöglichen oder fördern, mit Blick auf die Selbstverfugungsfreiheit des Opfers nicht verboten werden können. Kommt einem selbstverfügenden Verhalten in diesen Fallen aber als zusätzliche Risikodimension auch eine Verletzung der Rechte anderer zu, so stellt sich die Frage, ob ein Verbot des Verhaltens des Außenstehenden mit Blick auf diese zusätzliche Risikodimension verboten sein kann bzw. auch tatsächlich ist. Die Rechte anderer können sich also je nach Fallkonstellation in unterschiedlicher Weise auf die Selbstverfugungsfreiheit des Opfers und damit auf die Handlungsfreiheit des Außenstehenden auswirken. Unabhängig davon, ob die Rechte anderer der Wirksamkeit der Bewilligung eines bestimmten Verhaltens des Außenstehenden entgegenstehen oder aber ein Verhalten des Außenstehenden deshalb verboten ist, weil es ein ilber die Opferentscheidung vermitteltes unerlaubtes Risiko fur Dritte darstellt, handelt es sich bei diesen Einschränkungen der Selbst-
Zutreffend in diesem Sinne etv/aJakobs, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 463, 465 (zur Selbsttötung). Beispielhaft: eine nach § 109 StGB verbotene bewilligte Fremdverletzung fuhrt nicht notwendig zu einer Bestrafung nach § 223 ff. StGB; die Einwilligung kann freilich nach den dort geltenden Maßstäben (insb. § 228 StGB) unwirksam sein.
IV. Grenzen der Selbstverfilgungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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verfugungsfreiheit nicht um spezifische Fragen der Opferselbstverantwortung. Denn die Verkniipfung einer selbstverfiigenden Entscheidung mit Eingriffen in die Rechte anderer ist eine gleichsam äußere, durch die Einheitlichkeit desjenigen Verhaltens bedingte, das beide Risikodimensionen trägt. Die Freiheit der Selbstverfugung ist nur eine denkbare inhaltliche Konkretisierung von Willkürfreiheit, die durch die Rechte anderer eingeschränkt sein kann702. Es ist ftlr die Verbotenheit des Verhaltens des Außenstehenden mit Buck auf die Rechte Drifter nicht ausschlaggebend, ob das Opfer mit seiner die Rechte anderer verletzenden Entscheidung auch (oder primär) eine Selbstverfiigung realisieren will oder ob das mit Blick auf möglicherweise nachfolgendes Opferverhalten zum Schutz der Rechte Dritter verbotene Verhalten neben dieser verbotenen Risikodimension auch die erlaubte Risikodimension der Ermöglichung oder Förderung einer selbstverfiigenden Entscheidung des Opfers trägt: Das Opfer kann nicht deshalb, weil seine Entscheidung auch Selbstverfugungssinn hat, über die Rechte anderer disponieren, und der Außenstehende kann nicht deshalb, weil sein Verhalten auch eine Selbstverfiigung des Opfers ermöglicht oder fordert, die Rechte Dritter verletzen. Freilich ist es eine vom Recht zu leistende Aufgabe, die Handlungsfreiheiten des Opfers und des Außenstehenden mit der Handlungsfreiheit der anderen zu einem Ausgleich zu bringen, also anzugeben, inwieweit die Willkiirfreiheit der anderen zu einem Recht erstarkt, das der rechtlichen Wirksamkeit von Entscheidungen des Opfers entgegensteht und das Verhalten des Außenstehenden zu einem unerlaubten macht. Auch insoweit geht es freilich um das allgemeine Problem, die Willkürfreiheit der Vielen im Recht zu einem Ausgleich zu bringen, und nicht um ein spezifisches Problem gerade der Selbstverfügungsfreiheit. Als Problem der SelbstverfUgungsfreiheit läßt sich die allgemeine Frage, inwieweit die Handlungsfreiheit des Einzelnen mit Blick auf die Rechte anderer (strafbewehrte) Einschränkungen erfährt, in den hier erörterten Fallen aber insoweit spezifizieren, als es gerade um solche Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit geht, mit denen in die Selbstverfilgungsfreiheit der Person eingegriffen wird. Es wurde schon aufgezeigt, daß dieses Problem verfassungsrechtlich die Frage aufwirft, welche Rechte anderer Qberhaupt die SelbstverfUgungsfreiheit einschränken können und ob - wenn sie hierfur prinzipiell geeignet sind - die Einschränkung verhältnismäßig ist. War damit der Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen markiert, stellt sich weiter die Frage, welche Rechte anderer sich nach der geltenden Verhaltensordnung gegen die SelbstverfUgungsfreiheit bezüglich der jeweiligen Individualgilter durchsetzen und vor allem die Frage, inwieweit solche Einschränkungen der SelbstverfUgungsfreiheit Verhaltensverbote begriinden, die Gegenstand strafrechtlicher Sanktionsnormen sind, inwieweit sie also als rechtlich mißbilligte Gefahrschaffungen den Handlungsunwert von Straftatbeständen erfüllen. Beide Fragen lassen sich grundsätzlich trennen. Die Möglichkeit, einer selbstverfugenden Entscheidung mit Blick auf Rechte anderer die rechtliche Wirksamkeit abzusprechen, 702
Beispielhaft: als drittschädigendes Verhalten bei § 283 Abs. 1 Nr. StGB kommt nicht nur die Zerstörung von Vermögensbestandteilen (Selbstschädigung), sondern auch ein Beiseiteschaffen von Vermögensbestandteilen in Betracht.
508 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ist noch nicht identisch mit der Legitimation strafrechtlicher Ahndung solcher Verhaltensweisen, die solche Entscheidungen ermöglichen, erleichtern oder realisieren. Dies ergibt sich schon aus der ultima ratio Funktion des Strafrechts. In der nachfolgenden Darstellung erscheint es aber zweckmäßig, ein Eingehen auf die Frage nach der Legitimation gerade des Einsatzes von Strafe davon abhängig zu machen, ob sich spezifische Zweifel in dieser Richtung ergeben. Dieses Problem kann sich aber erst dann stellen, wenn sich der Schutz der Rechte anderer zumindest als Interpretationsmöglichkeit eines Straftatbestandes erwiesen hat. Es wird also unmittelbar der Blick auf solche Tatbestände des Besonderen Teils des StGB gerichtet, bei denen zumindest nach einer Interpretationsmöglichkeit eine selbstverfugende Entscheidung die Strafbarkeit eines diese Entscheidung ermöglichenden oder fo'rdernden oder an dieser Entscheidung orientierten Verhaltens deshalb nicht ausschließt, weil dieser Straftatbestand dem Schutz der Rechte Dritter dient.
1.
Tatbestände, die (auch) dem Schutz der Rechte anderer dienen
Es gibt eine ganze Reihe von Tatbeständen des StGB, bei denen auf Individualgiiter bezogene Selbstverfiigungen bzw. auf diese bezogene Handlungen Außenstehender mit Blick auf Rechte anderer, die durch diese Selbstverfügungen tangiert werden, sanktioniert sind703. Bei vielen dieser Tatbestände wird der Schutzzweck zugunsten der Rechte Dritter bereits aus dem Gesetzeswortlaut oder aus der systematischen Stellung der Vorschrift deutlich. Dabei werden teilweise schon selbstverfügende Handlungen des Rechtsgutsträgers selbst verboten704, teilweise (zudem) solche Handlungen eines Außenstehenden, die das Risiko der durch eine Selbstverfügung zu bewirkenden Drittschädigung schaffen oder erhöhen (hierher gehören insbesondere Teilnahmehandlungen) und solche Handlungen, die ein Außenstehender mit Zustimmung des Rechtsgutsinhabers vornimmt705.
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Vgl. auch die Bsp. bei Mitsch, Rechtfertigung, S. 46 ff. So zum Beispiel bei der Selbstverstümmlung eines Wehrpflichtigen nach § 109 StGB; beim Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) und beim Verstrickungsbruch (§ 136 Abs. 1 StGB), wenn der Eigentümer der Sache diese zerstört oder beschädigt; bei der Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 StGB) wenn der Täter sich selbst in den Zustand der Leistungsunfähigkeit versetzt (BGHSt 14, 165, 167); bei der Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht ( § 1 7 1 StGB), wenn z.B. ein bestimmter Lebenswandel die Gefahr von Schädigungen der psychischen Entwicklung des Schutzbefohlenen bedingt (vgl. BGH, NStZ 1995, 178); bei der Ausiibung der verbotenen Prostitution (§ 184a StGB); beim Schwangerschaftsabbruch ( § 2 1 8 StGB); wenn beim Bankrott der Täter nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB eigene Sachen zerstört; wenn der Brandstifter in den Fallen der §§ 306a ff. StGB ein in seinem Eigentum stehendes Objekt in Brand setzt; wenn sich der Fahrer bei einer Gefährdung im Straßenverkehr (§ 315c StGB) selbst gefährdet; beim Vollrausch nach § 323a StGB; wenn die Bodenverunreinung (§ 324a StGB) das eigene Grundstiick betrifft. Also etwa bei § 109 StGB die bewilligte Verstümmelung; bei §§ 133, 136 StGB die vom Eigentümer bewilligte Zerstörung der verwahrten oder verstrickten Sache; bei der Schuldnerbegiinstigung (§ 283d StGB) das Zerstören von Sachen des Schuldners mit
IV. Grenzen der Selbstverfligungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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Bei diesen Tatbeständen zum Schutz der Rechte Dritter handelt es sich vor allem um solche, bei denen die tatbestandlich vorausgesetzte äußere Beeinträchtigung eines Individualrechtsgutes iiberhaupt nicht das mit diesem Tatbestand geschützte Rechtsgut betrifft. So ist mit der Verstiimmlung eines Wehrpflichtigen (§ 109 StGB) zwar ein Eingriff in dessen körperliche Integrität vorausgesetzt, aber diese steht zum tatbestandlich geschützten Rechtsgut in einem lediglich äußeren Zusammenhang. Es ist in diesen Fallen nach der Tatbestandsstruktur ausgeschlossen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Tatbestandsverwirklichung entgegensteht; die selbstverftigende Entscheidung des Opfers betrifft eine Dimension des Täterverhaltens, die tatbestandlich irrelevant ist. 1st also die entsprechende Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts mit Riicksicht auf Rechte anderer nach verfassungsrechtlichen Maßstäben haltbar, was nur in wenigen Ausnahmefällen zweifelhaft sein wird706, so kommt der selbstverfugenden Entscheidung keine Bedeutung fur die Tatbestandserfullung zu. Intensiv diskutiert wird die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts bei solchen Tatbeständen, die - zumindest nach einer Interpretationsmöglichkeit - immerhin auch dem Individualschutz dienen, bei denen also die Zustimmung des Opfers der Handlung zumindest unter einem tatbestandlich relevanten Aspekt den Unwert nimmt. Praktisch bedeutsam sind vor allem solche Fälle, in denen ein betrunkener Fahrer einen Pkw filhrt und es im Verlauf der Fahrt zu einer durch die Trunkenheit bedingten konkreten Gefahrdung des Beifahrers kommt. Wenn dem Beifahrer die trunkenheitsbedingte Fahruntüchtigkeit bekannt war, so stellt sich die Frage, ob die Teilnahme an der Fahrt trotz dieser Kenntnis einer Strafbarkeit des Fahrers nach § 315c StGB insoweit entgegensteht707. Das Problem stellt sich aber z.B. auch bei der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) zu Lasten einer hiermit einverstandenen Person, wenn man mit der h.M. zwei Rechtsgiiter durch diese Vorschrift geschützt sieht, nämlich die Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Rechtspflege einerseits und den Schutz des Einzelnen vor ungerechtfertigten staatlichen Maßnahmen andererseits708'709. Solchen Fragen der Interpretation einzelner Tatbestände des Besonderen Teils kann hier freilich nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Dargestellt werden kann aber, welche Konsequenzen sich aus den jeweils zugrundegelegten Tatbestandsverständnissen für die Berücksichtigung selbstverfügender Opferentscheidungen ergeben. Dient ein Tatbestand sowohl dem Schutz der Rechte anderer als auch dem Individualgüterschutz, so hängt die Relevanz einer iiber das Individualgut verfügenden
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dessen Einwilligung; bei §§ 306a ff. StGB das vom Eigentümer bewilligte Inbrandsetzen. Unter verfassungsrechtlichen Aspekten diskutabel ist etwa die Frage, welche Einschränkungen der Handlungsfreiheit mit Blick auf die durch selbstschädigendes Verhalten bedingte Leistungsfähigkeit (§ 170 StGB) legitimierbar sind. Zusammenfassend dazu Geppert, Jura 1996, 47 ff.; F.-C. Schroeder, JuS 1994, 846 ff. Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 164 Rn. 1; zu abweichenden Auffassungen siehe a.a.O., Rn. 2. Während bei den Aussagedelikten nach §§ 153 ff. StGB nach h.M. geschütztes Rechtsgut allein die Rechtspflege ist; vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 153 ff. Rn. 2.
510 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Opferentscheidung fur die rechtswidrige Erfiillung des Tatbestandes davon ab, in welchem Verhältnis Individualgüterschutz und der Schutz der Rechte anderer zueinander stehen. Stehen die Rechtsgüter fur die Tatbestandserfullung in einem Verhältnis der Alternativität710, so kann auch zustimmendes Verhalten des Opfers bezogen auf eine Verletzung des Individualrechtsguts die Tatbestandserfullung nicht ausschließen711. Verlangt ein Tatbestand hingegen kumulativ die Verletzung beider Rechtsgilter712, so schließt die Selbstverfugung des Opfers die rechtswidrige Tatbestandserfullung aus713. Bei genauerem Hinsehen reduzieren sich die Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung bei mehreren tatbestandlich geschützten Rechtsgütern unter dem Aspekt der Relevanz zustimmenden Opferverhaltens auf diese beiden Varianten. Freilich lassen sich neben solchen symmetrischen, grundsätzlich durch ihre Gleichberechtigung ausgezeichneten Bestimmungen des Verhältnisses der geschützten Rechtsgtitern zueinander714 prinzipiell noch andere Gewichtungen tatbestandlich geschützter Rechtsgilter denken (was etwa fur das Strafmaß relevant sein kann); aber unabhängig von solchen unterschiedlichen Gewichtungen ist eine rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung bei zustimmendem Opferverhalten jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn die Beeinträchtigung des Individualgutes Bedingung der Tatbestandsverwirklichung ist - eine solche Bedingung mag untergeordnet sein, aber das ware immer noch etwas anderes als verzichtbar (womit es in Wahrheit iiberhaupt nicht auf die Beeinträchtigung des Individualguts fur die Tatbestandsverwirklichung ankäme). Wenn also verschiedentlich das Verhältnis der Rechtsgilter dahingehend bestimmt wird, daß eines der Rechtsgilter lediglich mittelbar geschiitzt sein soil715, also gleichsam reflexhaft nur fur den Fall, daß der Täter in das andere - unmittel710
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So z.B. für § 164 StGB BGH, JR 1965, 306 f. (zustimmend H. Schroder, NJW 1965, 1890); Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 164 Rn. 1; kritisch z.B. Rudolphi/Rogall, in: SK StGB, § 164 Rn. 2. So flir § 164 StGB Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 164 Rn. 23. So fur § 164 StGB Frank, Strafgesetzbuch, § 164 Anm. I.; kritisch z.B. Rudolphi/Rogall, in: SK StGB, § 164 Rn. 2. Für § 315c StGB (jedenfalls j n der Alternative der Trunkenheitsfahrt, bei der § 316 StGB eine Auffangfunktion zukommt) in diesem Sinne Hillenkamp, JuS 1977, 171. So fur § 164 StGB Frank, Strafgesetzbuch, § 164 Anm. I. 1. Für § 315c StGB Hillenkamp, JuS 1977, 171. Den „gleichberechtigten" Schutz von Individualgiitern und dem überindividuellen Gut in: der Straßenverkehrssicherheit bei § 315c betonen z.B. Cramer/Sternberg-Lieben, Schönke/Schröder, § 315c Rn. 4 3 . So die Rechtsprechung des R G zu § 164 StGB, wonach diese Vorschrift nur mittelbar dem Schutz des zu Unrecht Verdächtigten dienen sollte; dazu Hirsch, in: G S für H. Schroder, S. 308 f. mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 5. Dagegen weist B G H , N J W 1952, 1385 eher auf eine Umkehrung des Verhältnisses der von § 164 StGB geschiitzten Rechtsgilter zugunsten des Individualschutzes hin. Z u § 315c StGB ist in B G H S t 23, 261 ausgefuhrt, der „mitverwirklichte Schutz des einzelnen" sei „nur eine Nebenwirkung v o n untergeordneter Bedeutung", weshalb die Einwilligung d e s Beifahrers eine Strafbarkeit des Fahrers nach dieser Vorschrift nicht ausschließe.
IV. Grenzen der Selbstverfiigungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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bar - geschützte Rechtsgut eingreift, so bedeutet dies nichts anderes, als daß das mittelbar geschiltzte Rechtsgut kein selbständiges Schutzgut des betreffenden Tatbestandes darstellt und seine Verletzung fur die Tatbestandsverwirklichung nicht vorausgesetzt ist. Bezweckt ein Tatbestand nur mittelbar den Schutz eines Individualrechtsguts, so kann eine auf dieses Gut bezogene selbstverfugende Entscheidung des Opfers folglich keinen Unrechtsausschluß bewirken. Nichts anderes ist letztlich gemeint, wenn ein Tatbestand eines der Rechtsgilter „vornehmlich" schützt716. Auch mit einem solchen Rangverhältnis der geschiltzten Rechtsgiiter soil zum Ausdruck gebracht werden, daß zustimmendes Opferverhalten eine Strafbarkeit des Täters nur dann ausschließen kann, wenn der tatbestandliche Schutz primär dem Individualgut gilt; geht es hingegen vorrangig um den Schutz der Rechte anderer, so soil eine selbstverfugende Entscheidung des Opfers einer Strafbarkeit des Außenstehenden nicht entgegenstehen717. Offenbar sind die Konsequenzen, die mit diesem Rangverhältnis verbunden werden - also die Unbeachtlichkeit der Einwilligung fur den Fall, daß die Vorschrift dem Individualschutz lediglich nachrangig dient -, allein mit dem postulierten Rangverhältnis der geschiitzten Rechtsgiiter nicht begriindet. Derm es ließe sich durchaus denken, daß die Erfiillung eines Tatbestandes auch von der Beeinträchtigung eines nachrangigen Rechtsguts abhängig gemacht werden könnte (kumulativer Rechtsgiiterschutz). Auch mit dem Rangverhältnis ist also in Wahrheit behauptet, daß die Beeinträchtigung des nachrangigen Rechtsguts fur die Tatbestandserfüllung überhaupt verzichtbar ist. Eine entsprechende Verhältnisbestimmung ist auch mit der Auffassung verbunden, die Beeinträchtigung eines der Rechtsgiiter entfalte lediglich Indizfunktion bezogen auf die Verletzung des anderen Rechtsguts. Ein solches Verständnis wird fiir § 315c StGB diskutiert, wo verschiedentlich die Auffassung vertreten wird, die tatbestandlich geforderte Gefährdung eines Individualrechtsgutes sei lediglich ein Indiz fur die Gefährlichkeit des Täterverhaltens fiir die Allgemeinheit718. Die Unbeachtlichkeit der Zustimmung des Opfers läßt sich auch hier letztlich nur tiberzeugend begründen, wenn der Beeinträchtigung des Individualguts ihre begriindende Bedeutung fur die Tatbestandserftillung abgesprochen wird. Die Individualrechtsgiiter werden in einem solchen Verständnis lediglich „faktisch mitgeschützt"719. Die Indizwirkung wird gerade nicht davon abhängig gemacht, daß das konkrete Rechtsverhältnis unter den Beteiligten in Richtung auf das jeweilige Individualrechtsgut durch das Täterverhalten verletzt wird, denn sonst müßte die Indizwirkung mit der selbstverfiigenden Opferentscheidung entfallen. Fiir ausreichend wird vielmehr gehalten, wenn das Täterverhalten sich bei äußerlicher Betrachtung als Verletzung des Rechtsverhältnisses darstellt, der Täter also letztlich durch die Gefährdung von Leib oder Leben eines Menschen (unabhängig von der verhältnisverletzenden Qualität dieses Verhaltens) seine fehlende Fahrttichtigkeit
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So zu § 315c StGB Lackner/Kühl, § 315c Rn. 1. Lackner/Kühl, § 315c Rn. 32. So König, in: LK, § 315c Rn. 3, § 315 Rn. 5. Kritisch dazu Langrock, M D R 1970, 984. König, in: LK, §315Rn. 5.
512 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens demonstriert und damit zeigt, daß er ebenso gut fur andere Verkehrsteilnehmer eine Gefahr darstellt. Überzeugen können solche Interpretationen von § 315c StGB nicht: ware der Individualgüterschutz für diese Vorschrift nicht konstitutiv, so ware schon nicht einzusehen, warum die von der konkreten Gefährdung ausgehende Indizwirkung sich nicht schon bei der Selbstgefahrdung des Fahrers entfaltet, warum also der Gesetzgeber die Gefährdung eines „anderen" fordert. Wenn die Vorschrift auch dem Individualgiiterschutz dient, dann ist es - unabhängig von der Gewichtung der Schutzgiiter720 - nach der gesetzlichen Systematik doch wohl so, daß das Interesse der Verkehrssicherheit in Fallen, in denen es an einer rechtlich verbotenen Gefährdung von Individualgiitern fehlt, durch § 316 StGB geschützt wird721.
2.
Tatbestände, bei denen die Gesetzesfassung keinen Bezug auf die Rechte anderer erkennen läßt - insbesondere § 216 StGB und §§ 223 ff. StGB
Vorstehend wurden solche Tatbestände behandelt, bei denen nach der Fassung des Tatbestandes oder dessen systematischer Stellung im Gesetz der Schutz der Rechte anderer als Schutzzweck deutlich hervortritt oder jedenfalls eine Interpretation in diesem Sinne naheliegt. Aus der Auslegung dieser Tatbestände ergibt sich dann regelmäßig auch, welches iiberindividuelle Rechtsgut die jeweilige Vorschrift schiitzen soil. Das ist bei den Vorschriften der §§ 212, 216 StGB und §§ 223 ff. StGB (in ihrer Verbindung mit § 228 StGB) nicht der Fall. Diese Vorschriften dienen auf den ersten Blick offensichtlich dem Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität, also ausgesprochenen Individualrechtsgiltern. Erst mit der Einsicht, daß paternalistischer Schutz des Menschen vor seinen eigenen, nicht-defizitären Entscheidungen
Verfehlt ist es, einerseits die individualgüterschützende Funktion von § 315c StGB anzuerkennen, andererseits aber die Zustimmung des Beifahrers mit dem lapidaren Hinweis fur unbeachtlich zu erklären, dieser könne nicht über das Rechtsgut der allgemeinen Verkehrssicherheit verfugen (so z.B. Lackner/Kiihl, § 315c Rn. 1, 32; Wessels/ Hettinger, BT/1, Rn. 978, 993). Daß der Beifahrer nicht über das Rechtsgut der allgemeinen Verkehrssicherheit verfugen kann, ist evident, die Frage ist aber, welche Bedeutung seiner Verfugung liber das von der Vorschrift ebenfalls geschiltzte Individualrechtsgut fur die rechtswidrige Erfullung des Tatbestands zukommt. Der Sache nach gehen die genannten Autoren offenbar doch davon aus, daß der Angriff auf die Individualgüter fur eine Strafbarkeit nach § 315c StGB nicht konstitutiv ist. Siehe dazu schon oben im Text. In diesem Sinne etwa Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 38 Rn. 43 f; Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, § 315c Rn. 43; Geppert, Jura 2001, 565; Graul, JuS 1992, 325; Hillenkamp, JuS 1977, 170 f.; Langrock, MDR 1970, 983 f; Rengier, Strafrecht BT II, § 44 Rn.9.
IV. Grenzen der Selbstverfiigungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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sich nicht legitimieren läßt, wird auch deutlich, daß es insoweit im Fall einer Verfligung über die betreffenden Individualrechtsgiiter ausgeschlossen ist, das Verhalten des Außenstehenden unter einen individualgüterschützenden Tatbestand zu subsumieren. Soweit individualgüterschützende Interpretationen mit Rilcksicht auf das Risiko defizitärer Entscheidungen als möglich aufgezeigt wurden, waren auch die Grenzen solcher Interpretationsmöglichkeiten hervorgetreten (oben III. 4.). Damit drängt sich die Frage auf, ob mit dem bewilligten Eingriff in die jeweiligen Individualrechtsgüter auch Eingriffe in die Rechte anderer einhergehen, die tatbestandlich von den Sanktionsnormen erfaßt sein könnten. Damit ist die Frage, ob eine „Rechtsgutsvertauschung" - also die Subsumtion eines Verhaltens unter eine Sanktionsnorm unter einem Aspekt, der jenseits des Schutzzwecks dieser Sanktionsnorm liegt - zulässig sein kann722, bereits beantwortet: eine solche Rechtsgutsvertauschung ist selbstverständlich unzulässig, weil Strafe die schuldhafte Verwirklichung des tatbestandlich erfaßten Unrechts voraussetzt (Art. 102 Abs. 2 GG). 1st man also z.B. der Auffassung, § 216 StGB diene allein dem Individualgüterschutz und ist man weiter der Auffassung, eine Einschränkung der Selbstverfugungsfreiheit lasse sich aus Belangen des Individualgilterschutzes nicht legitimieren, dann ist es ausgeschlossen, die Bewilligung mit Riicksicht auf sonstige Interessen anderer fur unwirksam zu erklären und die Realisierung der Opferentscheidung durch den Außenstehenden unter § 216 StGB zu subsumieren. Diese Einsicht ist freilich banal. Eine „Rechtsgutsvertauschung" liegt aber nicht vor, wenn ein Tatbestand dem Schutz der Rechte anderer gerade dient und das Verhalten des Außenstehenden diese Rechte in der tatbestandlich vorausgesetzten Form verletzt. Das zustimmende Opferverhalten steht, weil das Opfer über die Rechte Drifter nicht disponieren kann, nicht entgegen. Nicht die Zulässigkeit einer „Rechtsgutsvertauschung" ist also problematisch (diese ist offenbar unzulässig), sondern die Beantwortung der Frage, welche Rechtsgiiter von den Tatbeständen des Besonderen Teils geschützt werden. Ob sich der tatbestandliche Schutz auch auf tiberindividuelle Rechtsgiiter erstreckt, ist gerade bei solchen Tatbeständen schwer zu entscheiden, bei denen Gesetzeswortlaut und systematische Stellung keine Hinweise auf eine solche Schutzrichtung geben. Auch der Wille des historischen Gesetzgebers ist nach der herrschenden Methodenlehre nur als Indiz bedeutsam, aber nicht ausschlaggebend723 und die sonst in den Vordergrund gestellte rechtsgutsbezogen-teleologische Interpretationsmethode versagt gänzlich, weil es gerade die Frage nach dem Rechtsgut - also nach dem telos - ist, die es zu beantworten gilt. Überlegungen zu dieser Frage können nur im jeweiligen tatbestandlichen Kontext erfolgen und sind folglich hinsichtlich der Körperverletzungs- und der Tötungsdelikte getrennt anzustellen.
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Eingehend zur „Rechtsgutsvertauschung durch Aufstellung objektiver Einwilligungsschranken" Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 512 ff. Näher Bleckmann, JuS 2002, 943.
514 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
a) §216StGB § 216 StGB gibt weder nach seinem Wortlaut noch nach der Gesetzessystematik Anhaltspunkte fur den Schutz überindividueller Rechtsgüter; im Gegenteil: der an § 212 StGB anknilpfende Wortlaut und die systematische Einordnung in den Abschnitt „Straftaten gegen das Leben" sprechen fur eine ausschließlich individualgüterschützende Funktion der Vorschrift. Die Gesetzesmaterialien sind dilrftig. Der Entwurf eines Strafgesetzbuches fur den Norddeutschen Bund begriindet einerseits die Strafrnilderung gegeniiber der willenswidrigen Tötung mit dem „Rechtsgeftlhl" und andererseits das Festhalten an der Strafbarkeit mit dem „unbestrittene(n) Sittengesetz", wonach „das Leben ein nicht veräußerliches Gut" sei724. Es ist mit der so postulierten Unveräußerlichkeit des Lebens offenbar nicht an entgegenstehende Interessen Dritter gedacht, sondern an den Wert des Lebens als eines individuellen Gutes, dessen Freigabe fur die Tötungshandlung eines anderen mit Rilcksicht auf die Bedeutung dieses Wertes fur den Einzelnen unerlaubt sein soil725. Spätere Entwurfsbegründungen werfen die Frage nach dem Grund der Strafbarkeit nicht mehr auf26, allein der Alternativ-Entwurf gibt eine Begriindung, die im Grundsatz auf der Linie des Entwurfs von 1870 liegt: zwar könne „der Mensch einem anderen nicht rechtswirksam die Tötung gestatten", jedoch könne
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Strafgesetzbuch für den N o r d d e u t s c h e n B u n d , Entwurf v o m 14.2.1870, § 2 1 1 , S. 70. Siehe auch F.-C. Schroeder, Z S t W 106 (1994), 573 f. Siehe Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst B e gründung 1925, § 2 2 3 , S. 116; Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1927 mit Begründung und zwei Anlagen, § 247, S. 127; E 1960, § 137, S. 259; E 1962, § 137, S. 274 f. Siehe allerdings die Diskussion in der 64. Sitzung des Rechtsausschusses des Reichstags (in: Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, I. Abteilung, Band 3, 2. Teil, S. 657 ff.) auf den Antrag, die Tötung auf Verlangen in solchen Fallen straflos zu stellen, in denen der Täter gehandelt hat, „urn den Getöteten von den Qualen eines unheilbaren Leidens zu befreien". Diese Regelung sollte trotz der Bezugn a h m e auf die Tätermotivation („um ...zu") ausweislich der Begrlindung des Berichterstatters Rosenfeld nicht nur eine Schuldminderung betreffen, sondern d a s Unrecht der Tat ausschließen (S. 658). Ministerialdirektor Schäfer weist darauf hin (S. 660), daß die Reichsregierung in dieser schwierigen Frage „bewußt Zurückhaltung geübt" habe. Neben der Unsicherheit liber die sachgerechte Lösung und den gesetzgeberischen Schwierigkeiten bei deren Umsetzung begriindet Schäfer diese Haltung mit Zweifeln am Bestehen eines praktischen Bedürfnisses nach Straffreistellung, da hierfür prozessuale Möglichkeiten und - auf der Grundlage der subjektiven Teilnahmetheorie - ein Ausweichen auf Gehilfenschaft möglich sei. Hier wird also nicht die grundsätzliche Unverfligbarkeit behauptet, sondern die Frage problematisiert, in welcher Weise den Interessen des Leidenden ohne eine zu weitgehende Einschränkung des Tötungsverbots Rechnung getragen werden kann. In diesem Zusammenhang taucht mit dem „Mißbrauchsargument" auch der Schutz der Rechte solcher Personen auf, die ihr Leben gerade nicht beenden wollen.
IV. Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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sein Wille „das Unrecht der Vernichtung des Lebens als eines Individualrechtsguts wesentlich verringer(n)"727. Halt man diese Begründung mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Person nicht für tragfähig, so bleibt neben der Auffassung, § 216 StGB sei Ausdruck einer nicht legitimierbaren und damit verfassungswidrigen Freiheitseinschränkung728'729 zumindest in dem Umfang, in dem sich auch das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung als Hintergrund dieser Vorschrift nicht überzeugend begründen läßt, nur die Möglichkeit, das in § 216 StGB vorausgesetzte Verbot bewilligter Fremdtötungen auf eine verfassungskonforme Basis zu stellen und entsprechend die ratio der Vorschrift in einer Weise zu interpretieren, die weder im Wortlaut, noch in der systematischen Stellung, noch im Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck gekommen ist. Ein solches Verständnis ist möglich, soweit es die Strafbarkeit nicht über den Wortlaut der Vorschrift hinaus ausdehnt (Art. 103 Abs. 2 GG); abweichende Vorstellungen des Gesetzgebers stehen dem nicht entgegen, soweit sie nicht eindeutig zum Ausdruck gekommen sind und sich nicht in entsprechenden Wortlautgrenzen niedergeschlagen haben730. Eine Interpretationsmöglichkeit läge darin, daß geschützte Rechtsgut von § 216 StGB nicht im individuellen Lebensrecht des Einwilligenden zu erblicken, sondern die ratio von § 216 StGB im Schutz der Rechte anderer (zu denen aus der Perspektive der Beteiligten auch das Lebensrecht Dritter gehört) zu erblicken73'. Tatsächlich sind in der Literatur eine ganze Reihe solcher Begründungsansätze entwickelt und oben (3. Teil, IV. 3.) bereits auf ihre verfassungsrechtliche Tragfähigkeit überprüft worden. Diesen literarischen Bemiihungen, die sich auf Äußerungen des Gesetzgebers nicht berufen können, liegt unausgesprochen der Gedanke zugrunde, daß nach dem objektivierten gesetzgeberischen Willen die Tötung auf Verlangen jedenfalls pönalisiert werden sollte. Läßt sich diese Entscheidung AE, BT 1, Zu § 101, S. 21. Die Verfligung soil danach trotz des Festhaltens an der prinzipiellen Unverfugbarkeit des Lebens bereits das Unrecht des Täterhandelns mindern, nicht erst die Schuld. Der Gedanke der Unverfugbarkeit - mit der Folge, daß der einwilligungskonform Handelnde Tötungsunrecht verwirklicht - wird auch in der Literatur vielfach als Hintergrund von § 216 StGB strapaziert; vgl. etwaF.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 573 f. In welchem Zusammenhang hierzu das Argument der Unantastbarkeit fremden Lebens steht (in diesem Sinne etwa Detering, JuS 1983, 418; Eser, in: Schönke/Schröder, § 216 Rn. 1; Gropp, Deliktstypen, S. 74), hängt davon ab, ob die Unantastbarkeit fur andere gleichsam als Kehrseite der Unverfugbarkeit seitens des Opfers interpretiert wird (so offenbar Gropp, a.a.O., S. 182 mit der Auffassung, das Opfer verletze bei § 216 StGB eigene Rechtsgiiter) oder ob sie als Ausfluß des Tabuisierungsgedankens aus überindividuellen Rechten begründet wird. Was auch mit Blick auf die langwährende weitgehende Akzeptanz der Vorschrift nur als „der letzte Ausweg aus Begründungsnot" akzeptabel erscheint; Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 15. Fiir die rechtliche Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen etwa Arthur Kaufmann, Euthanasie, S. 144 ff; ders., ZStW 83 (1971), 251 f; Michael Marx, Rechtsgut, S. 65 f; R. Schmitt, in: FS für Maurach, S. 117 ff. BVerfGE 54, 277, 298 f; 62, 1, 45 ff. Siehe zu diesem Gedankengang auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 19.
516 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens nicht (oder jedenfalls nicht allein) mit den hierfilr ausschlaggebenden gesetzgeberischen Erwägungen rechtfertigen, so wird aus dem Bestrafiingswillen des Gesetzgebers weiterhin - unausgesprochen - gefolgert, daß jede haltbare Begriindung für die Legitimation dieser Entscheidung dem Gesetz zugrunde gelegt werden könne732. Dort, wo die Überzeugungskraft einer § 216 StGB zu unterlegenden ratio von bestimmten empirischen Einschätzungen abhängt (z.B. hinsichtlich der Gefahren, die von einer [weiteren] Einschränkung der rechtlichen Verbindlichkeit des Fremdtötungstabus ausgehen könnten), wird offenbar - ebenfalls unausgesprochen733 - davon ausgegangen, daß die gerade in solchen Fragen gegebene Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im Sinne einer Aufrechterhaltung der Vorschrift ausgeübt worden ware. Es wird wohl angenommen, daß der Gesetzgeber sich die in der Wissenschaft geäußerten Einschätzungen zu eigen gemacht hätte (oder mittlerweile hat), soweit sie geeignet sind, § 216 StGB eine Legitimationsgrundlage zu verschaffen. Das ist im Ergebnis wohl berechtigt, wird aber regelmäßig nicht expliziert. Aus einem zunächst nur möglichen, insbesondere verfassungsrechtlich haltbaren und systematisch konsistenten Schutzzweck, wird so unvermittelt ein der Norm auch wirklich zugrundeliegender Schutzzweck. Die vom jeweiligen Autor fur tragfähig gehaltene Begründung - teils nur eine einzige, teils eine ganze Sammlung734 - wird als die ratio der Vorschrift unterlegt735. Es ist dann nur konsequent, wenn auch die Grenzen der Legitimationsfähigkeit von § 216 StGB (und damit etwaige Notwendigkeiten teleologischer Reduktion) anhand der jeweils unterlegten ratio bestimmt werden. Aus der hier und auch sonst in der Literatur verschiedentlich gerügten mangelnden Tragfähigkeit der gesetzgeberischen Begriindung folgt danach nicht etwa, daß sich gegen Restriktionen, die sich aus der Tragweite des zugrundegelegten Schutzzwecks ergeben, geltend machen ließe, sie unterliefen das Gesetz736. Denn bei dem Bemilhen um einen verfassungskonformen Schutzzweck des § 216 StGB geht es stets darum, die gesetzgeberische Entscheidung in weitest möglichem Umfang zu halten. 1st aber die Begriindung fur eine gesetzgeberische Entscheidung mit der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsfreiheit nicht kompatibel, dann kann auch die auf diesem nicht tragfähigen Grund aufbauende Vorschrift In der literarischen Diskussion ist also - entgegen Herzberg, NJW 1996, 3047 - klar erkannt, daß es um die Suche nach solchen Rechtsglitern geht, deren Beeinträchtigung eine Bestrafung aus § 216 StGB auch dann tragen kann, wenn der aktuelle Lebenswille der Person nicht angegriffen wird. Hufen, NJW 2001, 855 weist immerhin darauf hin, daß der Gesetzgeber bestimmten dieser rationes Rechnung tragen diirfe. Freilich findet sich auch dort nicht das Problem thematisiert, daß der Gesetzgeber diese rationes gar nicht zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht hat. Die Inanspruchnahme einer ganzen Reihe unterschiedlicher rationes findet sich etwa bei Hirsch, in: FS für Lackner, S. 611 ff. Deutlich Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 23, der feststellt, sein Verständnis von § 216 StGB sei „gewiß nicht dasjenige des historischen Gesetzgebers (...), aber nur mit ihm läßt sich das Verbot der Tötung auf Verlangen heute begriinden; wer also diesem Verständnis nicht folgen will, muß das Verbot iiberhaupt streichen". So z.B. F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 569 gegen Jakobs.
IV. Grenzen der Selbstverfijgungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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nicht den Maßstab bilden, an dem andere Schutzzweckkonzeptionen deshalb zerbrechen, weil sie die positivrechtliche Vorschrift nicht in vollem Umfang legitimieren. Mustert man die in der Literatur angebotenen Begrilndungsversuche auf ihre Überzeugungskraft, so zeigt sich freilich - und ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung den jeweiligen Konzeptionen immer wieder entgegengehalten worden -, daß letztlich keine der angebotenen rationes anzugeben vermag, warum die Strafbarkeitsgrenze gerade dort verlaufen muß, wo sie von § 216 StGB gezogen ist737. Das ist aber letztlich kein Argument gegen diese rationes: Beriicksichtigt man nämlich den tiblicherweise nicht gesehenen738 Umstand, daß es bei der Diskussion um die sachgerechte Konturierung der Strafbarkeitsgrenze vor dem Hintergrund der geltend gemachten Rechte anderer weitgehend um Fragen (tatsächlich nicht ausgeübter) gesetzgeberischer Einschätzungsprärogative geht, so sieht man, daß ein Begrilndungsversuch nicht daran scheitern muß, daß bestimmte (mögliche) Beeinträchtigungen der Rechte anderer entweder empirisch nicht nachweisbar sind oder aber nicht zwingend ist, daß bestimmte Beeinträchtigungen nicht auch in Zusammenhang mit solchen Verhaltensweisen drohen könnten, die nicht unter Strafe gestellt sind. Unter Berücksichtigung dieser Einsicht wird sich im Folgenden zeigen, daß einem Großteil der geltend gemachten Argumente (das Dammbruchargument wurde freilich schon aus verfassungsrechtlichen Erwägungen zuriickgewiesen) die Anerkennung nicht versagt werden kann:
aa) Rechte anderer, deren Schutz §216 StGB dienen könnte (1)
Das Tabuargument
Das gilt zunächst für das Tabuargument, mit dem behauptet wird, eine Lockerung des Fremdtötungstabus durch Abschaffung oder Einschränkung von § 216 StGB führe zu einem Achtungsverlust gegenüber dem Rechtsgut „Leben" insgesamt mit der Folge, daß auch Übergriffe auf das Lebensrecht solcher Menschen wahrscheinlicher wilrden, deren Schutz durch die Lockerung des Fremdtötungsverbots nicht in Frage gestellt werden sollte739'740. 737 738
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Vgl. zusammenfassend Schneider, in: MK, § 216 Rn. 4. Siehe aber E G M R , N J W 2002, 2 8 5 1 , 2855: „Es ist in erster Linie Aufgabe der Staaten, die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit von Mißbräuchen zu beurteilen, wenn das allgemeine Verbot der Beihilfe z u m Selbstmord gelockert wird oder wenn Ausnahmen vorgesehen werden." Mit dem Tabuargument ist hier also nicht das Risiko gemeint, daß das Fremdtötungsverbot nach einer ersten Lockerung weitere Aufweichungen durch Entscheidungen des Gesetzgebers erfährt. Die mangelnde Tragfähigkeit dieses hier so genannten „ D a m m brucharguments" (gleichbedeutend: das Argument der slippery slope oder der schiefen Bahn) ist bereits in den verfassungsrechtlichen Überlegungen aufgezeigt worden. In der Literatur werden freilich das Tabu- und das Dammbruchargument vielfach undifferenziert oder mit anderen oder unklaren Bedeutungsgehalten verwendet.
518 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens Dieses Argument wird üblicherweise ohne erfahrungswissenschaftliche Absicherung vorgetragen; es baut auf intuitive Plausibilität741'742. Es wird weiter meist erstaunlich undifferenziert in dem Sinne vorgetragen, daß behauptet wird, gerade die Freigabe derzeit verbotener Verhaltensweisen verletze ein Tabu und ziehe die geschilderten Gefahren fur die Achtung des Lebens nach sich743. Dies ist aber freilich alles andere als selbstverständlich. Mit dem „Tabu" der Fremdtötung ist offensichtlich ein kulturgeschichtlich internalisiertes, möglicherweise schon in der Biologie des Menschen verankertes hemmendes Motiv gemeint, das der Tötung eines anderen Menschen entgegensteht, sie zumindest erschwert744. Das Verhältnis solcher ilberkommener Tabus zu den rechtlichen Rege-
Dieses Argument wird - mit Unterschieden im Einzelnen - angefuhrt von Amelung/ Eymann, JuS 2001, 940; Dach, Einwilligung, S 73 f.; Dölling, GA 1984, 86; Engisch, in: FS fur H. Mayer, S. 412 f., 415; Eser, Sterbehilfe, S. 69; Geilen, Euthanasie, S. 29; Giesen, JZ 1990, 935, 943; Herzberg, NJW 1996, 3047; Hirsch, in: FS für Lackner, S. 612; ders., in: FS für Welzel, S. 779; Hufen, NJW 2001, 855; Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 54; Roxin, AT I, § 2 Rn. 18; Saal, NZV 1998, 54; SternbergLieben, Die objektiven Schranken, S. 117 f; Tag, Der Körperverletzungstatbestand, S. 290 ff. Verschiedentlich angefuhrte Bezugnahmen auf Erfahrungen in den Niederlanden (siehe Lutterotti, MedR 1992, 12 f.; vgl. auch Gordijn, KritV 84 [2001], 464 f), wo die aktive Sterbehilfe unter gewissen Voraussetzungen freigegeben wurde, sind in ihrer Aussagekraft problematisch (siehe Reinhard Merkel, Arztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod, S. 181 f). Daß Hinweise auf Erfahrungen der NS-Zeit nicht weiterfiihren (so aber etwa Giesen, JZ 1990, 935), sollte selbstverständlich sein, denn die Übergriffe auf fremde Menschenleben hatten offensichtlich andere Griinde als das Bemilhen um Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Person. Mit größerem Begründungsaufwand, aber ohne größere empirische Evidenz, bleiben auch die Ausfuhrungen Hassemers (siehe zum Folgenden Hassemer, Theorie, S. 186 ff.) in diesem Punkt letztlich ohne Gewinn: Der Tod sei fur die Gesellschaft ein „verhülltes Phänomen", womit eine „Unsicherheit vor dem Tod", eine ambivalente Haltung der Gesellschaft beschrieben sein soil. Die Verhülltheit des Todes bedeute fur die Rechtsgiiterlehre zugleich die „Verhillltheit des Rechtsguts Leben". „Der 'Schaden', den Lebensverletzung bedeutet, bleibt dunkel, der tote Mensch ist der absolut Fremde". Daraus erkläre sich der „absolute Lebensschutz" des geltenden Strafrechts, das nicht nach dem Lebensinteresse des Einzelnen frage und sich weigere, in eine abwägende Diskussion über den Wert des Lebens einzutreten. So etwa Dach, Einwilligung, S 73 f; Dolling, GA 1984, 86 (Grenze: extreme Ausnahmesituationen, wie etwa Notwehr); Eser, Sterbehilfe, S. 69; Geilen, Euthanasie, S. 29; Herzberg, NJW 1996, 3047; Hirsch, in: FS fur Lackner, S. 612 („prinzipielle Unantastbarkeit fremden Lebens"); ders., in: FS fur Welzel, S. 779 (Grenze: „in extremen Ausnahmesituationen wie Notwehr u. dgl.); Otto, Recht auf den eigenen Tod?, S. D 54 (§ 216 StGB ziele auf „weitestmögliche Aufrechterhaltung des Tötungstabus"; Roxin, AT I, § 2 Rn. 18 (das Gebot des Lebensschutzes verlange „die prinzipielle Tabuisierung fremden Lebens"); Saal, NZV 1998, 54 Herzberg, NJW 1986, 1644; ders., NJW 1996, 3047; Lutterotti, MedR 1992, 11. Kritisch zur Annahme, das Verbot aktiver Sterbehilfe sei „stammesgeschichtlich verwur-
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lungen einer Gemeinschaft ist in der Diskussion um die Tragweite dieses Arguments - obwohl relevant - bisher nicht einmal angesprochen worden. Es sind wohl zwei Positionen denkbar: Zum einen könnte man meinen, gewisse traditionell erlaubte Fremdtötungen (insbesondere im Krieg oder in Notwehr), hätten die Geltung des Fremdtötungstabus partiell bereits beseitigt. Das Tabu ware also schon als solches nur eingeschränkt auf bestimmte Fremdtötungen745. Zum anderen könnte man aber auch der Auffassung sein, das Fremdtötungstabu gelte umfassend und die erlaubten Fremdtötungen seien bereits Durchbrechungen des Tabus, von denen man dann freilich annehmen müßte, daß die von den Vertretern des Tabuarguments geltend gemachten Gefahren hier entweder nicht auftreten oder aus bestimmten Grilnden in diesem Umfang in Kauf genommen werden soilten. Während sich die erstgenannte Position gewissermaßen auf verfestigte Grenzen berufen würde, deren Verletzung gerade wegen ihrer entwicklungsgeschichtlichen Dignität die Gefahr des Achtungsverlusts begründe, ware die letztgenannte Auffassung insofern in einer schwächeren Position, als sie entweder behaupten müßte, nur bestimmte Tabuverletzungen zögen die Gefahr des Achtungsverlusts nach sich, oder einräumen müßte, daß es eine von der Rechtsgemeinschaft im Rahmen der Verfassung zu entscheidende Frage sei, in welchem Rahmen Tabuverletzungen rechtlich erlaubt seien und die damit verbundenen Risiken eingegangen werden sollen. Die erstgenannte Argumentation, mit der eine dem modernen Recht gewissermaßen vorgelagerte Reichweite des Tötungstabus geltend gemacht wird, dilrfte aber schon daran scheitern, daß sich eine solche, tief im allgemeinen Bewußtsein verankerte Grenze dieses Tabus nicht feststellen lassen wird. Plausibler, und in der Diskussion meist zugrundegelegt, ist die letztgenannte Auffassung. Sie geht also davon aus, daß das Tötungstabu nicht nur beschränkt auf den Bereich rechlich verbotener Tötungshandlungen besteht, sondern auch dann, wenn die Fremdtötung erlaubt ist; das Recht konturiert dann den Bereich, in dem ein Tabu mit rechtlichen Mitteln geschlitzt wird (und auch den Bereich, in dem eine Verletzung eines Tabus erlaubt ist). Diese Sichtweise wird vor allem auch von den Kritikern des Tabuisierungsarguments eingenommen, um die Frage zu problematisieren, wie es den Vertretern dieses Arguments von ihrem Standpunkt aus gelingen kann, die aus Tabuverletzungen resultierenden Gefahren gerade auf bestimmte Freigaben im Bereich der aktiven Fremdtötung zu beschränken. Es stelle sich also die Frage, warum die Sicherung der Achtung des Lebens eine Aufrechterhaltung von Tabus nicht auch dort fordert, wo ganz Uberwiegend eine Freigabe dem geltenden Recht
745
zelt" Hoerster, NJW 1986, 1791 f., der allenfalls ein Tabu „kulturell-weltanschaulicher Natur" fur möglich halt. In diesem Sinne interpretiert wohl Hoerster, NJW 1986, 1791 (in kritischer Absicht) das Tabuargument in der von Herzberg vorgetragenen Form.
520 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens entspreche, wie etwa bei der indirekten oder bei der passiven Sterbehilfe oder bei der Beihilfe zum Suizid746. Diese Kritik ist insoweit zutreffend, als das Fremdtötungstabu keine umfassende rechtliche Anerkermung geflinden hat und tatsächlich einigermaßen offenkundig ist, daß sich schon empirisch nicht genau sagen läßt, welche Fremdtötungen rechtlich erlaubt werden können, ohne daß die Gefahr von Achtungsverlusten vor dem Rechtsgut „Leben" besteht. Es ist damit auch alles andere als gesichert, ob eine weitere Freigabe tatsächlich die geschilderten Gefahren eines Achtungsverlusts gegenilber dem Lebensrecht begründet. Und es liegt weiter auf der Hand, daß selbst dann, wenn man die geschilderten Gefahren als gegeben akzeptiert und insoweit fur das Verbot der aktiven Fremdtötung das Tabuargument anfuhrt, man zumindest darilber streiten kann, ob dieses Argument nicht auch fur die Pönalisierung weiterer tötungsbezogener Verhaltensweisen taugt oder zumindest ausnahmslos fur die Fälle der aktiven Fremdtötung (zu denen auch die indirekte Sterbehilfe gehört) Geltung beanspruchen müßte. Solche Auseinandersetzungen werden unter den Vertretern des Tabuisierungsarguments auch tatsächlich geführt. So plädiert Gössel mit dem Erfordernis, Jedermann den unabänderlichen Willen der Rechtsordnung zum konsequenten und lilckenlosen Schutz des Lebens (...) klarzumachen", fur eine Strafbarkeit der indirekten Sterbehilfe747. fn den gleichen Kontext gehört auch die Diskussion um die Frage, ob § 216 StGB mit Blick auf den Schutz des Tötungstabus auch im Bereich der einverständlichen Lebensgefährdung Beachtung verlangt748. Weitere Einschränkungen des Fremdtötungstabus749 ließen sich mit Blick auf mit ihnen verbundene Risiken einer Erosion der Achtung vor fremdem Leben problematisieren. Aber die Einwände, denen zufolge der Hinweis auf die Gefahren einer Durchbrechung des Fremdtötungstabus zur Legitimation von § 216 StGB entweder deshalb nicht tauglich sei, weil sich solche Gefahren nicht verifizieren ließen oder aber die geschilderten Gefahren zu unspezifisch seien, weil sie auch bei anderen Durchbrechungen des Tötungstabus bestünden, vermögen das Tabuargument nicht prinzipiell zu desavouieren. Derm sie wären nur dann tragfähig, wenn entweder die behaupteten Gefahren gänzlich aus der Luft gegriffen wären, die Annahme ihres möglichen Bestehens also willkiirlich ware, oder aber die rechtliche Differenzierung der Fallgruppen willkiirlich ware, weil unter dem Aspekt der Gefahren eines Tabubruchs keine sachlichen Griinde hierfur ersichtlich wären und sich auch sonstige Sachgründe fur eine differenzierte Behandlung nicht fmden ließen. Diese starken Voraussetzungen fur eine Verwerfung der Tabuargumentation resultieren aus den oben angestellten Erwägungen zur gesetzgeberischen Einschätzungsprärogagative: Geht man davon aus, daß es sachgerecht ist, den in einer gesetzlichen Regelung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen (Bestrafungs-) Willen 746
747 748 749
So Hoerster, N J W 1986, 1791; Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 19 f; Krack, KJ 1995, 74; Rönnau, Willensmängel, S. 165; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 119. Gössel, BTI, §2Rn. 30, 33. Dafür etwa Saal, NZV 1998, 54. Etwa die Befugnis zu tödlicher Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten.
IV. Grenzen der Selbstverfllgungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
521
auch dort zu respektieren, wo die tatsächlich vom Gesetzgeber vorgetragene Begrilndung verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist, so sind solche Erwägungen haltbar, die auch der Gesetzgeber zur Grundlage seiner Entscheidung hätte machen diirfen750. Dem Gesetzgeber ist es aber weder verwehrt, rational nachvollziehbare Überlegungen zum möglichen Bestehen von Gefahren zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, noch Gefahrenpotentiale, die aus unterscheidbaren Sachverhaltskonstellationen resultieren können, nach rationalen Gesichtspunkten differenzierend zu beurteilen und schließlich auch andere verfassungsrechtlich zulässige Erwägungen für eine Differenzierung unterschiedlicher Sachverhalte anzustellen. Anders formuliert: Der bloße Umstand, daß man mit rationalen Argumenten auch zu einer anderen Einschätzung hätte kommen können, besagt nichts gegen die Zulässigkeit einer getroffenen Regelung, wenn die ihr zugrundeliegenden Einschätzungen und Wertungen nicht unvertretbar sind. Die methodische Reflexion weist so den Weg aus einer schon lange gefilhrten unfruchtbaren Debatte. Akzeptiert man nämlich die Anwendbarkeit des Maßstabs für gesetzgeberische Begrilndungsanforderungen, so wird sich kaum bezweifeln lassen, daß es zumindest vertretbar ist, die Gefahren der Freigabe bewilligter Fremdtötungen fur die Achtung fremden Lebens gegenüber anderen tötungsbezogenen Handlungen, etwa im Verhältnis zur Tötung in Notwehr, zur passiven Sterbehilfe und zur Suizidbeihilfe, höher einzuschätzen, und man müßte es als gesetzgeberische Entscheidung wohl weiter akzeptieren, wenn selbst bei gleichem Gefahrenpotential sachgerechte Erwägungen fur Differenzierungen zwischen verschiedenen Fallgruppen möglich bleiben751. Das schneidet nicht die Diskussion um die Sachgerechtigkeit der fur § 216 StGB angeführten Tabuisierungsargumentation ab, verweist diese Diskussion aber auf ihr Feld, eine Diskussion de lege ferenda zu sein.
Von diesen Erwägungen müssen die Vertreter des Tabuarguments notwendig ausgehen, auch wenn sie sie nicht anstellen. Ähnlich auch Stemberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 120. Verfehlt ist es dagegen, wenn Maatsch, Selbstverfugung, S. 42 mit Fn. 14 einen „Beleg" dafür fordert, daß eine Freigabe der Tötung auf Verlangen die mit dem Tabuargument vorgetragenen Gefahren nach sich zieht und angesichts „der grundsätzlichen Legitimationsbedürftigkeit der Freiheitseingriffe durch das Strafrecht" eine „Beweislastumkehr" fur nicht vertretbar halt. Aber es geht nicht um die Verteilung der Beweislast, sondern es geht um den Umgang mit (empirisch möglicherweise nicht einmal aufkläröare«) Risiken. Die Legitimation von Freiheitseingriffen setzt (selbstverständlich) nicht den „Beweis" einer Gefahr voraus, wenn ihr Bestehen nur plausibel gemacht werden kann und zur Vermeidung ihrer Realisierung der Freiheitseingriff nicht unverhältnismäßig ist. In der Legitimation von Straftatbeständen ist eben immer auch schon die Freiheit potentieller Opfer zu bedenken, nicht allein die Freiheitseinschränkung auf Seiten des potentiellen Täters - fur diesen Ausgleich gibt es keine Beweislastverteilung.
522 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
(2)
Die „Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft"
Eser hat das Tabuargument nicht nur in den vorstehend maßgeblichen Zusammenhang mit dem individuellen Lebensrecht der anderen Mitglieder der Gesellschaft gestellt, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse an der Tabuisierung des Lebens behauptet. Das Leben sei „ein der Sozietät vorgegebener, ja ein sie iiberhaupt erst begriindender Wert. Daher liegt in der Tabuisierung des Lebens nicht nur ein Schutz vor individueller Einzelvernichtung, sondern auch die Abwehr tendenzieller Selbstaufgabe der Gesellschaft"752. Nun ist es freilich richtig, daß ohne Menschen jede menschliche Gesellschaft aufhört. Gegen dieses Argument liegt zwar der Einwand nahe, daß eine Gesellschaft den Tod der einzelnen Sterbewilligen überleben wird, weil die Mehrheit der Menschen ihr Leben auch dann nicht durch ein Tötungsverlangen freigeben wiirde, wenn dieser Weg rechtlich erlaubt ware. Aber auf diesen Einwand ließe sich entgegnen, daß ein rechtliches Prinzip auch dann Geltung beansprucht, wenn seine förmliche Aufrechterhaltung fur die meisten Menschen keine Bedingung fur die Orientierung an diesem Prinzip ist753. Die Fehlvorstellung liegt indes in der Annahme, es sei eine Aufgabe des Rechts, die Selbstaufgabe der Gesellschaft durch „Arterhaltung"754 zu verhindern. Denn das Recht regelt zwar das Zusammenleben der Menschen im Sinne gleicher Freiheit unter Vernilnftigen, und die Herstellung dieses Zustandes steht wegen der Gleichheit der Menschen als Vernunftwesen nicht im Belieben der existierenden Menschen. Aber es ist nicht die rechtliche Aufgabe der Menschen, durch ihr biologisches Existieren auch die Existenz der Gesellschaft sicherzustellen. Damit zerbricht die Konzeption Esers an der oben (3. Teil, IV. 1. und 3.) bereits gewonnenen Einsicht, daß der Mensch der Gesellschaft nur verpflichtet ist, solange er lebt; er ihr aber nicht zum Leben verpflichtet ist755. Diese prinzipielle Einsicht schließt es auch aus, einer auf den Erhalt der Gesellschaft bezogenen Lebenserhaltungspflicht auch nur den Rang eines Abwägungsfaktors zuzubilligen, der dem Selbst-
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Eser, Neues Recht des Sterbens?, S. 397; ebenso Laber, Der Schutz des Lebens, S. 15 ff, 133. Deshalb trifft auch der gegen Eser von Hoerster, N J W 1986, 1791 vorgetragene Einwand nicht, wonach es sich u m ein Argument der Form „Was wären die Folgen, wenn jeder so handelte?" gehe, das allenfalls dort Plausibilität beanspruchen könne, „wo der betreffende Beitrag zu einem gemeinsamen Unternehmen von der Mehrheit nicht etwa zwecks Realisierung j e eigener Ziele, sondern aus sozialem Pflichtbewußtsein erbracht wird, w o die sichverweigernde Minderheit diese Situation also parasitär ausnutzt". D e n n der Erhalt der Gesellschaft ist in der Argumentation Esers offensichtlich als normative Zielvorgabe vorausgesetzt und in diesem Sinne ist der Erhalt des j e individuallen Lebens in dieser Konzeption eine Gemeinschaftsaufgabe, die der Einzelne unabhängig davon verfehlt, ob er eine Situation „parasitär ausnutzt". Problematisch - und im weiteren Text zu erörtern - ist aber die Annahme, es sei eine Aufgabe des Rechts, eine Selbstaufgabe der Gesellschaft zu verhindern. So Laber, Der Schutz des Lebens, S. 17. Arthur Kaufmann, in: FS fur Roxin, S. 8 5 1 ; ders., Euthanasie, S. 144.
IV. Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
523
bestimtnungsrecht des Einzelnen konfrontiert wird756. Denn es macht die Regeln, nach denen allgemeine Freiheit in einer Gesellschaft verbindlich hergestellt wird und die deshalb das Recht sind, gerade aus, daß jede Einschränkung im Gegenseitigkeitsverhältnis aus der Herstellung allgemeiner Freiheit legitimiert werden kann. Eine aus diesem Zusammenhang nicht ableitbare Pflicht zur Lebenserhaltung im Dienste der Gesellschaft kann danach als begründete Einschränkung rechtlicher Freiheit iiberhaupt nicht - auch nicht in einem durch „Abwägung" gebrochenen Umfang757 — legitimiert werden.
(3)
Das Mißbrauchsargument
Das Beweis-758 oder Mißbrauchsargument besagt759, daß die Einschränkung des Verbots bewilligter Tötungen mitunter auch zur Straflosigkeit solcher Täter fuhren könnte, die sich der Schutzbehauptung bedienen, das Opfer habe die Todesherbeifuhrung verlangt. Eine solche Argumentation sei deshalb kaum widerlegbar, weil mit dem Opfer der Hauptbelastungszeuge nicht mehr befragt werden könne. Damit kann freilich nicht gemeint sein, § 216 StGB sei „in Wahrheit eine Strafe fur den Verdacht, daß die Einwilligung nicht vorgelegen habe"760; eine solche Verdachtsstrafe ware mit dem Schuldprinzip nicht vereinbar761. Mit dem Mißbrauchsargument kann also nicht fur eine Bestrafung wegen eines möglicherweise begangenen Totschlags oder Mordes plädiert werden, bei dem die Strafe wegen der Ungewißheit iiber die Tatbegehung nach § 216 StGB gemildert wird. Vielmehr muß § 216 StGB nach diesem Argument auf den Schutz anderer Rechtsgüter als nur 756 757
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In diesem Sinne Eser, N e u e s Recht des Sterbens?, S. 397 f. N u r a m Rande sei darauf hingewiesen, daß auch nicht ersichtlich ist, wie eine Abwägung, bei der der individuelle Standpunkt dem kollektiven konfrontiert wird, vorgen o m m e n werden soil, ohne daß das maßstabbildende Verbindende zwischen beiden benannt ist. Meist werden Beweis- und Mißbrauchsargument im gleichen Sinn gebraucht. E s gibt allerdings auch eine andere Bedeutung d e s Beweisarguments (so Hirsch, in: F S fur Lackner, S. 6 1 3 ; zu dieser Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 21): wiirde man nämlich die Tötung auf Verlangen (partiell) freigeben, so entstünde die Schwierigkeit, daß sich auch bei einem zweifelsfrei gegebenen Verlangen im nachhinein kaum noch rekonstruieren ließe, o b dieses Verlangen freiverantwortlich gestellt worden ist. Das Argument wird z.B. angeführt von Arzt, Z S t W 83 (1971), 36; Detering, JuS 1983, 418; Engisch, Euthanasie, S. 18 (siehe aber auch dens., in: F S fur H. Mayer, S. 412: „fadenscheinige Begrilndung"); Eser, N e u e s Recht des Sterbens?, S. 398; Hillgruber, Körperverletzung Der Schutz, S. 85; Hirsch, in: F S fur Welzel, S. 7 9 1 ; Niedermair, mit Einwilligung, S. 139 (mit dem Hinweis in Fn. 5 3 1 , daß dieser Gesichtspunkt bei ärztlicher Sterbehilfe wegen der Dokumentationspflichten nicht greife); Schöch, Z R P 1986, 239; H.-L. Schreiber, NStZ 1986, 339; Wassermann, DRiZ 1986, 296. So - kritisch - F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 570. Dölling, GA 1984, 85 f. (jedenfalls n j c n t als alleiniges Fundament von § 216 StGB tragbar); Göbel, Die Einwilligung, S. 30 (allenfalls zusätzliche Erwägung zur Legitimation von § 216 StGB); Arthur Kaufmann, ZStW 83 (1971), 252; ders., Euthanasie, S. 145; Michael Marx, Rechtsgut, S. 66; Rönnau, Willensmängel, S. 164.
524 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens auf das Leben des jeweiligen Tatopfers (bei unterstellter Nichtbewilligung des Eingriffs) zielen762. Das Mißbrauchsargument kann also nicht nur auf den Schutz des in Wahrheit nicht Verlangenden zielen. Es geht vielmehr generell darum, nicht durch eine Freigabe der Tötung auf Verlangen Fremdtötungsvorhaben durch die Überzeugung des Täters zu inspirieren, er könne sich auf eine unwiderlegbare Schutzbehauptung stiitzen. Und es geht weiter darum, mißbrauchsanfällige Verhaltensweisen zu verbieten, bei deren Vornahme - unabhängig davon, ob in concreto ein Mißbrauch vorliegt - eine Verurteilung nach dem Grundsatz in dubio pro reo nicht in Betracht käme und so der strafrechtliche Lebensschutz partiell aufgelöst würde. Insoweit zielt das Argument auf die Sicherung der Effektivität des Lebensschutzes mit den Mitteln des Strafrechts763. An der Strafbarkeit aus § 216 StGB wird also nach dieser Interpretation nicht wegen des Verdachts festgehalten, ein Täter könne sich zu Unrecht auf ein Verlangen des Opfers berufen, sondern schon deshalb, weil der Täter sich in einer Weise verhalten hat, die wegen des besonders hohen Risikos ungerechtfertigter Freisprüche verboten ist. Das Mißbrauchsargument basiert auf der Annahme, daß nur das Verbot einer ganzen Klasse von Handlungen Mißbrauch ausschließen kann. Mit der Strafdrohung soil also die Schaffung mißbrauchsanfälliger Situationen unterbunden werden. Faßt man diese Erwägungen zusammen, dann ist das Mißbrauchsargument nur dann tragfähig, wenn es nicht erst zur Legitimation der Strafdrohung herangezogen wird (und damit die Möglichkeit eröffnet wird, ein Verhalten zu bestrafen, dessen Unrechtsgehalt offen bleibt), sondern es wird erst dann tragfähig, wenn schon das Verhalten des Täters mit Blick auf seine Eignung, die Haftung fur eine nicht-bewilligte Fremdtötung zu umgehen, verboten ist. Fraglich bleibt, ob nicht nur das Verbot nach der Verhaltensnorm764, sondern auch das Eingreifen der Sanktionsnorm in solchen Fallen legitimiert werden kann, in denen am Vorliegen eines Verlangens nach der im Prozeß überhaupt erreichbaren Gewißheit kein Zweifel bestehen kann. Da sich in solchen Fallen das typische Risiko der Unsicherheit und der daraus resultierenden in dubio pro reo-Entscheidung, das durch die Verhaltensnorm vermieden werden soil, gerade nicht realisiert hat, dilrfte das Mißbrauchsargument in solchen Fallen seine Tragfähigkeit verlieren. Freilich wilrde das nur dann eine teleologische Reduktion von § 216 StGB verlangen, wenn in den entsprechenden Fallen nicht eine andere ratio die Anwendung der Vorschrift tragen würde. Ein anderer häufig gegen das Mißbrauchsargument erhobener Einwand wiegt weniger schwer. Es ist dies die Behauptung, Mißbräuche drohten nicht nur bei einer Freigabe der Totung auf Verlangen, sondern es sei auch denkbar, sich mißbräuchlich z.B. auf das Vorliegen der Voraussetzungen einer passiven oder indi762 763 764
So auch Hirsch, in: FS für Welzel, S. 778. In diesem Sinne Hillgruber, Der Schutz, S. 85. Selbst bezogen auf die Legitimation von Verhaltensnormen ist freilich zu fragen, o b nicht in bestimmten Konstellationen, in denen jede Mißbrauchsmöglichkeit ausgeschlossen ist, die fehlende typische Mißbrauchsanfälligkeit des Verhaltens schon eine Einschränkung der Verhaltensnorm verlangt.
IV. Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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rekten Sterbehilfe zu berufen765. Das ist zwar richtig, könnte aber einem Gesetzgeber nicht untersagen, den Mißbrauch gerade in den Fallen der Tötung auf Verlangen fur besonders gefährlich und die Griinde fur eine Eingehung der Mißbrauchsrisiken fur weniger gewichtig zu halten, als dies etwa bei der passiven oder der indirekten Sterbehilfe der Fall ist766. Im gleichen Kontext steht der weitere Einwand, die skizzierten Mißbrauchsgefahren bestünden nicht nur bei einer Streichung von § 216 StGB, sondera auch schon als Folge der durch diese Vorschrift gewährten Privilegierung der Tötung auf Verlangen. Denn mit der Schutzbehauptung, es liege ein Verlangen vor, lasse sich auch nach geltender Rechtslage eine deutliche Reduzierung des anwendbaren Strafrahmens erreichen767. Doch dagegen ließe sich immerhin einwenden, daß eine zu Unrecht erfolgende Strafreduzierung immer noch eher hinzunehmen sei als ein Freispruch. Freilich wird mit dem Hinweis auf gegenwärtig bereits existierende Mißbrauchsmöglichkeiten auch der Hinweis auf den Umstand verbunden, daß Verurteilungen aus § 216 StGB in der Kriminalstatistik nur eine untergeordnete Rolle spielen und es wird von der geringen Bedeutung dieser Fälle auf eine geringe Mißbrauchsneigung geschlossen768. Aber es ist nicht zwingend, daß sich dieser Befund im Falle der Straffreiheit bewilligter Tötungen ohne weiteres fortschreiben ließe. Denn eine auf einen Freispruch zielende Schutzbehauptung ware möglicherweise attraktiver und auch im allgemeinen Bewußtsein präsenter als die Möglichkeit, durch die gleiche Schutzbehauptung eine Strafminderung zu erzielen. Und schließlich ist ja auch bei den Verurteilungen nach § 216 StGB - unabhängig von ihrer geringen Zahl - nicht auszuschließen, daß sich unter ihnen auch Mißbrauchsfälle verbergen. So gilt auch hier, daß man iiber die Sachgerechtigkeit dieses Arguments streiten mag (tatsächlich ist es wenig ilberzeugend); unvertretbar ist es nicht. Damit kommt es - in dem oben näher umrissenen Rahmen - als Legitimationsgrundlage von § 216 StGB prinzipiell in Betracht.
Siehe Brändel, ZRP 1985, 90; Hoerster, NJW 1986, 1791; Jakobs, in: FS für Arthur Kaufmann, S. 471 mit Fn. 39; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken, S. 119 Einmal ganz abgesehen davon, daß es auch aus ganz anderer - insbesondere verfassungsrechtlicher - Quelle gespeiste Griinde fur die genannten Differenzierungen gibt (dazu oben 3. Teil, IV. 3. a) bb) (2)). So wilrde eine Ausdehnung des Mißbrauchsarguments auf die Fälle der passiven Sterbehilfe auf eine verfassungsrechtlich nicht haltbare Behandlungspflicht des todkranken Patienten hinauslaufen. Ahnliches gilt fur die indirekte Sterbehilfe, deren Verbot auf eine unverhältnismäßige Leidenstragungspflicht hinausliefe. So Göbel, Die Einwilligung, S. 30 mit Fn. 47; Arthur Kaufmann, ZStW 83 (1971), 251 f.; ders., Euthanasie, S. 145; Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 21; Rönnau, Willensmängel, S. 164; R. Schmitt, in: FS fur Maurach, S. 118. So F.-C. Schroeder, ZStW 106 (1994), 570.
526 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens
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Das allgemeine „Interesse an Klarheit" am Nichtvorliegen von Entscheidungsdefiziten
Jakobs hat seine friihere Auffassung, derzufolge § 216 StGB eine Vorschrift sei, die „in patemalistischer Haltung eine Norm gegen eventuelle Voreiligkeiten beim Umgang mit dem eigenen Leben" statuiere769, inzwischen modifiziert und den Gedanken der patemalistischen Sorge in den Hintergrund treten lassen770. Tragend sei ein „allgemeines Interesse an Klarheit (...), daß der Zweckzusammenhang vollständig vom Lebensmilden durchdacht wurde", was der Fall sei, wenn nicht ein „Mangel an Vollzugsreife" gegeben sei771. Dieser Mangel soil offenbar nicht als Defizit die Selbstbestimmungsfreiheit des Verlangenden in Frage stellen, sondern er erhält seine Relevanz erst durch das erwähnte „allgemeine Interesse an Klarheit". Es ist nun nach den oben angestellten Erwägungen zur Einschätzungsprärogative (und deren fehlender Ausübung durch den Gesetzgeber) noch kein durchschlagender Einwand, daß der problematisierte „Mangel an Vollzugsreife" ein psychologisch nicht sehr plausibles, wohl eher seltenes Phänomen ist, das deshalb auch als Grundlage für § 216 nicht überzeugt. Gedacht ist an Fälle, in denen sich der Lebensmilde, „ohne den Todeswunsch für sich hinreichend begründet zu haben (...), auf der mehr oder weniger bewußten Grundlage als Verlangender (geriert), der Adressat werde sich um die Begründung schon kümmern"772. Das nicht vollzugsreife Verlangen stehe also „unter der Voraussetzung, daß der Ausfuhrende den Zweckzusammenhang ergänzt, zumindest aber überprüft und bestätigt"773. Dabei steht es der psychologischen Plausibilität solcher Entscheidungsvorgänge noch nicht einmal entgegen, daß so ein höchst irrationales Bild einer Entscheidung gezeichnet wird, in der dem Außenstehenden eine Nachprilfung zugetraut wird, mit der eine Sicherheit fur die Richtigkeit einer Entscheidung erreicht werden soil, die der Entscheidende fur sich selbst nicht herstellen kann oder will. Der Außenstehende kann - wie der Verlangende weiß - nicht mehr als die äußeren Umstände berücksichtigen, die ihm erkennbar oder bekannt (gemacht) sind. Der Entscheidende kann also letztlich nur die Kontrolle erwarten, die er selbst schon zur dilrf769
Jakobs, in: F S fur Arthur Kaufmann, S. 467 f.; daran anschließend Schneider,
in: M K ,
§216Rn. 7f. 770 771 772
773
Siehe Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 2 3 . Jakobs, Totung auf Verlangen, S. 23, 22. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 21 f. Die friihere Begründung von Jakobs, in: F S fur Arthur Kaufmann, S. 467 f, es handle sich um einen patemalistischen Schutz vor Voreiligkeiten, ist diesen Einwänden so nicht ausgesetzt, denn solche Voreiligkeiten urnfassen auch die Möglichkeit unzureichenden Bedenkens und Erwägens überhaupt, o h ne d a ß der Gedanke einer Delegation zur Überprüfung auf den Außenstehenden tragend ware. Während der Entscheidende sich eines Mangels an Vollzugsreife offenbar bewußt ist und deshalb auch bewußt delegiert, ist der voreilig Entscheidende sich seiner unzureichenden Basis und des ungeniigenden Durchdenkens vielfach gerade nicht bewußt. E s bleibt dann auch - wie die paternalistische Sorge als Strafgrund zeigt - bei einer Beeinträchtigung (in der Form abstrakter Gefährdung) des Rechtsguts Leben. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 22.
IV. Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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tigsten Grundlage dafur gemacht haben wird, ein entsprechendes Verlangen iiberhaupt zu stellen. Er wird also weniger etwas iiber die Richtigkeit seiner Entscheidung als vielmehr iiber die Einstellung des Außenstehenden erfahren. Nun ware Irrationalität aber tatsächlich kein Argument gegen die Möglichkeit, daß in dieser Weise gerade in Grenzsituationen des menschlichen Lebens tatsächlich entschieden wird. Aber es ist doch auch dann, wenn man einen situativen Hang zu irrationalem Entscheiden in Rechnung stellt, psychologisch ausgesprochen fernliegend, daß der Verlangende sich der Zwecke seines Verlangens nicht vollständig bewußt ist und die Herstellung oder Überprüfung des Zweckzusammenhangs vom Außenstehenden erwartet. Weiter kann man fragen ob es richtig ist, daß „durch die Beschränkung der Straffreiheit auf die nicht arbeitsteilige Form einer Selbsttötung (...) Zweifel an der subjektiven Vollzugsreife a limine ausgeschlossen (werden)"774. Denn der Wunsch nach Überprüfimg durch den Außenstehenden mag bei eigenhändiger Ausführung durch die einkalkulierte Möglichkeit einer Rettung ersetzt werden, wie sie in Appellsuiziden vielfach eine Rolle spielt. Doch auch wenn man diese kritischen Überlegungen, die sich auf kaum verifizierbare Einschätzungen von Gefahren einer Freigabe der Tötung auf Verlangen beziehen, beiseite läßt (weil sich selbst von wenig plausiblen Befurchtungen kaum deren Unvertretbarkeit behaupten läßt), vermag ein „allgemeines Interesse an Klarheit" darüber, daß kein „Mangel an Vollzugsreife" vorliegt, als Hintergrund von § 216 StGB nicht zu iiberzeugen. Unklar bleibt schon, warum die Gefahr eines „Mangels an Vollzugsreife" nicht primär unter Individualschutzgesichtspunkten (also in Richtung auf das individuelle Leben des Entscheidenden) relevant werden soil775, sondern ein auf den Mangel an Vollzugsreife bezogenes „allgemeines Interesse an Klarheit" das im Vordergrund stehende Rechtsgut des § 216 StGB sein soil. Warum dieses Interesse nicht nur ein vorfindliches776, sondern auch ein legitimes sein soil, wird bei Jakobs nicht weiter aufgeklärt. Dunkel bleibt so vor allem, was dieses überindividuelle Interesse mehr sein soil als das Interesse jedes Einzelnen, in bestimmten Situationen vor der Exekution unzureichend bedachter, voreiliger Entscheidungen mit Rücksicht auf die Unwiederbringlichkeit seines Lebens geschtltzt zu werden777. Ein bloßes Interesse an Klarheit hinsichtlich des voll774 775
776
777
Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 23. Freilich ware auch bei einer solchen Interpretation der von Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 26 ff. angelegte Maßstab einer objektiven Verniinftigkeit, der auf in der Rechtsgemeinschaft anerkannte Standards verweist (vgl. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 29, 32) nicht iiberzeugend, denn damit werden gerade diejenigen außer acht gelassen, deren Freiheit des Schutzes in besonderer Weise bedarf, weil sie sich gerade nicht standardisiert verhalten wollen. Auch dies ist von Jakobs freilich nur - inzident - behauptet, aber eher fernliegend, wenn man den Mangel an Vollzugsreife fur den psychologischen Ausnahmefall halt. Es ware also schon aus diesem Grund nicht iiberzeugend, aus einem bestimmten sozialen Phänomen auf dessen normative Berechtigung zu schließen (vgl. in diesem Sinne Jakobs, in: FS für Schewe, S. 76). Wie Hoerster, Sterbehilfe, S. 31 ff. meint.
528 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens ständigen Durchdachtseins des Zweckzusammenhangs durch den Lebensmüden ware nicht nur deswegen ungeeignet, eine Mindeststrafe von sechs Monaten (§216 StGB) zu rechtfertigen, weil es sich bei der so interpretierten Vorschrift um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handeln wiirde778, sondern vor allem deshalb, weil schon nicht ersichtlich ist, warum ein solches Interesse iiberhaupt in so hohem Maß schutzwürdig sein sollte. Die Interpretation von § 216 StGB als eines abstrakten Gefährdungsdelikts zum Schutz eines tiberindividuellen Rechtsguts hat weitreichende Konsequenzen fur die Tatbestandsstruktur. Vor allem soil in Fallen, in denen die Delegation der Tötungshandlung nicht einen Mangel an Vollzugsreife nahelege (wie dies der Fall sein soil, wenn die Entscheidung des Lebensmüden objektiv vernilnftig ist), bereits der Tatbestand ausgeschlossen sein779. Dient die Vorschrift nämlich nicht dem Individualgilterschutz, so ist nicht mehr die von dem Verlangen des Opfers getragene Fremdtötungshandlung das typisierte Unrecht von § 216 StGB, sondern nur eine solche Fremdtötungshandlung, die auf einem Verlangen basiert, bei dem Zweifel am eigenen Durchdenken nicht vollständig ausgeräumt sind. Eine solche Sichtweise steht unter der Voraussetzung, daß der Tatbestand bei Vorliegen eines ernsthaften Verlangens keine Individualgutsverletzung mehr typisiert780. Das mangelnde Durchdenken des Tötungsverlangens stellt also unter Individualgilterschutzaspekten nicht die Rechtlichkeit der bewilligten Tötung in Frage, so daß der ausgeräumte Zweifel nicht etwa erst die Wirksamkeit der Bewilligung begrilndet. Nicht die materiellen Wirkungen einer Einwilligung schließen so das Unrecht aus, sondern die fehlende Interessenverletzung, die nicht durch die Einwilligung, sondern durch deren objektive Verniinftigkeit erwiesen wird. Das gilt fur alle Interpretationen, die allein auf den Schutz überindividueller Rechtsgilter bei § 216 StGB abstellen und Fälle anerkennen, in denen diese Giiter trotz des Vorliegens einer Fremdtötung nicht verletzt sind.
(5)
Zusammenfassung
Die Aufzählung denkbarer rationes ist damit noch nicht vollständig. Es ist auch so schon deutlich geworden, daß sich unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative tragfähige Grunde fur die Strafbarkeit der Totung auf Verlangen mit Blick auf Rechte anderer angegeben werden können. 778 779 780
So Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 23. Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 29 ff. Weshalb Jakobs, in: FS fur Arthur Kaufmann, S. 470 f., aus seiner Interpretation der Vorschrift als einer paternalistisch motivierten „Norm gegen eventuelle Voreiligkeiten beim Umgang mit dem eigenen Leben" (S. 467 f.) auch noch nicht auf eine restriktive Tatbestandsauslegung fur den Fall geschlossen hat, „wenn die Gefahr einer Voreiligkeit nicht ernsthaft in Rede stehen kann", sondern die Regeln des Notstands fur anwendbar gehalten hat.
IV. Grenzen der Selbstverfugungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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bb) Grenzen der Einschränkungen der Selbstverfugungsfreiheit aus den Rechten anderer Es wurde oben (3. Teil IV. 3.) schon deutlich geraacht, daß die Rechte anderer die Selbstverfugungsfreiheit nur so weit einschränken können, wie diese Freiheit nicht in ihrem durch die Menschenwürde geprägten Kern betroffen bzw. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist. Es wurde weiter bereits festgestellt, daß die Selbstverfugungsfreiheit durch solche Einschränkungen, die eine bestimmte Gestaltung der äußeren Umsetzung einer selbstverfugenden Entscheidung beschränken, regelmäßig nicht in diesen Kernbereich betroffen ist bzw. diese Einschränkungen regelmäßig nicht so schwerwiegend sind, daß sie unverhältnismäßig wären (zumal das Gewicht des mit der Einschränkung verfolgten Zieles wiederum wesentlich von der gesetzgeberischen Einschätzung abhängt). Die Rechte anderer, wie sie als Hintergrund von § 216 StGB geltend gemacht werden, sind in den unterschiedlichen Argumenten schon so gefaßt, daß die Verletzung dieser Rechte gerade in dem Umstand liegen soil, daß die verfügende Handlung auf einen Außenstehenden delegiert und von diesem vorgenommen wird. Diese Rechte bestehen also gerade gegen die (bewilligte) Vornahme einer Fremdtötungshandlung durch den Außenstehenden. Entsprechend knüpft § 216 StGB als Sanktionsnorm nicht an die Verfügung über das eigene Leben als solche an, sondera die Vorschrift setzt ein Verhalten des Außenstehenden voraus, mit dem dieser die ihrer äußeren Gestaltung nach unerlaubte Selbstverfugung exekutiert. Die Freiheit des Opfers, aus dem Leben zu scheiden, wird so nicht grundsätzlich negiert. Das Gewicht der Griinde, die sich fur ein Verbot der Delegation einer selbstverfugenden Handlung bzw. fur das Verbot der Orientierung an einer solchen Delegation anfuhren lassen, reichen auch aus, um die Strafbarkeit dieses Verhaltens und die in § 216 StGB vorgesehene Strafandrohung zu legitimieren. Es wurde aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben bereits geschlossen, daß eine rechtliche Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten insbesondere dann einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Selbstbestimmungsfreiheit darstellen kann, wenn das Verbot einer bestimmten äußeren Gestaltung einer Selbstverfiigung einem Verbot der Selbstverfugung als solcher deshalb gleichkommt, weil der Verfügende in seinen Möglichkeiten der Entscheidungsrealisierung auf diese Form der Gestaltung angewiesen ist. Dies ist konkret dann der Fall, wenn eine Person physisch (auch mit Unterstützung von außen) nicht in der Lage ist, ihre Selbsttötungsabsicht zu realisieren. Hier käme also die Aufrechterhaltung eines Verbots der Tötung auf Verlangen der Begrtlndung einer Pflicht zum Leben gleich781. Weiter wurde fur die Fälle der indirekten Sterbehilfe dargetan, daß deren Verbot mit Riicksicht auf Interessen anderer unverhältnismäßig ware. Die dogmatische Umsetzung dieser Einschränkungen macht allerdings erhebliche Schwierigkeiten782. In Betracht kommt sowohl eine teleologische Restriktion 781 782
Ebenso zu Grenzen des Tabuarguments Rönnau, Willensmängel, S. 165. Vgl. dazu etwa Jähnke, in: LK, Vor § 211 Rn. 15 f.; Neumann, in: NK, Vor § 211 R n . 97 ff., 127.
530 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens des Tatbestandes von § 216 StGB wie auch eine Rechtfertigung des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Die gewählte Lösung ist abhängig davon, wie das Rechtsgut von § 216 StGB genau konturiert wird, welche Gefahren also für welche Interessen anderer vorausgesetzt sind. Es kommt also darauf an, ob man die typisierten Gefahren fur die jeweiligen Rechte anderer auch dann gegeben sieht, wenn die Bewilligung einer Fremdtötung etwa die einzige Möglichkeit ist, von der Selbstverfugungsfreiheit in Richtung auf das Rechtsgut Leben Gebrauch zu machen, und ob diese Gefahren einen Grad erreichen, dessen Verhinderung vom Zweck des Tatbestandes gedeckt ist. Entsprechend kommt es in den Fallen der indirekten Sterbehilfe darauf an, ob tatbestandlich typisierte Gefahren fur die Rechte anderer in diesen Fälle bestehen. Eine teleologische Reduktion liegt vor allem dort nahe, wo in den Ausnahmefällen der fehlenden Möglichkeit einer Suizidbegehung bzw. in den Fallen der indirekten Sterbehilfe die als ratio von § 216 StGB in Betracht kommenden Rechte anderer nicht oder weniger intensiv tangiert werden als in den Fallen, in denen das Opfer seine selbstverfiigende Entscheidung auch ohne Delegation der Totungshandlung realisieren könnte bzw. die Bedingungen fur die Leistung indirekter Sterbehilfe nicht gegeben sind. Dies liegt vor allem nahe, wenn man die hinter § 216 StGB stehende ratio im überindividuellen Lebensschutz durch möglichst weitgehende Aufrechterhaltung des Fremdtötungstabus erblickt. Denn die Gefahr eines Achtungsverlusts vor dem Lebensrecht ist zumindest deutlich geringer, wenn sich das auf Lebensbeendigung gerichtete Selbstbestimmungsrecht nur in der Bewilligung einer Fremdtötungshandlung verwirklichen kann oder es um die (möglicherweise oder sicher lebensverkiirzende) Schmerztherapie fur einen schwer leidenden Patienten geht. Der falsche Eindruck einer Abwertung des Lebens kann dort nur schwer entstehen, wo dieser Weg der einzige ist, auf dem sich die selbstverfiigende Entscheidung des Opfers verwirklichen oder schweres Leiden gelindert werden kann. Je enger und klarer ein Ausnahmefall konturiert werden kann und je größer die Akzeptanz fur die Grtlnde ist, die eine Ausnahme von dem Fremdtötungstabu begrimden, desto geringer ist das Risiko einer Überinterpretation dieser Ausnahme im Sinne eines Geltungsverlusts des Prinzips. Diese Erwägungen sprechen dafiir, hier schon eine Verletzung des tlberindividuellen Rechtsguts zu verneinen und folglich den Tatbestand von § 216 StGB teleologisch zu reduzieren783. Dies läßt sich abstützen durch die Überlegung, daß bei einmal bejahter Tatbestandsverwirklichung die Anwendung der herkömmlichen Rechtfertigungsgrilnde erhebliche Schwierigkeiten aufweist. Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund käme hier schon deshalb nicht in Betracht, weil das Opfer nicht in eine Beeinträchtigung der Rechte anderer einwilligen könnte. Es bleibt so nur eine Rechtfertigung nach § 34 StGB. Tatsächlich müßte sich die fur das Verfassungsrecht angestellte Verhältnismäßigkeitsprüfung hier dahingehend niederschlagen, daß das Interesse des Opfers an einer Realisierung seiner Selbstbestimmungsfreiheit und an seiner Freiheit von Schmerzen das Interesse der Allgemeinheit an der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung des Tötungstabus deutlich überwiegt. 783
Im Sinne einer teleologischen Reduktion (allerdings mit anderer Begründung) auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungrecht, S. 109 ff.
IV. Grenzen der Selbstverftigungsfreiheit aus entgegenstehenden Rechten anderer
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Wenn dies aber so ist, dann ist schon nur schwer einzusehen, warum diese Allgemeinheit bei einem so deutlichen Überwiegen des Interesses an der Vornahme der Fremdtötungshandlung überhaupt durch eine Freigabe solcher Handlungen in ihrer Haltung zum Tötungsverbot erschüttert werden könnte. Die Verletzung des Fremdtötungstabus, die ihre tatbestandsrelevante Typik ja nicht aus der Fremdtötung als solcher, sondern aus der mit dieser Tabuverletzung verbundenen Gefahr des Achtungsverlusts erhält, entfaltet diese Typik gerade dort nicht, wo die Zulässigkeit einer bewilligten Fremdtötung verfassungsrechtlich geboten ist. Auch unter diesem Aspekt spricht also einiges fur eine teleologische Reduktion des Tatbestandes in den Fallen der fehlenden Fähigkeit, eine Suizidentscheidung in die Tat umzusetzen, wie auch in den Fallen der indirekten Sterbehilfe. Für den hinter dem Mißbrauchsargument stehenden Gedanken, demzufolge das § 216 StGB zugrundeliegende Verbot sich gegen die Vornahme von Verhaltensweisen richtet, mit denen in besonderem Ausmaß das Risiko einer Verschleierung von in Wahrheit nicht-bewilligten Fremdtötungen verbunden ist, liegt, soweit es die Fälle der indirekten Sterbehilfe betrifft, ebenfalls bereits eine Tatbestandsreduktion nahe. Derm die unter den tlblichen Standards ärztlicher Behandlung erfolgende und dokumentierte Schmerztherapie läßt sich kaum als typischerweise mißbrauchsanfällige Verhaltensweise auffassen. Hingegen legen unter dem Aspekt des Mißbrauchsarguments die Fälle der physischen Unmöglichkeit der Selbstrealisation eines Tötungswunsches eher eine Berücksichtigung auf Rechtfertigungsebene nahe. Derm es ist in den Fallen der körperlichen Unfähigkeit zur Realisierung einer Selbsttötungsentscheidung zwar sicher vielfach glaubhaft, daß ein entsprechender Fremdtötungswunsch tatsächlich geäußert wurde, aber insofern läßt sich kaum ein markanter Unterschied zu sonstigen Fallen schwer leidender Patienten begriinden, bei denen es ebenfalls vielfach plausibel sein wird, daß der Tötungswunsch tatsächlich geäußert wurde. Man könnte im Gegenteil sogar erwägen, ob nicht mit wachsender Plausibilität eines wirklich geäußerten Tötungswunsches auch das Risiko steigt, daß eine entsprechende Schutzbehauptung zur Verschleierung einer nicht-bewilligten Fremdtötung vorgetragen wird. Insoweit liegt es hier also näher, das typisierte Risiko der Vornahme einer fur mißbräuchliche Verschleierungen anfälligen Handlung auch dann erfullt zu sehen, wenn das Opfer seine Selbsttötungsentscheidung nur durch Delegation der Tötungshandlung realisieren kann. Danach bliebe es bei der tatbestandlichen Erfassung dieser Fälle durch § 216 StGB. Eine Einwilligung schiede wegen des tatbestandlich geschiitzten iiberindividuellen Rechtsguts aus. Bei der Frage einer Rechtfertigung nach § 34 StGB ware zu berücksichtigen, daß es dem Einzelnen trotz der Mißbrauchsgefahren nicht generell verwehrt sein kann, über sein Leben zu verfiigen784. Hier kämen freilich Sicherungen gegen Mißbrauch durch Verfahren785 (etwa durch Dokumentationspflichten oder die Hinzuziehung Dritter) oder Begrenzungen der persönlichen Berechtigung (etwa auf Ärzte) in Betracht. Aber auch solche Einschränkungen können einen prinzipiellen Ausschluß der Selbstverfügungsfreiheit (und damit die Begrilndung einer Pflicht zum Leben) nicht legitimieren. Auch wenn 784 785
So auch Frisch, Leben und Selbstbestimmungsrecht, S. 108 f. Vgl. eingehend Saliger, Grundrechtsschutz, S. 101 ff., 133 ff.
532 Teil 4: Die strafrechtsdogmatische Behandlung eigenverantwortlichen Opferverhaltens man also solche, die Risiken mißbräuchlicher manspruchnahme eines Verlangens mindemde Verhaltensanforderungen bei der Wahl des milderen Mittels berilcksichtigen wollte (was bei einem Verständnis, wonach das Rechtsgut von § 216 StGB im Schutz vor Mißbräuchen zu sehen sein soil, sachgerecht ware), so ware die Fremdtötung jedenfalls bei Einhaltung dieser Maßnahmen - entsprechend den hierzu bereits angestellten Erwägungen zur verfassungsrechtlichen Beurteilung (oben 3. Teil, IV. 3.) - wegen des deutlich überwiegenden Interesses des Verlangenden nach § 34 StGB gerechtfertigt. Eine genauere Analyse der als Hintergrund von § 216 StGB in Betracht kommenden Rechte anderer zeigt also, daß die dogmatischen Konsequenzen, die aus den in Betracht kommenden rationes zu ziehen sind, weitaus subtilerer Betrachtung bedürfen, als sie sie ilblicherweise erfahren. Erforderlich ist eine differenzierte Antwort auf die Frage, inwieweit die je angesprochene ratio in den Fallen verlangter Fremdtötung eingreift und welche Konsequenzen dort zu ziehen sind, wo diese ratio sich nicht gegen die Selbstverfugungsfreiheit des Einzelnen durchzusetzen vermag. Nimmt man die Überlegungen oben (III. 4.) hinzu, so erhält § 216 StGB bei dieser Interpretation einen Doppelcharakter: einmal dient die Vorschrift dem Schutz des individuellen Lebens mit Blick auf das Risiko des Vorliegens einer defizitären Entscheidung; zum anderen kommt auch eine Interpretation von § 216 StGB in Betracht, die dem Schutz der Rechte anderer dient. Beides läßt sich wohl bei gleicher Strafandrohung in einer Vorschrift zusammenfassen, denn das gegeniiber der nicht bewilligten Fremdtötung geminderte Strafmaß trägt sowohl dem bei Vorliegen eines ernstlichen Verlangens verbleibenden bloßen Risiko einer defizitären Entscheidung Rechnung wie den überindividuellen Interessen, deren Gewicht gegenüber dem Lebensrecht des Einzelnen deutlich geringer ist. Damit ist immerhin einmal angesprochen, daß die Diskussion um die verschiedenen rationes von § 216 StGB nicht gefuhrt werden kann, ohne sich der Angemessenheit der Zusammenfassung dieser rationes unter einem einheitlichen Tatbestand zu vergewissern. Die übliche Aufzählung mehr oder minder plausibler Argumente fur das Festhalten an § 216 StGB786 verzichtet regelmäßig auf eine Beantwortung der Frage, inwieweit diese rationes je fur sich (oder nur in Verbindung mit anderen) eine Bestrafung innerhalb des in § 216 StGB vorgesehenen Strafrahmens erlauben. b) § 228 StGB Die zu § 216 StGB vorgetragenen, an überindividuellen Giltern orientierten Legitimationsversuche lassen sich teilweise auch als Hintergrund von § 228 StGB denken. Das gilt zwar nicht für das Mißbrauchsargument, denn das nur körperlich verletzte Opfer kann das Vorliegen einer Einwilligung im Regelfall noch dementieren. Es gilt jedoch insbesondere für das Tabuargument, denn es ließe sich durchaus vorstellen, daß im Interesse der Achtung vor der körperlichen Integrität beSo etwa die von Hirsch, in: FS fur Lackner, S. 612 ff.
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stimmte gravierende, ohne akzeptable Griinde vorgenommene körperliche Beeinträchtigungen generell als unzulässig zu bewerten sein sollen787. Dennoch werden solche Bestrebungen, die Anwendbarkeit von §§ 223 ff. StGB trotz Vorliegens einer nicht defizitären Einwilligung mit Blick auf entgegenstehende Rechte anderer zu legitimieren, letztlich nicht überzeugen können788. Das hängt damit zusammen, daß mit § 228 StGB (anders als mit § 216 StGB fur den Bereich der Tötungsdelikte) fur den Bereich der Körperverletzungsdelikte nicht etwa ein eigenständiger Tatbestand eingefiihrt ist, der den Rechten anderer als telos verpflichtet sein könnte, sondern diese Vorschrift lediglich eine Regelung fur die Wirksamkeit der Einwilligung bei Taten nach §§ 223 ff. StGB schafft. Da nun deren Funktion als Sanktionsnormen, die an solche Verhaltensnormen ankniipfen, die den Individualschutz der körperlichen Integrität vor nicht bewilligter (bzw. — nach hier vorgetragener Auffassung - auch möglicherweise defizitär bewilligter) Risikoschaffung bezwecken, unbestreitbar ist, stellt sich das Problem, ob das telos dieser Vorschriften ein zweifaches ist, sie nämlich zum einen der Sanktionierung individualgutsverletzenden Verhaltens und zum anderen der Sanktionierung solchen Verhaltens dienen, mit dem die Rechte anderer beeinträchtigt werden. Eine solche Interpretation wird kaum überzeugen können. Denn das Gewicht der unter einheitliche Strafrahmen gestellten Rechtsgutsbeeinträchtigungen würde erheblich divergieren: Der am Schutz der individuellen körperlichen Integrität orientierte Strafrahmen will ein Unrecht erfassen, das offenbar deutlich gravierender ist als das Unrecht solcher Verhaltensweisen, mit denen nicht die Achtung des konkreten Opfers in seiner körperlichen Integrität in Frage gestellt wird, sondern mit dem lediglich die Gefahr verbunden ist (sein könnte), daß in einer Gesellschaft insgesamt die Achtung vor diesem Gut in Frage gestellt wird und es schließlich im Gefolge dieses Achtungsverlusts zu konkreten Beeinträchtigungen kommt (kommen könnte). Sähe man in §§ 223 ff. StGB auch die Rechte anderer geschtltzt, so wtirde das Unrecht der individualen Körperverletzung und das durch bestimmte gesellschaftliche Prozesse vermittelte (in seiner unmittelbaren Realisierung dann von den jeweiligen Tätern zu verantwortende) Unrecht der Schaffung von Bedingungen, die Übergriffe gegen die körperliche Integrität begünstigen, einem emheitlichen Strafrahmen unterstellt. Dies ware zwar nicht hinsichtlich der Untergrenze, wohl aber hinsichtlich der Obergrenze von § 223 StGB problematisch. Bei §§ 224, 226, 227 StGB ware aber auch die Strafrahmenuntergrenze nicht mehr plausibel erklärbar. Denn eine Interpretation dieser Vorschriften mit Blick auf die Verletzung der Rechte anderer würde voraussetzen, daß diese Rechte bei gewissen Eingriffen in die körperliche Integrität nachhaltiger beeinträchtigt sein müßten als bei der Totung (auf Verlangen).
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In diese Richtung zuletzt B G H , N J W 2004, 2458, 2459 f.; Hardtung, in: M K , § 2 2 8 Rn. 2 3 . Siehe zu solchen Bemühungen ferner Niedermair, Korperverletzung mit Einwiiligung, S. 105 ff. So auch Kargl, J Z 2002, 397 f.
Resumee
Ein begründetes Prinzip der Opferselbstverantwortung läßt sich nur in einem Recht denken, das von der Autonomie der Person seinen Ausgang nimmt. Miissen sich rechtliche Regeln vor der Vernunft des Einzelnen auf ihre Berechtigung erweisen lassen, so findet das Recht die Grenze seiner legitimen Begründung dort, wo ein allgemein gültiges Vernunfturteil nicht gefällt werden kann. Autonomie, die als Grund der Verbindlichkeit von Recht auf die Anwendung des Prinzips der Herstellung der Kompatibilität äußerer Willkürfreiheit unter Gleichen beschränkt ist, kann fur den Umgang des Menschen mit sich selbst und seinen Giitern, wie er sich in nicht-defizitären selbstverfügenden Entscheidungen vollzieht, nicht den Maßstab bilden. Ein verallgemeinerungsfahiges Vernunfturteil, das gegenüber dem Verfügenden (rechtliche) Verbindlichkeit beanspruchen könnte, läßt sich so nicht fallen. Selbstverfugende Entscheidungen unterfallen danach dem Selbstbestimmungsrecht der Person, wie es verfassungsrechtlich in der Menschenwilrde seinen Ausdruck findet und in seinen äußeren Vollzügen durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt ist. Grenzen dieser Freiheit lassen sich nicht aus dem Schutz der nicht defizitär entscheidenden Person vor sich selbst, sondern nur dort begriinden, wo die Person defizitär entscheidet oder die Rechte anderer verletzt sind. Strafrechtsdogmatisch entfaltet sich das Prinzip der Opferselbstverantwortung entweder dadurch, daß das Verhalten eines Außenstehenden rechtlich nicht mit Blick auf die bloße Möglichkeit, daß das Opfer eine (nicht-defizitäre) selbstverfugende Entscheidung trifft, verboten werden kann. Darauf, ob das Opfer tatsächlich eine selbstverfugende Entscheidung getroffen hat bzw. treffen wird, kommt es insoweit nicht an. Hier fehlt es bereits - unabhängig davon, ob die Beteiligten die Risikorealisierung wiinschen oder nicht - am Vorliegen einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung. Nimmt der Täter hingegen eine Handlung vor, die prinzipiell zum Schutz eines Individualguts des Opfers (straf-) rechtlich verboten ist, so macht sich das Selbstbestimmungsrecht des Opfers in der Weise geltend, daß es durch seine Zustimmung zu dieser Risikoschaffung sein rechtliches Verhältnis zum Außenstehenden umgestaltet. Diese Umgestaltung nimmt dem Verhalten des Außenstehenden seinen Charakter als (auch Straf-) Unrecht in Richtung auf das jeweilige Individualrechtsgut. Auch dies gilt - da sich die Einwilligung auf das Verhaltensunrecht bezieht - unabhängig davon, ob der Einwilligende oder der Außenstehende den Erfolgseintritt wiinschen oder zu vermeiden hoffen. Eine selbstverfugende Entscheidung ist dann nicht mehr Ausdruck von Selbstbestimmung, wenn sie gemessen an den Maßstäben des Entscheidenden selbst de-
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Resumee
fizitär ist. Die normative Relevanz eines solchen Defizits hängt dann aber noch zusätzlich von dessen Bewertung durch die konkrete Rechtsordnung ab (deren Regelungen sich freilich ihrerseits als Ausdruck von Autonomie begreifen lassen können müssen). Mit Blick auf die vorfindlichen (positiv-) rechtlichen Anhaltspunkte verlangt die Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Relevanz von Entscheidungsdefiziten eine umfassende Beriicksichtigung der rechtlich anerkannten Interessen der Beteiligten. Dabei zeigt sich, daß es tragfähige Griinde dafiir gibt, Defiziten bei selbstverfügenden Entscheidungen dort in größerem Rahmen rechtliche Relevanz zuzubilligen, wo die Opferentscheidung auf eine Freiheitserweiterung des Außenstehenden zielt (bei der Einwilligung) als dort, wo die möglicherweise an ein grundsätzlich erlaubtes Verhalten des Außenstehenden anknüpfende defizitäre Opferentscheidung diesem die Erlaubtheit zu nehmen vermag (bei der Selbstschädigung oder -gefährdung). Da Entscheidungsdefizite sich nur durch äußere Anhaltspunkte erschließen lassen, kann es weiterhin berechtigt sein, das Verhalten des Außenstehenden bereits mit Riicksicht auf das Risiko einer defizitären Opferentscheidung (straf-) rechtlich zu verbieten. Dieser Gedanke läßt sich als (begrenzt) tragfähiger Hintergrund der §§216, 228 StGB erweisen. Grenzen der Freiheit zu selbstverfügendem Verhalten, die sich aber nicht gegen die Selbstverfugungsfreiheit als solche, sondern gegen eine einem selbstverfugenden Verhalten unter Umständen zusätzlich anhaftende Risikodimension richten, können sich aus den Rechten anderer ergeben. Auch aus dieser Einsicht läßt sich in begrenztem Umfang eine Legitimationsgrundlage fur § 216 StGB entwickeln, wenn die in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Entscheidung respektiert wird.
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Sachregister
Absoliitismus aufgeklärter 18 ff. Ärztliche Behandlung 142 ff, 422, 349 Aids-Fall 408 ff., 416 f., 425 f. Anerkennungsverhältnis 163 ff.,
196ff.,370ff. Aufklärung ärztliche 450 Aufklärungsphilosophie 10 ff. kritische - 31 ff. Auto-Surfen 414 f, 417, 425 Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung 382 ff, 397 ff. Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung 318 ff. Dammbruchargument 280 ff. Defizitäre Entscheidungen 202 ff, 264 ff., 433 ff. bei der Einwilligung 446 ff., 448 ff, 473 bei Selbstschädigung und Selbstgefährdung 473 ff. normative Relevanz von - 443 ff, 448 ff. psychischer Sachverhalt und - 434 ff, 489 Übertragbarkeit der Maßstäbe von der Einwilligung auf die Selbstschädigung und -gefährdung 464 ff, 475 ff. Unsicherheiten tlber deren Vorliegen 488 ff. Doppelselbstmord einseitig fehlgeschlagener 319 f., 338 ff, 350 f, 361 ff.
Drogen Abgabe von 387 ff, 400 f. Eigenverantwortliche Selbstgefährdung s. Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung Eigenverantwortliche Selbstschädigung s. Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstschädigung Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 297, 516 f, 520 f. 525 Einverständliche Fremdgefährdung 379 ff, 403 ff, 447 Gleichstellung mit der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung 424 ff. Einverständliche Fremdschädigung 336 ff. Einwilligung 139, 336 ff, 427 ff. deliktssystematische Verortung der 368 ff. normative Relevanz von Defiziten 448 ff. Einverständnis 368 ff, 376 ff. Erbonkelfall 116 Erfolg als Bezugspunkt der Einwilligung 358 f, 413 ff, 418 ff, 428 ff, 437 f, 447 Erfolgsunwert 430 ff. Gefiihlsschutz 283 f. Gisela-Fall 338 f, 344 ff, 350 f, 361 ff. Grundrechte 34 ff, 132, 144 ff, 155 ff, 165, 226 ff.
596 als Abwehrrechte 223, 286 Kerabereich 293 ff. objektivrechtliche Dimensionen 223, 243,245,251,286 Grundrechtsschranken 237, 240 ff. Rechte anderer 241, 272 ff., 506 ff. Sittengesetz 242, 301 ff. verfassungsmäßige Ordnung 241, 242, 272 ff. Grundrechtstheorie 156 f, 245 f, 255 ff. Grundrechtsverzicht 250 Hackethal-Fall 343, 364 Handlung als Bezugspunkt der Einwilligung 358 f., 413 ff, 418, 428 ff, 447 Handlungsfreiheit allgemeine 234 ff. Heroinspritzen-Fall 388 ff, 398 Historische Schule 76 f. Hungerstreik 230, 233 Imperativ hypothetischer 170 f, 177, 199 kategorischer 172 ff., 193 ff. Interesse 95 ff., 102 ff. Konstitutionelle Defizite 208, 266 ff. Memel-Fall 403 ff, 425, 429 Menschenbild 14 ff, 144 ff, 157 f, 164 f, 216 ff, 273 Menschenrecht 34 ff, 132 Menschenwiirde 144 ff, 168, 216 ff, 236, 243, 249 ff, 257 f, 261 ff, 271, 285 ff. Mißbrauchsargument 282 f, 523 ff, 531 f. Mittelbare Täterschaft bei selbstschädigendem oder selbstgefährdendem Opferverhalten 447, 462 ff, 466 ff. Moralteleologische Rechtsauffassung 178 ff. Motorrad-Fall 405 f. Nationalsozialismus 126 ff. Neukantianismus 104 ff. Nötigung 205 f, 266, 438 ff, 452 f, 477 f.
Sachregister Objektive Zurechnung 325 f, 333 ff, 353 ff, 393 ff. Peep-Show-Fall 252 ff. Persönlichkeitskerntheorie235 f. Personlichkeitsrecht allgemeines 238 f, 284 Pockenarzt-Fall386 Polizeipistolen-Fall 321 ff. Positivismus naturalistischer - 93 ff. Primärordnung s. Verhaltensnormen Quasi-Mittäterschaft 344 ff. Rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung 333 ff, 353 ff, 361 ff, 383 ff, 397 ff, 404 ff, 427 ff, 447, 470 ff. Rechtsgut 77 ff, 149 ff, 370 ff. Rechtsmißbrauch 450, 451 (Fn. 527) Rechtspositivismus 74 ff. gemäßigter - 75 ff. normlogischer - 83 ff, 89 ff. Rechtsschutzverzicht 2, 312 f. Rechtsverletzungslehre 15 ff, 56 ff. Retterunfälle 439 f, 481 f. Risiko des nächsten Schritts s. Dammbruchargument Risiko-Einwllligung 248 f, 447 Schiefe Bahn s. Dammbruchargument Schlingen-Fall319f. Schulenstreit 84 Schutzpflichtenlehre 242 ff. Schutzzweck der Tatbestandsnorm 334, 392 f. Scophedal-Fall 340 f, 352 f, 356 f, 363 f, 500 Sittenwidrige Körperverletzung 488 ff, 501 ff, 532 f. Skateboardfahrer-Fall 389 Slippery-slope-Argument s. Dammbruchargument Sorgfaltswidrigkeit, objektive s. rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung Sozialadäquanz 113 ff. Sozialbindung 161 ff, 218 ff.
Sachregister
Sport Risiken 422 ff. Sterbehilfe indirekte 299 f., 500 f., 530 ff. Tabubruch 210 f. 279 f., 300, 516, 517 ff., 530f. Tatbestandsmäßiges Verhalten 325 f., 333 ff., 353 ff, 361 ff. Tatherrschaft 327 ff, 331 ff, 338 ff, 344 ff, 408 ff, 415 ff, 466 ff, 484, 486 (Fn. 649) Täuschung 206 f, 266, 484 f. Teilnahmeargument 313 f, 319 ff, 337, 388 ff, 391 f. Tötung auf Verlangen 482 ff, 488 ff, 493 ff, 512 ff., 514 ff. Übermaßverbot s. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Unabhängigkeitsthese 175 ff. Unterlassen 200, 201, 229, 237, 379 f, 485 f. Verfahren
Schutzdurch-531 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 290 ff.
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Verhaltensnormen 3, 307 ff, 318, 335, 361, 393, 446, 452 f, 471 ff, 524 Verhaltensordnung s. Verhaltensnormen Verzicht auf Rechtsschutz s. Rechtsschutzverzicht Wehrpflichtentziehung 295 f, 509 Wesensgehaltsgarantie 285 ff, 293 ff. Wertordnung objektive 245 f. Wertphilosophie 160 f, 251 f, 252 ff, 257 ff. Wettfahrt-Fall 384 ff. Willensmängel 202 ff. Drohung 452 ff. eigenerzeugte - 450 Irrtum 450 f. rechtsgutsbezogene 451 täuschungsbedingte 451 Zwang 452 ff.